Gesamtes Protokol
Guten Morgen! Nehmen Sie bitte Platz.
– Kollege Kauder, ich würde gern die Sitzung eröffnen.Könnten Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit schenken?
Die Sitzung ist eröffnet.Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Sie übereinige Sachverhalte unterrichten. Der Ältestenrat hat sichin seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt, wegen desgesetzlichen Feiertages am Freitag, dem 3. Oktober, dieFrist für die Einreichung der Fragen zur mündlichen Be-antwortung in der Sitzungswoche vom 6. Oktober aufMontag, den 6. Oktober 2014, 10 Uhr, zu verlegen. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart worden, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/2588, dersich mit einem Internen Abkommen zwischen den imRat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitglied-staaten der Europäischen Union über die Finanzierungvorgesehener Hilfen im Rahmen des AKP-EU-Partner-schaftsabkommens beschäftigt, dem Haushaltsaus-schuss zur Mitberatung sowie zur Berichterstattung nach§ 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Sind Sie auchdamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung des Elterngeld Plus mit Partner-schaftsbonus und einer flexibleren Elternzeitim Bundeselterngeld- und ElternzeitgesetzDrucksachen 18/2583, 18/2625Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
– Ich nehme zurzeit Rücksicht auf die Kommunikations-bedürfnisse in der Unionsfraktion, würde aber gern dieAussprache eröffnen.
– Das ist schön.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Manuela Schwesig.
Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Wir schlagen heute ein neuesKapitel in der Familienpolitik auf, einer modernen Fami-lienpolitik, die darauf setzt, Beruf und Familie zu verein-baren, Schluss damit zu machen, dass es ein gegenseiti-ges Aufrechnen zwischen Zeit für Familie und Zeit fürden Job gibt, sondern beides zu ermöglichen. Das wün-schen sich heute die jungen Paare in Deutschland. Daswünschen sich die Mütter: wieder in den Job einsteigenzu können, aber auch Zeit für Familie zu haben. Und daswünschen sich vor allem die Väter. Jeder zweite Vatersagt: Ich will neben meiner Berufstätigkeit natürlichauch Zeit für Familie haben.
Das Familienleben ist in den letzten Jahren bunter ge-worden. Es gibt die vielen Paare, ob mit Trauschein oderohne, es gibt die vielen Alleinerziehenden, aber auchPatchworkfamilien, Regenbogenfamilien. All diese Fa-
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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milienformen eint, dass dort Menschen leben, die part-nerschaftlich Verantwortung übernehmen: füreinander,für Kinder, aber auch für pflegebedürftige Angehörige.Deshalb muss moderne Familienpolitik darauf setzen,diese Familienformen zu unterstützen. Sie darf den Fa-milien nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben, son-dern muss sagen: Wenn ihr für Kinder oder für pflegebe-dürftige Angehörige da seid, dann unterstützen wir euch.
In der Lebenswirklichkeit vieler Familien, gerade beijungen Paaren, sieht es so aus, dass sie spüren, dass siesich in einer Rushhour befinden. Die Rushhour des Le-bens findet oft in der Zeit zwischen 25 und 45 Jahrenstatt; das kann variieren. Die jungen Leute müssen undwollen in dieser Zeit im Beruf durchstarten. Sie brau-chen eine Existenzgrundlage für die Familie. Sie brau-chen auch berufliche Perspektiven. In der gleichen Le-bensphase wünscht man sich aber auch Kinder und fragtsich: Wie geht es weiter mit dem Vater, der pflegebedürf-tig wird? Zudem wollen wir, dass sich alle ehrenamtlichengagieren, zum Beispiel im Sportverein oder im Eltern-rat. All das kommt in dieser Lebensphase zusammen.Mein Wunsch und das Ziel der Koalition ist, diese Le-bensphase zu entzerren.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist keineLüge, sondern ein Anspruch, den die Familien haben.Die Politik muss alles dafür tun, dass dieser Anspruchauch realisiert werden kann. Es ist eine gesellschaftlicheAufgabe. Es ist eine Frage, die Mütter und Väter betrifft.
Um diese Vereinbarkeit zu schaffen und um die Rush-hour des Lebens für junge Familien zu entzerren, brau-chen wir eine Zeitpolitik für beide Geschlechter, so wiees der Deutsche Bundestag im März anlässlich des Inter-nationalen Frauentags gefordert hat.Meine Idee einer Zeitpolitik für Familien ist, dassman sich die Zeit für Job und für Familie partnerschaft-lich teilen kann. Wir wollen ein Arbeitszeitmodell fürFamilien gestalten, das beides ermöglicht: einen gutenJob mit gutem Einkommen und guten Perspektiven zumachen, aber auch gleichzeitig Zeit für die Familie zuhaben. Deshalb habe ich die Debatte über eine Familien-arbeitszeit angestoßen.Neun von zehn Frauen und Männern zwischen 20 und39 Jahren finden heute, dass Mütter und Väter sich ge-meinsam um das Kind kümmern sollen. 81 Prozent se-hen beide Partner für das Familieneinkommen in Verant-wortung.Eine partnerschaftliche Aufteilung in der Familie istdas, was sich viele Paare wünschen. Die wenigsten reali-sieren diesen Wunsch aber, weil sie spüren, dass durchden Druck, unter dem sie in der Arbeitswelt und im Fa-milienleben stehen, beides gleichzeitig nicht so gut ge-lingt. Die Männer arbeiten 40 Stunden und mehr undwünschen sich eine gewisse Arbeitszeitreduzierung, ummehr Zeit für die Familie zu haben. Die Frauen hängenbei einer Arbeitszeit von durchschnittlich 19 Stundenund würden eigentlich gern mehr arbeiten, um ihre be-ruflichen Perspektiven zu verbessern. Das anzugleichen,ist die Idee einer Arbeitszeit für Familien.Mir begegnen immer zwei Vorurteile, die zeigen, dasssich einige mit diesem Thema noch nicht wirklich be-schäftigt haben und vielleicht noch nicht in der Lebens-wirklichkeit der Familien angekommen sind:Das erste Vorurteil ist: Wir können das den Familiendoch nicht vorschreiben. – Natürlich nicht. Das will auchgar keiner. Die Familien wünschen sich aber eine part-nerschaftliche Aufteilung.
Wenn sie es sich wünschen, müssen wir es ermöglichen.Es geht um ein Angebot und nicht um eine Vorschrift fürFamilien.
Das zweite Vorurteil ist: Wir belasten die Wirt-schaft. – Hallo? Das Gegenteil ist der Fall. Wenn mehrFrauen Zeit für den Job haben und leichter wieder in denBeruf einsteigen können, dann entspricht das doch dem,was sich die Wirtschaft wünscht: gutes Fachkräftepoten-zial zu haben. Das Potenzial für unsere Wirtschaft liegtbei den Frauen, wie die Chefin des Internationalen Wäh-rungsfonds, Christine Lagarde, zu Recht gesagt hat.
Das Modell hilft nicht nur den Familien, sondern istauch gut für die Arbeitswelt und damit für die Wirt-schaft. Denn hier kommen zwei Dinge zusammen, diegut passen. Wie viele Stunden im Rahmen der Familien-arbeitszeit geleistet werden – 30, 32 oder 35 –, mussnicht vorgeschrieben werden. Wir müssen nur die Mög-lichkeit dazu schaffen.Mit dem neuen Elterngeld Plus machen wir heute denersten wichtigen Schritt. Das Elterngeld Plus hebt dasbisherige Elterngeld auf die Höhe der Zeit. Es hat dreiSchwerpunkte:Erstens. Es erleichtert die Kombination von Eltern-geld mit Teilzeitarbeit. Eltern, die in der Elternzeit Teil-zeit arbeiten, bekommen länger Elterngeld Plus undhaben damit über einen längeren Zeitraum die Möglich-keit, Zeit für die Familie und Zeit für den Job zu haben.Zweitens. Wenn Mütter und Väter gemeinsam Teil-zeit arbeiten, wenn sie es partnerschaftlich tun, dann be-kommen sie einen zusätzlichen Bonus, mit dem die Ideeder Partnerschaftlichkeit befördert wird.
Mit dem Elterngeld Plus und dem Partnerschaftsbonussetzen wir die Idee der besseren Vereinbarkeit von Berufund Familie um.
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Bundesministerin Manuela Schwesig
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Drittens. Wir wollen aber auch, dass Familien mehrMöglichkeiten haben, entsprechend ihrer Familiensitua-tion Auszeiten zu nehmen. Es wird der Realität nicht ge-recht, nur auf die ersten drei Jahre zu schauen. Für vieleEltern stellt sich vielmehr die Frage, ob sie beispiels-weise dann mehr Zeit mit dem Kind verbringen können,wenn es in die Schule kommt. Das ist ein Einschnitt fürdie Familien, eine neue, schöne Herausforderung, eineZeit, in der man vielleicht noch einmal mehr Zeit für dasKind braucht. Deshalb ist es gut, dass die Koalition ge-meinsam beschlossen hat, zukünftig die Elternzeit flexi-bler zu gestalten: Eltern können zukünftig bis zu 24 Mo-nate Elternzeit zwischen dem dritten und achtenGeburtstag des Kindes nehmen. Damit berücksichtigenwir insbesondere die Schulzeit, und das ist wichtig fürdie Familien.
Ich habe es in dieser Woche wieder selbst erlebt: AmDienstag habe ich den Sohn vom Sportverein abgeholt.Hinterher gab es einen Elternabend im Sportverein; dawar mein Mann. Gleichzeitig mussten wir am Abendzum Elternabend in die Schule. Zum Glück war die Omafür den Sohn da. Zwischendurch mussten auch noch dieHausaufgaben gemacht werden. Ich habe Glück; dennich habe einen Fraktionsvorsitzenden, der sagt: Klar,dass du da nicht bei der Fraktionssitzung dabei seinkannst und zu Hause sein musst.
Vielen Dank.Ich weiß aber, dass das für viele Eltern noch nichtAlltag ist, sondern es wenig Verständnis dafür gibt, wenneinem Zeiten mit der Familie manchmal wichtiger sind.Deswegen brauchen wir eine Arbeitswelt, die familien-freundlicher wird. Nicht die Familien müssen immer ar-beitsfreundlicher werden, sondern die Arbeitswelt fami-lienfreundlicher. Das ist dann eine Win-win-Situation fürArbeitswelt und Familie.
Dazu gehört auch, dass wir die Infrastruktur aus-bauen. Diesbezüglich werden wir gleich ein zweites Ge-setz miteinander beraten. Wir brauchen mehr Kitaplätze,gute Ganztagsbetreuungsplätze und auch Ganztagsschu-len in unserem Land. Damit aus der Kombination, ausdem Dreiklang aus Infrastruktur – also gute Kitas undGanztagsschulen für Kinder und Familien –, finanziellerUnterstützung – wie das gute Kindergeld, das Armut be-kämpft – und Zeit für Familie, moderne Familienpolitikwird, die nicht nur darauf setzt, dass die Mütter für dieKinder da sind, sondern auch darauf setzt, dass KinderMütter und Väter haben und beiden die Zeit für Familiegegeben wird.
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, dieAnhörung hat gezeigt, dass es große Zustimmung zu die-sem Gesetz, zum neuen Elterngeld Plus gibt – von denFamilienverbänden, von den Gewerkschaften, auch vonder Wirtschaft. Auch die Länder haben das ElterngeldPlus im Bundesrat parteiübergreifend begrüßt.Mir ist wichtig, zu sagen, dass das neue ElterngeldPlus auch eine Unterstützung für Alleinerziehende ist.Auch die Alleinerziehenden können zum Beispiel denPartnerschaftsbonus in Anspruch nehmen. Aus den Län-dern gibt es eine Anregung, wie wir die Alleinerziehen-den beim Elterngeld Plus noch besser berücksichtigenkönnen. Ich werbe dafür, diesen Ländervorschlag imweiteren parlamentarischen Verfahren zu prüfen. Ichhalte ihn für gut.Insofern freue ich mich auf das parlamentarische Ver-fahren. Ich bedanke mich bei den Regierungsfraktionenfür die Unterstützung bei der Einbringung des Gesetz-entwurfes hier ins Parlament. Ich freue mich jetzt auf dieBeratungen. Elterngeld Plus und – im Anschluss – dasneue Kitagesetz sind wichtige Fortschritte für die Fami-lien im Land, und die wollen wir schnell auf den Wegbringen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Schwesig, Sie haben den Gesetzentwurf schön dar-gestellt, mit den Maßnahmen, die die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf verbessern sollen – Maßnahmen, wel-che die Linke schon seit langem fordert, wie Flexibilisie-rung der Elternzeit, Abschaffung des doppelten An-spruchsverbrauchs bei Teilzeit während der Elternzeit.Somit steht meine Fraktion der geplanten Reform grund-sätzlich positiv gegenüber. Im Hinblick auf die konkreteAusgestaltung besteht aber erheblicher Nachbesserungs-bedarf. Dem wird in den Beratungen, auf die auch Siesich freuen, hoffentlich entsprechend positiv entspro-chen.Ich will nur einige Punkte aufgreifen. Zum Thema Al-leinerziehende. Frau Schwesig, Sie haben ausgeführt,dass auch diese in den Genuss der Partnermonate kämen.Sie haben aber wohlweislich die Voraussetzungen dafürunterschlagen; denn die sind äußerst kritisch zu bewer-ten. Hier wird an der alten Regelung festgehalten, die andas alleinige Sorgerecht bzw. das alleinige Aufenthalts-bestimmungsrecht anknüpft.
Seit 2013 wurde durch die Sorgerechtsreform der Bun-desregierung aber ein anderes Leitbild für das Sorge-recht verankert. Der Gedanke der gemeinsamen elter-
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lichen Sorge sollte wieder in den Vordergrund desDenkens der Menschen geraten. Einerseits will der Ge-setzgeber die gemeinsame elterliche Sorge von nichtoder nicht mehr miteinander verheirateten Paaren eta-blieren, andererseits schließt er ebendiese beim Bezugder Partnermonate und des Partnerschaftsbonus aus.Hier werden Alleinerziehende, die ohnehin schon überGebühr gefordert sind, entgegen dem neu verankertenLeitbild gezwungen, sich von ebendiesem zu verab-schieden nach dem Motto „Willst du die gemeinsameSorge für dein Kind teilen, musst du dich von den finan-ziellen Vorteilen in Form von Bonizahlungen oder Part-nermonaten verabschieden“.Eine weitere Benachteiligung für Alleinerziehendestellt der angegebene Stundenumfang der Teilzeiter-werbstätigkeit dar. 25 bis 30 Wochenstunden Erwerbs-tätigkeit je Elternteil für ein Elternpaar sind nicht mit25 bis 30 Wochenstunden Erwerbstätigkeit für einen al-leinerziehenden Elternteil zu vergleichen. Das Familien-ministerium hat in seinem Dossier zur Müttererwerbstä-tigkeit selbst festgestellt, dass alleinerziehende Müttermit Kleinkindern im Schnitt nur sieben Stunden pro Wo-che arbeiten. Nun wissen wir alle, was Durchschnittheißt: Der See war im Durchschnitt 80 Zentimeter tief,trotzdem ist die Kuh ertrunken. Im Ergebnis bedeutetdas, dass nur einem sehr geringen Teil von Alleinerzie-henden – in der Regel sind das Mütter – der Vorteil vonzusätzlichen Monaten Elterngeld zugutekommt.Die Intention, Frau Schwesig, die dahintersteckt – Siehaben in einer Fragestunde ausgeführt, dass Sie keineMinijobs, sondern existenzsichernde Arbeit fördern wol-len –, kann ich verstehen. Aber es entspricht nicht denrealen Gegebenheiten. Diese Regelung als Beitrag zu se-hen, damit Frauen ihre Wochenarbeitsstunden erhöhen,kann ich nicht nachvollziehen. Mit dieser Regelung wer-den weder mehr Arbeitsplätze noch mehr Kitaplätzegeschaffen. Ich hoffe, dass wir auch in diesem Zusam-menhang in den Beratungen zu adäquaten Lösungenkommen, wozu natürlich auch flankierende Maßnahmenwie der Kitaausbau gehören.Zum Thema Mehrlingsgeburten. Im vorliegenden Ge-setzentwurf steht: Mit der gesetzlichen Präzisierung solleinem Urteil des Bundessozialgerichtes von 2013 nach-gekommen werden, indem festgelegt wird, dass beiMehrlingsgeburten nur ein Elterngeldanspruch entsteht.Somit entsteht künftig ein Elterngeldanspruch pro Ge-burt und nicht pro Kind. Im Urteil des Bundessozialge-richts – man kann es in der Begründung nachlesen –steht jedoch, unter Berücksichtigung aller juristischerAuslegungsmethoden, klipp und klar, dass bei Mehr-lingsgeburten ein Elterngeldanspruch pro Kind entsteht.Das Bundeselterngeldgesetz fußt auf dem Bundeser-ziehungsgeldgesetz, hat dieses quasi abgelöst. Im Gesetzwurde damals expressis verbis festgelegt, dass das Bun-deserziehungsgeld für jedes Kind gezahlt wird, wennmehrere Kinder in einem Haushalt großgezogen werden.Demnach ist diese „Geburtenzahlung“ – so will ich sieeinmal nennen – nach Auffassung des Bundessozialge-richts eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungnach Artikel 3 Grundgesetz.Zur gesetzlichen Präzisierung. Warum wird dies sogemacht? Sagen Sie es doch einfach! Das ergibt sichnämlich aus der Antwort der Bundesregierung auf eineSchriftliche Frage meiner Fraktion zu den finanziellenAuswirkungen des Elterngeld Plus. In der Antwort hießes, dass Mehrausgaben in Höhe von etwa 96 MillionenEuro zu erwartet seien, aber durch die neue Regelung inBezug auf Mehrlingsgeburten mit Minderausgaben inHöhe von 100 Millionen Euro zu rechnen sei. Insgesamtwerden die Einsparungen bis 2018 auf 170 MillionenEuro geschätzt. Hier wird wieder einmal den einen Fa-milien etwas weggenommen, was den anderen zugute-kommen soll. Ein Hoch auf die so hochgeprieseneschwarze Null.Zur Flexibilisierung der Elternzeit. Die Flexibilisie-rung der Elternzeit mit der Möglichkeit der Inanspruch-nahme bis zum vollendeten achten Lebensjahr begrüßenwir ausdrücklich. Eine solche Flexibilisierung haben wirschon seit Jahren gefordert. Wir wollten sie eigentlichnur bis zur Einschulung – wir haben vorgeschlagen: biszur Vollendung des siebten Lebensjahres –, jetzt soll dieMöglichkeit sogar bis zur Vollendung des achten Le-bensjahres bestehen. Das freut uns, auch wenn wir da-mals mit unserem Antrag verlacht wurden. Aber dieLinke wirkt eben, auch wenn es manchmal etwas längerdauert.
Zum Schluss muss ich noch einen Kritikpunkt auf-greifen, und zwar zum Thema ausländische Staatsange-hörige mit humanitären Aufenthaltstiteln. Die Bundesre-gierung greift in dem Gesetzentwurf leider nicht dienötigen Änderungen auf, die der Erste Senat des Bun-desverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 10. Juli2012 angemahnt hat. Dieser hat festgestellt, dass eineÄnderung des § 1 Absatz 7 Bundeselterngeld- und El-ternzeitgesetzes vorzunehmen ist, weil der Ausschlussvon ausländischen Staatsangehörigen mit humanitäremAufenthaltstitel vom Elterngeld verfassungswidrig ist.Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ha-ben alle Personen mit humanitärem Aufenthaltstitel, diebereits länger als drei Jahre in Deutschland leben, einenAnspruch auf Elterngeld, unabhängig von ihrer Integra-tion in den Arbeitsmarkt. Auch hier besteht Änderungs-bedarf, um den aktuell bestehenden verfassungswidrigenAusschluss vom Bezug von Elterngeld zu beenden.
Unsere Kritikpunkte – das muss ich sagen – werdenvon etlichen Familienverbänden geteilt. Beispielhaft willich anführen den Verband Alleinerziehender Mütter undVäter, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie,den Familienbund der Katholiken, den Verband binatio-naler Familien und Partnerschaften – und, und, und. Naja, sogar das Bundessozial- und das Bundesverfassungs-gericht teilen unsere Kritikpunkte. Wir können dochnicht alle falschliegen.Liebe Kollegen, Sie sehen schon: Es gibt im Rahmender Gesetzesberatungen noch einiges zu tun. Ich setzemeine Hoffnung wieder einmal auf die Beratungen im
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Ausschuss und hoffe, dass es nicht wieder Jahre dauert,bis sich gute Regelungen durchsetzen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Nadine Schön für dieCDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn man sich mit jungen Familien unterhält,wird einem immer zurückgemeldet, dass die Einführungvon Elternzeit und Elterngeld eine der wichtigsten politi-schen Maßnahmen war, die wir in den vergangenen Jah-ren durchgeführt haben. Wir haben 2007 unter Familien-ministerin Ursula von der Leyen das Elterngeld und dieElternzeit eingeführt. Wir haben das Elterngeld in derletzten Legislaturperiode unter Familienministerin KristinaSchröder entbürokratisiert, auch für Unternehmer. Wirhaben die Einkommensberechnung einfacher gemacht.In dieser Koalition gehen wir den nächsten konsequen-ten Schritt und machen die Elternzeit und das Elterngeldnoch einmal flexibler und individueller. Wir schneidenes besser auf die Bedürfnisse junger Familien zu. Insge-samt kann man also sagen: Das Elterngeld ist ein wirkli-ches Erfolgsmodell.
Es ist ein Erfolgsmodell; denn es ermöglicht vor allemdrei Dinge:Zum einen bietet es einen wirklichen Schonraum imersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sich die jungenFamilien möglichst stark auf das Kind konzentrierenwollen. Im ersten Lebensjahr eines Kindes, wenn sichdas Leben der Eltern stark ändert, was insbesonderebeim ersten Kind der Fall ist, bieten Elterngeld und El-ternzeit einen Schonraum. Ein solcher Schonraum – dasmuss man wirklich sagen – ist nicht selbstverständlich.Das wird deutlich, wenn wir uns mit Frankreich oder Is-rael vergleichen. Dort fangen die Eltern sehr viel früherwieder an zu arbeiten, schon nach wenigen Monaten. Einganzes Jahr einen Schonraum zu haben, auch mit finan-ziellen Vergünstigungen, ist wirklich ein Luxus, den jungeFamilien in Deutschland haben. Auf diesen Schonraum,der durch Elterngeld und Elternzeit geschaffen wurde,können wir stolz sein.Zweitens. Wir schaffen auch einen finanziellen Aus-gleich, der nicht zu unterschätzen ist. Auch das ist etwas,was international wirklich außergewöhnlich ist. Wir er-setzen etwa zwei Drittel des letzten Nettoeinkommens.Das ist ein sehr großer Betrag, der es den jungen Fami-lien ermöglicht, Beruf und Familie zu vereinbaren undsich wirklich Zeit für die Familie zu nehmen, ohne in fi-nanzieller Hinsicht auf allzu viel verzichten zu müssen.Sie können ihren Lebensstandard halten, das Haus oderdie Wohnung abbezahlen und ihren Lebensunterhalt be-streiten. Deshalb sagen die Familien zur Ausgestaltungdes Elterngeldes – maximal 1 800 Euro bekommt einPartner, wenn er aus dem Beruf aussteigt –: Das ist ge-nau das, was wir brauchen; denn das ermöglicht uns dieVereinbarkeit überhaupt erst.
Der dritte Punkt ist das Thema Partnerschaftlichkeit.Das Elterngeld ermöglicht es, Partnerschaftlichkeit zuleben und neue Modelle der Partnerschaftlichkeit auszu-probieren. Ganz sicher kennt jeder aus seinem Umfelddie Erzählungen, die Geschichten von jungen Familien,gerade von jungen Männern, die sagen: Ich hätte mirvorher nicht vorstellen können, für die Familie, für dasBaby länger aus dem Job auszusteigen. Ich habe es ge-macht, weil es die Elternzeit, weil es das Elterngeld gibt.Das war die wertvollste Erfahrung in meinem Leben. Eswar eine ganz, ganz wichtige Erfahrung, und beimnächsten Mal bleibe ich länger zu Hause, weil ich sehe,dass diese Zeit mit dem Kind auch für mich eine ganzwertvolle Erfahrung ist. Ich sehe, dass es wichtig ist,auch als Vater Zeit mit dem Baby zu verbringen. – DieseModelle der Partnerschaftlichkeit sind neben dem Geldund neben dem Schonraum der dritte Aspekt.Dies macht das Elterngeld zum Erfolgsmodell. Wirals Union sind stolz auf das Elterngeld, stolz auf die El-ternzeit. Wir sind der Meinung, dass 5,4 Milliarden Eurozwar eine ganze Menge Geld für den Bundeshaushaltsind – wir wissen um die große Verantwortung, die alleKollegen aus den anderen Ressorts mit für die Familienin unserem Land übernehmen –, aber wir wissen, dass esgut angelegtes Geld ist für die jungen Familien in unse-rem Land.
Wir werden auch durch Studien gestützt, die den Er-folg belegen, etwa die Evaluation der ehe- und familien-bezogenen Maßnahmen und Leistungen. Hier wurde dasElterngeld ja nicht auf subjektive Gesichtspunkte hin un-tersucht, also nicht darauf, was die Familien davon hal-ten, sondern Kriterien wie die Vereinbarkeit von Familieund Beruf, das Wohlergehen von Kindern, die wirt-schaftliche Stabilität und die Erfüllung von Kinderwün-schen wurden betrachtet. Hier schneidet das Elterngeldsehr, sehr gut ab. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftunghat kürzlich eine Studie aufgelegt, die untersucht, wiedas Elterngeld wirkt. Sie bescheinigt dem Elterngeld ei-nen durchschlagenden Erfolg.Deshalb haben wir im Wahlkampf in unserem Regie-rungsprogramm versprochen, dass wir das Elterngeldweiterentwickeln, dass wir mehr Freiräume bei der Ge-staltung ermöglichen und dass wir ein Teilelterngeld ein-führen, das bis zu 28 Monate bezogen werden kann. Sosteht es in unserem Regierungsprogramm. Das war unserWahlversprechen. Heute, genau ein Jahr nach der Bun-destagswahl, können wir sagen: Wir setzen dieses Wahl-versprechen um. Unsere erste familienpolitische Maß-nahme ist die Umsetzung dieses Wahlversprechens fürmehr Flexibilität und mehr Partnerschaftlichkeit fürjunge Familien. Wir beraten heute einen Gesetzentwurf
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zur Einführung des Elterngeld Plus. Damit setzen wir ei-nes der wichtigsten Wahlversprechen aus unserem Re-gierungsprogramm um. Daran sieht man: Die Familienin unserem Land können sich auf die Union verlassen.
Paare können selbst entscheiden, ob ein Partner dasganze Jahr zu Hause bleibt oder ob beide Partner sichdiese Zeit im Sinne der Vereinbarkeit von Familie undBeruf teilen. Sie können sich entscheiden, ob sie ge-meinsam wieder in den Beruf einsteigen oder nacheinan-der. Sie können entscheiden, ob sie die Partnermonategemeinsam nehmen oder nacheinander. Wir schaffeneine maximale Flexibilität und maximale Möglichkeitenfür junge Familien. Genau das ist der Grundsatz unsererFamilienpolitik, der Familienpolitik der Unionsfraktio-nen. Wir sagen: Wir wollen den Familien nicht vor-schreiben, wie sie zu leben haben, wie sie die Vereinbar-keit von Familie und Beruf zu gestalten haben. Das kannin unserem Land jede Familie für sich selbst entschei-den. Deshalb wollen wir hier eine größtmögliche Band-breite, größtmögliche Partnerschaftlichkeit und größt-mögliche Flexibilität.
Ich freue mich, dass wir nun in die Beratungen dieseswichtigen Gesetzentwurfs einsteigen. Das wird einigeWochen dauern. Ich selbst werde nicht bei allen Beratun-gen dabei sein; das ist unschwer zu erkennen. Auchwenn wir für die Familien in unserem Land vieles re-geln, vor unserer eigenen Haustür – da muss ich derMinisterin recht geben – können wir immer noch nichtso wahnsinnig gut kehren. Unsere Arbeitsstrukturen sindnicht sehr familienfreundlich, und für Abgeordnete gibtes auch keine Elternzeit und kein Elterngeld. Die Baden-Württemberger gehen hier mit gutem Beispiel voran.Vielleicht ist das ein Appell an uns alle, einmal darübernachzudenken, vor der eigenen Haustür zu kehren undzu überlegen, wie Politik familienfreundlicher sein kann.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen bei denBeratungen mit den Verbänden viel Erfolg. Ich verab-schiede mich jetzt in den Mutterschutz, leider ohne an-schließend Elternzeit zu haben.
Die besten Wünsche für Ihre Familie. – Das Wort hat
die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Natürlich auch vonmeiner Seite die besten Wünsche und alles Gute für dieKollegin Nadine Schön. Des einen Leid ist des anderenFreud: Wir haben es dann gut, wenn Sie schneller zu unszurückkommen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einigen ist viel-leicht noch nicht aufgefallen, dass wir heute über einenalten Bekannten sprechen, nämlich über das Teileltern-geld. Das Teilelterngeld gerecht gestalten: Das warschon in der letzten Legislaturperiode eigentlich Kon-sens aller Fraktionen hier im Haus. Ich erinnere michnoch sehr gut, dass der entsprechende Gesetzentwurf,den es ja schon gab, wieder in der Schublade verschwun-den ist – Stichwort Finanzierungsvorbehalt. Unsere da-maligen Anträge, in denen wir forderten, die kleineSumme lockerzumachen, die dafür notwendig ist, die fi-nanzielle Benachteiligung von Eltern, die während desElterngeldbezugs Teilzeit arbeiten, auszugleichen, wur-den abgelehnt. Man sieht: Manches braucht einfach einbisschen länger.Das Teilelterngeld kommt jetzt mit einem smarterenLabel. Es heißt jetzt Elterngeld Plus. Das klingt unbe-streitbar etwas besser.
Selbstverständlich finden wir es gut, dass die beschrie-bene Benachteiligung jetzt zumindest zum Teil aufgeho-ben wird.
Meine Kollegin Franziska Brantner wird gleich aber dar-stellen, dass es hier noch viel mehr und flexiblere Mög-lichkeiten gäbe.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zeitgleich mitdem Gesetzentwurf zum Teilelterngeld, der in der letztenLegislaturperiode in der Schublade verschwunden ist, istdort auch noch ein anderer gelandet, nämlich der zurAusweitung des Unterhaltsvorschusses. Die Ausweitungdes Unterhaltsvorschusses wäre nun wirklich ein echterBeitrag zur Verbesserung der Situation von Alleinerzie-henden.
Genau dieser Gesetzentwurf hat es aber bis dato nichtwieder aus dieser Schublade herausgeschafft. Ich finde,es ist eine Aufgabe für uns, dafür zu sorgen, zumal sichja die Ministerin – wir haben es gehört – die Unterstüt-zung von Alleinerziehenden auf ihre Fahnen geschriebenhat.Es ist auch schon erwähnt worden: Man kann nichtwirklich bemerken, dass diese Regierung Alleinerzie-hende unterstützt. Das muss ich auch am vorliegendenGesetzentwurf kritisieren. Es ist geplant, Alleinerzie-
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hende, die ein gemeinsames Sorgerecht haben, vom Be-zug der Partnermonate und vom Partnerschaftsbonusbeim Elterngeld auszuschließen. Es kann ja nun wirklichnicht sein, dass bei der Ausgestaltung von Elterngeldund Elterngeld Plus Anreize dafür gesetzt werden, keingemeinsames Sorgerecht in Anspruch zu nehmen. Daskann nicht im Sinne der Kinder sein. Hier besteht ganzdringender Handlungsbedarf im Gesetzgebungsverfah-ren.
