Protokoll:
18055

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 55

  • date_rangeDatum: 26. September 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:19 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/55 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 55. Sitzung Berlin, Freitag, den 26. September 2014 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Elterngeld Plus mit Part- nerschaftsbonus und einer flexibleren El- ternzeit im Bundeselterngeld- und Eltern- zeitgesetz Drucksachen 18/2583, 18/2625 . . . . . . . . . . . 5071 B Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5071 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 5073 D Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . 5075 A Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5076 C Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5077 D Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 5079 A Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 5080 A Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5082 B Dr. Silke Launert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5083 C Dr. Fritz Felgentreu (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5084 D Bettina Hornhues (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5086 B Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 5087 C Tagesordnungspunkt 20: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur weiteren Entlastung von Län- dern und Kommunen ab 2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung Drucksache 18/2586 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5089 A b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung vorantreiben Drucksache 18/2605 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5089 B Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5089 B Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5091 C Manuela Schwesig, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5093 A Sven-Christian Kindler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5094 C Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5095 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) . . . . . . . 5098 A Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5099 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5101 A Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 5102 A Bernhard Daldrup (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5103 B Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 5105 A Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5107 A Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von den Abgeordneten Nicole Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Einführung von Gruppenverfahren Drucksache 18/1464 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5107 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5108 A Sebastian Steineke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5109 B Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5110 C Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 5111 C Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . 5112 C Dirk Wiese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5113 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 5114 B Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) . . . . . . . . . . . . 5115 D Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5116 B Tagesordnungspunkt 22: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zum Anerkennungsgesetz Drucksache 18/1000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5116 D Stefan Müller, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5116 D Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5118 B Dr. Karamba Diaby (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 5119 B Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5120 C Cemile Giousouf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5121 D Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 5123 A Katrin Albsteiger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 5124 A Tagesordnungspunkt 23: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – 17. Le- gislaturperiode – Drucksache 17/14325 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5125 B Stefan Müller, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5125 C Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . 5126 D Saskia Esken (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5127 D Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5128 D Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU/CSU) . . . 5130 A Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 5131 A Matern von Marschall (CDU/CSU) . . . . . . . . 5132 A Tagesordnungspunkt 24: a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirtschaftspartnerschafts- abkommen stoppen – Für neue Ver- handlungen ohne Druck und Fristen Drucksache 18/2603 . . . . . . . . . . . . . . . . . 5133 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten Nationen – Soziale Un- gleichheit weltweit überwinden Drucksachen 18/1328, 18/1916. . . . . . . . . 5133 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Heike Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen über die Wirt- schaftspartnerschaftsabkommen – Neu- start ohne Drohungen und Fristen Drucksachen 18/1615, 18/2073 . . . . . . . . 5133 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5133 C Tobias Zech (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 5134 D Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5136 C Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5137 D Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5139 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 5140 D Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU) . . . . 5141 A Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 5141 B Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5142 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 5143 A Anlage 2 Amtliche Mitteilung (Nachtrag zur 51. Sit- zung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5144 A Anlage 3 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5144 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5071 (A) (C) (D)(B) 55. Sitzung Berlin, Freitag, den 26. September 2014 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5143 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten (D) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich van Aken, Jan DIE LINKE 26.09.2014 Alpers, Agnes DIE LINKE 26.09.2014 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Bär, Dorothee CDU/CSU 26.09.2014 Beckmeyer, Uwe SPD 26.09.2014 Dr. Braun, Helge CDU/CSU 26.09.2014 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 26.09.2014 Dr. De Ridder, Daniela SPD 26.09.2014 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 26.09.2014 Dött, Marie-Luise CDU/CSU 26.09.2014 Dröge, Katharina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Flosbach, Klaus-Peter CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Freudenstein, Astrid CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 26.09.2014 Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 26.09.2014 Gastel, Matthias BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Gohlke, Nicole DIE LINKE 26.09.2014 Groth, Annette DIE LINKE 26.09.2014 Hardt, Jürgen CDU/CSU 26.09.2014 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Hendricks, Barbara SPD 26.09.2014 Horb, Margaret CDU/CSU 26.09.2014 Jung, Xaver CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 26.09.2014 Korte, Jan DIE LINKE 26.09.2014 Krellmann, Jutta DIE LINKE 26.09.2014 Kühn (Dresden), Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Kühn (Tübingen), Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Liebich, Stefan DIE LINKE 26.09.2014 Liebing, Ingbert CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Malecha-Nissen, Birgit SPD 26.09.2014 Dr. h. c. Michelbach, Hans CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Murmann, Philipp CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Nick, Andreas CDU/CSU 26.09.2014 Nietan, Dietmar SPD 26.09.2014 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Özdemir, Cem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Poß, Joachim SPD 26.09.2014 Dr. Raatz, Simone SPD 26.09.2014 Rachel, Thomas CDU/CSU 26.09.2014 Radomski, Kerstin CDU/CSU 26.09.2014 Scheuer, Andreas CDU/CSU 26.09.2014 Stauche, Carola CDU/CSU 26.09.2014 Steinbach, Erika CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Steinmeier, Frank- Walter SPD 26.09.2014 Strässer, Christoph SPD 26.09.2014 Strobl (Heilbronn), Thomas CDU/CSU 26.09.2014 Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 26.09.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 5144 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Amtliche Mitteilung (Nachtrag zur 51. Sitzung) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 18/419 Nr. A.3 EuB-BReg 53/2013 Drucksache 18/419 Nr. A.18 Ratsdokument 14716/13 Drucksache 18/544 Nr. A.1 EuB-BReg 10/2014 Drucksache 18/544 Nr. A.8 Ratsdokument 18099/13 Drucksache 18/822 Nr. A.3 EuB-BReg 16/2014 Drucksache 18/822 Nr. A.5 EP P7_TA-PROV(2014)0098 Drucksache 18/822 Nr. A.6 EP P7_TA-PROV(2014)0101 Drucksache 18/897 Nr. A.1 Ratsdokument 6902/14 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Drucksache 18/419 Nr. A.38 Ratsdokument 8179/13 Drucksache 18/822 Nr. A.8 EP P7_TA-PROV(2014)0064 Drucksache 18/822 Nr. A.9 Ratsdokument 5445/14 Drucksache 18/1393 Nr. A.26 Ratsdokument 7910/14 Drucksache 18/1393 Nr. A.27 Ratsdokument 8151/14 Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 18/1524 Nr. A.9 Ratsdokument 9008/14 Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.09.2014 Ulrich, Alexander DIE LINKE 26.09.2014 Veit, Rüdiger SPD 26.09.2014 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 26.09.2014 Weiss (Wesel I), Sabine CDU/CSU 26.09.2014 Wicklein, Andrea SPD 26.09.2014 Widmann-Mauz, Annette CDU/CSU 26.09.2014 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/1524 Nr. A.12 Ratsdokument 6587/14 Drucksache 18/1524 Nr. A.13 Ratsdokument 8290/14 Drucksache 18/1524 Nr. A.14 Ratsdokument 9143/14 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 18/544 Nr. A.49 EP P7_TA-PROV(2013)0546 Drucksache 18/1707 Nr. A.8 Ratsdokument 9802/14 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 18/1524 Nr. A.15 Ratsdokument 8814/14 Drucksache 18/1659 Nr. A.1 KOM(2014)324 endg. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 925. Sitzung am 19. Sep- tember 2014 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Achtes Gesetz zur Änderung des Weingesetzes – Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Fortent- wicklung des Meldewesens – Zweites Gesetz zur Änderung des Staatsangehö- rigkeitsgesetzes Der Bundesrat hat hierzu ferner folgende Entschlie- ßung gefasst: 1. Der Bundesrat begrüßt, dass mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Staatsangehörig- keitsgesetzes ein weiterer, wichtiger Schritt zu einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland gegangen wird. 2. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass der Koalitionsvertrag auf Bundesebene vorsieht, dass für in Deutschland geborene und aufge- wachsene Kinder ausländischer Eltern in Zu- kunft der Optionszwang entfällt und die Mehr- staatigkeit akzeptiert wird. 3. Der Bundesrat begrüßt, dass diese Vereinba- rung im Koalitionsvertrag durch das Gesetz der Bundesregierung nun zeitnah umgesetzt wurde. Er stellt fest, dass das vorgelegte Gesetz diese Umsetzung in deutlich besserer Form vor- nimmt als dies im ursprünglichen Gesetzent- wurf des Bundesministeriums des Innern von Anfang Februar vorgesehen war. So wurde der Kreis der optionspflichtigen Kinder, für die künftig die Optionspflicht entfällt, erheblich er- weitert. Dadurch wird nach ersten Schätzungen der Optionszwang für mehr als 90 Prozent der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5145 (A) (C) (D)(B) jetzt noch Optionspflichtigen entfallen. Für diese Personengruppe wird also eine deutliche Verbesserung erreicht werden. 4. Der Bundesrat stellt fest, dass sich mit dem vorliegenden Gesetz allerdings die Widersprü- che innerhalb des Staatsangehörigkeitsrechts verstärken, weil die Öffnung beispielsweise nicht auch im Einbürgerungsrecht nachvoll- zogen wird. Weitere Modernisierungsschritte bleiben diesbezüglich notwendig. 5. Der Bundesrat bedauert, dass die Bundesregie- rung sich nicht auf eine umfassende gesetzli- che Regelung verständigen konnte, die die vollständige und vorbehaltlose Abschaffung des Optionsverfahrens und die Aufgabe des Grundsatzes der Vermeidung von Mehrstaatig- keit vorsieht. 6. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammen- hang auf seinen Gesetzentwurf vom 5. Juli 2013 (vergleiche Bundesratsdrucksache 461/13 (Beschluss)). Der vom Bundesrat beschlossene Gesetzentwurf sah eine Streichung des Grund- satzes der Vermeidung von Mehrstaatigkeit ins- gesamt aus dem Staatsangehörigkeitsgesetz ebenso vor, wie die vollständige Aufhebung der Optionsregelung in § 29 des Staatsangehörig- keitsgesetzes (vergleiche Artikel 1 Nummer 7 der Bundesratsdrucksache 461/13 (Beschluss)). Der Bundesrat hält an den Zielen seines Be- schlusses vom 5. Juli 2013 fest. Insbesondere sollte nach dem mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung gegangenen ersten Schritt so- wohl im Interesse der Betroffenen als auch aus verwaltungsökonomischer Sicht in einem zwei- ten Schritt die Optionsregelung vollständig auf- gehoben werden. – Gesetz zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Ar- beitsmarktzugangs für Asylbewerber und gedul- dete Ausländer – Gesetz zur Änderung des Umweltinformationsge- setzes – Gesetz zu dem Abkommen vom 9. September 2013 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik der Philippinen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Luftverkehrsabkommen vom 25. und 30. April 2007 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und der Europäi- schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an- derseits (Vertragsgesetz EU-USA-Luftverkehrsab- kommen – EU-USA-LuftverkAbkG) – Gesetz zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrs- abkommen vom 15. Dezember 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten ei- nerseits und dem Haschemitischen Königreich Jordanien anderseits (Vertragsgesetz Europa- Mittelmeer-Jordanien-Luftverkehrsabkommen – Euromed-JOR-LuftverkAbkG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 26. Juni 2012 zwi- schen der Europäischen Union und ihren Mitglied- staaten und der Republik Moldau über den Ge- meinsamen Luftverkehrsraum (Vertragsgesetz EU-Moldau-Luftverkehrsabkommen – EU-MDA- LuftverkAbkG) Darüber hinaus hat der Bundesrat in seiner 925. Sit- zung am 19. September 2014 beschlossen, zu dem Ent- wurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundes- haushaltsplans für das Haushaltsjahr 2015 gemäß Artikel 110 Absatz 3 des Grundgesetzes und zu dem Finanzplan des Bundes 2014 bis 2018 gemäß § 9 Ab- satz 2 Satz 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft und gemäß § 50 Ab- satz 3 Satz 1 des Haushaltsgrundsätzegesetzes wie folgt Stellung zu nehmen: 1. Die positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren hat maßgeblich zur Konsoli- dierung des Bundeshaushalts beigetragen. Nicht zu- letzt die Zunahme der Steuereinnahmen bewirkte eine stetige Verringerung des Finanzierungsdefizits des Bundes. Die gute Lage am Arbeitsmarkt führte da- rüber hinaus zu einer verhältnismäßig stabilen Ent- wicklung der Sozialausgaben. Der Bundeshaushalt profitiert zudem in besonderem Maße von dem anhal- tend niedrigen Zinsniveau, das ebenfalls jährlich für erhebliche Entlastungen sorgt. Hinzu tritt eine vorübergehende Kürzung der Zuschüsse an einzelne Sozialversicherungszweige (Gesundheitsfonds und Gesetzliche Rentenversicherung). 2. Der Bundesrat erkennt an, dass die Bundesregierung nach einem avisierten strukturellen Überschuss 2014 nun mit dem Entwurf 2015 erstmals seit dem Jahr 1969 einen Haushalt ohne Nettokreditaufnahme erreichen kann. Im Vergleich zu den bisherigen Pro- gnosen mehren sich jedoch die Anzeichen für eine konjunkturelle Abkühlung. Die derzeitigen geopoliti- schen Unruhen zum Beispiel in der Ukraine und im Nahen Osten wirken zunehmend dämpfend auf die deutsche Wirtschaft, wobei das vollständige Ausmaß der zukünftigen Risiken derzeit noch nicht absehbar ist. Die anhaltende Nachfrageschwäche aus dem Eu- roraum belastet zusätzlich die wirtschaftliche Ent- wicklung. Zudem würde eine Normalisierung des all- gemeinen Zinsniveaus zu einer deutlichen Steigerung der Zinsausgaben führen. Um die Zielsetzung eines Haushalts ohne Neuverschuldung langfristig abzusi- chern, bedarf es daher weiterer Konsolidierungsan- strengungen. Dabei ist auch die Sicherung der ge- samtstaatlichen Einnahmenbasis unerlässlich, um die Finanzierung notwendiger Investitionen sowie zu- kunftswirksamer und wachstumsstärkender Maßnah- men von Bund, Ländern und Kommunen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenzen zu gewährleisten. 5146 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 (A) (C) (D)(B) 3. Der Bundesrat begrüßt die Bereitschaft der Bundesre- gierung, in dieser Legislaturperiode vermehrt in die Bereiche Bildung, Forschung, Verkehr und Infra- struktur zu investieren. Angesichts bedeutender In- vestitionsdefizite sieht er aber die Notwendigkeit, da- rüber hinausgehende zusätzliche Mittel in diese Zukunftsbereiche umzulenken. Dies würde weitere Wachstumsimpulse freisetzen und einer möglichen Erlahmung der Konjunktur entgegenwirken. 4. Der Bundesrat bittet in diesem Zusammenhang die Bundesregierung, im Bereich Verkehr und Infrastruk- tur alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um künftig mehr Planbarkeit, Verlässlichkeit und Flexibi- lität sicherzustellen. 5. Der Bundesrat erwartet, dass im Haushaltsentwurf 2015 des Bundes die für den Verkehrsbereich bereit- gestellten Regionalisierungsmittel erhöht werden. Der derzeitige Ansatz sollte zumindest um die zur De- ckung von Kostensteigerungen dringend erforderliche und bisher erfolgte Dynamisierung von jährlich 1,5 Prozent aufgestockt werden. Tatsächlich benötigt wird ein Betrag von 8,5 Milliarden Euro, wie das Gut- achten „Revision der Regionalisierungsmittel“ festge- stellt hat. Bei einem Einfrieren des Betrags bis zur Revision der Regionalisierungsmittel würde die Fi- nanzierungslücke zu den tatsächlichen ÖPNV-Kosten eine Größenordnung erreichen, die aus den Länder- haushalten nicht geschlossen werden kann. 6. Der Bundesrat stellt fest, dass eine Reihe an Faktoren einer verlässlichen und bedarfsgerechten Finanzie- rung von Bundesfernstraßen in den Ländern derzeit entgegensteht. Für eine nachhaltige und bedarfsge- rechte Finanzierung muss die Planung, Verfügbarkeit und Steuerung der Finanzmittel im Bundesfernstra- ßenbau deutlich verbessert werden. Darüber hinaus bittet der Bundesrat die Bundesregierung, die Zweck- ausgabenpauschale für Planung und Baubegleitung in angemessener Weise zu erhöhen. 7. Der Bundesrat weist erneut auf die Festlegung im Zuge der Einigung zur nationalen Umsetzung des Fis- kalpakts und des Stabilitäts- und Wachstumspakts hin, in dieser Legislaturperiode ein neues Bundesteil- habegesetz zu erarbeiten und in Kraft zu setzen, das die rechtlichen Vorschriften zur Eingliederungshilfe ablöst. Er bekräftigt seine Erwartung an eine Rege- lung, die mit Wirkung zum 1. Januar 2017 eine jährli- che Entlastung von 5 Milliarden Euro sicherstellt. 8. Die Bundesregierung hat angekündigt, im Herbst 2014 einen Gesetzentwurf mit Korrekturen und Nach- justierungen am Steuerrecht vorzulegen. Auch der Bundesrat sieht steuerpolitischen Handlungsbedarf. Er fordert die Bundesregierung erneut dazu auf, die von den Ländern für erforderlich gehaltenen weiteren steuerrechtlichen Änderungsbedarfe zeitnah zusam- menzutragen und deren Umsetzung zügig und in en- ger Abstimmung mit den Ländern vorzubereiten. Der Bundesrat erinnert in diesem Zusammenhang auch an die weiteren steuerpolitischen Vorhaben der Bundesregierung etwa im Kampf gegen missbräuchli- che Steuergestaltungen und grenzüberschreitende Ge- winnverlagerungen international operierender Unter- nehmen. Der Bundesrat geht davon aus, dass die Bundesregie- rung auf der Basis der mit den Ländern im Frühjahr vereinbarten Eckpunkte noch im Jahr 2014 einen Ge- setzentwurf zur Verschärfung der Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung und zum Absehen von Verfol- gung in besonderen Fällen (§§ 371, 398a Abgaben- ordnung) beschließen wird. 9. Der Bundesrat unterstützt die Zielvorgabe der Bun- desregierung im Koalitionsvertrag für die 18. Legisla- turperiode, bis zum Jahr 2018 in Deutschland eine flä- chendeckende Versorgung mit schnellem Internet mit Bandbreiten von mindestens 50 Mbit/s bereitzustel- len. 10.Der Bundesrat erkennt an, dass die Bundesregierung Maßnahmen zur Abmilderung der mit der Bundes- wehrreform und dem Abzug der Gaststreitkräfte ver- bundenen Schließung von Standorten vorgenommen hat. So können in den Haushaltsjahren 2015 bis 2018 Konversionsgrundstücke an Kommunen vergünstigt abgegeben werden. Die nähere Konkretisierung des entsprechenden Haushaltsvermerks im Haushalt 2015 sollte in Abstimmung mit den Ländern erfolgen. Auf- grund der erheblichen Tragweite der Bundeswehrre- form und des Abzugs der Gaststreitkräfte bittet der Bundesrat darum, die Kommunen bei Bedarf durch ergänzende Hilfen des Bundes zu unterstützen. 11.Der vorsorgende Hochwasserschutz stellt besonders vor dem Hintergrund des Hochwassers im Juni 2013 einen bedeutenden und gemeinsam von Bund und Ländern stärker wahrzunehmenden Aufgabenschwer- punkt dar. Der Bundesrat erinnert an die von den Agrarministerinnen und -ministern sowie den Um- weltministerinnen und -ministern geforderte Aufstel- lung eines Nationalen Hochwasserschutzprogramms. Er erwartet damit einhergehend eine aufgabenge- rechte Finanzausstattung, die sowohl eine Aufsto- ckung des Plafonds in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- schutz“ (GAK) als auch zusätzliche Mittel für einen Sonderrahmenplan Hochwasserschutz innerhalb der GAK beinhaltet, um die in einem Nationalen Hoch- wasserschutzprogramm vorgesehenen Maßnahmen zeitgerecht in Angriff nehmen zu können. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend hat mitgeteilt, dass er gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Unterrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und die in ihrem Zuständigkeitsbereich be- troffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages 2010 Drucksache 17/4325 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5147 (A) (C) (B) Unterrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Zweiter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminie- rungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständig- keitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregie- rung und des Deutschen Bundestages Diskriminierung im Bildungsbereich und Arbeitsleben Drucksachen 17/14400, 18/641 Nr. 21 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Drucksache 18/1935 Nr. A.10 Ratsdokument 9934/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.43 ERH 8/2014 Drucksache 18/2533 Nr. A.44 Ratsdokument 10911/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.45 Ratsdokument 11283/14 Drucksache 18/2533 Nr. A.46 Ratsdokument 11288/14 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 18/419 Nr. A.157 Ratsdokument 11738/13 Drucksache 18/419 Nr. A.158 Ratsdokument 11857/13 Drucksache 18/544 Nr. A.46 EP P7_TA-PROV(2013)0545 Drucksache 18/544 Nr. A.48 EP P7_TA-PROV(2013)0594 Drucksache 18/1393 Nr. A.39 Ratsdokument 8806/14 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 18/419 Nr. A.173 Ratsdokument 14116/13 Drucksache 18/1707 Nr. A.6 EP P7_TA-PROV(2014)0395 (D) 55. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 19 Elterngeld Plus und flexiblere Elternzeit TOP 20 Ausbau der Kindertagesbetreuung TOP 21 Einführung von Gruppenverfahren TOP 22 Bericht zum Anerkennungsgesetz TOP 23 Bericht zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung TOP 24 Entwicklungspolitik Anlagen
Gesamtes Protokol
Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500000

Guten Morgen! Nehmen Sie bitte Platz.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Sitzung kann nicht beginnen, weil der Präsident nicht da ist!)


– Kollege Kauder, ich würde gern die Sitzung eröffnen.
Könnten Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit schenken?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Sitzung ist eröffnet.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie über
einige Sachverhalte unterrichten. Der Ältestenrat hat sich
in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, wegen des
gesetzlichen Feiertages am Freitag, dem 3. Oktober, die
Frist für die Einreichung der Fragen zur mündlichen Be-
antwortung in der Sitzungswoche vom 6. Oktober auf
Montag, den 6. Oktober 2014, 10 Uhr, zu verlegen. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Interfraktionell ist vereinbart worden, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2588, der
sich mit einem Internen Abkommen zwischen den im
Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitglied-
staaten der Europäischen Union über die Finanzierung
vorgesehener Hilfen im Rahmen des AKP-EU-Partner-
schaftsabkommens beschäftigt, dem Haushaltsaus-
schuss zur Mitberatung sowie zur Berichterstattung nach
§ 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Sind Sie auch
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-
führung des Elterngeld Plus mit Partner-
schaftsbonus und einer flexibleren Elternzeit
im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz

Drucksachen 18/2583, 18/2625
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.


(Unruhe bei der CDU/CSU)


– Ich nehme zurzeit Rücksicht auf die Kommunikations-
bedürfnisse in der Unionsfraktion, würde aber gern die
Aussprache eröffnen.


(Eckhard Pols [CDU/CSU]: Bitte, Frau Präsidentin! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Legen Sie mal los, bitte! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aus unserer Sicht kann es losgehen!)


– Das ist schön.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin Manuela Schwesig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Wir schlagen heute ein neues
Kapitel in der Familienpolitik auf, einer modernen Fami-
lienpolitik, die darauf setzt, Beruf und Familie zu verein-
baren, Schluss damit zu machen, dass es ein gegenseiti-
ges Aufrechnen zwischen Zeit für Familie und Zeit für
den Job gibt, sondern beides zu ermöglichen. Das wün-
schen sich heute die jungen Paare in Deutschland. Das
wünschen sich die Mütter: wieder in den Job einsteigen
zu können, aber auch Zeit für Familie zu haben. Und das
wünschen sich vor allem die Väter. Jeder zweite Vater
sagt: Ich will neben meiner Berufstätigkeit natürlich
auch Zeit für Familie haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ihr alles wisst!)


Das Familienleben ist in den letzten Jahren bunter ge-
worden. Es gibt die vielen Paare, ob mit Trauschein oder
ohne, es gibt die vielen Alleinerziehenden, aber auch
Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien. All diese Fa-





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

milienformen eint, dass dort Menschen leben, die part-
nerschaftlich Verantwortung übernehmen: füreinander,
für Kinder, aber auch für pflegebedürftige Angehörige.
Deshalb muss moderne Familienpolitik darauf setzen,
diese Familienformen zu unterstützen. Sie darf den Fa-
milien nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, son-
dern muss sagen: Wenn ihr für Kinder oder für pflegebe-
dürftige Angehörige da seid, dann unterstützen wir euch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


In der Lebenswirklichkeit vieler Familien, gerade bei
jungen Paaren, sieht es so aus, dass sie spüren, dass sie
sich in einer Rushhour befinden. Die Rushhour des Le-
bens findet oft in der Zeit zwischen 25 und 45 Jahren
statt; das kann variieren. Die jungen Leute müssen und
wollen in dieser Zeit im Beruf durchstarten. Sie brau-
chen eine Existenzgrundlage für die Familie. Sie brau-
chen auch berufliche Perspektiven. In der gleichen Le-
bensphase wünscht man sich aber auch Kinder und fragt
sich: Wie geht es weiter mit dem Vater, der pflegebedürf-
tig wird? Zudem wollen wir, dass sich alle ehrenamtlich
engagieren, zum Beispiel im Sportverein oder im Eltern-
rat. All das kommt in dieser Lebensphase zusammen.
Mein Wunsch und das Ziel der Koalition ist, diese Le-
bensphase zu entzerren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist keine
Lüge, sondern ein Anspruch, den die Familien haben.
Die Politik muss alles dafür tun, dass dieser Anspruch
auch realisiert werden kann. Es ist eine gesellschaftliche
Aufgabe. Es ist eine Frage, die Mütter und Väter betrifft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Um diese Vereinbarkeit zu schaffen und um die Rush-
hour des Lebens für junge Familien zu entzerren, brau-
chen wir eine Zeitpolitik für beide Geschlechter, so wie
es der Deutsche Bundestag im März anlässlich des Inter-
nationalen Frauentags gefordert hat.

Meine Idee einer Zeitpolitik für Familien ist, dass
man sich die Zeit für Job und für Familie partnerschaft-
lich teilen kann. Wir wollen ein Arbeitszeitmodell für
Familien gestalten, das beides ermöglicht: einen guten
Job mit gutem Einkommen und guten Perspektiven zu
machen, aber auch gleichzeitig Zeit für die Familie zu
haben. Deshalb habe ich die Debatte über eine Familien-
arbeitszeit angestoßen.

Neun von zehn Frauen und Männern zwischen 20 und
39 Jahren finden heute, dass Mütter und Väter sich ge-
meinsam um das Kind kümmern sollen. 81 Prozent se-
hen beide Partner für das Familieneinkommen in Verant-
wortung.

Eine partnerschaftliche Aufteilung in der Familie ist
das, was sich viele Paare wünschen. Die wenigsten reali-
sieren diesen Wunsch aber, weil sie spüren, dass durch
den Druck, unter dem sie in der Arbeitswelt und im Fa-
milienleben stehen, beides gleichzeitig nicht so gut ge-
lingt. Die Männer arbeiten 40 Stunden und mehr und
wünschen sich eine gewisse Arbeitszeitreduzierung, um
mehr Zeit für die Familie zu haben. Die Frauen hängen
bei einer Arbeitszeit von durchschnittlich 19 Stunden
und würden eigentlich gern mehr arbeiten, um ihre be-
ruflichen Perspektiven zu verbessern. Das anzugleichen,
ist die Idee einer Arbeitszeit für Familien.

Mir begegnen immer zwei Vorurteile, die zeigen, dass
sich einige mit diesem Thema noch nicht wirklich be-
schäftigt haben und vielleicht noch nicht in der Lebens-
wirklichkeit der Familien angekommen sind:

Das erste Vorurteil ist: Wir können das den Familien
doch nicht vorschreiben. – Natürlich nicht. Das will auch
gar keiner. Die Familien wünschen sich aber eine part-
nerschaftliche Aufteilung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wenn sie es sich wünschen, müssen wir es ermöglichen.
Es geht um ein Angebot und nicht um eine Vorschrift für
Familien.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Das zweite Vorurteil ist: Wir belasten die Wirt-
schaft. – Hallo? Das Gegenteil ist der Fall. Wenn mehr
Frauen Zeit für den Job haben und leichter wieder in den
Beruf einsteigen können, dann entspricht das doch dem,
was sich die Wirtschaft wünscht: gutes Fachkräftepoten-
zial zu haben. Das Potenzial für unsere Wirtschaft liegt
bei den Frauen, wie die Chefin des Internationalen Wäh-
rungsfonds, Christine Lagarde, zu Recht gesagt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Modell hilft nicht nur den Familien, sondern ist
auch gut für die Arbeitswelt und damit für die Wirt-
schaft. Denn hier kommen zwei Dinge zusammen, die
gut passen. Wie viele Stunden im Rahmen der Familien-
arbeitszeit geleistet werden – 30, 32 oder 35 –, muss
nicht vorgeschrieben werden. Wir müssen nur die Mög-
lichkeit dazu schaffen.

Mit dem neuen Elterngeld Plus machen wir heute den
ersten wichtigen Schritt. Das Elterngeld Plus hebt das
bisherige Elterngeld auf die Höhe der Zeit. Es hat drei
Schwerpunkte:

Erstens. Es erleichtert die Kombination von Eltern-
geld mit Teilzeitarbeit. Eltern, die in der Elternzeit Teil-
zeit arbeiten, bekommen länger Elterngeld Plus und
haben damit über einen längeren Zeitraum die Möglich-
keit, Zeit für die Familie und Zeit für den Job zu haben.

Zweitens. Wenn Mütter und Väter gemeinsam Teil-
zeit arbeiten, wenn sie es partnerschaftlich tun, dann be-
kommen sie einen zusätzlichen Bonus, mit dem die Idee
der Partnerschaftlichkeit befördert wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Elterngeld Plus und dem Partnerschaftsbonus
setzen wir die Idee der besseren Vereinbarkeit von Beruf
und Familie um.





Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Wir wollen aber auch, dass Familien mehr
Möglichkeiten haben, entsprechend ihrer Familiensitua-
tion Auszeiten zu nehmen. Es wird der Realität nicht ge-
recht, nur auf die ersten drei Jahre zu schauen. Für viele
Eltern stellt sich vielmehr die Frage, ob sie beispiels-
weise dann mehr Zeit mit dem Kind verbringen können,
wenn es in die Schule kommt. Das ist ein Einschnitt für
die Familien, eine neue, schöne Herausforderung, eine
Zeit, in der man vielleicht noch einmal mehr Zeit für das
Kind braucht. Deshalb ist es gut, dass die Koalition ge-
meinsam beschlossen hat, zukünftig die Elternzeit flexi-
bler zu gestalten: Eltern können zukünftig bis zu 24 Mo-
nate Elternzeit zwischen dem dritten und achten
Geburtstag des Kindes nehmen. Damit berücksichtigen
wir insbesondere die Schulzeit, und das ist wichtig für
die Familien.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe es in dieser Woche wieder selbst erlebt: Am
Dienstag habe ich den Sohn vom Sportverein abgeholt.
Hinterher gab es einen Elternabend im Sportverein; da
war mein Mann. Gleichzeitig mussten wir am Abend
zum Elternabend in die Schule. Zum Glück war die Oma
für den Sohn da. Zwischendurch mussten auch noch die
Hausaufgaben gemacht werden. Ich habe Glück; denn
ich habe einen Fraktionsvorsitzenden, der sagt: Klar,
dass du da nicht bei der Fraktionssitzung dabei sein
kannst und zu Hause sein musst.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vielen Dank.

Ich weiß aber, dass das für viele Eltern noch nicht
Alltag ist, sondern es wenig Verständnis dafür gibt, wenn
einem Zeiten mit der Familie manchmal wichtiger sind.
Deswegen brauchen wir eine Arbeitswelt, die familien-
freundlicher wird. Nicht die Familien müssen immer ar-
beitsfreundlicher werden, sondern die Arbeitswelt fami-
lienfreundlicher. Das ist dann eine Win-win-Situation für
Arbeitswelt und Familie.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört auch, dass wir die Infrastruktur aus-
bauen. Diesbezüglich werden wir gleich ein zweites Ge-
setz miteinander beraten. Wir brauchen mehr Kitaplätze,
gute Ganztagsbetreuungsplätze und auch Ganztagsschu-
len in unserem Land. Damit aus der Kombination, aus
dem Dreiklang aus Infrastruktur – also gute Kitas und
Ganztagsschulen für Kinder und Familien –, finanzieller
Unterstützung – wie das gute Kindergeld, das Armut be-
kämpft – und Zeit für Familie, moderne Familienpolitik
wird, die nicht nur darauf setzt, dass die Mütter für die
Kinder da sind, sondern auch darauf setzt, dass Kinder
Mütter und Väter haben und beiden die Zeit für Familie
gegeben wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, die
Anhörung hat gezeigt, dass es große Zustimmung zu die-
sem Gesetz, zum neuen Elterngeld Plus gibt – von den
Familienverbänden, von den Gewerkschaften, auch von
der Wirtschaft. Auch die Länder haben das Elterngeld
Plus im Bundesrat parteiübergreifend begrüßt.

Mir ist wichtig, zu sagen, dass das neue Elterngeld
Plus auch eine Unterstützung für Alleinerziehende ist.
Auch die Alleinerziehenden können zum Beispiel den
Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen. Aus den Län-
dern gibt es eine Anregung, wie wir die Alleinerziehen-
den beim Elterngeld Plus noch besser berücksichtigen
können. Ich werbe dafür, diesen Ländervorschlag im
weiteren parlamentarischen Verfahren zu prüfen. Ich
halte ihn für gut.

Insofern freue ich mich auf das parlamentarische Ver-
fahren. Ich bedanke mich bei den Regierungsfraktionen
für die Unterstützung bei der Einbringung des Gesetz-
entwurfes hier ins Parlament. Ich freue mich jetzt auf die
Beratungen. Elterngeld Plus und – im Anschluss – das
neue Kitagesetz sind wichtige Fortschritte für die Fami-
lien im Land, und die wollen wir schnell auf den Weg
bringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500100

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Schwesig, Sie haben den Gesetzentwurf schön dar-
gestellt, mit den Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf verbessern sollen – Maßnahmen, wel-
che die Linke schon seit langem fordert, wie Flexibilisie-
rung der Elternzeit, Abschaffung des doppelten An-
spruchsverbrauchs bei Teilzeit während der Elternzeit.
Somit steht meine Fraktion der geplanten Reform grund-
sätzlich positiv gegenüber. Im Hinblick auf die konkrete
Ausgestaltung besteht aber erheblicher Nachbesserungs-
bedarf. Dem wird in den Beratungen, auf die auch Sie
sich freuen, hoffentlich entsprechend positiv entspro-
chen.

Ich will nur einige Punkte aufgreifen. Zum Thema Al-
leinerziehende. Frau Schwesig, Sie haben ausgeführt,
dass auch diese in den Genuss der Partnermonate kämen.
Sie haben aber wohlweislich die Voraussetzungen dafür
unterschlagen; denn die sind äußerst kritisch zu bewer-
ten. Hier wird an der alten Regelung festgehalten, die an
das alleinige Sorgerecht bzw. das alleinige Aufenthalts-
bestimmungsrecht anknüpft.


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Da machen wir noch was!)


Seit 2013 wurde durch die Sorgerechtsreform der Bun-
desregierung aber ein anderes Leitbild für das Sorge-
recht verankert. Der Gedanke der gemeinsamen elter-





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

lichen Sorge sollte wieder in den Vordergrund des
Denkens der Menschen geraten. Einerseits will der Ge-
setzgeber die gemeinsame elterliche Sorge von nicht
oder nicht mehr miteinander verheirateten Paaren eta-
blieren, andererseits schließt er ebendiese beim Bezug
der Partnermonate und des Partnerschaftsbonus aus.
Hier werden Alleinerziehende, die ohnehin schon über
Gebühr gefordert sind, entgegen dem neu verankerten
Leitbild gezwungen, sich von ebendiesem zu verab-
schieden nach dem Motto „Willst du die gemeinsame
Sorge für dein Kind teilen, musst du dich von den finan-
ziellen Vorteilen in Form von Bonizahlungen oder Part-
nermonaten verabschieden“.

Eine weitere Benachteiligung für Alleinerziehende
stellt der angegebene Stundenumfang der Teilzeiter-
werbstätigkeit dar. 25 bis 30 Wochenstunden Erwerbs-
tätigkeit je Elternteil für ein Elternpaar sind nicht mit
25 bis 30 Wochenstunden Erwerbstätigkeit für einen al-
leinerziehenden Elternteil zu vergleichen. Das Familien-
ministerium hat in seinem Dossier zur Müttererwerbstä-
tigkeit selbst festgestellt, dass alleinerziehende Mütter
mit Kleinkindern im Schnitt nur sieben Stunden pro Wo-
che arbeiten. Nun wissen wir alle, was Durchschnitt
heißt: Der See war im Durchschnitt 80 Zentimeter tief,
trotzdem ist die Kuh ertrunken. Im Ergebnis bedeutet
das, dass nur einem sehr geringen Teil von Alleinerzie-
henden – in der Regel sind das Mütter – der Vorteil von
zusätzlichen Monaten Elterngeld zugutekommt.

Die Intention, Frau Schwesig, die dahintersteckt – Sie
haben in einer Fragestunde ausgeführt, dass Sie keine
Minijobs, sondern existenzsichernde Arbeit fördern wol-
len –, kann ich verstehen. Aber es entspricht nicht den
realen Gegebenheiten. Diese Regelung als Beitrag zu se-
hen, damit Frauen ihre Wochenarbeitsstunden erhöhen,
kann ich nicht nachvollziehen. Mit dieser Regelung wer-
den weder mehr Arbeitsplätze noch mehr Kitaplätze
geschaffen. Ich hoffe, dass wir auch in diesem Zusam-
menhang in den Beratungen zu adäquaten Lösungen
kommen, wozu natürlich auch flankierende Maßnahmen
wie der Kitaausbau gehören.

Zum Thema Mehrlingsgeburten. Im vorliegenden Ge-
setzentwurf steht: Mit der gesetzlichen Präzisierung soll
einem Urteil des Bundessozialgerichtes von 2013 nach-
gekommen werden, indem festgelegt wird, dass bei
Mehrlingsgeburten nur ein Elterngeldanspruch entsteht.
Somit entsteht künftig ein Elterngeldanspruch pro Ge-
burt und nicht pro Kind. Im Urteil des Bundessozialge-
richts – man kann es in der Begründung nachlesen –
steht jedoch, unter Berücksichtigung aller juristischer
Auslegungsmethoden, klipp und klar, dass bei Mehr-
lingsgeburten ein Elterngeldanspruch pro Kind entsteht.

Das Bundeselterngeldgesetz fußt auf dem Bundeser-
ziehungsgeldgesetz, hat dieses quasi abgelöst. Im Gesetz
wurde damals expressis verbis festgelegt, dass das Bun-
deserziehungsgeld für jedes Kind gezahlt wird, wenn
mehrere Kinder in einem Haushalt großgezogen werden.
Demnach ist diese „Geburtenzahlung“ – so will ich sie
einmal nennen – nach Auffassung des Bundessozialge-
richts eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung
nach Artikel 3 Grundgesetz.
Zur gesetzlichen Präzisierung. Warum wird dies so
gemacht? Sagen Sie es doch einfach! Das ergibt sich
nämlich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine
Schriftliche Frage meiner Fraktion zu den finanziellen
Auswirkungen des Elterngeld Plus. In der Antwort hieß
es, dass Mehrausgaben in Höhe von etwa 96 Millionen
Euro zu erwartet seien, aber durch die neue Regelung in
Bezug auf Mehrlingsgeburten mit Minderausgaben in
Höhe von 100 Millionen Euro zu rechnen sei. Insgesamt
werden die Einsparungen bis 2018 auf 170 Millionen
Euro geschätzt. Hier wird wieder einmal den einen Fa-
milien etwas weggenommen, was den anderen zugute-
kommen soll. Ein Hoch auf die so hochgepriesene
schwarze Null.

Zur Flexibilisierung der Elternzeit. Die Flexibilisie-
rung der Elternzeit mit der Möglichkeit der Inanspruch-
nahme bis zum vollendeten achten Lebensjahr begrüßen
wir ausdrücklich. Eine solche Flexibilisierung haben wir
schon seit Jahren gefordert. Wir wollten sie eigentlich
nur bis zur Einschulung – wir haben vorgeschlagen: bis
zur Vollendung des siebten Lebensjahres –, jetzt soll die
Möglichkeit sogar bis zur Vollendung des achten Le-
bensjahres bestehen. Das freut uns, auch wenn wir da-
mals mit unserem Antrag verlacht wurden. Aber die
Linke wirkt eben, auch wenn es manchmal etwas länger
dauert.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss muss ich noch einen Kritikpunkt auf-
greifen, und zwar zum Thema ausländische Staatsange-
hörige mit humanitären Aufenthaltstiteln. Die Bundesre-
gierung greift in dem Gesetzentwurf leider nicht die
nötigen Änderungen auf, die der Erste Senat des Bun-
desverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 10. Juli
2012 angemahnt hat. Dieser hat festgestellt, dass eine
Änderung des § 1 Absatz 7 Bundeselterngeld- und El-
ternzeitgesetzes vorzunehmen ist, weil der Ausschluss
von ausländischen Staatsangehörigen mit humanitärem
Aufenthaltstitel vom Elterngeld verfassungswidrig ist.
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ha-
ben alle Personen mit humanitärem Aufenthaltstitel, die
bereits länger als drei Jahre in Deutschland leben, einen
Anspruch auf Elterngeld, unabhängig von ihrer Integra-
tion in den Arbeitsmarkt. Auch hier besteht Änderungs-
bedarf, um den aktuell bestehenden verfassungswidrigen
Ausschluss vom Bezug von Elterngeld zu beenden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Kritikpunkte – das muss ich sagen – werden
von etlichen Familienverbänden geteilt. Beispielhaft will
ich anführen den Verband Alleinerziehender Mütter und
Väter, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie,
den Familienbund der Katholiken, den Verband binatio-
naler Familien und Partnerschaften – und, und, und. Na
ja, sogar das Bundessozial- und das Bundesverfassungs-
gericht teilen unsere Kritikpunkte. Wir können doch
nicht alle falschliegen.

Liebe Kollegen, Sie sehen schon: Es gibt im Rahmen
der Gesetzesberatungen noch einiges zu tun. Ich setze
meine Hoffnung wieder einmal auf die Beratungen im





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)

Ausschuss und hoffe, dass es nicht wieder Jahre dauert,
bis sich gute Regelungen durchsetzen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500300

Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn man sich mit jungen Familien unterhält,
wird einem immer zurückgemeldet, dass die Einführung
von Elternzeit und Elterngeld eine der wichtigsten politi-
schen Maßnahmen war, die wir in den vergangenen Jah-
ren durchgeführt haben. Wir haben 2007 unter Familien-
ministerin Ursula von der Leyen das Elterngeld und die
Elternzeit eingeführt. Wir haben das Elterngeld in der
letzten Legislaturperiode unter Familienministerin Kristina
Schröder entbürokratisiert, auch für Unternehmer. Wir
haben die Einkommensberechnung einfacher gemacht.
In dieser Koalition gehen wir den nächsten konsequen-
ten Schritt und machen die Elternzeit und das Elterngeld
noch einmal flexibler und individueller. Wir schneiden
es besser auf die Bedürfnisse junger Familien zu. Insge-
samt kann man also sagen: Das Elterngeld ist ein wirkli-
ches Erfolgsmodell.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist ein Erfolgsmodell; denn es ermöglicht vor allem
drei Dinge:

Zum einen bietet es einen wirklichen Schonraum im
ersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sich die jungen
Familien möglichst stark auf das Kind konzentrieren
wollen. Im ersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sich
das Leben der Eltern stark ändert, was insbesondere
beim ersten Kind der Fall ist, bieten Elterngeld und El-
ternzeit einen Schonraum. Ein solcher Schonraum – das
muss man wirklich sagen – ist nicht selbstverständlich.
Das wird deutlich, wenn wir uns mit Frankreich oder Is-
rael vergleichen. Dort fangen die Eltern sehr viel früher
wieder an zu arbeiten, schon nach wenigen Monaten. Ein
ganzes Jahr einen Schonraum zu haben, auch mit finan-
ziellen Vergünstigungen, ist wirklich ein Luxus, den junge
Familien in Deutschland haben. Auf diesen Schonraum,
der durch Elterngeld und Elternzeit geschaffen wurde,
können wir stolz sein.

Zweitens. Wir schaffen auch einen finanziellen Aus-
gleich, der nicht zu unterschätzen ist. Auch das ist etwas,
was international wirklich außergewöhnlich ist. Wir er-
setzen etwa zwei Drittel des letzten Nettoeinkommens.
Das ist ein sehr großer Betrag, der es den jungen Fami-
lien ermöglicht, Beruf und Familie zu vereinbaren und
sich wirklich Zeit für die Familie zu nehmen, ohne in fi-
nanzieller Hinsicht auf allzu viel verzichten zu müssen.
Sie können ihren Lebensstandard halten, das Haus oder
die Wohnung abbezahlen und ihren Lebensunterhalt be-
streiten. Deshalb sagen die Familien zur Ausgestaltung
des Elterngeldes – maximal 1 800 Euro bekommt ein
Partner, wenn er aus dem Beruf aussteigt –: Das ist ge-
nau das, was wir brauchen; denn das ermöglicht uns die
Vereinbarkeit überhaupt erst.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der dritte Punkt ist das Thema Partnerschaftlichkeit.
Das Elterngeld ermöglicht es, Partnerschaftlichkeit zu
leben und neue Modelle der Partnerschaftlichkeit auszu-
probieren. Ganz sicher kennt jeder aus seinem Umfeld
die Erzählungen, die Geschichten von jungen Familien,
gerade von jungen Männern, die sagen: Ich hätte mir
vorher nicht vorstellen können, für die Familie, für das
Baby länger aus dem Job auszusteigen. Ich habe es ge-
macht, weil es die Elternzeit, weil es das Elterngeld gibt.
Das war die wertvollste Erfahrung in meinem Leben. Es
war eine ganz, ganz wichtige Erfahrung, und beim
nächsten Mal bleibe ich länger zu Hause, weil ich sehe,
dass diese Zeit mit dem Kind auch für mich eine ganz
wertvolle Erfahrung ist. Ich sehe, dass es wichtig ist,
auch als Vater Zeit mit dem Baby zu verbringen. – Diese
Modelle der Partnerschaftlichkeit sind neben dem Geld
und neben dem Schonraum der dritte Aspekt.

Dies macht das Elterngeld zum Erfolgsmodell. Wir
als Union sind stolz auf das Elterngeld, stolz auf die El-
ternzeit. Wir sind der Meinung, dass 5,4 Milliarden Euro
zwar eine ganze Menge Geld für den Bundeshaushalt
sind – wir wissen um die große Verantwortung, die alle
Kollegen aus den anderen Ressorts mit für die Familien
in unserem Land übernehmen –, aber wir wissen, dass es
gut angelegtes Geld ist für die jungen Familien in unse-
rem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden auch durch Studien gestützt, die den Er-
folg belegen, etwa die Evaluation der ehe- und familien-
bezogenen Maßnahmen und Leistungen. Hier wurde das
Elterngeld ja nicht auf subjektive Gesichtspunkte hin un-
tersucht, also nicht darauf, was die Familien davon hal-
ten, sondern Kriterien wie die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, das Wohlergehen von Kindern, die wirt-
schaftliche Stabilität und die Erfüllung von Kinderwün-
schen wurden betrachtet. Hier schneidet das Elterngeld
sehr, sehr gut ab. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung
hat kürzlich eine Studie aufgelegt, die untersucht, wie
das Elterngeld wirkt. Sie bescheinigt dem Elterngeld ei-
nen durchschlagenden Erfolg.

Deshalb haben wir im Wahlkampf in unserem Regie-
rungsprogramm versprochen, dass wir das Elterngeld
weiterentwickeln, dass wir mehr Freiräume bei der Ge-
staltung ermöglichen und dass wir ein Teilelterngeld ein-
führen, das bis zu 28 Monate bezogen werden kann. So
steht es in unserem Regierungsprogramm. Das war unser
Wahlversprechen. Heute, genau ein Jahr nach der Bun-
destagswahl, können wir sagen: Wir setzen dieses Wahl-
versprechen um. Unsere erste familienpolitische Maß-
nahme ist die Umsetzung dieses Wahlversprechens für
mehr Flexibilität und mehr Partnerschaftlichkeit für
junge Familien. Wir beraten heute einen Gesetzentwurf





Nadine Schön (St. Wendel)



(C)



(D)(B)

zur Einführung des Elterngeld Plus. Damit setzen wir ei-
nes der wichtigsten Wahlversprechen aus unserem Re-
gierungsprogramm um. Daran sieht man: Die Familien
in unserem Land können sich auf die Union verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Paare können selbst entscheiden, ob ein Partner das
ganze Jahr zu Hause bleibt oder ob beide Partner sich
diese Zeit im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf teilen. Sie können sich entscheiden, ob sie ge-
meinsam wieder in den Beruf einsteigen oder nacheinan-
der. Sie können entscheiden, ob sie die Partnermonate
gemeinsam nehmen oder nacheinander. Wir schaffen
eine maximale Flexibilität und maximale Möglichkeiten
für junge Familien. Genau das ist der Grundsatz unserer
Familienpolitik, der Familienpolitik der Unionsfraktio-
nen. Wir sagen: Wir wollen den Familien nicht vor-
schreiben, wie sie zu leben haben, wie sie die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf zu gestalten haben. Das kann
in unserem Land jede Familie für sich selbst entschei-
den. Deshalb wollen wir hier eine größtmögliche Band-
breite, größtmögliche Partnerschaftlichkeit und größt-
mögliche Flexibilität.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich freue mich, dass wir nun in die Beratungen dieses
wichtigen Gesetzentwurfs einsteigen. Das wird einige
Wochen dauern. Ich selbst werde nicht bei allen Beratun-
gen dabei sein; das ist unschwer zu erkennen. Auch
wenn wir für die Familien in unserem Land vieles re-
geln, vor unserer eigenen Haustür – da muss ich der
Ministerin recht geben – können wir immer noch nicht
so wahnsinnig gut kehren. Unsere Arbeitsstrukturen sind
nicht sehr familienfreundlich, und für Abgeordnete gibt
es auch keine Elternzeit und kein Elterngeld. Die Baden-
Württemberger gehen hier mit gutem Beispiel voran.
Vielleicht ist das ein Appell an uns alle, einmal darüber
nachzudenken, vor der eigenen Haustür zu kehren und
zu überlegen, wie Politik familienfreundlicher sein kann.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Dein Fraktionsvorsitzender unterstützt dich auch!)


Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen bei den
Beratungen mit den Verbänden viel Erfolg. Ich verab-
schiede mich jetzt in den Mutterschutz, leider ohne an-
schließend Elternzeit zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500400

Die besten Wünsche für Ihre Familie. – Das Wort hat

die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.

Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805500500

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Natürlich auch von

meiner Seite die besten Wünsche und alles Gute für die
Kollegin Nadine Schön. Des einen Leid ist des anderen
Freud: Wir haben es dann gut, wenn Sie schneller zu uns
zurückkommen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einigen ist viel-
leicht noch nicht aufgefallen, dass wir heute über einen
alten Bekannten sprechen, nämlich über das Teileltern-
geld. Das Teilelterngeld gerecht gestalten: Das war
schon in der letzten Legislaturperiode eigentlich Kon-
sens aller Fraktionen hier im Haus. Ich erinnere mich
noch sehr gut, dass der entsprechende Gesetzentwurf,
den es ja schon gab, wieder in der Schublade verschwun-
den ist – Stichwort Finanzierungsvorbehalt. Unsere da-
maligen Anträge, in denen wir forderten, die kleine
Summe lockerzumachen, die dafür notwendig ist, die fi-
nanzielle Benachteiligung von Eltern, die während des
Elterngeldbezugs Teilzeit arbeiten, auszugleichen, wur-
den abgelehnt. Man sieht: Manches braucht einfach ein
bisschen länger.

Das Teilelterngeld kommt jetzt mit einem smarteren
Label. Es heißt jetzt Elterngeld Plus. Das klingt unbe-
streitbar etwas besser.


(Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist auch besser!)


Selbstverständlich finden wir es gut, dass die beschrie-
bene Benachteiligung jetzt zumindest zum Teil aufgeho-
ben wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Kollegin Franziska Brantner wird gleich aber dar-
stellen, dass es hier noch viel mehr und flexiblere Mög-
lichkeiten gäbe.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zeitgleich mit
dem Gesetzentwurf zum Teilelterngeld, der in der letzten
Legislaturperiode in der Schublade verschwunden ist, ist
dort auch noch ein anderer gelandet, nämlich der zur
Ausweitung des Unterhaltsvorschusses. Die Ausweitung
des Unterhaltsvorschusses wäre nun wirklich ein echter
Beitrag zur Verbesserung der Situation von Alleinerzie-
henden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Genau dieser Gesetzentwurf hat es aber bis dato nicht
wieder aus dieser Schublade herausgeschafft. Ich finde,
es ist eine Aufgabe für uns, dafür zu sorgen, zumal sich
ja die Ministerin – wir haben es gehört – die Unterstüt-
zung von Alleinerziehenden auf ihre Fahnen geschrieben
hat.