Daneben wird das Elterngeld auf das Arbeitslosen-geld II angerechnet. Das heißt, für Eltern im ALG-II-Be-zug fällt es faktisch weg. Gerade armen Eltern, die aufdie finanzielle Unterstützung besonders angewiesensind, wird der vielbeschworene Schonraum nicht ge-währt.
Das hat die Fraktion der Ministerin in der letzten Legis-laturperiode übrigens ganz scharf kritisiert. Davon istheute nichts mehr zu hören. Ich finde das nicht akzepta-bel. Wir akzeptieren nicht, dass mit dem Gesetzentwurf,den wir heute beraten, zwar eine Ungerechtigkeit besei-tigt, aber eine Riesenungerechtigkeit mit Blick auf diearmen Familien in diesem Land nicht angegangen wird.Hier werden wir nicht mitmachen.
Wir haben heute einiges über Partnerschaftlichkeitgehört. Zwei Drittel der Eltern wünschen sich eine part-nerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Familienar-beit. Nur 6 Prozent können das in ihrem Alltag umset-zen. Diese riesige Differenz zwischen Wunsch undWirklichkeit muss uns natürlich alarmieren, und sie istauch ein Auftrag an uns Familienpolitiker.Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus sind kleineSchritte, aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wirfeststellen: Das ist nicht der große Wurf.Wir wissen doch, wo die großen Killer der Partner-schaftlichkeit stecken. Der unlängst vorgelegte Abschluss-bericht zur Evaluation der ehe- und familienbezogenenLeistungen hat uns das ja schon wieder hinter die Ohrengeschrieben: Es ist unter anderem das Ehegattensplit-ting, das Alleinverdienerehen privilegiert und damit ge-gen eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- undFamilienarbeit wirkt.
Wenn wir tatsächlich wollen, dass Eltern so leben kön-nen, wie sie es sich selber wünschen, dann müssen wirweg vom Ehegattensplitting und alle Familien ganz di-rekt besser fördern und unabhängig vom Trauschein bes-ser unterstützen.
– Ja, das sieht sie so.Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich erinneremich noch gut an ein Politikmagazin im Fernsehen kurzvor der Bundestagswahl. Da hat Manuela Schwesig dieNachteile des Ehegattensplittings ganz klar beschrieben,und ich habe gedacht: Hui! – Seit der Bundestagswahlhört man überhaupt nichts mehr. Ich erwarte, ehrlich ge-sagt, von der Ministerin, dass sie die Evaluation der ehe-und familienbezogenen Leistungen ernst nimmt und sichnicht den Rest der Legislaturperiode vor den wirklichharten Fragen, was die Partnerschaftlichkeit in den Fa-milien angeht, wegduckt.
Zu diesen harten Fragen gehört auch die Frage nachdem Recht auf Rückkehr in Vollzeit. Das ist so wichtig,um insbesondere die Frauen aus der Teilzeitfalle zu ho-len, aber eben auch, um die Männer zu ermutigen, über-haupt in Teilzeit zu gehen, weil sie wissen, dass sie daauch wieder herauskommen. Das Recht auf Rückkehr inVollzeit ist eines der wichtigsten Instrumente für mehrPartnerschaftlichkeit. Es findet sich ja sogar im Koali-tionsvertrag der Großen Koalition. Es ist aber eines derwenigen im Koalitionsvertrag beschriebenen Instru-mente, die in der konkreten Arbeitsplanung nicht vor-kommen. Das können wir nicht akzeptieren.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, zu den harten Fra-gen gehört übrigens auch die Frage nach der Entgelt-gleichheit. Wenn Frauen fast ein Viertel weniger verdie-nen als Männer, dann ist doch klar, dann ist es dochindividuell betrachtet rational absolut nachvollziehbar,warum sich junge Paare schwuppdiwupp in klassischenRollenmustern wiederfinden, die sie selbst gar nichtmehr leben wollen. Es ist unsere Aufgabe, jungen Fami-lien zu ermöglichen, so zu leben, wie sie selbst es sichvorstellen. Das ist für mich echte Wahlfreiheit. Viele Fa-milien können das heute nicht. Hier besteht ganz drin-gender Handlungsbedarf. Wir können nicht bis nach dernächsten Wahl warten. Deshalb betrachten wir den heuti-gen Gesetzentwurf als einen guten Startschuss. Aber erdarf keinesfalls schon als Zielgerade für diese Legisla-turperiode angesehen werden.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Carola Reimann hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Dr. Carola Reimann
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Ich bin im Oktober zu einer Tagung eingeladen. Der Ti-tel dieser Tagung lautet: „Wer schneller lebt, ist früherfertig …“. Dieser Satz beschreibt die Lage von Familienund Eltern in unserem Land sehr gut. Eltern sind Meisterim Optimieren. Sie wollen beides: Beruf und Familie.Sie geben dafür alles: Sie engagieren sich voll im Beruf,bringen immer volle Leistung, sind oft rund um die Uhrerreichbar und sind nebenbei aufmerksame, liebevolleund engagierte Eltern, die sich vom ersten Lebensmonatihrer Kinder an um beste Förderung und Chancen bemü-hen.Und doch bleibt ein Unbehagen, dass Wichtiges zukurz kommt: Kinder, denen manchmal doch die Elternfehlen, der Partner, den man aus den Augen verliert, manselbst und die eigene Gesundheit. VollzeiterwerbstätigeMütter sind oft früher fertig. Sie sind in einem erschre-ckenden Ausmaß von Burn-out betroffen. Das sprichtBände und deutet auf eine fortwährende Überforderunghin. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Mütter zu-rück an den Herd, Schwiegertöchter an die Schnabeltas-sen, das kann ja wohl nicht die Lösung dieses Dilemmassein.
Gleichstellung ist eine wichtige Errungenschaft. Siemacht unsere Gesellschaft bunter, gerechter und lebens-werter. In die Zeiten, in denen die Lebensverläufe durchdas Geschlecht vorherbestimmt waren, will ja außer einpaar ganz Erzkonservativen niemand mehr zurück.
Die richtige Antwort hat Ministerin Schwesig mit ih-ren Familienarbeitszeiten gefunden; denn sie löst damitdie Zeitkonflikte aus dem ausschließlich Privaten he-raus. Nicht allein jede und jeder Einzelne ist gefragt, im-mer besser, immer schneller, immer optimierter und or-ganisierter zu werden. Nein, es ist auch Aufgabe von unsallen, von Politikerinnen und Politikern, gemeinsam mitden Tarifpartnern die richtigen Rahmenbedingungen zuschaffen. Im Klartext: auch für kürzere Arbeitszeiten zusorgen.
Heute machen wir mit dem Elterngeld Plus den erstenSchritt. Es räumt Eltern mehr Spielraum bei der Nutzungdes Elterngeldes ein. Es belohnt eine partnerschaftlicheAufteilung mit zusätzlichen Elterngeldmonaten; das ha-ben wir hier gehört. Es ermöglicht Eltern, die Elternzeitbesser in ihrem eigenen Sinne und nach ihren eigenenBedürfnissen zu nutzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Detailregelungwerden wir im parlamentarischen Verfahren noch ange-hen, und zwar im Interesse derjenigen Gruppe, die wiekeine zweite mit ihrer knappen Zeit jonglieren muss: dieAlleinerziehenden. Das ist hier schon angeklungen. Ar-beiten gehen, Haushalt schmeißen, Essen kochen, vorle-sen, trösten – für Alleinerziehende sind all das Tätigkei-ten, für die sie ganz allein zuständig sind, während alldas in Paarfamilien von zweien geleistet werden kann.Wir haben deshalb schon bei der Einführung des Eltern-geldes dafür gesorgt, dass Alleinerziehende genausoviele Elterngeldmonate bekommen wie Paare.Und jetzt? Was vor acht Jahren noch gut geklappt hat,wird heute durch eine an sich sehr positive Entwicklung,nämlich dass sich immer mehr alleinerziehende Elternfür das gemeinsame Sorgerecht entscheiden, immerschwieriger. Darauf haben uns fast alle Familienverbändehingewiesen. Auch der Bundesrat verlangt in seiner Stel-lungnahme vom letzten Freitag eine pragmatische Lö-sung im Sinne und im Interesse der Alleinerziehendenmit gemeinsamer Sorge. Diese Anregungen werden wir,Kollege Wunderlich und Kollegin Dörner, im parlamen-tarischen Verfahren sehr gerne aufgreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Elterngeld Plusist nur die erste von drei zeitpolitischen Reformen, diesich die Große Koalition vorgenommen hat. Dazu zähltauch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,Pflege und Beruf, das Erleichterungen für Beschäftigtemit pflegebedürftigen Angehörigen bringt; MinisterinSchwesig wird es in Kürze vorlegen. Im nächsten Jahrfolgt dann der Gesetzentwurf aus dem Ministerium fürArbeit und Soziales, mit dem wir Eltern nach einer Teil-zeitphase garantieren, auf eine Vollzeitstelle zurückzu-kehren, Kollegin Dörner. Das gehört zur sehr konkretenArbeitsplanung des Arbeitsministeriums.
Mit diesen drei Reformvorhaben machen wir großeund wichtige Schritte zur Vereinbarkeit. Aber wir Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten wollen eigentlichnoch einen weiteren größeren Schritt gehen: Wir wollen,dass aus dem Elterngeld Plus bald die Familienarbeits-zeiten werden. Wir wollen andere Arbeitszeitmuster,nicht nur für Eltern von Kleinkindern, sondern auch fürdie Eltern von älteren Kindern;
denn die Zeitkonflikte von Familien beschränken sichnicht auf die Zeit, wenn Kinder klein und niedlich sind.
Eltern erleben oft, dass mit dem Alter des Kindes dieProbleme der größeren und auch niedlichen Kinder eherzunehmen.Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg, damitbeide Elternteile ihre beruflichen Wünsche verwirkli-chen können und eine eigene finanzielle Grundlage ha-ben. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg für dieFamilien, damit sie gleichzeitig auch Familie sein kön-nen. Familienarbeitszeiten sind der richtige Weg – auchdas ist hier schon gesagt worden – für die Wirtschaft, diefür sie immer kostbarer werdenden Fachkräfte zu halten.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5079
Dr. Carola Reimann
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Kluge Wirtschaftsführer wie Eric Schweitzer, Chef desDeutschen Industrie- und Handelskammertages, habendas bereits erkannt; denn wenn beide Elternteile im Er-werbsleben bleiben, bedeutet das für die Unternehmeneine höhere Zahl an Fachkräften, als wenn einer, meis-tens eine, die Brocken hinwirft.Ministerin Schwesig hat mit dem Thema Familienar-beitszeiten die zentrale Debatte angestoßen. Heute ma-chen wir den ersten gesetzgeberischen Schritt. Am Endemuss eine Gesellschaft stehen, die Familien mehr Zeitlässt, und eine Gesellschaft, in der wir nicht früher fertigsind, sondern gemeinsam länger zufrieden.Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Ja, die Lebensrealität der jungen Familienhat sich in den letzten Jahren verändert. Es ist gut, dassdas Elternzeitgesetz nun der Realität angepasst wird. Ichsehe in der Tat positive Bewegungen.Es sind schon einige Punkte angesprochen worden:Bisher bekommen Eltern bis zu 14 Monaten Elterngeld,wenn beide Elternteile nach der Geburt des Kindes nach-einander eine berufliche Auszeit für die Betreuung desKindes nehmen. Wenn aber ein Elternteil oder sogarbeide weiter in Teilzeit arbeiten, hat sich der Elterngeld-anspruch bisher nicht verlängert. Mit der Einführungvon Elterngeld Plus wird diese Lücke geschlossen, unddas ist auch gut so.Die Eltern haben bisher einen Teil ihres Elterngeldan-spruches verloren. Das war eine absurde Situation; denndas Elterngeld sollte ja dazu dienen, einen früheren Wie-dereinstieg in den Beruf sicherzustellen, gleichzeitigaber auch mehr Zeit für die Kindererziehung zu ermögli-chen. Es ist richtig und wichtig, die bisherige Regelungzu korrigieren.
Mit der Flexibilisierung der Elternzeit bis zum vollen-deten achten Lebensjahr macht das Familienministeriumeinen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Wasfehlt, ist aber eine passende Flexibilisierung des Eltern-geldes. Denn es war bereits 2008 eine Forderung derLinken – das hat Kollege Wunderlich schon gesagt –, El-terngeld und Elternzeit flexibler miteinander zu kombi-nieren. Es ist richtig, nicht nur an die Zeit nach der Ge-burt zu denken, sondern auch an Übergänge, zumBeispiel die Schuleingangsphase. Diesen Übergang ge-meinschaftlich und partnerschaftlich zu gestalten, kön-nen sich weiterhin nur Paare mit einem sehr guten Ein-kommen leisten. Denn das Elterngeld wurde nichtflexibilisiert.Wir hatten vorgeschlagen, dass das Elterngeld in Teil-abschnitten von mindestens zwei Monaten bis zur Voll-endung des siebten Lebensjahres in Anspruch genom-men werden kann. Wir wären auch mit dem achtenLebensjahr einverstanden, wenn man es miteinanderkombiniert und für alle Eltern ermöglicht.
Wir freuen uns, dass dieser Vorschlag zumindest zumTeil aufgenommen wurde.Das heißt, das Elterngeld Plus ist ein Schritt in dierichtige Richtung. Aber solche für Eltern positiven Ver-änderungen gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man denGesetzentwurf liest, reibt man sich aber verwundert dieAugen. Denn kosten soll das Vorhaben nichts. Wie hatman das geschafft?Man geht nicht etwa davon aus, dass die neuen Rege-lungen nicht von den Eltern in Anspruch genommenwerden – das wäre furchtbar –, sondern man hat woan-ders eine Einsparmöglichkeit gefunden. Das Bundesso-zialgericht hatte im Sommer 2013 geurteilt, dass der El-terngeldanspruch für jedes Kind besteht. Das hieß bisdato, dass zum Beispiel Eltern, die Zwillinge bekommenhaben, Elterngeld für beide Kinder beantragen und sichgemeinsam um diese doppelte Herausforderung küm-mern konnten. Das soll nun – in Anführungszeichen –klargestellt werden. Das soll zukünftig nicht mehr mög-lich sein. Der Elterngeldanspruch gilt künftig pro Geburtstatt pro Kind. Man will damit 100 Millionen Euro spa-ren.Das heißt, man nimmt den einen Familien das Geld,um die Teilzeitbeschäftigung für andere Familien zu er-möglichen. Das halten wir für ungerecht. Wollen Sie daswirklich? Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmalsprechen.
Eine weitere Ungerechtigkeit – darauf wurde eben-falls schon hingewiesen – bleibt nach den Vorstellungender Bundesregierung erhalten: die volle Anrechnung desElterngeldes auf das Arbeitslosengeld II. Diese Familienwaren von Anfang an benachteiligt. Erst hat man ihnenim Verhältnis zum Erziehungsgeld die Hälfte der Be-zugsdauer gekürzt. Dann hat man ihnen die sogenanntenVätermonate verwehrt. In einer dritten Reform hat manes dann gänzlich auf das Einkommen angerechnet. Dasist im Zusammenhang mit dem Sparpaket im Sommer2010 erfolgt.Eltern im Hartz-IV-Bezug waren von Anfang an be-nachteiligt. Die Benachteiligungen haben sich sogarnoch verschärft, und auch mit dem Elterngeld Plus wirdsich daran nichts ändern. Bei armen Eltern kommt dasElterngeld auch weiterhin nicht an. Das ist kein Konzeptfür die Bekämpfung von Familienarmut, Elternarmutund Kinderarmut. Die Gleichbehandlung der Eltern istebenfalls nicht gegeben. Diese Chance – das ist schonangesprochen worden – wurde vertan.
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5080 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Diana Golze
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, ja, diesesElterngeld Plus war ein Wahlversprechen, das Sie gege-ben haben. Ich finde es gut, dass Sie es umsetzen. Sie ha-ben aber in Ihrem Regierungsprogramm auch gefordert:Wir wollen das Basiselterngeld für ALG-II-Empfänge-rinnen und -Empfänger wieder anrechnungsfrei stel-len. – Diese Chance haben Sie mit diesem Gesetzent-wurf vertan. Das ist keine Politik im Sinne von armenFamilien.
Besonders diese beiden Ungerechtigkeiten geben mirzu denken. Ich bin deshalb auf die Diskussion im Aus-schuss und auf die Stellungnahmen der Sozialverbändein der Anhörung gespannt und hoffe, dass wir noch zuÄnderungen kommen werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Wunderlich hat vorhin nach der In-tention des Gesetzentwurfs gesucht. Es ist relativ ein-fach: Endlich sind wir politisch so weit, dass wir nichtmehr fragen: Arbeitsmarkt oder Familie? Wir sind näm-lich so weit, dass wir Erwerbstätigkeit und Familienzeitzusammenbringen wollen, weil das im Sinne der Fami-lien und übrigens auch der Arbeitgeber ist. Denn ist derArbeitnehmer zufrieden und hat er ein geregeltes Fami-lienleben, dann ist es auch gut für die Arbeitgeber unddie Wirtschaft.
Das ist auch unser Leitgedanke bei den heutigen Fra-gestellungen. Wir haben heute sozusagen einen HappyFriday bzw. Family Friday: Wir werden zwei große Ge-setzesvorhaben verabschieden. Zuerst geht es um dasThema Elternzeit und Partnerschaftlichkeit, und in derzweiten Halbzeit geht es um den weiteren Ausbau derKitabetreuung. Das sind zwei zentrale Maßnahmen die-ser Großen Koalition in den nächsten Jahren. Damit wer-den wir den Wünschen der Eltern gerecht. Unser Leit-motiv ist, Eltern zu unterstützen.Wir gehen nun nicht, wie Frau Reimann sagte, denersten Schritt, sondern den zweiten bzw. sogar den drit-ten Schritt. Wir haben bereits in der ersten Großen Ko-alition vor vielen Jahren nicht nur den Krippenausbau,sondern auch die Einführung des Elterngeldes beschlos-sen. Die Weichen, die wir damals gelegt haben, werdenwir jetzt stellen, und zwar unter Berücksichtigung dergesellschaftlichen Veränderungen. Ein Jahr nach derBundestagswahl gehen wir nun den entscheidendenSchritt.Frau Dörner, Sie haben die Gelegenheit genutzt, umnoch einmal für sich persönlich und vielleicht auch fürIhre Fraktion darzulegen, wie Sie gewisse Sachverhaltesehen. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen,dass Sie weiterhin das Ehegattensplitting komplett ab-schaffen wollen. Das müssten Sie in Ihrer Fraktion ein-mal klären. – Frau Brantner, Sie nicken, aber Sie sinddiejenige, die sich in den letzten Tagen ein bisschen ge-öffnet hat. In der Welt vom 19. September haben Sie dieFrage gestellt:Warum versuchen wir ständig, die Familien durchneue Maßnahmen und mehr Geld arbeitsmarktfähigzu machen, statt endlich zu fragen: Wie wollen wirim 21. Jahrhundert arbeiten, um auf die Bedürfnisseder Familien im 21. Jahrhundert einzugehen?Ich wünsche mir, dass Sie diese Fragestellung zum Leit-motiv Ihrer grünen Politik machen und endlich auf dieAgenda setzen, anstatt ideologisch bedingt darübernachzudenken, wie sich das Ehegattensplitting und an-dere Maßnahmen, die durchaus eine hohe Akzeptanz ha-ben, abschaffen lassen.
Die Familienleitbilder haben sich verändert. Das neh-men nicht nur andere, sondern auch wir wahr. Vor die-sem Hintergrund stellt sich uns als Union die Frage, obwir Familienleitbilder vorgeben sollen. Dazu sagen wirNein. Für uns stehen drei Sachverhalte im Vordergrund.Erstens. Wir wollen die Eigenverantwortung und dieSelbstbestimmtheit der Familien als Kernstücke unsererFamilienpolitik stärken.Zweitens. Wir machen zwar Angebote, wollen aberkeine rundum betreute Familie. Vielmehr wollen wir ei-genverantwortliche Elternschaft und eigenständig han-delnde Familien unterstützen.Drittens. Wir setzen als Leitmotiv Vertrauen in die El-tern und die Elternarbeit. Bei der Stärkung der Eigenver-antwortlichkeit der Eltern werden wir die verändertenLebenswirklichkeiten berücksichtigen. Über 80 Prozenteiner befragten Gruppe von bis zu 39-Jährigen hat ge-sagt: Die Familienleitbilder haben sich verändert. Es gibtnicht nur die traditionelle Familie, sondern auch Allein-erziehende – auch diese müssen wir in den Fokus unse-rer Beratungen rücken – und andere Formen des Zusam-menlebens.Vor diesem Hintergrund müssen staatliche Leistungs-angebote darauf überprüft werden, ob sie sich mit Verän-derungsprozessen noch in Übereinstimmung befinden;das werden wir tun. Die oft kritisch gesehenen familien-politischen Leistungen wie der Kitaausbau sind zentralfür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, genausowie das nun vorgesehene Elterngeld Plus, das sicherlichgenauso positive Auswirkungen haben wird wie das El-terngeld. Wir sind stolz darauf, dass wir das alles auf denWeg gebracht haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5081
Marcus Weinberg
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Welche Wünsche haben Eltern? 91 Prozent der Be-fragten sind der Meinung, dass sich beide Eltern um dieBetreuung der Kinder kümmern sollten. Nadine Schönhat bereits unsere besondere Situation angesprochen. Ichgehöre zu den rund 60 Prozent der Väter, die mehr Zeitmit den Kindern verbringen wollen. Solche Wünschemüssen wir in der Politik berücksichtigen. Das Eltern-geld Plus schafft die Möglichkeit, solche Wünsche zu er-füllen.
81 Prozent teilen die Ansicht, dass beide Eltern gleicher-maßen für das Familieneinkommen verantwortlich sind.Das sind die Leitmotive für das Elterngeld Plus. Mo-mentan sieht die Situation aber noch anders aus. Väterarbeiten durchschnittlich 42 Stunden, während Mütter17 Stunden in der Woche arbeiten. 60 Prozent der Elternmit Kindern unter drei Jahre wünschen sich ein Modell,das eine stärkere Partnerschaftlichkeit ermöglicht.
Aber nur 14 Prozent gelingt es, diese Partnerschaftlich-keit auch zu leben. Hier gibt es noch einiges zu tun.Die zentralen Punkte des Elterngeldes sind: Die Kom-bination aus Teilzeiterwerbstätigkeit und Elterngeldbe-zug muss attraktiver gemacht werden. Das ist auch imSinne der Arbeitgeber. Wenn junge, gut ausgebildeteFrauen vor 40 Jahren Mütter wurden, haben sie als Fach-kräfte meistens den Arbeitsmarkt verlassen und sind erstnach sechs oder zehn Jahren zurückgekehrt. Mit dem El-terngeld Plus schaffen wir Angebote, die es Frauen er-möglichen, als Teilzeitkräfte früher in den Beruf zurück-zukehren. Das führt dazu, dass die Arbeitgeber früherwieder auf diese Fachkräfte zurückgreifen können.Weiterhin honorieren wir die partnerschaftliche Auf-teilung. Wenn Väter etwas mehr Zeit mit der Familieverbringen wollen – etwas mehr Zeit für die Kinder be-deutet etwas weniger arbeiten –, dann heißt das für Müt-ter, dass sie etwas mehr arbeiten. Wir wollen im Sinneeiner Angleichung die partnerschaftliche Aufteilung vonBetreuungs- und Erwerbsaufgaben stärken. Das ist mitdem Partnerschaftsbonus verbunden. Das sind dann – inAnführungszeichen – nur vier Monate, aber damit sollein Signal gesetzt werden. Es ist den Eltern überlassen,die Aufteilung eigenverantwortlich zu organisieren. Ins-gesamt steht dahinter der Gedanke, dass wir den Elternbzw. der Familie mehr Zeit geben. Das ist nicht nur fürdie Eltern gut, sondern das ist besonders für die Kindergut.
Dabei ist ein zentraler Punkt das Elterngeld. Wir sa-gen: Kombiniert doch – in Anführungszeichen – das alteElterngeld, also das Basiselterngeld, mit dem Eltern-geld Plus. – Die Familien sollen entscheiden, wie sie dasmachen. Dazu gehört auch die Absprache mit dem Ar-beitgeber zum beiderseitigen Nutzen.Frau Brantner, ich habe schon wieder ein Zitat von Ih-nen gefunden. Das passt gut, da Sie nach mir reden. Ichfinde richtig, dass Sie seinerzeit in der Welt auch gesagthaben:Der Staat muss größere Zeitsouveränität und Frei-räume vom ökonomischen Zeitdruck ermöglichen,er darf das aber nicht vorschreiben. Das ist genau richtig.
Wir schreiben nichts vor. Wir sagen: Entscheidetihr! – Wir eröffnen die Angebote, aber die Familien müs-sen entscheiden, welche Möglichkeiten sie in Anspruchnehmen. Unsere Grundintention ist, Herr Wunderlich, Fa-milienpolitik zu entideologisieren und zur Anerkennungder Handlungsfreiheit der Familie zu kommen. Wir wol-len weg von Formulierungen wie „Rabenmutter“ oder„Herdprämie“. Das wollen die Familien nicht mehr hö-ren. Das ist überholt.
In dem Zusammenhang gibt es für uns einen wichti-gen Punkt: die Belastung für die Wirtschaft. Er wird im-mer wieder angesprochen. Wir Familienpolitiker müssenimmer schauen, dass unsere Maßnahmen den Erforder-nissen der Wirtschaft nicht widersprechen. Unser Grund-ansatz ist: Wenn der Arbeitgeber Teilzeitarbeit ermög-licht, dann müssen wir anerkennen, dass das eineschwierige Situation für den Arbeitgeber ist. Deswegenist die Absprache bzw. die Rückkopplung mit der Wirt-schaft zentral; denn der Wohlstand, den wir haben, ist ei-ner gut funktionierenden Wirtschaft zu verdanken. Ihnsollten wir nicht aufs Spiel setzen.
Deswegen sind die Regelungen zur Elternzeit richtig,nämlich dass 24 der insgesamt 36 Monate bis zum voll-endeten achten Lebensjahr des Kindes übertragen wer-den können. Richtig ist aber auch, dass wir die Zustim-mungsfrist des Arbeitgebers auf 13 Wochen verlängern.Wir müssen also immer überprüfen, ob die Wirtschaft,insbesondere der Mittelstand, die Regelungen mittragenkann; denn die Wirtschaft ist ein Fundament unseresWohlstandes.
Daraus leitet sich aber auch die Erkenntnis ab, dassReden und Handeln zwei verschiedene Dinge sind. Es istja so: Wer schneller lebt, ist früher fertig, wer schnellerredet, hat mehr zu sagen.
Gerade für die Arbeitgeber muss deutlich werden: Esreicht nicht, nur vom Erfolgsfaktor Familie zu reden undin Fensterreden zu beteuern, man wolle mehr für die Fa-milie tun. Auch die Arbeitgeber und ihre Verbände sindbei der Veränderung der Familienpolitik mit im Boot.Man könnte sagen, das Elterngeld Plus ist eine weitereBelastung, aber letztendlich ist es im Sinne der Arbeitge-
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5082 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Marcus Weinberg
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ber. Wir werden diesen Diskurs auch mit den Arbeitge-bern führen müssen. Nichts ist besser für einen Arbeitge-ber als ein glücklicher Arbeitnehmer, der weiß, dass seinFamilienleben gut organisiert ist.
Angesprochen haben wir schon die Nachbesserungen,die wir jetzt im parlamentarischen Verfahren anstreben.Die sind richtig, und die werden wir jetzt umsetzen. Ichnenne als Stichwort die Alleinerziehenden. Es gibt nocheinen weiteren Punkt. Die Union befürwortet das Ehren-amt, insbesondere das kommunale Ehrenamt. Wir wer-den uns bemühen, eine Regelung zu schaffen, damit dasElterngeld gut mit dem Ehrenamt kombiniert werdenkann. Näheres werden die parlamentarischen Beratun-gen ergeben.Insgesamt bleibt es heute beim Happy Friday. Es istein schöner Familienfreitag zu bester Stunde heute Mor-gen. Der erste Teil ging um das Elterngeld Plus, undgleich reden wir noch über den Kitaausbau. Familien inDeutschland können sich freuen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Präsidentin! Liebe Frau Schwesig! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Lieber Herr Weinberg, dankefürs Zitieren! Ich sage gleich noch etwas zur echtenWahlfreiheit beim Elterngeld. Zum Ehegattensplitting:Ich bin da sehr klar: Das muss weg. Über das Wie disku-tieren wir. Dazu haben Sie auch schon einen Vorschlaggemacht. Von daher sind Sie in der Diskussion schon mitdabei.
– Habe ich „Elterngeld“ gesagt? Ich meinte „Ehegatten-splitting“; sorry.
– Das ist die Debatte über das Wie: Wie ändern wir es?Wir sagen: Es muss weg und durch etwas anderes ersetztwerden. Sie sagen: Familiensplitting. – Die Debatte istoffen.
– Genau, zu den Familien: Deutschlands Familien, dassind: Alleinverdienende, Doppelverdiener, Minijobar-beitende, Teilzeitarbeitende, Schichtarbeitende, Pendler,getrennt, verheiratet, verpartnert oder einfach nur zu-sammen, ein Kind, zwei Kinder, drei Kinder oder mehr –die Vielfalt ihrer Wünsche und Bedürfnisse ist unserAuftrag hier.
Liebe Frau Schwesig, Ihr Modell ist unfair, weil Al-leinerziehende die 25 bis 30 Stunden kaum schaffenkönnen. Auch für jene Mütter, die mit jemandem zusam-menleben, aber die gar nicht auf 25 Stunden hochgehenkönnen, weil sie sich schon mit zwei Minijobs herum-schlagen und ein dritter gar nicht möglich ist, greift dasModell nicht. Das Modell ist auch unfair, weil es egal ist,ob eine Mutter oder ein Vater auf eine Halbtagstätigkeitreduziert oder nur eine Stunde pro Tag weniger arbeitet –die Dauer der Zahlung des Elterngeldes wird immer nurverdoppelt, maximal auf 28 Monate. Das ist für jene, dieihre Arbeitszeit zum Beispiel nur um ein Viertel reduzie-ren, nicht ganz fair. Das Modell ist auch unfair – das ha-ben wir heute schon vielfach gehört – für all jene, die imALG-II-Bezug sind.Wir als Grüne wollen deshalb von anderen europäi-schen Ländern lernen. Mittlerweile ist bekannt, dassSchweden die Vereinbarkeit besser hinbekommt alsDeutschland und dass sich dort Väter auch mehr an derFamilienarbeit beteiligen. Warum ist das so?Nehmen wir das schwedische Elterngeld: In Schwe-den können Eltern das Elterngeld anteilig und dafür füreinen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Ein Bei-spiel: Eine Mutter, die ihre Arbeitszeit zu einem Viertelreduziert, bekommt viermal so lange Elterngeld. IhrPartner, der zu einem Achtel weniger arbeitet und sie un-terstützt, kann achtmal so lange Elterngeld beziehen.Das macht es für beide Elternteile leichter, gleichzeitigauszusteigen und sich das Elterngeld länger zu teilen.Deswegen schlagen wir vor, dieses schwedische Mo-dell des Elterngelds zu übernehmen und dafür, auch wiein Schweden, die Elternzeit bis zum 14. Lebensjahr desKindes auszuweiten.