Es ist auch schon erwähnt worden: Man kann nicht
wirklich bemerken, dass diese Regierung Alleinerzie-
hende unterstützt. Das muss ich auch am vorliegenden
Gesetzentwurf kritisieren. Es ist geplant, Alleinerzie-

(A)






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

hende, die ein gemeinsames Sorgerecht haben, vom Be-
zug der Partnermonate und vom Partnerschaftsbonus
beim Elterngeld auszuschließen. Es kann ja nun wirklich
nicht sein, dass bei der Ausgestaltung von Elterngeld
und Elterngeld Plus Anreize dafür gesetzt werden, kein
gemeinsames Sorgerecht in Anspruch zu nehmen. Das
kann nicht im Sinne der Kinder sein. Hier besteht ganz
dringender Handlungsbedarf im Gesetzgebungsverfah-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Daneben wird das Elterngeld auf das Arbeitslosen-
geld II angerechnet. Das heißt, für Eltern im ALG-II-Be-
zug fällt es faktisch weg. Gerade armen Eltern, die auf
die finanzielle Unterstützung besonders angewiesen
sind, wird der vielbeschworene Schonraum nicht ge-
währt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das hat die Fraktion der Ministerin in der letzten Legis-
laturperiode übrigens ganz scharf kritisiert. Davon ist
heute nichts mehr zu hören. Ich finde das nicht akzepta-
bel. Wir akzeptieren nicht, dass mit dem Gesetzentwurf,
den wir heute beraten, zwar eine Ungerechtigkeit besei-
tigt, aber eine Riesenungerechtigkeit mit Blick auf die
armen Familien in diesem Land nicht angegangen wird.
Hier werden wir nicht mitmachen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir haben heute einiges über Partnerschaftlichkeit
gehört. Zwei Drittel der Eltern wünschen sich eine part-
nerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienar-
beit. Nur 6 Prozent können das in ihrem Alltag umset-
zen. Diese riesige Differenz zwischen Wunsch und
Wirklichkeit muss uns natürlich alarmieren, und sie ist
auch ein Auftrag an uns Familienpolitiker.

Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus sind kleine
Schritte, aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir
feststellen: Das ist nicht der große Wurf.

Wir wissen doch, wo die großen Killer der Partner-
schaftlichkeit stecken. Der unlängst vorgelegte Abschluss-
bericht zur Evaluation der ehe- und familienbezogenen
Leistungen hat uns das ja schon wieder hinter die Ohren
geschrieben: Es ist unter anderem das Ehegattensplit-
ting, das Alleinverdienerehen privilegiert und damit ge-
gen eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und
Familienarbeit wirkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir tatsächlich wollen, dass Eltern so leben kön-
nen, wie sie es sich selber wünschen, dann müssen wir
weg vom Ehegattensplitting und alle Familien ganz di-
rekt besser fördern und unabhängig vom Trauschein bes-
ser unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Sönke Rix [SPD]: Sieht Frau Göring-Eckardt das auch so?)


– Ja, das sieht sie so.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich erinnere
mich noch gut an ein Politikmagazin im Fernsehen kurz
vor der Bundestagswahl. Da hat Manuela Schwesig die
Nachteile des Ehegattensplittings ganz klar beschrieben,
und ich habe gedacht: Hui! – Seit der Bundestagswahl
hört man überhaupt nichts mehr. Ich erwarte, ehrlich ge-
sagt, von der Ministerin, dass sie die Evaluation der ehe-
und familienbezogenen Leistungen ernst nimmt und sich
nicht den Rest der Legislaturperiode vor den wirklich
harten Fragen, was die Partnerschaftlichkeit in den Fa-
milien angeht, wegduckt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Aus Hessen kommt die große Initiative gegen das Ehegattensplitting, oder?)


Zu diesen harten Fragen gehört auch die Frage nach
dem Recht auf Rückkehr in Vollzeit. Das ist so wichtig,
um insbesondere die Frauen aus der Teilzeitfalle zu ho-
len, aber eben auch, um die Männer zu ermutigen, über-
haupt in Teilzeit zu gehen, weil sie wissen, dass sie da
auch wieder herauskommen. Das Recht auf Rückkehr in
Vollzeit ist eines der wichtigsten Instrumente für mehr
Partnerschaftlichkeit. Es findet sich ja sogar im Koali-
tionsvertrag der Großen Koalition. Es ist aber eines der
wenigen im Koalitionsvertrag beschriebenen Instru-
mente, die in der konkreten Arbeitsplanung nicht vor-
kommen. Das können wir nicht akzeptieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zu den harten Fra-
gen gehört übrigens auch die Frage nach der Entgelt-
gleichheit. Wenn Frauen fast ein Viertel weniger verdie-
nen als Männer, dann ist doch klar, dann ist es doch
individuell betrachtet rational absolut nachvollziehbar,
warum sich junge Paare schwuppdiwupp in klassischen
Rollenmustern wiederfinden, die sie selbst gar nicht
mehr leben wollen. Es ist unsere Aufgabe, jungen Fami-
lien zu ermöglichen, so zu leben, wie sie selbst es sich
vorstellen. Das ist für mich echte Wahlfreiheit. Viele Fa-
milien können das heute nicht. Hier besteht ganz drin-
gender Handlungsbedarf. Wir können nicht bis nach der
nächsten Wahl warten. Deshalb betrachten wir den heuti-
gen Gesetzentwurf als einen guten Startschuss. Aber er
darf keinesfalls schon als Zielgerade für diese Legisla-
turperiode angesehen werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500600

Die Kollegin Dr. Carola Reimann hat für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1805500700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

Ich bin im Oktober zu einer Tagung eingeladen. Der Ti-
tel dieser Tagung lautet: „Wer schneller lebt, ist früher
fertig …“. Dieser Satz beschreibt die Lage von Familien
und Eltern in unserem Land sehr gut. Eltern sind Meister
im Optimieren. Sie wollen beides: Beruf und Familie.
Sie geben dafür alles: Sie engagieren sich voll im Beruf,
bringen immer volle Leistung, sind oft rund um die Uhr
erreichbar und sind nebenbei aufmerksame, liebevolle
und engagierte Eltern, die sich vom ersten Lebensmonat
ihrer Kinder an um beste Förderung und Chancen bemü-
hen.

Und doch bleibt ein Unbehagen, dass Wichtiges zu
kurz kommt: Kinder, denen manchmal doch die Eltern
fehlen, der Partner, den man aus den Augen verliert, man
selbst und die eigene Gesundheit. Vollzeiterwerbstätige
Mütter sind oft früher fertig. Sie sind in einem erschre-
ckenden Ausmaß von Burn-out betroffen. Das spricht
Bände und deutet auf eine fortwährende Überforderung
hin. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mütter zu-
rück an den Herd, Schwiegertöchter an die Schnabeltas-
sen, das kann ja wohl nicht die Lösung dieses Dilemmas
sein.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU] und Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Gleichstellung ist eine wichtige Errungenschaft. Sie
macht unsere Gesellschaft bunter, gerechter und lebens-
werter. In die Zeiten, in denen die Lebensverläufe durch
das Geschlecht vorherbestimmt waren, will ja außer ein
paar ganz Erzkonservativen niemand mehr zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die richtige Antwort hat Ministerin Schwesig mit ih-
ren Familienarbeitszeiten gefunden; denn sie löst damit
die Zeitkonflikte aus dem ausschließlich Privaten he-
raus. Nicht allein jede und jeder Einzelne ist gefragt, im-
mer besser, immer schneller, immer optimierter und or-
ganisierter zu werden. Nein, es ist auch Aufgabe von uns
allen, von Politikerinnen und Politikern, gemeinsam mit
den Tarifpartnern die richtigen Rahmenbedingungen zu
schaffen. Im Klartext: auch für kürzere Arbeitszeiten zu
sorgen.


(Beifall bei der SPD)


Heute machen wir mit dem Elterngeld Plus den ersten
Schritt. Es räumt Eltern mehr Spielraum bei der Nutzung
des Elterngeldes ein. Es belohnt eine partnerschaftliche
Aufteilung mit zusätzlichen Elterngeldmonaten; das ha-
ben wir hier gehört. Es ermöglicht Eltern, die Elternzeit
besser in ihrem eigenen Sinne und nach ihren eigenen
Bedürfnissen zu nutzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Detailregelung
werden wir im parlamentarischen Verfahren noch ange-
hen, und zwar im Interesse derjenigen Gruppe, die wie
keine zweite mit ihrer knappen Zeit jonglieren muss: die
Alleinerziehenden. Das ist hier schon angeklungen. Ar-
beiten gehen, Haushalt schmeißen, Essen kochen, vorle-
sen, trösten – für Alleinerziehende sind all das Tätigkei-
ten, für die sie ganz allein zuständig sind, während all
das in Paarfamilien von zweien geleistet werden kann.
Wir haben deshalb schon bei der Einführung des Eltern-
geldes dafür gesorgt, dass Alleinerziehende genauso
viele Elterngeldmonate bekommen wie Paare.

Und jetzt? Was vor acht Jahren noch gut geklappt hat,
wird heute durch eine an sich sehr positive Entwicklung,
nämlich dass sich immer mehr alleinerziehende Eltern
für das gemeinsame Sorgerecht entscheiden, immer
schwieriger. Darauf haben uns fast alle Familienverbände
hingewiesen. Auch der Bundesrat verlangt in seiner Stel-
lungnahme vom letzten Freitag eine pragmatische Lö-
sung im Sinne und im Interesse der Alleinerziehenden
mit gemeinsamer Sorge. Diese Anregungen werden wir,
Kollege Wunderlich und Kollegin Dörner, im parlamen-
tarischen Verfahren sehr gerne aufgreifen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Elterngeld Plus
ist nur die erste von drei zeitpolitischen Reformen, die
sich die Große Koalition vorgenommen hat. Dazu zählt
auch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf, das Erleichterungen für Beschäftigte
mit pflegebedürftigen Angehörigen bringt; Ministerin
Schwesig wird es in Kürze vorlegen. Im nächsten Jahr
folgt dann der Gesetzentwurf aus dem Ministerium für
Arbeit und Soziales, mit dem wir Eltern nach einer Teil-
zeitphase garantieren, auf eine Vollzeitstelle zurückzu-
kehren, Kollegin Dörner. Das gehört zur sehr konkreten
Arbeitsplanung des Arbeitsministeriums.


(Beifall bei der SPD)


Mit diesen drei Reformvorhaben machen wir große
und wichtige Schritte zur Vereinbarkeit. Aber wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten wollen eigentlich
noch einen weiteren größeren Schritt gehen: Wir wollen,
dass aus dem Elterngeld Plus bald die Familienarbeits-
zeiten werden. Wir wollen andere Arbeitszeitmuster,
nicht nur für Eltern von Kleinkindern, sondern auch für
die Eltern von älteren Kindern;


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


denn die Zeitkonflikte von Familien beschränken sich
nicht auf die Zeit, wenn Kinder klein und niedlich sind.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckhard Pols [CDU/CSU]: Große sind auch niedlich! – Das wächst sich aus!)

Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1805500800

Eltern erleben oft, dass mit dem Alter des Kindes die
Probleme der größeren und auch niedlichen Kinder eher
zunehmen.

Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg, damit
beide Elternteile ihre beruflichen Wünsche verwirkli-
chen können und eine eigene finanzielle Grundlage ha-
ben. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg für die
Familien, damit sie gleichzeitig auch Familie sein kön-
nen. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg – auch
das ist hier schon gesagt worden – für die Wirtschaft, die
für sie immer kostbarer werdenden Fachkräfte zu halten.





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)

Kluge Wirtschaftsführer wie Eric Schweitzer, Chef des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages, haben
das bereits erkannt; denn wenn beide Elternteile im Er-
werbsleben bleiben, bedeutet das für die Unternehmen
eine höhere Zahl an Fachkräften, als wenn einer, meis-
tens eine, die Brocken hinwirft.

Ministerin Schwesig hat mit dem Thema Familienar-
beitszeiten die zentrale Debatte angestoßen. Heute ma-
chen wir den ersten gesetzgeberischen Schritt. Am Ende
muss eine Gesellschaft stehen, die Familien mehr Zeit
lässt, und eine Gesellschaft, in der wir nicht früher fertig
sind, sondern gemeinsam länger zufrieden.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805500900

Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805501000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Ja, die Lebensrealität der jungen Familien
hat sich in den letzten Jahren verändert. Es ist gut, dass
das Elternzeitgesetz nun der Realität angepasst wird. Ich
sehe in der Tat positive Bewegungen.

Es sind schon einige Punkte angesprochen worden:
Bisher bekommen Eltern bis zu 14 Monaten Elterngeld,
wenn beide Elternteile nach der Geburt des Kindes nach-
einander eine berufliche Auszeit für die Betreuung des
Kindes nehmen. Wenn aber ein Elternteil oder sogar
beide weiter in Teilzeit arbeiten, hat sich der Elterngeld-
anspruch bisher nicht verlängert. Mit der Einführung
von Elterngeld Plus wird diese Lücke geschlossen, und
das ist auch gut so.

Die Eltern haben bisher einen Teil ihres Elterngeldan-
spruches verloren. Das war eine absurde Situation; denn
das Elterngeld sollte ja dazu dienen, einen früheren Wie-
dereinstieg in den Beruf sicherzustellen, gleichzeitig
aber auch mehr Zeit für die Kindererziehung zu ermögli-
chen. Es ist richtig und wichtig, die bisherige Regelung
zu korrigieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit der Flexibilisierung der Elternzeit bis zum vollen-
deten achten Lebensjahr macht das Familienministerium
einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Was
fehlt, ist aber eine passende Flexibilisierung des Eltern-
geldes. Denn es war bereits 2008 eine Forderung der
Linken – das hat Kollege Wunderlich schon gesagt –, El-
terngeld und Elternzeit flexibler miteinander zu kombi-
nieren. Es ist richtig, nicht nur an die Zeit nach der Ge-
burt zu denken, sondern auch an Übergänge, zum
Beispiel die Schuleingangsphase. Diesen Übergang ge-
meinschaftlich und partnerschaftlich zu gestalten, kön-
nen sich weiterhin nur Paare mit einem sehr guten Ein-
kommen leisten. Denn das Elterngeld wurde nicht
flexibilisiert.

Wir hatten vorgeschlagen, dass das Elterngeld in Teil-
abschnitten von mindestens zwei Monaten bis zur Voll-
endung des siebten Lebensjahres in Anspruch genom-
men werden kann. Wir wären auch mit dem achten
Lebensjahr einverstanden, wenn man es miteinander
kombiniert und für alle Eltern ermöglicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir freuen uns, dass dieser Vorschlag zumindest zum
Teil aufgenommen wurde.

Das heißt, das Elterngeld Plus ist ein Schritt in die
richtige Richtung. Aber solche für Eltern positiven Ver-
änderungen gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man den
Gesetzentwurf liest, reibt man sich aber verwundert die
Augen. Denn kosten soll das Vorhaben nichts. Wie hat
man das geschafft?

Man geht nicht etwa davon aus, dass die neuen Rege-
lungen nicht von den Eltern in Anspruch genommen
werden – das wäre furchtbar –, sondern man hat woan-
ders eine Einsparmöglichkeit gefunden. Das Bundesso-
zialgericht hatte im Sommer 2013 geurteilt, dass der El-
terngeldanspruch für jedes Kind besteht. Das hieß bis
dato, dass zum Beispiel Eltern, die Zwillinge bekommen
haben, Elterngeld für beide Kinder beantragen und sich
gemeinsam um diese doppelte Herausforderung küm-
mern konnten. Das soll nun – in Anführungszeichen –
klargestellt werden. Das soll zukünftig nicht mehr mög-
lich sein. Der Elterngeldanspruch gilt künftig pro Geburt
statt pro Kind. Man will damit 100 Millionen Euro spa-
ren.

Das heißt, man nimmt den einen Familien das Geld,
um die Teilzeitbeschäftigung für andere Familien zu er-
möglichen. Das halten wir für ungerecht. Wollen Sie das
wirklich? Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmal
sprechen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine weitere Ungerechtigkeit – darauf wurde eben-
falls schon hingewiesen – bleibt nach den Vorstellungen
der Bundesregierung erhalten: die volle Anrechnung des
Elterngeldes auf das Arbeitslosengeld II. Diese Familien
waren von Anfang an benachteiligt. Erst hat man ihnen
im Verhältnis zum Erziehungsgeld die Hälfte der Be-
zugsdauer gekürzt. Dann hat man ihnen die sogenannten
Vätermonate verwehrt. In einer dritten Reform hat man
es dann gänzlich auf das Einkommen angerechnet. Das
ist im Zusammenhang mit dem Sparpaket im Sommer
2010 erfolgt.

Eltern im Hartz-IV-Bezug waren von Anfang an be-
nachteiligt. Die Benachteiligungen haben sich sogar
noch verschärft, und auch mit dem Elterngeld Plus wird
sich daran nichts ändern. Bei armen Eltern kommt das
Elterngeld auch weiterhin nicht an. Das ist kein Konzept
für die Bekämpfung von Familienarmut, Elternarmut
und Kinderarmut. Die Gleichbehandlung der Eltern ist
ebenfalls nicht gegeben. Diese Chance – das ist schon
angesprochen worden – wurde vertan.





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ja, dieses
Elterngeld Plus war ein Wahlversprechen, das Sie gege-
ben haben. Ich finde es gut, dass Sie es umsetzen. Sie ha-
ben aber in Ihrem Regierungsprogramm auch gefordert:
Wir wollen das Basiselterngeld für ALG-II-Empfänge-
rinnen und -Empfänger wieder anrechnungsfrei stel-
len. – Diese Chance haben Sie mit diesem Gesetzent-
wurf vertan. Das ist keine Politik im Sinne von armen
Familien.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besonders diese beiden Ungerechtigkeiten geben mir
zu denken. Ich bin deshalb auf die Diskussion im Aus-
schuss und auf die Stellungnahmen der Sozialverbände
in der Anhörung gespannt und hoffe, dass wir noch zu
Änderungen kommen werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805501100

Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1805501200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Herr Wunderlich hat vorhin nach der In-
tention des Gesetzentwurfs gesucht. Es ist relativ ein-
fach: Endlich sind wir politisch so weit, dass wir nicht
mehr fragen: Arbeitsmarkt oder Familie? Wir sind näm-
lich so weit, dass wir Erwerbstätigkeit und Familienzeit
zusammenbringen wollen, weil das im Sinne der Fami-
lien und übrigens auch der Arbeitgeber ist. Denn ist der
Arbeitnehmer zufrieden und hat er ein geregeltes Fami-
lienleben, dann ist es auch gut für die Arbeitgeber und
die Wirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist auch unser Leitgedanke bei den heutigen Fra-
gestellungen. Wir haben heute sozusagen einen Happy
Friday bzw. Family Friday: Wir werden zwei große Ge-
setzesvorhaben verabschieden. Zuerst geht es um das
Thema Elternzeit und Partnerschaftlichkeit, und in der
zweiten Halbzeit geht es um den weiteren Ausbau der
Kitabetreuung. Das sind zwei zentrale Maßnahmen die-
ser Großen Koalition in den nächsten Jahren. Damit wer-
den wir den Wünschen der Eltern gerecht. Unser Leit-
motiv ist, Eltern zu unterstützen.

Wir gehen nun nicht, wie Frau Reimann sagte, den
ersten Schritt, sondern den zweiten bzw. sogar den drit-
ten Schritt. Wir haben bereits in der ersten Großen Ko-
alition vor vielen Jahren nicht nur den Krippenausbau,
sondern auch die Einführung des Elterngeldes beschlos-
sen. Die Weichen, die wir damals gelegt haben, werden
wir jetzt stellen, und zwar unter Berücksichtigung der
gesellschaftlichen Veränderungen. Ein Jahr nach der
Bundestagswahl gehen wir nun den entscheidenden
Schritt.

Frau Dörner, Sie haben die Gelegenheit genutzt, um
noch einmal für sich persönlich und vielleicht auch für
Ihre Fraktion darzulegen, wie Sie gewisse Sachverhalte
sehen. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen,
dass Sie weiterhin das Ehegattensplitting komplett ab-
schaffen wollen. Das müssten Sie in Ihrer Fraktion ein-
mal klären. – Frau Brantner, Sie nicken, aber Sie sind
diejenige, die sich in den letzten Tagen ein bisschen ge-
öffnet hat. In der Welt vom 19. September haben Sie die
Frage gestellt:

Warum versuchen wir ständig, die Familien durch
neue Maßnahmen und mehr Geld arbeitsmarktfähig
zu machen, statt endlich zu fragen: Wie wollen wir
im 21. Jahrhundert arbeiten, um auf die Bedürfnisse
der Familien im 21. Jahrhundert einzugehen?

Ich wünsche mir, dass Sie diese Fragestellung zum Leit-
motiv Ihrer grünen Politik machen und endlich auf die
Agenda setzen, anstatt ideologisch bedingt darüber
nachzudenken, wie sich das Ehegattensplitting und an-
dere Maßnahmen, die durchaus eine hohe Akzeptanz ha-
ben, abschaffen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Familienleitbilder haben sich verändert. Das neh-
men nicht nur andere, sondern auch wir wahr. Vor die-
sem Hintergrund stellt sich uns als Union die Frage, ob
wir Familienleitbilder vorgeben sollen. Dazu sagen wir
Nein. Für uns stehen drei Sachverhalte im Vordergrund.

Erstens. Wir wollen die Eigenverantwortung und die
Selbstbestimmtheit der Familien als Kernstücke unserer
Familienpolitik stärken.

Zweitens. Wir machen zwar Angebote, wollen aber
keine rundum betreute Familie. Vielmehr wollen wir ei-
genverantwortliche Elternschaft und eigenständig han-
delnde Familien unterstützen.

Drittens. Wir setzen als Leitmotiv Vertrauen in die El-
tern und die Elternarbeit. Bei der Stärkung der Eigenver-
antwortlichkeit der Eltern werden wir die veränderten
Lebenswirklichkeiten berücksichtigen. Über 80 Prozent
einer befragten Gruppe von bis zu 39-Jährigen hat ge-
sagt: Die Familienleitbilder haben sich verändert. Es gibt
nicht nur die traditionelle Familie, sondern auch Allein-
erziehende – auch diese müssen wir in den Fokus unse-
rer Beratungen rücken – und andere Formen des Zusam-
menlebens.

Vor diesem Hintergrund müssen staatliche Leistungs-
angebote darauf überprüft werden, ob sie sich mit Verän-
derungsprozessen noch in Übereinstimmung befinden;
das werden wir tun. Die oft kritisch gesehenen familien-
politischen Leistungen wie der Kitaausbau sind zentral
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, genauso
wie das nun vorgesehene Elterngeld Plus, das sicherlich
genauso positive Auswirkungen haben wird wie das El-
terngeld. Wir sind stolz darauf, dass wir das alles auf den
Weg gebracht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

Welche Wünsche haben Eltern? 91 Prozent der Be-
fragten sind der Meinung, dass sich beide Eltern um die
Betreuung der Kinder kümmern sollten. Nadine Schön
hat bereits unsere besondere Situation angesprochen. Ich
gehöre zu den rund 60 Prozent der Väter, die mehr Zeit
mit den Kindern verbringen wollen. Solche Wünsche
müssen wir in der Politik berücksichtigen. Das Eltern-
geld Plus schafft die Möglichkeit, solche Wünsche zu er-
füllen.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


81 Prozent teilen die Ansicht, dass beide Eltern gleicher-
maßen für das Familieneinkommen verantwortlich sind.
Das sind die Leitmotive für das Elterngeld Plus. Mo-
mentan sieht die Situation aber noch anders aus. Väter
arbeiten durchschnittlich 42 Stunden, während Mütter
17 Stunden in der Woche arbeiten. 60 Prozent der Eltern
mit Kindern unter drei Jahre wünschen sich ein Modell,
das eine stärkere Partnerschaftlichkeit ermöglicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Aber nur 14 Prozent gelingt es, diese Partnerschaftlich-
keit auch zu leben. Hier gibt es noch einiges zu tun.

Die zentralen Punkte des Elterngeldes sind: Die Kom-
bination aus Teilzeiterwerbstätigkeit und Elterngeldbe-
zug muss attraktiver gemacht werden. Das ist auch im
Sinne der Arbeitgeber. Wenn junge, gut ausgebildete
Frauen vor 40 Jahren Mütter wurden, haben sie als Fach-
kräfte meistens den Arbeitsmarkt verlassen und sind erst
nach sechs oder zehn Jahren zurückgekehrt. Mit dem El-
terngeld Plus schaffen wir Angebote, die es Frauen er-
möglichen, als Teilzeitkräfte früher in den Beruf zurück-
zukehren. Das führt dazu, dass die Arbeitgeber früher
wieder auf diese Fachkräfte zurückgreifen können.

Weiterhin honorieren wir die partnerschaftliche Auf-
teilung. Wenn Väter etwas mehr Zeit mit der Familie
verbringen wollen – etwas mehr Zeit für die Kinder be-
deutet etwas weniger arbeiten –, dann heißt das für Müt-
ter, dass sie etwas mehr arbeiten. Wir wollen im Sinne
einer Angleichung die partnerschaftliche Aufteilung von
Betreuungs- und Erwerbsaufgaben stärken. Das ist mit
dem Partnerschaftsbonus verbunden. Das sind dann – in
Anführungszeichen – nur vier Monate, aber damit soll
ein Signal gesetzt werden. Es ist den Eltern überlassen,
die Aufteilung eigenverantwortlich zu organisieren. Ins-
gesamt steht dahinter der Gedanke, dass wir den Eltern
bzw. der Familie mehr Zeit geben. Das ist nicht nur für
die Eltern gut, sondern das ist besonders für die Kinder
gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dabei ist ein zentraler Punkt das Elterngeld. Wir sa-
gen: Kombiniert doch – in Anführungszeichen – das alte
Elterngeld, also das Basiselterngeld, mit dem Eltern-
geld Plus. – Die Familien sollen entscheiden, wie sie das
machen. Dazu gehört auch die Absprache mit dem Ar-
beitgeber zum beiderseitigen Nutzen.

Frau Brantner, ich habe schon wieder ein Zitat von Ih-
nen gefunden. Das passt gut, da Sie nach mir reden. Ich
finde richtig, dass Sie seinerzeit in der Welt auch gesagt
haben:

Der Staat muss größere Zeitsouveränität und Frei-
räume vom ökonomischen Zeitdruck ermöglichen,
er darf das aber nicht vorschreiben.

Das ist genau richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir schreiben nichts vor. Wir sagen: Entscheidet
ihr! – Wir eröffnen die Angebote, aber die Familien müs-
sen entscheiden, welche Möglichkeiten sie in Anspruch
nehmen. Unsere Grundintention ist, Herr Wunderlich, Fa-
milienpolitik zu entideologisieren und zur Anerkennung
der Handlungsfreiheit der Familie zu kommen. Wir wol-
len weg von Formulierungen wie „Rabenmutter“ oder
„Herdprämie“. Das wollen die Familien nicht mehr hö-
ren. Das ist überholt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In dem Zusammenhang gibt es für uns einen wichti-
gen Punkt: die Belastung für die Wirtschaft. Er wird im-
mer wieder angesprochen. Wir Familienpolitiker müssen
immer schauen, dass unsere Maßnahmen den Erforder-
nissen der Wirtschaft nicht widersprechen. Unser Grund-
ansatz ist: Wenn der Arbeitgeber Teilzeitarbeit ermög-
licht, dann müssen wir anerkennen, dass das eine
schwierige Situation für den Arbeitgeber ist. Deswegen
ist die Absprache bzw. die Rückkopplung mit der Wirt-
schaft zentral; denn der Wohlstand, den wir haben, ist ei-
ner gut funktionierenden Wirtschaft zu verdanken. Ihn
sollten wir nicht aufs Spiel setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen sind die Regelungen zur Elternzeit richtig,
nämlich dass 24 der insgesamt 36 Monate bis zum voll-
endeten achten Lebensjahr des Kindes übertragen wer-
den können. Richtig ist aber auch, dass wir die Zustim-
mungsfrist des Arbeitgebers auf 13 Wochen verlängern.
Wir müssen also immer überprüfen, ob die Wirtschaft,
insbesondere der Mittelstand, die Regelungen mittragen
kann; denn die Wirtschaft ist ein Fundament unseres
Wohlstandes.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Daraus leitet sich aber auch die Erkenntnis ab, dass
Reden und Handeln zwei verschiedene Dinge sind. Es ist
ja so: Wer schneller lebt, ist früher fertig, wer schneller
redet, hat mehr zu sagen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sönke Rix [SPD]: Er hat mehr zu reden, aber nicht mehr zu sagen!)


Gerade für die Arbeitgeber muss deutlich werden: Es
reicht nicht, nur vom Erfolgsfaktor Familie zu reden und
in Fensterreden zu beteuern, man wolle mehr für die Fa-
milie tun. Auch die Arbeitgeber und ihre Verbände sind
bei der Veränderung der Familienpolitik mit im Boot.
Man könnte sagen, das Elterngeld Plus ist eine weitere
Belastung, aber letztendlich ist es im Sinne der Arbeitge-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)

ber. Wir werden diesen Diskurs auch mit den Arbeitge-
bern führen müssen. Nichts ist besser für einen Arbeitge-
ber als ein glücklicher Arbeitnehmer, der weiß, dass sein
Familienleben gut organisiert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Angesprochen haben wir schon die Nachbesserungen,
die wir jetzt im parlamentarischen Verfahren anstreben.
Die sind richtig, und die werden wir jetzt umsetzen. Ich
nenne als Stichwort die Alleinerziehenden. Es gibt noch
einen weiteren Punkt. Die Union befürwortet das Ehren-
amt, insbesondere das kommunale Ehrenamt. Wir wer-
den uns bemühen, eine Regelung zu schaffen, damit das
Elterngeld gut mit dem Ehrenamt kombiniert werden
kann. Näheres werden die parlamentarischen Beratun-
gen ergeben.

Insgesamt bleibt es heute beim Happy Friday. Es ist
ein schöner Familienfreitag zu bester Stunde heute Mor-
gen. Der erste Teil ging um das Elterngeld Plus, und
gleich reden wir noch über den Kitaausbau. Familien in
Deutschland können sich freuen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805501300

Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Präsidentin! Liebe Frau Schwesig! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Lieber Herr Weinberg, danke
fürs Zitieren! Ich sage gleich noch etwas zur echten
Wahlfreiheit beim Elterngeld. Zum Ehegattensplitting:
Ich bin da sehr klar: Das muss weg. Über das Wie disku-
tieren wir. Dazu haben Sie auch schon einen Vorschlag
gemacht. Von daher sind Sie in der Diskussion schon mit
dabei.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das Elterngeld muss weg, oder was?)


– Habe ich „Elterngeld“ gesagt? Ich meinte „Ehegatten-
splitting“; sorry.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast es richtig gesagt! – Marcus Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU]: Nicht weg! Verbreitern!)


– Das ist die Debatte über das Wie: Wie ändern wir es?
Wir sagen: Es muss weg und durch etwas anderes ersetzt
werden. Sie sagen: Familiensplitting. – Die Debatte ist
offen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie wollen ja immer die Familien benachteiligen!)


– Genau, zu den Familien: Deutschlands Familien, das
sind: Alleinverdienende, Doppelverdiener, Minijobar-
beitende, Teilzeitarbeitende, Schichtarbeitende, Pendler,
getrennt, verheiratet, verpartnert oder einfach nur zu-
sammen, ein Kind, zwei Kinder, drei Kinder oder mehr –
die Vielfalt ihrer Wünsche und Bedürfnisse ist unser
Auftrag hier.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Frau Schwesig, Ihr Modell ist unfair, weil Al-
leinerziehende die 25 bis 30 Stunden kaum schaffen
können. Auch für jene Mütter, die mit jemandem zusam-
menleben, aber die gar nicht auf 25 Stunden hochgehen
können, weil sie sich schon mit zwei Minijobs herum-
schlagen und ein dritter gar nicht möglich ist, greift das
Modell nicht. Das Modell ist auch unfair, weil es egal ist,
ob eine Mutter oder ein Vater auf eine Halbtagstätigkeit
reduziert oder nur eine Stunde pro Tag weniger arbeitet –
die Dauer der Zahlung des Elterngeldes wird immer nur
verdoppelt, maximal auf 28 Monate. Das ist für jene, die
ihre Arbeitszeit zum Beispiel nur um ein Viertel reduzie-
ren, nicht ganz fair. Das Modell ist auch unfair – das ha-
ben wir heute schon vielfach gehört – für all jene, die im
ALG-II-Bezug sind.

Wir als Grüne wollen deshalb von anderen europäi-
schen Ländern lernen. Mittlerweile ist bekannt, dass
Schweden die Vereinbarkeit besser hinbekommt als
Deutschland und dass sich dort Väter auch mehr an der
Familienarbeit beteiligen. Warum ist das so?

Nehmen wir das schwedische Elterngeld: In Schwe-
den können Eltern das Elterngeld anteilig und dafür für
einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein Bei-
spiel: Eine Mutter, die ihre Arbeitszeit zu einem Viertel
reduziert, bekommt viermal so lange Elterngeld. Ihr
Partner, der zu einem Achtel weniger arbeitet und sie un-
terstützt, kann achtmal so lange Elterngeld beziehen.
Das macht es für beide Elternteile leichter, gleichzeitig
auszusteigen und sich das Elterngeld länger zu teilen.

Deswegen schlagen wir vor, dieses schwedische Mo-
dell des Elterngelds zu übernehmen und dafür, auch wie
in Schweden, die Elternzeit bis zum 14. Lebensjahr des
Kindes auszuweiten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Stellen Sie sich einmal vor, auch in Deutschland würde
die Vielfalt der Familien und der Lebensphasen wirklich
so anerkannt werden! Eine alleinerziehende Mutter
könnte für die ersten acht Monate nach der Geburt des
Kindes ganz aussteigen, dann für vier weitere Monate zu
einem Viertel wieder einsteigen. Dann blieben ihr immer
noch weitere sechs Monate für einen Halbtagsjob. Oder
sie sparte sich die Zeit auf, für die Einschulung des Kin-
des zum Beispiel oder für noch später.

So könnten Eltern den Bezug von Elterngeld, mit
Partnermonaten inklusive, auf maximal 112 Monate stre-
cken. Stellen Sie sich vor, dabei könnten sie das Eltern-
geld wirklich bis zum 14. Lebensjahr des Kindes nutzen
– wie es eben der vielfältigen Realität entspricht! –,
wenn das Kind in die Pubertät kommt, wenn es auf eine
weiterführende Schule wechselt oder wenn es einfach
einmal mehr Zuwendung braucht, wenn mehr Zeit für
das Kind notwendig ist.

(B)






Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

Unser Modell macht drei Dinge:

Erstens. Es macht einen schrittweisen Wiedereinstieg
in den Beruf einfacher.

Zweitens. Es erlaubt auch in späteren Phasen des Le-
bens eines Kindes, Arbeitszeit zu reduzieren und dafür
noch ein Zeitguthaben zu haben.

Drittens. Es macht es Vätern leichter, sich zu beteili-
gen. Eine halbe Stelle schreckt viele Väter ab. Mit einer
geringeren Reduzierung, dafür aber für länger, werden
mehr Väter erreicht, und die Beteiligung am Elterngeld
balanciert sich zunehmend aus. Wenn man sich die Sta-
tistik in Schweden anschaut, sieht man – das ist ganz in-
teressant –, dass Väter nach dem dritten Lebensjahr des
Kindes – bei Frau Schwesig in Deutschland gibt es dann
schon kein Elterngeld mehr – genauso viel Elterngeld in
Anspruch nehmen wie Mütter. Über das schwedische El-
terngeldmodell kommt es zu einer wirklich partner-
schaftlichen Aufteilung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich brauchen wir dazu auch eine familien-
freundlichere Arbeitswelt und -kultur. Es sind eben nicht
die Familien, die sich dem Arbeitsmarkt anpassen müs-
sen, sondern andersherum. In Deutschland haben wir
einen wirklich schlechten Mix. Wir haben die Präsenz-
kultur, kombiniert mit der weitverbreiteten Dauerer-
reichbarkeit. Präsenzkultur und Dauererreichbarkeit füh-
ren zum Burn-out, wie wir es vorhin schon gehört haben.
Auch in diesem Fall sollten wir uns unsere europäischen
Nachbarn anschauen. In Holland und in Frankreich bei-
spielsweise werden Zeitchartas vorgegeben. Arbeitgeber
verhandeln mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
über das „Von wann“, „Bis wann“, „Wo“ und „Mit wel-
cher Verfügbarkeit“, damit nicht alle um 9 Uhr anfangen
müssen und zuvor eine Stunde lang gemeinsam im Stau
stehen, sondern die Zeiten flexibler nutzen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darum geht es uns bei unserem Modell des flexiblen
Elterngeldes: Wir wollen, dass sich Eltern frei aussuchen
können, wie viel, wann und wie sie arbeiten. Dafür
braucht es eine verlässliche Kindertagesbetreuung, ins-
besondere für Alleinerziehende, eine familienfreundli-
che Kultur in den Unternehmen und Instrumente, die
Flexibilität und Vielfalt zulassen. Dafür steht unser Mo-
dell des flexiblen Elterngeldes.

Liebe Große Koalition, schaffen Sie doch die echte
Wahlfreiheit! Wir wären dafür.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805501400

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Silke Launert (CSU):
Rede ID: ID1805501500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Eine unserer größten Aufgaben in den nächsten zehn
Jahren wird es sein, unser Hauptproblem zu lösen, näm-
lich das Problem des demografischen Wandels.

Wieso ist es so, dass in Frankreich eine Mutter im
Durchschnitt mehr als zwei Kinder bekommt, in
Deutschland eine Mutter aber weniger als 1,4 Kinder?
Ohne die Lösung dieses Problems werden wir nicht vo-
rankommen.

Ein Land, eine Gesellschaft braucht drei Dinge: inne-
ren und äußeren Frieden – dafür kämpfen wir an vielen
Fronten in Europa und in der ganzen Welt –, eine funk-
tionierende Wirtschaft – sonst hat niemand Geld, und
niemand kann in dem Wohlstand leben, den wir jetzt ha-
ben – und Menschen, Kinder. Inzwischen sind das auf-
grund unserer globalisierten Welt gut ausgebildete Kin-
der. Also müssen wir an dieser Stelle ansetzen.

Dabei müssen wir alle ins Boot holen – das wurde
mehrfach angesprochen –, insbesondere auch die Wirt-
schaft. Es kann nicht sein, dass das dritte Ziel vernach-
lässigt wird, weil uns das zweite immer wichtiger ist.

Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf – ich begrüße es
sehr, dass er eingebracht wurde –, der zugegebenerma-
ßen nur ein kleiner Schritt ist und der zugegebenermaßen
mittelbar auch wieder Geld kostet, vor allem dann, wenn
man ihn noch etwas besser machen würde. Das würde
den Haushalt sprengen. Aber es ist ein Signal, und ein
Signal kann Einfluss haben.

Der Unterschied zu Frankreich ist nicht nur die bes-
sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie fak-
tisch gelebt wird, sondern der Unterschied besteht auch
in der Werteeinstellung. Es ist nach wie vor in einigen
Gebieten unseres Landes so, dass sich eine Frau recht-
fertigen muss, wenn sie nach der Geburt des Kindes wie-
der anfängt, voll zu arbeiten. Meine Kinder waren drei
und vier Jahre alt, als ich in den Bundestag gegangen
bin. Ich musste bei jedem Interview erklären, wie ich das
denn mit den Kindern mache. Das ist wirklich so gewe-
sen. Ich glaube nicht, dass man diese Frage einem Mann
stellen würde.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Haus)


Deshalb kann man mit kleinen Gesetzen, auch wenn
sie nur ein Signal sind, die Einstellung der Menschen im
Land ändern, und deshalb sind sie wichtig.

Wir haben drei Aspekte: die Einführung des Eltern-
geld Plus, die Einführung des Partnerschaftsbonus und
die Flexibilisierung der Elternzeit.

Zunächst zur Flexibilisierung der Elternzeit. Das
wurde bereits gesagt. Die Möglichkeit, bis zu 24 Monate
zu übertragen bis zum achten Geburtstag des Kindes, be-
grüße ich sehr, gerade weil es noch einfacher ist, wenn
man auf eine Kita, einen Kindergarten zurückgreifen
kann, zwei Drittel zu arbeiten.

Die richtige Herausforderung stellt sich aber erst
dann, wenn das Kind eingeschult wird, wenn das Kind





Dr. Silke Launert


(A) (C)



(D)(B)

um 11 Uhr oder halb zwölf nach Hause kommt. Da ha-
ben wir noch Baustellen, an denen wir arbeiten müssen.
Ich sage Ihnen: Das sind die Probleme, die ich habe und
die meine Freundinnen haben. Deshalb ist die Übertra-
gung so wichtig.

Leider, leider trennen sich immer mehr Eltern. Das
geht an den Kindern nicht spurlos vorüber, sondern sie
leiden. Genau in dieser Phase braucht das Kind Zeit und
Aufmerksamkeit. Es muss das Gefühl haben, dass je-
mand da ist, und nicht das Gefühl, dass die Mama jetzt
von halbtags auf ganztags aufstockt und keine Zeit mehr
für ihr Kind hat. Umso wichtiger ist es, hier Flexibilität
zu haben.

Zu dem anderen Aspekt, dem Elterngeld Plus. Man
muss sehen: Natürlich fördern wir ganz gezielt die Er-
werbstätigkeit von Frauen in einem sehr frühen Stadium.
Wir fördern, dass eine Frau früh wieder arbeiten geht,
also nach der Geburt eines Kindes nicht ein Jahr zu
Hause bleibt, sondern teilschichtig arbeitet, sodass sie
die Anzahl ihrer Elternmonate verdoppeln kann.

Natürlich stimmt der Vorwurf: Ist das nicht eine ge-
wisse Vorgabe? Fördert man damit nicht ein bestimmtes
Lebensmodell? Theoretisch, in den Köpfen, stimmt das,
rechnerisch nicht: Vorher war es nämlich so, dass die
Frauen, die frühzeitig wieder angefangen haben, zu ar-
beiten, weniger Geld bekommen haben. Insofern stellen
wir finanziell eher eine Gleichberechtigung her.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD])


Die gezielte Förderung eines bestimmten Familien-
modells betreiben wir zugegebenermaßen beim Partner-
schaftsbonus. Dies ist ein Lockmittel, das bewirken soll,
dass beide Eltern gemeinsam zurückstecken zugunsten
der Kinder. Auch wenn die Dauer von vier Monaten, in
denen beide Eltern Elternzeit nehmen und gleichzeitig
Teilzeit arbeiten, vielleicht zu wenig ist, um unser Ziel
wirklich dauerhaft zu erreichen, ist es ein entscheidendes
Signal: zum einen für die Väter – es gibt ihnen sehr viel,
wenn sie auch einmal mehr Zeit zu Hause verbringen –,
aber auch für die Mütter, nämlich dass jeder seinen Bei-
trag leistet und dass niemand allein für alles verantwort-
lich ist. Sie haben mir, Frau Dr. Reimann, aus dem Her-
zen gesprochen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn 60 Prozent der Eltern wünschen, dass man das
partnerschaftlich regelt, aber faktisch nur 14 Prozent das
leben, dann muss man irgendwie Druck machen. Das,
was wir vorhaben, ist zumindest ein Anfang, auch wenn
es, wie ich zugebe, allein natürlich nicht ausreichend
sein wird.

Hier betreiben wir die gezielte Förderung eines Le-
bensmodells, nämlich dass beide Partner zurückstecken
und beide Partner sich beteiligen. Man kann mich jetzt
fragen: Wieso verachtest du unser konservatives Fami-
lienmodell? Wieso wollt ihr das nicht haben? – Das
stimmt doch nicht. Wir verachten es nicht. Es ist auch
nicht so, dass wir es nicht haben wollen. Wir fördern es
mit einem viel höheren Betrag: mit dem Ehegattensplit-
ting. Wir tun das, weil wir beides haben wollen.

Sosehr ich es unterstütze, wenn Frauen früh wieder
arbeiten, sosehr muss ich es ablehnen, wenn man immer
wieder darüber herzieht. Man muss auch sagen: Gerade
in den Familien, wo einer beruflich mehr zurücksteckt
als der andere und zu Hause bleibt, werden oft mehr
Kinder geboren. Ganz ehrlich: Drei Kinder haben, Kar-
riere machen und auch noch ehrenamtlich engagiert sein,
das führt definitiv in den Burn-out.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Wesentlichen sind wir uns alle einig: Lassen Sie
uns diesen kleinen ersten Schritt angehen. Wir sollten
uns nicht zerstreiten. Nachdem hier von der Vielfalt ge-
redet worden ist, sage ich auch: Akzeptieren Sie, die Op-
position, bitte auch die Vielfalt der Lebensmodelle ande-
rer Menschen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das machen wir doch auch! Wir wollen niemanden zur Arbeit zwingen!)


Es gibt wirklich Frauen, die gerne jahrelang zu Hause
sind – ja, es gibt sie – und denen das wirklich wichtig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805501600

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Rede ID: ID1805501700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Launert, vielen Dank für diese Rede, eine
Rede, die ich gerade aus den Reihen der CSU nicht un-
bedingt erwartet habe. Ich habe Ihnen gerne zugehört.

Zur Einführung des Elterngeldes, Frau Schön, vor
mittlerweile fast acht Jahren habe ich persönlich ein et-
was gespaltenes Verhältnis. Als es damals beschlossen
wurde, war gerade meine jüngste Tochter unterwegs. Als
diese Leistung zum ersten Mal ausgezahlt wurde, war sie
drei Wochen alt. Da haben meine Frau und ich uns ein
bisschen wie zwei Dackel vor der Fleischerei gefühlt:
„Wir müssen leider draußen bleiben!“

Völlig unabhängig von solchen persönlichen Nicke-
ligkeiten war mir schon damals klar, dass das Elterngeld
ein Riesenfortschritt ist. Das Elterngeld hat schon da-
mals deutlich gemacht: Diese Republik geht konsequent
Schritte, um Familie und Beruf miteinander vereinbar zu
machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Damals, vor acht Jahren, ging es noch ein bisschen
mehr um das Thema Armutsrisiko. Man hat vorgerech-
net, was Kinder kosten. Die Überlegung war damals na-
türlich auch, jungen Familien zu ermöglichen, dass sie
ihren Lebensstandard halten und trotzdem Zeit haben,





Dr. Fritz Felgentreu


(A) (C)



(D)(B)

sich um ein kleines Kind zu kümmern. Es war auch gut
und richtig so, diesen Ansatz zu wählen.

Aber beim Elterngeld Plus geht es jetzt um etwas an-
deres. Es geht hier um die Möglichkeit, ein erfülltes Fa-
milienleben mit einem erfüllten Berufsleben in Einklang
zu bringen, und zwar partnerschaftlich und gleichbe-
rechtigt für beide Elternteile. Denn wir wissen doch,
dass viele junge Paare deswegen zögern, eine Familie zu
gründen, weil beide Partner gerade dabei sind, sich be-
ruflich eine Existenz und eine Karriere aufzubauen. Sie
haben die Sorge, dass die Elternschaft sie auf diesem
Wege aus der Bahn werfen könnte. Das ist ja auch leicht
nachvollziehbar. Wer mit Erfolg eine anspruchsvolle
Ausbildung absolviert hat, der will die erworbenen Fä-
higkeiten danach auch anwenden. Wir dürfen eine hohe
Motivation und den Ehrgeiz, beruflich etwas aufzu-
bauen, nicht mit Egoismus verwechseln. Das ist es nicht.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde, es ist die Aufgabe von Politik, diese Moti-
vation zu erhalten, sie zu fördern und den Weg freizuma-
chen, damit Leistungsbereitschaft am Ende auch mit Er-
folg belohnt wird. Wenn wir also feststellen, dass junge
Leute das Gefühl haben, sich zwischen Familie und Be-
ruf entscheiden zu müssen, dann ist es unsere Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass genau diese Entscheidungssitua-
tion sich in Luft auflöst.


(Beifall bei der SPD)


Es darf nicht sein, dass ein Ja zur Familie mit einem
Nein zur Karriere erkauft werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Darum geht es.

Ich bin sehr für eine Familienpolitik der drei großen
Ks: Kinder, Kino und Karriere. Wenn wir das unter einen
Hut kriegen, haben wir einen Riesenfortschritt gemacht.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich ist das immer noch ein Frauenthema, auch
wenn sich immer mehr Männer – darauf ist heute schon
hingewiesen worden – die Zeit für die Familie wün-
schen. Aber wir müssen uns einfach einmal die Zahlen
anschauen. Dazu gibt es eine schöne Auswertung: 2012
bezogen 30 Prozent der Väter Elterngeld, aber 96 Pro-
zent der Mütter. 78 Prozent der Väter, die Elterngeld be-
zogen, bezogen es für zwei Monate, während 88 Prozent
der Mütter es für zwölf Monate bezogen. Das bedeutet:
In der Praxis entschieden sich die Männer mit großer
Mehrheit für den Beruf und die Frauen mit großer Mehr-
heit für die Familienarbeit. Das kritisieren wir auch gar
nicht. Aber wir leiten unser ergänzendes Modell zur Un-
terstützung von Familien daraus ab. Mit dem Elterngeld
Plus tun wir jetzt etwas für die Paare, die sich beides,
Beruf und Familienzeit, partnerschaftlich teilen wollen.

Meine Damen und Herren, in der SPD-Fraktion sind
wir überzeugt: Dieses Modell hat Zukunft. Es ist ein
Schritt auf dem richtigen gesellschaftlichen Weg. Das
Elterngeld Plus macht Frauen ökonomisch unabhängi-
ger, weil es ihnen die Berufstätigkeit erleichtert. Es för-
dert die Gleichstellung von Mann und Frau, weil es für
Frauen und Männer die gleichen Anreize enthält, in Teil-
zeit zu arbeiten. Frau Launert, Sie hatten eben von einem
„Lockmittel“ gesprochen; Anreiz klingt ein bisschen zu-
rückhaltender. Aber Sie haben natürlich recht.

Auf diese Weise verbindet das Elterngeld Plus den
Vorteil des herkömmlichen Elterngeldes mit einer Ant-
wort auf den Fachkräftemangel in vielen Branchen. El-
tern finden Zeit, sich um ihre kleinen Kinder zu küm-
mern. Das Einkommen der Familien bleibt dennoch
einigermaßen stabil, und die Arbeitskraft der Eltern steht
der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst trotzdem
weiter zur Verfügung.

Das Elterngeld Plus ist ein wichtiger Beitrag des Staa-
tes auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der Familie
und Beruf besser miteinander vereinbart werden können.
Wir wissen aber auch, dass es damit nicht getan ist. Des-
wegen ist heute oft vom ersten Schritt die Rede gewesen.
Der eigentliche Durchbruch auf dem Weg zur Familien-
arbeitszeit kann erst gelingen, wenn auch die Arbeits-
welt sich mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeit
darauf eingestellt hat. Bewähren kann sich das Eltern-
geld Plus ebenso wie der flexible Anspruch auf Eltern-
zeit nur in der praktischen Umsetzung. Deshalb müssen
wir seine Einführung auch damit verbinden – das war
eine Forderung vom Kollegen Weinberg –, den Dialog
mit der Wirtschaft zu führen. Wir brauchen Bündnisse
für Arbeit und Familie, überall in Deutschland, gerade
auch auf der Ebene der Länder und Kommunen. Dabei
– das sage ich ausdrücklich als Sozialdemokrat – muss
die Politik ein offenes Ohr für die Sorgen kleinerer und
mittlerer Betriebe haben,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


die noch nicht wissen, wie sie die Teilzeit von Beschäf-
tigten sinnvoll und wirtschaftlich in ihre Arbeitsabläufe
integrieren können. Da müssen Lösungen her. Das heißt,
wir geben den Anspruch nicht auf, aber es müssen Lö-
sungen her, um den Interessen der Betriebe gerecht zu
werden.

Wir müssen die Ergebnisse der Gesamtevaluation fa-
milienpolitischer Leistungen, die uns ja vorliegen, ernst
nehmen und unsere familienpolitischen Zielvorstellun-
gen daran messen.


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Rosinenpickerei geht da nicht. Wir können uns nicht nur
die Dinge heraussuchen, die wir gemacht haben und die
gelobt werden; wir müssen uns eben auch die Dinge an-
schauen, die kritisiert werden, und Schlussfolgerungen
aus der Kritik ziehen.