Stellen Sie sich einmal vor, auch in Deutschland würdedie Vielfalt der Familien und der Lebensphasen wirklichso anerkannt werden! Eine alleinerziehende Mutterkönnte für die ersten acht Monate nach der Geburt desKindes ganz aussteigen, dann für vier weitere Monate zueinem Viertel wieder einsteigen. Dann blieben ihr immernoch weitere sechs Monate für einen Halbtagsjob. Odersie sparte sich die Zeit auf, für die Einschulung des Kin-des zum Beispiel oder für noch später.So könnten Eltern den Bezug von Elterngeld, mitPartnermonaten inklusive, auf maximal 112 Monate stre-cken. Stellen Sie sich vor, dabei könnten sie das Eltern-geld wirklich bis zum 14. Lebensjahr des Kindes nutzen– wie es eben der vielfältigen Realität entspricht! –,wenn das Kind in die Pubertät kommt, wenn es auf eineweiterführende Schule wechselt oder wenn es einfacheinmal mehr Zuwendung braucht, wenn mehr Zeit fürdas Kind notwendig ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5083
Dr. Franziska Brantner
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Unser Modell macht drei Dinge:Erstens. Es macht einen schrittweisen Wiedereinstiegin den Beruf einfacher.Zweitens. Es erlaubt auch in späteren Phasen des Le-bens eines Kindes, Arbeitszeit zu reduzieren und dafürnoch ein Zeitguthaben zu haben.Drittens. Es macht es Vätern leichter, sich zu beteili-gen. Eine halbe Stelle schreckt viele Väter ab. Mit einergeringeren Reduzierung, dafür aber für länger, werdenmehr Väter erreicht, und die Beteiligung am Elterngeldbalanciert sich zunehmend aus. Wenn man sich die Sta-tistik in Schweden anschaut, sieht man – das ist ganz in-teressant –, dass Väter nach dem dritten Lebensjahr desKindes – bei Frau Schwesig in Deutschland gibt es dannschon kein Elterngeld mehr – genauso viel Elterngeld inAnspruch nehmen wie Mütter. Über das schwedische El-terngeldmodell kommt es zu einer wirklich partner-schaftlichen Aufteilung.
Natürlich brauchen wir dazu auch eine familien-freundlichere Arbeitswelt und -kultur. Es sind eben nichtdie Familien, die sich dem Arbeitsmarkt anpassen müs-sen, sondern andersherum. In Deutschland haben wireinen wirklich schlechten Mix. Wir haben die Präsenz-kultur, kombiniert mit der weitverbreiteten Dauerer-reichbarkeit. Präsenzkultur und Dauererreichbarkeit füh-ren zum Burn-out, wie wir es vorhin schon gehört haben.Auch in diesem Fall sollten wir uns unsere europäischenNachbarn anschauen. In Holland und in Frankreich bei-spielsweise werden Zeitchartas vorgegeben. Arbeitgeberverhandeln mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernüber das „Von wann“, „Bis wann“, „Wo“ und „Mit wel-cher Verfügbarkeit“, damit nicht alle um 9 Uhr anfangenmüssen und zuvor eine Stunde lang gemeinsam im Staustehen, sondern die Zeiten flexibler nutzen können.
Darum geht es uns bei unserem Modell des flexiblenElterngeldes: Wir wollen, dass sich Eltern frei aussuchenkönnen, wie viel, wann und wie sie arbeiten. Dafürbraucht es eine verlässliche Kindertagesbetreuung, ins-besondere für Alleinerziehende, eine familienfreundli-che Kultur in den Unternehmen und Instrumente, dieFlexibilität und Vielfalt zulassen. Dafür steht unser Mo-dell des flexiblen Elterngeldes.Liebe Große Koalition, schaffen Sie doch die echteWahlfreiheit! Wir wären dafür.Ich danke Ihnen.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Eine unserer größten Aufgaben in den nächsten zehnJahren wird es sein, unser Hauptproblem zu lösen, näm-lich das Problem des demografischen Wandels.Wieso ist es so, dass in Frankreich eine Mutter imDurchschnitt mehr als zwei Kinder bekommt, inDeutschland eine Mutter aber weniger als 1,4 Kinder?Ohne die Lösung dieses Problems werden wir nicht vo-rankommen.Ein Land, eine Gesellschaft braucht drei Dinge: inne-ren und äußeren Frieden – dafür kämpfen wir an vielenFronten in Europa und in der ganzen Welt –, eine funk-tionierende Wirtschaft – sonst hat niemand Geld, undniemand kann in dem Wohlstand leben, den wir jetzt ha-ben – und Menschen, Kinder. Inzwischen sind das auf-grund unserer globalisierten Welt gut ausgebildete Kin-der. Also müssen wir an dieser Stelle ansetzen.Dabei müssen wir alle ins Boot holen – das wurdemehrfach angesprochen –, insbesondere auch die Wirt-schaft. Es kann nicht sein, dass das dritte Ziel vernach-lässigt wird, weil uns das zweite immer wichtiger ist.Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf – ich begrüße essehr, dass er eingebracht wurde –, der zugegebenerma-ßen nur ein kleiner Schritt ist und der zugegebenermaßenmittelbar auch wieder Geld kostet, vor allem dann, wennman ihn noch etwas besser machen würde. Das würdeden Haushalt sprengen. Aber es ist ein Signal, und einSignal kann Einfluss haben.Der Unterschied zu Frankreich ist nicht nur die bes-sere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie sie fak-tisch gelebt wird, sondern der Unterschied besteht auchin der Werteeinstellung. Es ist nach wie vor in einigenGebieten unseres Landes so, dass sich eine Frau recht-fertigen muss, wenn sie nach der Geburt des Kindes wie-der anfängt, voll zu arbeiten. Meine Kinder waren dreiund vier Jahre alt, als ich in den Bundestag gegangenbin. Ich musste bei jedem Interview erklären, wie ich dasdenn mit den Kindern mache. Das ist wirklich so gewe-sen. Ich glaube nicht, dass man diese Frage einem Mannstellen würde.
Deshalb kann man mit kleinen Gesetzen, auch wennsie nur ein Signal sind, die Einstellung der Menschen imLand ändern, und deshalb sind sie wichtig.Wir haben drei Aspekte: die Einführung des Eltern-geld Plus, die Einführung des Partnerschaftsbonus unddie Flexibilisierung der Elternzeit.Zunächst zur Flexibilisierung der Elternzeit. Daswurde bereits gesagt. Die Möglichkeit, bis zu 24 Monatezu übertragen bis zum achten Geburtstag des Kindes, be-grüße ich sehr, gerade weil es noch einfacher ist, wennman auf eine Kita, einen Kindergarten zurückgreifenkann, zwei Drittel zu arbeiten.Die richtige Herausforderung stellt sich aber erstdann, wenn das Kind eingeschult wird, wenn das Kind
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5084 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Dr. Silke Launert
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um 11 Uhr oder halb zwölf nach Hause kommt. Da ha-ben wir noch Baustellen, an denen wir arbeiten müssen.Ich sage Ihnen: Das sind die Probleme, die ich habe unddie meine Freundinnen haben. Deshalb ist die Übertra-gung so wichtig.Leider, leider trennen sich immer mehr Eltern. Dasgeht an den Kindern nicht spurlos vorüber, sondern sieleiden. Genau in dieser Phase braucht das Kind Zeit undAufmerksamkeit. Es muss das Gefühl haben, dass je-mand da ist, und nicht das Gefühl, dass die Mama jetztvon halbtags auf ganztags aufstockt und keine Zeit mehrfür ihr Kind hat. Umso wichtiger ist es, hier Flexibilitätzu haben.Zu dem anderen Aspekt, dem Elterngeld Plus. Manmuss sehen: Natürlich fördern wir ganz gezielt die Er-werbstätigkeit von Frauen in einem sehr frühen Stadium.Wir fördern, dass eine Frau früh wieder arbeiten geht,also nach der Geburt eines Kindes nicht ein Jahr zuHause bleibt, sondern teilschichtig arbeitet, sodass siedie Anzahl ihrer Elternmonate verdoppeln kann.Natürlich stimmt der Vorwurf: Ist das nicht eine ge-wisse Vorgabe? Fördert man damit nicht ein bestimmtesLebensmodell? Theoretisch, in den Köpfen, stimmt das,rechnerisch nicht: Vorher war es nämlich so, dass dieFrauen, die frühzeitig wieder angefangen haben, zu ar-beiten, weniger Geld bekommen haben. Insofern stellenwir finanziell eher eine Gleichberechtigung her.
Die gezielte Förderung eines bestimmten Familien-modells betreiben wir zugegebenermaßen beim Partner-schaftsbonus. Dies ist ein Lockmittel, das bewirken soll,dass beide Eltern gemeinsam zurückstecken zugunstender Kinder. Auch wenn die Dauer von vier Monaten, indenen beide Eltern Elternzeit nehmen und gleichzeitigTeilzeit arbeiten, vielleicht zu wenig ist, um unser Zielwirklich dauerhaft zu erreichen, ist es ein entscheidendesSignal: zum einen für die Väter – es gibt ihnen sehr viel,wenn sie auch einmal mehr Zeit zu Hause verbringen –,aber auch für die Mütter, nämlich dass jeder seinen Bei-trag leistet und dass niemand allein für alles verantwort-lich ist. Sie haben mir, Frau Dr. Reimann, aus dem Her-zen gesprochen.
Wenn 60 Prozent der Eltern wünschen, dass man daspartnerschaftlich regelt, aber faktisch nur 14 Prozent dasleben, dann muss man irgendwie Druck machen. Das,was wir vorhaben, ist zumindest ein Anfang, auch wennes, wie ich zugebe, allein natürlich nicht ausreichendsein wird.Hier betreiben wir die gezielte Förderung eines Le-bensmodells, nämlich dass beide Partner zurücksteckenund beide Partner sich beteiligen. Man kann mich jetztfragen: Wieso verachtest du unser konservatives Fami-lienmodell? Wieso wollt ihr das nicht haben? – Dasstimmt doch nicht. Wir verachten es nicht. Es ist auchnicht so, dass wir es nicht haben wollen. Wir fördern esmit einem viel höheren Betrag: mit dem Ehegattensplit-ting. Wir tun das, weil wir beides haben wollen.Sosehr ich es unterstütze, wenn Frauen früh wiederarbeiten, sosehr muss ich es ablehnen, wenn man immerwieder darüber herzieht. Man muss auch sagen: Geradein den Familien, wo einer beruflich mehr zurückstecktals der andere und zu Hause bleibt, werden oft mehrKinder geboren. Ganz ehrlich: Drei Kinder haben, Kar-riere machen und auch noch ehrenamtlich engagiert sein,das führt definitiv in den Burn-out.
Im Wesentlichen sind wir uns alle einig: Lassen Sieuns diesen kleinen ersten Schritt angehen. Wir solltenuns nicht zerstreiten. Nachdem hier von der Vielfalt ge-redet worden ist, sage ich auch: Akzeptieren Sie, die Op-position, bitte auch die Vielfalt der Lebensmodelle ande-rer Menschen.
Es gibt wirklich Frauen, die gerne jahrelang zu Hausesind – ja, es gibt sie – und denen das wirklich wichtig ist.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Fritz Felgentreu, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKollegin Launert, vielen Dank für diese Rede, eineRede, die ich gerade aus den Reihen der CSU nicht un-bedingt erwartet habe. Ich habe Ihnen gerne zugehört.Zur Einführung des Elterngeldes, Frau Schön, vormittlerweile fast acht Jahren habe ich persönlich ein et-was gespaltenes Verhältnis. Als es damals beschlossenwurde, war gerade meine jüngste Tochter unterwegs. Alsdiese Leistung zum ersten Mal ausgezahlt wurde, war siedrei Wochen alt. Da haben meine Frau und ich uns einbisschen wie zwei Dackel vor der Fleischerei gefühlt:„Wir müssen leider draußen bleiben!“Völlig unabhängig von solchen persönlichen Nicke-ligkeiten war mir schon damals klar, dass das Elterngeldein Riesenfortschritt ist. Das Elterngeld hat schon da-mals deutlich gemacht: Diese Republik geht konsequentSchritte, um Familie und Beruf miteinander vereinbar zumachen.
Damals, vor acht Jahren, ging es noch ein bisschenmehr um das Thema Armutsrisiko. Man hat vorgerech-net, was Kinder kosten. Die Überlegung war damals na-türlich auch, jungen Familien zu ermöglichen, dass sieihren Lebensstandard halten und trotzdem Zeit haben,
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Dr. Fritz Felgentreu
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sich um ein kleines Kind zu kümmern. Es war auch gutund richtig so, diesen Ansatz zu wählen.Aber beim Elterngeld Plus geht es jetzt um etwas an-deres. Es geht hier um die Möglichkeit, ein erfülltes Fa-milienleben mit einem erfüllten Berufsleben in Einklangzu bringen, und zwar partnerschaftlich und gleichbe-rechtigt für beide Elternteile. Denn wir wissen doch,dass viele junge Paare deswegen zögern, eine Familie zugründen, weil beide Partner gerade dabei sind, sich be-ruflich eine Existenz und eine Karriere aufzubauen. Siehaben die Sorge, dass die Elternschaft sie auf diesemWege aus der Bahn werfen könnte. Das ist ja auch leichtnachvollziehbar. Wer mit Erfolg eine anspruchsvolleAusbildung absolviert hat, der will die erworbenen Fä-higkeiten danach auch anwenden. Wir dürfen eine hoheMotivation und den Ehrgeiz, beruflich etwas aufzu-bauen, nicht mit Egoismus verwechseln. Das ist es nicht.
Ich finde, es ist die Aufgabe von Politik, diese Moti-vation zu erhalten, sie zu fördern und den Weg freizuma-chen, damit Leistungsbereitschaft am Ende auch mit Er-folg belohnt wird. Wenn wir also feststellen, dass jungeLeute das Gefühl haben, sich zwischen Familie und Be-ruf entscheiden zu müssen, dann ist es unsere Aufgabe,dafür zu sorgen, dass genau diese Entscheidungssitua-tion sich in Luft auflöst.
Es darf nicht sein, dass ein Ja zur Familie mit einemNein zur Karriere erkauft werden muss.
Darum geht es.Ich bin sehr für eine Familienpolitik der drei großenKs: Kinder, Kino und Karriere. Wenn wir das unter einenHut kriegen, haben wir einen Riesenfortschritt gemacht.
Natürlich ist das immer noch ein Frauenthema, auchwenn sich immer mehr Männer – darauf ist heute schonhingewiesen worden – die Zeit für die Familie wün-schen. Aber wir müssen uns einfach einmal die Zahlenanschauen. Dazu gibt es eine schöne Auswertung: 2012bezogen 30 Prozent der Väter Elterngeld, aber 96 Pro-zent der Mütter. 78 Prozent der Väter, die Elterngeld be-zogen, bezogen es für zwei Monate, während 88 Prozentder Mütter es für zwölf Monate bezogen. Das bedeutet:In der Praxis entschieden sich die Männer mit großerMehrheit für den Beruf und die Frauen mit großer Mehr-heit für die Familienarbeit. Das kritisieren wir auch garnicht. Aber wir leiten unser ergänzendes Modell zur Un-terstützung von Familien daraus ab. Mit dem ElterngeldPlus tun wir jetzt etwas für die Paare, die sich beides,Beruf und Familienzeit, partnerschaftlich teilen wollen.Meine Damen und Herren, in der SPD-Fraktion sindwir überzeugt: Dieses Modell hat Zukunft. Es ist einSchritt auf dem richtigen gesellschaftlichen Weg. DasElterngeld Plus macht Frauen ökonomisch unabhängi-ger, weil es ihnen die Berufstätigkeit erleichtert. Es för-dert die Gleichstellung von Mann und Frau, weil es fürFrauen und Männer die gleichen Anreize enthält, in Teil-zeit zu arbeiten. Frau Launert, Sie hatten eben von einem„Lockmittel“ gesprochen; Anreiz klingt ein bisschen zu-rückhaltender. Aber Sie haben natürlich recht.Auf diese Weise verbindet das Elterngeld Plus denVorteil des herkömmlichen Elterngeldes mit einer Ant-wort auf den Fachkräftemangel in vielen Branchen. El-tern finden Zeit, sich um ihre kleinen Kinder zu küm-mern. Das Einkommen der Familien bleibt dennocheinigermaßen stabil, und die Arbeitskraft der Eltern stehtder Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst trotzdemweiter zur Verfügung.Das Elterngeld Plus ist ein wichtiger Beitrag des Staa-tes auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der Familieund Beruf besser miteinander vereinbart werden können.Wir wissen aber auch, dass es damit nicht getan ist. Des-wegen ist heute oft vom ersten Schritt die Rede gewesen.Der eigentliche Durchbruch auf dem Weg zur Familien-arbeitszeit kann erst gelingen, wenn auch die Arbeits-welt sich mit einer vollkommenen Selbstverständlichkeitdarauf eingestellt hat. Bewähren kann sich das Eltern-geld Plus ebenso wie der flexible Anspruch auf Eltern-zeit nur in der praktischen Umsetzung. Deshalb müssenwir seine Einführung auch damit verbinden – das wareine Forderung vom Kollegen Weinberg –, den Dialogmit der Wirtschaft zu führen. Wir brauchen Bündnissefür Arbeit und Familie, überall in Deutschland, geradeauch auf der Ebene der Länder und Kommunen. Dabei– das sage ich ausdrücklich als Sozialdemokrat – mussdie Politik ein offenes Ohr für die Sorgen kleinerer undmittlerer Betriebe haben,
die noch nicht wissen, wie sie die Teilzeit von Beschäf-tigten sinnvoll und wirtschaftlich in ihre Arbeitsabläufeintegrieren können. Da müssen Lösungen her. Das heißt,wir geben den Anspruch nicht auf, aber es müssen Lö-sungen her, um den Interessen der Betriebe gerecht zuwerden.Wir müssen die Ergebnisse der Gesamtevaluation fa-milienpolitischer Leistungen, die uns ja vorliegen, ernstnehmen und unsere familienpolitischen Zielvorstellun-gen daran messen.
Rosinenpickerei geht da nicht. Wir können uns nicht nurdie Dinge heraussuchen, die wir gemacht haben und diegelobt werden; wir müssen uns eben auch die Dinge an-schauen, die kritisiert werden, und Schlussfolgerungenaus der Kritik ziehen.Eine Schlussfolgerung ist: Kinder und Familie för-dern wir am besten und am gerechtesten mit hervorra-genden Kitas und Schulen.
Diese Erkenntnis hat sich in der Wirtschaft schnellerdurchgesetzt als in der Politik, daher ja auch die berech-tigte Kritik des Deutschen Industrie- und Handelskam-mertages am Betreuungsgeld. Aber die ganz dicken
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Dr. Fritz Felgentreu
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Bretter – damit meine ich die Fehlsteuerungen beimEhegattensplitting, in der beitragsfreien Mitversicherungund in der Ausgestaltung bei Minijobs – werden wirnicht alle auf einmal aufbohren können. Wir müssen unsaber damit auseinandersetzen.
Beim Elterngeld Plus können wir allerdings schonjetzt darüber reden, wie wir die finanzielle Unterstützungmit einem Betreuungsangebot verbinden. Was spricht zumBeispiel dagegen, einmal darüber nachzudenken, dasswir den Bezug von Elterngeld Plus mit einem Rechtsan-spruch auf einen Krippenplatz kombinieren? Das wäreeine Maßnahme, die wir mit den Ergebnissen der Eva-luation ganz hervorragend begründen könnten.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns also nichtauf der Stelle treten, sondern lassen Sie uns die Einfüh-rung des Elterngeldes Plus als Startsignal begreifen, dasuns auf dem Weg zur Familienarbeitszeit in eine lebhafteDebatte und zu mutigen Entscheidung führt. Die Fami-lien in Deutschland werden es uns danken.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Bettina Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Unser Rollenbild derFamilie befindet sich im Wandel. Diese Erkenntnis istnicht neu, sollte uns aber bei der Gesetzesberatung im-mer begleiten. Familienpolitische Maßnahmen und Mo-delle, die uns noch vor fünf oder zehn Jahren als innova-tiv und fortschrittlich erschienen, entsprechen heutenicht zwangsläufig mehr den Wünschen und Lebenspla-nungen der jungen Eltern. Unsere Aufgabe ist es also,die notwendigen politischen Rahmenbedingungen zuschaffen, die nah an der Realität sind.Was ist unsere Ausgangslage? Die traditionelle Rol-lenverteilung innerhalb der Familie verliert immer mehran Bedeutung. Junge Eltern streben heute nach einerpartnerschaftlichen Aufteilung von Familien- und Er-werbsarbeit. Auf der einen Seite haben wir die jungenVäter. Für sie ist es heute selbstverständlich, dass Frauenarbeiten und ihr eigenes Geld verdienen, und zugleichmöchten sie ihre Partnerin auf ihrem beruflichen Wegunterstützen. Tatsächlich möchten sich diese Väter heuteauch stärker in die Familie einbringen und mehr Zeit mitihren Kindern zusammen sein. Laut einer aktuellen Stu-die hat aber jeder zweite Vater das Gefühl, zu wenig Zeitfür seine Kinder zu haben.Auf der anderen Seite haben wir die jungen Mütter.Treten wir hier in die Diskussion um die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf ein, zeigt sich bei vielen jungenMüttern eine Unzufriedenheit mit den vorhandenen Fa-milien- und Arbeitszeitmodellen, nämlich zwischen demgewünschten Modell der Arbeitszeit von circa 30 Stun-den pro Woche und dem flexiblen Aufteilen von Hausar-beit und Kinderbetreuung mit dem Partner und dem Fa-milienmodell, das tatsächlich gelebt wird. Hier klaffteine große Lücke, und diese Lücke gilt es zu schließen,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Tatsächlich ist Familienarbeit in Deutschland zwi-schen den Eltern immer noch höchst ungleich verteilt.Weit verbreitet ist nach wie vor das Modell des Vollzeiterwerbstätigen Vaters und der hinzuverdienenden Mut-ter. Geht also der Vater Vollzeit arbeiten, bleibt für ihnwenig Zeit mit der Familie und für viele Aufgaben, diedie Mutter ohne die Unterstützung des Partners zu stem-men hat. Dieses Bild aus der Praxis zeigt, wie sehr derWunsch nach der partnerschaftlichen Aufteilung derAufgaben in Familie und Beruf mit der Realität kolli-diert. So wünschen sich 60 Prozent der Eltern eine part-nerschaftliche Teilung der Aufgaben, aber nur in jedersiebten Familie gelingt dieses auch.Mit der Einführung des Elterngeldes Plus mit demPartnerschaftsbonus wird dem Elternwunsch nach mehrPartnerschaftlichkeit auch durch das Setzen eines politi-schen Rahmens Rechnung getragen.
Politische Rahmenbedingungen sind das eine, aberwir müssen auch die Arbeitgeber von den kleinen Betrie-ben bis hin zu den großen Unternehmen einschließlichdes öffentlichen Dienstes mit ins Boot holen. Meinerpersönlichen Überzeugung nach steht und fällt mit die-sen Beteiligten das ganze Bemühen, den gesetzten Rah-men mit Inhalt und damit mit Leben zu füllen. Stich-worte wie der demografische Wandel oder der drohendeFachkräftemangel sind für die Arbeitgeber nicht neu,aber starke Argumente für eine bessere Vereinbarkeitund ein Angebot an flexibleren Arbeitszeitmodellen, umauch das weibliche, immer besser werdende und hoch-qualifizierte Arbeitskräftepotenzial voll auszuschöpfen.
Dies bringt nicht nur Vorteile für unsere Volkswirtschaftmit sich, sondern – noch wichtiger – stärkt das Selbst-wertgefühl der Frauen.Mütter kehren nach der Geburt eines Kindes überwie-gend nach 19 Monaten in das Arbeitsleben zurück, ei-nige noch später. Aber über die Hälfte von ihnen würdegerne früher wieder arbeiten. Diesen Wunsch wollen wirpolitisch besser unterstützen. Das bietet nicht nur Ent-scheidungsfreiheit und volle Flexibilität für die Familie,sondern auch Gewinne für die Wirtschaft. Diese Vorteilefür die Wirtschaft und Arbeitgeber müssen wir weiterherausstellen und für erfolgreiche Wiedereinstiegsstrate-gien werben.
Arbeitgeber profitieren von motivierten Arbeitskräf-ten, ihrem Wissen und geringeren Einarbeitungskosten.Die Beschäftigten wiederum profitieren davon, dass ih-
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Bettina Hornhues
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nen die Chance auf Karriere und Teilhabe an allgemei-nen Einkommensentwicklungen nicht verwehrt bleibt.Betriebliche Unterstützungsmaßnahmen für den Wieder-einstieg sind daher ebenso wichtig wie die politischenRahmenbedingungen.Viele Unternehmen zeigen bereits jetzt, dass diesfunktionieren kann. Erst kürzlich habe ich in einem be-nachbarten Wahlkreis zusammen mit Kollegen ein Un-ternehmen besucht, welches in nur fünf Monaten einenBetriebskindergarten für die Mitarbeiter eingerichtet hatund somit flexible Arbeitszeitmodelle unterstützt. Nurfünf Monate von der Idee bis zur Inbetriebnahme! Ichwar beeindruckt von diesem Engagement und dem Zu-sammenspiel von Wirtschaft und Kommune.Wenden wir uns nun wieder den Vätern zu. Durch dasneue Elterngeld Plus soll den Vätern noch mehr Zeit mitihren Kindern ermöglicht werden, wenn denn die Unter-nehmen mitspielen. Es gibt Unternehmen, die mit vor-bildlichem Beispiel vorangehen und beispielsweise Fa-milienzeiten als Karrierepunkt anrechnen oder mitMaßnahmen wie familienfreundlichen Zeiten für Be-sprechungen oder dem Arbeiten von zu Hause aus denMitarbeitern entgegenkommen.Leider müssen in vielen Unternehmen die Männernoch regelrecht darum kämpfen, ihr Recht auf Elternzeitumsetzen zu können. Ich meine daher: Arbeitnehmerdürfen keine Bittsteller bei ihren Arbeitgebern sein,wenn sie ihre Elternzeit aktiv nutzen wollen. Ich sehe esdemzufolge als unsere Aufgabe an, in den zahlreichenGesprächen, die wir als Abgeordnete mit den Unterneh-men im Wahlkreis führen, für mehr Verständnis zu wer-ben, damit wir den jungen Vätern und Müttern mehr Zeitmit ihren Familien ermöglichen können, ohne dass sieNachteile im Arbeitsleben in Kauf nehmen müssen. Dasist nicht nur eine politische oder wirtschaftliche, sonderneine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.Wenn ich für eine verbesserte Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf werbe, dann habe ich zudem einen ganzbesonderen Arbeitgeber im Sinn: die Bundeswehr, vonder wir als Parlament immer öfter immer neue und wei-tere Aufgaben abfordern. Mir ist natürlich bewusst, dassmanche familienpolitischen Maßnahmen, eben auch dasneue Elterngeld Plus, nicht alle Berufsgruppen in glei-chem Umfang profitieren lassen. Nicht nur als Berichter-statterin der Vereinbarkeit von Familie und Dienst in derBundeswehr, sondern auch aus eigener Erfahrung weißich, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf Solda-tenfamilien vor besondere Herausforderungen stellt.Nehmen wir als Beispiel einmal die Eltern, die wäh-rend des Elterngeldbezuges Teilzeit arbeiten wollen. Dasneue Elterngeld Plus schafft hierfür Regelungen. Aller-dings wird es für viele Soldatinnen und Soldaten nichtimmer möglich sein, von diesen Neuerungen zu profitie-ren, da es in ihrer aktuellen Verwendung während einerÜbung oder im Auslandseinsatz gar nicht möglich ist,Arbeitszeit zu reduzieren oder flexibel nach persönli-chen Wünschen anzupassen.Nach wie vor gibt es bislang nur wenige Möglichkei-ten, bei der Bundeswehr seinen Dienst in Teilzeit zu leis-ten. Hier brauchen wir nicht nur kreative Ideen, sondern– wie auch in den Unternehmen – ein stärkeres Umden-ken bei den militärischen und zivilen Führungskräftender Bundeswehr, damit dies noch mehr Soldatinnen undSoldaten ermöglicht werden kann. Ich begrüße daherden Vorstoß von Frau von der Leyen, mehr Möglichkei-ten für Teilzeitarbeit bei der Bundeswehr schaffen zuwollen, um auch Soldatinnen und Soldaten von familien-politischen Maßnahmen voll profitieren zu lassen.Ich möchte festhalten: Das Elterngeld ist zu einem Er-folgsmodell geworden. Ich gehe davon aus und bin festdavon überzeugt, dass das Elterngeld Plus es auch wird.In einer Sache sind wir uns wohl parteiübergreifend alleeinig: Zeit mit unseren Kindern ist wertvoll und kommtnicht zurück.Vielen Dank.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Abgeordneten Eckhard Pols, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine lieben Damen und Herren! Auch ich,lieber Marcus, möchte mit einem Zitat aus der Presse be-ginnen. Anfang der Woche veröffentlichte unsere Lüne-burger Landeszeitung einen Beitrag zum Elterngeld Plusmit dem Titel: „Wohnt der Papa im Büro?“ Dass die Kin-der diese Frage stellen, fürchtet wohl jeder Familienva-ter. Es geht dabei um eine Fragestellung, die aktuellernicht sein könnte, um den Spagat von Vätern zwischenBeruf und Familie. Auch Väter – das haben wir heuteschon gehört – möchten Zeit mit ihren Kindern verbrin-gen und sich an der Erziehung ihrer Kinder beteiligen.Sie wollen eben nicht nur die Rolle des Familienernäh-rers einnehmen.Unbestritten ist, dass die herkömmliche Rollenvertei-lung, bei der sich die Frau um das Kind kümmert und derMann den Lebensunterhalt sichert, der Realität vielerFamilien nicht mehr gerecht wird. Einerseits wollenviele Mütter nach der Geburt ihres Kindes zeitnah in denJob zurückkehren. Das liegt vor allem angesichts des spür-baren Fachkräftemangels auch im Interesse der Wirtschaft.Andererseits wollen die Väter mehr Zeit zu Hause ver-bringen.Die größte Befürchtung vieler Väter ist immer noch,dass es zu einem Karriereknick kommt, wenn sie längerals zwei Monate aus dem Beruf aussteigen. Das soll undwird sich mit dem neuen Elterngeld Plus ändern. Wirschaffen Anreize dafür, dass sich mehr Väter für eine El-ternzeit entscheiden, und zwar, ohne dafür im Hinblickauf ein weiteres berufliches Vorankommen bestraft zuwerden.
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5088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Eckhard Pols
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Unter dem Motto „Mehr Zeit für Familie, mehr Zeitfür Kinder, mehr Flexibilität“ hat die Familienministerindas bisherige Elterngeld nun zu einem Elterngeld Plusweiterentwickelt. Nach der jetzigen Elterngeldregelungist es unattraktiv, während der Elternzeit zu arbeiten, dadas Teilzeiteinkommen vom Elterngeld abgezogen wirdund jeder in Teilzeit gearbeitete Monat voll auf die Be-zugsdauer des Elterngeldes angerechnet wird. Das neueElterngeld Plus macht Teilzeitarbeit attraktiver. Dies er-öffnet neue Spielräume für Eltern, die Aufgabenteilungin Familie und Beruf partnerschaftlich zu organisieren.Berufliche Auszeiten können begrenzt werden, Mütterschneller ins Berufsleben zurückkehren, und der Er-werbsanteil der Frauen wird weiter steigen. Zur genauenAusgestaltung haben wir hier heute schon vieles gehört.Deswegen möchte ich nicht näher darauf eingehen.Nun hat eine Medaille bekanntlich zwei Seiten. Ichfreue mich, dass die Kollegen Weinberg und Felgentreuhier wenigstens am Rande kurz die Aspekte der Wirt-schaft erwähnt haben. Dass es den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern und ihren Familien, sprich: ihrenKindern, in unserem Land besser gehen soll, ist wichtigund richtig. Aber Familien gibt es auch auf der anderenSeite, auf der Unternehmerseite. Bitte wundern Sie sichjetzt nicht, wenn ich als Mittelständler einiges kritischanmerke, und zwar aus der Sicht eines selbstständigenHandwerksmeisters, der selbst eine Familie mit fünfKindern hat.Unsere Wirtschaft besteht nicht nur aus den Großbe-trieben, die immer gerne zitiert und als Beispiele heran-gezogen werden, wie Bosch, Siemens oder VW. Derüberwiegende Teil unserer Unternehmen in Deutschland,circa 90 Prozent, sind kleine und mittlere Unternehmen.Ich spreche hier also über viele Betriebe, insbesondereim Handwerk, über 580 000 Betriebe mit gut 5 Millio-nen Beschäftigten. In der Praxis dürfte es schwierig wer-den, für die Beschäftigten qualifiziertes Ersatzpersonalfür kurze Zeiträume zu bekommen. Das sage ich Ihnenals Praktiker, der das jeden Tag erlebt. Eine Einarbeitungvon Ersatzkräften ist oft nicht machbar, erstens aus fach-lichen Gründen, zweitens, weil entsprechende Kräfte garnicht auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind. Das kannbedeuten, dass in der Zeit die übrigen Arbeitnehmer desBetriebes und natürlich auch der Meister bzw. die Meis-terin, gegebenenfalls sogar die Familienangehörigen dieZusatzarbeit mit erledigen müssen. Hier können Be-triebe schnell an ihre Belastungsgrenze stoßen.Wichtig bleibt, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeit,wie vorgesehen, erst ab einer Schwelle von 15 Arbeit-nehmern gilt. Ich meine aber, die Schwelle sollte besserbei 20 Arbeitnehmern liegen und es sollten keine be-trieblichen Gründe entgegenstehen dürfen. Auch solltenauf freiwilliger Basis mehr auf die individuelle Situationabgestimmte, passgenaue Teilzeitmodelle zwischen Elternund Unternehmen vereinbart werden. Aus diesem Grundeist die vorgesehene Aufteilung der Elternzeit – hoffent-lich wird sich das noch ändern – auf drei Zeitabschnittestatt bisher auf zwei Zeitabschnitte, und das ohne Zu-stimmung des Arbeitgebers, noch einmal zu überdenken,auch wenn die Ankündigungsfrist von 7 auf 13 Wochenerhöht wird.Der vorgesehene Ausbau der Flexibilisierung, der denWünschen junger Familien entspricht und positiv zu se-hen ist, bedeutet gerade für die kleinen Betriebe imHandwerk einen tiefgreifenden Eingriff in die Personal-planungshoheit; denn gerade das Handwerk muss flexi-bel auf oft stark schwankende Auftragslagen reagieren.Im Handwerk ist familienfreundliche Personalpolitikschon heute selbstverständlich. Nicht umsonst hat derZDH, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, imFebruar 2011 gemeinsam mit anderen Wirtschaftsver-bänden und der Bundesregierung die Charta für fami-lienbewusste Arbeitszeiten mitunterzeichnet. Fast alleHandwerksbetriebe, 86 Prozent, bieten ihren Mitarbeiternzumindest ein familienfreundliches Arbeitszeitmodell an.In unserem Betrieb ist das übrigens auch so. Untersu-chungen belegen darüber hinaus, dass jüngere Betriebs-inhaber den Eltern in ihrer Belegschaft signifikant häufi-ger Unterstützungsleistungen zukommen lassen.Bei den vielen Maßnahmen zur Realisierung des Ziels„Mehr Zeit für Familie, mehr Zeit für Kinder, größereFlexibilität“ sind insbesondere kleine und mittlere Be-triebe – und das nicht nur im Handwerk; das kann auchin der Landwirtschaft sein, liebe Kollegin Pahlmann,aber auch im kaufmännischen Bereich – auf Unterstüt-zung und Förderung angewiesen.
Für das Handwerk kann ich sagen: Wir sind eigentlichviel weiter, als viele in der Politik denken. Wir müssennicht alles gesetzlich regeln. Lassen wir den Mittelstandarbeiten! Wir wissen, was wir an unseren Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern haben; denn sie sind unsergrößtes Kapital.Alles in allem haben wir als Koalition mit dem El-terngeld Plus einen guten und richtigen Weg eingeschla-gen, der partnerschaftliche Betreuung des Kindes undgleichzeitige Erwerbstätigkeit miteinander verbindet.Unter moderner Familienpolitik verstehen wir, sich denveränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupas-sen. Wie wichtig uns dieses Anliegen ist, spiegelt sichauch im aktuellen Bundeshaushalt für 2015 wider. Derweitaus größte Anteil im Etat des Familienministeriums,nämlich 5,4 Milliarden Euro, entfällt allein auf das El-terngeld. Aber wir wissen schon heute, Frau Ministerin,dass das im Etat 2016 nicht ausreichen wird. Wir werdenüber diese 5,4 Milliarden Euro hinausgehen müssen.Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Schluss nochein persönliches Wort. Ich habe zu Beginn davon gespro-chen, dass ich fünf Kinder habe. Ich muss mit meinerFrau besprechen, ob noch ein sechstes folgen soll.
Meine Frau hat die geschäftsführende Position in unse-rem Betrieb eingenommen. Wir könnten ausprobieren,wie sich das Elterngeld Plus auf die Selbstständigkeitauswirkt, wenn meine Frau in Elternzeit geht und ich diePartnermonate nehme. Ich bin gespannt, Herr Präsident,was die Bundestagsverwaltung dazu sagt.Vielen Dank.
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Das war ein origineller Moment in der Parlamentsge-schichte. Noch nie hat ein Kollege seine Familienpla-nung vor dem Plenum erörtert.
Die Verwaltung wird die von Ihnen gestellte Frage prü-fen.Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/2583 sowie die Unterrichtungdurch die Bundesregierung auf Drucksache 18/2625 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Es gibt auch keinen Widerspruch.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weite-ren Entlastung von Ländern und Kommunenab 2015 und zum quantitativen und qualitati-ven Ausbau der KindertagesbetreuungDrucksache 18/2586Überweisungsvorschlag:Haushaltsauschuss
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Matthias W. Birkwald, Nicole Gohlke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAusbau und Qualität in der KinderbetreuungvorantreibenDrucksache 18/2605Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsauschussNach interfraktioneller Vereinbarung sind für dieAussprache 96 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-regierung das Wort dem Bundesminister Dr. WolfgangSchäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass derBund im Vorgriff auf künftige Maßnahmen in den Jahren2015 bis 2017 die Kommunen jeweils um 1 MilliardeEuro entlastet. Diese Zusage lösen wir mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf ein. Wir entlasten die Kommu-nen, indem wir den Anteil der Gemeinden an der Um-satzsteuer und die Beteiligung des Bundes an den Kostender Unterkunft und Heizung in den Jahren 2015 bis 2017um jeweils 500 Millionen Euro erhöhen. Wir haben da-mit einen ausgewogenen Verteilungsmechanismus ge-wählt, der dafür sorgt, dass die Entlastung auch tatsäch-lich bei den Kommunen ankommt. Von der Übernahmeder Kosten der Unterkunft profitieren besonders dieKommunen, die hohe Sozialausgaben haben.Zusätzlich unterstützen wir in dieser Legislaturpe-riode Länder und Kommunen bei der Finanzierung vonKinderkrippen, Kindertagesstätten, Schulen und Hoch-schulen mit insgesamt 6 Milliarden Euro zusätzlich. Ei-nen wichtigen Teil dieser Unterstützung haben wir mitder Novellierung des BAföG bereits beschlossen. Dabeigeht es insbesondere um die vollständige Übernahmedes Finanzierungsanteils der Länder durch den Bund.Allein das entlastet die Länder bis 2017 um 3,5 Milliar-den Euro.
Wir haben uns im Mai mit den Ländern darauf ver-ständigt, das Sondervermögen „Kinderbetreuungsaus-bau“ in den Jahren 2016 bis 2018 um weitere 550 Mil-lionen Euro aufzustocken. Damit wird die Unterstützungfür Länder und Gemeinden beim Ausbau der Kinderbe-treuung für unter Dreijährige, die sich bis Ende 2014 auf5,4 Milliarden Euro beläuft, weiter erhöht. Bis 2018stellt der Bund für Investitionen in den Ausbau der Kin-derbetreuung 3,28 Milliarden Euro zur Verfügung. Ichnenne die Zahlen im Detail, weil es ganz wichtig ist,dass man sie überall einmal zur Kenntnis nimmt.
Darüber hinaus erhöht der Bund noch einmal seineBeteiligung an den Betriebskosten der Kinderbetreu-ung – neben den Investitionskosten. Der jährliche Be-triebskostenzuschuss in Höhe von 845 Millionen Eurowird in den Jahren 2017 und 2018 noch einmal um je-weils 100 Millionen Euro gesteigert. Hierfür wird derLänderanteil an der Umsatzsteuer entsprechend ange-hoben. Damit unterstützt der Bund die Länder beimAusbau der Kinderbetreuung nachhaltig. So könnenweitere 30 000 Kinderbetreuungsplätze geschaffen wer-den, die zu den bereits zugesagten 780 000 Kinderbe-treuungsplätzen hinzukommen. Das ist ein wichtiger Bei-trag zur Lösung dieser für unser Land gesellschaftlich wieauch volkswirtschaftlich bedeutenden Aufgabe.
Das trägt zu einer bedarfsgerechten und qualitativ gu-ten Kinderbetreuung und -förderung bei. Länder undKommunen sollten die bereitgestellten Mittel entspre-chend einsetzen und damit ihren Beitrag leisten. Im Üb-rigen ist ausdrücklich zugesagt – daran will ich erin-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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nern –, dass die Mittel, die durch die Übernahme desBAföG-Finanzierungsanteils der Länder durch den Bundauf Länderseite frei werden, von den Ländern vor allemfür Hochschulen zur Verfügung gestellt werden. Dasmuss man immer wieder in Erinnerung rufen.
Länder und Kommunen verfügen dank der Unter-stützung durch den Bund über die Möglichkeit, neueKinderbetreuungsplätze zu schaffen, hochwertige Aus-stattungsinvestitionen vorzunehmen und für eine ver-besserte Betreuung, etwa auch hinsichtlich der Sprach-förderung, zu sorgen. Die Regeln zur Verwendung dieserMittel für Investitionen – nicht nur in Bauten, sondernauch in Ausstattungen – haben sich bewährt. Deswegenwerden sie auch in diesem Gesetzentwurf beibehalten.Das zeigt wieder: Die Bundesregierung ist für Länderund Kommunen ein verlässlicher Partner. Länder undKommunen werden durch dieses Gesetz bis 2018 um3,75 Milliarden Euro entlastet. Bereits in der letzten Le-gislaturperiode hat der Bund die Länder und Kommunenmassiv unterstützt, vor allem durch die vollständigeÜbernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter undbei Erwerbsminderung.
Allein durch diese Maßnahme werden die Länder undKommunen im Zeitraum 2012 bis 2017 um rund 25 Mil-liarden Euro entlastet.All dies stärkt die Handlungsfähigkeit von Ländernund Kommunen. Wir erwarten, dass sie ihre gestärkteInvestitionskraft nutzen. Im vergangenen Jahr hat dasübrigens gewirkt: Die Kommunen haben ihre Investitio-nen um 8,4 Prozent erhöht. Wir gehen davon aus, dassdie Kommunen aufgrund dieser Maßnahme ihre Investi-tionen weiter steigern. Es ist wichtig, dass alle staatli-chen Ebenen, nicht nur der Bund, sondern auch Länderund Kommunen, sich in der Pflicht sehen, entsprechendihrer jeweiligen Aufgaben verstärkt zukunftsorientierteöffentliche Investitionen in Deutschland zu tätigen. Wirwerden auch in diesen Tagen, Wochen und Monaten inden laufenden komplizierten Gesprächen mit den Län-dern über die Grundfragen der Bund-Länder-Finanzbe-ziehungen für die Zeit nach dem Auslaufen des Solidar-pakts II Ende 2019 immer wieder stark dafür eintreten;denn die eigentliche gesamtwirtschaftliche Herausforde-rung ist, dass wir mehr Investitionen erzielen. Darüberhaben wir ausführlich gesprochen.
Ich will auch darauf aufmerksam machen, dass unserePolitik, Länder und Kommunen zu unterstützen, Früchteträgt. Die kommunale Ebene weist in den letzten zweiJahren in ihrer Gesamtheit – natürlich sind Durch-schnittszahlen im Einzelfall immer nur begrenzt hilf-reich – Überschüsse auf. Die Länder verfügten im letz-ten Jahr über Einnahmen, die rund 20 Milliarden Eurohöher waren als die des Bundes. Die Länder haben ins-gesamt fast ausgeglichene Haushalte erzielt. Im Ver-gleich zu den Finanzkennzahlen von Ländern und Kom-munen zeigen die Finanzkennzahlen des Bundes einestarke Schieflage zu seinen Lasten. Der Bund wird erstim nächsten Jahr, wenn alles gut geht, einen ausgegli-chenen Haushalt erreichen können. Ich kann – dasmöchte ich freundlich, aber klar sagen – übrigens nichterkennen, dass das etwas mit Fetischismus zu tun hat.Die Verpflichtung dazu steht im Grundgesetz. Ich kannnicht erkennen, warum die grundgesetzlichen Regelun-gen als Fetischismus bezeichnet werden sollten.Unser Schuldenstand und unsere Zinslast sind im Ver-hältnis zum Haushaltsvolumen wie auch zu den Steuer-einnahmen doppelt so hoch wie die der Länder. Auchdas muss man in diesen Verhandlungen und bei den öf-fentlichen Erklärungen immer wieder sagen. Der Bundmuss handlungsfähig bleiben. Auch er braucht eine an-gemessene Finanzausstattung.Ich finde auch, dass wir alle aufmerksam zur Kennt-nis nehmen sollten, was die Bundesbank in ihrem aktuel-len Monatsbericht vorgeschlagen hat. Sie hat dafür plä-diert, den Ländern mehr Eigenverantwortung zu geben,indem die Länder durch Steuerzu- und -abschläge einebegrenzte Steuerautonomie, etwa bei der Einkommen-und Körperschaftsteuer, bekommen könnten. Ich weiß,dass es Argumente dafür und dagegen gibt; aber ichglaube, die Bundesbank hat zu Recht darauf hingewie-sen, dass natürlich mehr Eigenverantwortung auch mehrAnreize für stärkere Wirtschaftlichkeit der Staatstätig-keit insgesamt liefert. Man sollte das nicht von vornher-ein aus der Diskussion und aus den Überlegungen aus-schließen.
Ich würde mit Blick auf die Rolle der Länder für dieKommunen gerne ergänzen, dass es natürlich nicht aus-reicht, wenn sich nur der Bund gegenüber den Kommu-nen als verlässlicher Partner verhält.
Denn trotz der großen Unterstützung, die der Bund denLändern und Kommunen gewährt und die ja von denkommunalen Spitzenverbänden durchaus anerkanntwird, und trotz der erfreulichen Gesamtsituation allerKommunen insgesamt ist natürlich in vielen einzelnenStädten und Gemeinden die finanzielle Lage weiterhinschwierig. Aber nach dem Grundgesetz ist der Ausgleichzwischen den Gemeinden ausschließlich Aufgabe derLänder. Der Bund hat keine Möglichkeit, direkt auf diekommunale Ebene Einfluss zu nehmen. Wir können esnur über die Länder machen.
Die starken Unterschiede in der finanziellen Lage derKommunen zeigen sich vor allem in der Nutzung des In-struments der Kassenkredite. Wenn man da ein bisschengenauer hinschaut, kann man sehr präzise erkennen, dasses sich nicht um ein flächendeckendes Problem handelt,sondern um ein Problem, das nur in einzelnen Ländernbesteht und regional konzentriert ist. Die betroffenenLänder haben das Problem erkannt. Die Mehrzahl hat in-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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zwischen kommunale Entschuldungs- und Konsolidie-rungsprogramme begonnen. Die ersten Erfolge stellensich ein. Damit kommen die Länder ihrer verfassungs-mäßigen Verantwortung für eine angemessene Finanz-ausstattung aller Kommunen nach. Das ist wichtig; denndie Kommunen sind ja die Basis einer freiheitlichen, sta-bilen und lebendigen Demokratie. Nach unserer födera-len Ordnung ist und bleibt sinnvoll: Die kommunalenAngelegenheiten sollten in erster Linie vor Ort entschie-den werden.
Aber dazu brauchen wir eine dauerhafte Lösung füreinzelne hochverschuldete Kommunen. Die kommuna-len Entschuldungs- und Konsolidierungsprogrammemüssen Schuldenabbau und Haushaltsausgleich umfas-sen. Wir brauchen auch eine strengere Überwachung dermit den Programmen verbundenen Konsolidierungsauf-lagen. Da ist die Kommunalaufsicht gefordert. Sie solltenicht erst dann eingreifen, wenn die finanzielle Schief-lage der Kommune bereits eingetreten ist, sondern früh-zeitig, wenn sie sich abzuzeichnen beginnt.Ein lebendiger Föderalismus lebt durch seine Kom-munen. Wenn wir in Deutschland starke Kommunen ha-ben wollen, brauchen sie eigene Gestaltungsmöglichkei-ten bei ihren Einnahmen und Ausgaben. Sie sollten überdie Wahrnehmung ihrer kommunalen Aufgaben mög-lichst weitgehend selbst entscheiden können, ohne dassvon oben alles vorgegeben und geregelt wird. Für diefinanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidungen müs-sen sie aber natürlich auch Verantwortung übernehmen;denn sonst gibt es Fehlanreize. Deswegen sollten Aufga-ben, die regionale Bezüge haben, nach unserer Auffas-sung stärker vor Ort entschieden und finanziert werden.Umgekehrt soll auf Bundesebene in erster Linie das ent-schieden und finanziert werden, was man zentral regelnmuss.Die geltende Ordnung unserer Bund-Länder-Finanz-beziehungen folgt diesem Prinzip leider nicht immer.Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung wurden undwerden im föderalen Streit häufig vermischt und ver-mengt. Für den Bürger ist das kaum noch überschaubar,und für eine sparsame Mittelverwendung ist das einenicht optimale Ordnung.
Deswegen wollen wir klarere Verantwortlichkeiten imBundesstaat. Dass wir selber mit gutem Beispiel voran-gehen wollen, haben wir mit dem Gesetzentwurf zurÜbernahme des BAföG durch den Bund gezeigt. Das istein deutlicher Schritt auf die Länder zu. Ich erhoffe mirvon den anstehenden Bund-Länder-Verhandlungen, dasssich die Länderseite nun auch im Sinne gesamtstaatli-cher Verantwortung bewegt.
Wir brauchen in Deutschland eine bessere, zweckmä-ßigere und effizientere Zuordnung von Aufgaben im fö-deralen Staatswesen, auch und gerade zur Stärkung derkommunalen Ebene. Nur wenn wir die kommunale Ei-genverantwortung stärken, werden die Kommunen alsbedeutende Ebene unseres Gemeinwesens für Bürgerin-nen und Bürger wie für Unternehmen und Investorenauch in Zukunft attraktiv, lebendig und lebenswert blei-ben.Die Verbindung solider Finanzen und kluger Investi-tionen ist Zukunftsvorsorge im besten Sinn. Die Kom-munen leisten wichtige Beiträge zur dauerhaften Siche-rung von Wachstum und Beschäftigung und damitWohlstand in unserem Land. Der Bund ist und bleibt denKommunen ein verlässlicher Partner. Wir haben das inden letzten Jahren bewiesen, und das soll auch in Zu-kunft so sein. Dieser Gesetzentwurf dient diesem Ziel.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Diana Golze, Fraktion Die Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Schäuble! Sehr geehrteFrau Ministerin Schwesig! Der Gesetzentwurf, der unsheute vorliegt, trägt den wunderbaren Titel „Gesetz zurweiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau derKindertagesbetreuung“. Ja, zum quantitativen Ausbauträgt Ihr Gesetzentwurf sicherlich bei; denn Sie regelndetailliert die Aufteilung der neuen 550 Millionen Eurofür die Aufstockung des Sondervermögens. Das ist si-cherlich notwendige Verwaltungstechnokratie. Steht indem Gesetzentwurf aber auch etwas zur Qualität?Lassen Sie uns doch einmal gemeinsam überlegen,was wir unter Qualität in Kitas verstehen. Sie haben da-für doch bestimmt auch Vorschläge? – Wenn die Kolle-gen der Union nicht gerade miteinander reden würden,würde ihnen vielleicht etwas einfallen. – Mir fällt zu die-sem Thema zum Beispiel der Betreuungsschlüssel ein.
– Genau. – Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzie-her hat sicherlich auch etwas mit Qualität zu tun, undvielleicht sogar deren Entlohnung.
Wie wäre es mit Freistellungszeiten für das Leitungsper-sonal, Zeit für Vor- und Nachbereitung und Qualifizie-rungsmaßnahmen? Das alles hat etwas mit Qualität zutun, würde ich sagen.
Schauen wir nun aber einmal gemeinsam in den Ge-setzentwurf.
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5092 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Diana Golze
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Wenn ich so viel Redezeit hätte wie die Rednerinnen undRedner der Koalition, könnten wir jetzt eine Lesepauseeinlegen; ich habe aber nur sechs Minuten.
Deshalb nehme ich das an dieser Stelle einmal vorwegund zitiere aus Artikel 4 Kapitel 3 § 12, „Zweck derFinanzhilfen“. Da steht: Förderfähig „sind Neubau-, Aus-bau-, Umbau-, Sanierungs-, Renovierungs- und Ausstat-tungsinvestitionen“. Weiter steht dort:Gefördert werden Investitionen, die der Schaffungoder Ausstattung zusätzlicher Betreuungsplätzedienen …Von Qualität steht in diesem Gesetzentwurf nichts. Erwird seinem eigenen Anspruch nicht gerecht.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, viele Ih-rer Vorbehalte gegenüber der frühkindlichen Betreuungbzw. Erziehung in Kitas, die Sie in den letzten Jahrenhier vorgetragen haben, haben doch etwas mit der ganzkonkreten Situation in Kitas zu tun, damit, wie Kita imMoment funktioniert. Vor diesem Hintergrund frage ichmich aber: Warum verweigern Sie sich dann der Diskus-sion über gute Kitas, über gute Qualität? Ich weiß, dassdas in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle gespielthat. Es war eine Forderung der SPD, ein Kitaqualitätsge-setz zu schaffen. Es kommt nicht, weil Sie Widerstandgeleistet haben. Das, liebe Damen und Herren von derUnion, kann ich nicht verstehen. Warum verweigern Siesich einer Diskussion, die außerhalb dieser Mauernschon seit langem geführt wird?
Viele Verbände sitzen seit über einem Jahr zusammenund machen sich konkret Gedanken, wie eine qualitativbessere Ausgestaltung aussehen könnte. Dafür hat sichein breites Bündnis gefunden. Die Arbeiterwohlfahrt istdabei, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaftund auch der Verband Katholischer Tageseinrichtungenfür Kinder; sie alle sind sich einig. Viele Expertinnenund Experten sind angehört worden. Sie versuchen ge-meinsam, Handlungsempfehlungen zu geben, und ichbin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieser Debatte. Ichkann Ihnen nur empfehlen, diese Ergebnisse dann auchaufzugreifen und ernst zu nehmen.
Der Handlungsbedarf in Bezug auf ein Kitaqualitäts-gesetz ist groß. Genau deshalb fordern wir in dem An-trag, den wir heute vorgelegt haben, eine Sachverständi-genkommission. Die Erfahrungen aus der Praxis, dasKnow-how der Wissenschaft und die Expertise der Ak-teure vor Ort müssen zusammengeführt werden. Es mussein gemeinsamer Handlungsvorschlag entwickelt wer-den. Wir sollten uns nicht mit Kleinigkeiten beschäftigenund am Ende vielleicht noch ein paar zusätzliche Kita-plätze schaffen. Das dürfen wir zwar nicht vergessen;aber wir brauchen den großen Wurf. Was meine ich da-mit? Gesetzlich verbriefte Mindeststandards.
Diese liegen nach wie vor nicht vor. Wir brauchen abergrundlegende Kriterien für die Qualität in Kitas. DerenFormulierung steht natürlich zunächst einmal demjeni-gen an, der den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung in dasSGB VIII geschrieben hat, und das ist der Bund. Wirbrauchen aber nicht nur einen Rechtsanspruch auf einenPlatz, sondern auch einen Rechtsanspruch auf die Aus-gestaltung dieses Platzes, auf die Qualität dessen, waswir da mit viel Geld ins Leben gerufen haben.
Ich frage Sie: Wie soll in strukturschwachen Regio-nen ein erhöhter Anteil an den Umsatzsteuereinnahmenso viel Geld einbringen, dass es neben all den anderenVerpflichtungen für mehr Plätze und mehr Qualitätreicht? Wie soll eine Kommune wie zum Beispiel die,aus der ich komme – ich weiß genau, wovon ich rede;ich bin auch Stadtverordnete –, die sich von einem Haus-haltssicherungskonzept zum nächsten hangelt, zusätzli-che Erzieherinnen einstellen, wenn sie gezwungen ist,jeden Cent, der übrig bleibt, in die Tilgung der Schuldenzu stecken? Wir brauchen Pflichtaufgaben, auch bei derQualität. Solange Investitionen in die Qualität der Kin-dertagesbetreuung keine Pflichtaufgabe sind, so langewird sich im Leben von Eltern und Kindern leider nichtsverbessern.
Der Finanzbedarf, der dafür notwendig ist, wird un-terschiedlich hoch beziffert. Professor Dr. Stefan Sell hatin einem Beitrag mit dem Titel „Die Finanzierung derKindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen“von 9 Milliarden Euro gesprochen, wenn wir die Vorga-ben der OECD erfüllen wollen. Ob das durch Umbu-chungen und durch die Entlastung, von der der Bundes-finanzminister hier gesprochen hat, zu schaffen ist, weißich nicht. Ich fürchte, dass die Freiräume, die dadurchbei Ländern und Kommunen entstehen, am Ende nichtausreichen. Ich sage deshalb: Auch wir als Bund habenhier zusätzliche Möglichkeiten. Lassen Sie uns dochzum Beispiel die 1 Milliarde Euro, die gerade der Unionso locker in der Tasche sitzt, um den Eltern ein Taschen-geld dafür zu zahlen, dass sie ihre Kinder nicht in dieKitas bringen, für eine umfassende und durchdachteQualitätsoffensive für Kitas einsetzen, statt sie beim Be-treuungsgeld zu verschwenden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster Rednerin erteile ich für die Bundesregie-rung Bundesministerin Manuela Schwesig das Wort.
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Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren Abgeordnete! Es ist heute ein guter Tag fürdie Familien in Deutschland; denn die Große Koalitionbringt zwei Gesetze auf den Weg, die die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie erheblich verbessern werden. Wirhaben in der ersten Halbzeit, Herr Weinberg, schon überdas Elterngeld Plus gesprochen, eine finanziell starkeMaßnahme, um Eltern Zeit für die Familie zu geben,aber auch Anreize, berufstätig zu sein.Mit dem neuen Kitagesetz arbeiten wir weiter an derbesseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie; denn El-tern in Deutschland brauchen Ganztagskitas, um berufs-tätig zu sein. Aber wir machen auch mit den besserenBildungschancen für Kinder weiter; denn gute Kitas inDeutschland sind nicht nur für die Vereinbarkeit von Be-ruf und Familie der Eltern gut, sondern vor allem auchgut für Kinder und ihre Bildungschancen.
Das ist also ein doppelter Gewinn für Kinder und ihreFamilien. Ich möchte noch einmal daran erinnern: Kom-munen, Länder und Bund setzen seit den letzten Jahrenerhebliche Mittel ein, um Kitaplätze zur Verfügung zustellen. Der Bund stellt bis Ende 2014 insgesamt5,4 Milliarden Euro für Investitionsvorhaben bereit. Ab2015 beteiligt sich der Bund dauerhaft mit jährlich845 Millionen Euro an den Betriebskosten; HerrSchäuble hat es angesprochen. Der Bund hat sich nochnie so stark an den laufenden Kosten der Kitas beteiligtund damit natürlich auch an den Personalkosten und anQualität in Kitas.
Wir haben Erfolge: etwa 10 Prozent mehr Kinder un-ter drei Jahren in Kindertagesbetreuung als noch vor ei-nem Jahr, mehr als doppelt so viele wie 2006. Aber dieBedarfe, vor allem nach Ganztagskitas, steigen; denn esist weder der Mutter noch dem Vater geholfen, wenn dieKita nur von 8 bis 13 Uhr geöffnet ist. Wir brauchenGanztagsbetreuung. Deshalb ist es gut, dass das neue Ki-tagesetz genau diese Qualitätsaspekte berücksichtigt.Liebe Frau Golze, Qualität ist nicht nur der Betreuungs-schlüssel. Wir wurschteln hier auch nicht rum. Nein, wirklotzen. Wir schaffen neue Plätze. Das Wichtigste fürEltern ist es, erst einmal einen Platz zu haben.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin sehr füreine Qualitätsdebatte. Ich freue mich, dass Sie und auchdie Grünen dieses Thema immer auf die Tagesordnungsetzen. Deshalb verlasse ich mich auch darauf, dass dieLänder, in denen Sie regieren, mich in dieser Debatte un-terstützen. Wir werden es sehen.
Aber ich warne auch: Die Qualitätsdebatte darf nichtdazu führen, dass wir das Angebot an Kitas in unseremLand schlechtreden. Die Erzieherinnen und Erzieherleisten viel. Sie leisten sehr viel. Sie leisten mindestensgenauso wertvolle Arbeit wie die Professoren an denUnis, aber sie sind weit von deren Bezahlung entfernt.
Ich habe noch keinen Elternbrief bekommen, in demdie schlechte Qualität einer Kita beklagt wurde. Ich be-komme aber viele Briefe wegen fehlender Plätze. Des-halb ist dieses neue Gesetz richtig: Wir brauchen für je-des Kind und jede Familie in Deutschland, die dasmöchte, einen guten Kitaplatz.
Wir setzen auf Qualität. Wir legen erstmalig in einemGesetz Anforderungen fest und fördern Ausstattungsin-vestitionen, zum Beispiel für ein gesundes Mittagessenin der Kita. Was ist ein gesundes Essen in Kitas denn an-deres als Qualität?
Wir setzen auch auf Sprachförderung. Wir stellen indieser Legislatur etwa eine halbe Milliarde Euro für ge-zielte Sprachförderung zur Verfügung, insbesondere fürBrennpunktkitas. Das ist ein konkretes Beispiel für dieBekämpfung von Kinderarmut; denn Kinder brauchengute Bildungschancen, unabhängig vom Geldbeutel derEltern.
Wir entlasten die Länder durch die Übernahme derBAföG-Mittel. Ich habe mich wirklich dafür starkge-macht, dass die eingesparten Mittel in den Bildungsbe-reich fließen können, und zwar in den Bereich der früh-kindlichen Bildung, der Schule und der Hochschule.Bildung beginnt in der Kita.Ich freue mich sehr, dass es Länder wie Niedersach-sen gibt, die mit gutem Beispiel vorangehen. Nieder-sachsen hat diese zusätzlichen Mittel in mehr Qualität inForm eines besseren Betreuungsschlüssels in Krippeninvestiert. Sie haben jetzt die Gelegenheit, in dem Bun-desland, in dem Sie mitregieren – liebe Grünen, auch Siewerden gleich zu diesem Thema sprechen –, entspre-chend zu handeln: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran.
– In Niedersachsen funktioniert das. Aber Sie regieren jazum Glück auch in vielen anderen Ländern mit. Ich binsehr gespannt, ob Ihre Länder beim Qualitätsgesetz da-bei sind.