Eine Schlussfolgerung ist: Kinder und Familie för-
dern wir am besten und am gerechtesten mit hervorra-
genden Kitas und Schulen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Diese Erkenntnis hat sich in der Wirtschaft schneller
durchgesetzt als in der Politik, daher ja auch die berech-
tigte Kritik des Deutschen Industrie- und Handelskam-
mertages am Betreuungsgeld. Aber die ganz dicken





Dr. Fritz Felgentreu


(A) (C)



(D)(B)

Bretter – damit meine ich die Fehlsteuerungen beim
Ehegattensplitting, in der beitragsfreien Mitversicherung
und in der Ausgestaltung bei Minijobs – werden wir
nicht alle auf einmal aufbohren können. Wir müssen uns
aber damit auseinandersetzen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Beim Elterngeld Plus können wir allerdings schon
jetzt darüber reden, wie wir die finanzielle Unterstützung
mit einem Betreuungsangebot verbinden. Was spricht zum
Beispiel dagegen, einmal darüber nachzudenken, dass
wir den Bezug von Elterngeld Plus mit einem Rechtsan-
spruch auf einen Krippenplatz kombinieren? Das wäre
eine Maßnahme, die wir mit den Ergebnissen der Eva-
luation ganz hervorragend begründen könnten.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also nicht
auf der Stelle treten, sondern lassen Sie uns die Einfüh-
rung des Elterngeldes Plus als Startsignal begreifen, das
uns auf dem Weg zur Familienarbeitszeit in eine lebhafte
Debatte und zu mutigen Entscheidung führt. Die Fami-
lien in Deutschland werden es uns danken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805501800

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Bettina Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bettina Hornhues (CDU):
Rede ID: ID1805501900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Rollenbild der
Familie befindet sich im Wandel. Diese Erkenntnis ist
nicht neu, sollte uns aber bei der Gesetzesberatung im-
mer begleiten. Familienpolitische Maßnahmen und Mo-
delle, die uns noch vor fünf oder zehn Jahren als innova-
tiv und fortschrittlich erschienen, entsprechen heute
nicht zwangsläufig mehr den Wünschen und Lebenspla-
nungen der jungen Eltern. Unsere Aufgabe ist es also,
die notwendigen politischen Rahmenbedingungen zu
schaffen, die nah an der Realität sind.

Was ist unsere Ausgangslage? Die traditionelle Rol-
lenverteilung innerhalb der Familie verliert immer mehr
an Bedeutung. Junge Eltern streben heute nach einer
partnerschaftlichen Aufteilung von Familien- und Er-
werbsarbeit. Auf der einen Seite haben wir die jungen
Väter. Für sie ist es heute selbstverständlich, dass Frauen
arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, und zugleich
möchten sie ihre Partnerin auf ihrem beruflichen Weg
unterstützen. Tatsächlich möchten sich diese Väter heute
auch stärker in die Familie einbringen und mehr Zeit mit
ihren Kindern zusammen sein. Laut einer aktuellen Stu-
die hat aber jeder zweite Vater das Gefühl, zu wenig Zeit
für seine Kinder zu haben.

Auf der anderen Seite haben wir die jungen Mütter.
Treten wir hier in die Diskussion um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ein, zeigt sich bei vielen jungen
Müttern eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Fa-
milien- und Arbeitszeitmodellen, nämlich zwischen dem
gewünschten Modell der Arbeitszeit von circa 30 Stun-
den pro Woche und dem flexiblen Aufteilen von Hausar-
beit und Kinderbetreuung mit dem Partner und dem Fa-
milienmodell, das tatsächlich gelebt wird. Hier klafft
eine große Lücke, und diese Lücke gilt es zu schließen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD])


Tatsächlich ist Familienarbeit in Deutschland zwi-
schen den Eltern immer noch höchst ungleich verteilt.
Weit verbreitet ist nach wie vor das Modell des Vollzeit
erwerbstätigen Vaters und der hinzuverdienenden Mut-
ter. Geht also der Vater Vollzeit arbeiten, bleibt für ihn
wenig Zeit mit der Familie und für viele Aufgaben, die
die Mutter ohne die Unterstützung des Partners zu stem-
men hat. Dieses Bild aus der Praxis zeigt, wie sehr der
Wunsch nach der partnerschaftlichen Aufteilung der
Aufgaben in Familie und Beruf mit der Realität kolli-
diert. So wünschen sich 60 Prozent der Eltern eine part-
nerschaftliche Teilung der Aufgaben, aber nur in jeder
siebten Familie gelingt dieses auch.

Mit der Einführung des Elterngeldes Plus mit dem
Partnerschaftsbonus wird dem Elternwunsch nach mehr
Partnerschaftlichkeit auch durch das Setzen eines politi-
schen Rahmens Rechnung getragen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Politische Rahmenbedingungen sind das eine, aber
wir müssen auch die Arbeitgeber von den kleinen Betrie-
ben bis hin zu den großen Unternehmen einschließlich
des öffentlichen Dienstes mit ins Boot holen. Meiner
persönlichen Überzeugung nach steht und fällt mit die-
sen Beteiligten das ganze Bemühen, den gesetzten Rah-
men mit Inhalt und damit mit Leben zu füllen. Stich-
worte wie der demografische Wandel oder der drohende
Fachkräftemangel sind für die Arbeitgeber nicht neu,
aber starke Argumente für eine bessere Vereinbarkeit
und ein Angebot an flexibleren Arbeitszeitmodellen, um
auch das weibliche, immer besser werdende und hoch-
qualifizierte Arbeitskräftepotenzial voll auszuschöpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dies bringt nicht nur Vorteile für unsere Volkswirtschaft
mit sich, sondern – noch wichtiger – stärkt das Selbst-
wertgefühl der Frauen.

Mütter kehren nach der Geburt eines Kindes überwie-
gend nach 19 Monaten in das Arbeitsleben zurück, ei-
nige noch später. Aber über die Hälfte von ihnen würde
gerne früher wieder arbeiten. Diesen Wunsch wollen wir
politisch besser unterstützen. Das bietet nicht nur Ent-
scheidungsfreiheit und volle Flexibilität für die Familie,
sondern auch Gewinne für die Wirtschaft. Diese Vorteile
für die Wirtschaft und Arbeitgeber müssen wir weiter
herausstellen und für erfolgreiche Wiedereinstiegsstrate-
gien werben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Arbeitgeber profitieren von motivierten Arbeitskräf-
ten, ihrem Wissen und geringeren Einarbeitungskosten.
Die Beschäftigten wiederum profitieren davon, dass ih-





Bettina Hornhues


(A) (C)



(D)(B)

nen die Chance auf Karriere und Teilhabe an allgemei-
nen Einkommensentwicklungen nicht verwehrt bleibt.
Betriebliche Unterstützungsmaßnahmen für den Wieder-
einstieg sind daher ebenso wichtig wie die politischen
Rahmenbedingungen.

Viele Unternehmen zeigen bereits jetzt, dass dies
funktionieren kann. Erst kürzlich habe ich in einem be-
nachbarten Wahlkreis zusammen mit Kollegen ein Un-
ternehmen besucht, welches in nur fünf Monaten einen
Betriebskindergarten für die Mitarbeiter eingerichtet hat
und somit flexible Arbeitszeitmodelle unterstützt. Nur
fünf Monate von der Idee bis zur Inbetriebnahme! Ich
war beeindruckt von diesem Engagement und dem Zu-
sammenspiel von Wirtschaft und Kommune.

Wenden wir uns nun wieder den Vätern zu. Durch das
neue Elterngeld Plus soll den Vätern noch mehr Zeit mit
ihren Kindern ermöglicht werden, wenn denn die Unter-
nehmen mitspielen. Es gibt Unternehmen, die mit vor-
bildlichem Beispiel vorangehen und beispielsweise Fa-
milienzeiten als Karrierepunkt anrechnen oder mit
Maßnahmen wie familienfreundlichen Zeiten für Be-
sprechungen oder dem Arbeiten von zu Hause aus den
Mitarbeitern entgegenkommen.

Leider müssen in vielen Unternehmen die Männer
noch regelrecht darum kämpfen, ihr Recht auf Elternzeit
umsetzen zu können. Ich meine daher: Arbeitnehmer
dürfen keine Bittsteller bei ihren Arbeitgebern sein,
wenn sie ihre Elternzeit aktiv nutzen wollen. Ich sehe es
demzufolge als unsere Aufgabe an, in den zahlreichen
Gesprächen, die wir als Abgeordnete mit den Unterneh-
men im Wahlkreis führen, für mehr Verständnis zu wer-
ben, damit wir den jungen Vätern und Müttern mehr Zeit
mit ihren Familien ermöglichen können, ohne dass sie
Nachteile im Arbeitsleben in Kauf nehmen müssen. Das
ist nicht nur eine politische oder wirtschaftliche, sondern
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Wenn ich für eine verbesserte Vereinbarkeit von Fa-
milie und Beruf werbe, dann habe ich zudem einen ganz
besonderen Arbeitgeber im Sinn: die Bundeswehr, von
der wir als Parlament immer öfter immer neue und wei-
tere Aufgaben abfordern. Mir ist natürlich bewusst, dass
manche familienpolitischen Maßnahmen, eben auch das
neue Elterngeld Plus, nicht alle Berufsgruppen in glei-
chem Umfang profitieren lassen. Nicht nur als Berichter-
statterin der Vereinbarkeit von Familie und Dienst in der
Bundeswehr, sondern auch aus eigener Erfahrung weiß
ich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Solda-
tenfamilien vor besondere Herausforderungen stellt.

Nehmen wir als Beispiel einmal die Eltern, die wäh-
rend des Elterngeldbezuges Teilzeit arbeiten wollen. Das
neue Elterngeld Plus schafft hierfür Regelungen. Aller-
dings wird es für viele Soldatinnen und Soldaten nicht
immer möglich sein, von diesen Neuerungen zu profitie-
ren, da es in ihrer aktuellen Verwendung während einer
Übung oder im Auslandseinsatz gar nicht möglich ist,
Arbeitszeit zu reduzieren oder flexibel nach persönli-
chen Wünschen anzupassen.

Nach wie vor gibt es bislang nur wenige Möglichkei-
ten, bei der Bundeswehr seinen Dienst in Teilzeit zu leis-
ten. Hier brauchen wir nicht nur kreative Ideen, sondern
– wie auch in den Unternehmen – ein stärkeres Umden-
ken bei den militärischen und zivilen Führungskräften
der Bundeswehr, damit dies noch mehr Soldatinnen und
Soldaten ermöglicht werden kann. Ich begrüße daher
den Vorstoß von Frau von der Leyen, mehr Möglichkei-
ten für Teilzeitarbeit bei der Bundeswehr schaffen zu
wollen, um auch Soldatinnen und Soldaten von familien-
politischen Maßnahmen voll profitieren zu lassen.

Ich möchte festhalten: Das Elterngeld ist zu einem Er-
folgsmodell geworden. Ich gehe davon aus und bin fest
davon überzeugt, dass das Elterngeld Plus es auch wird.
In einer Sache sind wir uns wohl parteiübergreifend alle
einig: Zeit mit unseren Kindern ist wertvoll und kommt
nicht zurück.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502000

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem

Abgeordneten Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Guter Mann!)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1805502100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine lieben Damen und Herren! Auch ich,
lieber Marcus, möchte mit einem Zitat aus der Presse be-
ginnen. Anfang der Woche veröffentlichte unsere Lüne-
burger Landeszeitung einen Beitrag zum Elterngeld Plus
mit dem Titel: „Wohnt der Papa im Büro?“ Dass die Kin-
der diese Frage stellen, fürchtet wohl jeder Familienva-
ter. Es geht dabei um eine Fragestellung, die aktueller
nicht sein könnte, um den Spagat von Vätern zwischen
Beruf und Familie. Auch Väter – das haben wir heute
schon gehört – möchten Zeit mit ihren Kindern verbrin-
gen und sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen.
Sie wollen eben nicht nur die Rolle des Familienernäh-
rers einnehmen.

Unbestritten ist, dass die herkömmliche Rollenvertei-
lung, bei der sich die Frau um das Kind kümmert und der
Mann den Lebensunterhalt sichert, der Realität vieler
Familien nicht mehr gerecht wird. Einerseits wollen
viele Mütter nach der Geburt ihres Kindes zeitnah in den
Job zurückkehren. Das liegt vor allem angesichts des spür-
baren Fachkräftemangels auch im Interesse der Wirtschaft.
Andererseits wollen die Väter mehr Zeit zu Hause ver-
bringen.

Die größte Befürchtung vieler Väter ist immer noch,
dass es zu einem Karriereknick kommt, wenn sie länger
als zwei Monate aus dem Beruf aussteigen. Das soll und
wird sich mit dem neuen Elterngeld Plus ändern. Wir
schaffen Anreize dafür, dass sich mehr Väter für eine El-
ternzeit entscheiden, und zwar, ohne dafür im Hinblick
auf ein weiteres berufliches Vorankommen bestraft zu
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Eckhard Pols


(A) (C)



(D)(B)

Unter dem Motto „Mehr Zeit für Familie, mehr Zeit
für Kinder, mehr Flexibilität“ hat die Familienministerin
das bisherige Elterngeld nun zu einem Elterngeld Plus
weiterentwickelt. Nach der jetzigen Elterngeldregelung
ist es unattraktiv, während der Elternzeit zu arbeiten, da
das Teilzeiteinkommen vom Elterngeld abgezogen wird
und jeder in Teilzeit gearbeitete Monat voll auf die Be-
zugsdauer des Elterngeldes angerechnet wird. Das neue
Elterngeld Plus macht Teilzeitarbeit attraktiver. Dies er-
öffnet neue Spielräume für Eltern, die Aufgabenteilung
in Familie und Beruf partnerschaftlich zu organisieren.
Berufliche Auszeiten können begrenzt werden, Mütter
schneller ins Berufsleben zurückkehren, und der Er-
werbsanteil der Frauen wird weiter steigen. Zur genauen
Ausgestaltung haben wir hier heute schon vieles gehört.
Deswegen möchte ich nicht näher darauf eingehen.

Nun hat eine Medaille bekanntlich zwei Seiten. Ich
freue mich, dass die Kollegen Weinberg und Felgentreu
hier wenigstens am Rande kurz die Aspekte der Wirt-
schaft erwähnt haben. Dass es den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern und ihren Familien, sprich: ihren
Kindern, in unserem Land besser gehen soll, ist wichtig
und richtig. Aber Familien gibt es auch auf der anderen
Seite, auf der Unternehmerseite. Bitte wundern Sie sich
jetzt nicht, wenn ich als Mittelständler einiges kritisch
anmerke, und zwar aus der Sicht eines selbstständigen
Handwerksmeisters, der selbst eine Familie mit fünf
Kindern hat.

Unsere Wirtschaft besteht nicht nur aus den Großbe-
trieben, die immer gerne zitiert und als Beispiele heran-
gezogen werden, wie Bosch, Siemens oder VW. Der
überwiegende Teil unserer Unternehmen in Deutschland,
circa 90 Prozent, sind kleine und mittlere Unternehmen.
Ich spreche hier also über viele Betriebe, insbesondere
im Handwerk, über 580 000 Betriebe mit gut 5 Millio-
nen Beschäftigten. In der Praxis dürfte es schwierig wer-
den, für die Beschäftigten qualifiziertes Ersatzpersonal
für kurze Zeiträume zu bekommen. Das sage ich Ihnen
als Praktiker, der das jeden Tag erlebt. Eine Einarbeitung
von Ersatzkräften ist oft nicht machbar, erstens aus fach-
lichen Gründen, zweitens, weil entsprechende Kräfte gar
nicht auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Das kann
bedeuten, dass in der Zeit die übrigen Arbeitnehmer des
Betriebes und natürlich auch der Meister bzw. die Meis-
terin, gegebenenfalls sogar die Familienangehörigen die
Zusatzarbeit mit erledigen müssen. Hier können Be-
triebe schnell an ihre Belastungsgrenze stoßen.

Wichtig bleibt, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeit,
wie vorgesehen, erst ab einer Schwelle von 15 Arbeit-
nehmern gilt. Ich meine aber, die Schwelle sollte besser
bei 20 Arbeitnehmern liegen und es sollten keine be-
trieblichen Gründe entgegenstehen dürfen. Auch sollten
auf freiwilliger Basis mehr auf die individuelle Situation
abgestimmte, passgenaue Teilzeitmodelle zwischen Eltern
und Unternehmen vereinbart werden. Aus diesem Grunde
ist die vorgesehene Aufteilung der Elternzeit – hoffent-
lich wird sich das noch ändern – auf drei Zeitabschnitte
statt bisher auf zwei Zeitabschnitte, und das ohne Zu-
stimmung des Arbeitgebers, noch einmal zu überdenken,
auch wenn die Ankündigungsfrist von 7 auf 13 Wochen
erhöht wird.
Der vorgesehene Ausbau der Flexibilisierung, der den
Wünschen junger Familien entspricht und positiv zu se-
hen ist, bedeutet gerade für die kleinen Betriebe im
Handwerk einen tiefgreifenden Eingriff in die Personal-
planungshoheit; denn gerade das Handwerk muss flexi-
bel auf oft stark schwankende Auftragslagen reagieren.

Im Handwerk ist familienfreundliche Personalpolitik
schon heute selbstverständlich. Nicht umsonst hat der
ZDH, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, im
Februar 2011 gemeinsam mit anderen Wirtschaftsver-
bänden und der Bundesregierung die Charta für fami-
lienbewusste Arbeitszeiten mitunterzeichnet. Fast alle
Handwerksbetriebe, 86 Prozent, bieten ihren Mitarbeitern
zumindest ein familienfreundliches Arbeitszeitmodell an.
In unserem Betrieb ist das übrigens auch so. Untersu-
chungen belegen darüber hinaus, dass jüngere Betriebs-
inhaber den Eltern in ihrer Belegschaft signifikant häufi-
ger Unterstützungsleistungen zukommen lassen.

Bei den vielen Maßnahmen zur Realisierung des Ziels
„Mehr Zeit für Familie, mehr Zeit für Kinder, größere
Flexibilität“ sind insbesondere kleine und mittlere Be-
triebe – und das nicht nur im Handwerk; das kann auch
in der Landwirtschaft sein, liebe Kollegin Pahlmann,
aber auch im kaufmännischen Bereich – auf Unterstüt-
zung und Förderung angewiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Für das Handwerk kann ich sagen: Wir sind eigentlich
viel weiter, als viele in der Politik denken. Wir müssen
nicht alles gesetzlich regeln. Lassen wir den Mittelstand
arbeiten! Wir wissen, was wir an unseren Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern haben; denn sie sind unser
größtes Kapital.

Alles in allem haben wir als Koalition mit dem El-
terngeld Plus einen guten und richtigen Weg eingeschla-
gen, der partnerschaftliche Betreuung des Kindes und
gleichzeitige Erwerbstätigkeit miteinander verbindet.
Unter moderner Familienpolitik verstehen wir, sich den
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupas-
sen. Wie wichtig uns dieses Anliegen ist, spiegelt sich
auch im aktuellen Bundeshaushalt für 2015 wider. Der
weitaus größte Anteil im Etat des Familienministeriums,
nämlich 5,4 Milliarden Euro, entfällt allein auf das El-
terngeld. Aber wir wissen schon heute, Frau Ministerin,
dass das im Etat 2016 nicht ausreichen wird. Wir werden
über diese 5,4 Milliarden Euro hinausgehen müssen.

Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Schluss noch
ein persönliches Wort. Ich habe zu Beginn davon gespro-
chen, dass ich fünf Kinder habe. Ich muss mit meiner
Frau besprechen, ob noch ein sechstes folgen soll.


(Heiterkeit)


Meine Frau hat die geschäftsführende Position in unse-
rem Betrieb eingenommen. Wir könnten ausprobieren,
wie sich das Elterngeld Plus auf die Selbstständigkeit
auswirkt, wenn meine Frau in Elternzeit geht und ich die
Partnermonate nehme. Ich bin gespannt, Herr Präsident,
was die Bundestagsverwaltung dazu sagt.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502200

Das war ein origineller Moment in der Parlamentsge-

schichte. Noch nie hat ein Kollege seine Familienpla-
nung vor dem Plenum erörtert.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Verwaltung wird die von Ihnen gestellte Frage prü-
fen.

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/2583 sowie die Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 18/2625 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Es gibt auch keinen Widerspruch.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weite-
ren Entlastung von Ländern und Kommunen
ab 2015 und zum quantitativen und qualitati-
ven Ausbau der Kindertagesbetreuung
Drucksache 18/2586
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsauschuss (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Ausbau und Qualität in der Kinderbetreuung
vorantreiben
Drucksache 18/2605
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsauschuss

Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die
Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-
regierung das Wort dem Bundesminister Dr. Wolfgang
Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass der
Bund im Vorgriff auf künftige Maßnahmen in den Jahren
2015 bis 2017 die Kommunen jeweils um 1 Milliarde
Euro entlastet. Diese Zusage lösen wir mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf ein. Wir entlasten die Kommu-
nen, indem wir den Anteil der Gemeinden an der Um-
satzsteuer und die Beteiligung des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung in den Jahren 2015 bis 2017
um jeweils 500 Millionen Euro erhöhen. Wir haben da-
mit einen ausgewogenen Verteilungsmechanismus ge-
wählt, der dafür sorgt, dass die Entlastung auch tatsäch-
lich bei den Kommunen ankommt. Von der Übernahme
der Kosten der Unterkunft profitieren besonders die
Kommunen, die hohe Sozialausgaben haben.

Zusätzlich unterstützen wir in dieser Legislaturpe-
riode Länder und Kommunen bei der Finanzierung von
Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Schulen und Hoch-
schulen mit insgesamt 6 Milliarden Euro zusätzlich. Ei-
nen wichtigen Teil dieser Unterstützung haben wir mit
der Novellierung des BAföG bereits beschlossen. Dabei
geht es insbesondere um die vollständige Übernahme
des Finanzierungsanteils der Länder durch den Bund.
Allein das entlastet die Länder bis 2017 um 3,5 Milliar-
den Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben uns im Mai mit den Ländern darauf ver-
ständigt, das Sondervermögen „Kinderbetreuungsaus-
bau“ in den Jahren 2016 bis 2018 um weitere 550 Mil-
lionen Euro aufzustocken. Damit wird die Unterstützung
für Länder und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbe-
treuung für unter Dreijährige, die sich bis Ende 2014 auf
5,4 Milliarden Euro beläuft, weiter erhöht. Bis 2018
stellt der Bund für Investitionen in den Ausbau der Kin-
derbetreuung 3,28 Milliarden Euro zur Verfügung. Ich
nenne die Zahlen im Detail, weil es ganz wichtig ist,
dass man sie überall einmal zur Kenntnis nimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Darüber hinaus erhöht der Bund noch einmal seine
Beteiligung an den Betriebskosten der Kinderbetreu-
ung – neben den Investitionskosten. Der jährliche Be-
triebskostenzuschuss in Höhe von 845 Millionen Euro
wird in den Jahren 2017 und 2018 noch einmal um je-
weils 100 Millionen Euro gesteigert. Hierfür wird der
Länderanteil an der Umsatzsteuer entsprechend ange-
hoben. Damit unterstützt der Bund die Länder beim
Ausbau der Kinderbetreuung nachhaltig. So können
weitere 30 000 Kinderbetreuungsplätze geschaffen wer-
den, die zu den bereits zugesagten 780 000 Kinderbe-
treuungsplätzen hinzukommen. Das ist ein wichtiger Bei-
trag zur Lösung dieser für unser Land gesellschaftlich wie
auch volkswirtschaftlich bedeutenden Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was zahlen die Kommunen?)


Das trägt zu einer bedarfsgerechten und qualitativ gu-
ten Kinderbetreuung und -förderung bei. Länder und
Kommunen sollten die bereitgestellten Mittel entspre-
chend einsetzen und damit ihren Beitrag leisten. Im Üb-
rigen ist ausdrücklich zugesagt – daran will ich erin-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

nern –, dass die Mittel, die durch die Übernahme des
BAföG-Finanzierungsanteils der Länder durch den Bund
auf Länderseite frei werden, von den Ländern vor allem
für Hochschulen zur Verfügung gestellt werden. Das
muss man immer wieder in Erinnerung rufen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Länder und Kommunen verfügen dank der Unter-
stützung durch den Bund über die Möglichkeit, neue
Kinderbetreuungsplätze zu schaffen, hochwertige Aus-
stattungsinvestitionen vorzunehmen und für eine ver-
besserte Betreuung, etwa auch hinsichtlich der Sprach-
förderung, zu sorgen. Die Regeln zur Verwendung dieser
Mittel für Investitionen – nicht nur in Bauten, sondern
auch in Ausstattungen – haben sich bewährt. Deswegen
werden sie auch in diesem Gesetzentwurf beibehalten.

Das zeigt wieder: Die Bundesregierung ist für Länder
und Kommunen ein verlässlicher Partner. Länder und
Kommunen werden durch dieses Gesetz bis 2018 um
3,75 Milliarden Euro entlastet. Bereits in der letzten Le-
gislaturperiode hat der Bund die Länder und Kommunen
massiv unterstützt, vor allem durch die vollständige
Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Allein durch diese Maßnahme werden die Länder und
Kommunen im Zeitraum 2012 bis 2017 um rund 25 Mil-
liarden Euro entlastet.

All dies stärkt die Handlungsfähigkeit von Ländern
und Kommunen. Wir erwarten, dass sie ihre gestärkte
Investitionskraft nutzen. Im vergangenen Jahr hat das
übrigens gewirkt: Die Kommunen haben ihre Investitio-
nen um 8,4 Prozent erhöht. Wir gehen davon aus, dass
die Kommunen aufgrund dieser Maßnahme ihre Investi-
tionen weiter steigern. Es ist wichtig, dass alle staatli-
chen Ebenen, nicht nur der Bund, sondern auch Länder
und Kommunen, sich in der Pflicht sehen, entsprechend
ihrer jeweiligen Aufgaben verstärkt zukunftsorientierte
öffentliche Investitionen in Deutschland zu tätigen. Wir
werden auch in diesen Tagen, Wochen und Monaten in
den laufenden komplizierten Gesprächen mit den Län-
dern über die Grundfragen der Bund-Länder-Finanzbe-
ziehungen für die Zeit nach dem Auslaufen des Solidar-
pakts II Ende 2019 immer wieder stark dafür eintreten;
denn die eigentliche gesamtwirtschaftliche Herausforde-
rung ist, dass wir mehr Investitionen erzielen. Darüber
haben wir ausführlich gesprochen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will auch darauf aufmerksam machen, dass unsere
Politik, Länder und Kommunen zu unterstützen, Früchte
trägt. Die kommunale Ebene weist in den letzten zwei
Jahren in ihrer Gesamtheit – natürlich sind Durch-
schnittszahlen im Einzelfall immer nur begrenzt hilf-
reich – Überschüsse auf. Die Länder verfügten im letz-
ten Jahr über Einnahmen, die rund 20 Milliarden Euro
höher waren als die des Bundes. Die Länder haben ins-
gesamt fast ausgeglichene Haushalte erzielt. Im Ver-
gleich zu den Finanzkennzahlen von Ländern und Kom-
munen zeigen die Finanzkennzahlen des Bundes eine
starke Schieflage zu seinen Lasten. Der Bund wird erst
im nächsten Jahr, wenn alles gut geht, einen ausgegli-
chenen Haushalt erreichen können. Ich kann – das
möchte ich freundlich, aber klar sagen – übrigens nicht
erkennen, dass das etwas mit Fetischismus zu tun hat.
Die Verpflichtung dazu steht im Grundgesetz. Ich kann
nicht erkennen, warum die grundgesetzlichen Regelun-
gen als Fetischismus bezeichnet werden sollten.

Unser Schuldenstand und unsere Zinslast sind im Ver-
hältnis zum Haushaltsvolumen wie auch zu den Steuer-
einnahmen doppelt so hoch wie die der Länder. Auch
das muss man in diesen Verhandlungen und bei den öf-
fentlichen Erklärungen immer wieder sagen. Der Bund
muss handlungsfähig bleiben. Auch er braucht eine an-
gemessene Finanzausstattung.

Ich finde auch, dass wir alle aufmerksam zur Kennt-
nis nehmen sollten, was die Bundesbank in ihrem aktuel-
len Monatsbericht vorgeschlagen hat. Sie hat dafür plä-
diert, den Ländern mehr Eigenverantwortung zu geben,
indem die Länder durch Steuerzu- und -abschläge eine
begrenzte Steuerautonomie, etwa bei der Einkommen-
und Körperschaftsteuer, bekommen könnten. Ich weiß,
dass es Argumente dafür und dagegen gibt; aber ich
glaube, die Bundesbank hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass natürlich mehr Eigenverantwortung auch mehr
Anreize für stärkere Wirtschaftlichkeit der Staatstätig-
keit insgesamt liefert. Man sollte das nicht von vornher-
ein aus der Diskussion und aus den Überlegungen aus-
schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich würde mit Blick auf die Rolle der Länder für die
Kommunen gerne ergänzen, dass es natürlich nicht aus-
reicht, wenn sich nur der Bund gegenüber den Kommu-
nen als verlässlicher Partner verhält.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn trotz der großen Unterstützung, die der Bund den
Ländern und Kommunen gewährt und die ja von den
kommunalen Spitzenverbänden durchaus anerkannt
wird, und trotz der erfreulichen Gesamtsituation aller
Kommunen insgesamt ist natürlich in vielen einzelnen
Städten und Gemeinden die finanzielle Lage weiterhin
schwierig. Aber nach dem Grundgesetz ist der Ausgleich
zwischen den Gemeinden ausschließlich Aufgabe der
Länder. Der Bund hat keine Möglichkeit, direkt auf die
kommunale Ebene Einfluss zu nehmen. Wir können es
nur über die Länder machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die starken Unterschiede in der finanziellen Lage der
Kommunen zeigen sich vor allem in der Nutzung des In-
struments der Kassenkredite. Wenn man da ein bisschen
genauer hinschaut, kann man sehr präzise erkennen, dass
es sich nicht um ein flächendeckendes Problem handelt,
sondern um ein Problem, das nur in einzelnen Ländern
besteht und regional konzentriert ist. Die betroffenen
Länder haben das Problem erkannt. Die Mehrzahl hat in-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)

zwischen kommunale Entschuldungs- und Konsolidie-
rungsprogramme begonnen. Die ersten Erfolge stellen
sich ein. Damit kommen die Länder ihrer verfassungs-
mäßigen Verantwortung für eine angemessene Finanz-
ausstattung aller Kommunen nach. Das ist wichtig; denn
die Kommunen sind ja die Basis einer freiheitlichen, sta-
bilen und lebendigen Demokratie. Nach unserer födera-
len Ordnung ist und bleibt sinnvoll: Die kommunalen
Angelegenheiten sollten in erster Linie vor Ort entschie-
den werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber dazu brauchen wir eine dauerhafte Lösung für
einzelne hochverschuldete Kommunen. Die kommuna-
len Entschuldungs- und Konsolidierungsprogramme
müssen Schuldenabbau und Haushaltsausgleich umfas-
sen. Wir brauchen auch eine strengere Überwachung der
mit den Programmen verbundenen Konsolidierungsauf-
lagen. Da ist die Kommunalaufsicht gefordert. Sie sollte
nicht erst dann eingreifen, wenn die finanzielle Schief-
lage der Kommune bereits eingetreten ist, sondern früh-
zeitig, wenn sie sich abzuzeichnen beginnt.

Ein lebendiger Föderalismus lebt durch seine Kom-
munen. Wenn wir in Deutschland starke Kommunen ha-
ben wollen, brauchen sie eigene Gestaltungsmöglichkei-
ten bei ihren Einnahmen und Ausgaben. Sie sollten über
die Wahrnehmung ihrer kommunalen Aufgaben mög-
lichst weitgehend selbst entscheiden können, ohne dass
von oben alles vorgegeben und geregelt wird. Für die
finanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidungen müs-
sen sie aber natürlich auch Verantwortung übernehmen;
denn sonst gibt es Fehlanreize. Deswegen sollten Aufga-
ben, die regionale Bezüge haben, nach unserer Auffas-
sung stärker vor Ort entschieden und finanziert werden.
Umgekehrt soll auf Bundesebene in erster Linie das ent-
schieden und finanziert werden, was man zentral regeln
muss.

Die geltende Ordnung unserer Bund-Länder-Finanz-
beziehungen folgt diesem Prinzip leider nicht immer.
Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung wurden und
werden im föderalen Streit häufig vermischt und ver-
mengt. Für den Bürger ist das kaum noch überschaubar,
und für eine sparsame Mittelverwendung ist das eine
nicht optimale Ordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deswegen wollen wir klarere Verantwortlichkeiten im
Bundesstaat. Dass wir selber mit gutem Beispiel voran-
gehen wollen, haben wir mit dem Gesetzentwurf zur
Übernahme des BAföG durch den Bund gezeigt. Das ist
ein deutlicher Schritt auf die Länder zu. Ich erhoffe mir
von den anstehenden Bund-Länder-Verhandlungen, dass
sich die Länderseite nun auch im Sinne gesamtstaatli-
cher Verantwortung bewegt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wäre ein ganz neuer Zug!)


Wir brauchen in Deutschland eine bessere, zweckmä-
ßigere und effizientere Zuordnung von Aufgaben im fö-
deralen Staatswesen, auch und gerade zur Stärkung der
kommunalen Ebene. Nur wenn wir die kommunale Ei-
genverantwortung stärken, werden die Kommunen als
bedeutende Ebene unseres Gemeinwesens für Bürgerin-
nen und Bürger wie für Unternehmen und Investoren
auch in Zukunft attraktiv, lebendig und lebenswert blei-
ben.

Die Verbindung solider Finanzen und kluger Investi-
tionen ist Zukunftsvorsorge im besten Sinn. Die Kom-
munen leisten wichtige Beiträge zur dauerhaften Siche-
rung von Wachstum und Beschäftigung und damit
Wohlstand in unserem Land. Der Bund ist und bleibt den
Kommunen ein verlässlicher Partner. Wir haben das in
den letzten Jahren bewiesen, und das soll auch in Zu-
kunft so sein. Dieser Gesetzentwurf dient diesem Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502300

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Diana Golze, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805502400

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Schäuble! Sehr geehrte
Frau Ministerin Schwesig! Der Gesetzentwurf, der uns
heute vorliegt, trägt den wunderbaren Titel „Gesetz zur
weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab
2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der
Kindertagesbetreuung“. Ja, zum quantitativen Ausbau
trägt Ihr Gesetzentwurf sicherlich bei; denn Sie regeln
detailliert die Aufteilung der neuen 550 Millionen Euro
für die Aufstockung des Sondervermögens. Das ist si-
cherlich notwendige Verwaltungstechnokratie. Steht in
dem Gesetzentwurf aber auch etwas zur Qualität?

Lassen Sie uns doch einmal gemeinsam überlegen,
was wir unter Qualität in Kitas verstehen. Sie haben da-
für doch bestimmt auch Vorschläge? – Wenn die Kolle-
gen der Union nicht gerade miteinander reden würden,
würde ihnen vielleicht etwas einfallen. – Mir fällt zu die-
sem Thema zum Beispiel der Betreuungsschlüssel ein.


(Beifall bei der LINKEN)


– Genau. – Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzie-
her hat sicherlich auch etwas mit Qualität zu tun, und
vielleicht sogar deren Entlohnung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie wäre es mit Freistellungszeiten für das Leitungsper-
sonal, Zeit für Vor- und Nachbereitung und Qualifizie-
rungsmaßnahmen? Das alles hat etwas mit Qualität zu
tun, würde ich sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir nun aber einmal gemeinsam in den Ge-
setzentwurf.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, bitte!)






Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)

Wenn ich so viel Redezeit hätte wie die Rednerinnen und
Redner der Koalition, könnten wir jetzt eine Lesepause
einlegen; ich habe aber nur sechs Minuten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das reicht gut für Sie!)


Deshalb nehme ich das an dieser Stelle einmal vorweg
und zitiere aus Artikel 4 Kapitel 3 § 12, „Zweck der
Finanzhilfen“. Da steht: Förderfähig „sind Neubau-, Aus-
bau-, Umbau-, Sanierungs-, Renovierungs- und Ausstat-
tungsinvestitionen“. Weiter steht dort:

Gefördert werden Investitionen, die der Schaffung
oder Ausstattung zusätzlicher Betreuungsplätze
dienen …

Von Qualität steht in diesem Gesetzentwurf nichts. Er
wird seinem eigenen Anspruch nicht gerecht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, viele Ih-
rer Vorbehalte gegenüber der frühkindlichen Betreuung
bzw. Erziehung in Kitas, die Sie in den letzten Jahren
hier vorgetragen haben, haben doch etwas mit der ganz
konkreten Situation in Kitas zu tun, damit, wie Kita im
Moment funktioniert. Vor diesem Hintergrund frage ich
mich aber: Warum verweigern Sie sich dann der Diskus-
sion über gute Kitas, über gute Qualität? Ich weiß, dass
das in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle gespielt
hat. Es war eine Forderung der SPD, ein Kitaqualitätsge-
setz zu schaffen. Es kommt nicht, weil Sie Widerstand
geleistet haben. Das, liebe Damen und Herren von der
Union, kann ich nicht verstehen. Warum verweigern Sie
sich einer Diskussion, die außerhalb dieser Mauern
schon seit langem geführt wird?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Viele Verbände sitzen seit über einem Jahr zusammen
und machen sich konkret Gedanken, wie eine qualitativ
bessere Ausgestaltung aussehen könnte. Dafür hat sich
ein breites Bündnis gefunden. Die Arbeiterwohlfahrt ist
dabei, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
und auch der Verband Katholischer Tageseinrichtungen
für Kinder; sie alle sind sich einig. Viele Expertinnen
und Experten sind angehört worden. Sie versuchen ge-
meinsam, Handlungsempfehlungen zu geben, und ich
bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Debatte. Ich
kann Ihnen nur empfehlen, diese Ergebnisse dann auch
aufzugreifen und ernst zu nehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Handlungsbedarf in Bezug auf ein Kitaqualitäts-
gesetz ist groß. Genau deshalb fordern wir in dem An-
trag, den wir heute vorgelegt haben, eine Sachverständi-
genkommission. Die Erfahrungen aus der Praxis, das
Know-how der Wissenschaft und die Expertise der Ak-
teure vor Ort müssen zusammengeführt werden. Es muss
ein gemeinsamer Handlungsvorschlag entwickelt wer-
den. Wir sollten uns nicht mit Kleinigkeiten beschäftigen
und am Ende vielleicht noch ein paar zusätzliche Kita-
plätze schaffen. Das dürfen wir zwar nicht vergessen;
aber wir brauchen den großen Wurf. Was meine ich da-
mit? Gesetzlich verbriefte Mindeststandards.

(Beifall bei der LINKEN)


Diese liegen nach wie vor nicht vor. Wir brauchen aber
grundlegende Kriterien für die Qualität in Kitas. Deren
Formulierung steht natürlich zunächst einmal demjeni-
gen an, der den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung in das
SGB VIII geschrieben hat, und das ist der Bund. Wir
brauchen aber nicht nur einen Rechtsanspruch auf einen
Platz, sondern auch einen Rechtsanspruch auf die Aus-
gestaltung dieses Platzes, auf die Qualität dessen, was
wir da mit viel Geld ins Leben gerufen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich frage Sie: Wie soll in strukturschwachen Regio-
nen ein erhöhter Anteil an den Umsatzsteuereinnahmen
so viel Geld einbringen, dass es neben all den anderen
Verpflichtungen für mehr Plätze und mehr Qualität
reicht? Wie soll eine Kommune wie zum Beispiel die,
aus der ich komme – ich weiß genau, wovon ich rede;
ich bin auch Stadtverordnete –, die sich von einem Haus-
haltssicherungskonzept zum nächsten hangelt, zusätzli-
che Erzieherinnen einstellen, wenn sie gezwungen ist,
jeden Cent, der übrig bleibt, in die Tilgung der Schulden
zu stecken? Wir brauchen Pflichtaufgaben, auch bei der
Qualität. Solange Investitionen in die Qualität der Kin-
dertagesbetreuung keine Pflichtaufgabe sind, so lange
wird sich im Leben von Eltern und Kindern leider nichts
verbessern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Finanzbedarf, der dafür notwendig ist, wird un-
terschiedlich hoch beziffert. Professor Dr. Stefan Sell hat
in einem Beitrag mit dem Titel „Die Finanzierung der
Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen“
von 9 Milliarden Euro gesprochen, wenn wir die Vorga-
ben der OECD erfüllen wollen. Ob das durch Umbu-
chungen und durch die Entlastung, von der der Bundes-
finanzminister hier gesprochen hat, zu schaffen ist, weiß
ich nicht. Ich fürchte, dass die Freiräume, die dadurch
bei Ländern und Kommunen entstehen, am Ende nicht
ausreichen. Ich sage deshalb: Auch wir als Bund haben
hier zusätzliche Möglichkeiten. Lassen Sie uns doch
zum Beispiel die 1 Milliarde Euro, die gerade der Union
so locker in der Tasche sitzt, um den Eltern ein Taschen-
geld dafür zu zahlen, dass sie ihre Kinder nicht in die
Kitas bringen, für eine umfassende und durchdachte
Qualitätsoffensive für Kitas einsetzen, statt sie beim Be-
treuungsgeld zu verschwenden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502500

Als nächster Rednerin erteile ich für die Bundesregie-

rung Bundesministerin Manuela Schwesig das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(C)



(D)(B)

Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Es ist heute ein guter Tag für
die Familien in Deutschland; denn die Große Koalition
bringt zwei Gesetze auf den Weg, die die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie erheblich verbessern werden. Wir
haben in der ersten Halbzeit, Herr Weinberg, schon über
das Elterngeld Plus gesprochen, eine finanziell starke
Maßnahme, um Eltern Zeit für die Familie zu geben,
aber auch Anreize, berufstätig zu sein.

Mit dem neuen Kitagesetz arbeiten wir weiter an der
besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie; denn El-
tern in Deutschland brauchen Ganztagskitas, um berufs-
tätig zu sein. Aber wir machen auch mit den besseren
Bildungschancen für Kinder weiter; denn gute Kitas in
Deutschland sind nicht nur für die Vereinbarkeit von Be-
ruf und Familie der Eltern gut, sondern vor allem auch
gut für Kinder und ihre Bildungschancen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist also ein doppelter Gewinn für Kinder und ihre
Familien. Ich möchte noch einmal daran erinnern: Kom-
munen, Länder und Bund setzen seit den letzten Jahren
erhebliche Mittel ein, um Kitaplätze zur Verfügung zu
stellen. Der Bund stellt bis Ende 2014 insgesamt
5,4 Milliarden Euro für Investitionsvorhaben bereit. Ab
2015 beteiligt sich der Bund dauerhaft mit jährlich
845 Millionen Euro an den Betriebskosten; Herr
Schäuble hat es angesprochen. Der Bund hat sich noch
nie so stark an den laufenden Kosten der Kitas beteiligt
und damit natürlich auch an den Personalkosten und an
Qualität in Kitas.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben Erfolge: etwa 10 Prozent mehr Kinder un-
ter drei Jahren in Kindertagesbetreuung als noch vor ei-
nem Jahr, mehr als doppelt so viele wie 2006. Aber die
Bedarfe, vor allem nach Ganztagskitas, steigen; denn es
ist weder der Mutter noch dem Vater geholfen, wenn die
Kita nur von 8 bis 13 Uhr geöffnet ist. Wir brauchen
Ganztagsbetreuung. Deshalb ist es gut, dass das neue Ki-
tagesetz genau diese Qualitätsaspekte berücksichtigt.
Liebe Frau Golze, Qualität ist nicht nur der Betreuungs-
schlüssel. Wir wurschteln hier auch nicht rum. Nein, wir
klotzen. Wir schaffen neue Plätze. Das Wichtigste für
Eltern ist es, erst einmal einen Platz zu haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin sehr für
eine Qualitätsdebatte. Ich freue mich, dass Sie und auch
die Grünen dieses Thema immer auf die Tagesordnung
setzen. Deshalb verlasse ich mich auch darauf, dass die
Länder, in denen Sie regieren, mich in dieser Debatte un-
terstützen. Wir werden es sehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aber ich warne auch: Die Qualitätsdebatte darf nicht
dazu führen, dass wir das Angebot an Kitas in unserem
Land schlechtreden. Die Erzieherinnen und Erzieher
leisten viel. Sie leisten sehr viel. Sie leisten mindestens
genauso wertvolle Arbeit wie die Professoren an den
Unis, aber sie sind weit von deren Bezahlung entfernt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich habe noch keinen Elternbrief bekommen, in dem
die schlechte Qualität einer Kita beklagt wurde. Ich be-
komme aber viele Briefe wegen fehlender Plätze. Des-
halb ist dieses neue Gesetz richtig: Wir brauchen für je-
des Kind und jede Familie in Deutschland, die das
möchte, einen guten Kitaplatz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir setzen auf Qualität. Wir legen erstmalig in einem
Gesetz Anforderungen fest und fördern Ausstattungsin-
vestitionen, zum Beispiel für ein gesundes Mittagessen
in der Kita. Was ist ein gesundes Essen in Kitas denn an-
deres als Qualität?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir setzen auch auf Sprachförderung. Wir stellen in
dieser Legislatur etwa eine halbe Milliarde Euro für ge-
zielte Sprachförderung zur Verfügung, insbesondere für
Brennpunktkitas. Das ist ein konkretes Beispiel für die
Bekämpfung von Kinderarmut; denn Kinder brauchen
gute Bildungschancen, unabhängig vom Geldbeutel der
Eltern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir entlasten die Länder durch die Übernahme der
BAföG-Mittel. Ich habe mich wirklich dafür starkge-
macht, dass die eingesparten Mittel in den Bildungsbe-
reich fließen können, und zwar in den Bereich der früh-
kindlichen Bildung, der Schule und der Hochschule.
Bildung beginnt in der Kita.

Ich freue mich sehr, dass es Länder wie Niedersach-
sen gibt, die mit gutem Beispiel vorangehen. Nieder-
sachsen hat diese zusätzlichen Mittel in mehr Qualität in
Form eines besseren Betreuungsschlüssels in Krippen
investiert. Sie haben jetzt die Gelegenheit, in dem Bun-
desland, in dem Sie mitregieren – liebe Grünen, auch Sie
werden gleich zu diesem Thema sprechen –, entspre-
chend zu handeln: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Niedersachsen regieren wir mit und haben das umgesetzt!)


– In Niedersachsen funktioniert das. Aber Sie regieren ja
zum Glück auch in vielen anderen Ländern mit. Ich bin
sehr gespannt, ob Ihre Länder beim Qualitätsgesetz da-
bei sind.


(Beifall bei der SPD)


Mir geht es aber darum, dass Schluss damit sein
muss, den Schwarzen Peter hin und her zu schieben. Das
bringt die Eltern und ihre Kinder nicht weiter.

(A)






Bundesministerin Manuela Schwesig


(A) (C)



(D)(B)

Mir ist es wichtig, durch eine neue Kultur des Dialogs
mit Kommunen und Ländern mehr Kitas und mehr Qua-
lität in der Kitabetreuung zu bekommen. Deshalb gibt es
im November eine Bund-Länder-Konferenz zum Thema
Qualität früher Bildung, auf der wir uns zum ersten Mal
in Gesprächen zwischen Bund und Ländern mit diesem
Thema beschäftigen werden. Diese Konferenz ist der
Auftakt. In weiteren Runden sollen dann die Verbände
und Initiativen einbezogen werden, sodass es einer zu-
sätzlichen Kommission nicht bedarf. Denn Länder und
Bund haben sich längst auf den Weg gemacht. Wir haben
diesen Weg längst beschlossen.

Sehr geehrte Damen und Herren, insbesondere weil
ich heute die Ehre habe, auch vor den Haushältern zu
sprechen, möchte ich noch einmal dafür werben: Nicht
erst in der Schule, sondern in der Kita werden die Wei-
chen für den Bildungserfolg unserer Kinder gestellt.
Nicht erst an der Uni, sondern schon in der Kita werden
die Weichen für Chancengleichheit gestellt.

Internationale Studien bescheinigen uns immer wie-
der, wie groß der Aufholbedarf in Deutschland ist. Des-
halb ist es gut, dass wir so viel Geld in den Kitabereich
investieren. Aber es ist noch nicht genug, und das wissen
wir alle. Wir müssen jetzt das Geld sinnvoll einsetzen.
Dabei sind auch alle Beteiligten vor Ort gefragt. Denn
gute Kinderbetreuung ist auch Armutsbekämpfung.

Herr Schäuble und ich haben die Gesamtevaluation
vorgelegt, und wir lernen daraus. Wir sehen: Das Eltern-
geld ist wichtig. Wir sehen aber auch: Die Kitabetreuung
ist wichtig. Öffentlich geförderte Kinderbetreuung führt
dazu, dass wir das Armutsrisiko von Familien um 7 Pro-
zentpunkte mindern können. Ganztagskitas und Ganz-
tagsschulen führen dazu, dass mehr Frauen erwerbstätig
sind, was dann wieder zu mehr Steuereinnahmen führt.
Deswegen werbe ich für eine innovative und moderne
Haushalts- und Finanzpolitik, die für mich heißt: Das ist
nicht einfach eine Ausgabe – schon gar keine konsum-
tive –; es ist vielmehr eine Investition in die Zukunft, die
zu Erträgen führt. Das müssen wir auch bei den Haus-
haltsberatungen berücksichtigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gute Kinderbetreuung ist wichtig für die Vereinbar-
keit von Beruf und Familie, aber vor allem für die Bil-
dung von Kindern. Alle Kinder haben ein Recht auf ein
gutes Aufwachsen. Das schaffen wir nicht mit einer
Maßnahme, aber mit einem Bündel von Maßnahmen.
Wir haben heute zwei gute Vorhaben auf den Weg ge-
bracht. Dafür möchte ich mich insbesondere bei den Re-
gierungsfraktionen für die Unterstützung bedanken.

Ich freue mich auf die Beratungen. Aber am Wich-
tigsten ist, dass jetzt die Euros schnell vor Ort ankom-
men, damit es mit dem guten Ausbau der Kitabetreuung
weitergehen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502600

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schäuble, Sie haben sich hier wieder für
den Haushalt 2015 gelobt, aber Sie wissen genau, dass
Ihre Bilanz massiv geschönt ist. Sie nehmen zwar keine
Schulden mehr bei der Bank auf, aber Sie wollen weiter-
hin Schulden aufnehmen: bei den Krankenkassen, bei
der Rentenversicherung und bei der Infrastruktur.

Wenn wir heute über die Kommunen und die Kitas re-
den, dann kann ich nur feststellen: Sie nehmen auch
Schulden bei den Investitionen in unseren Kommunen
auf. Sie nehmen auch Schulden bei Kindern und Jugend-
lichen auf. Dieser Haushalt enthält eine große versteckte
Verschuldung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir heute über kommunale Finanzen und die
Länderfinanzen reden, Herr Schäuble, dann dürfen wir
auch nicht vergessen, dass die Kassen der Länder in den
letzten Jahren durch Steuersenkungen massiv geschröpft
wurden: erst durch die Große Koalition und dann durch
Schwarz-Gelb. Auch damals waren Sie Finanzminister,
Herr Schäuble. Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
das eher ein Klientelbeschleunigungsgesetz ist, hat dazu
geführt, dass nach wie vor die Länder jedes Jahr 2,3 Mil-
liarden Euro Einnahmeverluste haben. Die Kommunen
kostet es 1,5 Milliarden Euro. Das dauert leider bis heute
an. Das heißt, Schwarz-Gelb wirkt leider weiter. Ihre
Steuersenkungspolitik, Herr Schäuble, ist für Länder und
Kommunen immer noch sehr teuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will noch kurz auf die Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen und den Vorschlag zu den regionalen Steuersät-
zen eingehen, der aus dem BMF an die Presse durchge-
stochen wurde. Wir haben in Europa einen aggressiven
Steuerwettbewerb. Wir brauchen jetzt nicht noch zwi-
schen den Bundesländern einen aggressiven Steuerwett-
bewerb. Wir brauchen einen guten Steuervollzug, eine
gerechte Steuerpolitik und eine gute Ausstattung von
Ländern und Kommunen. Das ist die richtige Antwort.
Wir brauchen keine regionalen Steuersätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zu der Entlastung der Kommunen um 1 Milliarde
Euro jährlich ab 2015 will ich drei Punkte ansprechen.
Erstens. Das ist weniger als das, was die Steuersenkun-
gen durch Schwarz-Gelb die Kommunen gekostet hat.
Zweitens. Diese Entlastung kommt nicht wie im Koali-
tionsvertrag versprochen 2014, sondern erst 2015. Das
ist der erste Bruch des Koalitionsvertrags. Drittens. Die
Entlastung der Kommunen im Umfang von 5 Milliarden
Euro jährlich bei der Eingliederungshilfe kommt nicht in





Sven-Christian Kindler


(A) (C)



(D)(B)

dieser Legislaturperiode, sondern wird auf 2018 ver-
schoben. Das ist der zweite Bruch des Koalitionsver-
trags.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko-
alition, Sie wissen selber, dass die Kommunen darüber
sehr enttäuscht sind. Der Präsident des Deutschen Städ-
tetags, Herr Maly von der SPD, hat das genauso kritisiert
wie der Oberbürgermeister von Neuburg an der Donau,
Herr Gmehling von der CSU. Der Oberbürgermeister
von Gelsenkirchen, Frank Baranowski von der SPD, hat
gesagt: Ich bin fassungslos. Gemessen am Koalitions-
vertrag ist das Wortbruch. – Ich finde, er hat völlig recht.
Das ist eine herbe Enttäuschung für die Kommunen. Das
ist Wortbruch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Kommunen klagen nicht ohne Grund. Sie haben
zum Teil hohe Sozialkosten. Diese Kosten werden in den
nächsten Jahren weiter steigen, und zwar durchschnitt-
lich um 2 Milliarden Euro, so der Städte- und Gemeinde-
bund. Das ist deutlich mehr als die 1 Milliarde Euro, die
in Ihrem Haushalt als Entlastung der Kommunen vorge-
sehen ist. Wir müssen aber jetzt den Kommunen, die
hohe Sozialkosten haben, helfen. Dabei hilft es nichts,
dass die Entlastung der Kommunen hälftig durch eine
Erhöhung des Gemeindeanteils an den Einnahmen aus
der Umsatzsteuer erfolgt. Das bringt den armen Kom-
munen gar nichts. Wir Grüne sagen klar: Wir wollen die
Kommunen nicht nur um jährlich eine volle Milliarde
Euro bei den Kosten der Unterkunft und Heizung entlas-
ten – wir werden versuchen, das in den Haushaltsbera-
tungen zu ändern –, sondern auch zusätzlich 1 Milliarde
als Hilfe für strukturschwache Kommunen. Des Weite-
ren wollen wir die Kommunen bereits in dieser Legisla-
turperiode um jährlich 5 Milliarden Euro bei der Einglie-
derungshilfe entlasten und nicht erst ab 2018. Das
benötigen unsere Kommunen dringend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Kommunen, die hohe Sozialkosten haben und
strukturschwach sind, stecken in einem Teufelskreis;
denn aufgrund der hohen Sozialkosten können sie nicht
investieren und keine Schulden abbauen. Die KfW hat
berechnet, dass sich der kommunale Investitionsstau in
diesem Jahr auf satte 118 Milliarden Euro beläuft. Die
Folgen sind kaputte Straßen, kaputte Brücken und ka-
putte Schienen. In den Schulen fällt der Putz von der De-
cke.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist aber Sache der Länder!)