Mir geht es aber darum, dass Schluss damit seinmuss, den Schwarzen Peter hin und her zu schieben. Dasbringt die Eltern und ihre Kinder nicht weiter.
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5094 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Bundesministerin Manuela Schwesig
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Mir ist es wichtig, durch eine neue Kultur des Dialogsmit Kommunen und Ländern mehr Kitas und mehr Qua-lität in der Kitabetreuung zu bekommen. Deshalb gibt esim November eine Bund-Länder-Konferenz zum ThemaQualität früher Bildung, auf der wir uns zum ersten Malin Gesprächen zwischen Bund und Ländern mit diesemThema beschäftigen werden. Diese Konferenz ist derAuftakt. In weiteren Runden sollen dann die Verbändeund Initiativen einbezogen werden, sodass es einer zu-sätzlichen Kommission nicht bedarf. Denn Länder undBund haben sich längst auf den Weg gemacht. Wir habendiesen Weg längst beschlossen.Sehr geehrte Damen und Herren, insbesondere weilich heute die Ehre habe, auch vor den Haushältern zusprechen, möchte ich noch einmal dafür werben: Nichterst in der Schule, sondern in der Kita werden die Wei-chen für den Bildungserfolg unserer Kinder gestellt.Nicht erst an der Uni, sondern schon in der Kita werdendie Weichen für Chancengleichheit gestellt.Internationale Studien bescheinigen uns immer wie-der, wie groß der Aufholbedarf in Deutschland ist. Des-halb ist es gut, dass wir so viel Geld in den Kitabereichinvestieren. Aber es ist noch nicht genug, und das wissenwir alle. Wir müssen jetzt das Geld sinnvoll einsetzen.Dabei sind auch alle Beteiligten vor Ort gefragt. Denngute Kinderbetreuung ist auch Armutsbekämpfung.Herr Schäuble und ich haben die Gesamtevaluationvorgelegt, und wir lernen daraus. Wir sehen: Das Eltern-geld ist wichtig. Wir sehen aber auch: Die Kitabetreuungist wichtig. Öffentlich geförderte Kinderbetreuung führtdazu, dass wir das Armutsrisiko von Familien um 7 Pro-zentpunkte mindern können. Ganztagskitas und Ganz-tagsschulen führen dazu, dass mehr Frauen erwerbstätigsind, was dann wieder zu mehr Steuereinnahmen führt.Deswegen werbe ich für eine innovative und moderneHaushalts- und Finanzpolitik, die für mich heißt: Das istnicht einfach eine Ausgabe – schon gar keine konsum-tive –; es ist vielmehr eine Investition in die Zukunft, diezu Erträgen führt. Das müssen wir auch bei den Haus-haltsberatungen berücksichtigen.
Gute Kinderbetreuung ist wichtig für die Vereinbar-keit von Beruf und Familie, aber vor allem für die Bil-dung von Kindern. Alle Kinder haben ein Recht auf eingutes Aufwachsen. Das schaffen wir nicht mit einerMaßnahme, aber mit einem Bündel von Maßnahmen.Wir haben heute zwei gute Vorhaben auf den Weg ge-bracht. Dafür möchte ich mich insbesondere bei den Re-gierungsfraktionen für die Unterstützung bedanken.Ich freue mich auf die Beratungen. Aber am Wich-tigsten ist, dass jetzt die Euros schnell vor Ort ankom-men, damit es mit dem guten Ausbau der Kitabetreuungweitergehen kann.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-ordneten Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Schäuble, Sie haben sich hier wieder fürden Haushalt 2015 gelobt, aber Sie wissen genau, dassIhre Bilanz massiv geschönt ist. Sie nehmen zwar keineSchulden mehr bei der Bank auf, aber Sie wollen weiter-hin Schulden aufnehmen: bei den Krankenkassen, beider Rentenversicherung und bei der Infrastruktur.Wenn wir heute über die Kommunen und die Kitas re-den, dann kann ich nur feststellen: Sie nehmen auchSchulden bei den Investitionen in unseren Kommunenauf. Sie nehmen auch Schulden bei Kindern und Jugend-lichen auf. Dieser Haushalt enthält eine große versteckteVerschuldung.
Wenn wir heute über kommunale Finanzen und dieLänderfinanzen reden, Herr Schäuble, dann dürfen wirauch nicht vergessen, dass die Kassen der Länder in denletzten Jahren durch Steuersenkungen massiv geschröpftwurden: erst durch die Große Koalition und dann durchSchwarz-Gelb. Auch damals waren Sie Finanzminister,Herr Schäuble. Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz,das eher ein Klientelbeschleunigungsgesetz ist, hat dazugeführt, dass nach wie vor die Länder jedes Jahr 2,3 Mil-liarden Euro Einnahmeverluste haben. Die Kommunenkostet es 1,5 Milliarden Euro. Das dauert leider bis heutean. Das heißt, Schwarz-Gelb wirkt leider weiter. IhreSteuersenkungspolitik, Herr Schäuble, ist für Länder undKommunen immer noch sehr teuer.
Ich will noch kurz auf die Bund-Länder-Finanzbezie-hungen und den Vorschlag zu den regionalen Steuersät-zen eingehen, der aus dem BMF an die Presse durchge-stochen wurde. Wir haben in Europa einen aggressivenSteuerwettbewerb. Wir brauchen jetzt nicht noch zwi-schen den Bundesländern einen aggressiven Steuerwett-bewerb. Wir brauchen einen guten Steuervollzug, einegerechte Steuerpolitik und eine gute Ausstattung vonLändern und Kommunen. Das ist die richtige Antwort.Wir brauchen keine regionalen Steuersätze.
Zu der Entlastung der Kommunen um 1 MilliardeEuro jährlich ab 2015 will ich drei Punkte ansprechen.Erstens. Das ist weniger als das, was die Steuersenkun-gen durch Schwarz-Gelb die Kommunen gekostet hat.Zweitens. Diese Entlastung kommt nicht wie im Koali-tionsvertrag versprochen 2014, sondern erst 2015. Dasist der erste Bruch des Koalitionsvertrags. Drittens. DieEntlastung der Kommunen im Umfang von 5 MilliardenEuro jährlich bei der Eingliederungshilfe kommt nicht in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5095
Sven-Christian Kindler
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dieser Legislaturperiode, sondern wird auf 2018 ver-schoben. Das ist der zweite Bruch des Koalitionsver-trags.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko-alition, Sie wissen selber, dass die Kommunen darübersehr enttäuscht sind. Der Präsident des Deutschen Städ-tetags, Herr Maly von der SPD, hat das genauso kritisiertwie der Oberbürgermeister von Neuburg an der Donau,Herr Gmehling von der CSU. Der Oberbürgermeistervon Gelsenkirchen, Frank Baranowski von der SPD, hatgesagt: Ich bin fassungslos. Gemessen am Koalitions-vertrag ist das Wortbruch. – Ich finde, er hat völlig recht.Das ist eine herbe Enttäuschung für die Kommunen. Dasist Wortbruch.
Die Kommunen klagen nicht ohne Grund. Sie habenzum Teil hohe Sozialkosten. Diese Kosten werden in dennächsten Jahren weiter steigen, und zwar durchschnitt-lich um 2 Milliarden Euro, so der Städte- und Gemeinde-bund. Das ist deutlich mehr als die 1 Milliarde Euro, diein Ihrem Haushalt als Entlastung der Kommunen vorge-sehen ist. Wir müssen aber jetzt den Kommunen, diehohe Sozialkosten haben, helfen. Dabei hilft es nichts,dass die Entlastung der Kommunen hälftig durch eineErhöhung des Gemeindeanteils an den Einnahmen ausder Umsatzsteuer erfolgt. Das bringt den armen Kom-munen gar nichts. Wir Grüne sagen klar: Wir wollen dieKommunen nicht nur um jährlich eine volle MilliardeEuro bei den Kosten der Unterkunft und Heizung entlas-ten – wir werden versuchen, das in den Haushaltsbera-tungen zu ändern –, sondern auch zusätzlich 1 Milliardeals Hilfe für strukturschwache Kommunen. Des Weite-ren wollen wir die Kommunen bereits in dieser Legisla-turperiode um jährlich 5 Milliarden Euro bei der Einglie-derungshilfe entlasten und nicht erst ab 2018. Dasbenötigen unsere Kommunen dringend.
Die Kommunen, die hohe Sozialkosten haben undstrukturschwach sind, stecken in einem Teufelskreis;denn aufgrund der hohen Sozialkosten können sie nichtinvestieren und keine Schulden abbauen. Die KfW hatberechnet, dass sich der kommunale Investitionsstau indiesem Jahr auf satte 118 Milliarden Euro beläuft. DieFolgen sind kaputte Straßen, kaputte Brücken und ka-putte Schienen. In den Schulen fällt der Putz von der De-cke.
Es gibt viel zu wenige Kitaplätze, insbesondere gute Ki-taplätze. Das sind Kosten und Schulden von morgen undübermorgen. Dagegen macht die Große Koalition leiderfast nichts. Wir haben nicht nur im Bund, sondern auchin den Kommunen eine große versteckte Verschuldungzu beklagen. Das ist auch ein Problem dieses Haushalts.
Ihr Haushalt und Ihre Politik sind nicht alternativlos.Man könnte wirklich etwas verändern und beispiels-weise Investitionen und Hilfen für Kommunen solide ge-genfinanzieren, indem man die umweltschädlichen Sub-ventionen abbaut. Hier sind Milliarden zu holen. Mankönnte auch eine gerechte Steuerpolitik betreiben. AlsBeispiel nenne ich hier die Abgeltungsteuer. Wir wollen,dass Kapitaleinkommen endlich wieder progressiv be-steuert werden wie Arbeitseinkommen. Das ist gerechteSteuerpolitik und hilft dem Haushalt und unseren Kom-munen. Deswegen sagen wir ganz klar: Wir wollen hö-here Steuereinnahmen aus Kapitaleinkommen erzielen.Die Abgeltungsteuer muss abgeschafft werden.
Eine weitere Möglichkeit stellen Ausgabenkürzungenim Haushalt dar. Frau Schwesig und Herr Schäuble, Siekönnten die Ausgaben für das Betreuungsgeld kürzen.Von 2015 bis 2017 wollen Sie 3 Milliarden Euro für dasBetreuungsgeld ausgeben. Schauen wir uns einmal an,wie viel Sie für den Kitabereich eingestellt haben. Bishergab es pro Jahr 1 Milliarde Euro für die Kommunen.Nun planen Sie, Frau Schwesig, 650 Millionen Euro invier Jahren, also in einer Legislaturperiode. Das ist weni-ger als unter Schwarz-Gelb. Dabei wollten Sie 2 Milliar-den Euro erzielen. Aber Sie konnten sich leider nicht ge-gen den Finanzminister durchsetzen. Für die kleinenKinder haben Sie nichts in diesen Haushalt eingestellt.Das ist ein Armutszeugnis für die SPD und insbesonderefür die Bundesfamilienministerin.
Trauen Sie sich doch endlich, etwas in der Haushalts-politik zu verändern, zum Beispiel bei den Subventio-nen, dem Betreuungsgeld oder der Abgeltungsteuer. Hierliegen Milliarden brach, die Sie holen können, um unse-ren Kommunen zu helfen sowie um in Bildung und denKitaausbau zu investieren. Sie müssen aber mutig sein,wenn Sie wirklich etwas verändern wollen. Wir jeden-falls werden Ihnen konkrete Änderungsvorschläge inden Haushaltsberatungen vorlegen. Ich hoffe, Sie folgenuns dann auch.Vielen Dank.
Als Nächstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten
Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! KollegeKindler, nennen Sie mir eine Krankenkasse, die ver-schuldet ist. Ich kenne keine. Die Krankenkassenschwimmen im Geld. Sie haben Überschüsse ohne Ende.Das ist das Ergebnis grundsolider Politik der letztenJahre und der positiven wirtschaftlichen Entwicklung.Schauen Sie sich die Rentenversicherung an. Wir debat-
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5096 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Eckhardt Rehberg
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tieren nicht über die Erhöhung von Beitragssätzen, son-dern wir debattieren darüber, ob wir sie senken müssen,weil wir eine Reserve von fast zwei Monaten haben. IhreBeschreibung der Lage hat mit der Realität nichts zu tun.
Wenn man von innovativer und kompetenter Haus-haltspolitik redet, dann sollte man sich anschauen, wiewir im nächsten Jahr zur schwarz-roten Null kommenwerden. Wir haben im Jahr 2010 mit einer Sollverschul-dung von 86 Milliarden Euro begonnen. In diesem Jahrist die Istverschuldung auf 44 Milliarden Euro gesunken.Wir haben schon in der zurückliegenden Zeit die Kom-munen massiv entlastet. Ich nenne als Beispiele die Kos-ten der Unterkunft und die Grundsicherung im Alter.Kollege Kindler, wir haben ganz nebenbei zum Beispieldas Kindergeld erhöht. Das waren Kosten in Höhe von10 Milliarden Euro. Wenn Sie Steuermindereinnahmenbeklagen, so sage ich: Das ist gut angelegtes Geld fürunsere Familien und unsere Kinder.
Wir werden im nächsten Jahr bei der schwarz-rotenNull landen. Es werden oft Märchen erzählt, und es wirdso getan, als ob nur der Bund Steuermehreinnahmenhätte. Ja, wir haben von 2005 bis 2014, in der Regie-rungszeit von Angela Merkel, 78 Milliarden Euro Steu-ermehreinnahmen gehabt. Länder und Gemeinden habenaber in dieser Zeit Steuermehreinnahmen in Höhe von100 Milliarden Euro gehabt. Tun wir doch nicht so, alsob die Steuern nur beim Bund landen würden. Der über-wiegende Teil der Gemeinschaftssteuern landet bei Län-dern und Gemeinden.
Wenn Sie in der 17. und 18. Wahlperiode eine kom-munale Entlastung von insgesamt 90 Milliarden Eurostemmen und gleichzeitig die Null haben wollen, dann,liebe Frau Kollegin Schwesig, nenne ich das insgesamtinnovative und kompetente Haushaltspolitik. Das Wich-tigste für mich ist, dass wir in den nächsten Jahren dieNull halten. Wir können viel über Hochschulen, Kitasund darüber, wie Geld verteilt wird, debattieren. DasWichtigste ist, dass ich meinen Enkelkindern keine Neu-verschuldung in Deutschland hinterlasse.
Vielmehr soll jede Generation ihre Verantwortung tra-gen, auch für die Finanz- und Haushaltspolitik.
Der Bund hat sich Mehrausgaben in Höhe von30 Milliarden Euro für die Jahre bis 2018 vorgenommen.Die Steigerung beträgt in den Jahren 2016, 2017 und2018 jeweils 10 Milliarden Euro. Zur Wahrheit gehörtauch, dass die Hälfte dieses Aufwuchses an Länder undKommunen geht. Wir wollen die Kommunen um 1 Mil-liarde Euro entlasten. Damit beginnen wir heute. Ichhalte die Verteilung übrigens für gerecht. Die eine Hälftekommt aus den Umsatzsteuerpunkten, die andere Hälfteaus den KdU. Das eine kommt bei den Stärkeren an, dasandere bei den Schwächeren. Ich halte das für eine in dieZukunft gerichtete, gute Verteilung für die Kommunenin der Bundesrepublik Deutschland.
6 Milliarden Euro sollen an die Länder gehen. Dastellt sich für mich eine ganz spannende Frage. Kommtdas Geld wirklich an? Das betrifft dieses Entlastungsge-setz. Nachdem in der ersten Formulierung von Trägernder Eingliederungshilfe gesprochen wurde, musstendann ganz konkret die Kommunen genannt werden. Ichmöchte mich ganz ausdrücklich bei unseren Kommunal-politikern und an deren Spitze bei Ingbert Liebing be-danken, dass sie hier reingegrätscht sind. Die ersten Län-der haben nämlich schon den Finger gehoben und aufdas Geld Anspruch erhoben. Wir haben in dem Koali-tionsvertrag festgeschrieben, dass die 1 Milliarde Euround auch die zukünftigen 5 Milliarden Euro – das isteine Vorfestlegung – für die Entlastung der Kommunenverwendet werden und für nichts anderes.
Eine Rednerin, die nach mir spricht und Mitglied desHaushaltsausschusses ist, eine Kollegin von der SPD,hat einmal von klebrigen Fingern der Länder gespro-chen. Ich will das nicht tun.
Aber gucken wir uns wirklich einmal die Realitätenan:Stichwort „Entflechtungsgesetz“. Mit den Mittelnkonnten die Länder und Kommunen eigentlich nichtrechnen. Die Absprache war eine andere. Die Absprachewar: degressiv bis 2019. Ergebnis: Zustimmung Fiskal-vertrag; die 2,6 Milliarden Euro bleiben stehen. – Gu-cken Sie sich heute einmal an, wie viele Länder dieZweckbindung bei sich normiert haben! Ich fange jetztnicht an, die Länder zu benennen, weil das an dieserStelle vielleicht zu weit führt. Es gibt Länder, die über-haupt keine Zweckbindung festgeschrieben haben. Ichkenne Länder, wo beim ÖPNV und beim kommunalenStraßenbau gerade einmal die Hälfte der Mittel für die-sen Zweck ankommt.Deswegen geht mein Appell an die Kolleginnen undKollegen von allen Fraktionen, ob in der Regierung oderin der Opposition in diesem Land: Wir sollten alle ge-meinsam als Bundestagsabgeordnete wirklich dafür sor-gen, dass das Geld entsprechend der Zweckbindung undauch auf der Ebene ankommt, die wir politisch vorgese-hen haben. Es kann nicht sein, dass Entflechtungsmittelzur Sanierung der Länderhaushalte verwendet werden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5097
Eckhardt Rehberg
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Nehmen wir das Thema BaföG: BAföG wird an Stu-dierende und Schüler ausgereicht, und deswegen gehö-ren die Mittel nach meiner Auffassung auch an Schulenund Hochschulen. Jetzt kann man sich beim Thema„frühkindliche Bildung“ streiten; aber wenn man dieMittel nur nimmt, damit die Eltern keine Kitabeiträgezahlen müssen, dann sehe ich keine Qualitätsverbesse-rung in der frühkindlichen Bildung, sondern dann ist dasaus meiner Sicht eine Zweckentfremdung. Wenn mandie Mittel für Qualitätsverbesserung in der frühkindli-chen Bildung verwenden würde,
dann wäre ich noch damit einverstanden; aber wenn sienur eingesetzt werden, damit Eltern keine Beiträge mehrzahlen müssen, sehe ich eine Zweckentfremdung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine der ef-fizientesten Kommunalentlastungen war die bei derGrundsicherung im Alter. Es war eine gute Entschei-dung, auch deswegen – ich kann das zumindest für dieneuen Bundesländer sagen –, weil es keinen signifikan-ten Anstieg bei der Grundsicherung im Alter gegebenhat. Die neuen Bundesländer hatten vor acht Jahren eineQuote von 1,16 Prozent; die neuen Bundesländer, ohneBerlin, haben heute eine Quote von 1,28 Prozent – keinsignifikanter Anstieg. Über die verschiedenen Stufen– 40 Prozent, 75 Prozent und heute 100 Prozent – isteine echte Entlastung für die Kommunen erreicht wor-den.Die Uni Rostock sagt in einer Studie, in Auftrag gege-ben vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, dass biszum Jahr 2020 zumindest für dieses Bundesland nichtmit einem signifikanten Anstieg der Altersarmut, sprich:der Ausgaben für die Grundsicherung im Alter, zu rech-nen ist. Wissenschaftler können irren; ich zitiere das hiernur. Wenn das so sein sollte, ist das bei den Kommunengut angelegtes Geld, meine sehr verehrten Damen undHerren.Wenn ich im Gesamtkontext betrachte, was wir getanhaben und was wir tun wollen, dann möchte ich an einenPunkt anknüpfen, den Minister Schäuble schon genannthat. Zur Ehrlichkeit gehört, dass es in der Gesamtheitden Kommunen und Ländern deutlich besser geht alsdem Bund. Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchedebattieren hier nur die Einnahmeseite. Wenn Sie sicheinmal angucken, welche Länder einen Ausgabenzu-wachs haben, dann stellen Sie fest: Das sind die Länder,wo Haushalte für nicht verfassungsgemäß erklärt wor-den sind, und das sind die Länder, die am meisten her-umtrompeten, dass man die Steuern erhöhen müsse, da-mit die Ausgaben auch geleistet werden können. AndereLänder, die sich anstrengen – ich lasse einmal beiseite,welche das sind –, fragen sich natürlich mittlerweile,auch mit Blick auf die Gespräche über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen: Haben sich unsere Anstrengungengelohnt, oder machen wir bei dem ganzen ThemaMiese?
Ich kann diesen Ländern nur eines sagen: Die Anstren-gungen haben sich gelohnt, weil sie gegenüber denen,die ihre Ausgaben hochfahren und sich immer wiederverschulden, in einer besseren Position sind. Das Gebotder Stunde kann nicht sein, bei steigenden Steuereinnah-men solche Ausgabenzuwächse in den Länderhaushaltenzu haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir insgesamtbrauchen, das ist aus meiner Sicht eine Verantwortungs-gemeinschaft, eine Verantwortungsgemeinschaft vonBund, Ländern und Kommunen. Das heißt für mich:Erstens. Das Geld muss an der Stelle ankommen, diepolitisch vereinbart worden ist. Das gilt sowohl für denVerwendungszweck als auch für die Ebene.Zweitens. Die Länder müssen ihre Zusagen einhalten.Denken wir einmal an das Thema des Krippenausbaus.Ja, wir haben seit 2008 viele Krippenplätze neu geschaf-fen und werden das auch weiter tun. Halten aber Länderund Kommunen wirklich die politische Zusage – einDrittel der Bund, ein Drittel die Länder und ein Dritteldie Kommen – ein? Wenn wir einmal ganz scharf injeden Landeshaushalt schauen, dann stellen wir fest,dass dem oftmals mitnichten so ist.Drittens. Aus meiner Sicht darf es zu keiner Sanie-rung der Länderhaushalte durch Zweckentfremdungkommen. Ich halte es für unverantwortlich, was einigeLänder machen. Ich rufe dringend zur Revision einigerkommunaler Finanzausgleichsgesetze der Länder auf, indenen explizit steht: Wenn der Bund zusätzliche Zuwei-sungen an die Kommunen vornimmt, dann fließen dieMittel über den Vorwegabzug zurück in den Landes-haushalt. Ich halte das für politisch-moralisch nicht ver-tretbar.
Es gibt solche Länder. Bei einer Tasse Kaffee nenne ichIhnen diese auch. – Die Mittel müssen also letztendlichim kommunalen Haushalt ankommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in dervergangenen Legislaturperiode mit einem massivenSchuldenabbau begonnen.
Nehmen wir einmal die 90 Milliarden Euro, die in dervergangenen Legislaturperiode den Kommunen zuge-wiesen worden sind.Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Anmerkungmachen und darauf hinweisen, dass die Hälfte des Aus-gabenzuwachses nicht als Durchlaufposten im Bundes-haushalt enthalten ist. Wir müssen eine Debatte darüberführen, ob der Bund Maßnahmen finanziert, für die er ei-gentlich nicht zuständig ist. Diese Debatte muss deswe-
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gen zwingend geführt werden, weil auch der Bund Auf-gaben zu erfüllen hat. Ja, Kollege Kindler, mirpersönlich wäre es lieber – das sage ich ganz offen –,das, was wir als Durchlaufposten an die Länder geben, indie Verkehrsinfrastruktur zu stecken. Das ist originäreBundesaufgabe.Herr Minister Schäuble, deswegen haben Sie dieUnionsfraktion an Ihrer Seite bei all den Themen, die inden nächsten Wochen und Monaten anstehen. Ichglaube, wir im Bund befinden uns in einer sehr gutenPosition auf dem Weg hin zu einer schwarz-roten Null.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Liebe Gäste! 550 Millionen Euro mehrstellt der Bund in den nächsten zwei Jahren über dasSondervermögen Kinderbetreuungsausbau zur Verfü-gung. Dass die Bereitstellung der Mittel für den Kinder-betreuungsausbau durch den Bund problematisch ist unddass wir vor allem auch über die Qualität reden müssen,darauf hat meine Kollegin Diana Golze bereits hinge-wiesen.Sie sind stolz darauf und klopfen sich nun auf dieSchulter. Ich sage Ihnen: Für die klammen Kommunenist das zu wenig. Das reicht hinten und vorne nicht. Diemeisten ihrer Probleme werden damit nicht gelöst. Diegrundsätzliche chronische Unterfinanzierung der kom-munalen Familie lässt sich durch diese Placebogesetzge-bung leider nicht beheben.
Daneben soll der Bund ab 2015 die Kommunen jähr-lich um 1 Milliarde Euro entlasten. Dafür erhalten siejährlich 500 Millionen Euro mehr an Erstattungen beiden Kosten für Unterkunft und Heizung im Bereich derGrundsicherung für Arbeitsuchende. Außerdem steigtder Anteil der Städte und Gemeinden am Umsatzsteuer-aufkommen. Dies macht ebenfalls 500 Millionen Eurojährlich aus.Ich sage Ihnen jetzt, worin meine Kritik besteht.
Im Koalitionsvertrag steht, Herr Kauder, dass die Kom-munen ab 2014 um 1 Milliarde Euro jährlich entlastetwerden sollen.
Nicht nur die Spitzenverbände haben diesen Wortlaut soverstanden, sondern auch Ihre Kollegen, wie es in derSitzung des Unterausschusses Kommunales deutlichwurde. Wir stellen fest, dass „sofort“ bei Ihnen „ein Jahrspäter“ heißt.
Das heißt, weder fließt 1 Milliarde Euro sofort, noch istdas eine ausreichende Hilfe. Das ist so wie Hustensaftbei einer Lungenentzündung.
Die Entlastung der Kommunen ist Ihrerseits gar nichtgarantiert. Es sind schließlich die Länder, die oftmals inder Pflicht stehen, den Kommunen Gelder für die Erledi-gung ihrer ureigenen Aufgaben zukommen zu lassen.Deshalb müssen Sie, meine Damen und Herren, sicher-stellen, dass die Entlastung auch tatsächlich bei denKommunen ankommt.Sie wollen einen Beitrag zur Reduzierung der Kostenfür die Eingliederungshilfe leisten. Das kann an dieserStelle aber auch kontraproduktiv bzw. mit Bezug auf dieTräger der Eingliederungshilfe ja sogar gefährlich sein,wenn Länder die entsprechenden Gelder an die Kommu-nen nicht weiterleiten.
Denn weil einige dafür nicht zuständig sind, gibt es daauch kein Geld. Ich sage Ihnen: Da muss nachgebessertwerden. Im Gesetz muss die Zweckbindung dieser Gel-der verankert werden, damit die Kommunen tatsächlichentlastet werden; sonst wird deren Handlungsfähigkeitgerade nicht verbessert, und wir hätten es wiederum nurmit einer Placebogesetzgebung zu tun.
Grundsätzlich begrüßen wir es selbstverständlich,wenn Kommunen tatsächlich um 1 Milliarde Euro proJahr entlastet werden. Die Erhöhung der Erstattung derKosten für Unterkunft und Heizung um 500 MillionenEuro ist zwar nur eine kleine Entlastung, aber ein richti-ges und wichtiges Schrittchen. Dennoch fordern wir alsLinke die vollständige Entlastung der Kommunen vondiesen Kosten.Außerdem wird – ich hatte es bereits erwähnt – derGemeindeanteil an der Umsatzsteuer um 500 MillionenEuro erhöht. Aber auch diese Mittel werden nicht helfen,die chronische Unterfinanzierung der Kommunen zu be-seitigen. Diese Erhöhung ist lächerlich; sie ist keinGrund zum Jubeln. Wir brauchen da einen größerenSchritt. Diese Maßnahme ist meines Erachtens wiede-rum nur ein Placebo.Die jüngst veröffentlichte „Kommunenstudie 2014“von Ernst & Young hat gezeigt, dass die Schere zwi-schen armen und reichen Kommunen immer weiter aus-einandergeht. Die Kassenkredite explodieren, und derInvestitionsstau ist enorm. Würde ich beschreiben wol-len, welche Kommunen in Nordsachsen, woher ichkomme, einen Investitionsstau haben, wüsste ich garnicht, wo ich mit dem Aufzählen anfangen sollte: Das
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Susanna Karawanskij
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fängt beim Breitbandausbau an, geht über die Sanierungder Schulen, der Infrastruktur bis hin zur Sanierung vonKrankenhäusern usw. usf. Den Menschen dort drohtauch ein tiefer Griff in ihre Taschen, beispielsweisedurch die Erhöhung von Gebühren oder auch durch dieSchaffung von neuen Gebühren.Hier geht es nicht um das Sahnehäubchen und auchnicht um den Nachtisch; hier geht es tatsächlich um denHauptgang: Es geht um die Daseinsvorsorge, die sicher-gestellt werden muss. Ich bleibe dabei: Die Kommunen,aber auch die Länder sind strukturell unterfinanziert. Da-ran werden leider auch die 500 Millionen Euro, die auf11 000 Gemeinden, Gemeindeverbände und Kreise inDeutschland verteilt werden müssen, nichts ändern.Die Finanzausstattung von Kommunen und Ländernmuss deutlich verbessert werden. Dafür brauchen wirzum einen eine grundlegende Gemeindefinanzreform,die unseren Kommunen tatsächlich stabilere Einnahmenverschafft. Wir haben dazu einen Antrag vorgelegt, indem die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einerGemeindewirtschaftsteuer gefordert wird. Weiterhin for-dern wir für die kommunale Familie die Einführung ei-ner kommunalen Investitionspauschale, und zwar als So-fortmaßnahme und nicht erst irgendwann einmal. Dashat meine Fraktion auch in die aktuellen Haushaltsver-handlungen eingebracht. Zum anderen brauchen wir ei-nen neuen solidarischen und aufgabengerechten Länder-finanzausgleich, welcher vor allen Dingen die Länder,aber auch die Kommunen finanziell stärkt. Es muss fürtatsächlich gleichwertige Lebensverhältnisse in allenLändern und Regionen gesorgt werden. Auch hier habenwir ein Konzept zur Diskussion vorgelegt.Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit derPlacebogesetzgebung; sie hilft nicht weiter. Wenn SieSteuererhöhungen ausschließen, das Scharfstellen derSchuldenbremse im Jahr 2020 durchsetzen wollen undimmer nur auf die „schwarze Null“ schielen, dann be-deutet das klipp und klar, dass Sie den Ländern undKommunen eine Rosskur aufbürden. Am Ende müssendas die Menschen in den Städten und Dörfern ausbaden.Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Dem werden wir uns ent-gegenstellen. Das machen wir nicht mit.
Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Es war jetzt nicht wirklich eine Überraschung, dass Sie,die Linke, dabei nicht mitmachen. Es ist allerdings jetztdie Frage zu stellen: Was machen Sie eigentlich über-haupt mit?Ich denke, es ist wichtig, noch einmal zu sagen: Wirreden hier weder über Sahnehäubchen noch über Place-bos; wir reden hier über richtig viel Geld. Dies ist ein gu-ter Tag für die Kommunen. Es ist ein guter Tag für dieFamilien, für die Kinder und für die frühkindliche Bil-dung.
Wir, die Große Koalition, brauchen von Ihnen keineNachhilfe, wenn es darum geht, zu betonen, welch wich-tige Rolle die Kommunen in unserem Land spielen.Wenn Sie sich vielleicht einmal mit etwas mehr als ei-nem Halbsatz in unserem Koalitionsvertrag beschäftigenwürden – ich empfehle Ihnen, Seite 97 zu lesen; ich willdas nicht vortragen, um meine Redezeit zu schonen –,würden Sie wie jeder, der den Koalitionsvertrag gelesenhat, sehen, dass wir in der Tat gemeinsam die kommu-nale Entlastung in den Mittelpunkt stellen. Das ist keinSelbstzweck. Es geht jetzt auch nicht darum, eine neueBalance zwischen Bund, Ländern und Kommunen her-zustellen. Mein Kollege Eckhardt Rehberg hat zu Rechtdarauf hingewiesen. Manchmal bildet ja auch Lesen.Und die Zahlen zu den Steuereinnahmen von Bund, Län-dern und Kommunen, die Herr Rehberg hier vorgetragenhat, sind natürlich richtig.Wir haben das nun in der Großen Koalition gemein-sam beschlossen, weil wir wissen, dass die wichtigsteRessource in unserem Land, in die wir investieren müs-sen, die Köpfe unserer Kinder, der jungen Menschensind. Indem wir das ermöglichen, leisten wir einen wich-tigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Bil-dung findet nämlich nach unserem Verständnis ebennicht nur an Universitäten und in Schulen statt, sondernBildung fängt schon in der Krippe und der Kita an.
– Ja, da können Sie alle gleich gerne klatschen.Darum, weil wir eben die Kommunen in die Lage ver-setzen wollen, deutlich mehr Geld in die Hand zu neh-men, setzen wir bei der kommunalen Entlastung ein sol-ches Schwergewicht. Es geht nicht nur um zusätzlicheKrippen- und Kitaplätze; diese sind natürlich auch wich-tig; wir stimmen überein, dass das erst einmal der wich-tigste Schritt ist, gerade auch aus der Sicht der Eltern.Aber selbstverständlich steht es den Ländern frei, mitder finanziellen Besserstellung, die wir nicht nur verab-redet, sondern teilweise auch schon umgesetzt haben,auf ihrer Ebene an den Qualitätsstandards zu schrauben.Da haben sie meine volle Unterstützung; aber das fällt indie Verantwortung der Länder. Ich hoffe auch, dass sieda noch mehr tun.
Wir können also die heutige Debatte unter die Über-schrift stellen: Versprochen – Gehalten.Manuela Schwesig, unsere Familienministerin, hathier schon zu Recht sehr umfangreich und richtig ausge-führt, warum zusätzliche Plätze im Bereich Krippe undKita dringend nötig sind und wir diesem Bereich ein sogroßes Gewicht beimessen. Aber ich denke, es ist auch
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Bettina Hagedorn
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wichtig, einmal darauf zu verweisen, was dieses Parla-ment in den letzten zehn Jahren gemacht hat.Das Ganze begann 2004 unter der rot-grünen Regie-rung. Da haben wir mit einer Entlastung der Kommunenum 2,5 Milliarden Euro den ersten Schritt getan. Damalshatten wir in Deutschland übrigens noch einen Krippen-bestand von 60 000 Plätzen. Die meisten davon warenübrigens in den ostdeutschen Ländern. Im Westen wardie Quote so niedrig, dass man sie nicht einmal mit derLupe finden konnte. Das, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist zehn Jahre her.Inzwischen sind es knapp 800 000 Plätze. Jetzt werden30 000 weitere hinzukommen. Ich muss einmal sagen: Dasist ein Kraftakt gewesen. Denn vergessen wir doch einesnicht: Wir haben in den letzten Jahrzehnten in Deutsch-land, verglichen mit dem europäischen Ausland – zumBeispiel mit den skandinavischen Ländern, aber auchmit Frankreich –, einfach eine völlig andere Weichen-stellung gehabt – leider. Aber besser, man lernt spät alsnie. Wir Abgeordnete, und zwar über Fraktionsgrenzenhinweg, haben nicht nur gelernt, sondern wir haben dasGelernte auch konsequent umgesetzt. Denn diesem erstenGesetz von 2004 mit der ersten Aufstockung auf roundabout, wenn ich mich recht erinnere, 300 000 Plätzefolgte in der letzten Großen Koalition das nächste Ge-setz. Dazu haben wir 4 Milliarden Euro in die Hand ge-nommen. 2,15 Milliarden Euro haben wir wiederum inGebäude investiert, um mehr Plätze zur Verfügung stel-len zu können. 1,85 Milliarden Euro haben wir schon da-mals verlässlich über Umsatzsteuerpunkte an die Länderumverteilt, damit diese es an die Kommunen weiterlei-ten können. Das war als wichtiger Beitrag zu den Be-triebskosten geplant. Denn jeder von uns weiß, dass eineKrippe einen ambitionierteren Betreuungsschlüsselbraucht als eine Kita; die Kleinsten brauchen einfachmehr Betreuung. Auf diese Weise haben wir als Bundsehr wohl unseren Beitrag geleistet.
Dieser Weg ist auch in 2013 und 2014 kontinuierlichweiterverfolgt worden, in der letzten Legislaturperiodeauch gemeinsam mit dem Bundesrat. Ich gebe zu: WirSozialdemokraten haben uns im Bundesrat diesbezüg-lich sehr engagiert und haben die Umsetzung auch er-reicht. Damals wurden die nächsten 30 000 Plätze be-schlossen, und zwar wieder mit einer umfangreichenAusstattung des investiven Bereichs; 560 Millionen Eurowaren es, glaube ich.Zusätzlich hat der Bund an die Länder aber immer aucheinen verlässlichen Beitrag zu den Betriebskosten geleis-tet. Das heißt, Schritt für Schritt haben wir uns in zehnJahren von 60 000 Krippenplätzen auf fast 800 000 hoch-gearbeitet. Jetzt machen wir den nächsten Schritt.
Und egal was Sie sagen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Linken und den Grünen: Das ist ein Beitrag, aufden wir stolz sein können. Es geht hier vor allen Dingenum Kontinuität.
Wir wollen heute sowohl den Kommunen als auch denFamilien mit Kindern das Signal geben, dass sie sich aufdiese Regierung verlassen können
und wir den Weg weiter so fortsetzen werden, wie wirihn begonnen haben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn ich gleich,wie meine Kollegen Eckhardt Rehberg und SvenKindler, der Debatte nicht weiter folgen kann, dann istdas kein Ausdruck von Unhöflichkeit, sondern wir dreisind bei Herrn Dobrindt zum BerichterstattergesprächVerkehr.
Insofern müssen Sie gleich auf uns verzichten.Am Ende der Debatte sei mir aber noch gestattet, anetwas zu erinnern. Es ist schon auf andere wichtige Bei-träge hingewiesen worden, wie wir die Kommunen ent-lasten. Die Grundsicherung ist hier zu Recht genanntworden: 2014 gibt es gegenüber 2013 eine zusätzlicheEntlastung von 1,6 Milliarden Euro. Der Bundesbeitragzur Grundsicherung lag im letzten Jahr noch bei 75 Pro-zent und liegt jetzt bei 100 Prozent. Ich will also, weildas früher mein Haushalt war, daran erinnern, dass derBund 2011 – das ist nicht wirklich lange her – noch16 Prozent Anteil an der Grundsicherung getragen hat.Das waren damals übrigens round about 500 Millio-nen Euro. Wir sind jetzt bei ungefähr 5,5 MilliardenEuro. Das sollte man sich einmal auf der Zunge zerge-hen lassen: Die kommunale Entlastung beträgt pro Jahrdurch die Übernahme der Kosten für die Grundsicherung5 Milliarden Euro, aufwachsend übrigens, weil die Kos-ten steigen. Das ist wirklich ein bemerkenswerter Bei-trag. Der Wunsch dieses ganzen Hauses war natürlichimmer, dass dieses Geld, das bei den Kommunen undden Ländern zusätzlich verbleibt, auch tatsächlich fürmehr Bildung für die junge Generation in die Hand ge-nommen wird.Wir werden auch mit Herrn Dobrindt unseren Beitragdazu leisten, durch Investitionen in die soziale Stadt, inden Städtebau
und in die Infrastruktur die Kommunen zu entlasten.Hier können Sie sich auf uns verlassen.In diesem Sinne noch weiterhin eine gute Debatte undvielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Der Gesetzentwurf, der vor uns liegt,erwähnt im Titel auch den qualitativen Ausbau. Was er-warten wir also von dem Gesetzentwurf, wenn wir vonQualität in der Kita sprechen? Und was erwarten vor al-lem die Eltern und die Kinder?Eine Mutter wird vielleicht zuerst erwarten, dass Er-zieherinnen und Erzieher mehr Zeit für ihr Kind haben.Warum das wichtig ist, brauche ich hier wohl nicht zuerwähnen. Ein Qualitätsfaktor, auf den wir uns einigenkönnen, ist die Zeit mit dem Kind. Herr Rehberg – ichglaube, er ist schon auf dem Weg zu Herrn Dobrindt –hat vorhin gesagt, wir sollten uns einmal die Realität an-schauen. Gerne, schauen wir uns doch einmal den Alltagin einer Kita an. Da ist die Realität so, dass sich Erziehe-rinnen und Erzieher gleichzeitig um eine laufende Nase,um ein gestoßenes Knie kümmern, sich ein gemaltesBild anschauen, Windeln wechseln. Daneben sitzt viel-leicht noch ein stilles Kind, das aber auch Aufmerksam-keit braucht. Wie kann ein Erzieher oder eine Erzieherin,der bzw. die eine Gruppe von sechs oder sieben Kinderbetreut, dann auf die Bedürfnisse aller eingehen?Es ist unsere Aufgabe, dass Kinder, egal wo sie leben,egal in welcher Kommune, egal ob die Kommune reichoder arm ist, eine gute Förderung und Betreuung erfah-ren.
Deswegen brauchen wir einen bundesweiten Qualitäts-anspruch, der festlegt, wie viele Erzieherinnen und Er-zieher eine Gruppe betreuen. Diesen Anspruch wollenwir im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankern. Nur sokann das Geld auch wirklich in den Einrichtungen zurVerbesserung der Qualität ankommen.Frau Schwesig, Sie haben vorhin gesagt, wir würdenmit unserer Forderung nach Qualität implizit sagen: DieErzieherinnen und Erzieher leisten keine gute Arbeit.Das ist keine feine Art. Keiner von uns, weder FrauGolze noch ich noch irgendjemand, der hier sagt, wirbrauchen Qualität in unseren Einrichtungen, leugnet,welch unglaublich tolle Arbeit die Erzieherinnen und Er-zieher vor Ort leisten.
Es ist unglaublich, was sie vollbringen. Aber wir sageneben auch, dass sie am Rande des Machbaren, des Mög-lichen sind. Sie brauchen Unterstützung. Hier müsstensie auf den Bund zählen können. Sie können es leidernicht.
Davon ist im Gesetzentwurf leider nichts zu finden.Man könnte denken: Vielleicht wird ja die Kita beimir um die Ecke umgerüstet. Endlich wird sie barriere-frei und ein Ganztagsbetrieb. – Das wäre durchaus einQualitätsmerkmal. Aber wieder Fehlanzeige! Barriere-freiheit und Ganztagsbetrieb gibt es bei Ihnen nur beineuen Kitas und Kitaplätzen; dort wird das bereits stan-dardmäßig gemacht. Es wird heute in Deutschland keineKita mehr gebaut, für die kein Ganztagsbetrieb undkeine Barrierefreiheit vorgesehen sind. Das ist Etiketten-schwindel, was Sie uns da vorgelegt haben. Mit Qualitäthat das nichts zu tun.
Wenn es schon nicht mehr Erzieherinnen und Erzie-her oder eine Umrüstung auf Ganztagsbetreuung undBarrierefreiheit gibt, dann könnte man denken, Sie ver-knüpften den Ausbau wenigstens mit einem Qualitäts-management. Das wäre schließlich das Minimum.Frau Schwesig, Sie haben uns neulich im Familien-ausschuss den Auftrag gegeben, unsere Ministerin IreneAlt einmal zu fragen, was sie für die Kitaqualität tut. Dashabe ich natürlich gerne getan. Ich gebe Ihnen auchgerne das Konzept aus Rheinland-Pfalz mit auf den Weg.Es sieht ein sehr modernes Qualitätsmanagement vor. Esist ein Konzept mit Leitlinien und definiert, was Bildungeigentlich bedeutet: zum Beispiel Partizipation von Kin-dern oder in die Kita integrierte Elternarbeit. Diese Leit-linien werden in die Schulungen aufgenommen, sinddann Schwerpunkte in den Kitas und werden gemeinsamevaluiert.Auch hier wieder das Gleiche: In Ihrem Gesetz siehtman keinen Zusammenhang zwischen Geld und Quali-tätsmanagement. Das wäre eine Möglichkeit gewesen.Aber auch hier wieder Fehlanzeige!
Warum gibt es das alles nicht? Weil Qualität ebenGeld kostet, Frau Ministerin. Es gab schon in der letztenSitzungswoche eine Debatte dazu. Ich bin sehr froh, dassSie nicht mehr von 1 Milliarde Euro gesprochen haben,sondern selber endlich einsehen, dass es eben 550 Mil-lionen Euro im Sondervermögen und 100 MillionenEuro, die noch dazu kommen, sind. Das reicht aber nichtfür vier Jahre.Frau Hagedorn, Sie haben eben gesagt, es gebe hierKontinuität. Aber die gibt es nicht. Es gab in den letztenJahren wesentlich mehr Geld für den Kitaausbau alsjetzt. Sie würgen das ab. Es gab 1 Milliarde Euro proJahr. Jetzt sind es 650 Millionen Euro für vier Jahre. Woist denn da die Kontinuität? Wo gehen denn da der Aus-bau weiter und die Qualität nach oben? Das ist ein Ab-würgen und keine Kontinuität.
Es ist insbesondere bitter, dass mit der SPD dafür an-scheinend weniger rausgeholt wurde als mit der FDP.Qualität darf keine Kür sein. Es ist Pflicht. Es ist eineVerpflichtung gegenüber unseren Kindern. Wir sind unssicher: Deutschland kann mehr. Die Realität erfordert es.
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Dr. Franziska Brantner
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Legen Sie die Kontinuität an den Tag, die Sie sonst gernimmer einfordern. Unsere Kinder verdienen es.Ich danke Ihnen.
Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten
Philipp Graf von und zu Lerchenfeld, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Hohes Haus! Ich habe in der letztenhalben Stunde irgendwie das Gefühl gehabt, ich bin imfalschen Parlament.
Wenn ich mir Diskussionen über Qualitätssicherung an-höre, dann erinnere ich mich daran, dass das eigentlichAufgabe der Landtage ist. Bei uns ist es Aufgabe desBayerischen Landtags.Liebe Frau Golze, liebe Frau Brantner, Qualität in derBildung ist Ländersache.
Da sollten wir uns im Bund möglichst zurückhaltenund uns nicht irgendwelche Dinge anmaßen, die origi-näre Aufgabe der Länder sind.
– Auch der Kommunen, selbstverständlich. – Wir solltendie Aufgaben nicht vermischen und uns da heraushalten.
Uns gehen nur Dinge auf Bundesebene und nicht Län-der- oder Kommunalangelegenheiten etwas an.Dass wir mit diesem Gesetz den Kommunen und denLändern unter die Arme greifen, ist hervorragend. Ichfinde es sehr gut, dass wir auch jetzt hier für eine Entlas-tung der Kommunen sorgen, wie das auch in der vergan-genen Legislaturperiode schon intensiv gemacht wurde.Die Entlastung der Kommunen bei der Grundsicherungim Alter und bei der Erwerbsminderung beläuft sich auf25 Milliarden Euro. Sie wird, dadurch dass sie auf100 Prozent angehoben wird, zu einer zusätzlichen Ent-lastung von 1,6 Milliarden Euro führen.Die finanzielle Entlastung der Kommunen ist auchweiterhin eine wichtige Aufgabe des Bundes. Das siehtman an den Plänen, die wir im Koalitionsvertrag festge-schrieben haben. Wir wollen die Kommunen dieses Malum 1 Milliarde Euro und in Zukunft um 5 MilliardenEuro entlasten.Ich denke – das haben einige Redner vor mir auchschon gesagt –, es ist ganz besonders wichtig, dass wirauf eine hohe Trennschärfe achten, damit die Gelderwirklich dort ankommen, wo wir sie politisch habenwollen. Es kann nicht sein, dass die Finanzminister beiden Geldern, die wir letztendlich den Kommunen zu-kommen lassen wollen, „klebrige Finger“ haben; ichfinde den Ausdruck von der Kollegin der SPD wunder-bar. Es geht hier um die Entlastung der Kommunen, auchaus dem Grund, dass dort Investitionen stattfinden, diegerade diejenigen voranbringen – Mittelstand, Handwer-ker –, die es wirklich nötig haben und eine stabile Basisunserer Wirtschaft sind. Es geht darum, die Handlungs-fähigkeit der Kommunen zu stärken und einen Beitragzur Entlastung der Kommunen zu leisten. Es geht nichtdarum, Länderhaushalte zu entlasten. Ich freue michdeshalb, dass der Verteilungsschlüssel dazu führt, dasssowohl die starken wie auch die schwachen Kommunenentsprechend Berücksichtigung finden.Ich glaube aber, wir müssen uns im Rahmen der ge-samten Diskussion auch darüber Gedanken machen, wieunsere Aufgaben und unsere Verantwortlichkeiten wie-der klarer zugeordnet werden können. Es ist wichtig,dass wir wissen, welche Ebene eigentlich für welcheDinge verantwortlich ist und welche Ebene wir politischverantwortlich machen können. Die Finanzierung derAufgaben, die die einzelnen Ebenen haben, muss dabeinatürlich gesichert sein. Ich denke, dass es dementspre-chend unsere Aufgabe ist, dies in den kommenden Mo-naten bei den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu zu regeln.Wir unterstützen die Kommunen sehr; aber auf Dauerist es wichtig, dass die Aufgaben und auch deren Finan-zierung wieder den rechtlichen Gegebenheiten angepasstwerden. Es darf, wie ich vorhin schon gesagt habe, nichtsein, dass der Bund dauernd originäre Aufgaben derLänder oder der Kommunen finanziert und damit eineweitere Vermischung von Finanzierung und Verantwort-lichkeit geschaffen wird – insbesondere auch deshalb,liebe Kolleginnen und Kollegen, weil dem Bund letzt-lich eine Kontrolle der Mittel verwehrt ist: Wir könnennicht kontrollieren, ob die Mittel wirklich den Kommu-nen zugutekommen oder ob sie irgendwo zwischendrinhängenbleiben. Das ist uns leider durch Gerichtsurteileund durch unsere Verfassung untersagt.Es ist deshalb in meinen Augen von besonderer Be-deutung, dass bei der Neuordnung der Bund-Länder-Fi-nanzbeziehungen die im Grundgesetz verankerte Zustän-digkeit der Länder für ihre Kommunen gewährleistetbleibt. Jede Ebene muss in eigener Verantwortung ihreAufgaben umfassend und verlässlich erledigen können,und dafür braucht es eine sachgerechte Finanzierung.
Wie gesagt: Wir brauchen klare Verantwortlichkeiten.Die Vermischung von Aufgaben und Finanzierung führtganz deutlich zu einer Unklarheit bei der Verantwortung.
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Philipp Graf Lerchenfeld
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Wir brauchen eine klare Aufgabentrennung zwischenBund, Ländern und Gemeinden. Wie ich vorhin gesagthabe, braucht jede Ebene ausreichende Finanzmittel, umihre originären Aufgaben zu verwirklichen. Wenn mandas in der Konsequenz beherzigt, dann ist es sicherlichauch ein Gedanke, von den Ländern zu erhebende Zu-schläge auf die Steuern einzuführen, damit diejenigen,die in der politischen Verantwortung stehen und ihreHaushalte nicht in Ordnung bringen, ihren Bürgern ent-sprechend deutlich machen müssen: „Wir brauchenmehr Geld von euch“, bzw.: „Andere Länder könnensich das vielleicht erlauben“.
Gerade unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung derSchulden durch die Schuldenbremse, die wir ab 2020einführen, ist es ein Riesenproblem, dass die Länderkeine eigenen Möglichkeiten haben, ihre Steuereinnah-men zu erhöhen. Deswegen ist dies durchaus ein Ge-danke, mit dem wir uns anfreunden können, wenn wirdarüber nachdenken, wie wir die Einnahmen der Ländersteigern können, ohne dass wir den Bund damit weiterbelasten.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Bernhard Daldrup, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Lerchenfeld, auch wenn Sie versuchen, sich an die-ser Stelle sozusagen in besonderer Weise als Steuertrei-ber und Steuererhöher zu profilieren, muss ich Ihnen sa-gen: Das wird nicht funktionieren. Wir wollen dieseVarianten mit regionalen Steuersätzen nicht, weil sie inWirklichkeit zu Steuerdumping führen müssen.
Packen Sie den Vorschlag einfach wieder ein, und ver-gessen Sie ihn erst einmal. Wir können aber auch gernespäter noch einmal darüber reden. Jetzt möchte ich ganzgerne zum vorliegenden Gesetzentwurf Stellung neh-men.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Konzert vonHaushaltssolidität, Entlastung der Kommunen und Stär-kung ihrer Investitionskraft ist der vorliegende Gesetz-entwurf ein wichtiger Baustein zur Umsetzung des Ko-alitionsvertrages. In Richtung der Kollegen von denGrünen und der Linken sage ich: Es ist nicht der erste, esist nicht der einzige, und es wird auch nicht der letztesein.
Frau Karawanskij, Herr Kindler, natürlich gibt es ge-gen diesen Gesetzentwurf – wie das bei Gesetzentwürfenmeistens der Fall ist – einen zentralen Einwand, der ineinem Satz zusammengefasst lautet: Mehr Geld wärebesser.
Naja, der Erkenntniswert dieses Satzes ist ebenso großwie der der Feststellung, dass es morgens hell wird. Dasstimmt irgendwie immer, hilft uns aber nicht weiter.Herr Minister Schäuble und Frau Ministerin Schwesighaben den Umfang der finanziellen Entlastungen in denvergangenen Jahren und den des jetzt vorgesehenen Ge-samtpakets hinreichend dargestellt. Der Maßstab unserespolitischen Handelns orientiert sich an dieser Stelle anJohannes Rau, der gesagt hat: „Sagen, was man tut, undtun, was man sagt“. Mit der Bereitstellung von 1 Mil-liarde Euro jährlich in den Jahren 2015 bis 2017 für dieKommunen bis zur späteren jährlichen Entlastung inHöhe von 5 Milliarden Euro im Kontext eines neuenBundesteilhabegesetzes tut die Koalition das, was sie imKoalitionsvertrag vereinbart hat. Das ist, glaube ich, inOrdnung. Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden,bis das alles umgesetzt wird, aber das ist unser Maßstab.
Glaubwürdigkeit ist in diesem Fall die Kategorie derpolitischen Kultur, die wir hiermit nachweisen und füruns in Anspruch nehmen. Ich sage das vor dem Hinter-grund, dass manche behaupten, wir würden den Koali-tionsvertrag brechen oder wir würden – was haben Siegesagt? – Placebos verteilen. Frau Karawanskij, lassenSie mich es mit den Worten Herbert Wehners sagen: „Esgibt keine faktenersetzende Kraft der Phraseologie“.
Das sind keine Placebos. 3 Milliarden Euro sind eineganze Menge Geld.Selbstverständlich weiß ich, dass durch die zur Verfü-gung gestellten Mittel, weder die für die Kommunenvorgesehenen noch die für das Sondervermögen „Kin-derbetreuungsaufbau“, allein nicht alle Probleme derKommunen gelöst werden können. Aber die Mittel stel-len einen weiteren konkreten Schritt dar hin zur Entlas-tung der Kommunen und zur Schaffung zusätzlicher Ki-taplätze.Wir werden die Mittel zur Unterstützung der Kommu-nen bis zum Ende der Legislaturperiode weiter deutlicherhöhen. Aber wir brauchen Zeit, um das Bundesteilha-begesetz gesetzgeberisch entsprechend zu gestalten undum Klarheit über die künftige Gestaltung der Bund-Län-der-Finanzbeziehungen zu bekommen. Die Entlastungder Kommunen bleibt aber eine prioritäre Aufgabe die-ser Koalition.
Zu den Bausteinen – das betrifft das Jahr 2014 – ge-hört übrigens auch die Übernahme der Grundsicherungim Alter. Mit der letzten Rate – das ist eben schon ein
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5104 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Bernhard Daldrup
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paar Mal erwähnt worden – in Höhe von etwa 1,6 Mil-liarden Euro in 2014 – das ist übrigens mehr, als Sie fürdas Jahr 2014 reklamierten – übernimmt der Bund alleineine Entlastung, die in diesem Bereich bis zum Ende derLegislaturperiode in der Summe rund 25 MilliardenEuro ausmacht. Das ist alles andere als eine Kleinigkeit.Ich will daran erinnern, dass das das Ergebnis des Ver-mittlungsausschusses im Zuge des Bildungs- und Teilha-bepaketes war, für das sich die SPD im Bund und in denLändern massiv eingesetzt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für wen ist die fi-nanzielle Entlastung, die dieses Gesetz leisten soll, ei-gentlich gedacht? Herr Lerchenfeld, Sie haben daraufhingewiesen – ich bin völlig Ihrer Meinung –: Sie ist fürdie Städte und Gemeinden, nicht für Landesregierungen.Es ist keine Unterstützung, die Kürzungen an andererStelle erlauben soll, nicht im Saarland, nicht in Sachsen-Anhalt oder bei Umlageverbänden. Es kommt ja schoneinmal vor – Herr Brinkhaus weiß das genauso gut wieich; ich weise darauf hin, weil wir beide aus Nordrhein-Westfalen kommen –, dass Leistungen des Bundes fürdie Kommunen zum Anlass genommen werden, um amkommunalen Finanzausgleich zu drehen, etwa indemLandesregierungen den Kommunen die Beteiligung ander Grunderwerbsteuer komplett streichen, dass sie zurKonsolidierung des Landeshaushaltes zusätzlich heran-gezogen oder bei der Abrechnung der Einheitslastenübervorteilt werden.
Wir kennen das aus Nordrhein-Westfalen, HerrBrinkhaus. Das haben wir alles gemeinsam erlebt zu derZeit, als Jürgen Rüttgers Ministerpräsident war.
Aber mit dieser kommunalfeindlichen Politik in Nord-rhein-Westfalen haben wir nach der Wahl von HanneloreKraft Schluss gemacht.
Heute beklagen sich Spitzenverbände und verschie-dene andere Organisationen eher darüber, dass die Sa-nierung der Landesfinanzen auf dem Rücken der Kom-munen erfolgt, beispielsweise in Hessen. Dort gibt eseinige, die da eine Aufgabe hätten.
Wir erwarten von allen Ländern, dass die Mittel denKommunen ungeschmälert zugutekommen, und zwar je-weils zur Hälfte durch eine Erhöhung der Bundesbeteili-gung an den Kosten der Unterkunft und zur anderenHälfte durch eine verbesserte Umsatzsteuerbeteiligung.Dieser Maßstab sichert unseres Erachtens die gerechteVerteilung der jährlich zur Verfügung stehenden Mil-liarde. Das hilft den Kommunen mit einer höheren Ar-beitslosenquote mehr als eine reine Erhöhung der Um-satzsteuerbeteiligung.Die meisten wissen, dass der bundesweite finanzielleÜberschuss aller Kommunen trügerisch ist – dieser As-pekt wurde eben von den Grünen, aber auch vom Fi-nanzminister angesprochen –, weil er der immer noch zugeringen Investitionstätigkeit der Kommunen geschuldetist und weil er die sich öffnende Schere zwischen armenund reichen bzw. wohlhabenden Kommunen sowie stei-gende Kassenkredite und Sozialausgaben verschleiert.Ich erspare Ihnen an dieser Stelle die Auflistung der imnegativen Sinn beeindruckenden Zahlen. Dieser Ent-wicklung wollen und werden wir auch mit diesem Ge-setz entgegenwirken. Mit diesem Gesetz wird ein Teilder Entlastung der Länder und Kommunen durch das6-Milliarden-Euro-Paket realisiert, das die Länder vomBund erhalten, um Kinderkrippen, Kitas, Schulen undHochschulen zu finanzieren.Neben der Aufstockung des Sondervermögens er-möglichen es die in den Jahren 2017 und 2018 jährlichzusätzlich zur Verfügung stehenden 100 Millionen Euro– sie ergeben sich aus einer höheren Umsatzsteuerbetei-ligung – den Ländern, ihre Kommunen von den Betriebs-kosten zu entlasten und damit bessere Bedingungen fürmehr Erzieherinnen und Erzieher zu schaffen. Ichglaube, Herr Rehberg, es ist falsch, Qualitätsverbesse-rung und Beitragsfreiheit in diesem Kontext gegeneinan-der auszuspielen. Die Ministerin hat zu Recht daraufhingewiesen, dass es sich um Zukunftsinvestitionen han-delt. Das ist, wie ich glaube, gut und richtig.
Mit dem Gesetzentwurf ist die Schaffung zusätzlicherKitaplätze übrigens keineswegs abgeschlossen.Sollten die veranschlagten Mittel für die Kinderbe-treuung für den Aufwuchs nicht ausreichen, werdensie entsprechend dem erkennbaren Bedarf aufge-stockt.So heißt es auf Seite 63 des Koalitionsvertrages. Das istfür uns der Beurteilungsmaßstab.
Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Ich glaube, dass dieses ganze Projekt, dass dieser Ge-
setzentwurf ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung kom-
munaler Demokratie ist. Das ist wichtig; denn wir müs-
sen Wahlenthaltung und Wählerprotest gewissermaßen
als Seismografen verstehen, die die Handlungsnotwen-
digkeit in einem Sektor wie diesem begründen.
Ich hätte gerne noch ein bisschen mehr Redezeit, aber
das geht nicht; das weiß ich wohl.
Sie haben schon eine Minute zusätzlich.