Es gibt viel zu wenige Kitaplätze, insbesondere gute Ki-
taplätze. Das sind Kosten und Schulden von morgen und
übermorgen. Dagegen macht die Große Koalition leider
fast nichts. Wir haben nicht nur im Bund, sondern auch
in den Kommunen eine große versteckte Verschuldung
zu beklagen. Das ist auch ein Problem dieses Haushalts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Haushalt und Ihre Politik sind nicht alternativlos.
Man könnte wirklich etwas verändern und beispiels-
weise Investitionen und Hilfen für Kommunen solide ge-
genfinanzieren, indem man die umweltschädlichen Sub-
ventionen abbaut. Hier sind Milliarden zu holen. Man
könnte auch eine gerechte Steuerpolitik betreiben. Als
Beispiel nenne ich hier die Abgeltungsteuer. Wir wollen,
dass Kapitaleinkommen endlich wieder progressiv be-
steuert werden wie Arbeitseinkommen. Das ist gerechte
Steuerpolitik und hilft dem Haushalt und unseren Kom-
munen. Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen hö-
here Steuereinnahmen aus Kapitaleinkommen erzielen.
Die Abgeltungsteuer muss abgeschafft werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine weitere Möglichkeit stellen Ausgabenkürzungen
im Haushalt dar. Frau Schwesig und Herr Schäuble, Sie
könnten die Ausgaben für das Betreuungsgeld kürzen.
Von 2015 bis 2017 wollen Sie 3 Milliarden Euro für das
Betreuungsgeld ausgeben. Schauen wir uns einmal an,
wie viel Sie für den Kitabereich eingestellt haben. Bisher
gab es pro Jahr 1 Milliarde Euro für die Kommunen.
Nun planen Sie, Frau Schwesig, 650 Millionen Euro in
vier Jahren, also in einer Legislaturperiode. Das ist weni-
ger als unter Schwarz-Gelb. Dabei wollten Sie 2 Milliar-
den Euro erzielen. Aber Sie konnten sich leider nicht ge-
gen den Finanzminister durchsetzen. Für die kleinen
Kinder haben Sie nichts in diesen Haushalt eingestellt.
Das ist ein Armutszeugnis für die SPD und insbesondere
für die Bundesfamilienministerin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])


Trauen Sie sich doch endlich, etwas in der Haushalts-
politik zu verändern, zum Beispiel bei den Subventio-
nen, dem Betreuungsgeld oder der Abgeltungsteuer. Hier
liegen Milliarden brach, die Sie holen können, um unse-
ren Kommunen zu helfen sowie um in Bildung und den
Kitaausbau zu investieren. Sie müssen aber mutig sein,
wenn Sie wirklich etwas verändern wollen. Wir jeden-
falls werden Ihnen konkrete Änderungsvorschläge in
den Haushaltsberatungen vorlegen. Ich hoffe, Sie folgen
uns dann auch.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Legen Sie die Vorschläge vor; wir schauen sie uns an!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502700

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten

Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1805502800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Kindler, nennen Sie mir eine Krankenkasse, die ver-
schuldet ist. Ich kenne keine. Die Krankenkassen
schwimmen im Geld. Sie haben Überschüsse ohne Ende.
Das ist das Ergebnis grundsolider Politik der letzten
Jahre und der positiven wirtschaftlichen Entwicklung.
Schauen Sie sich die Rentenversicherung an. Wir debat-





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

tieren nicht über die Erhöhung von Beitragssätzen, son-
dern wir debattieren darüber, ob wir sie senken müssen,
weil wir eine Reserve von fast zwei Monaten haben. Ihre
Beschreibung der Lage hat mit der Realität nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wenn man von innovativer und kompetenter Haus-
haltspolitik redet, dann sollte man sich anschauen, wie
wir im nächsten Jahr zur schwarz-roten Null kommen
werden. Wir haben im Jahr 2010 mit einer Sollverschul-
dung von 86 Milliarden Euro begonnen. In diesem Jahr
ist die Istverschuldung auf 44 Milliarden Euro gesunken.
Wir haben schon in der zurückliegenden Zeit die Kom-
munen massiv entlastet. Ich nenne als Beispiele die Kos-
ten der Unterkunft und die Grundsicherung im Alter.
Kollege Kindler, wir haben ganz nebenbei zum Beispiel
das Kindergeld erhöht. Das waren Kosten in Höhe von
10 Milliarden Euro. Wenn Sie Steuermindereinnahmen
beklagen, so sage ich: Das ist gut angelegtes Geld für
unsere Familien und unsere Kinder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine klare Gegenfinanzierung!)


Wir werden im nächsten Jahr bei der schwarz-roten
Null landen. Es werden oft Märchen erzählt, und es wird
so getan, als ob nur der Bund Steuermehreinnahmen
hätte. Ja, wir haben von 2005 bis 2014, in der Regie-
rungszeit von Angela Merkel, 78 Milliarden Euro Steu-
ermehreinnahmen gehabt. Länder und Gemeinden haben
aber in dieser Zeit Steuermehreinnahmen in Höhe von
100 Milliarden Euro gehabt. Tun wir doch nicht so, als
ob die Steuern nur beim Bund landen würden. Der über-
wiegende Teil der Gemeinschaftssteuern landet bei Län-
dern und Gemeinden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn Sie in der 17. und 18. Wahlperiode eine kom-
munale Entlastung von insgesamt 90 Milliarden Euro
stemmen und gleichzeitig die Null haben wollen, dann,
liebe Frau Kollegin Schwesig, nenne ich das insgesamt
innovative und kompetente Haushaltspolitik. Das Wich-
tigste für mich ist, dass wir in den nächsten Jahren die
Null halten. Wir können viel über Hochschulen, Kitas
und darüber, wie Geld verteilt wird, debattieren. Das
Wichtigste ist, dass ich meinen Enkelkindern keine Neu-
verschuldung in Deutschland hinterlasse.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht ihr doch! Ihr macht doch neue Schulden bei der Infrastruktur!)


Vielmehr soll jede Generation ihre Verantwortung tra-
gen, auch für die Finanz- und Haushaltspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Bund hat sich Mehrausgaben in Höhe von
30 Milliarden Euro für die Jahre bis 2018 vorgenommen.
Die Steigerung beträgt in den Jahren 2016, 2017 und
2018 jeweils 10 Milliarden Euro. Zur Wahrheit gehört
auch, dass die Hälfte dieses Aufwuchses an Länder und
Kommunen geht. Wir wollen die Kommunen um 1 Mil-
liarde Euro entlasten. Damit beginnen wir heute. Ich
halte die Verteilung übrigens für gerecht. Die eine Hälfte
kommt aus den Umsatzsteuerpunkten, die andere Hälfte
aus den KdU. Das eine kommt bei den Stärkeren an, das
andere bei den Schwächeren. Ich halte das für eine in die
Zukunft gerichtete, gute Verteilung für die Kommunen
in der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


6 Milliarden Euro sollen an die Länder gehen. Da
stellt sich für mich eine ganz spannende Frage. Kommt
das Geld wirklich an? Das betrifft dieses Entlastungsge-
setz. Nachdem in der ersten Formulierung von Trägern
der Eingliederungshilfe gesprochen wurde, mussten
dann ganz konkret die Kommunen genannt werden. Ich
möchte mich ganz ausdrücklich bei unseren Kommunal-
politikern und an deren Spitze bei Ingbert Liebing be-
danken, dass sie hier reingegrätscht sind. Die ersten Län-
der haben nämlich schon den Finger gehoben und auf
das Geld Anspruch erhoben. Wir haben in dem Koali-
tionsvertrag festgeschrieben, dass die 1 Milliarde Euro
und auch die zukünftigen 5 Milliarden Euro – das ist
eine Vorfestlegung – für die Entlastung der Kommunen
verwendet werden und für nichts anderes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine Rednerin, die nach mir spricht und Mitglied des
Haushaltsausschusses ist, eine Kollegin von der SPD,
hat einmal von klebrigen Fingern der Länder gespro-
chen. Ich will das nicht tun.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das kann nur Frau Hagedorn gewesen sein! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine gute Kollegin ansonsten!)


Aber gucken wir uns wirklich einmal die Realitäten
an:

Stichwort „Entflechtungsgesetz“. Mit den Mitteln
konnten die Länder und Kommunen eigentlich nicht
rechnen. Die Absprache war eine andere. Die Absprache
war: degressiv bis 2019. Ergebnis: Zustimmung Fiskal-
vertrag; die 2,6 Milliarden Euro bleiben stehen. – Gu-
cken Sie sich heute einmal an, wie viele Länder die
Zweckbindung bei sich normiert haben! Ich fange jetzt
nicht an, die Länder zu benennen, weil das an dieser
Stelle vielleicht zu weit führt. Es gibt Länder, die über-
haupt keine Zweckbindung festgeschrieben haben. Ich
kenne Länder, wo beim ÖPNV und beim kommunalen
Straßenbau gerade einmal die Hälfte der Mittel für die-
sen Zweck ankommt.

Deswegen geht mein Appell an die Kolleginnen und
Kollegen von allen Fraktionen, ob in der Regierung oder
in der Opposition in diesem Land: Wir sollten alle ge-
meinsam als Bundestagsabgeordnete wirklich dafür sor-
gen, dass das Geld entsprechend der Zweckbindung und
auch auf der Ebene ankommt, die wir politisch vorgese-
hen haben. Es kann nicht sein, dass Entflechtungsmittel
zur Sanierung der Länderhaushalte verwendet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

Nehmen wir das Thema BaföG: BAföG wird an Stu-
dierende und Schüler ausgereicht, und deswegen gehö-
ren die Mittel nach meiner Auffassung auch an Schulen
und Hochschulen. Jetzt kann man sich beim Thema
„frühkindliche Bildung“ streiten; aber wenn man die
Mittel nur nimmt, damit die Eltern keine Kitabeiträge
zahlen müssen, dann sehe ich keine Qualitätsverbesse-
rung in der frühkindlichen Bildung, sondern dann ist das
aus meiner Sicht eine Zweckentfremdung. Wenn man
die Mittel für Qualitätsverbesserung in der frühkindli-
chen Bildung verwenden würde,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen die ja!)


dann wäre ich noch damit einverstanden; aber wenn sie
nur eingesetzt werden, damit Eltern keine Beiträge mehr
zahlen müssen, sehe ich eine Zweckentfremdung.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Niedersachsen investiert in Qualität!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine der ef-
fizientesten Kommunalentlastungen war die bei der
Grundsicherung im Alter. Es war eine gute Entschei-
dung, auch deswegen – ich kann das zumindest für die
neuen Bundesländer sagen –, weil es keinen signifikan-
ten Anstieg bei der Grundsicherung im Alter gegeben
hat. Die neuen Bundesländer hatten vor acht Jahren eine
Quote von 1,16 Prozent; die neuen Bundesländer, ohne
Berlin, haben heute eine Quote von 1,28 Prozent – kein
signifikanter Anstieg. Über die verschiedenen Stufen
– 40 Prozent, 75 Prozent und heute 100 Prozent – ist
eine echte Entlastung für die Kommunen erreicht wor-
den.

Die Uni Rostock sagt in einer Studie, in Auftrag gege-
ben vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, dass bis
zum Jahr 2020 zumindest für dieses Bundesland nicht
mit einem signifikanten Anstieg der Altersarmut, sprich:
der Ausgaben für die Grundsicherung im Alter, zu rech-
nen ist. Wissenschaftler können irren; ich zitiere das hier
nur. Wenn das so sein sollte, ist das bei den Kommunen
gut angelegtes Geld, meine sehr verehrten Damen und
Herren.

Wenn ich im Gesamtkontext betrachte, was wir getan
haben und was wir tun wollen, dann möchte ich an einen
Punkt anknüpfen, den Minister Schäuble schon genannt
hat. Zur Ehrlichkeit gehört, dass es in der Gesamtheit
den Kommunen und Ländern deutlich besser geht als
dem Bund. Liebe Kolleginnen und Kollegen, manche
debattieren hier nur die Einnahmeseite. Wenn Sie sich
einmal angucken, welche Länder einen Ausgabenzu-
wachs haben, dann stellen Sie fest: Das sind die Länder,
wo Haushalte für nicht verfassungsgemäß erklärt wor-
den sind, und das sind die Länder, die am meisten her-
umtrompeten, dass man die Steuern erhöhen müsse, da-
mit die Ausgaben auch geleistet werden können. Andere
Länder, die sich anstrengen – ich lasse einmal beiseite,
welche das sind –, fragen sich natürlich mittlerweile,
auch mit Blick auf die Gespräche über die Bund-Länder-
Finanzbeziehungen: Haben sich unsere Anstrengungen
gelohnt, oder machen wir bei dem ganzen Thema
Miese?


(Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])


Ich kann diesen Ländern nur eines sagen: Die Anstren-
gungen haben sich gelohnt, weil sie gegenüber denen,
die ihre Ausgaben hochfahren und sich immer wieder
verschulden, in einer besseren Position sind. Das Gebot
der Stunde kann nicht sein, bei steigenden Steuereinnah-
men solche Ausgabenzuwächse in den Länderhaushalten
zu haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir insgesamt
brauchen, das ist aus meiner Sicht eine Verantwortungs-
gemeinschaft, eine Verantwortungsgemeinschaft von
Bund, Ländern und Kommunen. Das heißt für mich:

Erstens. Das Geld muss an der Stelle ankommen, die
politisch vereinbart worden ist. Das gilt sowohl für den
Verwendungszweck als auch für die Ebene.

Zweitens. Die Länder müssen ihre Zusagen einhalten.
Denken wir einmal an das Thema des Krippenausbaus.
Ja, wir haben seit 2008 viele Krippenplätze neu geschaf-
fen und werden das auch weiter tun. Halten aber Länder
und Kommunen wirklich die politische Zusage – ein
Drittel der Bund, ein Drittel die Länder und ein Drittel
die Kommen – ein? Wenn wir einmal ganz scharf in
jeden Landeshaushalt schauen, dann stellen wir fest,
dass dem oftmals mitnichten so ist.

Drittens. Aus meiner Sicht darf es zu keiner Sanie-
rung der Länderhaushalte durch Zweckentfremdung
kommen. Ich halte es für unverantwortlich, was einige
Länder machen. Ich rufe dringend zur Revision einiger
kommunaler Finanzausgleichsgesetze der Länder auf, in
denen explizit steht: Wenn der Bund zusätzliche Zuwei-
sungen an die Kommunen vornimmt, dann fließen die
Mittel über den Vorwegabzug zurück in den Landes-
haushalt. Ich halte das für politisch-moralisch nicht ver-
tretbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt solche Länder. Bei einer Tasse Kaffee nenne ich
Ihnen diese auch. – Die Mittel müssen also letztendlich
im kommunalen Haushalt ankommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der
vergangenen Legislaturperiode mit einem massiven
Schuldenabbau begonnen.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz viele neue Schulden gemacht!)


Nehmen wir einmal die 90 Milliarden Euro, die in der
vergangenen Legislaturperiode den Kommunen zuge-
wiesen worden sind.

Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Anmerkung
machen und darauf hinweisen, dass die Hälfte des Aus-
gabenzuwachses nicht als Durchlaufposten im Bundes-
haushalt enthalten ist. Wir müssen eine Debatte darüber
führen, ob der Bund Maßnahmen finanziert, für die er ei-
gentlich nicht zuständig ist. Diese Debatte muss deswe-





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)

gen zwingend geführt werden, weil auch der Bund Auf-
gaben zu erfüllen hat. Ja, Kollege Kindler, mir
persönlich wäre es lieber – das sage ich ganz offen –,
das, was wir als Durchlaufposten an die Länder geben, in
die Verkehrsinfrastruktur zu stecken. Das ist originäre
Bundesaufgabe.

Herr Minister Schäuble, deswegen haben Sie die
Unionsfraktion an Ihrer Seite bei all den Themen, die in
den nächsten Wochen und Monaten anstehen. Ich
glaube, wir im Bund befinden uns in einer sehr guten
Position auf dem Weg hin zu einer schwarz-roten Null.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805502900

Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten

Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Susanna Karawanskij (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805503000

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Gäste! 550 Millionen Euro mehr
stellt der Bund in den nächsten zwei Jahren über das
Sondervermögen Kinderbetreuungsausbau zur Verfü-
gung. Dass die Bereitstellung der Mittel für den Kinder-
betreuungsausbau durch den Bund problematisch ist und
dass wir vor allem auch über die Qualität reden müssen,
darauf hat meine Kollegin Diana Golze bereits hinge-
wiesen.

Sie sind stolz darauf und klopfen sich nun auf die
Schulter. Ich sage Ihnen: Für die klammen Kommunen
ist das zu wenig. Das reicht hinten und vorne nicht. Die
meisten ihrer Probleme werden damit nicht gelöst. Die
grundsätzliche chronische Unterfinanzierung der kom-
munalen Familie lässt sich durch diese Placebogesetzge-
bung leider nicht beheben.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Daneben soll der Bund ab 2015 die Kommunen jähr-
lich um 1 Milliarde Euro entlasten. Dafür erhalten sie
jährlich 500 Millionen Euro mehr an Erstattungen bei
den Kosten für Unterkunft und Heizung im Bereich der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Außerdem steigt
der Anteil der Städte und Gemeinden am Umsatzsteuer-
aufkommen. Dies macht ebenfalls 500 Millionen Euro
jährlich aus.

Ich sage Ihnen jetzt, worin meine Kritik besteht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Also los!)


Im Koalitionsvertrag steht, Herr Kauder, dass die Kom-
munen ab 2014 um 1 Milliarde Euro jährlich entlastet
werden sollen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Das ist falsch!)


Nicht nur die Spitzenverbände haben diesen Wortlaut so
verstanden, sondern auch Ihre Kollegen, wie es in der
Sitzung des Unterausschusses Kommunales deutlich
wurde. Wir stellen fest, dass „sofort“ bei Ihnen „ein Jahr
später“ heißt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie irren auch an diesem Punkt!)


Das heißt, weder fließt 1 Milliarde Euro sofort, noch ist
das eine ausreichende Hilfe. Das ist so wie Hustensaft
bei einer Lungenentzündung.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Entlastung der Kommunen ist Ihrerseits gar nicht
garantiert. Es sind schließlich die Länder, die oftmals in
der Pflicht stehen, den Kommunen Gelder für die Erledi-
gung ihrer ureigenen Aufgaben zukommen zu lassen.
Deshalb müssen Sie, meine Damen und Herren, sicher-
stellen, dass die Entlastung auch tatsächlich bei den
Kommunen ankommt.

Sie wollen einen Beitrag zur Reduzierung der Kosten
für die Eingliederungshilfe leisten. Das kann an dieser
Stelle aber auch kontraproduktiv bzw. mit Bezug auf die
Träger der Eingliederungshilfe ja sogar gefährlich sein,
wenn Länder die entsprechenden Gelder an die Kommu-
nen nicht weiterleiten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist traurig!)


Denn weil einige dafür nicht zuständig sind, gibt es da
auch kein Geld. Ich sage Ihnen: Da muss nachgebessert
werden. Im Gesetz muss die Zweckbindung dieser Gel-
der verankert werden, damit die Kommunen tatsächlich
entlastet werden; sonst wird deren Handlungsfähigkeit
gerade nicht verbessert, und wir hätten es wiederum nur
mit einer Placebogesetzgebung zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Grundsätzlich begrüßen wir es selbstverständlich,
wenn Kommunen tatsächlich um 1 Milliarde Euro pro
Jahr entlastet werden. Die Erhöhung der Erstattung der
Kosten für Unterkunft und Heizung um 500 Millionen
Euro ist zwar nur eine kleine Entlastung, aber ein richti-
ges und wichtiges Schrittchen. Dennoch fordern wir als
Linke die vollständige Entlastung der Kommunen von
diesen Kosten.

Außerdem wird – ich hatte es bereits erwähnt – der
Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer um 500 Millionen
Euro erhöht. Aber auch diese Mittel werden nicht helfen,
die chronische Unterfinanzierung der Kommunen zu be-
seitigen. Diese Erhöhung ist lächerlich; sie ist kein
Grund zum Jubeln. Wir brauchen da einen größeren
Schritt. Diese Maßnahme ist meines Erachtens wiede-
rum nur ein Placebo.

Die jüngst veröffentlichte „Kommunenstudie 2014“
von Ernst & Young hat gezeigt, dass die Schere zwi-
schen armen und reichen Kommunen immer weiter aus-
einandergeht. Die Kassenkredite explodieren, und der
Investitionsstau ist enorm. Würde ich beschreiben wol-
len, welche Kommunen in Nordsachsen, woher ich
komme, einen Investitionsstau haben, wüsste ich gar
nicht, wo ich mit dem Aufzählen anfangen sollte: Das





Susanna Karawanskij


(A) (C)



(D)(B)

fängt beim Breitbandausbau an, geht über die Sanierung
der Schulen, der Infrastruktur bis hin zur Sanierung von
Krankenhäusern usw. usf. Den Menschen dort droht
auch ein tiefer Griff in ihre Taschen, beispielsweise
durch die Erhöhung von Gebühren oder auch durch die
Schaffung von neuen Gebühren.

Hier geht es nicht um das Sahnehäubchen und auch
nicht um den Nachtisch; hier geht es tatsächlich um den
Hauptgang: Es geht um die Daseinsvorsorge, die sicher-
gestellt werden muss. Ich bleibe dabei: Die Kommunen,
aber auch die Länder sind strukturell unterfinanziert. Da-
ran werden leider auch die 500 Millionen Euro, die auf
11 000 Gemeinden, Gemeindeverbände und Kreise in
Deutschland verteilt werden müssen, nichts ändern.

Die Finanzausstattung von Kommunen und Ländern
muss deutlich verbessert werden. Dafür brauchen wir
zum einen eine grundlegende Gemeindefinanzreform,
die unseren Kommunen tatsächlich stabilere Einnahmen
verschafft. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, in
dem die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer gefordert wird. Weiterhin for-
dern wir für die kommunale Familie die Einführung ei-
ner kommunalen Investitionspauschale, und zwar als So-
fortmaßnahme und nicht erst irgendwann einmal. Das
hat meine Fraktion auch in die aktuellen Haushaltsver-
handlungen eingebracht. Zum anderen brauchen wir ei-
nen neuen solidarischen und aufgabengerechten Länder-
finanzausgleich, welcher vor allen Dingen die Länder,
aber auch die Kommunen finanziell stärkt. Es muss für
tatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse in allen
Ländern und Regionen gesorgt werden. Auch hier haben
wir ein Konzept zur Diskussion vorgelegt.

Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit der
Placebogesetzgebung; sie hilft nicht weiter. Wenn Sie
Steuererhöhungen ausschließen, das Scharfstellen der
Schuldenbremse im Jahr 2020 durchsetzen wollen und
immer nur auf die „schwarze Null“ schielen, dann be-
deutet das klipp und klar, dass Sie den Ländern und
Kommunen eine Rosskur aufbürden. Am Ende müssen
das die Menschen in den Städten und Dörfern ausbaden.
Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Dem werden wir uns ent-
gegenstellen. Das machen wir nicht mit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schade!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805503100

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1805503200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Es war jetzt nicht wirklich eine Überraschung, dass Sie,
die Linke, dabei nicht mitmachen. Es ist allerdings jetzt
die Frage zu stellen: Was machen Sie eigentlich über-
haupt mit?
Ich denke, es ist wichtig, noch einmal zu sagen: Wir
reden hier weder über Sahnehäubchen noch über Place-
bos; wir reden hier über richtig viel Geld. Dies ist ein gu-
ter Tag für die Kommunen. Es ist ein guter Tag für die
Familien, für die Kinder und für die frühkindliche Bil-
dung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir, die Große Koalition, brauchen von Ihnen keine
Nachhilfe, wenn es darum geht, zu betonen, welch wich-
tige Rolle die Kommunen in unserem Land spielen.
Wenn Sie sich vielleicht einmal mit etwas mehr als ei-
nem Halbsatz in unserem Koalitionsvertrag beschäftigen
würden – ich empfehle Ihnen, Seite 97 zu lesen; ich will
das nicht vortragen, um meine Redezeit zu schonen –,
würden Sie wie jeder, der den Koalitionsvertrag gelesen
hat, sehen, dass wir in der Tat gemeinsam die kommu-
nale Entlastung in den Mittelpunkt stellen. Das ist kein
Selbstzweck. Es geht jetzt auch nicht darum, eine neue
Balance zwischen Bund, Ländern und Kommunen her-
zustellen. Mein Kollege Eckhardt Rehberg hat zu Recht
darauf hingewiesen. Manchmal bildet ja auch Lesen.
Und die Zahlen zu den Steuereinnahmen von Bund, Län-
dern und Kommunen, die Herr Rehberg hier vorgetragen
hat, sind natürlich richtig.

Wir haben das nun in der Großen Koalition gemein-
sam beschlossen, weil wir wissen, dass die wichtigste
Ressource in unserem Land, in die wir investieren müs-
sen, die Köpfe unserer Kinder, der jungen Menschen
sind. Indem wir das ermöglichen, leisten wir einen wich-
tigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Bil-
dung findet nämlich nach unserem Verständnis eben
nicht nur an Universitäten und in Schulen statt, sondern
Bildung fängt schon in der Krippe und der Kita an.


(Beifall der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD])


– Ja, da können Sie alle gleich gerne klatschen.

Darum, weil wir eben die Kommunen in die Lage ver-
setzen wollen, deutlich mehr Geld in die Hand zu neh-
men, setzen wir bei der kommunalen Entlastung ein sol-
ches Schwergewicht. Es geht nicht nur um zusätzliche
Krippen- und Kitaplätze; diese sind natürlich auch wich-
tig; wir stimmen überein, dass das erst einmal der wich-
tigste Schritt ist, gerade auch aus der Sicht der Eltern.
Aber selbstverständlich steht es den Ländern frei, mit
der finanziellen Besserstellung, die wir nicht nur verab-
redet, sondern teilweise auch schon umgesetzt haben,
auf ihrer Ebene an den Qualitätsstandards zu schrauben.
Da haben sie meine volle Unterstützung; aber das fällt in
die Verantwortung der Länder. Ich hoffe auch, dass sie
da noch mehr tun.


(Beifall bei der SPD)


Wir können also die heutige Debatte unter die Über-
schrift stellen: Versprochen – Gehalten.

Manuela Schwesig, unsere Familienministerin, hat
hier schon zu Recht sehr umfangreich und richtig ausge-
führt, warum zusätzliche Plätze im Bereich Krippe und
Kita dringend nötig sind und wir diesem Bereich ein so
großes Gewicht beimessen. Aber ich denke, es ist auch





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)

wichtig, einmal darauf zu verweisen, was dieses Parla-
ment in den letzten zehn Jahren gemacht hat.

Das Ganze begann 2004 unter der rot-grünen Regie-
rung. Da haben wir mit einer Entlastung der Kommunen
um 2,5 Milliarden Euro den ersten Schritt getan. Damals
hatten wir in Deutschland übrigens noch einen Krippen-
bestand von 60 000 Plätzen. Die meisten davon waren
übrigens in den ostdeutschen Ländern. Im Westen war
die Quote so niedrig, dass man sie nicht einmal mit der
Lupe finden konnte. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ist zehn Jahre her.

Inzwischen sind es knapp 800 000 Plätze. Jetzt werden
30 000 weitere hinzukommen. Ich muss einmal sagen: Das
ist ein Kraftakt gewesen. Denn vergessen wir doch eines
nicht: Wir haben in den letzten Jahrzehnten in Deutsch-
land, verglichen mit dem europäischen Ausland – zum
Beispiel mit den skandinavischen Ländern, aber auch
mit Frankreich –, einfach eine völlig andere Weichen-
stellung gehabt – leider. Aber besser, man lernt spät als
nie. Wir Abgeordnete, und zwar über Fraktionsgrenzen
hinweg, haben nicht nur gelernt, sondern wir haben das
Gelernte auch konsequent umgesetzt. Denn diesem ersten
Gesetz von 2004 mit der ersten Aufstockung auf round
about, wenn ich mich recht erinnere, 300 000 Plätze
folgte in der letzten Großen Koalition das nächste Ge-
setz. Dazu haben wir 4 Milliarden Euro in die Hand ge-
nommen. 2,15 Milliarden Euro haben wir wiederum in
Gebäude investiert, um mehr Plätze zur Verfügung stel-
len zu können. 1,85 Milliarden Euro haben wir schon da-
mals verlässlich über Umsatzsteuerpunkte an die Länder
umverteilt, damit diese es an die Kommunen weiterlei-
ten können. Das war als wichtiger Beitrag zu den Be-
triebskosten geplant. Denn jeder von uns weiß, dass eine
Krippe einen ambitionierteren Betreuungsschlüssel
braucht als eine Kita; die Kleinsten brauchen einfach
mehr Betreuung. Auf diese Weise haben wir als Bund
sehr wohl unseren Beitrag geleistet.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Weg ist auch in 2013 und 2014 kontinuierlich
weiterverfolgt worden, in der letzten Legislaturperiode
auch gemeinsam mit dem Bundesrat. Ich gebe zu: Wir
Sozialdemokraten haben uns im Bundesrat diesbezüg-
lich sehr engagiert und haben die Umsetzung auch er-
reicht. Damals wurden die nächsten 30 000 Plätze be-
schlossen, und zwar wieder mit einer umfangreichen
Ausstattung des investiven Bereichs; 560 Millionen Euro
waren es, glaube ich.

Zusätzlich hat der Bund an die Länder aber immer auch
einen verlässlichen Beitrag zu den Betriebskosten geleis-
tet. Das heißt, Schritt für Schritt haben wir uns in zehn
Jahren von 60 000 Krippenplätzen auf fast 800 000 hoch-
gearbeitet. Jetzt machen wir den nächsten Schritt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Und egal was Sie sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken und den Grünen: Das ist ein Beitrag, auf
den wir stolz sein können. Es geht hier vor allen Dingen
um Kontinuität.

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird doch jetzt abgewickelt!)


Wir wollen heute sowohl den Kommunen als auch den
Familien mit Kindern das Signal geben, dass sie sich auf
diese Regierung verlassen können


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


und wir den Weg weiter so fortsetzen werden, wie wir
ihn begonnen haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn ich gleich,
wie meine Kollegen Eckhardt Rehberg und Sven
Kindler, der Debatte nicht weiter folgen kann, dann ist
das kein Ausdruck von Unhöflichkeit, sondern wir drei
sind bei Herrn Dobrindt zum Berichterstattergespräch
Verkehr.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht unbedingt Spaß!)


Insofern müssen Sie gleich auf uns verzichten.

Am Ende der Debatte sei mir aber noch gestattet, an
etwas zu erinnern. Es ist schon auf andere wichtige Bei-
träge hingewiesen worden, wie wir die Kommunen ent-
lasten. Die Grundsicherung ist hier zu Recht genannt
worden: 2014 gibt es gegenüber 2013 eine zusätzliche
Entlastung von 1,6 Milliarden Euro. Der Bundesbeitrag
zur Grundsicherung lag im letzten Jahr noch bei 75 Pro-
zent und liegt jetzt bei 100 Prozent. Ich will also, weil
das früher mein Haushalt war, daran erinnern, dass der
Bund 2011 – das ist nicht wirklich lange her – noch
16 Prozent Anteil an der Grundsicherung getragen hat.
Das waren damals übrigens round about 500 Millio-
nen Euro. Wir sind jetzt bei ungefähr 5,5 Milliarden
Euro. Das sollte man sich einmal auf der Zunge zerge-
hen lassen: Die kommunale Entlastung beträgt pro Jahr
durch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung
5 Milliarden Euro, aufwachsend übrigens, weil die Kos-
ten steigen. Das ist wirklich ein bemerkenswerter Bei-
trag. Der Wunsch dieses ganzen Hauses war natürlich
immer, dass dieses Geld, das bei den Kommunen und
den Ländern zusätzlich verbleibt, auch tatsächlich für
mehr Bildung für die junge Generation in die Hand ge-
nommen wird.

Wir werden auch mit Herrn Dobrindt unseren Beitrag
dazu leisten, durch Investitionen in die soziale Stadt, in
den Städtebau


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist jetzt zum Glück nicht mehr bei Herrn Dobrindt!)


und in die Infrastruktur die Kommunen zu entlasten.
Hier können Sie sich auf uns verlassen.

In diesem Sinne noch weiterhin eine gute Debatte und
vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805503300

Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-

ordneten Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der Gesetzentwurf, der vor uns liegt,
erwähnt im Titel auch den qualitativen Ausbau. Was er-
warten wir also von dem Gesetzentwurf, wenn wir von
Qualität in der Kita sprechen? Und was erwarten vor al-
lem die Eltern und die Kinder?

Eine Mutter wird vielleicht zuerst erwarten, dass Er-
zieherinnen und Erzieher mehr Zeit für ihr Kind haben.
Warum das wichtig ist, brauche ich hier wohl nicht zu
erwähnen. Ein Qualitätsfaktor, auf den wir uns einigen
können, ist die Zeit mit dem Kind. Herr Rehberg – ich
glaube, er ist schon auf dem Weg zu Herrn Dobrindt –
hat vorhin gesagt, wir sollten uns einmal die Realität an-
schauen. Gerne, schauen wir uns doch einmal den Alltag
in einer Kita an. Da ist die Realität so, dass sich Erziehe-
rinnen und Erzieher gleichzeitig um eine laufende Nase,
um ein gestoßenes Knie kümmern, sich ein gemaltes
Bild anschauen, Windeln wechseln. Daneben sitzt viel-
leicht noch ein stilles Kind, das aber auch Aufmerksam-
keit braucht. Wie kann ein Erzieher oder eine Erzieherin,
der bzw. die eine Gruppe von sechs oder sieben Kinder
betreut, dann auf die Bedürfnisse aller eingehen?

Es ist unsere Aufgabe, dass Kinder, egal wo sie leben,
egal in welcher Kommune, egal ob die Kommune reich
oder arm ist, eine gute Förderung und Betreuung erfah-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen brauchen wir einen bundesweiten Qualitäts-
anspruch, der festlegt, wie viele Erzieherinnen und Er-
zieher eine Gruppe betreuen. Diesen Anspruch wollen
wir im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern. Nur so
kann das Geld auch wirklich in den Einrichtungen zur
Verbesserung der Qualität ankommen.

Frau Schwesig, Sie haben vorhin gesagt, wir würden
mit unserer Forderung nach Qualität implizit sagen: Die
Erzieherinnen und Erzieher leisten keine gute Arbeit.
Das ist keine feine Art. Keiner von uns, weder Frau
Golze noch ich noch irgendjemand, der hier sagt, wir
brauchen Qualität in unseren Einrichtungen, leugnet,
welch unglaublich tolle Arbeit die Erzieherinnen und Er-
zieher vor Ort leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist unglaublich, was sie vollbringen. Aber wir sagen
eben auch, dass sie am Rande des Machbaren, des Mög-
lichen sind. Sie brauchen Unterstützung. Hier müssten
sie auf den Bund zählen können. Sie können es leider
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Davon ist im Gesetzentwurf leider nichts zu finden.
Man könnte denken: Vielleicht wird ja die Kita bei
mir um die Ecke umgerüstet. Endlich wird sie barriere-
frei und ein Ganztagsbetrieb. – Das wäre durchaus ein
Qualitätsmerkmal. Aber wieder Fehlanzeige! Barriere-
freiheit und Ganztagsbetrieb gibt es bei Ihnen nur bei
neuen Kitas und Kitaplätzen; dort wird das bereits stan-
dardmäßig gemacht. Es wird heute in Deutschland keine
Kita mehr gebaut, für die kein Ganztagsbetrieb und
keine Barrierefreiheit vorgesehen sind. Das ist Etiketten-
schwindel, was Sie uns da vorgelegt haben. Mit Qualität
hat das nichts zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn es schon nicht mehr Erzieherinnen und Erzie-
her oder eine Umrüstung auf Ganztagsbetreuung und
Barrierefreiheit gibt, dann könnte man denken, Sie ver-
knüpften den Ausbau wenigstens mit einem Qualitäts-
management. Das wäre schließlich das Minimum.

Frau Schwesig, Sie haben uns neulich im Familien-
ausschuss den Auftrag gegeben, unsere Ministerin Irene
Alt einmal zu fragen, was sie für die Kitaqualität tut. Das
habe ich natürlich gerne getan. Ich gebe Ihnen auch
gerne das Konzept aus Rheinland-Pfalz mit auf den Weg.
Es sieht ein sehr modernes Qualitätsmanagement vor. Es
ist ein Konzept mit Leitlinien und definiert, was Bildung
eigentlich bedeutet: zum Beispiel Partizipation von Kin-
dern oder in die Kita integrierte Elternarbeit. Diese Leit-
linien werden in die Schulungen aufgenommen, sind
dann Schwerpunkte in den Kitas und werden gemeinsam
evaluiert.

Auch hier wieder das Gleiche: In Ihrem Gesetz sieht
man keinen Zusammenhang zwischen Geld und Quali-
tätsmanagement. Das wäre eine Möglichkeit gewesen.
Aber auch hier wieder Fehlanzeige!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum gibt es das alles nicht? Weil Qualität eben
Geld kostet, Frau Ministerin. Es gab schon in der letzten
Sitzungswoche eine Debatte dazu. Ich bin sehr froh, dass
Sie nicht mehr von 1 Milliarde Euro gesprochen haben,
sondern selber endlich einsehen, dass es eben 550 Mil-
lionen Euro im Sondervermögen und 100 Millionen
Euro, die noch dazu kommen, sind. Das reicht aber nicht
für vier Jahre.

Frau Hagedorn, Sie haben eben gesagt, es gebe hier
Kontinuität. Aber die gibt es nicht. Es gab in den letzten
Jahren wesentlich mehr Geld für den Kitaausbau als
jetzt. Sie würgen das ab. Es gab 1 Milliarde Euro pro
Jahr. Jetzt sind es 650 Millionen Euro für vier Jahre. Wo
ist denn da die Kontinuität? Wo gehen denn da der Aus-
bau weiter und die Qualität nach oben? Das ist ein Ab-
würgen und keine Kontinuität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist insbesondere bitter, dass mit der SPD dafür an-
scheinend weniger rausgeholt wurde als mit der FDP.

Qualität darf keine Kür sein. Es ist Pflicht. Es ist eine
Verpflichtung gegenüber unseren Kindern. Wir sind uns
sicher: Deutschland kann mehr. Die Realität erfordert es.





Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

Legen Sie die Kontinuität an den Tag, die Sie sonst gern
immer einfordern. Unsere Kinder verdienen es.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805503400

Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten

Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Graf Philipp Lerchenfeld (CSU):
Rede ID: ID1805503500

Herr Präsident! Hohes Haus! Ich habe in der letzten

halben Stunde irgendwie das Gefühl gehabt, ich bin im
falschen Parlament.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist möglich! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo wären Sie denn gern?)


Wenn ich mir Diskussionen über Qualitätssicherung an-
höre, dann erinnere ich mich daran, dass das eigentlich
Aufgabe der Landtage ist. Bei uns ist es Aufgabe des
Bayerischen Landtags.

Liebe Frau Golze, liebe Frau Brantner, Qualität in der
Bildung ist Ländersache.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch!)


Da sollten wir uns im Bund möglichst zurückhalten
und uns nicht irgendwelche Dinge anmaßen, die origi-
näre Aufgabe der Länder sind.


(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst mal der Kommunen, oder? – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem Bundestag sind die Kinder egal! Sehr schön!)


– Auch der Kommunen, selbstverständlich. – Wir sollten
die Aufgaben nicht vermischen und uns da heraushalten.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also wollt ihr die Mittel jetzt auf Null setzen?)


Uns gehen nur Dinge auf Bundesebene und nicht Län-
der- oder Kommunalangelegenheiten etwas an.

Dass wir mit diesem Gesetz den Kommunen und den
Ländern unter die Arme greifen, ist hervorragend. Ich
finde es sehr gut, dass wir auch jetzt hier für eine Entlas-
tung der Kommunen sorgen, wie das auch in der vergan-
genen Legislaturperiode schon intensiv gemacht wurde.
Die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherung
im Alter und bei der Erwerbsminderung beläuft sich auf
25 Milliarden Euro. Sie wird, dadurch dass sie auf
100 Prozent angehoben wird, zu einer zusätzlichen Ent-
lastung von 1,6 Milliarden Euro führen.

Die finanzielle Entlastung der Kommunen ist auch
weiterhin eine wichtige Aufgabe des Bundes. Das sieht
man an den Plänen, die wir im Koalitionsvertrag festge-
schrieben haben. Wir wollen die Kommunen dieses Mal
um 1 Milliarde Euro und in Zukunft um 5 Milliarden
Euro entlasten.

Ich denke – das haben einige Redner vor mir auch
schon gesagt –, es ist ganz besonders wichtig, dass wir
auf eine hohe Trennschärfe achten, damit die Gelder
wirklich dort ankommen, wo wir sie politisch haben
wollen. Es kann nicht sein, dass die Finanzminister bei
den Geldern, die wir letztendlich den Kommunen zu-
kommen lassen wollen, „klebrige Finger“ haben; ich
finde den Ausdruck von der Kollegin der SPD wunder-
bar. Es geht hier um die Entlastung der Kommunen, auch
aus dem Grund, dass dort Investitionen stattfinden, die
gerade diejenigen voranbringen – Mittelstand, Handwer-
ker –, die es wirklich nötig haben und eine stabile Basis
unserer Wirtschaft sind. Es geht darum, die Handlungs-
fähigkeit der Kommunen zu stärken und einen Beitrag
zur Entlastung der Kommunen zu leisten. Es geht nicht
darum, Länderhaushalte zu entlasten. Ich freue mich
deshalb, dass der Verteilungsschlüssel dazu führt, dass
sowohl die starken wie auch die schwachen Kommunen
entsprechend Berücksichtigung finden.

Ich glaube aber, wir müssen uns im Rahmen der ge-
samten Diskussion auch darüber Gedanken machen, wie
unsere Aufgaben und unsere Verantwortlichkeiten wie-
der klarer zugeordnet werden können. Es ist wichtig,
dass wir wissen, welche Ebene eigentlich für welche
Dinge verantwortlich ist und welche Ebene wir politisch
verantwortlich machen können. Die Finanzierung der
Aufgaben, die die einzelnen Ebenen haben, muss dabei
natürlich gesichert sein. Ich denke, dass es dementspre-
chend unsere Aufgabe ist, dies in den kommenden Mo-
naten bei den Verhandlungen über die Bund-Länder-
Finanzbeziehungen neu zu regeln.

Wir unterstützen die Kommunen sehr; aber auf Dauer
ist es wichtig, dass die Aufgaben und auch deren Finan-
zierung wieder den rechtlichen Gegebenheiten angepasst
werden. Es darf, wie ich vorhin schon gesagt habe, nicht
sein, dass der Bund dauernd originäre Aufgaben der
Länder oder der Kommunen finanziert und damit eine
weitere Vermischung von Finanzierung und Verantwort-
lichkeit geschaffen wird – insbesondere auch deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, weil dem Bund letzt-
lich eine Kontrolle der Mittel verwehrt ist: Wir können
nicht kontrollieren, ob die Mittel wirklich den Kommu-
nen zugutekommen oder ob sie irgendwo zwischendrin
hängenbleiben. Das ist uns leider durch Gerichtsurteile
und durch unsere Verfassung untersagt.

Es ist deshalb in meinen Augen von besonderer Be-
deutung, dass bei der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-
nanzbeziehungen die im Grundgesetz verankerte Zustän-
digkeit der Länder für ihre Kommunen gewährleistet
bleibt. Jede Ebene muss in eigener Verantwortung ihre
Aufgaben umfassend und verlässlich erledigen können,
und dafür braucht es eine sachgerechte Finanzierung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernhard Daldrup [SPD])


Wie gesagt: Wir brauchen klare Verantwortlichkeiten.
Die Vermischung von Aufgaben und Finanzierung führt
ganz deutlich zu einer Unklarheit bei der Verantwortung.





Philipp Graf Lerchenfeld


(A) (C)



(D)(B)

Wir brauchen eine klare Aufgabentrennung zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden. Wie ich vorhin gesagt
habe, braucht jede Ebene ausreichende Finanzmittel, um
ihre originären Aufgaben zu verwirklichen. Wenn man
das in der Konsequenz beherzigt, dann ist es sicherlich
auch ein Gedanke, von den Ländern zu erhebende Zu-
schläge auf die Steuern einzuführen, damit diejenigen,
die in der politischen Verantwortung stehen und ihre
Haushalte nicht in Ordnung bringen, ihren Bürgern ent-
sprechend deutlich machen müssen: „Wir brauchen
mehr Geld von euch“, bzw.: „Andere Länder können
sich das vielleicht erlauben“.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber ihr wollt doch keine Steuererhöhungen!)


Gerade unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung der
Schulden durch die Schuldenbremse, die wir ab 2020
einführen, ist es ein Riesenproblem, dass die Länder
keine eigenen Möglichkeiten haben, ihre Steuereinnah-
men zu erhöhen. Deswegen ist dies durchaus ein Ge-
danke, mit dem wir uns anfreunden können, wenn wir
darüber nachdenken, wie wir die Einnahmen der Länder
steigern können, ohne dass wir den Bund damit weiter
belasten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1805503600

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-

ordneten Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1805503700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Lerchenfeld, auch wenn Sie versuchen, sich an die-
ser Stelle sozusagen in besonderer Weise als Steuertrei-
ber und Steuererhöher zu profilieren, muss ich Ihnen sa-
gen: Das wird nicht funktionieren. Wir wollen diese
Varianten mit regionalen Steuersätzen nicht, weil sie in
Wirklichkeit zu Steuerdumping führen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Packen Sie den Vorschlag einfach wieder ein, und ver-
gessen Sie ihn erst einmal. Wir können aber auch gerne
später noch einmal darüber reden. Jetzt möchte ich ganz
gerne zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung neh-
men.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Konzert von
Haushaltssolidität, Entlastung der Kommunen und Stär-
kung ihrer Investitionskraft ist der vorliegende Gesetz-
entwurf ein wichtiger Baustein zur Umsetzung des Ko-
alitionsvertrages. In Richtung der Kollegen von den
Grünen und der Linken sage ich: Es ist nicht der erste, es
ist nicht der einzige, und es wird auch nicht der letzte
sein.


(Beifall bei der SPD)


Frau Karawanskij, Herr Kindler, natürlich gibt es ge-
gen diesen Gesetzentwurf – wie das bei Gesetzentwürfen
meistens der Fall ist – einen zentralen Einwand, der in
einem Satz zusammengefasst lautet: Mehr Geld wäre
besser.


(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Dann haben Sie nicht richtig zugehört, Herr Daldrup!)


Naja, der Erkenntniswert dieses Satzes ist ebenso groß
wie der der Feststellung, dass es morgens hell wird. Das
stimmt irgendwie immer, hilft uns aber nicht weiter.

Herr Minister Schäuble und Frau Ministerin Schwesig
haben den Umfang der finanziellen Entlastungen in den
vergangenen Jahren und den des jetzt vorgesehenen Ge-
samtpakets hinreichend dargestellt. Der Maßstab unseres
politischen Handelns orientiert sich an dieser Stelle an
Johannes Rau, der gesagt hat: „Sagen, was man tut, und
tun, was man sagt“. Mit der Bereitstellung von 1 Mil-
liarde Euro jährlich in den Jahren 2015 bis 2017 für die
Kommunen bis zur späteren jährlichen Entlastung in
Höhe von 5 Milliarden Euro im Kontext eines neuen
Bundesteilhabegesetzes tut die Koalition das, was sie im
Koalitionsvertrag vereinbart hat. Das ist, glaube ich, in
Ordnung. Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden,
bis das alles umgesetzt wird, aber das ist unser Maßstab.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heinz Wiese [Ehingen] [CDU/CSU])


Glaubwürdigkeit ist in diesem Fall die Kategorie der
politischen Kultur, die wir hiermit nachweisen und für
uns in Anspruch nehmen. Ich sage das vor dem Hinter-
grund, dass manche behaupten, wir würden den Koali-
tionsvertrag brechen oder wir würden – was haben Sie
gesagt? – Placebos verteilen. Frau Karawanskij, lassen
Sie mich es mit den Worten Herbert Wehners sagen: „Es
gibt keine faktenersetzende Kraft der Phraseologie“.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Jens Zimmermann [SPD])


Das sind keine Placebos. 3 Milliarden Euro sind eine
ganze Menge Geld.

Selbstverständlich weiß ich, dass durch die zur Verfü-
gung gestellten Mittel, weder die für die Kommunen
vorgesehenen noch die für das Sondervermögen „Kin-
derbetreuungsaufbau“, allein nicht alle Probleme der
Kommunen gelöst werden können. Aber die Mittel stel-
len einen weiteren konkreten Schritt dar hin zur Entlas-
tung der Kommunen und zur Schaffung zusätzlicher Ki-
taplätze.

Wir werden die Mittel zur Unterstützung der Kommu-
nen bis zum Ende der Legislaturperiode weiter deutlich
erhöhen. Aber wir brauchen Zeit, um das Bundesteilha-
begesetz gesetzgeberisch entsprechend zu gestalten und
um Klarheit über die künftige Gestaltung der Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen zu bekommen. Die Entlastung
der Kommunen bleibt aber eine prioritäre Aufgabe die-
ser Koalition.


(Beifall bei der SPD)


Zu den Bausteinen – das betrifft das Jahr 2014 – ge-
hört übrigens auch die Übernahme der Grundsicherung
im Alter. Mit der letzten Rate – das ist eben schon ein





Bernhard Daldrup


(A) (C)



(D)(B)

paar Mal erwähnt worden – in Höhe von etwa 1,6 Mil-
liarden Euro in 2014 – das ist übrigens mehr, als Sie für
das Jahr 2014 reklamierten – übernimmt der Bund allein
eine Entlastung, die in diesem Bereich bis zum Ende der
Legislaturperiode in der Summe rund 25 Milliarden
Euro ausmacht. Das ist alles andere als eine Kleinigkeit.
Ich will daran erinnern, dass das das Ergebnis des Ver-
mittlungsausschusses im Zuge des Bildungs- und Teilha-
bepaketes war, für das sich die SPD im Bund und in den
Ländern massiv eingesetzt hat.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, für wen ist die fi-
nanzielle Entlastung, die dieses Gesetz leisten soll, ei-
gentlich gedacht? Herr Lerchenfeld, Sie haben darauf
hingewiesen – ich bin völlig Ihrer Meinung –: Sie ist für
die Städte und Gemeinden, nicht für Landesregierungen.
Es ist keine Unterstützung, die Kürzungen an anderer
Stelle erlauben soll, nicht im Saarland, nicht in Sachsen-
Anhalt oder bei Umlageverbänden. Es kommt ja schon
einmal vor – Herr Brinkhaus weiß das genauso gut wie
ich; ich weise darauf hin, weil wir beide aus Nordrhein-
Westfalen kommen –, dass Leistungen des Bundes für
die Kommunen zum Anlass genommen werden, um am
kommunalen Finanzausgleich zu drehen, etwa indem
Landesregierungen den Kommunen die Beteiligung an
der Grunderwerbsteuer komplett streichen, dass sie zur
Konsolidierung des Landeshaushaltes zusätzlich heran-
gezogen oder bei der Abrechnung der Einheitslasten
übervorteilt werden.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ja, ja!)