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Ich muss deswegen an dieser Stelle schließen. Ich
darf aber noch sagen, dass wir diesem Gesetzentwurf im
weiteren Verfahren unsere Unterstützung geben werden.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Marcus
Weinberg, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Hinsichtlich derrichtigen und guten Politik für Familien beginnt nun diezweite Halbzeit. Herr Daldrup hat von der Erkenntnisgesprochen, dass es jeden Morgen hell wird. Ich glaube,man kann sagen: Für Familien wird es heute besondershell, weil wir heute über zwei große Gesetzentwürfe be-raten. Es geht um Partnerschaftlichkeit und mehr Zeit fürFamilien – Elterngeld –; aber auch die Frage der Verein-barkeit von Familie und Beruf ist wichtig, wofür derAusbau der Infrastruktur entscheidend ist.Heute Morgen wurden drei prägende Zahlen genannt:zweimal 5,4 und einmal die große Null. Für eine gute,langfristige und nachhaltige Familienpolitik ist zentral– das hat Eckardt Rehberg schon gesagt –, dass Schlussgemacht wird mit neuen Schulden. Bei den Dingen, diewir jetzt auf den Weg bringen, und bei den großen Sum-men, die wir ausgeben, ist dies der Überbau. Dieses Zielleitet uns und trägt uns maßgeblich.Wir haben in der vorangegangenen Debatte über5,4 Milliarden Euro für das Elterngeld gesprochen.Diese Summe steigt. Diese Ausgabe ist richtig, aber dasist auch sehr viel Geld. Wir diskutieren jetzt über denKrippenausbau. Hier geht es um Investitionen in Höhevon 5,4 Milliarden Euro in den letzten Jahren.In einer solchen Debatte muss man auch nach derVerantwortung in einem föderativen System fragen undüberlegen, welche Teile dieses Systems für welche Be-reiche Verantwortung haben. Richtig ist, dass der Bundden Ausbau der Kindertagesbetreuung als nationale Auf-gabe angesehen hat und gesagt hat: Wir erachten denAusbau der Kindertagesbetreuung nicht nur hinsichtlichder Vereinbarkeit von Familie und Beruf als zentral, son-dern auch im Zusammenhang mit Integration, also imZusammenhang mit der Vermittlung von Sprachkennt-nissen, Bildung und weiteren Dingen. Es war eine rich-tige Entscheidung, sich auf dem sogenannten Krippen-gipfel für den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz abdem 1. August 2013 auszusprechen. Es war eine immenswichtige Botschaft, das fest zu verankern. Das war rich-tig und wichtig.Aber die Erwartungshaltung im föderativen Systemist, dass diejenigen, die davon profitieren, auch die Fragezu beantworten haben, was sie leisten. Ich bin ein wenigirritiert, wenn ich manche Wahlkämpfe in bestimmtenBundesländern beobachte; die Landesvertreter sind heuteMorgen nur in begrenzter Zahl anwesend. Wir tun auspurer Überzeugung viel für die Länder und Kommunen.Es ist ein Problem, wenn man dann sieht, dass in einigenLändern bei Wahlkämpfen viele Dinge versprochen wer-den, die andere – in dem Fall der Bund – mit zu tragenhaben, zum Beispiel die Abschaffung der Studiengebüh-ren oder die Abschaffung der Elternbeiträge. In Nieder-sachsen wurde im Wahlkampf die dritte Betreuungskraftim Krippenbereich versprochen. Das kann man verspre-chen, wenn man es finanzieren kann. Aber bei der Fragenach dem Verwendungszweck der Bundesmittel kann esdann Probleme geben. Werden die Mittel, die wir zurVerfügung stellen, zum Beispiel für das BAföG oder dieanteilige Übernahme der Betriebskosten, richtig bereit-gestellt?Auch die Frage der Qualität spielt dann eine Rolle,nicht nur in der Verantwortung der Länder, aber insbe-sondere in der Verantwortung der Länder. Wenn dasBundesland mit dem schlechtesten Betreuungsschlüssel– in diesem Fall darf ich den Namen nennen, es handeltsich um Hamburg; dort gibt es einen Betreuungsschlüs-sel von 1 zu 4,7, wenn man es genau rechnet, sogar von1 zu 7 – entscheidet, dass die Elterngebühren abge-schafft werden, ist das eine politische Entscheidung, dieman tragen kann oder nicht. Wenn man aber gleichzeitigden schlechtesten Betreuungsschlüssel hat und nichts indie Qualität investiert, dann, glaube ich, ist das durchausein Problem, das angesprochen werden muss.
Nicht nur in Bezug auf Hamburg, sondern auch inBezug auf das südlich davon liegende Bundesland Nie-dersachen muss man fragen, ob die BAföG-Mittel tat-sächlich bei den Studierenden ankommen. Als Verwen-dungszweck für diese Mittel wurde angegeben, dass sieder Entlastung im Bereich BAföG dienen. Doch wederin Hamburg noch in Niedersachen kommen die Mittelan. Wenn dann ein Wahlversprechen wie die dritte Be-treuungskraft in Krippen – sie ist wichtig; das ist gut –über eine Entlastung in einem anderen Bereich finanziertwerden soll, dann ist das mit dem Verwendungszwecknicht vereinbar und dann muss man ansprechen, dass dasso nicht in Ordnung ist.
Diese kleine Bemerkung in Richtung der Länder soll-ten Sie mir gestatten, weil wir als Bund die Situationdort beobachten. Wir unterstützen die Länder aus Über-zeugung. Zum Beispiel im Bildungsbereich geben wirjährlich über 2 Milliarden Euro für originäre Aufgabender Länder aus.
Dies ist uns wichtig. Aber hier und da sollte man überle-gen und schauen, was die Länder mit den zur Verfügunggestellten Mitteln machen. Das ist richtig und wichtig.Ich komme zur Frage der Qualität. Die Forderungnach mehr Qualität ist auch im vorliegenden Antrag for-muliert worden. Ich glaube, dass wir uns alle einig sind,dass eine Qualitätssteigerung im Krippenbereich ele-
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Marcus Weinberg
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mentar ist, nicht nur – das hat auch die Ministerin ge-sagt – bei der Frage des Betreuungsschlüssels, sondernauch bei der Frage der Angebote: Was können wir nochleisten? Die Frage ist auch: Muss dies über ein Gesetzdes Bundes geregelt werden? Wissen nicht die Verant-wortlichen sowohl auf Bundesseite als auch auf Länder-seite, dass es hier eine hohe Verantwortung gibt? Ichglaube, wir sollten den Weg gehen, der jetzt angestrebtwird, nämlich auf der Konferenz im November festzule-gen, wo wir Standards setzen, wohin wir in diesem Be-reich wollen und was wir bereit sind zu erfüllen.Ich weiß und wir wissen: Der Bund kann Gesetze ver-abschieden, aber er muss deren Umsetzung auch finan-ziell leisten. Da stellt sich die Frage, inwieweit wir dasauch vor dem Hintergrund unserer originären Aufgabenweiter leisten können. Das föderative System lebt auchvon der Akzeptanz, dass jeder seine Aufgaben erledigt.Deswegen war es uns wichtig, in diesem Bereich da-rauf zu achten, dass wir den veränderten Wünschen derEltern gerecht werden wollen. Wir haben gerade bei derDebatte zum Elterngeld viele Zahlen gehört, durch diedeutlich wurde, was Eltern von der Politik erwarten. Ichwill nur drei Zahlen im Hinblick auf die Frage der Ver-einbarkeit von Familie und Beruf und den Krippenaus-bau nennen: Für 81 Prozent der Befragten ist die Verein-barkeit von Familie und Beruf weiterhin die zentraleFrage, die immer mehr durch die Frage der Vereinbarkeitvon Pflege und Familie ergänzt wird. 34 Prozent derMütter würden tatsächlich gerne länger arbeiten, wennsie eine entsprechende Betreuungsmöglichkeit hätten.Die Mütter kehren heute nach durchschnittlich 19 Mona-ten zu ihrem Arbeitgeber zurück. Aber viele Mütter wür-den gerne früher in Teilzeit zurückkehren. Ich glaube,vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist der Ausbau derKindertagesbetreuung eine zentrale Aufgabe.Wenn ich das so sagen darf: Herr Kindler – er be-schäftigt sich jetzt zu Recht mit anderen Dingen –, wirreden ja nicht nur über die 5,4 Milliarden Euro für denAusbau der Angebote im Krippenbereich. Wir stellenauch Mittel in Höhe von 400 Millionen Euro für das Pro-gramm „Frühe Chancen“ bereit. Das ist eine sehr wich-tige und gute Maßnahme für Spracherwerb und Integra-tion. Ich könnte aus dem Etat des BMBF die Stiftung„Haus der kleinen Forscher“ nennen. Dort geben wir vielGeld aus, um die Bildungsimplikationen zu steigern. Ichnenne das Aktionsprogramm Kindertagespflege, ich nennedas KfW-Förderprogramm für den Ausbau von Kitas unddie Arbeitsgruppe zur Fachkräftegewinnung für die Kin-dertagesbetreuung, Weiterbildungsmaßnahmen für päda-gogische Kräfte und, und, und. Der Bund tut also deut-lich mehr, als Herr Kindler beschrieben hat. Ich glaube,darauf könnten wir häufiger hinweisen, weil das guteund wichtige Dinge sind.Wir stocken die Mittel für das Sondervermögen „Kin-derbetreuungsausbau“ jetzt um 550 Millionen Euro auf.Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Mittel in dreiTranchen – 230 Millionen Euro, 220 Millionen Euro und100 Millionen Euro – einsetzen, sodass auf jeden Fallgewährleistet ist, dass es dort, wo ausgebaut werden soll,keine Phase gibt, in der dieser Ausbau möglicherweisestottert. Es wurde bereits angesprochen, aber ich sagees noch einmal: Nachdem wir bei sehr wenigen Plätzengestartet sind, kommen zu den bisher zugesagten780 000 Plätzen jetzt noch einmal 30 000 Plätze hinzu.Zu den Betriebskosten. Ich glaube, das ist ein zentra-ler Punkt. Der Anteil des Bundes wird in wenigen Jahrenbei 945 Millionen Euro liegen. Das sind also fast 1 Mil-liarde Euro für eine originäre Aufgabe der Länder. Wirsind uns, wie gesagt, darin einig, diese Ausgabe vorzu-nehmen. Allerdings erwarten wir hier natürlich auch,dass dies zu einer Steigerung der Qualität führen wird.Die Verstetigung der Mittel für den Bereich „Schwer-punkt-Kita Sprache & Integration“ in Höhe von126 Millionen Euro ist auch richtig, weil dadurch deut-lich wird, dass wir den Ausbau der Kindertagesbetreu-ung als eine Maßnahme zwischen Sozialpolitik, Integra-tionspolitik, Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitikbewerten.Ich will in Bezug auf die Ergebnisse, die wir in denletzten Jahren erzielt haben, nur ein paar Zahlen nennen:Der Ausbau der Kinderbetreuung trägt zur Vereinbar-keit von Familie und Beruf bei. Über 100 000 Mütter mitKindern zwischen einem Jahr und drei Jahren wärenohne diese Betreuungsmöglichkeit nicht erwerbstätig.Der Ausbau der Kinderbetreuung verringert das Armuts-risiko aller Familien mit Kindern bis zu zwölf Jahren umrund 7 Prozentpunkte.Die Erwartungshaltung junger Mütter und junger Vä-ter – auch das wissen wir aus den Umfragen – in Bezugauf die Zielsetzung und die Qualität lautet: Sozialisation,Integration in eine soziale Gruppe, Kreativität, Sprach-entwicklung und Bildungsimplikationen. Deshalb wer-den wir uns auch über die Qualität unterhalten. Wir wer-den eine Qualitätssteigerung allerdings nicht wieder ineinem Gesetz vorschreiben, sondern wir erwarten nachDiskussionen mit den Ländern, dass hier freiwillig neueWege gegangen werden, um der kommunalen Verant-wortung gerecht zu werden.Insgesamt kann man sagen, dass wir mit diesem Maß-nahmenkatalog und diesem Ausbautempo im Ergebnisdas erreichen, was seit mittlerweile acht Jahren, seit derersten Großen Koalition, angestrebt wird: dass die Ver-einbarkeit von Familie und Beruf in die nächste Epochegeht. Ich denke, aufgrund der heute vorliegenden Ge-setzentwürfe – dem Elterngeld Plus auf der einen Seiteund dem Ausbau der Kindertagesbetreuung auf der an-deren Seite – ist heute ein Happy Friday bzw. ein FamilyFriday. Das ist der richtige Weg. Deswegen glaube ich,dass das heute Morgen eine gute Debatte für alle Fami-lienpolitiker war.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-nungspunkt ist die Kollegin Uli Gottschalck, SPD-Frak-tion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Städte und Gemeinden sind die Kraftwerke un-
seres sozialen Miteinanders. Kinderbetreuung, Nahver-
sorgung, gute Mobilität, das soziale Netz: Alles muss
vor Ort organisiert und auch finanziert werden. Deutsch-
land braucht deshalb starke Kommunen, in denen die
Menschen gerne leben und sich wohlfühlen. In den Städ-
ten und Gemeinden merken die Menschen am ehesten,
ob die Daseinsvorsorge funktioniert oder eben nicht.
In letzter Zeit stottern die Kraftwerke, die Städte und
Gemeinden, leider öfters, weil sie erheblich unter den
ständig steigenden Sozialkosten leiden. Sie kämpfen mit
der demografischen Entwicklung, und sie kämpfen seit
Jahren darum, wirklich handlungsfähig zu bleiben. Des-
halb bin ich sehr froh und dankbar, dass sich die Fraktio-
nen der Regierungskoalition im Koalitionsvertrag darauf
verständigt haben, der Entlastung der Kommunen eine
absolute Priorität einzuräumen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste,
man vergisst das schnell, aber wir setzen das sukzessive,
scheibchenweise um. Ich nenne Ihnen hier einmal ein
paar Beispiele: In diesem Jahr – das haben wir schon ge-
hört – übernimmt der Bund 100 Prozent der Kosten für
die Grundsicherung im Alter. Wir haben dafür gesorgt,
dass die Gewerbesteuer weiterhin die Haupteinnahme
der Kommunen ist. Wir haben die Mittel für die Städte-
bauförderung auf 700 Millionen Euro ordentlich erhöht
und hier insbesondere das Programm „Die soziale Stadt“
aufgepeppt. Es gibt wieder Bundesmittel für den alters-
gerechten Umbau von Wohnungen. Wir haben den Min-
destlohn durchgesetzt, durch den viele Kommunen im
Hinblick auf die Sozialausgaben entlastet werden. Wir
werden die Kosten für das BAföG jetzt vollständig und
dauerhaft übernehmen. Und der heutige Gesetzentwurf
sieht vor, dass es noch mehr Geld für die Kinderbetreu-
ung gibt.
Ich denke, ich muss jetzt gar nicht weiter ausholen.
Unsere Ministerin Manuela Schwesig hat ja wirklich toll
dargestellt, wie wir uns das vorstellen, und vor allen
Dingen, wie sie das als Familienministerin managt. Ich
möchte sie an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich lo-
ben. Jeder, der unseren guten Finanzminister kennt,
weiß, wie schwierig es ist, Herrn Schäuble auch nur eine
müde Mark aus dem Kreuz zu leiern.
Deshalb noch einmal: Glückwunsch zum Elterngeld
Plus! Glückwunsch, dass wir das heute auf den Weg
bringen können!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf werden die Kommunen
nochmals um 1 Milliarde Euro entlastet. Ich denke, das
ist wirklich keine Kleinigkeit. Ich mache es Ihnen ein-
mal am Beispiel meines Landkreises deutlich. Für mei-
nen Landkreis bedeutet das für 2015 eine Entlastung um
immerhin 800 000 Euro, und 2016 kommt ja zeitversetzt
im Rahmen der Neuregelung bei der Umsatzsteuer auch
noch etwas zurück, wenn die Länder – ich oute mich
jetzt, was die Länderminister angeht, als die Haushälte-
rin, die das mit den klebrigen Fingern gesagt hat – or-
dentlich mitmachen.
Weil Herr Kindler und Frau Brantner wieder so getan
haben, als würden wir überhaupt nichts für die Kommu-
nen tun, darf ich an dieser Stelle einmal zwei Beispiele
aus meinem Heimatland Hessen anführen. In Hessen re-
gieren die Grünen seit geraumer Zeit mit. Jedes Jahr
werden im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs
360 Millionen Euro entnommen. Es gibt keine aus-
kömmliche Finanzierung für die Unterbringung von
Flüchtlingen und Asylbewerbern.
Das Land Hessen hat allein bei uns, dem Landkreis Kas-
sel, Schulden in Höhe von 9 Millionen Euro angehäuft,
weil es nicht für eine auskömmliche Finanzierung auf-
kommt.
Insofern klaffen Theorie und Praxis auseinander. Es
geht nicht, dass man hier auf Bundesebene laut Kritik
äußert und sich auf Landesebene, wo man gestalten
könnte, dezent zurückhält. Auf Ihre Kontinuität verzich-
ten wir da lieber.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Ich denke, heute liegt ein wirklich guter
Gesetzentwurf vor, der die Kommunen erneut entlastet
und der im Hinblick auf unsere Kinder erneut für mehr
Chancengerechtigkeit sorgt. Deshalb ein herzliches Dan-
keschön an alle, die daran beteiligt waren! Wir werden
weiter kontinuierlich für die genannten Ziele kämpfen.
Danke schön.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/2586 und 18/2605 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenNicole Maisch, Renate Künast, Luise Amtsberg,weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes über die Einführung vonGruppenverfahrenDrucksache 18/1464Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und Landwirtschaft
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5108 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat RenateKünast, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen, die Sommerpause ist nochnicht allzu lange vorbei. Erinnern Sie sich doch zumBeispiel einmal daran, ob Sie eine Bahn- oder Flugreiseunternommen und dabei enorme Verspätungen erlebt ha-ben. Sie haben sich dann vielleicht gefragt: Wie ist dasdenn mit der Entschädigung? Äußere ich mich? Frageich einmal nach? Oder soll ich vielleicht sogar klagen?Mag sein, dass die Deutsche Bahn diesbezüglich nicht soschlecht ist wie ihr Ruf, sondern schon selbstverständli-cher und geduldig Vordrucke verteilt. Ich glaube, dassdas bei manchen Fluggesellschaften viel schwieriger ist,weil diese sich zieren und versuchen, das Ganze erst ein-mal zeitlich zu strecken.Oder stellen Sie sich eine andere Situation vor: Siehaben den Stromanbieter gewechselt. Der neue Stroman-bieter hat Ihnen angeboten, Ihnen nach zwölf Monateneinen Wechselbonus auszuzahlen. Nach exakt zwölfMonaten wechseln Sie schon wieder, weil ein andererAnbieter einen niedrigeren Tarif hat. Der bisherigeStromanbieter zahlt daraufhin die Prämie nicht. KlagenSie?Oder: Sie haben eine Lebensversicherung abgeschlos-sen und aus persönlichen Gründen vorzeitig gekündigt.Von Ihrem eingezahlten Geld bekommen Sie kaum et-was zurück, weil irgendwo im Vertrag in den Tiefen desKleingedruckten versteckt ist, dass man erst Verwal-tungs- und Bearbeitungsgebühren zahlen muss und diesevon dem eingezahlten Geld abgezogen werden. DieFrage ist wieder: Klagen Sie?All diese Fälle – man könnte noch mehr nennen – ha-ben eines gemeinsam, nämlich folgendes Ungleich-gewicht: Sie haben auf der einen Seite den einzelnen,wirtschaftlich schwächeren Verbraucher oder die Ver-braucherin und auf der anderen Seite mächtige Firmenund Unternehmen mit ganzen Rechtsabteilungen undHorden von Anwälten. Der Verbraucher, die Verbrau-cherin steht allein mit dem Schaden da. Sie müssen sichjetzt entscheiden: Klage ich?Aus Verbrauchersicht ist es so: Je kleiner der Scha-den, desto größer die Scheu. Wer möchte schon wegen2,95 Euro klagen, viel Zeit verlieren und Ärger ris-kieren? Das gilt aber reziprok proportional für die Unter-nehmen. Während für den Verbraucher gilt: „Je kleinerder Schaden, desto größer die Scheu“, sagen die Unter-nehmen: Je kleiner der Schaden, desto besser dieAussicht, dass 10 000 Betroffene eben nicht klagen.10 000-mal 2,95 Euro ist ein schöner Gewinn. Kleinviehmacht auch Mist, wäre eine andere Variante, um diesenZustand aus der Sicht der Unternehmen zu beschreiben.– Die Ansprüche werden nicht geltend gemacht; das istdas, was wir sehen.Deshalb haben wir uns die Mühe gemacht, für diesesProblem eine Lösung vorzulegen. Wir stellen fest, dassso etwas in den unterschiedlichsten Varianten immerwieder vorkommt: beispielsweise bei einer angemesse-nen Entschädigung für einen verspäteten Flug oder beiden schon genannten 2,95 Euro, zum Beispiel beim E-Commerce oder bei Apps und Ähnlichem.Wir meinen, dass wir an dieser Stelle – ich formulieredas einmal so unter uns Juristen – das Skalpell in dieHand nehmen und an das Herzstück des deutschen Zivil-rechts herangehen müssen, an die Zivilprozessordnung.Das ist ja angeblich die Krone des Rechts. Wie man da-rauf kam, weiß ich auch nicht. Aber darin stehen diewichtigen Dinge. Wir müssen Waffengleichheit herstel-len. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es hier keineSchieflage gibt, deshalb die OP an der Zivilprozessord-nung.Was wir brauchen, sind Formen kollektiver Rechts-durchsetzung, so nennt man das. Das deutsche Rechtkennt das bisher schon. Beim Unterlassungsklagegesetzüberlegt die Bundesregierung zum Beispiel gerade völligzu Recht – das wird schon lange von einigen, auch vonuns gefordert –, eine Verbandsklagemöglichkeit bei Da-tenschutzverletzungen zu ermöglichen. Wenn eine Infor-mation über Sie ohne Ihre Erlaubnis weitergegebenwird, dann überlegen Sie: Mache ich da etwas, oder lasseich es, obwohl ich unzufrieden bin? – Es ist also richtig,dass es da Verbandsklagemöglichkeiten geben soll. Wa-rum? Weil nur so Interessenvertretungen des Vertrags-schwächeren gewährleistet werden.
Bei diesem Fall und den anderen, die ich gerade auf-gezählt habe, ist es so – das will ich klar sagen –: Es be-trifft eine Vielzahl von Personen. Das ist quasi ein Mas-senereignis. Es handelt sich um gleichgelagerte Verträge,gleiche Lebenssachverhalte. Alle Betroffenen erfahreneine mehr oder weniger geringe Schädigung. Da brau-chen wir jetzt eine prozessuale Lösung.
Wir haben einen Gesetzentwurf, der das Zivilrechtbetrifft, vorgelegt. Ausnahmen stellen das Familienrechtund die freiwillige Gerichtsbarkeit dar; dort muss nachanderen Regeln vorgegangen werden. Wir sagen: Esmuss eine Klagemöglichkeit geben, bei der dann aller-dings Teilnehmer des Verfahrens nur wird, wer in diesenGruppenverfahren gegenüber dem Gericht erklärt: Ichwill an diesem Verfahren teilnehmen. – Wir sagen: DieAnwalts- und Gerichtsgebühren kann man dann auf vierGebühren reduzieren, damit nicht 20- oder 30-mal dieGebühr erhoben wird, ohne dass dafür etwas getan wird.Für diejenigen, die klagen und an dem Gruppenverfah-ren teilnehmen, heißt das aber: Die Höhe des Prozessri-sikos ist relativ begrenzt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5109
Renate Künast
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Wir wollen an dieser Stelle aber auch ein praktikablesVerfahren. Das heißt: Diejenigen, die am Gruppenver-fahren teilnehmen – das können bis zu 20 Personensein –, sind dann vor dem Zivilgericht nicht alle zu Pro-zesshandlungen ermächtigt, sondern der oder die Grup-penklägerin nimmt treuhänderisch die Rechte der ande-ren wahr, damit das Verfahren praktikabel ist. Wir sagen:Eine solche Gruppenklage kann auf Leistung, also Scha-denersatz bzw. Entschädigung für Verspätung, abzielen;sie kann sich aber auch als Feststellungsklage gegenrechtswidrige AGB richten.Wir wollen aber kein Gruppenverfahren im Sinne ei-ner Sammelklage nach US-amerikanischem Vorbild.Dort ist es so, dass ein Anwalt klagt, der zunächst alleangeblich Betroffenen sozusagen im Hinterkopf hat unddann später aus dem, was er erstritten hat, erst einmal10 bis 20 Prozent als Anwaltsgebühr und Kostenerstat-tung für sich abzieht. Das wollen wir nicht. Wir wollenvielmehr ein Opt-in-Verfahren. Das heißt, das Verfahrengilt nur für Personen, die ausdrücklich gesagt haben: Ichwill mit meinem Fall an diesem Verfahren teilnehmen.Ich glaube, dass wir damit eines schaffen, nämlichdass die kleinen Fälle, bei denen die Verbraucher keinRecht bekommen, endlich mit in die Steuerungsfunktiondes Rechts aufgenommen werden. Denn das Recht hatauch eine Aufgabe: am Ende sozusagen subkutan faireMarktbedingungen zu ermöglichen und zu gewährleis-ten, dass man nicht über den Tisch gezogen wird.Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die Euro-päische Kommission hat uns im Juni 2013 aufgefordert,kollektive Rechtsschutzverfahren einzuführen. Auf eineKleine Anfrage hat die Bundesregierung neulich geant-wortet: Sie prüft, ob zur Verbesserung des kollektivenRechtsschutzes gesetzgeberische Schritte nötig sind.
Aber nicht mehr alles vorlesen, Frau Kollegin Künast.
Meine Damen und Herren, ich erlaube mir an dieser
Stelle einen kostenlosen Rechtsrat: Wenn Sie nichts tun,
verstoßen wir gegen die Empfehlung der Kommission.
Ich bitte Sie deshalb, unseren Vorschlag zur Einführung
von Gruppenverfahren aufmerksam zu lesen und ihm
dann auch zuzustimmen.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Sebastian
Steineke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Den Gesetzentwurf, den Frau Künast für die FraktionBündnis 90/Die Grünen zur Einführung von Sammelkla-gen – man muss deutlich sagen: es sind Sammelklagen,um die es heute geht, keine Gruppenverfahren – einge-bracht hat, haben Sie uns schon im letzten Jahr vorge-stellt, und zwar kurz vor der Bundestagswahl. KollegeLuczak hat damals völlig zu Recht festgestellt: Das warreines Wahlkampfgeplänkel.
– Reines Wahlkampfgeplänkel. So haben Sie es ge-macht. – Sie konnten aber weder die Fachverbände nochdie zuständigen Bundestagsgremien beteiligen. Auch dieerneute Einbringung ändert aber nichts daran, dass derGesetzentwurf in die völlig falsche Richtung geht, FrauKollegin.Bemerkenswert ist übrigens auch, dass Ihre Fraktion– Sie haben eben darauf hingewiesen – am 19. Mai eineKleine Anfrage zu diesem Thema an die Bundesregie-rung gerichtet hat, in der Sie sich nach dem Stand derÜberlegungen und weiteren Arbeitsschritten der Bun-desregierung erkundigt haben. Was aber machen Siezwei Tage später? Ohne die Antwort abzuwarten, rei-chen Sie einen eigenen Gesetzentwurf mit 26 Paragrafenein. Das ist reiner Aktionismus und macht keinen Sinn.
– Genau so ist es, Frau Künast. Sie können ja nächstesMal die Antwort abwarten.Sie haben davon gesprochen, dass die Zivilprozess-ordnung eher nicht die Krone Rechts sei, oder wie auchimmer Sie es formuliert haben. In der Vorbemerkungzum Gesetzentwurf betonen Sie aber völlig zu Recht,dass wir eine wunderbare ZPO haben. Sie hat sich seit130 Jahren als zuverlässige, sachgerechte Prozessord-nung bewährt. Wir haben sie auch immer wieder denNotwendigkeiten angepasst.Sie wollen mit der Einführung der Sammelklage ei-nen komplett neuen Abschnitt einfügen, der aus IhrerSicht notwendig ist. Aus unserer Sicht ist er das definitivnicht.Auch der jüngste Gedanke über die Einführung eineskollektiven Rechtsschutzes – Sie haben darauf hingewie-sen – geht einzig und allein auf eine Empfehlung derEuropäischen Kommission zurück. Wie schon bei dergeplanten Änderung der Small-Claims-Verordnung konn-ten wir feststellen, dass nicht immer alles gut und richtigist, was aus Brüssel kommt.
In diesem Fall handelte es sich lediglich um einen Ap-pell statt um eine gesetzlich umzusetzende Vorgabe.Wir haben in unserem Rechtssystem bereits jetzt aus-reichend effiziente und kostengünstige Instrumente zurDurchsetzung von individuellen Rechten. Dazu gehören
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5110 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Sebastian Steineke
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neben den gängigen Individualklagewegen, die jedembekannt sein dürften, im Übrigen auch mehrere ähnlichgelagerte Möglichkeiten im kollektiven Rechtsschutz.Schon in jüngster Zeit sind Sammelklagen gegen Ban-ken, Energieversorger oder Versicherungen erfolgreichund basierend auf den heute bestehenden kollektivenRechtsschutzmöglichkeiten geführt worden. Wenn Siedie Antwort der Bundesregierung abgewartet hätten,wüssten Sie das.Verbände können schon jetzt nach dem Unterlas-sungsklagegesetz oder dem Gesetz gegen den unlauterenWettbewerb Sammelklagen erheben. Zudem sind bereitsheute die Streitgenossenschaft in der ZPO, die Prozess-verbindung, die Möglichkeit der Musterklage nach demKapitalanleger-Musterverfahrensgesetz im Rahmen ei-nes effizienten und vereinfachten Gerichtsverfahrensmöglich und auch vor dem Hintergrund eines kollekti-ven Rechtsschutzes absolut ausreichend.
Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene fast umfas-sende Einführung von Sammelklagen stößt aber auch invielerlei anderer Hinsicht auf Bedenken. Wir haben inunserer Verfassung das in Artikel 103 fest verankerteund uneingeschränkte Grundrecht auf rechtliches Gehör.Das betrifft jedes einzelne Individuum, das seine Rechtegeltend machen will. Diesem Grundsatz wird die Sam-melklage in keiner Weise gerecht. Der Teilnehmerschließt sich der Gruppe an, die durch einen Gruppen-führer vor Gericht vertreten wird. Den Gruppenführerkann man nach Ihrem Gesetzentwurf höchstens ablösenbzw. auswechseln. Das verhindert jedoch nicht, dass derEinzelne vor Gericht nicht mehr angehört wird. Auchwenn es sich um eine Bündelung von gleichgelagertenFällen handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, dassder Einzelne zu dem Sachverhalt etwas beizutragen hat.Je größer die Gruppe, desto geringer der Einfluss desEinzelnen.
Ein weiterer Punkt ist die hohe Missbrauchsanfällig-keit von Sammelklagen. Ich will durchaus einräumen,dass Sie versucht haben, die diesbezüglichen Gefahreneinzudämmen. Gelungen ist es Ihnen in Ihrem Gesetz-entwurf nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dassdem Instrument der Sammelklage die Gefahr des Miss-brauchs geradezu immanent ist.
Viele Rechtsanwälte verfolgen in ihrer Arbeit – das istauch richtig so – ein eigenes wirtschaftliches Interesse.Mit jedem Rechtsstreit soll und muss Geld verdient wer-den. Ein redlich arbeitender Anwalt hat darüber hinausdie Verpflichtung, seinem Mandanten zu helfen und dasBestmögliche für ihn herauszuholen. Bei einer Sammel-klage mit möglichst vielen Teilnehmern kann auch nachIhrem Gesetzentwurf ein Anwalt deutlich mehr ver-dienen, als wenn er nur eine Einzelperson aus dieserGruppe vertritt. In der Begründung zur Kostenfrage füh-ren Sie explizit auf:Damit erweist sich das Gruppenverfahren aus Sichtder Klägeranwältin oder des Klägeranwalts vor al-lem für solche Fälle als attraktiv, in denen einegroße Anzahl von Betroffenen als Mandanten ent-weder bereits vorhanden ist oder zumindest in Be-tracht kommt.Wenn Sie das so formulieren, dann ist das doch förmlichAnstiftung zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weni-ger. Das kann nicht in unserem Interesse liegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Künast?
Gerne.
Bitte.
Könnten Sie mir mit Blick auf die anwaltliche Gebüh-
renordnung erklären, was günstiger ist: 20 Mandanten
mit einer kleinen Summe zu vertreten, bei denen die An-
zahl der Anwaltsgebühren auf vier begrenzt ist, oder
20 Mandanten einzeln zu vertreten und jeweils ein, zwei
Gebühren zu erheben? Sie machen gerade eine Milch-
mädchenrechnung auf, glaube ich.
– Richtig, Milchjungenrechnung. Danke, Caren Lay.
Sie tun so, als würden wir mit unserer Formulierung
zum Rechtsstreit animieren. Tatsächlich ist es doch viel
schlimmer, wenn 20, 30 oder 100 Menschen einzeln ver-
treten werden müssen. Als Anwalt braucht man sich
dann in die Sache nicht immer wieder materiell einzuar-
beiten, kann aber jedes Mal eine Gebühr einschließlich
Mehrwertsteuer, die man natürlich abführt, erheben.