Wir kennen das aus Nordrhein-Westfalen, Herr
Brinkhaus. Das haben wir alles gemeinsam erlebt zu der
Zeit, als Jürgen Rüttgers Ministerpräsident war.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!)


Aber mit dieser kommunalfeindlichen Politik in Nord-
rhein-Westfalen haben wir nach der Wahl von Hannelore
Kraft Schluss gemacht.


(Beifall bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Da warten die noch immer drauf!)


Heute beklagen sich Spitzenverbände und verschie-
dene andere Organisationen eher darüber, dass die Sa-
nierung der Landesfinanzen auf dem Rücken der Kom-
munen erfolgt, beispielsweise in Hessen. Dort gibt es
einige, die da eine Aufgabe hätten.


(Beifall bei der SPD)


Wir erwarten von allen Ländern, dass die Mittel den
Kommunen ungeschmälert zugutekommen, und zwar je-
weils zur Hälfte durch eine Erhöhung der Bundesbeteili-
gung an den Kosten der Unterkunft und zur anderen
Hälfte durch eine verbesserte Umsatzsteuerbeteiligung.
Dieser Maßstab sichert unseres Erachtens die gerechte
Verteilung der jährlich zur Verfügung stehenden Mil-
liarde. Das hilft den Kommunen mit einer höheren Ar-
beitslosenquote mehr als eine reine Erhöhung der Um-
satzsteuerbeteiligung.

Die meisten wissen, dass der bundesweite finanzielle
Überschuss aller Kommunen trügerisch ist – dieser As-
pekt wurde eben von den Grünen, aber auch vom Fi-
nanzminister angesprochen –, weil er der immer noch zu
geringen Investitionstätigkeit der Kommunen geschuldet
ist und weil er die sich öffnende Schere zwischen armen
und reichen bzw. wohlhabenden Kommunen sowie stei-
gende Kassenkredite und Sozialausgaben verschleiert.
Ich erspare Ihnen an dieser Stelle die Auflistung der im
negativen Sinn beeindruckenden Zahlen. Dieser Ent-
wicklung wollen und werden wir auch mit diesem Ge-
setz entgegenwirken. Mit diesem Gesetz wird ein Teil
der Entlastung der Länder und Kommunen durch das
6-Milliarden-Euro-Paket realisiert, das die Länder vom
Bund erhalten, um Kinderkrippen, Kitas, Schulen und
Hochschulen zu finanzieren.

Neben der Aufstockung des Sondervermögens er-
möglichen es die in den Jahren 2017 und 2018 jährlich
zusätzlich zur Verfügung stehenden 100 Millionen Euro
– sie ergeben sich aus einer höheren Umsatzsteuerbetei-
ligung – den Ländern, ihre Kommunen von den Betriebs-
kosten zu entlasten und damit bessere Bedingungen für
mehr Erzieherinnen und Erzieher zu schaffen. Ich
glaube, Herr Rehberg, es ist falsch, Qualitätsverbesse-
rung und Beitragsfreiheit in diesem Kontext gegeneinan-
der auszuspielen. Die Ministerin hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass es sich um Zukunftsinvestitionen han-
delt. Das ist, wie ich glaube, gut und richtig.


(Beifall bei der SPD)


Mit dem Gesetzentwurf ist die Schaffung zusätzlicher
Kitaplätze übrigens keineswegs abgeschlossen.

Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbe-
treuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werden
sie entsprechend dem erkennbaren Bedarf aufge-
stockt.

So heißt es auf Seite 63 des Koalitionsvertrages. Das ist
für uns der Beurteilungsmaßstab.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805503800

Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an die Redezeit.


Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1805503900

Ich komme zum Schluss.

Ich glaube, dass dieses ganze Projekt, dass dieser Ge-
setzentwurf ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung kom-
munaler Demokratie ist. Das ist wichtig; denn wir müs-
sen Wahlenthaltung und Wählerprotest gewissermaßen
als Seismografen verstehen, die die Handlungsnotwen-
digkeit in einem Sektor wie diesem begründen.

Ich hätte gerne noch ein bisschen mehr Redezeit, aber
das geht nicht; das weiß ich wohl.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805504000

Sie haben schon eine Minute zusätzlich.






(A) (C)



(D)(B)


Bernhard Daldrup (SPD):
Rede ID: ID1805504100

Ich muss deswegen an dieser Stelle schließen. Ich

darf aber noch sagen, dass wir diesem Gesetzentwurf im
weiteren Verfahren unsere Unterstützung geben werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805504200

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Marcus

Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1805504300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Hinsichtlich der

richtigen und guten Politik für Familien beginnt nun die
zweite Halbzeit. Herr Daldrup hat von der Erkenntnis
gesprochen, dass es jeden Morgen hell wird. Ich glaube,
man kann sagen: Für Familien wird es heute besonders
hell, weil wir heute über zwei große Gesetzentwürfe be-
raten. Es geht um Partnerschaftlichkeit und mehr Zeit für
Familien – Elterngeld –; aber auch die Frage der Verein-
barkeit von Familie und Beruf ist wichtig, wofür der
Ausbau der Infrastruktur entscheidend ist.

Heute Morgen wurden drei prägende Zahlen genannt:
zweimal 5,4 und einmal die große Null. Für eine gute,
langfristige und nachhaltige Familienpolitik ist zentral
– das hat Eckardt Rehberg schon gesagt –, dass Schluss
gemacht wird mit neuen Schulden. Bei den Dingen, die
wir jetzt auf den Weg bringen, und bei den großen Sum-
men, die wir ausgeben, ist dies der Überbau. Dieses Ziel
leitet uns und trägt uns maßgeblich.

Wir haben in der vorangegangenen Debatte über
5,4 Milliarden Euro für das Elterngeld gesprochen.
Diese Summe steigt. Diese Ausgabe ist richtig, aber das
ist auch sehr viel Geld. Wir diskutieren jetzt über den
Krippenausbau. Hier geht es um Investitionen in Höhe
von 5,4 Milliarden Euro in den letzten Jahren.

In einer solchen Debatte muss man auch nach der
Verantwortung in einem föderativen System fragen und
überlegen, welche Teile dieses Systems für welche Be-
reiche Verantwortung haben. Richtig ist, dass der Bund
den Ausbau der Kindertagesbetreuung als nationale Auf-
gabe angesehen hat und gesagt hat: Wir erachten den
Ausbau der Kindertagesbetreuung nicht nur hinsichtlich
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf als zentral, son-
dern auch im Zusammenhang mit Integration, also im
Zusammenhang mit der Vermittlung von Sprachkennt-
nissen, Bildung und weiteren Dingen. Es war eine rich-
tige Entscheidung, sich auf dem sogenannten Krippen-
gipfel für den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab
dem 1. August 2013 auszusprechen. Es war eine immens
wichtige Botschaft, das fest zu verankern. Das war rich-
tig und wichtig.

Aber die Erwartungshaltung im föderativen System
ist, dass diejenigen, die davon profitieren, auch die Frage
zu beantworten haben, was sie leisten. Ich bin ein wenig
irritiert, wenn ich manche Wahlkämpfe in bestimmten
Bundesländern beobachte; die Landesvertreter sind heute
Morgen nur in begrenzter Zahl anwesend. Wir tun aus
purer Überzeugung viel für die Länder und Kommunen.
Es ist ein Problem, wenn man dann sieht, dass in einigen
Ländern bei Wahlkämpfen viele Dinge versprochen wer-
den, die andere – in dem Fall der Bund – mit zu tragen
haben, zum Beispiel die Abschaffung der Studiengebüh-
ren oder die Abschaffung der Elternbeiträge. In Nieder-
sachsen wurde im Wahlkampf die dritte Betreuungskraft
im Krippenbereich versprochen. Das kann man verspre-
chen, wenn man es finanzieren kann. Aber bei der Frage
nach dem Verwendungszweck der Bundesmittel kann es
dann Probleme geben. Werden die Mittel, die wir zur
Verfügung stellen, zum Beispiel für das BAföG oder die
anteilige Übernahme der Betriebskosten, richtig bereit-
gestellt?

Auch die Frage der Qualität spielt dann eine Rolle,
nicht nur in der Verantwortung der Länder, aber insbe-
sondere in der Verantwortung der Länder. Wenn das
Bundesland mit dem schlechtesten Betreuungsschlüssel
– in diesem Fall darf ich den Namen nennen, es handelt
sich um Hamburg; dort gibt es einen Betreuungsschlüs-
sel von 1 zu 4,7, wenn man es genau rechnet, sogar von
1 zu 7 – entscheidet, dass die Elterngebühren abge-
schafft werden, ist das eine politische Entscheidung, die
man tragen kann oder nicht. Wenn man aber gleichzeitig
den schlechtesten Betreuungsschlüssel hat und nichts in
die Qualität investiert, dann, glaube ich, ist das durchaus
ein Problem, das angesprochen werden muss.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nicht nur in Bezug auf Hamburg, sondern auch in
Bezug auf das südlich davon liegende Bundesland Nie-
dersachen muss man fragen, ob die BAföG-Mittel tat-
sächlich bei den Studierenden ankommen. Als Verwen-
dungszweck für diese Mittel wurde angegeben, dass sie
der Entlastung im Bereich BAföG dienen. Doch weder
in Hamburg noch in Niedersachen kommen die Mittel
an. Wenn dann ein Wahlversprechen wie die dritte Be-
treuungskraft in Krippen – sie ist wichtig; das ist gut –
über eine Entlastung in einem anderen Bereich finanziert
werden soll, dann ist das mit dem Verwendungszweck
nicht vereinbar und dann muss man ansprechen, dass das
so nicht in Ordnung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese kleine Bemerkung in Richtung der Länder soll-
ten Sie mir gestatten, weil wir als Bund die Situation
dort beobachten. Wir unterstützen die Länder aus Über-
zeugung. Zum Beispiel im Bildungsbereich geben wir
jährlich über 2 Milliarden Euro für originäre Aufgaben
der Länder aus.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: So ist das!)


Dies ist uns wichtig. Aber hier und da sollte man überle-
gen und schauen, was die Länder mit den zur Verfügung
gestellten Mitteln machen. Das ist richtig und wichtig.

Ich komme zur Frage der Qualität. Die Forderung
nach mehr Qualität ist auch im vorliegenden Antrag for-
muliert worden. Ich glaube, dass wir uns alle einig sind,
dass eine Qualitätssteigerung im Krippenbereich ele-





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)

mentar ist, nicht nur – das hat auch die Ministerin ge-
sagt – bei der Frage des Betreuungsschlüssels, sondern
auch bei der Frage der Angebote: Was können wir noch
leisten? Die Frage ist auch: Muss dies über ein Gesetz
des Bundes geregelt werden? Wissen nicht die Verant-
wortlichen sowohl auf Bundesseite als auch auf Länder-
seite, dass es hier eine hohe Verantwortung gibt? Ich
glaube, wir sollten den Weg gehen, der jetzt angestrebt
wird, nämlich auf der Konferenz im November festzule-
gen, wo wir Standards setzen, wohin wir in diesem Be-
reich wollen und was wir bereit sind zu erfüllen.

Ich weiß und wir wissen: Der Bund kann Gesetze ver-
abschieden, aber er muss deren Umsetzung auch finan-
ziell leisten. Da stellt sich die Frage, inwieweit wir das
auch vor dem Hintergrund unserer originären Aufgaben
weiter leisten können. Das föderative System lebt auch
von der Akzeptanz, dass jeder seine Aufgaben erledigt.

Deswegen war es uns wichtig, in diesem Bereich da-
rauf zu achten, dass wir den veränderten Wünschen der
Eltern gerecht werden wollen. Wir haben gerade bei der
Debatte zum Elterngeld viele Zahlen gehört, durch die
deutlich wurde, was Eltern von der Politik erwarten. Ich
will nur drei Zahlen im Hinblick auf die Frage der Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf und den Krippenaus-
bau nennen: Für 81 Prozent der Befragten ist die Verein-
barkeit von Familie und Beruf weiterhin die zentrale
Frage, die immer mehr durch die Frage der Vereinbarkeit
von Pflege und Familie ergänzt wird. 34 Prozent der
Mütter würden tatsächlich gerne länger arbeiten, wenn
sie eine entsprechende Betreuungsmöglichkeit hätten.
Die Mütter kehren heute nach durchschnittlich 19 Mona-
ten zu ihrem Arbeitgeber zurück. Aber viele Mütter wür-
den gerne früher in Teilzeit zurückkehren. Ich glaube,
vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist der Ausbau der
Kindertagesbetreuung eine zentrale Aufgabe.

Wenn ich das so sagen darf: Herr Kindler – er be-
schäftigt sich jetzt zu Recht mit anderen Dingen –, wir
reden ja nicht nur über die 5,4 Milliarden Euro für den
Ausbau der Angebote im Krippenbereich. Wir stellen
auch Mittel in Höhe von 400 Millionen Euro für das Pro-
gramm „Frühe Chancen“ bereit. Das ist eine sehr wich-
tige und gute Maßnahme für Spracherwerb und Integra-
tion. Ich könnte aus dem Etat des BMBF die Stiftung
„Haus der kleinen Forscher“ nennen. Dort geben wir viel
Geld aus, um die Bildungsimplikationen zu steigern. Ich
nenne das Aktionsprogramm Kindertagespflege, ich nenne
das KfW-Förderprogramm für den Ausbau von Kitas und
die Arbeitsgruppe zur Fachkräftegewinnung für die Kin-
dertagesbetreuung, Weiterbildungsmaßnahmen für päda-
gogische Kräfte und, und, und. Der Bund tut also deut-
lich mehr, als Herr Kindler beschrieben hat. Ich glaube,
darauf könnten wir häufiger hinweisen, weil das gute
und wichtige Dinge sind.

Wir stocken die Mittel für das Sondervermögen „Kin-
derbetreuungsausbau“ jetzt um 550 Millionen Euro auf.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Mittel in drei
Tranchen – 230 Millionen Euro, 220 Millionen Euro und
100 Millionen Euro – einsetzen, sodass auf jeden Fall
gewährleistet ist, dass es dort, wo ausgebaut werden soll,
keine Phase gibt, in der dieser Ausbau möglicherweise
stottert. Es wurde bereits angesprochen, aber ich sage
es noch einmal: Nachdem wir bei sehr wenigen Plätzen
gestartet sind, kommen zu den bisher zugesagten
780 000 Plätzen jetzt noch einmal 30 000 Plätze hinzu.

Zu den Betriebskosten. Ich glaube, das ist ein zentra-
ler Punkt. Der Anteil des Bundes wird in wenigen Jahren
bei 945 Millionen Euro liegen. Das sind also fast 1 Mil-
liarde Euro für eine originäre Aufgabe der Länder. Wir
sind uns, wie gesagt, darin einig, diese Ausgabe vorzu-
nehmen. Allerdings erwarten wir hier natürlich auch,
dass dies zu einer Steigerung der Qualität führen wird.

Die Verstetigung der Mittel für den Bereich „Schwer-
punkt-Kita Sprache & Integration“ in Höhe von
126 Millionen Euro ist auch richtig, weil dadurch deut-
lich wird, dass wir den Ausbau der Kindertagesbetreu-
ung als eine Maßnahme zwischen Sozialpolitik, Integra-
tionspolitik, Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik
bewerten.

Ich will in Bezug auf die Ergebnisse, die wir in den
letzten Jahren erzielt haben, nur ein paar Zahlen nennen:

Der Ausbau der Kinderbetreuung trägt zur Vereinbar-
keit von Familie und Beruf bei. Über 100 000 Mütter mit
Kindern zwischen einem Jahr und drei Jahren wären
ohne diese Betreuungsmöglichkeit nicht erwerbstätig.
Der Ausbau der Kinderbetreuung verringert das Armuts-
risiko aller Familien mit Kindern bis zu zwölf Jahren um
rund 7 Prozentpunkte.

Die Erwartungshaltung junger Mütter und junger Vä-
ter – auch das wissen wir aus den Umfragen – in Bezug
auf die Zielsetzung und die Qualität lautet: Sozialisation,
Integration in eine soziale Gruppe, Kreativität, Sprach-
entwicklung und Bildungsimplikationen. Deshalb wer-
den wir uns auch über die Qualität unterhalten. Wir wer-
den eine Qualitätssteigerung allerdings nicht wieder in
einem Gesetz vorschreiben, sondern wir erwarten nach
Diskussionen mit den Ländern, dass hier freiwillig neue
Wege gegangen werden, um der kommunalen Verant-
wortung gerecht zu werden.

Insgesamt kann man sagen, dass wir mit diesem Maß-
nahmenkatalog und diesem Ausbautempo im Ergebnis
das erreichen, was seit mittlerweile acht Jahren, seit der
ersten Großen Koalition, angestrebt wird: dass die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf in die nächste Epoche
geht. Ich denke, aufgrund der heute vorliegenden Ge-
setzentwürfe – dem Elterngeld Plus auf der einen Seite
und dem Ausbau der Kindertagesbetreuung auf der an-
deren Seite – ist heute ein Happy Friday bzw. ein Family
Friday. Das ist der richtige Weg. Deswegen glaube ich,
dass das heute Morgen eine gute Debatte für alle Fami-
lienpolitiker war.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805504400

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Uli Gottschalck, SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])







(A) (C)



(D)(B)


Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1805504500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Städte und Gemeinden sind die Kraftwerke un-
seres sozialen Miteinanders. Kinderbetreuung, Nahver-
sorgung, gute Mobilität, das soziale Netz: Alles muss
vor Ort organisiert und auch finanziert werden. Deutsch-
land braucht deshalb starke Kommunen, in denen die
Menschen gerne leben und sich wohlfühlen. In den Städ-
ten und Gemeinden merken die Menschen am ehesten,
ob die Daseinsvorsorge funktioniert oder eben nicht.

In letzter Zeit stottern die Kraftwerke, die Städte und
Gemeinden, leider öfters, weil sie erheblich unter den
ständig steigenden Sozialkosten leiden. Sie kämpfen mit
der demografischen Entwicklung, und sie kämpfen seit
Jahren darum, wirklich handlungsfähig zu bleiben. Des-
halb bin ich sehr froh und dankbar, dass sich die Fraktio-
nen der Regierungskoalition im Koalitionsvertrag darauf
verständigt haben, der Entlastung der Kommunen eine
absolute Priorität einzuräumen.


(Beifall bei der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste,
man vergisst das schnell, aber wir setzen das sukzessive,
scheibchenweise um. Ich nenne Ihnen hier einmal ein
paar Beispiele: In diesem Jahr – das haben wir schon ge-
hört – übernimmt der Bund 100 Prozent der Kosten für
die Grundsicherung im Alter. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Gewerbesteuer weiterhin die Haupteinnahme
der Kommunen ist. Wir haben die Mittel für die Städte-
bauförderung auf 700 Millionen Euro ordentlich erhöht


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und hier insbesondere das Programm „Die soziale Stadt“
aufgepeppt. Es gibt wieder Bundesmittel für den alters-
gerechten Umbau von Wohnungen. Wir haben den Min-
destlohn durchgesetzt, durch den viele Kommunen im
Hinblick auf die Sozialausgaben entlastet werden. Wir
werden die Kosten für das BAföG jetzt vollständig und
dauerhaft übernehmen. Und der heutige Gesetzentwurf
sieht vor, dass es noch mehr Geld für die Kinderbetreu-
ung gibt.

Ich denke, ich muss jetzt gar nicht weiter ausholen.
Unsere Ministerin Manuela Schwesig hat ja wirklich toll
dargestellt, wie wir uns das vorstellen, und vor allen
Dingen, wie sie das als Familienministerin managt. Ich
möchte sie an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich lo-
ben. Jeder, der unseren guten Finanzminister kennt,
weiß, wie schwierig es ist, Herrn Schäuble auch nur eine
müde Mark aus dem Kreuz zu leiern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb noch einmal: Glückwunsch zum Elterngeld
Plus! Glückwunsch, dass wir das heute auf den Weg
bringen können!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf werden die Kommunen
nochmals um 1 Milliarde Euro entlastet. Ich denke, das
ist wirklich keine Kleinigkeit. Ich mache es Ihnen ein-
mal am Beispiel meines Landkreises deutlich. Für mei-
nen Landkreis bedeutet das für 2015 eine Entlastung um
immerhin 800 000 Euro, und 2016 kommt ja zeitversetzt
im Rahmen der Neuregelung bei der Umsatzsteuer auch
noch etwas zurück, wenn die Länder – ich oute mich
jetzt, was die Länderminister angeht, als die Haushälte-
rin, die das mit den klebrigen Fingern gesagt hat – or-
dentlich mitmachen.

Weil Herr Kindler und Frau Brantner wieder so getan
haben, als würden wir überhaupt nichts für die Kommu-
nen tun, darf ich an dieser Stelle einmal zwei Beispiele
aus meinem Heimatland Hessen anführen. In Hessen re-
gieren die Grünen seit geraumer Zeit mit. Jedes Jahr
werden im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs
360 Millionen Euro entnommen. Es gibt keine aus-
kömmliche Finanzierung für die Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern.


(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)


Das Land Hessen hat allein bei uns, dem Landkreis Kas-
sel, Schulden in Höhe von 9 Millionen Euro angehäuft,
weil es nicht für eine auskömmliche Finanzierung auf-
kommt.

Insofern klaffen Theorie und Praxis auseinander. Es
geht nicht, dass man hier auf Bundesebene laut Kritik
äußert und sich auf Landesebene, wo man gestalten
könnte, dezent zurückhält. Auf Ihre Kontinuität verzich-
ten wir da lieber.


(Beifall bei der SPD)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Ich denke, heute liegt ein wirklich guter
Gesetzentwurf vor, der die Kommunen erneut entlastet
und der im Hinblick auf unsere Kinder erneut für mehr
Chancengerechtigkeit sorgt. Deshalb ein herzliches Dan-
keschön an alle, die daran beteiligt waren! Wir werden
weiter kontinuierlich für die genannten Ziele kämpfen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805504600

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/2586 und 18/2605 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Nicole Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Einführung von
Gruppenverfahren

Drucksache 18/1464
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft





Vizepräsidentin Ulla Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Renate
Künast, Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805504700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen, die Sommerpause ist noch
nicht allzu lange vorbei. Erinnern Sie sich doch zum
Beispiel einmal daran, ob Sie eine Bahn- oder Flugreise
unternommen und dabei enorme Verspätungen erlebt ha-
ben. Sie haben sich dann vielleicht gefragt: Wie ist das
denn mit der Entschädigung? Äußere ich mich? Frage
ich einmal nach? Oder soll ich vielleicht sogar klagen?
Mag sein, dass die Deutsche Bahn diesbezüglich nicht so
schlecht ist wie ihr Ruf, sondern schon selbstverständli-
cher und geduldig Vordrucke verteilt. Ich glaube, dass
das bei manchen Fluggesellschaften viel schwieriger ist,
weil diese sich zieren und versuchen, das Ganze erst ein-
mal zeitlich zu strecken.

Oder stellen Sie sich eine andere Situation vor: Sie
haben den Stromanbieter gewechselt. Der neue Stroman-
bieter hat Ihnen angeboten, Ihnen nach zwölf Monaten
einen Wechselbonus auszuzahlen. Nach exakt zwölf
Monaten wechseln Sie schon wieder, weil ein anderer
Anbieter einen niedrigeren Tarif hat. Der bisherige
Stromanbieter zahlt daraufhin die Prämie nicht. Klagen
Sie?

Oder: Sie haben eine Lebensversicherung abgeschlos-
sen und aus persönlichen Gründen vorzeitig gekündigt.
Von Ihrem eingezahlten Geld bekommen Sie kaum et-
was zurück, weil irgendwo im Vertrag in den Tiefen des
Kleingedruckten versteckt ist, dass man erst Verwal-
tungs- und Bearbeitungsgebühren zahlen muss und diese
von dem eingezahlten Geld abgezogen werden. Die
Frage ist wieder: Klagen Sie?

All diese Fälle – man könnte noch mehr nennen – ha-
ben eines gemeinsam, nämlich folgendes Ungleich-
gewicht: Sie haben auf der einen Seite den einzelnen,
wirtschaftlich schwächeren Verbraucher oder die Ver-
braucherin und auf der anderen Seite mächtige Firmen
und Unternehmen mit ganzen Rechtsabteilungen und
Horden von Anwälten. Der Verbraucher, die Verbrau-
cherin steht allein mit dem Schaden da. Sie müssen sich
jetzt entscheiden: Klage ich?

Aus Verbrauchersicht ist es so: Je kleiner der Scha-
den, desto größer die Scheu. Wer möchte schon wegen
2,95 Euro klagen, viel Zeit verlieren und Ärger ris-
kieren? Das gilt aber reziprok proportional für die Unter-
nehmen. Während für den Verbraucher gilt: „Je kleiner
der Schaden, desto größer die Scheu“, sagen die Unter-
nehmen: Je kleiner der Schaden, desto besser die
Aussicht, dass 10 000 Betroffene eben nicht klagen.
10 000-mal 2,95 Euro ist ein schöner Gewinn. Kleinvieh
macht auch Mist, wäre eine andere Variante, um diesen
Zustand aus der Sicht der Unternehmen zu beschreiben.
– Die Ansprüche werden nicht geltend gemacht; das ist
das, was wir sehen.
Deshalb haben wir uns die Mühe gemacht, für dieses
Problem eine Lösung vorzulegen. Wir stellen fest, dass
so etwas in den unterschiedlichsten Varianten immer
wieder vorkommt: beispielsweise bei einer angemesse-
nen Entschädigung für einen verspäteten Flug oder bei
den schon genannten 2,95 Euro, zum Beispiel beim E-
Commerce oder bei Apps und Ähnlichem.

Wir meinen, dass wir an dieser Stelle – ich formuliere
das einmal so unter uns Juristen – das Skalpell in die
Hand nehmen und an das Herzstück des deutschen Zivil-
rechts herangehen müssen, an die Zivilprozessordnung.
Das ist ja angeblich die Krone des Rechts. Wie man da-
rauf kam, weiß ich auch nicht. Aber darin stehen die
wichtigen Dinge. Wir müssen Waffengleichheit herstel-
len. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es hier keine
Schieflage gibt, deshalb die OP an der Zivilprozessord-
nung.

Was wir brauchen, sind Formen kollektiver Rechts-
durchsetzung, so nennt man das. Das deutsche Recht
kennt das bisher schon. Beim Unterlassungsklagegesetz
überlegt die Bundesregierung zum Beispiel gerade völlig
zu Recht – das wird schon lange von einigen, auch von
uns gefordert –, eine Verbandsklagemöglichkeit bei Da-
tenschutzverletzungen zu ermöglichen. Wenn eine Infor-
mation über Sie ohne Ihre Erlaubnis weitergegeben
wird, dann überlegen Sie: Mache ich da etwas, oder lasse
ich es, obwohl ich unzufrieden bin? – Es ist also richtig,
dass es da Verbandsklagemöglichkeiten geben soll. Wa-
rum? Weil nur so Interessenvertretungen des Vertrags-
schwächeren gewährleistet werden.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Ich dachte, es geht um die Rechte der Verbraucher!)


Bei diesem Fall und den anderen, die ich gerade auf-
gezählt habe, ist es so – das will ich klar sagen –: Es be-
trifft eine Vielzahl von Personen. Das ist quasi ein Mas-
senereignis. Es handelt sich um gleichgelagerte Verträge,
gleiche Lebenssachverhalte. Alle Betroffenen erfahren
eine mehr oder weniger geringe Schädigung. Da brau-
chen wir jetzt eine prozessuale Lösung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])


Wir haben einen Gesetzentwurf, der das Zivilrecht
betrifft, vorgelegt. Ausnahmen stellen das Familienrecht
und die freiwillige Gerichtsbarkeit dar; dort muss nach
anderen Regeln vorgegangen werden. Wir sagen: Es
muss eine Klagemöglichkeit geben, bei der dann aller-
dings Teilnehmer des Verfahrens nur wird, wer in diesen
Gruppenverfahren gegenüber dem Gericht erklärt: Ich
will an diesem Verfahren teilnehmen. – Wir sagen: Die
Anwalts- und Gerichtsgebühren kann man dann auf vier
Gebühren reduzieren, damit nicht 20- oder 30-mal die
Gebühr erhoben wird, ohne dass dafür etwas getan wird.
Für diejenigen, die klagen und an dem Gruppenverfah-
ren teilnehmen, heißt das aber: Die Höhe des Prozessri-
sikos ist relativ begrenzt.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Für manche Kläger sind auch diese Gebühren noch zu viel!)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen an dieser Stelle aber auch ein praktikables
Verfahren. Das heißt: Diejenigen, die am Gruppenver-
fahren teilnehmen – das können bis zu 20 Personen
sein –, sind dann vor dem Zivilgericht nicht alle zu Pro-
zesshandlungen ermächtigt, sondern der oder die Grup-
penklägerin nimmt treuhänderisch die Rechte der ande-
ren wahr, damit das Verfahren praktikabel ist. Wir sagen:
Eine solche Gruppenklage kann auf Leistung, also Scha-
denersatz bzw. Entschädigung für Verspätung, abzielen;
sie kann sich aber auch als Feststellungsklage gegen
rechtswidrige AGB richten.

Wir wollen aber kein Gruppenverfahren im Sinne ei-
ner Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild.
Dort ist es so, dass ein Anwalt klagt, der zunächst alle
angeblich Betroffenen sozusagen im Hinterkopf hat und
dann später aus dem, was er erstritten hat, erst einmal
10 bis 20 Prozent als Anwaltsgebühr und Kostenerstat-
tung für sich abzieht. Das wollen wir nicht. Wir wollen
vielmehr ein Opt-in-Verfahren. Das heißt, das Verfahren
gilt nur für Personen, die ausdrücklich gesagt haben: Ich
will mit meinem Fall an diesem Verfahren teilnehmen.

Ich glaube, dass wir damit eines schaffen, nämlich
dass die kleinen Fälle, bei denen die Verbraucher kein
Recht bekommen, endlich mit in die Steuerungsfunktion
des Rechts aufgenommen werden. Denn das Recht hat
auch eine Aufgabe: am Ende sozusagen subkutan faire
Marktbedingungen zu ermöglichen und zu gewährleis-
ten, dass man nicht über den Tisch gezogen wird.

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die Euro-
päische Kommission hat uns im Juni 2013 aufgefordert,
kollektive Rechtsschutzverfahren einzuführen. Auf eine
Kleine Anfrage hat die Bundesregierung neulich geant-
wortet: Sie prüft, ob zur Verbesserung des kollektiven
Rechtsschutzes gesetzgeberische Schritte nötig sind.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805504800

Aber nicht mehr alles vorlesen, Frau Kollegin Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805504900

Meine Damen und Herren, ich erlaube mir an dieser

Stelle einen kostenlosen Rechtsrat: Wenn Sie nichts tun,
verstoßen wir gegen die Empfehlung der Kommission.
Ich bitte Sie deshalb, unseren Vorschlag zur Einführung
von Gruppenverfahren aufmerksam zu lesen und ihm
dann auch zuzustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE])



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805505000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sebastian

Steineke, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Sebastian Steineke (CDU):
Rede ID: ID1805505100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Den Gesetzentwurf, den Frau Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Einführung von Sammelkla-
gen – man muss deutlich sagen: es sind Sammelklagen,
um die es heute geht, keine Gruppenverfahren – einge-
bracht hat, haben Sie uns schon im letzten Jahr vorge-
stellt, und zwar kurz vor der Bundestagswahl. Kollege
Luczak hat damals völlig zu Recht festgestellt: Das war
reines Wahlkampfgeplänkel.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können Sie uns jetzt nicht mehr vorwerfen!)


– Reines Wahlkampfgeplänkel. So haben Sie es ge-
macht. – Sie konnten aber weder die Fachverbände noch
die zuständigen Bundestagsgremien beteiligen. Auch die
erneute Einbringung ändert aber nichts daran, dass der
Gesetzentwurf in die völlig falsche Richtung geht, Frau
Kollegin.

Bemerkenswert ist übrigens auch, dass Ihre Fraktion
– Sie haben eben darauf hingewiesen – am 19. Mai eine
Kleine Anfrage zu diesem Thema an die Bundesregie-
rung gerichtet hat, in der Sie sich nach dem Stand der
Überlegungen und weiteren Arbeitsschritten der Bun-
desregierung erkundigt haben. Was aber machen Sie
zwei Tage später? Ohne die Antwort abzuwarten, rei-
chen Sie einen eigenen Gesetzentwurf mit 26 Paragrafen
ein. Das ist reiner Aktionismus und macht keinen Sinn.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt drücken Sie sich nicht vor der materiellen Aussage, Herr Steineke! Das ist ja feige! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zur Sache!)


– Genau so ist es, Frau Künast. Sie können ja nächstes
Mal die Antwort abwarten.

Sie haben davon gesprochen, dass die Zivilprozess-
ordnung eher nicht die Krone Rechts sei, oder wie auch
immer Sie es formuliert haben. In der Vorbemerkung
zum Gesetzentwurf betonen Sie aber völlig zu Recht,
dass wir eine wunderbare ZPO haben. Sie hat sich seit
130 Jahren als zuverlässige, sachgerechte Prozessord-
nung bewährt. Wir haben sie auch immer wieder den
Notwendigkeiten angepasst.

Sie wollen mit der Einführung der Sammelklage ei-
nen komplett neuen Abschnitt einfügen, der aus Ihrer
Sicht notwendig ist. Aus unserer Sicht ist er das definitiv
nicht.

Auch der jüngste Gedanke über die Einführung eines
kollektiven Rechtsschutzes – Sie haben darauf hingewie-
sen – geht einzig und allein auf eine Empfehlung der
Europäischen Kommission zurück. Wie schon bei der
geplanten Änderung der Small-Claims-Verordnung konn-
ten wir feststellen, dass nicht immer alles gut und richtig
ist, was aus Brüssel kommt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Das sieht Herr Oettinger anders!)


In diesem Fall handelte es sich lediglich um einen Ap-
pell statt um eine gesetzlich umzusetzende Vorgabe.

Wir haben in unserem Rechtssystem bereits jetzt aus-
reichend effiziente und kostengünstige Instrumente zur
Durchsetzung von individuellen Rechten. Dazu gehören





Sebastian Steineke


(A) (C)



(D)(B)

neben den gängigen Individualklagewegen, die jedem
bekannt sein dürften, im Übrigen auch mehrere ähnlich
gelagerte Möglichkeiten im kollektiven Rechtsschutz.
Schon in jüngster Zeit sind Sammelklagen gegen Ban-
ken, Energieversorger oder Versicherungen erfolgreich
und basierend auf den heute bestehenden kollektiven
Rechtsschutzmöglichkeiten geführt worden. Wenn Sie
die Antwort der Bundesregierung abgewartet hätten,
wüssten Sie das.

Verbände können schon jetzt nach dem Unterlas-
sungsklagegesetz oder dem Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb Sammelklagen erheben. Zudem sind bereits
heute die Streitgenossenschaft in der ZPO, die Prozess-
verbindung, die Möglichkeit der Musterklage nach dem
Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz im Rahmen ei-
nes effizienten und vereinfachten Gerichtsverfahrens
möglich und auch vor dem Hintergrund eines kollekti-
ven Rechtsschutzes absolut ausreichend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene fast umfas-
sende Einführung von Sammelklagen stößt aber auch in
vielerlei anderer Hinsicht auf Bedenken. Wir haben in
unserer Verfassung das in Artikel 103 fest verankerte
und uneingeschränkte Grundrecht auf rechtliches Gehör.
Das betrifft jedes einzelne Individuum, das seine Rechte
geltend machen will. Diesem Grundsatz wird die Sam-
melklage in keiner Weise gerecht. Der Teilnehmer
schließt sich der Gruppe an, die durch einen Gruppen-
führer vor Gericht vertreten wird. Den Gruppenführer
kann man nach Ihrem Gesetzentwurf höchstens ablösen
bzw. auswechseln. Das verhindert jedoch nicht, dass der
Einzelne vor Gericht nicht mehr angehört wird. Auch
wenn es sich um eine Bündelung von gleichgelagerten
Fällen handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass
der Einzelne zu dem Sachverhalt etwas beizutragen hat.
Je größer die Gruppe, desto geringer der Einfluss des
Einzelnen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Besser als gar kein Einfluss!)


Ein weiterer Punkt ist die hohe Missbrauchsanfällig-
keit von Sammelklagen. Ich will durchaus einräumen,
dass Sie versucht haben, die diesbezüglichen Gefahren
einzudämmen. Gelungen ist es Ihnen in Ihrem Gesetz-
entwurf nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass
dem Instrument der Sammelklage die Gefahr des Miss-
brauchs geradezu immanent ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Viele Rechtsanwälte verfolgen in ihrer Arbeit – das ist
auch richtig so – ein eigenes wirtschaftliches Interesse.
Mit jedem Rechtsstreit soll und muss Geld verdient wer-
den. Ein redlich arbeitender Anwalt hat darüber hinaus
die Verpflichtung, seinem Mandanten zu helfen und das
Bestmögliche für ihn herauszuholen. Bei einer Sammel-
klage mit möglichst vielen Teilnehmern kann auch nach
Ihrem Gesetzentwurf ein Anwalt deutlich mehr ver-
dienen, als wenn er nur eine Einzelperson aus dieser
Gruppe vertritt. In der Begründung zur Kostenfrage füh-
ren Sie explizit auf:
Damit erweist sich das Gruppenverfahren aus Sicht
der Klägeranwältin oder des Klägeranwalts vor al-
lem für solche Fälle als attraktiv, in denen eine
große Anzahl von Betroffenen als Mandanten ent-
weder bereits vorhanden ist oder zumindest in Be-
tracht kommt.

Wenn Sie das so formulieren, dann ist das doch förmlich
Anstiftung zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weni-
ger. Das kann nicht in unserem Interesse liegen.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805505200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Künast?


Sebastian Steineke (CDU):
Rede ID: ID1805505300

Gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805505400

Bitte.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805505500

Könnten Sie mir mit Blick auf die anwaltliche Gebüh-

renordnung erklären, was günstiger ist: 20 Mandanten
mit einer kleinen Summe zu vertreten, bei denen die An-
zahl der Anwaltsgebühren auf vier begrenzt ist, oder
20 Mandanten einzeln zu vertreten und jeweils ein, zwei
Gebühren zu erheben? Sie machen gerade eine Milch-
mädchenrechnung auf, glaube ich.


(Caren Lay [DIE LINKE]: Milchjungenrechnung!)


– Richtig, Milchjungenrechnung. Danke, Caren Lay.

Sie tun so, als würden wir mit unserer Formulierung
zum Rechtsstreit animieren. Tatsächlich ist es doch viel
schlimmer, wenn 20, 30 oder 100 Menschen einzeln ver-
treten werden müssen. Als Anwalt braucht man sich
dann in die Sache nicht immer wieder materiell einzuar-
beiten, kann aber jedes Mal eine Gebühr einschließlich
Mehrwertsteuer, die man natürlich abführt, erheben.


Sebastian Steineke (CDU):
Rede ID: ID1805505600

Frau Kollegin, es ist ganz einfach. Sie animieren,

möglichst viele Menschen in Sammelklagen einzubezie-
hen; denn nur dann kann ein Anwalt mit einer Sammel-
klage Geld verdienen. Das ist aber falsch. Das ist ein An-
reiz zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weniger.

Insgesamt sehen wir in diesem Punkt die große Ge-
fahr, dass die Sammelklage rechtsmissbräuchlich bewor-
ben wird und dass sich ein Rechtsdienstleistungsmarkt
entwickelt wie in den USA. Das ist kein Geheimnis: Wer
sich in den USA auskennt, dem ist die große Anzahl an
Sammelklagen sowie Anwälten und Großkanzleien, die
sich eine goldene Nase verdienen, bekannt. Sie werden
mit Ihrem Gesetz insbesondere den deutschen Groß-
kanzleien einen großen Gefallen tun. Das ist aber nicht
unser Ansatz. Wir wollen nicht – das habe ich eben aus-
geführt –, dass die Betroffenen in einen Rechtsstreit
hineingeredet werden. Vielmehr wollen wir den mög-
lichst besten Rechtsschutz für jedermann. Das sollte der
Anspruch für alle hier im Saal sein.





Sebastian Steineke


(A) (C)



(D)(B)

Ein weiterer Punkt ist evident wichtig. Nicht selten ist
in der Geschäftsbeziehung zwischen Anwalt und Man-
danten das persönliche Verhältnis prägend für die Zu-
sammenarbeit. Ein Anwalt muss jeden Mandanten best-
möglich vertreten. Das verlangen bei uns bereits die
Standesregeln. Bei großen Sammelklagen ist das nicht
mehr möglich. Der einzelne Mandant ist bloß noch eine
Nummer.

Die Sammelklagepraxis in den USA hat uns aller-
dings noch mehr Schwachstellen aufgezeigt. Dort ist es
üblich, dass neben dem Klageverfahren ein exorbitanter,
zusätzlicher medialer Druck auf die Beklagten aufgebaut
wird, der dazu führt, dass die Beklagten förmlich genö-
tigt werden, sich noch vor einer Urteilsverkündung mit
der Gruppe zu vergleichen. In den USA geht man davon
aus, dass weit mehr als 90 Prozent der Sammelklagen in
einem Vergleich enden, noch bevor ein Urteil durch das
Gericht gefällt werden kann. Auch hier wäre das mehr
als wahrscheinlich.


(Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Künast, der öffentliche Druck ist das entschei-
dende Problem.

Oftmals handelt es sich bei dem Streitgegenstand von
Sammelklagen – da sind wir uns sicherlich einig – um
für viele Betroffene essenzielle Rechtsfragen, die ein
großes Medienecho nach sich ziehen. Wir brauchen die
freie und kritische Berichterstattung; dennoch darf dieser
öffentliche Druck nie dazu führen, Einfluss auf die freie
Rechtsprechung in unserem Land zu nehmen. Gerade für
unsere Unternehmen, die im Regelfall die Betroffenen
von Sammelklagen sein werden, würde ein Auswuchs an
solchen Sammelklagen eine erhebliche unangemessene
Belastung darstellen.

Für die Wahrung des öffentlichen Interesses im Ein-
zelfall haben sowohl Aufsichtsbehörden als auch Ver-
braucherschutzverbände bereits jetzt die Möglichkeit,
vorbeugenden Rechtsschutz für die Betroffenen in An-
spruch zu nehmen. Amerikanische Verhältnisse wollen
wir jedenfalls hier in Deutschland nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn Sie die Verbraucherschutzverbände zitieren,
dann möchte ich auf den Deutschen Richterbund hinwei-
sen – die Richter hätten als Praktiker mit diesem Gesetz
umzugehen –, der empfiehlt, von einer solchen Regelung
Abstand zu nehmen. Es ist deswegen mehr als sinnvoll,
dass wir alle gemeinsam das Ergebnis der angekündigten
Prüfung der Bundesregierung abwarten – Sie konnten es
nicht abwarten; wir können es –, ob über die bereits be-
stehenden Möglichkeiten für Muster- und Sammelkla-
gen hinaus gesetzgeberische Schritte weiter notwendig
sind, und dass wir keine Schnellschüsse verabschieden.
Aus den vorgenannten Gründen können wir diesem Ge-
setzentwurf leider nicht zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805505700

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Caren Lay, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805505800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Steineke, ich muss mich schon
wundern. Sie kritisieren die Opposition dafür, dass sie
Dinge, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben,
jetzt hier in einem seriösen Verfahren debattieren will.
Genau so muss es doch sein, ich bitte Sie.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Er kritisiert die Qualität des Gesetzentwurfs!)


Jedenfalls ist das allemal besser als das Modell der
GroKo, wonach die Dinge, die im Wahlkampf verspro-
chen wurden, hinterher einfach unter den Tisch fallen.
Genauso sollte es nämlich nicht sein.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zum vorliegenden Gesetzentwurf. Sie
haben es vielleicht vernommen: Im Mai dieses Jahres
gab es ein erfreuliches Urteil. Der Bundesgerichtshof hat
entschieden, dass die Bearbeitungsgebühren der Banken
für Kreditverträge unzulässig waren. Da haben sich si-
cherlich Tausende von Bankkundinnen und Bankkunden
gefreut und wollten ihre Ansprüche bei der Bank geltend
machen. Leider haben viele Banken abgewiegelt und
versucht, die geprellten Kunden mit Scheinargumenten
zu vertrösten und das unrechtmäßig eingezogene Geld
selber zu behalten.

Nach der gegenwärtigen Rechtslage kann es nur so
sein, dass jeder einzelne betroffene Bankkunde die je-
weilige Bank verklagt. Das ist eine hohe Hürde. Für den
manchmal geringen Streitwert werden viele Bankkunden
nicht einen Anwalt bestellen und ein Verfahren einleiten.
Die Banken aber haben ein riesiges Geschäft damit ge-
macht. Schätzungsweise 13 Milliarden Euro haben sie
daran verdient.

Das Beispiel zeigt: Individuelle Klagemöglichkeiten
alleine stoßen schnell an ihre Grenzen. Gelackmeiert
sind am Ende die Verbraucher, Gewinner sind Banken,
Unternehmen und Konzerne.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Wenn die Welt nur so einfach wäre!)


Deswegen sagen wir als Linke auch ganz klar: Wir
brauchen endlich ein Verfahren, das dafür sorgt, dass
Verbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Recht kom-
men – und im Übrigen auch zu ihrem Geld.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Recht haben, ist das eine; Recht durchsetzen, ist das
andere. Hier haben wir in Deutschland einen erheblichen
Nachholbedarf. Die jetzigen individuellen Klagemög-





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

lichkeiten sind in Anbetracht von komplexen Märkten
einfach nicht mehr zeitgemäß. Es wird auch die Tatsache
außer Acht gelassen, dass die Unternehmen gut ausge-
stattete Rechtsabteilungen haben, die dem einzelnen
Bürger, der vielleicht kein Jurastudium absolviert hat,
natürlich haushoch überlegen sind. Deswegen unterstüt-
zen wir als Linke diesen Gesetzentwurf und die Idee ei-
ner Gruppenklage.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das hätte vor allen Dingen den Effekt, dass die Ver-
braucherrechte deutlich gestärkt würden. Noch besser
wäre es, die Hemmschwelle der Unternehmen, auf Kos-
ten ihrer Kundinnen und Kunden ein krummes Geschäft
zu machen, deutlich hochzusetzen. Gruppenverfahren
dienen also der Prävention.

Jetzt werden einige sagen, es gebe schon Möglichkei-
ten der Rechtsdurchsetzung, es gebe schon eine Art von
Gruppenverfahren, zum Beispiel die subjektive Klage-
häufung. Nehmen wir zum Beispiel die Verbraucherzen-
trale Sachsen. Diese hat im Interesse von Gaskundinnen
und Gaskunden geklagt. Es ging um überhöhte Preise
und unfaire Vertragsklauseln. Nach sechs Jahren und ei-
nem langwierigen Prozess haben sie tatsächlich gewon-
nen; das stimmt. Aber es war kräftezehrend, es war ein
wahnsinniger bürokratischer Aufwand, und von den vor-
mals 400 klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern
haben gerade einmal 22 durchgehalten; die anderen ha-
ben nach der ersten Instanz aufgegeben. Die Verbrau-
cherzentralen – so gut sind sie finanziell und personell
nicht ausgestattet – sagen selber: Bei der jetzigen
Rechtslage können wir nicht mehr als 100 Verfahren
bündeln und händeln.

Deswegen, meine Damen und Herren, brauchen wir
eine richtige Gruppenklage, sodass eine Person klagt
oder wenige Personen bzw. die Verbraucherzentralen
selbst klagen und alle anderen Betroffenen sich entschei-
den können, mit einem kalkulierbaren Kostenrisiko und
mit geringem Aufwand der Klage beizutreten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Beste ist: Anschließend würde das Urteil gegenüber
jedem Betroffenen gleichermaßen gelten und nicht nur
für diejenigen, die in dem Verfahren durchgehalten ha-
ben.


(Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805505900

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von der CDU?


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805506000

Aber selbstverständlich.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805506100

Bitte schön.

Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1805506200

Frau Präsidentin, ich bin der Kollege von der CDU/

CSU. – Ich möchte Sie, Frau Kollegin Lay, etwas fragen.
Sie sagen: Mit der Gruppenklage würde es für die Ver-
braucher wesentlich einfacher, zu klagen und am Rechts-
streit teilzunehmen.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805506300

Ja.


Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1805506400

Bislang ist es so, dass bei Klagesummen von bis zu

5 000 Euro kein Anwaltszwang besteht und im Zweifels-
fall jeder die Klage oder den Mahnbescheid selbst auf
den Weg bringen kann. Nach dem Gesetzentwurf braucht
man zwingend einen Rechtsanwalt. Wie erklären Sie
sich den Anwaltszwang vor dem Hintergrund des Ziels
der Erleichterung der Klagebefugnis?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie wollen, streiche ich den Satz, und Sie stimmen zu! Tun Sie doch nicht so!)



Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805506500

Da kann ich mich dem Zwischenruf der Kollegin

Künast anschließen. Ich glaube nicht, dass das hier die
entscheidende Frage ist. Wir müssen die Sachlage aus
der Perspektive der betroffenen Verbraucherinnen und
Verbraucher betrachten.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Genau!)


In der jetzigen Situation – ich nehme einmal dieses Bei-
spiel – müssen sich Tausende von Kundinnen und Kun-
den allein durchsetzen und gegen einen großen Konzern,
gegen ein Unternehmen klagen. Nach dem, was vorge-
schlagen ist – ich bin Ihrer Auffassung, dass wir da im
Detail gern noch nachbessern können –, würde es den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, also denjenigen,
die vielleicht nicht die ganze Zeit das BGB vor Augen
haben und die kein Jurastudium haben, wesentlich er-
leichtert, ihre Ansprüche durchzusetzen. Deswegen,
meine Damen und Herren, ist diese Initiative dringend
notwendig. Wir als Linke unterstützen sie.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist natürlich nicht das Einzige, was wir brauchen.
Wir brauchen Nachbesserungen in anderen Punkten. Ich
nenne das Verbandsklagerecht für Verbraucherzentra-
len. Wir brauchen deutlich bessere Möglichkeiten für die
Verbraucherinnen und Verbraucher, unrechtmäßige Ge-
winne abzuschöpfen. In der jetzigen Form ist das ein Pa-
piertiger.

Es gibt noch einen Punkt, über den wir ebenfalls dis-
kutieren müssen, und das ist die Frage: Was machen wir
mit Bagatell- und Streuschäden? Nach meiner Einschät-
zung ist das in dem von den Grünen vorgeschlagenen
Opt-in-Verfahren so nicht lösbar.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Zweiter Punkt!)






Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)

Beim Kaffeekartell beispielsweise ist es so: Die Unter-
nehmen machen mit Preisabsprachen letztendlich Ge-
winne in Höhe von 860 Millionen Euro. Der einzelne
Verbraucher kann seine Ansprüche nicht durchsetzen.
Hierfür brauchen wir eine Lösung. Eine verbesserte Ge-
winnabschöpfung oder eine Sonderregelung bei Baga-
tell- und Streuschäden wäre unser Vorschlag.


(Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Im Kartellrecht gibt es doch schon eine Gewinnabschöpfung! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine verbesserte! Sie müssen auch zuhören!)


In der jetzigen Form ist das ein Papiertiger; ich sagte es
bereits. Es ist übrigens eine Studie des Ministeriums sel-
ber, die zu diesem Ergebnis gekommen ist.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wie sagt man so schön? „Allein machen sie dich ein“;
gemeinsam können wir uns besser zur Wehr setzen! –
Deswegen sagen wir als Linke: Zehn europäische Län-
der haben es vorgemacht. Es wird höchste Zeit, dass
auch in Deutschland das Gruppenklagerecht eingeführt
wird und die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrau-
chern gestärkt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805506600

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dirk Wiese, SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dirk Wiese (SPD):
Rede ID: ID1805506700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktion
der Grünen ist insoweit zuzustimmen, als Verbraucher,
die in großer Zahl zum Beispiel unlauteren Geschäfts-
praktiken, unzulässigen allgemeinen Geschäftsbedingun-
gen oder kartellbedingt überhöhten Preisen zum Opfer
gefallen sind, in der Lage sein müssen, ihre Rechte vor
Gericht wirksam durchzusetzen. Das steht für uns So-
zialdemokraten außer Frage.

Klar ist dabei auch, dass die Möglichkeit, eine ange-
messene Kompensation für erlittene Schäden zu erstrei-
ten, verfahrensmäßig so ausgestaltet sein muss, dass
keine abschreckenden wirtschaftlichen oder bürokrati-
schen Hürden bestehen.

Ob wir hierzu den vorliegenden Gesetzentwurf der
Grünen brauchen, wage ich momentan jedoch zu be-
zweifeln. Denn hier bleibt aus meiner Sicht zunächst
einmal festzustellen, dass die ZPO bereits grundlegende
Instrumente bietet, die eine gebündelte Behandlung
gleichgelagerter – gegebenenfalls auch geringer – An-
sprüche ermöglichen, nämlich die subjektive und objek-
tive Klagehäufung.

Auf dieser Grundlage wurden gerade in der jüngeren
Vergangenheit erfolgreiche Sammelklagen unter ande-
rem gegen Banken, Energieversorger und Versiche-
rungsunternehmen – teilweise unter Einbeziehung von
Prozessfinanzierern – geführt. So besteht insbesondere
die Möglichkeit, Forderungen unbürokratisch an eine
qualifizierte Einrichtung abzutreten, die diese sammelt
und im Wege der objektiven Klagehäufung durch eine
einzige Klage vor Gericht geltend macht.

Bei der Einziehungsabtretung benötigt der Verbrau-
cher im Übrigen keinen Rechtsanwalt. Das ist im Gegen-
satz zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Gruppenverfah-
ren ein entscheidender Vorteil. Für den Verbraucher
besteht folglich ein erheblich geringeres Kostenrisiko,
was die Einziehungsabtretung aus meiner Sicht wesent-
lich verbraucherfreundlicher macht. Darüber hinaus ist
das hier vorliegende System des Gruppenverfahrens aus
meiner Sicht erheblich komplizierter.

Anmerken möchte ich außerdem, dass über die objek-
tive und subjektive Klagehäufung hinaus bereits Kollek-
tivklagemöglichkeiten für Verbände nach dem Unterlas-
sungsklagengesetz und nach dem Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb bestehen, die in der Praxis eben-
falls – so ist mein Kenntnisstand – mit Erfolg genutzt
werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich zweifele auf den
ersten Blick auch daran, dass der vorliegende Gesetzent-
wurf überhaupt sein Kernziel erreichen kann, nämlich
eine große Bündelungswirkung zu erzielen. Durch die
Freiwilligkeit der Teilnahme und des Verbleibs im von
den Grünen vorgeschlagenen Gruppenverfahren sowie
durch die Möglichkeit, andere Rechtsschutzmöglichkei-
ten zu nutzen, wird die beabsichtigte Bündelungswir-
kung in der Praxis aus meiner Sicht sogar sehr gering
sein, zumal bei größeren anonymen Gruppen von Ge-
schädigten die Betroffenen oft unterschiedlichste Wege
gehen werden und die Gefahr sich widersprechender
Entscheidungen unterschiedlicher Gerichte trotz paralle-
ler Lebenssachverhalte somit bestehen bleibt.

Die Vorteile des heute schon bestehenden Kapitalan-
leger-Musterverfahrensgesetzes, das insbesondere eine
wirksame Bündelung und Vermeidung sich widerspre-
chender Entscheidungen bei gleichgelagerten kapital-
marktrechtlichen Streitigkeiten gewährleistet, werden
durch dessen Aufhebung aus meiner Sicht zunichtege-
macht.

Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass aus meiner
Sicht gerade solch komplexe Verfahrensstrukturen, wie
sie im uns vorliegenden Gesetzentwurf zu finden sind,
zusätzliches Streitpotenzial ermöglichen, das prozess-
taktisch mit dem Ziel der Verzögerung bzw. der Zer-
mürbung ausgeschöpft werden wird. Im vorliegenden
Gesetzentwurf kann also von einer Vereinfachung ge-
genüber bestehenden und von mir aufgezeigten Instru-
menten keine Rede sein.


(Beifall bei der SPD)


Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, bei den Zuhörern
auf der Tribüne das Vorurteil zu widerlegen, dass Jura
trocken ist.


(Heiterkeit – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist ein Schuss nach hinten!)






Dirk Wiese


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken, ich
stehe dem Gesetzentwurf der Grünen skeptisch gegen-
über. Gleichwohl freue ich mich – Frau Künast, Sie kön-
nen an dieser Stelle auch einmal zuhören –, dass uns die
Ausschussberatung die Gelegenheit gibt, dass wir uns
noch einmal mit der Materie der Klagehäufung bzw.
-bündelung befassen. Dort können wir gemeinsam dis-
kutieren, ob bewährte Instrumente der ZPO alternativ
punktuell so fortentwickelt werden können, dass sie dem
Verbraucher nutzen und beispielsweise die individuelle
Rechtsdurchsetzung auch bei Streuschäden erleichtern.
Für denkbar halte ich beispielsweise die Schaffung eines
wirksamen Gewinnabschöpfungsanspruchs im Bereich
des Unterlassungsklagengesetzes, die Schaffung von
strengeren Voraussetzungen für die Prozesstrennung
oder die Einführung eines allgemeinen Klageregisters
für den kollektiven Rechtsschutz in Verbindung mit ei-
ner Verjährungshemmung bei Anmeldung sowie die Re-
gelung einer Musterfeststellungsklage.

Ich freue mich jedenfalls auf die Ausschussberatung.
Wie gesagt, ich stehe dem Gesetzentwurf jedoch skep-
tisch gegenüber.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805506800

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege

Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Volker Ullrich (CSU):
Rede ID: ID1805506900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst einmal ist zu sagen: Die Idee der Ver-
besserung von Verbraucherrechten ist an und für sich
richtig. Der Gesetzentwurf macht sich eine Empfehlung
der Europäischen Kommission zu eigen. Aber es gilt
auch zu formulieren: Grundlegende Reformen der Zivil-
prozessordnung sind Operationen am offenen Herzen
unserer Rechtsordnung mit Auswirkungen auf das Funk-
tionieren unseres Rechtssystems. Sie sollten nur dann
vorgenommen werden, wenn dadurch eine erhebliche
Verbesserung eintreten kann.


(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit diesem Gesetzentwurf tritt sie nicht ein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah, der Satz war falsch!)


Dieser Gesetzentwurf wirft viele Fragen auf. Er be-
antwortet fast keine. Ja, ich will sagen: Er ist zwar gut
gemeint, aber nicht konsequent in der Umsetzung; er ist
handwerklich schlecht.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch besser!)


Sie wollen dem Problem des mangelnden Zugangs
zum Recht bei – auch kleineren – massenhaft auftreten-
den Individualschäden bei Verbrauchern und dem daraus
folgenden Defizit bei der Durchsetzung des Rechts ent-
gegentreten. Dazu wollen Sie einen Paradigmenwechsel
im Bereich der Zivilprozessordnung vornehmen. Sie
wollten weit springen und sind schon nach kurzer Stre-
cke gelandet.

Zum einen haben wir schon jetzt taugliche Instru-
mente kollektiver Rechtsdurchsetzung. Zum anderen
gilt: Gerade bei kleineren Schäden im Bereich der Ver-
sorgung, der Telekommunikation, aber auch bei Reisen
im Nahverkehr ist der beste Prozess der, den man nicht
führt. Deswegen ist hier viel stärker die Frage einer ver-
braucherrechtlichen Prävention in den Mittelpunkt zu
stellen. Das ist besser, als über komplizierte Gruppen-
verfahren die Verbraucher auf den Rechtsweg zu verwei-
sen, den sie nicht brauchten, wenn man das Recht, das
wir schon jetzt haben, konsequent anwenden würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt darf ich Ihnen ehrlich sagen: Diesen Gesetzent-
wurf könnte man nicht guten Gewissens verabschieden,
wenn man es mit dem Verbraucherschutz wirklich ernst
meinte. Das Ganze beginnt mit der in Artikel 1 § 606
Ihres Gesetzentwurfs verankerten Zulässigkeit, wo nicht
geregelt ist, wie groß eine Gruppe zu sein hat, welche
Verfahren infrage kommen und um welche tatsächlichen
Ansprüche es sich handelt. Was dort steht, ist viel zu
vage und unbestimmt, um auf die ZPO überhaupt Ein-
fluss gewinnen zu können.

Ein weiterer sehr verbraucherschädlicher Bereich ist
die in Artikel 1 § 608 – Örtliche Zuständigkeit – Ihres
Gesetzentwurfs geregelte Gerichtszuständigkeit. Sie
schreiben, dass das Gruppenverfahren bei dem Gericht
anhängig gemacht werden muss, bei dem der Beklagte
seinen Gerichtsstand hat. Das heißt nichts anderes, als
dass der Verbraucher aus Garmisch, aus Augsburg oder
aus Stuttgart beispielsweise in Berlin, in Hamburg oder
in Düsseldorf klagen muss. Diese Regelung ist völlig an-
ders als die, die wir jetzt haben, wonach für den Verbrau-
cher der Gerichtsstand seines Wohnsitzes gilt. Sie ver-
schlechtern so die Rechte der Verbraucher.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Völlig absurd ist Artikel 1 § 614 – Bekanntmachung
im Klageregister; Verordnungsermächtigung – Ihres Ge-
setzentwurfs. Wenn man auf Grundlage Ihres Gesetzent-
wurfs eine Gruppenklage führen würde, dann müsste
diese Klage umständlich in ein Register eingetragen
werden. Dieses Register müsste öffentlich gemacht wer-
den. Ich frage mich, wo da der Datenschutz bliebe. Aber
nicht nur die öffentliche Eintragung ist in Zweifel zu zie-
hen, sondern auch, dass das Verfahren nach der Eintra-
gung erst einmal aussetzen würde; denn das Gericht
müsste mindestens drei Monate abwarten, um festzustel-
len, ob sich andere Bürgerinnen und Bürger an dem Ver-
fahren beteiligen wollten. Ich persönlich meine: Rechts-
schutz muss schnell und effektiv sein.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen gibt es ja gar keinen Rechtsschutz, weil keiner klagt!)






Dr. Volker Ullrich


(A) (C)



(D)(B)

Durch monatelanges Wartenlassen schicken Sie den Ver-
braucher in die Warteschlange. Das ist doch nicht ver-
braucherfreundlich.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Verbraucher muss zur Not selbst die Möglichkeit
haben, zu klagen, ohne die Hemmschwelle in Form einer
Anwaltskanzlei vor sich zu haben. In Artikel 1 § 615 Ih-
res Gesetzentwurfs ist ein Anwaltszwang vorgesehen.
Für den Verbraucher fällt somit die Erstberatungsgebühr
an. Bei Klageerhebung kommt eine Verfahrensgebühr
von 1,3 hinzu. Würde Ihr Gesetzentwurf verabschiedet,
bedeutete dies für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, dass Klagen teurer und die Rechtsdurchsetzung
wesentlich schwieriger würde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer jetzt glaubt, das sei schon alles an handwerkli-
chen Mängeln, der muss sich einmal Artikel 1 § 619 Ab-
satz 2 dieses Gesetzentwurfs ansehen. Dort schreiben
Sie allen Ernstes – ich zitiere –:

Die Stellung als Gruppenkläger begründet kein
Schuldverhältnis gegenüber den Teilnehmern des
Gruppenverfahrens.

Wissen Sie, was das in der Konsequenz bedeutet? Es be-
deutet, dass derjenige, der die Klage führt, machen kann,
was er will, und wenn er schlecht verhandelt, ist man ge-
bunden und man hat keine Chance, da herauszukommen.
Wollen Sie das? Wollen Sie die persönliche Verantwor-
tung des Anwalts aufheben?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sagen Sie doch mal, was Sie wollen!)


Ich meine, nein. Ich meine, es gibt durch das anwalt-
schaftliche Berufsrecht eine Verantwortung des Anwalts
gegenüber dem Verbraucher.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie, wie es besser geht! Sie sind die Neinsagerpartei! Sagen Sie, wie es gehen soll!)


– Liebe Frau Kollegin Künast, wir sind keine Neinsager-
partei, sondern wir wollen die Bürger dieses Landes vor
schlechten Gesetzen bewahren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie doch mal ein ordentliches Gesetz!)


Wenn wir dieses Gesetz beschließen würden, würden wir
die 130 Jahre alte und ehrwürdige ZPO beschädigen.
Das wollen wir weder den Rechtsanwendern noch den
Verbrauchern zumuten.

Auch die Kostenfrage ist in Artikel 1 § 629 Ihres Ge-
setzentwurfs völlig unzureichend geklärt. Zur Frage ei-
ner ordentlichen Rechtsdurchsetzung gehört aus meiner
Sicht auch der Rechtsweg. Sie verweisen diesbezüglich
in Artikel 1 § 630 nur auf die allgemeinen Vorschriften.
Das heißt letztendlich: erst Gruppenklage, und dann
weiß niemand, wie es weitergeht.
Es handelt sich also im Ergebnis um einen völlig un-
brauchbaren Gesetzentwurf, der es eigentlich nicht wür-
dig ist, diskutiert zu werden. Nichtsdestotrotz werden
wir weiter daran arbeiten, die Rechte der Verbraucher zu
stärken,


(Caren Lay [DIE LINKE]: Da bin ich mal gespannt!)


und auch darauf dringen, dass in den Ländern – da trägt
Rot-Grün eine starke Verantwortung – durch die Beset-
zung von Richterstellen und die daraus resultierende
Verkürzung der Verfahrensdauer die Rechtsdurchsetzung
erleichtert wird.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es gar nicht! Bei Ihnen kommen die Leute gar nicht zum Gericht!)


Das ist, meine ich, ein viel wesentlicherer Punkt, den
man angehen sollte.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805507000

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karl-Heinz

Brunner, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1805507100

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Nachdem wir heute schon
medizinisch in das Thema eingestiegen sind – Sie, lieber
Kollege Ullrich, haben von der Operation am offenen
Herzen gesprochen und Sie, Frau Künast, haben den Be-
griff „subkutan“ verwendet –,


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ein bisschen Hysterie war zwischendurch auch schon dabei!)


will ich jetzt nicht intravenös an alle herantreten, son-
dern versuchen, mehr die Lebensrealität in den Mittel-
punkt zu rücken.

Ich sage vorweg: Der Ansatz des Gesetzentwurfs von
Bündnis 90/Die Grünen ist ja recht gut. Auf die Umset-
zung trifft allerdings der Satz zu: Gut gemeint, aber nicht
gut gemacht. – Ich sage das deshalb, weil die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher in diesem Land sich in zwei
Gemengelagen bewegen. Auf der einen Seite geht es um
diejenigen, die wegen eines schlechten Produkts, wegen
eines verpassten Flugs, der sie in ihr geliebtes Urlaubs-
land hätte bringen sollen, oder wegen vermeintlicher
Kleinigkeiten ihr Recht suchen. Für diese Menschen ist
es vielleicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie mit
einem Gericht zu tun haben. Sie schämen sich mögli-
cherweise, den Gerichtsweg zu beschreiten. Da müssen
wir ansetzen und etwas unternehmen, um diese Hürde zu
überwinden. Da wollen wir die Scheu abbauen.





Dr. Karl-Heinz Brunner


(A) (C)



(D)(B)

Auf der anderen Seite wollen wir etwas verhindern,
was wir aus amerikanischen Fernsehserien zur Genüge
kennen. Nehmen wir zum Beispiel einen Fall, den auch
der eine oder andere von Ihnen möglicherweise schon
erlebt hat: Man macht eine gute Flasche Rotwein, einen
Bordeaux zum Beispiel, auf und hat durch das Berühren
des Korkens zwei Tage einen roten Daumen. In diesem
Fall soll ein Verbraucher, der feststellt, dass auf der Fla-
sche der Hinweis fehlt, dass man durch das Berühren des
Korkens kurzzeitig rote Finger bekommen kann, nicht,
wie wir es aus amerikanischen Fernsehserien kennen, ei-
nen Schadenersatzprozess über mehrere Millionen Euro
anzetteln können.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das ist anderes Recht!)


Dies wollen wir nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die
Einführung des Gruppenverfahrens in die ZPO ist nichts
anderes als die Fortentwicklung von Sammelklagen. In
Bezug auf Gruppenklagen haben wir im Verbandsklage-
recht und im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz
recht gute Regelungen, die weiterentwickelt und vor al-
len Dingen den Verbraucherinnen und Verbrauchern nä-
hergebracht werden müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805507200

Herr Kollege Brunner, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Katja Keul?


Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1805507300

Gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805507400

Bitte schön.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805507500

Vielen Dank, Herr Brunner, dass Sie die Frage zulas-

sen. – Sie haben gerade das Beispiel erwähnt, dass in
Amerika wegen einer Lappalie Millionenbeträge geltend
gemacht werden. Würden Sie mir nicht auch recht ge-
ben, dass das weniger mit den Verfahrensrechten der
ZPO zu tun hat als mit dem Unterschied im materiellen
Zivilrecht, weil es in den USA so etwas wie eine Straf-
schadensersatzklage gibt, die es in unserem Zivilrecht
gar nicht gibt? Deswegen entstehen diese Summen, die
bei uns undenkbar wären. Das hat mit dem Verfahren ei-
ner Gruppenklage eigentlich gar nichts zu tun.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kennt sich jemand aus!)



Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD):
Rede ID: ID1805507600

Selbstverständlich, liebe Kollegin Keul, hat das mit

unserem Zivilrecht nichts zu tun. Aber das Gruppenkla-
geverfahren ist im Wesentlichen aus dem angelsächsi-
schen Recht entwickelt. Deshalb habe ich auch den Be-
zug hergestellt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das eine haben Sie nicht verstanden und das andere falsch recherchiert!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe ist,
den Bürgerinnen und Bürgern, den Rechtsuchenden – da
hat der Kollege Ullrich recht gehabt –, zum einen durch
die Ausstattung der Gerichte und zum anderen durch die
Ausgestaltung der Gesetze die Möglichkeit zu geben,
ihre Rechtsansprüche in der bestehenden Rechtsordnung
einzuklagen und die Scheu davor zu nehmen. Ich glaube
auch, dass dies mit der derzeitigen Regelung über die
Beratungshilfe, über die Prozesskostenhilfe, über das
Verbandsklagerecht und über die gut organisierten Ver-
braucherverbände hinlänglich möglich ist.

Ich mache keinen Hehl daraus, dass an verschiedenen
Stellen sicherlich nachzujustieren ist und freue mich des-
halb auf die Beratungen in den Ausschüssen, um den gu-
ten Ansatz zur Integration des Gruppenverfahrens in die
ZPO zu einem guten Ergebnis zu führen. Ich denke, es
ist für uns alle wichtig, dass wir jetzt zuerst einmal das
Prüfverfahren der Bundesregierung und etwaige Lö-
sungsvorschläge abwarten.

Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen, soweit Sie noch hierbleiben, einen
schönen Nachmittag und ansonsten ein schönes Wo-
chenende.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805507700

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 18/1464 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht zum Anerkennungsgesetz

Drucksache 18/1000

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan
Müller.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


S
Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1805507800


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor zwei Jahren ist das Gesetz zur Verbesserung der





Parl. Staatssekretär Stefan Müller


(A) (C)



(D)(B)

Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener
Berufsqualifikationen, also kurz Anerkennungsgesetz, in
Kraft getreten. Wir haben mit diesem Gesetz erstmals
eine gute rechtliche Grundlage geschaffen, um im Aus-
land erworbene Abschlüsse in Deutschland einfacher an-
zuerkennen und Menschen mit ausländischen Abschlüs-
sen besser in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Eines kann man nach diesen zwei Jahren ohne Zwei-
fel sagen: Es hat in Deutschland ein Umdenken gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem bei der CDU!)


Wir erkennen schon, dass viele Menschen mit mehr Res-
pekt und Wertschätzung auf die Qualifikationen und Le-
bensleistungen Zugewanderter sehen. Das ist ein wichti-
ger Fortschritt.

Ein weiterer Fortschritt ist, dass sich zahlreiche Ak-
teure auch mit beteiligen. Sie unterstützen die Anerken-
nung ausländischer Abschlüsse und wirken daran aktiv
mit, um neue Strukturen zu schaffen und Know-how auf-
zubauen. Insofern bedanke ich mich bei allen Organisa-
tionen und Institutionen, die in diesen zwei Jahren dazu
beigetragen haben, dieses Know-how zu erwerben und
neue Strukturen zu schaffen. Nur so war und ist eine er-
folgreiche Umsetzung unseres Anerkennungsgesetzes
möglich, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Bundesregierung hat seinerzeit im Gesetzge-
bungsverfahren ein kontinuierliches Monitoring bereits
vor der gesetzlichen Evaluation zugesagt. Der im April
dieses Jahres vorgelegte erste Bericht zum Anerken-
nungsgesetz enthält nunmehr die ersten Ergebnisse die-
ses Monitorings, das im Auftrag des BMBF vom Bun-
desinstitut für Berufsbildung durchgeführt wird.

Der Bericht geht aber weiter. Er zeigt also nicht nur
auf, was in diesen zwei Jahren geschehen ist, sondern
zieht auch eine erste Bilanz. Vor allem aber blickt er
nach vorne und benennt künftige Herausforderungen;
ich komme später noch darauf zu sprechen. Die Zahlen
belegen jedenfalls, dass sich das Anerkennungsgesetz
von Anfang an als ein Instrument der Fachkräftesiche-
rung etabliert hat.

Das Statistische Bundesamt hat im Oktober 2013 erst-
malig eine Statistik vorgelegt, wonach im Zeitraum von
April bis Dezember 2012 bundesweit rund 11 000 Ver-
fahren gemeldet wurden. Von diesen 11 000 Verfahren
– das kann man in der Rückbetrachtung, glaube ich, als
Erfolg bezeichnen – waren zum Jahresende 2012 bereits
drei Viertel entschieden. Der überwiegende Teil davon
– 82 Prozent – wurde mit einer vollen Anerkennung be-
endet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD])


In den Länderstatistiken zeichnet sich bereits ab, dass
sich diese positive Entwicklung in 2013 fortgesetzt hat.
Leider liegen die amtlichen Zahlen für das Jahr 2013 erst
im Oktober oder November dieses Jahres vor und wer-
den erst dann veröffentlicht werden. Der nächste Moni-
toring-Bericht wird dann sicherlich eine entsprechende
Aussage dazu treffen. Wir haben vor, Ihnen diesen im
Mai oder Juni 2015 vorzulegen.

Eines zeigt sich jedenfalls: Beratung und Information
sind auch für ein erfolgreiches Anerkennungsverfahren
der Schlüssel. Wir sind froh, dass es ein steigendes Inte-
resse an den Angeboten, die der Bund etabliert hat, gege-
ben hat. Ich möchte drei Beispiele nennen: erstens das
Internetportal „Anerkennung in Deutschland“, das be-
reits im August die Marke von 100 000 Besuchern mo-
natlich überschritten hat und auf dem sich mittlerweile
über 1,5 Millionen Menschen informiert haben, zweitens
die Telefonhotline beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, das individuelle Fragen zur beruflichen An-
erkennung beantwortet, und drittens das Beratungsnetz-
werk „IQ“ – Integration durch Qualifizierung –, das
ebenfalls eine ganze Reihe von Informationen zu Verfah-
ren der beruflichen Anerkennung geben kann.

Eine wichtige Rolle für den Erfolg des Anerken-
nungsgesetzes spielt sicherlich ein effizienter und ein-
heitlicher Verfahrensvollzug. Hier haben insbesondere
die Kammern entsprechende Strukturen geschaffen. Ich
möchte in diesem Zusammenhang die IHK FOSA, die
zentrale Plattform der Industrie- und Handelskammer,
und die Leitkammern im Handwerk, die sowohl beraten
als auch selber Verfahren durchführen, nennen.

Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder
– das nehme ich sehr ernst – den Hinweis bekommen,
dass die Verfahren zu aufwendig, zu lang und zu büro-
kratisch sind und dass zu viele detaillierte Informationen
zu ausländischen Bildungsgängen vorgelegt werden
müssen. Ich sage es noch einmal: Wir nehmen das sehr
ernst. Dort, wo es möglich ist, sollten wir das Anerken-
nungsverfahren unkomplizierter und unbürokratischer
machen. Gleichwohl muss man sich natürlich schon vor
Augen führen, was Ziel dieses Anerkennungsverfahrens
ist. Ziel des Anerkennungsverfahrens ist, dass am Ende
die Gleichwertigkeit mit einem deutschen Berufsab-
schluss attestiert werden kann.

Wir haben in Deutschland – darauf sind wir zu Recht
stolz – hohe Qualitätsstandards. Diese wollen wir beibe-
halten. Deswegen garantiert natürlich nur eine umfas-
sende und sorgfältige Prüfung auf der Grundlage von
verlässlichen Informationen eine entsprechende Gleich-
wertigkeit. Erst dann kann es zu einer erfolgreichen An-
erkennung kommen. Würde man hier Abstriche machen,
würde das dem Sinn und Zweck dieses Verfahrens zuwi-
derlaufen, was sicher nicht im Interesse der Antragsteller
sein kann.

Ich vermute, die Frau Präsidentin wird mir keine
großzügige Redezeiterweiterung einräumen, weswegen
ich mich beim Ausblick auf wenige Stichworte be-
schränken möchte.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben eh nicht viel zu sagen!)






Parl. Staatssekretär Stefan Müller


(A) (C)



(D)(B)

– Es sei denn, Sie würden eine Zwischenfrage zu den
Ausblicken stellen, Herr Mutlu. Aber ich befürchte, den
Gefallen werden Sie mir nicht tun.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ist gut! Da kommt auch nicht mehr bei rum, auch wenn ich eine Zwischenfrage stelle!)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805507900

Das geht nicht mehr, da Ihre offizielle Redezeit been-

det ist.

S
Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1805508000


Gut. – Ich beschränke mich auf wenige Stichworte:
Wir werden eine ganze Reihe von Maßnahmen und
Handlungsschwerpunkten zum Beispiel zu Ausgleichs-
maßnahmen auf den Weg bringen.

Ich will hier die Information der Betriebe ansprechen.
Der Bericht zeigt, dass es hier noch Handlungsbedarf
gibt, dass wir auch die Personalabteilungen und die Per-
sonalentwickler in den Unternehmen für das Thema An-
erkennung sensibilisieren müssen. Wir haben Hand-
lungsbedarf im Bereich der Rechtsetzung, weil wir die
novellierte EU-Berufsanerkennungsrichtlinie bis 2016 in
nationales Recht umsetzen müssen. – Das waren nur
zwei Beispiele, die zeigen, wo wir sicherlich noch wei-
terarbeiten können.

Die OECD bescheinigt uns, dass Deutschland heute
zu den Ländern mit den geringsten Hürden für die Zu-
wanderung hochqualifizierter Fachkräfte und Arbeits-
kräfte gehört – eine Botschaft, die noch viel stärker ge-
hört werden muss. Wir werden – da gehört eine schnelle
und einfache Anerkennung sicherlich mit dazu – auch in
Zukunft mit dem Anerkennungsgesetz und den entspre-
chenden Verfahren dafür sorgen können, dass unser
Land für qualifizierte Zuwanderer noch attraktiver wird.
Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805508100

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Rosi Hein,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805508200

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir reden heute über den ersten Be-
richt der Bundesregierung zu dem im April 2012 be-
schlossenen Anerkennungsgesetz. Die umfassende
Beschreibung kann ich mir sparen; das hat der Staatsse-
kretär eben getan.

Menschen mit im Ausland erworbenen Abschlüssen
haben nach diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf ein
Verfahren zur Überprüfung der Gleichwertigkeit ihrer
Abschlüsse. Es wird auch ein Zeitrahmen festgeschrie-
ben. Sie haben allerdings keinen Rechtsanspruch auf
Anerkennung; ich bitte, diesen Unterschied mit zu be-
denken. Wenn man denn die Anerkennung bekommt,
könnte man damit in Deutschland auch eine der Qualifi-
kation entsprechende Beschäftigung aufnehmen. Ich
lasse einmal beiseite, dass das Anerkennungsgesetz
schon in § 1 des Gesetzestextes mit dem Mangel am Ar-
beitsmarkt begründet wird und nicht mit dem Respekt
vor den Fähigkeiten zugewanderter Menschen und ihren
Lebensperspektiven hier in diesem Land.

In der Regel nach drei Monaten, bei Ärzten nach vier
Monaten, soll es eine Entscheidung geben; eine ange-
messene Verlängerung soll nur in komplizierten Fällen
möglich sein. Was ist denn aber mit der ukrainischen
Ärztin, die sich an uns gewandt hat und seit über einem
Jahr auf eine Entscheidung wartet? Was ist am Medizin-
studium in der Ukraine so schwer vergleichbar, dass
neun Monate Verlängerung angemessen sind?


(Beifall bei der LINKEN)


Und warum kommt es nicht zur Anerkennung ihres Ab-
schlusses, mit der sie endlich in Deutschland in ihrem
Beruf arbeiten könnte? Neun Monate nach Antragstel-
lung befand die zuständige Stelle, dass es Defizite gebe
und Arbeitszeugnisse aus dem Heimatland nachgereicht
werden müssen – nach neun Monaten! Sie lagen zu die-
sem Zeitpunkt aber schon einige Monate vor. Da muss
man sich doch – Verzeihung! – veralbert vorkommen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bis zum Ende des Jahres 2012 wurden rund 11 000
Anträge – wir haben die Zahlen eben gehört – zur Prü-
fung der Anerkennung gestellt und rund 7 500 positiv
beschieden, vor allem in Gesundheits- und Pflegeberu-
fen. Das klingt sicherlich erst einmal nach einer sehr gu-
ten Statistik; aber die Bundesregierung rechnet selbst mit
300 000 möglichen Anträgen. Da wäre es schon sehr
schön gewesen, diese Debatte vielleicht einen oder zwei
Monate später zu führen, wenn wir die Zahlen, die im
November veröffentlicht werden sollen, schon haben.


(Beifall des Abg. Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])


Denn wenn wir erst nächstes Jahr im April wieder über
diese Zahlen diskutieren, dann reden wir über alte Zah-
len und können überhaupt nichts über die Fortschritte sa-
gen. Wenn es sofort 300 000 Anträge gegeben hätte,
dann hätte ich verstanden, wenn die Behörden ein wenig
ins Schwimmen gekommen wären; aber so ist die Zahl
von 7 500 beschiedenen Anträgen für mich doch ein
bisschen ernüchternd.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Ende Juni dieses Jahres haben nun auch alle Bun-
desländer eigene Landesgesetze verabschiedet, um lan-
desrechtlich geregelte Berufe anerkennen zu können,
wie zum Beispiel die Berufe der Lehrerin oder des Leh-
rers bzw. der Erzieherin oder des Erziehers. Die Umset-
zung in den jeweiligen Ländern läuft jedoch höchst un-
terschiedlich. Eine einheitliche Anerkennungspraxis in
Deutschland ist kaum zu erkennen, möglicherweise auch
gar nicht zu erwarten, wenn man die unterschiedlichen
Qualifikationswege und Anforderungen in den einzelnen





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

Bundesländern bedenkt. Der Bundesregierung ist das of-
fensichtlich bekannt; denn der Staatssekretär hat sich
eben recht kritisch geäußert. Auch im Bericht ist ange-
merkt, dass der Stand bei der Vereinheitlichung des Voll-
zugs unbefriedigend sei.


(Beifall bei der LINKEN)


Bis alle Menschen ihre im Ausland erworbenen Ab-
schlüsse – wenn sie es wollen – hier in Deutschland an-
erkannt bekommen haben – wenn es denn möglich ist –,
ist es noch ein weiter Weg. Es ist auch eine Frage der
Kosten. Die Kosten für das Anerkennungsverfahren va-
riieren zwischen den Bundesländern und den unter-
schiedlichen Berufsarten teilweise erheblich.

Im Kammerbereich zum Beispiel bewegen sich die
Gebühren für eine Anerkennung zwischen 100 und
600 Euro; das ist im vorliegenden Bericht auch aufge-
führt. Dieser Unterschied ist aber doch nicht durch einen
unterschiedlichen Aufwand zu erklären. Darüber hinaus
steht zu befürchten, dass die Kosten für eine individuelle
Gleichwertigkeitsprüfung sowie für die Analyse von
Qualifikationen noch weitaus höher liegen. Das ist kein
Anreizsystem. Das schreckt vielmehr ab.

Wenn, wie die frühere Bundesministerin, Frau Schavan,
sagte, die Anerkennung der Abschlüsse „eine Frage der
Gerechtigkeit und des Respekts vor der Qualifikation
von Menschen“ sei, dann muss am Gesetz und an der
Anerkennungspraxis noch heftig gearbeitet werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen nicht nur ein Recht auf ein Verfahren,
sondern auch ein Recht auf Anerkennung. Wir brauchen
bezahlbare und vergleichbare Gebühren für die Aner-
kennung ebenso wie für die notwendigen Nachqualifi-
zierungen.

Der DGB hat heute eine Pressemeldung herausgege-
ben, in der er eine gebührenfreie Anerkennung und
Nachqualifizierung fordert. Mit Blick auf § 1 des Aner-
kennungsgesetzes stelle ich fest: Das ist angemessen;
denn es geht um den deutschen Arbeitsmarkt und weni-
ger um die Interessen der Betroffenen. Kosten- bzw. Ge-
bührenfreiheit ist also angemessen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805508300

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karamba

Diaby für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Karamba Diaby (SPD):
Rede ID: ID1805508400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Seit zwei Jahren haben wir ein Anerkennungsgesetz auf
Bundesebene, seit Sommer dieses Jahres nun endlich
auch auf der Ebene der Bundesländer. Ich freue mich,
dass wir heute eine erste Zwischenbilanz in Bezug auf
das Anerkennungsgesetz ziehen.
Vor gut zwei Jahren trat erstmals der allgemeine und
umfassende Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsver-
fahren in Kraft. Der ausländische Berufsabschluss wird
mit dem deutschen Referenzberuf verglichen und auf
Gleichwertigkeit geprüft. Das Ergebnis kann die voll-
wertige, die teilweise oder gar keine Anerkennung des
ausländischen Abschlusses sein.

Vielfalt schafft Werte – das ist mein persönliches poli-
tisches Leitbild. In diesem Sinne ist das Anerkennungs-
gesetz ein wichtiges Signal an die Eingewanderten in
Deutschland und an die deutsche Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiger Beitrag zur
Fachkräftesicherung für unseren Wirtschaftsstandort;
denn wir brauchen die Talente und beruflichen Kompe-
tenzen der schätzungsweise mehr als 300 000 Personen
mit ausländischen Abschlüssen, die es hierzulande gibt
– die Zahl wurde mehrfach erwähnt –, ohne sie geht es
nicht.

Ohne die formale Anerkennung ihrer Abschlüsse
werden Ärztinnen weiterhin als Putzfrauen und Inge-
nieure als Taxifahrer arbeiten. Sie arbeiten somit unter
ihrer Qualifikation. Dieser Zustand ist weder für die Ein-
gewanderten noch für unsere Gesellschaft und Wirt-
schaft hinnehmbar.

Schon seit Jahren schlägt die deutsche Wirtschaft
Alarm. „Fachkräfte verzweifelt gesucht“, „Deutschlands
Mittelstand gehen die Fachkräfte aus“ – so lauteten die
Schlagzeilen der letzten Jahre. Von einem flächende-
ckenden Fachkräftemangel kann zwar keine Rede sein,
aber für einzelne Berufe trifft er zu.


(René Röspel [SPD]: Richtig!)


Das Gesetz entfaltet erste erfreuliche Wirkungen in
den Gesundheitsberufen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ärztinnen und Ärzte, Gesundheits- und Krankenpfleger
sowie Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten füh-
ren die Liste der Antragsteller bei den häufigsten Refe-
renzberufen mit mehr als 70 Prozent an. Am häufigsten
kommen die Antragstellerinnen und Antragsteller aus
Rumänien, der Russischen Föderation und Polen.

Mit dem Anerkennungsgesetz haben wir begonnen,
brachliegende Potenziale zu aktivieren. Das ist gut so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gut ist auch die hohe Quote der vollen Anerkennungen.

Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt,
nachzubessern, wo es notwendig ist. Ich sehe vor allem
drei zentrale Herausforderungen:

Erstens. Der Bericht deutet darauf hin, dass nur ein
Bruchteil der geschätzt mehr als 300 000 Personen mit
ausländischen Abschlüssen einen Antrag gestellt haben.
Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen einen Aner-





Dr. Karamba Diaby


(A) (C)



(D)(B)

kennungsantrag stellen, damit sie endlich ihrem erlern-
ten Beruf nachgehen können.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie Hürden abbauen!)


Wir brauchen Informationskampagnen, damit sich die
Möglichkeit zur Anerkennung noch mehr herumspricht.
Hier müssen wir die Wirtschaft stärker sensibilisieren
und in die Pflicht nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie sollen die Möglichkeit zur Anerkennung ausländi-
scher Berufsqualifikationen noch stärker für ihre Perso-
nalentwicklung nutzen.

Damit komme ich zum zweiten Punkt: Anpassungs-
qualifizierung. Das wurde von meinen Vorrednern schon
angesprochen. Jeder zehnte Antragsteller in den regle-
mentierten Berufen und jeder dritte in den nichtregle-
mentierten Berufen braucht eine Anpassungsqualifizie-
rung, um eine vollwertige Anerkennung zu erlangen. Ich
freue mich sehr, dass die Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles beabsichtigt, ein Qualifizierungspro-
gramm mit Mitteln aus der neuen ESF-Förderperiode zu
bestreiten. Schließlich haben wir im Koalitionsvertrag
miteinander vereinbart, dass wir Eingewanderte, die
Qualifizierungsmaßnahmen absolvieren müssen, finan-
ziell unterstützen wollen.

Drittens. Lassen Sie uns in den weiteren Beratungen
genau hinschauen – ich hoffe, die Opposition macht
mit –, um bestehende bürokratische Fallstricke zu besei-
tigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke am heutigen Tag des Flüchtlings beispiels-
weise an Geflüchtete, die keinerlei Nachweise erbringen
können. Asylsuchende und Geduldete bringen – das wis-
sen wir – Talente, Know-how und oftmals eine hervorra-
gende Ausbildung mit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie uns also die Gerechtigkeitslücke schließen.
Lassen Sie uns für diese Fälle praktikable Lösungen ent-
wickeln und erproben.

Ich komme zum Ende. Ich danke den vielen kompe-
tenten und engagierten Beschäftigten des Netzwerks „In-
tegration durch Qualifizierung“. Sie leisten hervorra-
gende Beratungsarbeit, um die Arbeitsmarktintegration
von Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern.
Lassen Sie uns die Beratungsstrukturen stärken. Hier
können auch Migrantenorganisationen eine sehr große
Rolle spielen; das haben sie in der Vergangenheit ge-
zeigt.

Abschließend möchte ich bemerken: Wir sind auf ei-
nem guten Weg. Erst kürzlich haben wir die Abschaf-
fung der Optionspflicht und Maßnahmen zur Verbesse-
rung der Lebenssituation von Asylsuchenden und
Geduldeten beschlossen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Cemile Giousouf [CDU/CSU])


Das Anerkennungsgesetz reiht sich hier ein: Es ist inte-
grationspolitisch wichtig, es drückt Wertschätzung und
Anerkennung der Lebensleistung von Eingewanderten
aus. „Vielfalt schafft Werte“ bedeutet arbeitsmarktpoli-
tisch: Die Tür steht dir offen, du bist willkommen, du
wirst gebraucht, und du kannst dich mit all deinen Fähig-
keiten hier entfalten. – Lassen Sie uns gemeinsam dieses
Versprechen einlösen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805508500

Vielen Dank. Das war eine punktgenaue Landung. –

Nächster Redner ist Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805508600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Deutschland braucht Fachkräfte! Viele Unterneh-
men, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sind
schon jetzt auf ausländische Fachkräfte angewie-
sen.

Mit diesen Worten beginnt der Bericht der Bundesregie-
rung zum Anerkennungsgesetz. So wahr dieser Satz
auch ist, ist es doch nur eine Binsenwahrheit; denn das
dürfte allen in diesem Hause bekannt sein, spätestens
seit 2012. Ende 2008 hat sich der Bund mit den Ländern
auf dem Bildungsgipfel auf eine Verbesserung der
Rechtslage zur Anerkennung im Ausland erworbener
Abschlüsse und Berufsqualifikationen verständigt. 2012
ist dieses Gesetz dann endlich in Kraft getreten. Seither
ist viel Wasser die Spree heruntergeflossen.

Ich schaue mir den vorliegenden 169-seitigen Bericht
an und frage: Was ist in der Sache überhaupt erfolgt?
Wenn man sich diesen Bericht genau anschaut – an die-
ser Stelle schütte ich Ihnen eine gehörige Portion Spree-
wasser in Ihren Wein –, so sieht man lauter Allgemein-
plätze, Zuständigkeitsgerangel und viele offene Fragen,
meines Erachtens zu viele offene Fragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie schon gesagt worden ist: Wir sind eine Wirt-
schaftsnation und stehen für Innovation und wirtschaftli-
che Dynamik. Wir wissen seit Jahren, dass in unserem
Land ein Fachkräftemangel herrscht, und das nicht nur
in technischen Berufen oder im Pflegebereich, sondern
inzwischen in vielen, vielen Branchen. Das Anerken-
nungsgesetz und die damit einhergehende Reform war
daher nicht nur ein notwendiger, sondern auch ein abso-
lut überfälliger Schritt. Die Regeln und die Verfahren zur
Anerkennung von ausländischen Abschlüssen waren
nämlich auch nach 60 Jahren Zuwanderung absolut un-
terentwickelt. Ich sage: Allein schon aus wirtschaftspoli-
tischer Sicht können wir es uns nicht leisten, dass hoch-
qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer nur als





Özcan Mutlu


(A) (C)



(B)

Hilfskräfte angestellt werden, weil ihre Abschlüsse nicht
anerkannt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir können es uns auch nicht leisten, dass die Aner-
kennungsverfahren immer noch so ewig lange dauern.
Man wird das Gefühl nicht los, Sie wollten hier ein Bü-
rokratiemonster erschaffen. Ehrlich gesagt verstehe ich
Sie auch gar nicht. Normalerweise sind Sie, wenn es um
die Interessen der Wirtschaft geht, immer schnell bei der
Sache, aber hier leider nicht. Ich sage: Die Anerkennung
ausländischer Berufsqualifikationen ist auch für die Teil-
habemöglichkeiten von Zuwanderinnen und Zuwande-
rern in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung.

Viele Menschen, die aus den unterschiedlichsten
Gründen in unser Land gekommen sind, hatten in ihrer
ursprünglichen Heimat oft eine Ausbildung, einen Ab-
schluss und sehr viel Berufserfahrung. Wir müssen diese
Berufsausbildungen und Abschlüsse zum Wohl unserer
Gesellschaft und auch zum Wohl unserer Wirtschaft
schnell und zügig anerkennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist auch eine gewaltige Chance für die Integration.
Leider muss ich sagen, dass die Anerkennung ausländi-
scher Abschlüsse trotz anders lautender Lippenbekennt-
nisse, die wir auch heute wieder hören konnten, nur sehr
schleppend vorankommt.


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Ihr könnt mithelfen!)


In diesem Bericht werden zahlreiche Mängel aufge-
zählt, die dringend behoben werden müssen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, ja, immerhin!)


Da ist die Rede – wir können gerne gemeinsam daran ar-
beiten –


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eben!)


von etlichen Regelungslücken, die zu Unsicherheiten bei
den Antragsstellerinnen und Antragsstellern führen. Da
ist die Rede von einem erheblichen Entwicklungsbedarf
für einen möglichst bundeseinheitlichen Vollzug der
Verfahren. Da geht es um die uneinheitliche Regelung
der Kosten. Flüchtlinge tauchen in Ihrem Bericht nur
flüchtig auf, um präzise zu sein: nur mit dem Hinweis,
dass sie mit „erheblichen Hürden“ konfrontiert werden,
und das nach zwei Jahren. Ich frage Sie: Warum arbeiten
Sie denn nicht daran, diese Hürden abzubauen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Flüchtlinge sind oftmals hochqualifiziert und wä-
ren auch ein Gewinn für unsere Gesellschaft.

Ein anderes wichtiges Thema ist die Nachqualifizie-
rung. Hier haben Sie große Lücken hinterlassen, die die
Länder nun selber schließen sollen. Da lassen Sie die
Länder gerne allein.

Am meisten ärgert mich an diesem Bericht die Tatsa-
che, dass Sie einzig und allein Absichtserklärungen ver-
künden oder immer wieder andere zum Handeln auffor-
dern. Es fehlt Regierungshandeln! Da verlangen wir
mehr von Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie und wann Sie selber tätig werden wollen, wie Sie
gemeinsam mit den Bundesländern bestehende und be-
kannte Probleme lösen wollen, erfahren wir auch nicht
nach Lektüre der 169 Seiten. Die Verfahren zur Aner-
kennung ausländischer Berufsabschlüsse sind – ich zi-
tiere jetzt wieder aus Ihrem Bericht – zu lang und zwi-
schen den Bundesländern zu uneinheitlich.

Ich sage: Nach zwei Jahren sollte so etwas nicht mehr
in dem Bericht stehen. Setzen Sie sich mit den Bundes-
ländern an einen Tisch und lösen Sie zügig die Pro-
bleme, statt nur darüber zu reden. Wir brauchen flächen-
deckende und funktionierende Strukturen statt eines
unsäglichen Zuständigkeitsgerangels. Wir brauchen Ver-
einheitlichung, Vereinfachung und Beschleunigung. Ma-
chen Sie Tempo! Wir helfen Ihnen gerne dabei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805508700

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cemile

Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Cemile Giousouf (CDU):
Rede ID: ID1805508800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In den Zeiten des sogenannten Wirtschafts-
wunders vor über 50 Jahren wurden mit Ländern wie Ita-
lien, Griechenland und der Türkei Anwerbeabkommen
abgeschlossen. Mehrere Millionen Menschen wurden
für Industriearbeitsplätze benötigt. Sie kamen hierher
und arbeiteten gemeinsam am Standort Deutschland auf
Baustellen, in Fabriken oder im Bergbau.

Heute stehen wir wieder vor der Herausforderung,
dass wir Zuwanderung brauchen. Uns fehlen Ingenieure,
Facharbeiter, aber auch Ärzte, Pflegekräfte und Lehrer.
In meinem Wahlkreis Hagen und im südlichen Ennepe-
Ruhr-Kreis fehlten den mittelständischen Unternehmen
letztes Jahr 24 000 Fachkräfte. Ohne die Unterstützung
aus dem Ausland können wir diese Herausforderung
nicht stemmen. Deshalb ist es sehr gut, dass sich
Deutschland in den letzten Jahren immer mehr zu einem
modernen Einwanderungsland entwickelt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deutschland ist für immer mehr Menschen – darunter
gut ausgebildete Fachkräfte – eine attraktive Wahlhei-
mat. Unser Bundesinnenminister Thomas de Maizière
hat gestern im Rahmen der Diskussion über die Freizü-
gigkeit in Europa nochmals deutlich gemacht, dass auch
die Mehrheit der Menschen, die aus den osteuropäischen
Ländern zu uns kommen, gut ausgebildet ist. Gleichzei-
tig fahren aber auch in Deutschland noch viele Inge-
nieure und Ärzte Taxi.

(D)






Cemile Giousouf


(A) (C)



(D)(B)

Damit wir all diese Potenziale nutzen können, wurde
das Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht. Es ist in
Europa übrigens einzigartig. Mit diesem Gesetz hat jeder
Antragsteller einen Anspruch auf Prüfung der im Aus-
land erworbenen Qualifikation. Dieser Anspruch gilt
ebenso für Drittstaaten und für Drittstaatenabschlüsse.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch immer
mehr Flüchtlinge zu uns kommen, ist das eine wichtige
Weichenstellung. Deshalb freut es mich umso mehr, dass
diese neue Kultur der Anerkennung auf eine erfolgreiche
Regierungsinitiative der Union zurückgeht.

Lieber Herr Kollege Mutlu, wenn das alles, was wir
machen, so schlecht ist: Warum gab es dann kein Aner-
kennungsgesetz unter Rot-Grün? Damals gab es noch
nicht einmal ein Gesetz, über das wir heute hätten strei-
ten können. Nein, das ist eine Initiative einer CDU-
Ministerin gewesen, und sie wird von einer CDU-Minis-
terin umgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Und warum versucht die CSU, Erleichterungen zu verhindern?)


Die Bilanz fällt überzeugend aus:

Im April dieses Jahres wurde der Bericht zum Aner-
kennungsgesetz veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass
über 82 Prozent der Berufsabschlüsse als gleichwertig
anerkannt wurden, und von den IQ-Beratungsstellen
wissen wir, dass das Interesse weiter zunimmt. Allein in
diesem Jahr haben über 14 000 Personen ein Beratungs-
gespräch geführt. Die Strukturen und Angebote werden
immer bekannter, und das ist ein Erfolg.

Oftmals hören wir die Klage über die hohen bürokra-
tischen Hürden. Dazu möchte ich auch klar sagen: Es
geht um die Gleichwertigkeit mit deutschen Berufsab-
schlüssen. Die Qualität deutscher Berufsabschlüsse ist
weltweit anerkannt, und der wirtschaftliche Erfolg
Deutschlands hängt in einem nicht geringen Maße davon
ab. Mit anderen Worten: Diese Qualitätsstandards müs-
sen beibehalten werden, auch dann, wenn wir die EU-
Berufsanerkennungsrichtlinie in nationales Recht umge-
setzt haben werden, was bis 2016 geschehen muss. Wir
müssen den Spagat schaffen, Menschen schnell in den
Arbeitsmarkt zu integrieren, ohne die Qualität deutscher
Berufsabschlüsse zu verwässern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich um
ein noch junges Gesetz, das trotz seines frühen Erfolgs
fortentwickelt werden muss; hier gebe ich den Kollegen
recht. Folgende Punkte möchte ich dabei hervorheben:

Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass wir entspre-
chende Qualifizierungsmaßnahmen für alle Berufe an-
bieten können, um eine volle Anerkennung zu erreichen.
Die größte Herausforderung ist hier natürlich die Finan-
zierung. Deshalb finde ich es gut, dass das BMAS
– kofinanziert mit ESF-Mitteln – entsprechende Berufs-
qualifizierungen, für die der Bund zuständig ist, flächen-
deckend ermöglichen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Zweitens. Ich halte es für unabdingbar, dass für die
Gesundheitsberufe eine zentrale Anlaufstelle auf Bun-
desebene geschaffen wird – idealerweise angesiedelt bei
der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen bei
der KMK in Bonn.

Drittens. Die Länder müssen einheitliche Verordnun-
gen festlegen. Es kann nicht sein, dass für die Anerken-
nung unterschiedliche Standards und Hürden festgelegt
werden. Einige Länder schließen Berufe sogar aus der
Anerkennung aus, wie das NRW mit dem Lehrerberuf
macht. Wir wollen keinen Anerkennungstourismus zwi-
schen den verschiedenen Ländern. Das ist nicht im Sinne
dieses Gesetzes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Der vierte Punkt betrifft den Beruf des Lehrers insge-
samt. Jetzt müssen der Deutsche Philologenverband und
die GEW etwas tapfer sein; denn ich will folgende Frage
stellen: Müssen der Mathematiklehrer aus Warschau
oder die Physiklehrerin aus Bratislava, die beide hervor-
ragend Deutsch sprechen und ihr fachliches Handwerk
aus dem Effeff beherrschen, wirklich noch ein zweites
Fach studieren, um in einer staatlichen Schule in
Deutschland unterrichten zu dürfen?


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da gebe ich Ihnen recht!)


Wir sprechen hier immerhin von händeringend gesuch-
ten Lehrkräften in Mangelfächern. Andere Länder ken-
nen den Lehrer mit zwei Fächern nicht. Sollten wir für
solche Fälle nicht eine Brücke bauen? Es wäre gut, wenn
die Bundesländer sich hier trauen würden, auch einmal
neue Wege zu gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Bislang ist dies nur in einem einzigen Bundesland,
nämlich in Hamburg, möglich. Hamburg hat bereits im
Oktober 2010 – noch unter Schwarz-Grün, lieber Herr
Mutlu – eine Zentrale Anlaufstelle Anerkennung mit
ESF-Mitteln eingerichtet. Qualifizierungsmaßnahmen
werden durch Stipendien der Stadt Hamburg gefördert.
Das könnte als Blaupause für andere Bundesländer die-
nen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Es ist ein Gesetz mit einem großartigen Leitge-
danken. Wenn selbst die gegenüber dem deutschen Bil-
dungssystem notorisch griesgrämigen Bildungsexperten
der OECD zu dem Schluss kommen, dass Deutschland
für Hochqualifizierte alle Türen offen hält,


(Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Schön formuliert! Treffsicher formuliert! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieder eine Schuldzuweisung!)


dann ist das für uns alle ebenso ein Grund zur Freude
wie das europaweite Pauken von Deutschvokabeln.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805508900

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Ernst Dieter

Rossmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt ein bisschen Butter bei die Fische!)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1805509000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich erinnere mich noch an Debatten hier im Bundestag,
bei denen allein die Darstellung, dass es in Deutschland
rund 400 000 bis 500 000 akademisch gebildete zuge-
wanderte Menschen gibt, deren Abschluss nicht aner-
kannt wird, große Augen bei allen Kollegen hervorgeru-
fen hat.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allem dort auf der rechten Seite!)


Dankenswerterweise war es die Universität Oldenburg,
die solche Studien durchgeführt hat. Wir können jetzt
natürlich daran erinnern, wie Olaf Scholz damals gegen
den Widerstand des Kollegen Schäuble gekämpft hat
und andere ihrerseits wieder gegen Widerstände anderer.
Wichtig ist doch aber, dass es jetzt eine große Überein-
stimmung gibt, auch hinsichtlich der operativen Teilbe-
reiche, die angegangen werden müssen.

Sie haben in einem sehr selbstkritischen Bericht vie-
les gelesen, was Staatssekretär Müller und andere auch
schon angesprochen haben. Wir werden hoffentlich in
zwei Jahren einen anderen, einen besseren Bericht erhal-
ten, weil es bis dahin eine bessere Koordinierung zwi-
schen den Ländern und zwischen den Beratungsstellen
sowie vereinfachte Verfahren und hoffentlich auch ein
– hier knüpfe ich an Olaf Scholz an – voll ausgebildetes
Qualifizierungssystem geben wird. Es war ja immer un-
ser Wunsch, der Wunsch der SPD, dass es nicht nur das
Recht auf Beratung und das Recht auf Anerkennung
gibt, sondern auch das Recht auf Nachqualifizierung.
Auf dem Weg dorthin ist das, was Frau Nahles jetzt im
Namen der Großen Koalition vorbereiten kann, ein guter
und wichtiger Schritt. Wenn das Ganze dann nicht nur in
ein freiwilliges Programm, sondern in eine Rechtsleis-
tung münden würde, dann hätten wir tatsächlich ein sehr
modernes Anerkennungsrecht.

Dazu gehört auch – ich nehme das auf, was Frau Hein
und Herr Mutlu gesagt haben –, dass uns die Spanne bei
den Anerkennungsgebühren, die, wie es im Bericht
steht, von 100 über 600 bis zu 1 500 Euro reicht, doch
selber ins Grübeln bringen muss.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mich nicht!)


Diese Menschen kommen hierher. Sie haben nicht viel
Geld, aber Sie haben eine gute Qualifikation. Sie sind
durchschnittlich zwischen 25 und 35 Jahre alt. Sie haben
auch noch Familie. Sie wollen sich hier einbringen und
sollen dafür am Ende in einem bürokratischen Verfahren
viel Geld aufbringen. Wir müssen uns selber einmal in
deren Situation hineindenken und fragen, ob diese Hürde
eigentlich so bleiben muss oder ob man dort nicht etwas
ändern kann.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es muss ja nicht unbedingt kostenlos sein, aber zwischen
600 und 200 Euro liegt ein Unterschied, auch bezogen
darauf, ob man sich einbringt oder nicht.

Ich will gerne einen weiteren Gedanken von Ihnen
aufnehmen, Herr Mutlu. Ja, das Verfahren soll schnell
sein, es soll zügig sein, es soll einfach sein. Es muss aber
auch verlässlich und leistungsbezogen sauber sein.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Absolut d’accord!)


Gerade auf dem Arbeitsmarkt, bei den Handwerkern,
den Mittelständlern und anderswo hat sich an der Ten-
denz, die aus dem Bericht herauszulesen ist, dass man
eben doch – in Anführungsstrichen – der deutschen Qua-
lifikation mehr traut als der nachgereichten einge-
deutschten Qualifikation, nichts verändert. Wenn es dort
Zweifel gibt, wenn sich festsetzen sollte: „Das ist ein
bisschen geluscht“, dann nützt es diesen Menschen ja
nichts. Es muss ja im Gegenteil gerade bei denen, die
diese Kräfte aufnehmen sollen, auch eine Bereitschaft
geben und ein hundertprozentiges Vertrauen auf Gleich-
wertigkeit bestehen. Dafür wollte ich noch einmal wer-
ben. Ich glaube, so haben Sie es auch verstanden. Ich
wollte das unterstreichen und noch einmal ausdrücklich
sagen: Das liegt jetzt bei uns als Parlamentariern. Wie
halten Sie es? Gehen Sie in die mittelständischen Be-
triebe? Fragen Sie nach, ob die dort auch Hilfskräfte mit
einer hohen Qualifikation haben, bei denen es an der Er-
munterung durch den Chef gefehlt hat, der sagt: „Mach
das doch, wir brauchen dich“? Fragen wir das so? Ich
glaube, wir können als Abgeordnete in dieser Richtung
viel mehr zur Bewusstseinsbildung beitragen, auch in
Bezug auf die Chancen, die das Anerkennungsgesetz
hat.

Ich kann mir vorstellen, dass es auch Veranstaltungen
zur Anerkennung der Qualifikation geben kann, bei der,
ähnlich wie bei der Veranstaltung, in der neuen deut-
schen Staatsbürgern die deutschen Pässe verliehen wer-
den, das Engagement von Menschen gewürdigt wird, die
sich nachqualifiziert haben. Das ist Anerkennungskultur,
das ist Willkommenskultur.

Mir bleibt noch etwas Wichtiges zu sagen. Wir müs-
sen darauf achten, dass keine soziale Spaltung, keine
Qualifikationsspaltung entsteht. Der Bericht zeigt, dass
denjenigen mit einem höheren Qualifikationsniveau das
Anerkennungsverfahren leichter fällt und sie es meist
auch erfolgreich abschließen. Aber bei denjenigen mit
einem nicht so hohen Qualifikationsniveau besteht ge-
genüber dem Anerkennungsverfahren große Distanz.
Gerade bei diesen Menschen müssen wir für das Verfah-
ren werben.

Das ist vielleicht ein besonderer Schwerpunkt, den
man setzen kann. Die Differenz zwischen der akademi-





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

schen und der beruflichen Bildung, obwohl wir beide als
gleichwertig ansehen, bildet sich auch hier ab: Diejeni-
gen, die mit einem akademischen Abschluss hierher
kommen, haben es leichter als diejenigen, die mit einem
Berufsabschluss zu uns kommen. Das kann es doch nicht
sein. Wenn wir die Gleichwertigkeit zwischen akademi-
scher und beruflicher Bildung wollen, dann muss diese
auch im Zugang zum Anerkennungsverfahren und den
Chancen gelten, daraus etwas für sich zu machen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805509100

Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-

nungspunkt ist die Kollegin Katrin Albsteiger für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Albsteiger (CSU):
Rede ID: ID1805509200

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass ich als letzte Rednerin in dieser Debatte mei-
nen Redebeitrag leisten darf. Noch mehr freut es mich,
dass ich zum Anerkennungsgesetz rede, das auf Initia-
tive der CDU/CSU entwickelt,


(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Die Grundidee war wohl von uns!)


eingebracht, beschlossen und im Jahr 2012 in Kraft ge-
treten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb ist es so bürokratisch!)


Es handelt sich dabei um ein völlig neues Instrument
zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in Deutschland.
Wenn wir das so sagen und wenn auch in dem Bericht
diese Begriffe auftauchen, dann heißt das nicht, dass wir
keinen Respekt vor der Qualifikation der Fachkräfte aus
dem Ausland hätten, ganz im Gegenteil.


(Zuruf der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Aber es darf doch hier durchaus einmal erwähnt werden,
dass wir erkannt haben, dass da Handlungsbedarf be-
steht. Das Anerkennungsgesetz ist ein wesentlicher Bau-
stein zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.


(Willi Brase [SPD]: Aber lang dafür gebraucht!)


Das Anerkennungsgesetz ist ein sehr dynamisches
Gesetz.


(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu viel Dynamik ist auch nicht gut! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Wir werden es entwickeln! Ihr könnt mitmachen!)

Genau deswegen sind wir schließlich hier: Wir diskutie-
ren einen Bericht. Das ist der erste Bericht zu diesem
jungen, neuen, frischen Gesetz. Es ist doch gerade das
Schöne an diesem Gesetz, dass wir darin ein Monitoring
festgelegt haben. 2011 ist bei den Verhandlungen mit
dem Bundesrat die Idee eingebracht worden, die Aus-
wirkungen dieses Gesetzes im Rahmen eines Monito-
rings zu untersuchen. Uns geht es nicht nur darum, Ge-
setze zu machen, sondern auch darum, sie auf ihrem
Weg konstruktiv zu begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und weiterzuentwickeln!)


– Und weiterzuentwickeln, Herr Mutlu. Selbstverständ-
lich auch das. – Dieses Monitoring bedeutet, einerseits
die positiven Ergebnisse der Umsetzung zu benennen
und andererseits die kritischen Punkte aufzugreifen und
Verbesserungen aufzuzeigen. Genau das ist heute in der
Debatte schon in ausreichender Art und Weise passiert.

Danke, Herr Staatssekretär Müller, für Ihren Bericht.
Die Bilanz ist: Die Ergebnisse dieses Gesetzes sind nach
Meinung der Opposition hochdramatisch. Tatsächlich ist
das nicht der Fall. Das Gesetz ist eine Erfolgsgeschichte.
Zwischen April und Dezember 2012 lagen uns schon
11 000 Anträge vor. Das ist schon etwas, aber da ist auch
noch Luft nach oben, keine Frage.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Ich bin sicher, dass dann, wenn wir den nächsten Bericht
diskutieren werden, auch dokumentiert werden wird,
dass sich die Zahl der Anträge erhöht haben wird.

Das Schöne dabei ist, dass es nicht nur darum geht,
die Zahl der Anträge zu erhöhen, sondern es geht auch
darum, dass möglichst viele Anträge anerkannt werden.
Mit einer Quote von über 80 Prozent sind wir da auf ei-
nem hervorragenden Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Während noch vor anderthalb Jahren erst fünf Bundes-
länder ein Anerkennungsgesetz hatten, verfügt heute fast
jedes Bundesland über ein solches Gesetz.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Auch das ist eine gute Nachricht. Genau darum ging es
uns schließlich in den vergangenen Monaten.

Ich möchte einen besonderen Punkt herausgreifen,
nämlich die Gesundheitsberufe. Ja, da gibt es Hand-
lungsbedarf. Das ist auch ein extrem wichtiger Bereich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es ist richtig, dass die bereits beschlossene, länderüber-
greifende zentrale Gutachtenstelle aufgrund des beson-
ders hohen Aufkommens in diesem Bereich ihre Arbeit
aufnimmt. Zur Verbesserung der Situation wird diese
Stelle zu einheitlichen Standards und einer besseren Ko-
ordinierung beitragen.





Katrin Albsteiger


(C)



(D)(B)

Gerade uns als Union ist die Gleichwertigkeit der Le-
bensbedingungen zwischen Stadt und Land sehr wichtig.
In Bayern beispielsweise haben wir das im letzten Jahr
nach einem Volksentscheid sogar in unsere Verfassung
hineingeschrieben. Das ist schon eine gute Sache. Aber
es reicht sicherlich nicht aus, die Verfassung zu ändern,
ohne dafür zu sorgen, dass die Gleichwertigkeit der Le-
bensbedingungen auch tatsächlich erreicht wird. In die-
sem Zusammenhang ist die medizinische Versorgung ge-
rade im ländlichen Raum ein wesentlicher Punkt. Dazu
tragen auch die ausländischen Fachkräfte bei. Insofern
leisten wir mit dem Gesetzentwurf einen wichtigen Bei-
trag.

So viel zum Thema aus deutscher Sicht, aber – das sei
als letzter Punkt in dieser Debatte benannt – auch die eu-
ropäische Sicht ist sehr wichtig. Das Anerkennungsge-
setz leistet nämlich auch im europäischen Rahmen einen
wichtigen Beitrag. Wir sind uns, glaube ich, darin einig,
dass wir nicht nur für die Bekämpfung des Fachkräfte-
mangels im eigenen Land zu sorgen haben, sondern auch
– das ist unsere Pflicht, aber auch unsere Überzeugung –
für die Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen
Arbeitsmarktes.

Gerade die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit machen
deutlich, dass es in Europa eine Generation gibt, die wir
in dieser Hinsicht möglicherweise verlieren. Auch an der
Stelle ist es wichtig, nicht immer nur von einem mögli-
chen Braindrain zu reden, sondern auch die Chance zu
sehen, die damit verbunden ist. Wenn ausländische Ar-
beitskräfte aus Griechenland, Spanien oder Frankreich
auch in Deutschland Arbeit finden, dann ist das ein guter
Beitrag. Das Anerkennungsgesetz leistet ebenfalls sei-
nen Teil.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen einen schönen Nachmittag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805509300

Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1000 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung

– 17. Legislaturperiode –

Drucksache 17/14325
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


S
Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1805509400


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ohne Zweifel zu
einer breiten Bewegung geworden, die alle Bildungsbe-
reiche vom Kindergarten über die Schule bis zum Aus-
bildungsbetrieb oder zur Hochschule erfasst. Es ist eine
Bewegung, die alle Akteure dieser Felder sowie die
Nichtregierungsorganisationen und die Wissenschaft er-
reicht hat.

Der nunmehr vorliegende vierte Bericht zeigt den
breiten Ansatz des Bundes zur Förderung der Bildung
für nachhaltige Entwicklung. Es wird deutlich, dass die
BNE ein eigenständiges Thema innerhalb der Bundesre-
gierung ist, das aber auch gewissermaßen interdiszipli-
när von den Ressorts aufgegriffen wurde. Der Bericht
macht klar, wie vielfältig die Aufgabenfelder in diesem
Themenbereich sind und wie hoch die Verbreitung in
den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft mittler-
weile ist.

Die Dekade geht nunmehr zu Ende. Das heißt, wir
blicken auf zehn Jahre BNE in Deutschland zurück. Im
Dezember endet die UN-Dekade „Bildung für nachhal-
tige Entwicklung“.

Man kann sicherlich mit Fug und Recht sagen, dass
die BNE seit 2005 einen starken Entwicklungsschub er-
fahren hat. Das Bundesministerium für Bildung und For-
schung hat als federführendes Ressort innerhalb der
Bundesregierung diese Entwicklung mit gut 9 Millionen
Euro gefördert.

Unser verlässlicher Partner in dieser Zeit war die
Deutsche UNESCO-Kommission, die der Deutsche
Bundestag mit der Umsetzung und Koordinierung der
Dekadeaktivitäten beauftragt hat. Gewissermaßen von
null auf hundert wurden Arbeits- und Steuerungsstruktu-
ren geschaffen, thematische Schwerpunkte gesetzt und
gezielt einzelne Bereiche und Themen in den Fokus ge-
nommen. Ich will deswegen die heutige Debatte zum
Anlass nehmen, den Mitgliedern des eingerichteten Na-
tionalkomitees und des einmal jährlich tagenden runden
Tisches für ihr Engagement und ihre Arbeit in den ver-
gangenen Jahren besonders zu danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


(A)






Parl. Staatssekretär Stefan Müller


(A) (C)



(D)(B)

Die UN-Dekade hat die BNE in Stadt und Land be-
kannt gemacht. Es gibt eine Reihe von im ganzen Land
verbreiteten Initiativen, die als UN-Dekadeprojekt aus-
gezeichnet wurden, damit eine höhere Sichtbarkeit er-
reicht haben und eine verdiente Anerkennung für ihr
bemerkenswert hohes – in den allermeisten Fällen ehren-
amtliches – Engagement erfahren haben. Es sind beein-
druckende Zahlen, die wir zur Kenntnis nehmen dürfen.
Über 1 900 Projekte können sich mit der UN-Dekade-
fahne schmücken, von dem kleinen Projekt „H2klar-O!“
der Jugendfarm Erlangen bis hin zu dem von der Univer-
sität Kiel organisierten Bundesumweltwettbewerb. Da-
rüber hinaus wurden 49 offizielle Dekademaßnahmen
ausgezeichnet, die als Leuchttürme wirken und zugleich
BNE-Initiativen regional vernetzen. Dabei wurde deut-
lich, dass mittlerweile Nachhaltigkeit von vielen Unter-
nehmen als Imagefaktor gesehen wird. Wir können sehr
froh darüber sein, dass diese UN-Dekade dazu geführt
hat, dass dieses Thema auch in der Wirtschaft weit oben
auf der Agenda steht.

Einen besonderen Erfolg stellen ohne Zweifel die
21 prämierten Dekadekommunen dar. Es haben sich
kleine und große Kommunen beteiligt. Beispielgebend
sind hier die 6 700-Einwohner-Gemeinde Markt Eggols-
heim, aber auch die Metropole Hamburg, die den Nach-
haltigkeitsgedanken als kommunales Leitthema aufge-
griffen haben.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ich klatsche für beide!)


– Bitte.

Nach zehn Jahren sollten wir nicht nur Bilanz ziehen,
sondern auch sagen, wie es weitergehen soll. In Zukunft
wird die Nachhaltigkeit eine ähnlich große Rolle spielen
wie in den letzten zehn Jahren. Natürlich spielt, Nach-
haltigkeit hier auch eine große Rolle und hat auch in den
letzten zehn Jahren eine große Rolle gespielt. Wir wollen
Strukturen fördern, die nachhaltige Wirkung entfalten.
Dazu hat das BMBF auf Begleitforschung und lokale
Netzwerke gesetzt. Wir haben die Begleitforschung bei
vier Verbundvorhaben an zehn Hochschulen gefördert,
um den Prozess der Dekadeumsetzung wissenschaftlich
begleiten zu lassen. Um vom Projekt zur Struktur zu
kommen und die einzelnen Aktivitäten dauerhaft zu eta-
blieren, gab es einen Wettbewerb zur Förderung von lo-
kalen Bildungs- und Kompetenznetzwerken.

Bemerkenswert ist, dass das Engagement und die Ar-
beit, die wir hier in Deutschland im Bereich der Bildung
für nachhaltige Entwicklung geleistet haben, internatio-
nal hohe Anerkennung erfährt. Das ist auch daran zu er-
kennen, dass Frau Bundesministerin Johanna Wanka von
der UNESCO-Generaldirektorin eingeladen wurde, die
deutschen Initiativen auf der Weltkonferenz zum inter-
nationalen Abschluss der UN-Dekade in Japan im No-
vember 2014 zu präsentieren.

Wir haben uns im Koalitionsvertrag eindeutig zur Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung bekannt. Wir wollen
uns den Herausforderungen bei der Erfüllung dieser Le-
bens- und Gemeinschaftsaufgabe weiterhin stellen. Aber
mit dem Ende der UN-Dekade liegt nun eine Zäsur vor,
die die Neuordnung der Förderung der Bildung für nach-
haltige Entwicklung in Deutschland einläutet. Wir wer-
den nunmehr im Rahmen des Weltaktionsprogramms
weitere Aktivitäten vorbereiten. Um dieses Programm
auf nationaler Ebene umsetzen zu können, ist das BMBF
gerade dabei, im Rahmen eines Konsultationsverfahrens
die wesentlichen Akteure einzubeziehen. Zwei Anhö-
rungen mit Expertinnen und Experten haben bereits
stattgefunden. Die Herausforderung besteht ohne Zwei-
fel darin – das ist vielleicht auch eine Schwäche –, dass
es einen großen Reichtum an Fragestellungen, Aufga-
benfeldern, Themen und einzelnen Akteuren gibt. Das
muss auch eine Rolle bei der Vorbereitung der Umset-
zung des Weltaktionsprogramms spielen.

Ähnliches gilt für den Bericht. Wir denken darüber
nach, dem nächsten Bericht eine neue Struktur zu geben.
Wir könnten uns vorstellen, dass wir im Rahmen des
Weltaktionsprogramms die Aktivitäten der verschiede-
nen Ressorts noch enger – auch inhaltlich – zusammen-
führen und darstellen. Eine Überlegung ist – ohne dass
ich heute mehr dazu sagen kann –, dass wir in Anleh-
nung an den Bundesbildungsbericht die BNE-Aktivitä-
ten entlang der Bildungskette darstellen.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Eine gute Idee!)


Ohne Zweifel wird die Bundesregierung das Thema
Bildung für nachhaltige Entwicklung weiter vorantrei-
ben. Das erkennen Sie schon im Koalitionsvertrag. Dort
bekennen wir uns dazu, dass Bildung für nachhaltige
Entwicklung in allen Bildungsbereichen stärker veran-
kert werden soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805509500

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Rosemarie

Hein, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805509600

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ende dieses Jahres geht sie also zu Ende,
die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,
und in jeder Legislatur legte die Bundesregierung einen
Bericht vor, wie das Thema nachhaltige Entwicklung in
den unterschiedlichen Bildungsbereichen untersetzt
wird. Über fast 80 Seiten werden darin Projekte und Ini-
tiativen aller Bundesministerien und der Länder aufge-
zählt, und man könnte ob der Fülle schier beeindruckt
sein. Die Bundesregierung scheint nach dem Motto zu
arbeiten: Wer vieles bringt, wird manchem etwas brin-
gen. Ich wage aber zu behaupten, dass die Fülle allein
noch kein Ausweis für Qualität und schon gar nicht für
Nachhaltigkeit ist.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das Gegenteil auch nicht!)






Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)

Darum verstehe ich die Grundkritik des Bündnisses
für Zukunftsbildung. Das ist ein Zusammenschluss von
Umweltakteuren, Gewerkschaften und international agie-
renden Verbänden. Sie alle haben sicherlich den Brief
bekommen. Das Bündnis kritisiert die Begrenztheit der
Projekte. Bildung für nachhaltige Entwicklung werde in
Deutschland noch immer einzelnen Personen und Insti-
tutionen überlassen, schreibt es in seinem Brief.

Es reicht eben nicht, alle Ministerien und Beauftrag-
ten der Bundesregierung über ihre Initiativen berichten
zu lassen, wobei alles aufgezählt wird, was irgendwie
unter der – ich zitiere den Staatssekretär – Fahne der
UN-Dekade versammelt werden kann. Dazu gehören der
Ausbau der frühkindlichen Bildung – das sicherlich –
und die Häuser der kleinen Forscher ebenso wie das Bil-
dungs- und Teilhabepaket – dies halte ich übrigens über-
haupt nicht für nachhaltig –, aber es wird kein Wort über
die Defizite und Problemsichten verloren. Das fehlt mir
in diesem Bericht.

Übrigens fehlt erstaunlicherweise auch das Programm
„Kultur macht stark“. Da hat das Bildungsministerium
den nachhaltigen Ansatz wohl gar nicht erkannt. Ich
finde, das ist nachhaltig. Ich finde außerdem, dass sich
einige Bereiche, auch in den Ländern, zu einseitig auf
ökologische, umweltpolitische und globale Fragen kon-
zentrieren; dabei geht es bei der Bildung für eine nach-
haltige Entwicklung auch um Gerechtigkeitsfragen, um
soziale Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit.

Nachhaltig sein heißt nämlich, dass etwas für lange
Zeit hält oder bleibt. So beschreibt es Wikipedia. Nach-
haltig ist im deutschen Bildungssystem aber vor allem
die Ungerechtigkeit beim Zugang zu Bildung, und das
hat nachhaltige Folgen für Berufsperspektiven und per-
sönliches Wohlergehen. Das hat uns der jüngste OECD-
Bericht zum wiederholten Male unter die Nase gerieben.
Das ist nichts Neues. Darum sind Fragen des Bildungs-
zugangs und des Bildungserfolgs Nachhaltigkeitsfragen.
Ich verstehe nicht, warum immer noch über 100 000 Schü-
lerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss jedes Jahr
im Übergangssystem geparkt werden, wenn wir landauf,
landab über einen Fachkräftemangel klagen.

Das Bundesministerium der Verteidigung hatte es im
Übrigen wirklich schwer, etwas zum Bericht beizusteu-
ern. In den 45 mageren Zeilen kommt das Wort „Um-
weltschutz“ genau achtmal vor. Das sollte man loben.
Entschuldigung, aber ich kann an dieser Stelle nur sar-
kastisch sein. In meinem Bundesland baut die Bundes-
wehr gerade in der einzigartigen Colbitz-Letzlinger
Heide eine Geisterstadt mit U-Bahn für die Ausbildung
zu Kriegseinsätzen. Das hat doch nichts mit Umwelt-
schutz zu tun. Wenn dann noch in den Schulen für den
Dienst in der Bundeswehr geworben wird, ist das keine
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Kritik
muss an dieser Stelle sein.

Doch es werden in dem Bericht auch sehr viele inte-
ressante Initiativen genannt, die verstetigt werden soll-
ten. Aber wie das geschehen soll, darüber liest man
nichts. Auch aus der Rede des Staatssekretärs haben wir
nichts erfahren können. Vielleicht hofft die Bundesregie-
rung auf Erleuchtung auf der Abschlusskonferenz in der
kommenden Woche in Bonn, oder Frau Ministerin bringt
Ideen aus Japan mit. Auch das könnte sein. Vielleicht
nehmen Sie auch die nachdenklichen Töne aus einigen
Ländern auf, wie die vom Kultusministerium aus Sach-
sen-Anhalt, das das „inflationäre Nebeneinander von
Themen“ – das war ein Zitat – kritisierte.

Vielleicht lesen Sie auch noch einmal nach, was der
Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Be-
hinderungen geschrieben hat, nämlich dass der – Zitat –
„Erwerb von eigenverantwortlichen und nachhaltigen
Handlungsoptionen … nicht in einem separierenden und
ausgrenzenden Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitssys-
tem gelingen“ wird.

Und vielleicht verbinden Sie das auch mit der im Be-
richt zu lesenden Einsicht, dass Nachhaltigkeit schon bei
der Planung von Schulgebäuden, bei der Rhythmisie-
rung des Schulalltags und bei der Bereitstellung eines
gesunden Schulfrühstücks und Schulmittagessens be-
ginnt und ebenso notwendig ist wie soziales Lernen, de-
mokratische Beteiligung und Bildungsthemen wie Ener-
giewende, nachhaltige Lebensweise, Mobilität und
biologische Vielfalt.

Da haben wir ein gewaltiges Arbeitspensum, und die
Bundesregierung kann sich da nicht herausreden mit
dem Verweis auf Länderzuständigkeiten und auch nicht
mit dem Hinweis darauf, dass man die Finanzierung des
BAföG jetzt komplett übernimmt.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805509700

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Saskia Esken,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Saskia Esken (SPD):
Rede ID: ID1805509800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Planst du für ein Jahr, so säe Korn, planst du für ein
Jahrzehnt, so pflanze Bäume, planst du für ein Le-
ben, so bilde Menschen.

So machte schon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrech-
nung der chinesische Philosoph Kuan Chung Tzu deut-
lich: Bildung und Nachhaltigkeit gehören untrennbar zu-
sammen.

Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Müll-
vermeidung, Mülltrennung, Recycling von Wertstoffen –
vor 20 Jahren waren diese Begriffe eng abgegrenzten,
wohlinformierten Kreisen vorbehalten. Heute sind die
Deutschen Weltmeister im Mülltrennen. Wir recyceln,
was das Zeug hält, und die Wissenschaft beginnt, die
Tage zu zählen, bis es lukrativ sein wird, alte Deponien
auszuräumen und das Material dem Recycling zuzufüh-
ren.

Wie ist dieses Kunststück gelungen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen? Sicher gibt es hier den einen oder die
andere, der oder die sich diese Entwicklung gerne als Er-
folg der eigenen Gesetzgebung auf die Fahnen schreiben
würde, und das ist ja auch nicht ganz von der Hand zu





Saskia Esken


(A) (C)



(D)(B)

weisen. Die Umweltgesetzgebung und ihre Regelungen
zum Umgang mit Abfall, die uns heute selbstverständ-
lich erscheinen, waren zur Zeit ihrer Entstehung und
Durchsetzung nicht unumstritten. Es war eine rot-grüne
Koalition, die diese Gesetzgebung vorangetrieben hat.
Damit hat sie nicht nur zum Schutz der natürlichen Le-
bensgrundlagen, sondern am Ende auch zur wirtschaftli-
chen Stärke unseres Landes beigetragen.


(Beifall bei der SPD)


Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Gesetzgebung ge-
lingt es kaum, innerhalb von 20 Jahren, also in so kurzer
Zeit, Gewohnheiten zu verändern und einen Wandel der
Haltung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Die-
ses Kunststück haben Bildungseinrichtungen vollbracht.
Sie haben die Entstehung, Vermeidung und Trennung
von Müll thematisiert. Die Kinder lernten verschiedene
Müllsorten kennen und trennen und wurden sich so der
Konsequenzen des eigenen Verhaltens bewusst.

Also: Schulkinder haben im täglichen Handeln ge-
lernt, was ökologische und gesellschaftliche Verantwor-
tung bedeuten – und das mit viel Erfolg. Was haben die
Kinder dann gemacht mit ihrem neuen Wissen? Sie ha-
ben es nach Hause getragen zu ihren Eltern, zu ihren
Großeltern, und damit hat eine einzige Schülergenera-
tion eine ganze Gesellschaft weitergebildet.


(Beifall bei der SPD)


Sehr geehrte Damen und Herren, diese kleine Anek-
dote zeigt: Bildung ist Nachhaltigkeit. Die Nachhaltig-
keitsstrategie einer Regierung kann ökologische, ökono-
mische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit zur
obersten Maxime des Regierungshandelns machen, Ge-
setze und Verordnungen hervorbringen und Beiräte ein-
richten; um diese Haltung auch in der Gesellschaft zu
verankern, ist Bildung notwendig.

Als Sozialdemokratin ist mir in diesem Vierklang die
soziale Nachhaltigkeit ein besonderes Anliegen. Das
Augenmerk wird hier auf die zukunftsfähige, zwischen
Generationen, Kulturen und Geschlechtern ausgegli-
chene gerechte Entwicklung einer Gesellschaft gerichtet.
Für eine nachhaltig sozial stabile Gesellschaft müssen
wir Chancengleichheit für alle Menschen und insbeson-
dere für Kinder und Jugendliche anstreben, die Integra-
tion von Menschen jedweder Herkunft und Kultur för-
dern, auch von all denen, die heute noch draußen stehen,
und für gleiche Rechte für Frauen und Männer sorgen.


(Beifall bei der SPD – Zustimmung der Abg. Katrin Albsteiger [CDU/CSU])


In Deutschland ist es deshalb an der Zeit, die sehr guten
Ansätze, die heute schon in vielen Bildungseinrichtun-
gen für die Verankerung der Nachhaltigkeit in der Ge-
sellschaft sorgen, zu verstärken und zu verstetigen.

Wie das aussehen könnte, zeigt sich derzeit in Baden-
Württemberg bei der Entwicklung eines neuen Bildungs-
plans. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wird eines
der fünf Leitprinzipien darstellen, also über alle Fächer
hinweg Basis der Erziehung und Bildung sein. Ver-
gleichbare Schritte wurden auch in anderen Bundeslän-
dern vollzogen, sodass wir sagen können: Ein Anfang ist
gemacht.
Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn die zu
Ende gehende UN-Dekade eine globale Verantwortung
für die Bildung für nachhaltige Entwicklung nahelegt,
haben wir in den Industriestaaten doch eine ganz beson-
dere Rolle zu spielen. Viele Jahrzehnte haben wir den
Wohlstand unserer Hemisphäre aufgebaut, ohne Rück-
sicht auf den Ressourcenverbrauch, auf die Umwelt oder
auf die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der
Menschen in aller Welt.

Auch heute noch verbraucht Deutschland ein Vielfa-
ches der Ressourcen, die uns, global betrachtet, zustehen
würden. Wir selbst spüren die Folgen dieses Raubbaus
kaum, doch die Menschen in den Entwicklungsländern
leiden darunter. Hier fehlt das saubere Trinkwasser. Hier
fehlt das Getreide, das wir für die Fleischerzeugung ver-
brauchen. Und hier fehlt das Geld, um sich gegen die
Veränderung des Klimas zu schützen. Seien wir ehrlich:
Diese Welt würde nicht mehr lange existieren, wenn sich
alle nach der Art der Industrieländer entwickeln würden.


(Beifall bei der SPD)


Als Bildungspolitikerin möchte ich es nicht versäu-
men, darauf zu verweisen, dass zu einer nachhaltigen
Entwicklung auch eine nachhaltige Bildung selbst, also
eine Nachhaltigkeit der Bildung, gehört. Dabei geht es
immer weniger um die Vermittlung eines Wissens-
kanons. Angesichts einer Wissensgesellschaft im Wan-
del ist es notwendig, dass junge Menschen zukunftsfä-
hige Kompetenzen entwickeln können und dazu befähigt
und motiviert werden, ein Leben lang weiter zu lernen.
Das sogenannte Bulimie-Lernen, also die Aneignung
von Stoff ausschließlich für eine Prüfung, muss endlich
der Vergangenheit angehören; denn das ist das Gegenteil
von Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Rosemarie Hein [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren, mit der Bildung für nachhaltige
Entwicklung nehmen wir uns vor – um das Zitat vom
Anfang meiner Rede nochmals aufzugreifen –, für die
Dauer eines ganzen Lebens zu planen und darüber hi-
naus. Wer Verantwortung für die Zukunft übernehmen
will, muss Nachhaltigkeit zur obersten Maxime machen.
Bildung für Nachhaltigkeit ist der Weg dorthin.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1805509900

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin

Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge-
borgt.





Beate Walter-Rosenheimer


(A) (C)



(D)(B)

So alt dieses indianische Sprichwort auch sein mag
und so häufig es schon zitiert worden ist, so ist es doch
immer noch ein wahres Wort, das sehr knapp zusammen-
fasst, um was es bei Nachhaltigkeit und nachhaltiger Bil-
dung geht: Wir alle haben die Verantwortung gegenüber
unseren Kindern, diese Erde für sie lebenswert zu erhal-
ten.

Leider hat sich die Regierung reichlich Zeit gelassen,
den Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
vorzulegen. Wenn wir die Haushaltswochen abziehen,
dann sind schon zehn Sitzungswochen vergangen. Ich
hoffe nicht, dass das etwas mit dem Stellenwert zu tun
hat, den dieses Thema für Sie hat.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber ja!)


Bildung für nachhaltige Entwicklung – kurz: BNE –,
das heißt lernen, unsere Zukunft so zu gestalten, dass un-
sere Kinder und unsere Enkel auch nach uns noch gute
Lebensbedingungen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bildung für nachhaltige Entwicklung, so die
UNESCO, vermittelt Kindern, Jugendlichen, aber auch
Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln. Sie
versetzt Menschen in die Lage, Entscheidungen für die
Zukunft zu treffen und dabei abschätzen zu können, wie
sich das eigene Handeln auf künftige Generationen oder
das Leben in anderen Regionen dieser Erde auswirkt.

Die UN-Dekade für BNE läuft in ein paar Wochen
aus. Wir haben das schon gehört. Viele Lehrkräfte,
Ehrenamtliche, Nichtregierungsorganisationen, Unter-
nehmen und Stiftungen haben einen ganz entscheiden-
den Beitrag dazu geleistet, dass Nachhaltigkeit mehr und
mehr in den Schulen, außerschulischen Lernorten und
Kommunen thematisiert wird. Das verdient unseren
Respekt und unsere Anerkennung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist ein starkes Zeichen, dass BNE seit dem ersten
Anstoß durch die rot-grüne Bundesregierung im Jahr
2004 ganz unabhängig von politischen Machtverhältnis-
sen immer gemeinsames Ziel war. Das hat sicherlich
Seltenheitswert und zeigt, dass BNE ein Kernziel für uns
alle ist.

Herr Müller, Sie sprachen vorhin davon, dass das
Konzept sehr breit aufgestellt sei. Aber: Der Bericht so-
wie zahlreiche andere Analysen, Studien und Empfeh-
lungen zeigen uns vor allem auch eines: Eine systemati-
sche Verankerung des Bildungskonzepts steht nach wie
vor aus. Das wollen wir ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch die UNESCO-Zukunftsstrategie „BNE 2015+“
konstatiert – ich zitiere –: Das eigentliche Ziel der von
den Vereinten Nationen ausgerufenen Dekade wurde oft
nur punktuell und eher modellhaft erreicht.

Der Begriff selbst ist nach wie vor – das wissen Sie
auch – hauptsächlich der Fachöffentlichkeit bekannt.
Dabei ist es doch ein Bildungskonzept, das für uns alle
von entscheidender Tragweite ist.

Eines sollte uns allen klar sein: Nachhaltigkeit ist nur
mit Bildung zu haben. Das haben Sie schon gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade die, die BNE als Multiplikatoren vorantreiben
könnten, also die Erzieherinnen, die Lehrerinnen – die
Lehrer und Erzieher natürlich auch –, konnten in unseren
Augen nicht genügend erreicht werden. Ja, auch davon
haben Sie, Herr Müller, gesprochen: Es gab ein starkes,
ein bewundernswertes zivilgesellschaftliches, ehrenamt-
liches Engagement, und davor ziehen wir den Hut. Aber
dennoch, denke ich, können wir den Auftrag nicht allein
den Ehrenamtlichen überlassen, dürfen wir uns nicht al-
lein auf sie verlassen; hier ist auch die Politik stärker ge-
fragt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit BNE wirklich gestärkt wird, braucht es ver-
bindliche Strukturen für mehr Planungssicherheit und
natürlich ausreichende Finanzmittel, um diese Struktu-
ren zu schaffen. Für meine Fraktion ist klar: Das Koope-
rationsverbot stand der Bundesunterstützung für diese
Strukturen, für die flächendeckende strukturelle Umset-
zung im Weg.

Von Bundesland zu Bundesland unterscheidet es sich
sehr stark, wie sehr Bildungseinrichtungen den Fokus
auf Nachhaltigkeit richten. Wir stehen also immer noch
vor großen Herausforderungen. Im November 2014
– wir haben es schon gehört – soll mit dem Weltaktions-
programm der UNESCO ein neuer Anstoß für Bildung
für nachhaltige Entwicklung gegeben werden. Wir Grü-
nen hoffen, dass die Bundesregierung aus den Proble-
men in der Umsetzung des Bildungskonzepts ihre Leh-
ren zieht und das Weltaktionsprogramm in Deutschland
besser unterstützt.

An dieser Stelle will ich Sie an die Zusagen aus 2013
erinnern und hoffe umso mehr, dass sie auch für die ak-
tuelle Bundesregierung gelten. 2013 versprach Bundes-
ministerin Wanka, dass weiterhin Geld und Ideen in die-
sen Bereich fließen werden. Gerade jetzt, vor dem
Hintergrund der Haushaltsberatungen, darf ich vielleicht
daran erinnern, dass damals in einer Regierungsbefra-
gung ein Aufwuchs an Mitteln für BNE in Aussicht ge-
stellt wurde.

Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen die Ver-
ankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung in
Deutschland weiter voranzutreiben. Denn, wie die Deut-
sche UNESCO-Kommission es beschreibt, BNE lehrt
Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche: Mein
Handeln hat Konsequenzen – nicht nur für mich und
mein Umfeld, sondern auch für andere. Ich kann etwas
tun, um die Welt ein Stück zu verbessern.

Gemäß dem aktuellen Jahresthema der UN-Dekade in
Deutschland sage ich: Lassen Sie uns Brücken in die Zu-
kunft bauen und uns weiter gemeinsam für einen lebens-
werten Planeten für nachkommende Generationen ein-
setzen. Denn wir brauchen Kompetenzen in diesem
Land. Dies sind vorausschauendes Denken, interdiszipli-





Beate Walter-Rosenheimer


(A) (C)



(D)(B)

näres Wissen, autonomes Handeln und Partizipation an
gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805510000

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Claudia

Lücking-Michel das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Claudia Lücking-Michel (CDU):
Rede ID: ID1805510100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Freitagnachmittag, vorletz-
ter Tagesordnungspunkt, und ein Blick auf die Uhr zeigt:
Wir haben schon lange nicht mehr fünf vor, sondern weit
nach zwölf. Jetzt reden wir über das Thema Nachhaltig-
keit, und es ist wichtiger als je zuvor.

Das galt schon 1992 bei der UNO-Konferenz. Zum
Glück können wir sagen: Seitdem ist viel passiert; aber
– darin sind wir uns heute Nachmittag offensichtlich ei-
nig – viel bleibt auch noch zu tun. Entscheidend auf dem
langen Weg war die Erkenntnis, dass es um Bildung für
nachhaltige Entwicklung gehen muss, dass man an die-
ser Stelle den Hebel ansetzen muss.

Wenn die UN-Dekade für nachhaltige Bildung
nächste Woche mit einer Konferenz in Bonn zu Ende
geht oder wenn wir hier heute Nachmittag schon den
vierten Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklung
diskutieren, dann zeigt sich, dass aus dem ursprüngli-
chen Gedanken, dass umwelt- und entwicklungspoliti-
sche Bildung zusammengehören, mittlerweile ein um-
fassendes Konzept geworden ist, ein Konzept, das alle
Ressorts, alle Fächer betrifft: Biologie, Chemie, Geogra-
fie, Politik. Es betrifft alle formalen und informellen Bil-
dungsorte. Was eigentlich nicht?

Von der Idee, ausgediente Telefonzellen als Bücher-
box wiederzuverwerten, über Mitarbeiterfortbildung für
die Stadtverwaltung einer „fairen Stadt“ bis hin zu den
Hochschulen für nachhaltige Entwicklung: Alles ist Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung; alles findet sich in
diesem Bericht und gehört zum Konzept.

Eine Herausforderung will ich benennen. So typisch
es für Querschnittsthemen ist, dass sie überall durchde-
kliniert werden müssen, so liegt auch im Erfolg die Ge-
fahr. Denn wenn alles für BNE wichtig ist, dann müssen
wir aufpassen, dass bald nicht alles auch irgendwie
gleich unwichtig ist. Wenn wir sagen: „Bildung für nach-
haltige Entwicklung wird jetzt zum Qualitätskriterium
für gute Bildung überhaupt“, dann ist das richtig. Doch
passen wir auf, dass sich das Thema nicht auflöst – und
zwar nicht unbedingt in Wohlgefallen.

Deswegen drei Anmerkungen zum Bericht an dieser
Stelle von meiner Seite:

Erstens. Wenn wir in Zukunft mehr erreichen wollen,
dann dürfen wir uns nicht im Abstrakten der Konzepte
verlieren, sondern müssen aufpassen, dass wir nah bei
den Menschen bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wesentlich ist doch die innere Grundhaltung, mit der je-
weils geforscht wird, Inhalte entwickelt werden und un-
terrichtet wird. Ein „Nach mir die Sintflut“ darf es nicht
geben. Vielmehr müssen wir die Botschaft durchbuch-
stabieren, dass jede und jeder Einzelne von uns Verant-
wortung hat für die Zukunft unserer Welt und die Men-
schen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht um Aufklärung, um Bewusstsein und vor allem
um Haltung und Motivation zum Handeln.

Zweitens. Um diese Grundhaltung wirklich bei den
Menschen zu verankern, müssen wir voneinander wis-
sen. Internet, Facebook und Wikipedia ersetzen doch
nicht direkte Begegnungen, gemeinsame Erfahrungen
und Reflexion.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Programme wie ENSA für den Schüleraustausch, Ser-
vice-Lernen mit „weltwärts“, Exposure- und Dialog-
Programme oder der Senior Experten Service sind des-
halb so wichtig und müssen unbedingt ausgebaut wer-
den.

Drittens. Ich appelliere dringend, die erfolgreichen in-
ternationalen Projekte, die im Bericht genannt werden,
zum Beispiel bei der GIZ, weiterzuführen. Im neuen
Weltaktionsprogramm zu Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung sollten wir gerade bei der internationalen Zu-
sammenarbeit unseren Schwerpunkt setzen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Bildung für nachhaltige Entwicklung – das müssen wir
noch viel stärker im Dialog mit unseren Partnern im Sü-
den verankern. Unsere Partnerländer erwarten da auch
einen konsequenten Beitrag Deutschlands.

Dafür zum Schluss ein sehr konkretes und hoffentlich
anschauliches Beispiel: Cita Mabalylan ist eine philippi-
nische Bäuerin, die ich auf ihrer kleinen Farm auf Min-
danao besuchen durfte. Auf dem Weg zu ihr waren wir
kilometerlang durch riesige Ananasplantagen gefahren,
die direkt bis an ihre Erdnussfelder reichten. Doch sie
selbst wusste gar nicht, was sich da draußen abspielte:
wie sich die Landschaft verändert hat, was Del Monte al-
les auf die Felder spritzt und welche Gefahren für ihre
eigene Landwirtschaft da lauern. Die Autofahrt vom
Flughafen, die für uns das letzte Stück einer Anreise um
die halbe Welt gewesen war, war für unsere Gastgeberin
länger als alles, was sie bisher in ihrem Leben zurückge-
legt hatte. Kaanib, eine Partnerorganisation von Mise-
reor, entwickelte daraufhin für die Bauern ein Konzept
für nachhaltige Entwicklung. Der Unterricht begann mit
einer Fahrt über Land.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Der Bericht der Bundesregierung zeigt viele überzeu-





Dr. Claudia Lücking-Michel


(A) (C)



(D)(B)

gende Erfolge. Aber das Ende der Dekade darf nicht das
Ende unserer Anstrengungen sein. Bildung für nachhal-
tige Entwicklung ist wichtiger als je zuvor. Dabei müs-
sen wir in Zukunft verstärkt auf internationale Partner-
schaften und Perspektiven setzen. Das ist wichtiger als je
zuvor.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805510200

Als nächster Redner spricht Oliver Kaczmarek.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1805510300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte vier Anmerkun-
gen zu Impulsen politischer, insbesondere bildungspoli-
tischer Art machen, die ich der Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ entnehmen kann.

Erste Anmerkung. Vorbildliche Bildungsinitiativen
– Herr Staatssekretär Müller hat schon darauf hingewie-
sen – sind als Dekade-Projekte und Dekade-Maßnahmen
ausgezeichnet worden, und es sind Dekade-Kommunen
ausgezeichnet worden. Sie alle, im Übrigen auch die, die
nicht ausgezeichnet wurden, spiegeln den Reichtum des
bürgerschaftlichen Engagements in dem Themenfeld der
Bildung für nachhaltige Entwicklung wider. Sie haben
dazu beigetragen, dass das Anliegen der nachhaltigen
Entwicklung nicht in der Theorie verbleibt – ich erinnere
hier insbesondere an die Naturschutzverbände –, son-
dern konkret im Alltag erfahrbar wird. Deswegen stelle
ich an den Anfang den Dank für das ehrenamtliche En-
gagement in diesem Bereich.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der LINKEN)


Zweite Anmerkung. Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung soll Orientierung in globalen Krisen geben.
Globale Krisen, Klimawandel und andere Dinge, verun-
sichern die Menschen, weil deren Ursachen nicht in ih-
rem Alltagsraum zu finden sind. Im lokalen Maßstab
und im lokalen Bezugsraum kann deshalb auch Hand-
lungsspielraum aufgezeigt werden. Insofern soll Bildung
für nachhaltige Entwicklung auch Orientierung liefern,
soll Erklärungen liefern, soll zu Kritikfähigkeit anregen,
soll zu konstruktivem Denken und zu Alternativen anre-
gen. Deshalb: Bildung für nachhaltige Entwicklung trägt
so zur allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung und zur
kritischen Urteilsfähigkeit bei. Ich bin froh, dass diese
herausragenden Ziele unserer Bildungspolitik in diesem
Fall konsequent erreicht werden.


(Beifall bei der SPD)


Dritte Anmerkung. Der Abschluss der Dekade „Bil-
dung für nachhaltige Entwicklung“ liefert Erkenntnisse
und Herausforderungen, die wir bildungspolitisch nut-
zen können, und zwar im globalen wie auch im nationa-
len Maßstab. Was den globalen Maßstab angeht, möchte
ich darauf hinweisen, dass die Zielsetzungen auf dem
Agenda-21-Prozess beruhen. Dort ist im Kapitel 36 die
Notwendigkeit einer Neuausrichtung der Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung niedergelegt. Hier werden
ganz konkrete Ziele aufgeführt, von denen ich zwei be-
nennen will.

Dort ist als Ziel beschrieben, dass wir sicherstellen
wollen, dass weltweit mindestens 80 Prozent der Jungen
und mindestens 80 Prozent der Mädchen im Primar-
schulalter an Grunderziehung teilhaben. Ebenfalls ist
dort festgelegt, dass die Quote der Analphabeten welt-
weit um 50 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werden
muss. Das zeigt, dass es hier um ganz elementare Rechte
geht. Nach unserem Bildungsverständnis ist das Recht
auf Lesen und Schreiben, das Recht auf einen unge-
hinderten Schulbesuch für Jungen und Mädchen für
Deutschland und die deutsche Politik zentral und univer-
sal. Deshalb: Niemand darf vom Besuch der Schule aus-
geschlossen werden. Auch das lehrt uns diese Dekade.
Das bleibt eine herausragende Aufgabe für Deutschland
im globalen Maßstab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was den nationalen Maßstab angeht, so gibt es hier
einige Dinge, die wir aus der Durchführung der Projekte
ableiten können. Zwei möchte ich benennen. Die He-
rausforderung ist: Ja, der Analphabetismus, vor allem
der funktionale Analphabetismus, ist auch ein deutsches
Phänomen. Wir wissen: Es gibt 7,5 Millionen Betroffene
im erwerbsfähigen Alter. Und deswegen ist das, was wir
im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben, nämlich
eine nationale Alphabetisierungsdekade zu beginnen, die
richtige Antwort und ein gutes Zeichen. Wir sollten uns
auch in den anstehenden Haushaltsberatungen bemühen,
das auszugestalten und endlich damit anzufangen.


(Beifall bei der SPD)


Die zweite Herausforderung im nationalen Maßstab.
Gerade die Umsetzung zeigt – im Bericht der Bundesre-
gierung sind einige interessante Hinweise enthalten –,
dass wir in den Bildungseinrichtungen Zeit brauchen,
um Themen abseits des standardisierten Kanons, wie er
sich in Curricula, Kernlernplänen usw. niederschlägt,
einbeziehen zu können. Der Bericht der Bundesregie-
rung hält das auch fest und sagt vollkommen richtig:
Deshalb sind Ganztagsschulen ganz besonders wichtig
und ganz besonders geeignet. – Ich freue mich, dass der
Bericht der Bundesregierung zu Recht die Bedeutung
des Investitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Be-
treuung“ aus dem Jahr 2003 hervorhebt, mit dem über
8 000 Ganztagsschulen in Deutschland geschaffen wur-
den.


(Beifall bei der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Kluge Bundesregierung!)


– Ja. – Ganztagsschulen sind ein prägnantes Beispiel da-
für, wie Schulen Raum für mehr Lernen und mehr Leben
und damit auch für mehr Bildung schaffen. Deswegen
müssen wir auf dem Weg weitermachen: quantitativer
Ausbau, qualitativer Ausbau. Der Bund hat mit der Un-
terstützung der Begleitforschung die Möglichkeit, einen





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)

substanziellen Beitrag zu leisten, damit wir mehr über
Ganztagsschulen wissen. Das sollten wir angehen.


(Beifall bei der SPD)


Letzte Anmerkung. Man kann viel lernen aus der De-
kade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ für die Ge-
staltung von Bildungsprozessen – das ist die Zielsetzung –,
aber auch für Politikentwicklung. Beteiligungsorientie-
rung – viele Akteure sind einbezogen worden, vor allem
die ehrenamtlichen –, globale Probleme in Netzwerken
lokaler Art aufgreifen, Umsetzung in langen Zeiträumen
– nicht kurzatmig –, Dekadenorientierung, Interdiszipli-
narität: All das sind Dinge, die wir aus der Umsetzung
dieser Dekade lernen können. Wenn wir das tatsächlich
tun und es lernen, haben wir nicht nur etwas über nach-
haltige Bildung, sondern auch etwas über nachhaltige
Politik gelernt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805510400

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege

Matern von Marschall das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Matern von Marschall von Bieberstein (CDU):
Rede ID: ID1805510500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich freue mich, dass ich als Mitglied im Parla-
mentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung diese
Debatte heute abschließen darf.

Ich möchte, vielleicht durchaus im Einklang mit den
Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen, sagen:
Wir sind auf einem guten Weg. Es gibt eine Fülle von
Einzelinitiativen. Aber wir sind tatsächlich noch weit da-
von entfernt, nachhaltige Bildung – bis hinunter in die
Länder und Kommunen – systematisch zu etablieren.
Das wird eine Aufgabe für die Zukunft sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus – das sage ich als Europapolitiker –
brauchen wir nicht nur in Deutschland eine Nachhaltig-
keitsstrategie, zu der auch Bildung zählt. Wir brauchen
sie insbesondere auf europäischer Ebene. Wir müssen in
Europa eine gemeinsame Strategie zur Nachhaltigkeit
überhaupt erst einmal entwickeln. Daran werden wir im
Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit arbeiten,
und zwar schon in Kürze.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Einzelinitiativen vor Ort, die sehr viel mit unmit-
telbarer Erfahrung zu tun haben, ohne die so etwas gar
nicht funktionieren kann, sind unglaublich wichtig.
Wenn ich die jungen Menschen, wie wir sie hier heute
als Zuhörer haben, sehe, dann stelle ich mir eine Schul-
klasse vor, die eine Streuobstwiese pflegt und später dort
Äpfel ernten kann. Wenn man so etwas macht, weiß
man, dass man Ressourcen schont, dass man Natur
schont und dass man aber auch ein Wirtschaftsgut er-
zeugt hat. Das sind viele Einzelbeispiele für das, was
Nachhaltigkeit ist.

Auf der Tribüne sehe ich auch viele Leute, die schöne
T-Shirts tragen. Viele Menschen müssen heute aber erst
einmal lernen, zu verstehen: Wo kommt das T-Shirt
überhaupt her? Unter welchen Bedingungen ist es produ-
ziert worden? Was hat die Näherin bekommen? Was hat
der Handel bekommen? Was bekommt eigentlich der,
der das Label draufdruckt? Das sind ganz wichtige Fra-
gen. Diese Fragen müssen in der Bildung zur nachhalti-
gen Entwicklung gestellt und beantwortet werden. Denn
nur dadurch lernt der Einzelne, persönlich Verantwor-
tung zu übernehmen. Das ist von wesentlicher Bedeu-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte auch sagen, dass der Begriff der Nachhal-
tigkeit ein Konzept beschreibt, das vielleicht nicht über-
all das Gleiche ist. Darüber müssen wir sprechen, insbe-
sondere auch mit Blick auf Europa. Ob „durabilité“ und
„Nachhaltigkeit“ tatsächlich dasselbe Konzept beschrei-
ben, wird erst herauszufinden sein. Ich könnte mir vor-
stellen und wünsche mir, dass „Nachhaltigkeit“, viel-
leicht ähnlich wie „Kindergarten“, ein Lehnwort in
anderen europäischen Sprachen wird. Darüber würde ich
mich sehr freuen.

Ich komme aus Freiburg. Dort planen wir einen ober-
rheinischen Hochschulverbund mit dem Elsass in Frank-
reich und der Schweiz. Das ist ein europäisches Projekt.
Herr Staatssekretär, ich meine, dass Forschung über das
Thema Nachhaltigkeit von größter Bedeutung ist. Viel-
leicht könnte ein Leistungszentrum für die Forschung
über Nachhaltigkeit bei uns in Freiburg aufgebaut wer-
den.

Ich komme auf die europäische Ebene zurück. Der
Parlamentarische Beirat wird in Kürze nach Brüssel rei-
sen. Wir werden den Kommissionspräsidenten Jean-
Claude Juncker daran erinnern, dass er im vergangenen
Jahr, als Kofi Annan von Bertelsmann den Preis für
Nachhaltigkeit erhielt, bei seiner Laudatio Folgendes ge-
sagt hat – ich zitiere es jetzt –:

Die schönste … Definition von Nachhaltigkeit …
bringt uns nicht weiter, wenn wir Nachhaltigkeit
nicht auch politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich
und … persönlich umsetzen. … Europa muss bei
diesem Prozess voranschreiten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Aussage wollen wir Herrn Juncker bestäti-
gen. Wir wollen ihn aber auch herausfordern. Das wird
die Aufgabe sein, die sich der Parlamentarische Beirat
für Nachhaltigkeit in diesem Bereich gestellt hat. Das ist
ganz wichtig, weil wir in Europa, auch und gerade in
Zeiten von Krieg und Terror, das Prinzip der Nachhaltig-
keit, welches auch ein Prinzip von Kooperation und





Matern von Marschall


(A) (C)



(D)(B)

Friedlichkeit ist, besonders ernstnehmen müssen und es
nicht hinter all die anderen aktuellen, wichtigen und dra-
matischen Aufgaben hintanstellen dürfen. Denn nur
dann haben wir die Möglichkeit, unseren Kindern und
Enkelkindern eine Welt zu hinterlassen, in der auch sie
die Chance auf ein gelingendes Leben haben.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805510600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung auf Drucksa-
che 17/14325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stop-
pen – Für neue Verhandlungen ohne Druck
und Fristen
Drucksache 18/2603

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen – Soziale Ungleichheit weltweit über-
winden
Drucksachen 18/1328, 18/1916

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verhandlungen über die Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen – Neustart ohne Drohun-
gen und Fristen
Drucksachen 18/1615, 18/2073

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.

Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin Heike Hänsel das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805510700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir besprechen heute als letzten Tagesordnungspunkt
dieser Woche die großen Zukunftsfragen der Welt und
damit eigentlich die wichtigsten Fragen – leider ganz am
Ende der Sitzungswoche. Es geht um globale Ziele, die
sich die Weltgemeinschaft ab 2015 gemeinsam stecken
will, die sogenannten nachhaltigen Entwicklungsziele,
auf Englisch: Sustainable Development Goals, allge-
mein abgekürzt als SDGs. Das sage ich für die Gäste,
weil ich mir sicher bin, dass viele noch nicht davon ge-
hört haben.

Ein erster Entwurf dieser Ziele wurde im Rahmen der
UN-Generalversammlung vorgestellt, die zurzeit tagt. Es
geht um 17 nachhaltige Entwicklungsziele. Ganz oben
steht natürlich das Ziel, die Armut zu überwinden. Wir
müssen die weltweiten Ressourcen schonen, den Klima-
schutz vorantreiben und die weltweite Ungleichheit be-
kämpfen. Es geht um Zielvorgaben, die für die Länder
des Südens, aber genauso für die Industrieländer gelten
sollen.

Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, noch vor
der Sommerpause, also schon vor einigen Monaten, weil
wir über dieses Thema hier im Parlament diskutieren
wollten. Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, ist
die Frage der Partizipation, der Beteiligung. Alle waren
sich einig – es gab viele Verlautbarungen der Regierun-
gen –: Ja, wir wollen eine ganz breite Beteiligung, weil
es um die Entwicklung unserer Gesellschaften geht. –
Ich muss sagen: Wir haben jetzt zwar Ziele vorgelegt be-
kommen, es kommt auch zu einer Beteiligung; aber
wenn ich hier fragen würde, wer schon einmal von den
Entwicklungszielen gehört hat, dann würde ich vermut-
lich erfahren, dass es die wenigsten sind. Das ist ein gro-
ßer Kritikpunkt. Wenn wir über so wichtige Fragen dis-
kutieren, braucht es viel breitere Diskussionsprozesse
und eine ernsthafte Beteiligung der Zivilgesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben vorgeschlagen, mit dem Thema in die
Schulen, in die Universitäten und in die Kommunen zu
gehen. All das wäre wichtig, um einen breiten Diskus-
sionsprozess anzustoßen; denn alle Menschen sind da-
von betroffen. Es geht um ihren Lebensstil, darum, was
sie konsumieren. All das sind wichtige Fragen; wir dis-
kutieren sie mit Schulklassen. Aber es ist doch wichtig,
die Beteiligung auch institutionell zu verankern. Ich
hätte mir von der Bundesregierung gewünscht, dass sie
einen viel breiteren Prozess anstößt, dass sie die Diskus-
sion nicht auf der Ebene der NGOs, der Nichtregierungs-
organisationen, belässt – NGOs sind wichtig, aber es
sind spezielle Gruppen –, sondern das Thema mehr in
die Öffentlichkeit trägt. Ich denke, da muss man mehr
machen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriela Heinrich [SPD])


Uns geht es, wenn ich mir die Ziele anschaue, vor al-
lem um die Frage der sozialen Ungleichheit; das ist die





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

größte Herausforderung. Wir kennen zum Teil die Zah-
len; ich will eine nennen: Die 85 reichsten Personen
weltweit besitzen ungefähr so viel wie die Hälfte der
Weltbevölkerung. Ich denke, diese Zahl spricht für sich.
Deshalb ist unsere große Forderung: Wir müssen den
Kampf gegen die soziale Ungleichheit weltweit und
auch in unserer eigenen Gesellschaft an die erste Stelle
setzen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt einen weiteren Punkt, der mich wundert. Die
vorherigen Ziele, die 2015 auslaufenden Millenniums-
entwicklungsziele, befassten sich auch mit dem Thema
Frieden. Dies wird in den neuen Zielen kaum themati-
siert. Wir sehen doch weltweit die Kriege und Krisen;
wir wissen ja gar nicht mehr, auf welche Kriegsregion
wir zuerst schauen sollen. Deshalb hatten wir von An-
fang an gefordert: Die Friedenspolitik muss in die Ent-
wicklungsziele aufgenommen werden. Frieden und Ent-
wicklung sind zwei Seiten einer Medaille.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ganz konkret haben wir gesagt: Es muss um Rüstungs-
export, aber auch um Abrüstung gehen. Weltweit werden
1,2 Billionen Euro für Rüstung ausgegeben. Diese kön-
nen wir doch in Ausgaben für Entwicklung umwidmen.
Das ist doch die zentrale Herausforderung. Wir brauchen
das Geld für Entwicklung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben noch einen zweiten Antrag eingebracht,
den wir gemeinsam mit den Grünen verfasst haben, was
ich sehr begrüße. Wir haben ihn vorgelegt, weil nächste
Woche, am 1. Oktober, eine Deadline der Europäischen
Union endet. Es geht um Handelsfragen, die eine zen-
trale Rolle spielen, wenn es um die Bekämpfung sozialer
Ungleichheiten geht.

Viele Menschen engagieren sich momentan sehr da-
für, dass das TTIP, das Freihandelsabkommen mit den
USA, nicht zustande kommt. Es gibt aber auch andere
Wirtschaftsabkommen mit den Ländern des Südens, vor
allem mit den afrikanischen Ländern. Die afrikanischen
Länder haben sich zwölf Jahre gegen das Ansinnen der
Europäischen Union gewehrt, Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen abzuschließen, da dies für sie große Verände-
rungen zur Folge hätte: die Öffnung und Liberalisierung
ihrer Märkte, gleicher Zugang von EU und afrikanischen
Ländern. All das bedroht massiv die Existenz von Klein-
bauern und viele Arbeitsplätze. Deswegen haben wir
von Anfang an gesagt: Wir wollen diese Form der Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen nicht. Wir wollen neue
Mandate, durch die die selbstbestimmte Entwicklung in
den Ländern gestärkt wird.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der nächsten Woche, am 1. Oktober, läuft die
Deadline der EU ab. Die EU hat den verschiedenen afri-
kanischen Ländergruppen gesagt: Wer bis dahin nicht
unterzeichnet hat, für den fällt der zollfreie Zugang zu
den Märkten weg. Das betrifft einige Länder, die sich in
den letzten Jahren viel aufgebaut haben; konkret ist Ke-
nia zu nennen. Sie gelten in der EU als Mitteleinkom-
mensländer. Falls sie die Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen nicht unterschreiben, fällt ab dem 1. Oktober
der zollfreie Zugang zu den Märkten weg. Das ist reine
EU-Erpressungspolitik, und die lehnen wir ab.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern, dass der freie Zugang zu den Märkten über
den 1. Oktober hinaus aufrechterhalten wird.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass es in
Kenia um 500 000 Arbeitsplätze im Blumensektor geht,
die konkret betroffen wären, wenn Zölle auf den Export
von Blumen erhoben würden. In erster Linie würde das
viele Fairtrade-Blumen betreffen. Diese Strukturen wur-
den unter anderem durch deutsche Entwicklungsgelder
aufgebaut. Wir können als Entwicklungspolitiker doch
nicht unterstützen, dass die EU diese Länder erpresst
und dass Projekte, die mit deutschen bzw. EU-Entwick-
lungsgeldern aufgebaut wurden, in ihrer Existenz be-
droht werden. Ich bitte die Bundesregierung: Setzen Sie
sich dafür ein, dass der zollfreie Zugang für all diese
Produkte aus Kenia über den 1. Oktober hinaus erhalten
bleibt.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805510800

Als nächster Redner spricht Tobias Zech.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Tobias Zech (CSU):
Rede ID: ID1805510900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kon-

struktive Kritik ist gut. Sie bewirkt nämlich, dass man
sich mit einer Problemstellung intensiv befasst, Vor- und
Nachteile untersucht und Lösungsansätze findet. Im Pro-
zess, der sich mit den Millenniumentwicklungszielen be-
fasst, wird genau das gemacht.

Blicken wir zurück: Bei dem Treffen im Jahr 2000
konnten sich hochrangige Vertreter von 189 Ländern auf
acht internationale Entwicklungsziele einigen. Das ist
ein erster Erfolg, wenn man überlegt, wie divers die
Staatenwelt ist. Die Einfachheit, die Praktikabilität und
die Fokussierung des Katalogs machte es den Staats- und
Regierungschefs möglich, sich mit den entsprechenden
Themen auseinanderzusetzen. Heute, kurz vor Ablauf
der Frist, können wir einige Erfolge verzeichnen: Der
Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen an der
Weltbevölkerung hat sich halbiert. Nur noch 14,9 Pro-
zent statt 23,2 Prozent der Menschen sind unterernährt.
Wir konnten den Anteil der Müttersterblichkeit radikal
senken. Immer mehr Kinder haben die Möglichkeit, eine
ordentliche Grundschulausbildung zu erhalten. – Trotz
dieser beachtlichen Erfolge bestehen weiterhin zahlrei-





Tobias Zech


(A) (C)



(D)(B)

che Herausforderungen. Die MDGs werden bis 2015
nicht erfüllt sein.

Wir bzw. die Staatengemeinschaft haben konstruktive
Kritik geübt. Das neue internationale Rahmenwerk soll
drei maßgebliche Neuausrichtungen beinhalten: Erstens.
Es soll eine universelle Gültigkeit beinhalten, das heißt,
dass sich nicht nur der Süden, sondern auch der Norden
anpassen muss. Zweitens. Globale Partnerschaften be-
deuten auch, als gleichberechtigte Partner aufzutreten; es
ist eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Drittens. Da wir in
einer Welt leben, ist die Entscheidung, die Beschlüsse
des Rio+20-Gipfels in den Post-MDG-Prozess zu integ-
rieren, wegweisend. Das ist notwendig, um sich den He-
rausforderungen stellen zu können. Ich begrüße, dass die
Themen soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltig-
keit, ökonomische Entwicklung, gute Regierungsführung
sowie Friedens- und Sicherheitsfragen aufgenommen
wurden; denn das sind wichtige Rahmenbedingungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit dem im Februar veröffentlichten Eckpunktepa-
pier unterstreicht die Bundesregierung ihr Engagement
und setzt vier Schwerpunkte. Auch der Mitte Juli veröf-
fentlichte Entwurf der international besetzten offenen Ar-
beitsgruppe, in der Staatsministerin Professor Dr. Maria
Böhmer Deutschland vertritt, schließt sich dieser Rich-
tung an.

Noch einmal: Der Post-MDG-Prozess ist ein erfolg-
reicher Prozess. Er beleuchtet kritisch den bestehenden
Zielkatalog und plädiert für einen Paradigmenwechsel.
In der Verknüpfung der beiden Prozesse liegt eine große
Chance: Nachhaltige Entwicklung kann wirksamer als
bisher vorangetrieben und umgesetzt werden.

Von konstruktiver Kritik kann man bei dem Antrag
der Linken leider nicht komplett sprechen, Frau Hänsel.
Ich sehe in manchen Punkten eher ein bloßes Querschie-
ßen. Man merkt die Zerrissenheit in Ihrer Fraktion beim
Thema Entwicklungspolitik. Eine konkludente Linie
kann ich nicht erkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen klarmachen:

Sie fordern zum einen die Aufgabe des unilateralen
Good-Governance-Konzeptes. An einem Punkt haben
Sie ja recht: Das Ideal wäre die Rechtfertigung durch das
eigene Volk. Wir erleben aber immer öfter Staaten – let’s
face reality –, in denen Korruption eben nicht nur in Tei-
len der Regierung bzw. der Administration eine Rolle
spielt, sondern in denen sich Regierung und Administra-
tion quasi nur durch Korruption am Leben halten.
Schauen Sie einmal in die Ukraine.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Venezuela! Kuba! Bolivien! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Schauen Sie sich einmal Siemens in Griechenland an!)

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ukraine hat
sich in den letzten 15 Jahren entwickelt. Unser Ziel eines
Good Governance ist für die Menschen vor Ort eine not-
wendige Voraussetzung, um Rechtsstaatlichkeit zu
schaffen. Mit Rechtsstaatlichkeit wird Sicherheit ge-
schaffen; diesbezüglich widersprechen Sie sich in Ihrem
Antrag. Mit Rechtsstaatlichkeit wird für den Schutz von
Minderheiten gesorgt, auch für den Schutz von Frauen-
rechten, den Sie fordern. Somit ist Good Governance für
uns nicht nur etwas, was auf den Prüfstand zu stellen ist.
Good Governance ist für uns viel mehr. Ich halte Good
Governance für einen ganz wichtigen Punkt in unserer
Entwicklungsarbeit. Es geht um Fördern und Fordern,
wie in Afghanistan; das BMZ und Minister Müller ma-
chen es uns vor. Ich denke, diesbezüglich sind wir auf
dem richtigen Weg. Das sollten wir auf jeden Fall nicht
aufgeben.

Sie fordern zum anderen die Entmilitarisierung der
internationalen Politik und der Entwicklungspolitik.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!)


Schauen wir uns die Weltlage an: Boko Haram in Afrika
und ISIS. Angesichts dessen ist es schon sehr zynisch,
hier an einem Freitagnachmittag zu sagen: Passt mal auf,
wir liefern euch Hygieneartikel, Medikamente und etwas
zu essen. Dann seid ihr, wenn die ISIS kommt, wenigs-
tens satt und gesund, bevor sie euch erschießen. – Das ist
zynisch. Das ist keine Entwicklungspolitik.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht denn das bitte? Nennen Sie doch mal die Quelle! Wo steht das? Wo haben Sie die Informationen her? Ein bisschen mehr Sachlichkeit!)


– Herr Kekeritz, bitte?


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo steht das? Wo haben Sie die Informationen her?)


– Welche Informationen?


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Zitat, das Sie gerade bringen!)


– Das ist von mir. Herr Kekeritz, das Zitat ist von mir.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also kritisieren Sie sich selber!)


– Nein, ich kritisiere die Entmilitarisierung der Entwick-
lungspolitik.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist sehr abenteuerlich!)


Das wird nicht funktionieren. Herr Kekeritz, Sie müssen
erst Sicherheit haben. Ohne Sicherheit können Sie keine
Entwicklungspolitik machen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es!)


Deswegen ist die Forderung nach einer kompletten Ent-
militarisierung nicht realistisch. Das wird nicht funktio-





Tobias Zech


(A) (C)



(D)(B)

nieren. Sie müssen natürlich auch militärisch Sicherheit
herstellen können. Sie müssen die Menschen schützen
können. Danach können Sie Entwicklungspolitik betrei-
ben. Das wollte ich sagen. Ich denke, diesbezüglich soll-
ten wir letztlich einer Meinung sein.

Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, die Ab-
schaffung von Warentermingeschäften. Auch hierzu gibt
es unterschiedliche Meinungen. Ich denke, dass wir uns
hinsichtlich der Warentermingeschäfte in einem Punkt
einig sind: Wir müssen sie regulieren und überwachen.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch mal!)


Wir haben aber auch festgestellt, dass Warenterminge-
schäfte eine Absicherung sind. Das wird deutlich, wenn
Sie sich jetzt die Situation infolge der Ebolakatastrophe
in Afrika anschauen. Das gilt aber auch für Naturkata-
strophen und schlechte Ernten. Warentermingeschäfte
sind eine Absicherung nicht nur für die Anbauer, son-
dern auch für die Weiterverarbeiter, für alle, die an der
Wertschöpfung beteiligt sind, und für die Konsumenten.

Zum letzten Punkt: Öffentlichkeit und die Kommuni-
kation des Postagendaprozesses. Wir haben die von
Minister Müller angestoßene „Zukunftscharta EINE-
WELT – Unsere Verantwortung“. Das ist, glaube ich, ein
sehr gutes Kommunikationstool. Das Projekt verankert
bei jedem Einzelnen das Bewusstsein, dass man für die
Zukunft der Welt mitverantwortlich ist. Angefangen als
Vision haben zahlreiche Menschen die Aufforderung an-
genommen, und wir haben auch schon mehrere Kommu-
nikationsprozesse gestartet und Dialoge begonnen. Das
BMZ spricht sich mit diesem Projekt für starke Multiak-
teurspartnerschaften zwischen Regierungen, Zivilgesell-
schaft, Wissenschaft und Privatwirtschaft aus, oder wie
auf einer der eingeschickten sogenannten Zukunftspost-
karten steht: Jeder ist Entwicklungshelfer.

Natürlich kann es immer mehr sein. Daher lautet
meine Aufforderung an alle, jetzt die erste schriftliche
Zusammenfassung des bisherigen Dialogs zur Zukunfts-
charta zu kommentieren. Auf einer der sogenannten Zu-
kunftspostkarten, die an das BMZ im Rahmen des Projekts
Zukunftscharta gesendet wurden, zitiert der Absender
den Autor Stefan Zweig:

Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele
kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt
verändern.

Das zeigt besonders schön: Die Debatte ist in der Öffent-
lichkeit angekommen, und – das ist noch wichtiger – das
Bewusstsein, selbst etwas zu tun, selbst etwas zu den
SDGs beizutragen, besteht bereits in zahlreichen Köp-
fen.

Partnerschaften zwischen zivilgesellschaftlichen Ak-
teuren und das Engagement Einzelner können Verände-
rungen schaffen. Aber auch hier, im Post-2015-Prozess,
gilt: In erster Linie ist es Aufgabe der Staaten bzw. der
Staatengemeinschaft, menschenwürdige Lebensbedin-
gungen zu schaffen und globale öffentliche Güter zu
schützen. Mit dem nächsten Rahmenwerk muss die Staa-
tengemeinschaft dazu verpflichtet werden, sich der drei
großen Herausforderungen Klimaschutz, Welternährung
und Frieden anzunehmen. Das ist eine Chance, eine
Chance, die wir nicht verspielen sollten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805511000

Als nächster Redner spricht Uwe Kekeritz.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805511100

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Zech, Franz Josef Strauß konnte das definitiv bes-
ser. In der Rhetorik hat er ganz oft eines gemacht: Er hat
sich selbst ganz dumme Argumente zusammengebastelt,
dann hat er sie dem politischen Gegner zugeordnet, und
dann war die Widerlegung dieses Arguments einfach
souverän.


(Tobias Zech [CDU/CSU]: Haben Sie denn den Antrag gelesen, Herr Kekeritz?)


Wir erinnern uns an die Argumentation von 1980, Franz
Josef Strauß gegen Helmut Schmidt: Wer glaubt, dass
der Strom aus der Steckdose kommt, der soll SPD und
FDP wählen. Wer glaubt, dass die Russen uns besser be-
schützen als die Amerikaner, der soll SPD und FDP
wählen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Das war 1980. Über solch eine Rhetorik sollten wir in
diesem Hause hinwegkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Tobias Zech [CDU/CSU]: Dann sollten Sie auch den Antrag lesen, Herr Kekeritz!)


Frau Hänsel hat schon sehr viel zum Thema SDG ge-
sagt. Wir haben hier ein ganz gravierendes Problem. Die
Industrienationen haben nicht kapiert, dass die SDGs
selbstverständlich auch für sie selbst gelten, also auch
für Deutschland. Wenn sich die ökonomisch starken
Nationen nicht endlich wesentlich engagierter für eine
nachhaltige, sozial gerechte und friedenspolitisch aus-
gleichende Entwicklung einsetzen, werden wir weiter
dazu beitragen, Armut in der Welt zu verbreiten, Länder
zu destabilisieren, das Klima zu schädigen und Kriege
zu fördern. Darum lautet meine Frage an die gesamte
Regierung, aber insbesondere an das Entwicklungsmi-
nisterium: Wann fängt das Entwicklungsministerium
endlich an, die Öffentlichkeit über diesen Prozess zu in-
formieren? Wir brauchen eine breite Beteiligung; sonst
wird das nichts. Mein Eindruck ist, dass Sie das Thema
am liebsten totschweigen würden. Irgendwann ist das
Jahr 2015 vorbei, und dann schläft alles ein.

Wir müssen hier in Europa, in Deutschland unsere
Verhältnisse ändern, um die Lage der Menschen in den
Entwicklungsländern zu verbessern. Wir leben hier nicht
auf einer Insel. Es geht ums Ganze: Es geht um den Glo-
bus, und es geht darum, global zu denken. Sie glauben es





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)

nicht: Es geht auch darum, endlich konsequent national
zu handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir brauchen eine andere Landwirtschafts- und Klima-
politik, eine ehrliche Menschenrechts- und Friedenspoli-
tik sowie neue globale Finanzstrukturen. Wir brauchen
natürlich auch eine bewusste und fortschrittliche Ener-
giepolitik, deren Ziel nicht sein darf, die Entwicklung
der erneuerbaren Energien zu bremsen. Darauf sind Sie
spezialisiert. Wir brauchen aber auch eine ganz andere
Handelspolitik; denn unsere Handelspolitik behindert
schon seit vielen Jahren die Entwicklung von Entwick-
lungsländern. Das gilt in einem ganz besonderen Maße
natürlich auch für die EPAs, die Abkommen zwischen
Europa und den afrikanischen Ländern.

Früher ist Europa noch davon ausgegangen, dass man
den afrikanischen Ländern einen begünstigten Zugang
zum europäischen Markt gewähren muss. Man sagte da-
mals: Das hilft ihnen bei ihrer Entwicklung. Diese Über-
zeugung hat Europa verloren. Man sagt jetzt: Diese Pri-
vilegien sollen nur noch die allerärmsten Länder haben.
Die bereits entwickelten Länder – auch die nur ein biss-
chen entwickelten Länder – sollen sie nicht mehr haben.
Für die EU bleibt alles beim Alten; für die Entwick-
lungsländer in Afrika soll sich allerdings vieles ändern.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Wird ja auch Zeit!)


Sie sollen vor allen Dingen auf Import- und Exportsteu-
ern verzichten. Der Markt soll liberalisiert und weitge-
hend privatisiert werden, und er soll sich für unsere In-
dustrieprodukte völlig öffnen. Die afrikanischen Länder
haben sich zu Recht, wie Frau Hänsel ausgeführt hat,
zwölf Jahre lang dagegen gewehrt. Stärke hat auch die-
sen Widerstand gebrochen. Die Position der EU war:
Entweder ihr unterschreibt, oder ihr verliert eure Privile-
gien auf dem europäischen Markt. – Das ist nichts ande-
res als knallharte Erpressung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sauerei!)


Die Länder sind nun einmal von den Exporten finanziell
abhängig. Die Blumen in Kenia wurden genannt; es geht
aber natürlich auch um Bananen und andere Sachen. Die
Europäische Union hat mit ihrer Politik einen enormen
politischen Druck aufgebaut, und schließlich haben die
Länder kapituliert.

Letztlich kommt der Vertrag auch einem Deindustria-
lisierungsprogramm gleich. In einigen afrikanischen
Ländern gibt es so etwas wie eine positive kleine Indust-
rialisierung. Ab jetzt müssen sich die Produkte, die in
Afrika produziert werden, mit den europäischen Produk-
ten messen. Sie stehen in Konkurrenz zueinander, und
ich kann Ihnen sagen, wie das Spiel ausgehen wird: Die
afrikanischen Produkte haben keine Chance gegen die
europäischen. Es muss jedem von uns klar sein: Ein klei-
ner Betrieb, der sich dort entwickelt, enthält immer auch
einen Keim für eine positive Entwicklung. Dieser Ver-
trag greift diesen Keim ganz enorm an.

Unter diesem Aspekt wird natürlich deutlich, warum
die Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit so negativ
gesehen wird. Herr Silberhorn, vielleicht sagen Sie das
auch Ihrem Minister: Die Öffentlichkeit ist immer mehr
der Ansicht, dass die Entwicklungspolitik nur eine Alibi-
funktion übernimmt.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Was für ein Quatsch! Genau das Gegenteil ist der Fall, Herr Kollege!)


– Das ist doch nicht wahr.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Daran haben wir doch gemeinsam gearbeitet!)


Das weiß zum Beispiel auch die EU, die einen Ausgleich
für den Verlust der Exportsteuer leistet: 5 Milliarden
Euro sollen innerhalb von fünf Jahren gezahlt werden.
Das ist nichts anderes als eine Subventionierung der Im-
portindustrie hier in Europa. Der deutsche Steuerzahler
– auch der europäische – wird quasi zum Subventionie-
rer der Importeure von afrikanischen Rohstoffen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!)


Das ist nicht haltbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805511200

Lieber Herr Kollege, da Sie auf das Warnlicht nicht

reagieren, muss ich Sie ermahnen, zum Schluss zu kom-
men.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Das reicht auch!)



Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1805511300

Ich bin gleich am Schluss. – Wir stellen uns deswegen

ganz konkret gegen die EPAs und fordern von der EU,
dass diese Verhandlungen gestoppt werden. Das ist der
Auftrag an die deutsche Regierung, sich dafür einzuset-
zen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805511400

Als nächste Rednerin spricht Dr. Bärbel Kofler.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1805511500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir debattieren heute zwei Themen von großer Be-
deutung; das ist schon angesprochen worden. Ich möchte
mich den Worten der ersten Rednerin anschließen: Beide
Themen wären es wert, ausführlicher debattiert zu wer-





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

den und dafür mehr Raum in diesem Haus und vielleicht
auch eine andere Zeit zu finden.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte mich vorrangig auf das Thema Sustaina-
ble Development Goals, auf die Nachhaltigkeitsziele,
konzentrieren. Der Kollege Sascha Raabe wird später
noch zu den EPAs, den Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men, Stellung nehmen.

Es ist angesprochen worden – das finde ich an dieser
Stelle besonders wichtig –, dass es bei den Nachhaltig-
keitszielen um universelle Ziele geht. Ich glaube, das
müssen wir alle uns klarmachen, in der Politik, aber auch
in der Gesellschaft. Anders als bei den Entwicklungszie-
len geht es nicht darum, was sich alles in den Entwick-
lungsländern verändern muss, sondern darum, wie wir
unser Verhalten ändern müssen, um weltweit armutsbe-
kämpfend, armutsreduzierend und entwicklungsfördernd
zu sein. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Darum,
glaube ich, müssen wir ringen.

Vorgestern wurde von der UN-Generalversammlung
ein erster Entwurf vorgelegt, der 17 Hauptziele und
169 Unterziele enthält. Auf einige dieser, wie ich finde,
sehr spannenden Ziele möchte ich noch eingehen. Ich
glaube aber, dass es jetzt unsere politische Aufgabe ist,
diese Ziele zu bewerten und herauszufinden, was wir als
Deutscher Bundestag, als Parlamentarier voranbringen
wollen. Welche Ziele wollen wir in dem politischen Pro-
zess, der sich in einem Jahr anschließt, als unsere wich-
tigsten Ziele zur Veränderung der Weltgemeinschaft an-
sehen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dafür brauchen wir auch weltweit Verbündete. Darüber
entscheidet ja nicht allein der Bundestag, darüber ent-
scheiden nicht allein wir in Deutschland, sondern da-
rüber entscheiden wir gemeinsam mit den anderen Euro-
päern; denn Europa spricht auf Ebene der UN mit einer
Stimme. Wir brauchen also die anderen europäischen
Partner. Wir brauchen aber auch Verbündete aus den
Ländern des Südens; denn die Ziele, die mir persönlich,
meiner Fraktion oder uns gemeinsam wichtig sind, sind
keineswegs auf der ganzen Welt als besonders wichtige
Ziele anerkannt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dafür müssen wir kämpfen. Darum muss es gehen.

Ich möchte ein Ziel aus dem Entwurf herausgreifen,
das Ziel 8 „Nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigung
und menschenwürdige Arbeit“. Dabei geht es darum,
was wir verändern, darum, dass wir überlegen, was wir
dazu beitragen wollen. Das ist durchaus auch eine Frage,
die den Handel betrifft. Dazu passt das Thema EPAs, das
Sascha Raabe noch ansprechen wird. Es geht darum, wie
wir Lieferketten gestalten, wie wir verbindliche Regeln
aufstellen, wie Arbeitsbedingungen bei uns gestaltet
sind. Aber es geht natürlich auch darum, dass andere
Länder zu einem Arbeitsrecht kommen, das Menschen-
rechtsverletzungen gar nicht erst ermöglicht. Es sind
weltweite Prozesse, mit denen wir zur Stärkung der Ar-
beitsrechte der Menschen beitragen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil ich sehr wohl glaube, dass Entwicklungspolitik
dazu einen Beitrag leisten kann und soll, werden wir als
Koalitionsfraktionen in der nächsten Sitzungswoche ei-
nen Antrag zum Thema „Gute Arbeit weltweit“ vorle-
gen. Ich glaube, es ist ein guter Antrag, der einen ersten
Aufschlag zu diesem wichtigen Thema darstellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden uns im Rahmen der SDGs auch mit der
Unterschiedlichkeit der Nationen beschäftigen müssen;
das ist wichtig, um alle Länder ins Boot zu holen. Das
Ziel 10 schlägt vor, sich mit dem Thema „Ungleichheit
zwischen den Ländern“ auseinanderzusetzen. Das hat
auch viel mit Fragen der Sicherheit und des Friedens zu
tun. Auf der einen Seite geht es darum, wie man bei fra-
gilen Staaten überhaupt Staatlichkeit aufbauen, zivile
Prozesse fördern, Verwaltungen aufbauen und zu einem
Mindestmaß an Sicherheit beitragen kann, zum Beispiel
im Sinne von Polizeiaufbau, aber auch im Sinne von
Korruptionsbekämpfung, wenn es um die Frage der Ge-
hälter von Sicherheitskräften geht. Auf der anderen Seite
müssen wir unser Verhalten anschauen und uns fragen:
Wofür sind wir denn verantwortlich? Das Stichwort
„Klima“ ist an der Stelle sicher ein ganz entscheidender
Punkt. Welche gewachsene historische Verantwortung
haben wir für die Länder des Südens? Diese können für
viele Veränderungen schlicht nichts. Dafür sind wir ver-
antwortlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Besonders wichtig bei diesem Ziel, die Ungleichheit
zwischen den Ländern zu verringern, finde ich einen Un-
terpunkt, den wir uns einmal genau anschauen müssen.
Da geht es um die Regulierung der Finanzmärkte, ein
ganz spannendes Thema. Wie bekommt man Zugang zu
vernünftigem Kapital, um Investitionen voranzubringen?
Wie verhindert man das, was wir in den letzten Jahren
mit einer Krise nach der anderen erlebt haben? Das hat
sich ja besonders auf die Entwicklungsländer ausge-
wirkt. Machen wir uns nichts vor! Für diese Länder ist
die Möglichkeit, sich zu refinanzieren, massiv zurückge-
gangen. Das sind doch ganz entscheidende Punkte, die
hier zu diskutieren sind. Dafür müssen wir in der Welt-
gemeinschaft um Verbündete werben. Darum geht es,
glaube ich, in dem Prozess im nächsten Jahr, in dem wir
einiges voranbringen wollen.

Im November wird der sogenannte Synthesebericht
der UN erscheinen, in dem die Zielvorgaben, die ich ge-
rade angesprochen habe, mit den Finanzfragen – dazu
hat sich auch eine Expertengruppe gebildet – in einem
Bericht zusammengeführt werden. Auf der Basis dieses
Berichts werden wir gemeinsam einen Antrag formulie-
ren, der einen Beitrag dazu leisten soll, klare politische





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

Vorgaben zu machen, was die deutsche Regierung unse-
rer Ansicht nach in diesem Prozess tun soll.

Ich möchte noch etwas sagen. Ich erkenne in dem An-
trag der Linken viele überlegenswerte und spannende
Forderungen. Aber es geht um den SDG-Prozess und
– mit Verlaub – nicht um ein Ich-wünsch-mir-was-Kon-
zert. Auch ich kann mir viele Dinge vorstellen, die Sie
angesprochen haben und die richtig und gut sind. Aber
in diesen ohnehin schon schwierigen Prozess auch noch
die Forderung nach einer Reform der UN und anderer
Institutionen zu integrieren, überfrachtet diesen Prozess;
es tut mir wirklich leid, das so zu sagen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich sehe, ich muss zum Ende meiner Rede kommen. –
Es fehlt bei diesem Prozess einiges. Es geht um Umset-
zungspläne. Es geht um Überprüfungsmechanismen. Es
geht auch um die Finanzierungsfrage. Es geht um den
Beitrag der Gebernationen, aber auch um die Fragen
„Kapitalflucht verhindern“ und „Steueroasen austrock-
nen“, um die Frage „Aufbau eines funktionierenden
Steuersystems“, damit die Länder des Südens eine
Chance haben, sich nicht nur über Zölle zu finanzieren,
sondern über reale Steuereinnahmen. Damit schließt sich
der Kreis zum Thema EPAs, das ich durchaus kritisch
sehe und bei dem ich viele kritische Punkte in dem vor-
gelegten Antrag nachvollziehen kann.

Eine Bemerkung ganz zum Schluss. Ich wünsche mir
wirklich, dass wir speziell im Fall Kenia – das ist das
einzige Land, dessen Waren ab dem 1. Oktober 2014 von
Zöllen betroffen sein werden – zu einer konstruktiven
Lösung kommen würden. Dass wir den fairen Handel
von Blumen mit Zöllen blockieren, ist einfach nicht hin-
nehmbar.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805511600

Als nächster Redner spricht Frank Heinrich.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1805511700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Anfang
ein Dank an die Opposition für die Anträge, in diesem
Fall für das zweite Thema, das wir hier diskutieren. Ein
Dank für das erste Thema ist hier schon ausgesprochen
worden.

Es wird hier viel von Abkürzungen die Rede sein: von
den SDGs und den MDGs. Sie, das Publikum, müssen
sich wundern, was wir hier alles behandeln. Vorher ging
es um die Millennium Development Goals, jetzt aber
geht es um die EPAs und die WPAs, das eine ist der
deutsche, das andere der englische Begriff für Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen.

Die Vertreter der Opposition haben hier ihre Sorge
zum Ausdruck gebracht. Diese Sorge teilen wir. Das ha-
ben wir auch in dem Antrag, der sich auf den Europa-
Afrika-Gipfel bezog, sehr deutlich gemacht. Aber es
geht, wie mein Kollege Zech vorhin gesagt hat, um eine
konstruktive Auseinandersetzung. Hin und wieder ging
Ihr Antrag – ich weiß nicht, wer ihn alles gelesen hat –
über Konstruktives hinaus.


(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Nein! Niemals!)


Wenn in dem Antrag nicht nur in der Überschrift von
Drohungen und Fristen die Rede ist – ich verstehe Ihr
Anliegen –, sondern auch im Text selber laufend „es
droht“, „es ist zu befürchten“ und „große Gefahr“ zu le-
sen ist, dann fällt es mir schwer, Ihnen zu glauben.

Es geht uns genauso wie Ihnen – diese Zusammenar-
beit soll schließlich eine Zukunft haben – darum, Inhalte
zu teilen, zum Beispiel nachhaltige Entwicklung, die Be-
teiligung von Zivilgesellschaften, gerechte Handelsre-
geln, die Exportdumping verhindern und gleichzeitig
Produkten aus Entwicklungsländern faire Absatzchan-
cen gewähren, industrielle Wertschöpfung – man muss
ehrlich sein: das muss am Schluss möglich sein, da wie
hier –, regionale Integration – all das haben Sie in dem
Antrag beziffert –, einen Überwachungsmechanismus zu
den Auswirkungen dieser WPAs und – da bin ich Men-
schenrechtler, nicht nur in diesem Ausschuss – eine kon-
tinuierliche Beobachtung der Einhaltung der Menschen-
rechte, die davon betroffen sind. Da haben wir garantiert
noch eine Menge Arbeit vor uns. Ich denke, da sind wir
uns einig.

Das ist, wie gerade genannt, auch in anderen Anträ-
gen in diesem Umfeld und in dem Antrag, den Frau
Kofler angekündigt hat, zu lesen. Diese Punkte stehen
als solches nicht zur Debatte, aber diese Werte sind uns
genauso wichtig wie Ihnen. Sie befürchten aber, dass sie
abhandenkommen könnten. Für diese Werte setzt sich
zum Beispiel auch die Bundesregierung ein. Vorgestern
war in einem Drahtbericht der AKP-Ratsarbeitsgruppe
– das ist wieder eine Abkürzung; es geht dabei um Staa-
ten in Afrika, der Karibik und dem Pazifik – einmal
mehr nachzulesen: Die Auseinandersetzung um diese
Partnerschaftsabkommen ist eine Auseinandersetzung
um die wirtschaftspolitische Ordnung weltweit.

Was wollen wir denn? Möglicherweise stehen heute
noch mehr Fragen als Antworten im Raum. Wollen wir
partnerschaftliche Zusammenarbeit oder Bevormun-
dung, die Sie immer relativ schnell dahinter vermuten?
Wollen wir freien Handel in einem rechtssicheren Kon-
text oder Protektionismus, wie es ihn früher gab? Müs-
sen wir die Kleinen, wie es oft heißt, vor den Großen
schützen?

Im Antrag von Linken und Grünen heißt es – ich zi-
tiere –:

Die EU war … zu einigen Zugeständnissen hin-
sichtlich der Importzölle und Exportsteuern bereit


Sehr gut.

Gleichwohl steht zu befürchten,

– da kommt wieder einmal dieses Wort im Antrag vor –





Frank Heinrich (Chemnitz)



(A) (C)



(D)(B)

dass die EPAs in vielen Bereichen zu massiven Ver-
schlechterungen für Kleinproduzenten im Agrar-
und Industriebereich führen, die nun nicht mehr
durch Importbeschränkungen vor der übermächti-
gen Konkurrenz durch europäische Agrarunterneh-
men geschützt werden können.

Die betroffenen Middle-Income Countries haben es in
den letzten Jahren geschafft, dort hinzukommen, wo sie
jetzt sind. Ihnen jetzt zu unterstellen, dass das alles ver-
loren geht, und sie wieder ein Stück zu entmündigen, nur
weil wir sie auf einmal ernster nehmen als vorher – denn
darum geht es –, halte ich für falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805511800

Herr Kollege Heinrich, lassen Sie eine Zwischenfrage

von Frau Hänsel zu?


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1805511900

Im Moment nicht, vielleicht später. Ich möchte noch

diesen Gedanken zu Ende führen. – Das sind nämlich die
gleichen Ängste, die Sie vorhin ganz moderat angekün-
digt haben, wie zum Beispiel TTIP gegenüber, häufig
aus der Feder von Kritikern des sogenannten Neolibera-
lismus und der Globalisierung im Allgemeinen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Die keine Ahnung haben!)


Ich glaube, dass Entwicklungszusammenarbeit im
21. Jahrhundert nicht mehr nur von Feindbildern be-
stimmt sein darf und dass es schon gar kein Gefälle bei
den Partnern untereinander geben darf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine gleichberechtige Partnerschaft auf Augenhöhe ist
nämlich das, was die Globalisierungskritiker im selben
Atemzug fordern, und zwar, finde ich, zu Recht.

Auch die meisten AKP-Staaten beanspruchen mehr
und mehr Ownership für sich. Ich war gestern bei der
Botschafterin eines dieser Middle-Income-Länder. Sie
sagte mir sehr deutlich: Wir sind sehr stolz auf das, was
wir jetzt sind und wo wir jetzt sind, auch wenn wir uns
nun Sorgen machen. Damit meinte sie aber nicht den
Vertrag, sondern sie fürchtet, dass das bisher Erreichte
ohne Entwicklungszusammenarbeit nicht erhalten und
fortgeführt werden kann. Es ging ihr aber nicht darum,
etwas einzufordern.

Die Leitfragen müssten sein: Wie wird Handel fair?
Was nützt beiden Partnern? Wie können wir verbindlich
international anerkannte Mindeststandards so durchset-
zen, dass sie auch befolgt werden? Mein Kollege hat es
angesprochen – da wurde die Debatte ein bisschen leb-
hafter –: Das gilt auch dort, wo Korruption mehr als nur
ein bisschen im Raum steht. Wie kann die Rolle des Pri-
vatsektors zugunsten nachhaltiger Entwicklung stärker
werden? Wie wird Rechtssicherheit für nichtstaatliche
Akteure hergestellt? Entsprechende Mängel in einigen
dieser Länder bemitleiden wir Menschenrechtler oft.
Schließlich geht es aber auch um die Frage: Wie kom-
men Verhandlungen in absehbarer Zeit zu einem Ende,
insbesondere wenn Player wie China schnell und zu für
die Partner langfristig nicht gerade positiven Bedingun-
gen Verträge aushandeln und diese Länder dann unter
den negativen Bedingungen tatsächlich mehr leiden, als
Sie es in Ihrem Antrag befürchten?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Entgegen der Darstellung in den Anträgen gibt es
auch einige positive Entwicklungen im Zusammenhang
mit solchen WPAs. Das wird in Ihren Anträgen nicht
dargestellt; ich finde, auch das gehört zu einer objekti-
ven Darstellung. Dazu gehört zum Beispiel das Abkom-
men mit der Karibik, das bereits im fünften Jahr Anwen-
dung findet. Eine Studie zu den Auswirkungen ist für
diese Tage angekündigt. Vielleicht gibt sie uns Antwor-
ten auf einige der Fragen, die ich gerade genannt habe
und die darüber hinaus noch im Raum stehen.

Es ist wichtig, die Implementierung dieser Abkom-
men eng zu begleiten – darin sind wir ganz nah bei Ih-
nen – und genau zu beobachten. Das will ich, und das
wollen wir als Koalition. Gleichwohl bewerten wir die
Chancen und Potenziale, die von den WPAs ausgehen,
deutlich anders, als Sie es mit Ihren Drohungen hinsicht-
lich der Risiken tun.

Daher liegt uns eine Ablehnung Ihres Antrags nahe.
Darüber wundern Sie sich wahrscheinlich nicht, auch
wenn wir sehr wohl – das möchte ich abschließend sa-
gen – an vielen Stellen Verbesserungsbedarf sehen,
gerne konstruktiv diskutieren und die konstruktive Aus-
einandersetzung auch brauchen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805512000

Bevor ich dem Kollegen Sascha Raabe das Wort

gebe, erhält die Kollegin Hänsel die Gelegenheit zu ei-
ner Kurzintervention.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Bitte kurz, weil die Züge gehen, Frau Kollegin!)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1805512100

Danke, Frau Präsidentin. – Ich weiß, dass wir alle

schnell nach Hause wollen. Deshalb fasse ich mich ganz
kurz. Aber eine Sache kann ich nicht auf sich beruhen
lassen, lieber Kollege Heinrich. Sie haben gesagt, es sei
unsere Befürchtung, dass die heimischen Produkte in
vielen Ländern mit den Importen aus der Europäischen
Union nicht konkurrieren könnten. Erstens gibt es schon
zahlreiche Erfahrungen in vielen westafrikanischen
Staaten, die mit Produkten aus der Europäischen Union
wie Hähnchenfleisch und Tomaten überschwemmt wer-
den und sich mit einem Kleinbauernproblem konfron-
tiert sehen.

Zweitens gibt es viele Briefe und Appelle gerade aus
den westafrikanischen Staaten. Die dortigen Wirtschafts-





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

verbände, Kirchen und Gewerkschaften schreiben uns
Abgeordneten und an die Europäische Union und bitten
darum, nicht so eine breite Liberalisierung zuzulassen.
Diese Staaten, die sich gerade aus der Armut herausge-
kämpft und eigene Strukturen aufgebaut haben – vor al-
lem geprägt durch Kleinunternehmen –, sollen nun in
Konkurrenz zur übermächtigen Europäischen Union tre-
ten. Damit verhält es sich so, als ob Sie einen Porsche
und ein Fahrrad nebeneinander stellen und sagen: Nun
machen wir ein 100-Meter-Wettrennen. – Das sind keine
gerechten Bedingungen. Haben Sie denn gar keinen
Brief aus diesen Ländern gelesen und die Appelle aus
den dortigen Zivilgesellschaften, dass wir so keinen
Wettbewerb organisieren können, nicht wahrgenom-
men?


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805512200

Herr Kollege Heinrich.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1805512300

Ich will die Antwort ganz kurz halten. Ich werde

meine Rede nicht noch einmal halten, obwohl Sie, Frau
Hänsel, zum großen Teil das wiederholt haben, was Sie
vorhin in Ihrer Rede gesagt haben.

Wir bewerten die Briefe, die wir bekommen, im Hin-
blick auf die Chancen, und zwar nicht nur im Hinblick
auf die Chancen, die wir Europäer haben. Unsere Ge-
wichtung liegt vielleicht bei etwa 60 zu 40. Ja, wir neh-
men diese Briefe und Appelle wahr. Trotzdem kommen
wir nach Abwägung von Risiken und Chancen zu einem
anderen Ergebnis. Möglicherweise müssen wir je nach
Land – ich nenne als Beispiel Kenia – unterschiedlich re-
agieren. Wir sehen jedenfalls in der Ablehnung Ihres
Antrages eine ganz andere Bewertung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805512400

Jetzt hat der Kollege Sascha Raabe das Wort.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1805512500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Es ist gut, dass wir in der heutigen De-
batte über beide Aspekte diskutieren. Natürlich haben
die SDGs sehr viel mit einem gerechten Handel zu tun.
Es wird nur möglich sein, eines der übergeordneten
Ziele der SDGs bis 2030 zu erreichen, nämlich Hunger
und extreme Armut zu beseitigen, wenn die derzeit vor-
herrschenden Handelsbedingungen verändert werden,
wenn die Industriestaaten nicht mehr mit Agrarexport-
dumping die Märkte in den Entwicklungsländern stören
und – darauf hat Frau Kofler hingewiesen – wenn die
Aktivitäten von mit Geldern der Entwicklungszusam-
menarbeit aufgebauten guten und fairen Handelsunter-
nehmen beispielsweise im Blumenbereich nicht konter-
kariert werden. Wir müssen uns um eine gerechte
Gestaltung der Globalisierung bemühen.
Manche werden sich erinnern, dass die ersten EPAs
vor über zehn Jahren diskutiert wurden. Sicherlich ist es
diskussionswürdig, ob der Zeitplan – auch unter juristi-
schen Aspekten – mit der WTO so aufgestellt werden
musste. Auf jeden Fall war der erste Grundgedanke nicht
so schlecht, mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men den Süd-Süd-Handel zu befördern. Ich glaube, da-
gegen hat niemand etwas. Die afrikanischen Staaten
müssen untereinander Zölle und Handelsschranken ab-
bauen, um eigene große Wirtschaftsmärkte zu schaffen,
sich nachhaltig zu entwickeln und für Wertschöpfung
vor Ort zu sorgen. Wahr ist aber auch: Leider wurden
viele Verhandlungen der Europäischen Union über Han-
delsabkommen von oben herab und intransparent ge-
führt. Gerade die Parlamentarier der Partnerländer hatten
oft keine Informationen. Aus diesen Gründen wollten
viele Länder diese Abkommen bisher nicht abschließen.
An dieser Stelle teilen wir als SPD-Fraktion die Kritik,
die in dem Antrag der Linken und Grünen enthalten ist.
Wir wollen nicht mit Eile etwas übers Knie brechen,
sondern lieber nachverhandeln. Wir können uns Zeit las-
sen und die Kritikpunkte ausräumen. Da sind wir ganz
auf Ihrer Seite.

Allerdings fehlt uns etwas in Ihrem Antrag. Sie rich-
ten den Blick bei diesen Handelsabkommen und auch
bei den Auswirkungen auf die Menschenrechte, wie Sie
in dem Antrag schreiben, nur darauf – es ist auch in Ord-
nung, diese eine Seite zu beleuchten –, welche negativen
Auswirkungen es hat, wenn Güter aus der Europäischen
Union auf diese Märkte kommen. Wir müssen in Han-
delsabkommen aber auch immer berücksichtigen, was in
diesen Ländern selbst passiert. Da nenne ich zum Bei-
spiel die Menschenrechte und die ILO-Kernarbeitsnor-
men, das Gleiche, was wir bei CETA und TTIP diskutie-
ren und zu Recht einfordern.

Es ist auch ein Teil der Wahrheit, dass ostafrikanische
Staaten wie zum Beispiel Kenia sich weigern, eine Klau-
sel zu Menschenrechten und Good Governance in diese
Verträge aufzunehmen. Deswegen sage ich: Der eine
Teil Ihres Antrags ist gut. Ich würde gerne zu einer ge-
meinsamen Position kommen und auch das andere hin-
einschreiben; denn die Frage der Kernarbeitsnormen ist
eine, die in jedes dieser Abkommen gehört.


(Beifall im ganzen Hause)


Es freut mich, dass wir hier eine Übereinstimmung
haben; denn die Europäische Union muss umdenken.
Als diese Verhandlungen anfingen, waren die Lissaboner
Verträge noch anders. Da hatten weder das EU-Parla-
ment noch die Nationalstaaten ein echtes Mitsprache-
recht. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
– ich bin froh, dass viele hier sind, die nicht dem Ent-
wicklungshilfeausschuss angehören –: Diese Abkom-
men sind eigentlich meistens gemischte Abkommen.
Das heißt, wir werden über eine Zustimmung zu den Ab-
kommen, über die wir heute reden, am Ende im Deut-
schen Bundestag noch einmal reden müssen.

Deswegen bin ich der Meinung, wir sollten bereits
jetzt der EU sagen: Wir wollen bei den Nachverhandlun-
gen zu diesen Abkommen mitreden. Wir können nicht
sagen, dass wir uns in die Abkommen mit Kanada und





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)

den USA mit Macht einmischen, was ich richtig finde,
aber, wenn es um die Abkommen mit Afrika geht, die
EU es alleine machen lassen – und dann noch eher
schlecht als recht. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam gerechte Abkom-
men mit Afrika schaffen.

Danke schön.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1805512600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am

Schluss der Debatte und kommen zu den Abstimmun-
gen.

Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/2603 mit dem Titel „Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen stoppen – Für neue Ver-
handlungen ohne Druck und Fristen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Enthaltungen sehe ich keine. Damit ist der
Antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt wor-
den.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklungs-
ziele der Vereinten Nationen – Soziale Ungleichheit
weltweit überwinden“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1916, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1328
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Enthaltungen sehe
ich nicht. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen angenommen worden.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Verhandlungen über Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen – Neustart ohne Dro-
hungen und Fristen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2073, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1615 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die
Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Da-
mit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition angenommen worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, hoffent-
lich mit etwas Erholung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf Mittwoch, den 8. Oktober 2014, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.