Frau Kollegin, es ist ganz einfach. Sie animieren,möglichst viele Menschen in Sammelklagen einzubezie-hen; denn nur dann kann ein Anwalt mit einer Sammel-klage Geld verdienen. Das ist aber falsch. Das ist ein An-reiz zum Rechtsstreit, nicht mehr und nicht weniger.Insgesamt sehen wir in diesem Punkt die große Ge-fahr, dass die Sammelklage rechtsmissbräuchlich bewor-ben wird und dass sich ein Rechtsdienstleistungsmarktentwickelt wie in den USA. Das ist kein Geheimnis: Wersich in den USA auskennt, dem ist die große Anzahl anSammelklagen sowie Anwälten und Großkanzleien, diesich eine goldene Nase verdienen, bekannt. Sie werdenmit Ihrem Gesetz insbesondere den deutschen Groß-kanzleien einen großen Gefallen tun. Das ist aber nichtunser Ansatz. Wir wollen nicht – das habe ich eben aus-geführt –, dass die Betroffenen in einen Rechtsstreithineingeredet werden. Vielmehr wollen wir den mög-lichst besten Rechtsschutz für jedermann. Das sollte derAnspruch für alle hier im Saal sein.
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Sebastian Steineke
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Ein weiterer Punkt ist evident wichtig. Nicht selten istin der Geschäftsbeziehung zwischen Anwalt und Man-danten das persönliche Verhältnis prägend für die Zu-sammenarbeit. Ein Anwalt muss jeden Mandanten best-möglich vertreten. Das verlangen bei uns bereits dieStandesregeln. Bei großen Sammelklagen ist das nichtmehr möglich. Der einzelne Mandant ist bloß noch eineNummer.Die Sammelklagepraxis in den USA hat uns aller-dings noch mehr Schwachstellen aufgezeigt. Dort ist esüblich, dass neben dem Klageverfahren ein exorbitanter,zusätzlicher medialer Druck auf die Beklagten aufgebautwird, der dazu führt, dass die Beklagten förmlich genö-tigt werden, sich noch vor einer Urteilsverkündung mitder Gruppe zu vergleichen. In den USA geht man davonaus, dass weit mehr als 90 Prozent der Sammelklagen ineinem Vergleich enden, noch bevor ein Urteil durch dasGericht gefällt werden kann. Auch hier wäre das mehrals wahrscheinlich.
– Frau Künast, der öffentliche Druck ist das entschei-dende Problem.Oftmals handelt es sich bei dem Streitgegenstand vonSammelklagen – da sind wir uns sicherlich einig – umfür viele Betroffene essenzielle Rechtsfragen, die eingroßes Medienecho nach sich ziehen. Wir brauchen diefreie und kritische Berichterstattung; dennoch darf dieseröffentliche Druck nie dazu führen, Einfluss auf die freieRechtsprechung in unserem Land zu nehmen. Gerade fürunsere Unternehmen, die im Regelfall die Betroffenenvon Sammelklagen sein werden, würde ein Auswuchs ansolchen Sammelklagen eine erhebliche unangemesseneBelastung darstellen.Für die Wahrung des öffentlichen Interesses im Ein-zelfall haben sowohl Aufsichtsbehörden als auch Ver-braucherschutzverbände bereits jetzt die Möglichkeit,vorbeugenden Rechtsschutz für die Betroffenen in An-spruch zu nehmen. Amerikanische Verhältnisse wollenwir jedenfalls hier in Deutschland nicht.
Wenn Sie die Verbraucherschutzverbände zitieren,dann möchte ich auf den Deutschen Richterbund hinwei-sen – die Richter hätten als Praktiker mit diesem Gesetzumzugehen –, der empfiehlt, von einer solchen RegelungAbstand zu nehmen. Es ist deswegen mehr als sinnvoll,dass wir alle gemeinsam das Ergebnis der angekündigtenPrüfung der Bundesregierung abwarten – Sie konnten esnicht abwarten; wir können es –, ob über die bereits be-stehenden Möglichkeiten für Muster- und Sammelkla-gen hinaus gesetzgeberische Schritte weiter notwendigsind, und dass wir keine Schnellschüsse verabschieden.Aus den vorgenannten Gründen können wir diesem Ge-setzentwurf leider nicht zustimmen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Caren Lay, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Steineke, ich muss mich schonwundern. Sie kritisieren die Opposition dafür, dass sieDinge, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben,jetzt hier in einem seriösen Verfahren debattieren will.Genau so muss es doch sein, ich bitte Sie.
Jedenfalls ist das allemal besser als das Modell derGroKo, wonach die Dinge, die im Wahlkampf verspro-chen wurden, hinterher einfach unter den Tisch fallen.Genauso sollte es nämlich nicht sein.
Kommen wir zum vorliegenden Gesetzentwurf. Siehaben es vielleicht vernommen: Im Mai dieses Jahresgab es ein erfreuliches Urteil. Der Bundesgerichtshof hatentschieden, dass die Bearbeitungsgebühren der Bankenfür Kreditverträge unzulässig waren. Da haben sich si-cherlich Tausende von Bankkundinnen und Bankkundengefreut und wollten ihre Ansprüche bei der Bank geltendmachen. Leider haben viele Banken abgewiegelt undversucht, die geprellten Kunden mit Scheinargumentenzu vertrösten und das unrechtmäßig eingezogene Geldselber zu behalten.Nach der gegenwärtigen Rechtslage kann es nur sosein, dass jeder einzelne betroffene Bankkunde die je-weilige Bank verklagt. Das ist eine hohe Hürde. Für denmanchmal geringen Streitwert werden viele Bankkundennicht einen Anwalt bestellen und ein Verfahren einleiten.Die Banken aber haben ein riesiges Geschäft damit ge-macht. Schätzungsweise 13 Milliarden Euro haben siedaran verdient.Das Beispiel zeigt: Individuelle Klagemöglichkeitenalleine stoßen schnell an ihre Grenzen. Gelackmeiertsind am Ende die Verbraucher, Gewinner sind Banken,Unternehmen und Konzerne.
Deswegen sagen wir als Linke auch ganz klar: Wirbrauchen endlich ein Verfahren, das dafür sorgt, dassVerbraucherinnen und Verbraucher zu ihrem Recht kom-men – und im Übrigen auch zu ihrem Geld.
Recht haben, ist das eine; Recht durchsetzen, ist dasandere. Hier haben wir in Deutschland einen erheblichenNachholbedarf. Die jetzigen individuellen Klagemög-
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Caren Lay
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lichkeiten sind in Anbetracht von komplexen Märkteneinfach nicht mehr zeitgemäß. Es wird auch die Tatsacheaußer Acht gelassen, dass die Unternehmen gut ausge-stattete Rechtsabteilungen haben, die dem einzelnenBürger, der vielleicht kein Jurastudium absolviert hat,natürlich haushoch überlegen sind. Deswegen unterstüt-zen wir als Linke diesen Gesetzentwurf und die Idee ei-ner Gruppenklage.
Das hätte vor allen Dingen den Effekt, dass die Ver-braucherrechte deutlich gestärkt würden. Noch besserwäre es, die Hemmschwelle der Unternehmen, auf Kos-ten ihrer Kundinnen und Kunden ein krummes Geschäftzu machen, deutlich hochzusetzen. Gruppenverfahrendienen also der Prävention.Jetzt werden einige sagen, es gebe schon Möglichkei-ten der Rechtsdurchsetzung, es gebe schon eine Art vonGruppenverfahren, zum Beispiel die subjektive Klage-häufung. Nehmen wir zum Beispiel die Verbraucherzen-trale Sachsen. Diese hat im Interesse von Gaskundinnenund Gaskunden geklagt. Es ging um überhöhte Preiseund unfaire Vertragsklauseln. Nach sechs Jahren und ei-nem langwierigen Prozess haben sie tatsächlich gewon-nen; das stimmt. Aber es war kräftezehrend, es war einwahnsinniger bürokratischer Aufwand, und von den vor-mals 400 klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchernhaben gerade einmal 22 durchgehalten; die anderen ha-ben nach der ersten Instanz aufgegeben. Die Verbrau-cherzentralen – so gut sind sie finanziell und personellnicht ausgestattet – sagen selber: Bei der jetzigenRechtslage können wir nicht mehr als 100 Verfahrenbündeln und händeln.Deswegen, meine Damen und Herren, brauchen wireine richtige Gruppenklage, sodass eine Person klagtoder wenige Personen bzw. die Verbraucherzentralenselbst klagen und alle anderen Betroffenen sich entschei-den können, mit einem kalkulierbaren Kostenrisiko undmit geringem Aufwand der Klage beizutreten.
Das Beste ist: Anschließend würde das Urteil gegenüberjedem Betroffenen gleichermaßen gelten und nicht nurfür diejenigen, die in dem Verfahren durchgehalten ha-ben.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von der CDU?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön.
Frau Präsidentin, ich bin der Kollege von der CDU/
CSU. – Ich möchte Sie, Frau Kollegin Lay, etwas fragen.
Sie sagen: Mit der Gruppenklage würde es für die Ver-
braucher wesentlich einfacher, zu klagen und am Rechts-
streit teilzunehmen.
Ja.
Bislang ist es so, dass bei Klagesummen von bis zu
5 000 Euro kein Anwaltszwang besteht und im Zweifels-
fall jeder die Klage oder den Mahnbescheid selbst auf
den Weg bringen kann. Nach dem Gesetzentwurf braucht
man zwingend einen Rechtsanwalt. Wie erklären Sie
sich den Anwaltszwang vor dem Hintergrund des Ziels
der Erleichterung der Klagebefugnis?
Da kann ich mich dem Zwischenruf der KolleginKünast anschließen. Ich glaube nicht, dass das hier dieentscheidende Frage ist. Wir müssen die Sachlage ausder Perspektive der betroffenen Verbraucherinnen undVerbraucher betrachten.
In der jetzigen Situation – ich nehme einmal dieses Bei-spiel – müssen sich Tausende von Kundinnen und Kun-den allein durchsetzen und gegen einen großen Konzern,gegen ein Unternehmen klagen. Nach dem, was vorge-schlagen ist – ich bin Ihrer Auffassung, dass wir da imDetail gern noch nachbessern können –, würde es denVerbraucherinnen und Verbrauchern, also denjenigen,die vielleicht nicht die ganze Zeit das BGB vor Augenhaben und die kein Jurastudium haben, wesentlich er-leichtert, ihre Ansprüche durchzusetzen. Deswegen,meine Damen und Herren, ist diese Initiative dringendnotwendig. Wir als Linke unterstützen sie.
Das ist natürlich nicht das Einzige, was wir brauchen.Wir brauchen Nachbesserungen in anderen Punkten. Ichnenne das Verbandsklagerecht für Verbraucherzentra-len. Wir brauchen deutlich bessere Möglichkeiten für dieVerbraucherinnen und Verbraucher, unrechtmäßige Ge-winne abzuschöpfen. In der jetzigen Form ist das ein Pa-piertiger.Es gibt noch einen Punkt, über den wir ebenfalls dis-kutieren müssen, und das ist die Frage: Was machen wirmit Bagatell- und Streuschäden? Nach meiner Einschät-zung ist das in dem von den Grünen vorgeschlagenenOpt-in-Verfahren so nicht lösbar.
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Caren Lay
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Beim Kaffeekartell beispielsweise ist es so: Die Unter-nehmen machen mit Preisabsprachen letztendlich Ge-winne in Höhe von 860 Millionen Euro. Der einzelneVerbraucher kann seine Ansprüche nicht durchsetzen.Hierfür brauchen wir eine Lösung. Eine verbesserte Ge-winnabschöpfung oder eine Sonderregelung bei Baga-tell- und Streuschäden wäre unser Vorschlag.
In der jetzigen Form ist das ein Papiertiger; ich sagte esbereits. Es ist übrigens eine Studie des Ministeriums sel-ber, die zu diesem Ergebnis gekommen ist.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Wie sagt man so schön? „Allein machen sie dich ein“;gemeinsam können wir uns besser zur Wehr setzen! –Deswegen sagen wir als Linke: Zehn europäische Län-der haben es vorgemacht. Es wird höchste Zeit, dassauch in Deutschland das Gruppenklagerecht eingeführtwird und die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrau-chern gestärkt werden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dirk Wiese, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Fraktionder Grünen ist insoweit zuzustimmen, als Verbraucher,die in großer Zahl zum Beispiel unlauteren Geschäfts-praktiken, unzulässigen allgemeinen Geschäftsbedingun-gen oder kartellbedingt überhöhten Preisen zum Opfergefallen sind, in der Lage sein müssen, ihre Rechte vorGericht wirksam durchzusetzen. Das steht für uns So-zialdemokraten außer Frage.Klar ist dabei auch, dass die Möglichkeit, eine ange-messene Kompensation für erlittene Schäden zu erstrei-ten, verfahrensmäßig so ausgestaltet sein muss, dasskeine abschreckenden wirtschaftlichen oder bürokrati-schen Hürden bestehen.Ob wir hierzu den vorliegenden Gesetzentwurf derGrünen brauchen, wage ich momentan jedoch zu be-zweifeln. Denn hier bleibt aus meiner Sicht zunächsteinmal festzustellen, dass die ZPO bereits grundlegendeInstrumente bietet, die eine gebündelte Behandlunggleichgelagerter – gegebenenfalls auch geringer – An-sprüche ermöglichen, nämlich die subjektive und objek-tive Klagehäufung.Auf dieser Grundlage wurden gerade in der jüngerenVergangenheit erfolgreiche Sammelklagen unter ande-rem gegen Banken, Energieversorger und Versiche-rungsunternehmen – teilweise unter Einbeziehung vonProzessfinanzierern – geführt. So besteht insbesonderedie Möglichkeit, Forderungen unbürokratisch an einequalifizierte Einrichtung abzutreten, die diese sammeltund im Wege der objektiven Klagehäufung durch eineeinzige Klage vor Gericht geltend macht.Bei der Einziehungsabtretung benötigt der Verbrau-cher im Übrigen keinen Rechtsanwalt. Das ist im Gegen-satz zu dem von Ihnen vorgeschlagenen Gruppenverfah-ren ein entscheidender Vorteil. Für den Verbraucherbesteht folglich ein erheblich geringeres Kostenrisiko,was die Einziehungsabtretung aus meiner Sicht wesent-lich verbraucherfreundlicher macht. Darüber hinaus istdas hier vorliegende System des Gruppenverfahrens ausmeiner Sicht erheblich komplizierter.Anmerken möchte ich außerdem, dass über die objek-tive und subjektive Klagehäufung hinaus bereits Kollek-tivklagemöglichkeiten für Verbände nach dem Unterlas-sungsklagengesetz und nach dem Gesetz gegen denunlauteren Wettbewerb bestehen, die in der Praxis eben-falls – so ist mein Kenntnisstand – mit Erfolg genutztwerden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich zweifele auf denersten Blick auch daran, dass der vorliegende Gesetzent-wurf überhaupt sein Kernziel erreichen kann, nämlicheine große Bündelungswirkung zu erzielen. Durch dieFreiwilligkeit der Teilnahme und des Verbleibs im vonden Grünen vorgeschlagenen Gruppenverfahren sowiedurch die Möglichkeit, andere Rechtsschutzmöglichkei-ten zu nutzen, wird die beabsichtigte Bündelungswir-kung in der Praxis aus meiner Sicht sogar sehr geringsein, zumal bei größeren anonymen Gruppen von Ge-schädigten die Betroffenen oft unterschiedlichste Wegegehen werden und die Gefahr sich widersprechenderEntscheidungen unterschiedlicher Gerichte trotz paralle-ler Lebenssachverhalte somit bestehen bleibt.Die Vorteile des heute schon bestehenden Kapitalan-leger-Musterverfahrensgesetzes, das insbesondere einewirksame Bündelung und Vermeidung sich widerspre-chender Entscheidungen bei gleichgelagerten kapital-marktrechtlichen Streitigkeiten gewährleistet, werdendurch dessen Aufhebung aus meiner Sicht zunichtege-macht.Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass aus meinerSicht gerade solch komplexe Verfahrensstrukturen, wiesie im uns vorliegenden Gesetzentwurf zu finden sind,zusätzliches Streitpotenzial ermöglichen, das prozess-taktisch mit dem Ziel der Verzögerung bzw. der Zer-mürbung ausgeschöpft werden wird. Im vorliegendenGesetzentwurf kann also von einer Vereinfachung ge-genüber bestehenden und von mir aufgezeigten Instru-menten keine Rede sein.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, bei den Zuhörernauf der Tribüne das Vorurteil zu widerlegen, dass Juratrocken ist.
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5114 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Dirk Wiese
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie merken, ichstehe dem Gesetzentwurf der Grünen skeptisch gegen-über. Gleichwohl freue ich mich – Frau Künast, Sie kön-nen an dieser Stelle auch einmal zuhören –, dass uns dieAusschussberatung die Gelegenheit gibt, dass wir unsnoch einmal mit der Materie der Klagehäufung bzw.-bündelung befassen. Dort können wir gemeinsam dis-kutieren, ob bewährte Instrumente der ZPO alternativpunktuell so fortentwickelt werden können, dass sie demVerbraucher nutzen und beispielsweise die individuelleRechtsdurchsetzung auch bei Streuschäden erleichtern.Für denkbar halte ich beispielsweise die Schaffung eineswirksamen Gewinnabschöpfungsanspruchs im Bereichdes Unterlassungsklagengesetzes, die Schaffung vonstrengeren Voraussetzungen für die Prozesstrennungoder die Einführung eines allgemeinen Klageregistersfür den kollektiven Rechtsschutz in Verbindung mit ei-ner Verjährungshemmung bei Anmeldung sowie die Re-gelung einer Musterfeststellungsklage.Ich freue mich jedenfalls auf die Ausschussberatung.Wie gesagt, ich stehe dem Gesetzentwurf jedoch skep-tisch gegenüber.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal ist zu sagen: Die Idee der Ver-besserung von Verbraucherrechten ist an und für sichrichtig. Der Gesetzentwurf macht sich eine Empfehlungder Europäischen Kommission zu eigen. Aber es giltauch zu formulieren: Grundlegende Reformen der Zivil-prozessordnung sind Operationen am offenen Herzenunserer Rechtsordnung mit Auswirkungen auf das Funk-tionieren unseres Rechtssystems. Sie sollten nur dannvorgenommen werden, wenn dadurch eine erheblicheVerbesserung eintreten kann.
Mit diesem Gesetzentwurf tritt sie nicht ein.
Dieser Gesetzentwurf wirft viele Fragen auf. Er be-antwortet fast keine. Ja, ich will sagen: Er ist zwar gutgemeint, aber nicht konsequent in der Umsetzung; er isthandwerklich schlecht.
Sie wollen dem Problem des mangelnden Zugangszum Recht bei – auch kleineren – massenhaft auftreten-den Individualschäden bei Verbrauchern und dem darausfolgenden Defizit bei der Durchsetzung des Rechts ent-gegentreten. Dazu wollen Sie einen Paradigmenwechselim Bereich der Zivilprozessordnung vornehmen. Siewollten weit springen und sind schon nach kurzer Stre-cke gelandet.Zum einen haben wir schon jetzt taugliche Instru-mente kollektiver Rechtsdurchsetzung. Zum anderengilt: Gerade bei kleineren Schäden im Bereich der Ver-sorgung, der Telekommunikation, aber auch bei Reisenim Nahverkehr ist der beste Prozess der, den man nichtführt. Deswegen ist hier viel stärker die Frage einer ver-braucherrechtlichen Prävention in den Mittelpunkt zustellen. Das ist besser, als über komplizierte Gruppen-verfahren die Verbraucher auf den Rechtsweg zu verwei-sen, den sie nicht brauchten, wenn man das Recht, daswir schon jetzt haben, konsequent anwenden würde.
Jetzt darf ich Ihnen ehrlich sagen: Diesen Gesetzent-wurf könnte man nicht guten Gewissens verabschieden,wenn man es mit dem Verbraucherschutz wirklich ernstmeinte. Das Ganze beginnt mit der in Artikel 1 § 606Ihres Gesetzentwurfs verankerten Zulässigkeit, wo nichtgeregelt ist, wie groß eine Gruppe zu sein hat, welcheVerfahren infrage kommen und um welche tatsächlichenAnsprüche es sich handelt. Was dort steht, ist viel zuvage und unbestimmt, um auf die ZPO überhaupt Ein-fluss gewinnen zu können.Ein weiterer sehr verbraucherschädlicher Bereich istdie in Artikel 1 § 608 – Örtliche Zuständigkeit – IhresGesetzentwurfs geregelte Gerichtszuständigkeit. Sieschreiben, dass das Gruppenverfahren bei dem Gerichtanhängig gemacht werden muss, bei dem der Beklagteseinen Gerichtsstand hat. Das heißt nichts anderes, alsdass der Verbraucher aus Garmisch, aus Augsburg oderaus Stuttgart beispielsweise in Berlin, in Hamburg oderin Düsseldorf klagen muss. Diese Regelung ist völlig an-ders als die, die wir jetzt haben, wonach für den Verbrau-cher der Gerichtsstand seines Wohnsitzes gilt. Sie ver-schlechtern so die Rechte der Verbraucher.
Völlig absurd ist Artikel 1 § 614 – Bekanntmachungim Klageregister; Verordnungsermächtigung – Ihres Ge-setzentwurfs. Wenn man auf Grundlage Ihres Gesetzent-wurfs eine Gruppenklage führen würde, dann müsstediese Klage umständlich in ein Register eingetragenwerden. Dieses Register müsste öffentlich gemacht wer-den. Ich frage mich, wo da der Datenschutz bliebe. Abernicht nur die öffentliche Eintragung ist in Zweifel zu zie-hen, sondern auch, dass das Verfahren nach der Eintra-gung erst einmal aussetzen würde; denn das Gerichtmüsste mindestens drei Monate abwarten, um festzustel-len, ob sich andere Bürgerinnen und Bürger an dem Ver-fahren beteiligen wollten. Ich persönlich meine: Rechts-schutz muss schnell und effektiv sein.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5115
Dr. Volker Ullrich
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Durch monatelanges Wartenlassen schicken Sie den Ver-braucher in die Warteschlange. Das ist doch nicht ver-braucherfreundlich.
Der Verbraucher muss zur Not selbst die Möglichkeithaben, zu klagen, ohne die Hemmschwelle in Form einerAnwaltskanzlei vor sich zu haben. In Artikel 1 § 615 Ih-res Gesetzentwurfs ist ein Anwaltszwang vorgesehen.Für den Verbraucher fällt somit die Erstberatungsgebühran. Bei Klageerhebung kommt eine Verfahrensgebührvon 1,3 hinzu. Würde Ihr Gesetzentwurf verabschiedet,bedeutete dies für die Verbraucherinnen und Verbrau-cher, dass Klagen teurer und die Rechtsdurchsetzungwesentlich schwieriger würde.
Wer jetzt glaubt, das sei schon alles an handwerkli-chen Mängeln, der muss sich einmal Artikel 1 § 619 Ab-satz 2 dieses Gesetzentwurfs ansehen. Dort schreibenSie allen Ernstes – ich zitiere –:Die Stellung als Gruppenkläger begründet keinSchuldverhältnis gegenüber den Teilnehmern desGruppenverfahrens.Wissen Sie, was das in der Konsequenz bedeutet? Es be-deutet, dass derjenige, der die Klage führt, machen kann,was er will, und wenn er schlecht verhandelt, ist man ge-bunden und man hat keine Chance, da herauszukommen.Wollen Sie das? Wollen Sie die persönliche Verantwor-tung des Anwalts aufheben?
Ich meine, nein. Ich meine, es gibt durch das anwalt-schaftliche Berufsrecht eine Verantwortung des Anwaltsgegenüber dem Verbraucher.
– Liebe Frau Kollegin Künast, wir sind keine Neinsager-partei, sondern wir wollen die Bürger dieses Landes vorschlechten Gesetzen bewahren.
Wenn wir dieses Gesetz beschließen würden, würden wirdie 130 Jahre alte und ehrwürdige ZPO beschädigen.Das wollen wir weder den Rechtsanwendern noch denVerbrauchern zumuten.Auch die Kostenfrage ist in Artikel 1 § 629 Ihres Ge-setzentwurfs völlig unzureichend geklärt. Zur Frage ei-ner ordentlichen Rechtsdurchsetzung gehört aus meinerSicht auch der Rechtsweg. Sie verweisen diesbezüglichin Artikel 1 § 630 nur auf die allgemeinen Vorschriften.Das heißt letztendlich: erst Gruppenklage, und dannweiß niemand, wie es weitergeht.Es handelt sich also im Ergebnis um einen völlig un-brauchbaren Gesetzentwurf, der es eigentlich nicht wür-dig ist, diskutiert zu werden. Nichtsdestotrotz werdenwir weiter daran arbeiten, die Rechte der Verbraucher zustärken,
und auch darauf dringen, dass in den Ländern – da trägtRot-Grün eine starke Verantwortung – durch die Beset-zung von Richterstellen und die daraus resultierendeVerkürzung der Verfahrensdauer die Rechtsdurchsetzungerleichtert wird.
Das ist, meine ich, ein viel wesentlicherer Punkt, denman angehen sollte.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karl-Heinz
Brunner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Nachdem wir heute schonmedizinisch in das Thema eingestiegen sind – Sie, lieberKollege Ullrich, haben von der Operation am offenenHerzen gesprochen und Sie, Frau Künast, haben den Be-griff „subkutan“ verwendet –,
will ich jetzt nicht intravenös an alle herantreten, son-dern versuchen, mehr die Lebensrealität in den Mittel-punkt zu rücken.Ich sage vorweg: Der Ansatz des Gesetzentwurfs vonBündnis 90/Die Grünen ist ja recht gut. Auf die Umset-zung trifft allerdings der Satz zu: Gut gemeint, aber nichtgut gemacht. – Ich sage das deshalb, weil die Verbrau-cherinnen und Verbraucher in diesem Land sich in zweiGemengelagen bewegen. Auf der einen Seite geht es umdiejenigen, die wegen eines schlechten Produkts, wegeneines verpassten Flugs, der sie in ihr geliebtes Urlaubs-land hätte bringen sollen, oder wegen vermeintlicherKleinigkeiten ihr Recht suchen. Für diese Menschen istes vielleicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie miteinem Gericht zu tun haben. Sie schämen sich mögli-cherweise, den Gerichtsweg zu beschreiten. Da müssenwir ansetzen und etwas unternehmen, um diese Hürde zuüberwinden. Da wollen wir die Scheu abbauen.
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5116 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Dr. Karl-Heinz Brunner
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Auf der anderen Seite wollen wir etwas verhindern,was wir aus amerikanischen Fernsehserien zur Genügekennen. Nehmen wir zum Beispiel einen Fall, den auchder eine oder andere von Ihnen möglicherweise schonerlebt hat: Man macht eine gute Flasche Rotwein, einenBordeaux zum Beispiel, auf und hat durch das Berührendes Korkens zwei Tage einen roten Daumen. In diesemFall soll ein Verbraucher, der feststellt, dass auf der Fla-sche der Hinweis fehlt, dass man durch das Berühren desKorkens kurzzeitig rote Finger bekommen kann, nicht,wie wir es aus amerikanischen Fernsehserien kennen, ei-nen Schadenersatzprozess über mehrere Millionen Euroanzetteln können.
Dies wollen wir nicht.
Ich glaube, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dieEinführung des Gruppenverfahrens in die ZPO ist nichtsanderes als die Fortentwicklung von Sammelklagen. InBezug auf Gruppenklagen haben wir im Verbandsklage-recht und im Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzrecht gute Regelungen, die weiterentwickelt und vor al-len Dingen den Verbraucherinnen und Verbrauchern nä-hergebracht werden müssen.
Herr Kollege Brunner, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Katja Keul?
Gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Brunner, dass Sie die Frage zulas-
sen. – Sie haben gerade das Beispiel erwähnt, dass in
Amerika wegen einer Lappalie Millionenbeträge geltend
gemacht werden. Würden Sie mir nicht auch recht ge-
ben, dass das weniger mit den Verfahrensrechten der
ZPO zu tun hat als mit dem Unterschied im materiellen
Zivilrecht, weil es in den USA so etwas wie eine Straf-
schadensersatzklage gibt, die es in unserem Zivilrecht
gar nicht gibt? Deswegen entstehen diese Summen, die
bei uns undenkbar wären. Das hat mit dem Verfahren ei-
ner Gruppenklage eigentlich gar nichts zu tun.
Selbstverständlich, liebe Kollegin Keul, hat das mit
unserem Zivilrecht nichts zu tun. Aber das Gruppenkla-
geverfahren ist im Wesentlichen aus dem angelsächsi-
schen Recht entwickelt. Deshalb habe ich auch den Be-
zug hergestellt.
Meine Kolleginnen und Kollegen, unsere Aufgabe ist,
den Bürgerinnen und Bürgern, den Rechtsuchenden – da
hat der Kollege Ullrich recht gehabt –, zum einen durch
die Ausstattung der Gerichte und zum anderen durch die
Ausgestaltung der Gesetze die Möglichkeit zu geben,
ihre Rechtsansprüche in der bestehenden Rechtsordnung
einzuklagen und die Scheu davor zu nehmen. Ich glaube
auch, dass dies mit der derzeitigen Regelung über die
Beratungshilfe, über die Prozesskostenhilfe, über das
Verbandsklagerecht und über die gut organisierten Ver-
braucherverbände hinlänglich möglich ist.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass an verschiedenen
Stellen sicherlich nachzujustieren ist und freue mich des-
halb auf die Beratungen in den Ausschüssen, um den gu-
ten Ansatz zur Integration des Gruppenverfahrens in die
ZPO zu einem guten Ergebnis zu führen. Ich denke, es
ist für uns alle wichtig, dass wir jetzt zuerst einmal das
Prüfverfahren der Bundesregierung und etwaige Lö-
sungsvorschläge abwarten.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit
und wünsche Ihnen, soweit Sie noch hierbleiben, einen
schönen Nachmittag und ansonsten ein schönes Wo-
chenende.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 18/1464 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz
Drucksache 18/1000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-
regierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan
Müller.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor zwei Jahren ist das Gesetz zur Verbesserung der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5117
Parl. Staatssekretär Stefan Müller
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Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbenerBerufsqualifikationen, also kurz Anerkennungsgesetz, inKraft getreten. Wir haben mit diesem Gesetz erstmalseine gute rechtliche Grundlage geschaffen, um im Aus-land erworbene Abschlüsse in Deutschland einfacher an-zuerkennen und Menschen mit ausländischen Abschlüs-sen besser in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.Eines kann man nach diesen zwei Jahren ohne Zwei-fel sagen: Es hat in Deutschland ein Umdenken gegeben.
Wir erkennen schon, dass viele Menschen mit mehr Res-pekt und Wertschätzung auf die Qualifikationen und Le-bensleistungen Zugewanderter sehen. Das ist ein wichti-ger Fortschritt.Ein weiterer Fortschritt ist, dass sich zahlreiche Ak-teure auch mit beteiligen. Sie unterstützen die Anerken-nung ausländischer Abschlüsse und wirken daran aktivmit, um neue Strukturen zu schaffen und Know-how auf-zubauen. Insofern bedanke ich mich bei allen Organisa-tionen und Institutionen, die in diesen zwei Jahren dazubeigetragen haben, dieses Know-how zu erwerben undneue Strukturen zu schaffen. Nur so war und ist eine er-folgreiche Umsetzung unseres Anerkennungsgesetzesmöglich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Bundesregierung hat seinerzeit im Gesetzge-bungsverfahren ein kontinuierliches Monitoring bereitsvor der gesetzlichen Evaluation zugesagt. Der im Aprildieses Jahres vorgelegte erste Bericht zum Anerken-nungsgesetz enthält nunmehr die ersten Ergebnisse die-ses Monitorings, das im Auftrag des BMBF vom Bun-desinstitut für Berufsbildung durchgeführt wird.Der Bericht geht aber weiter. Er zeigt also nicht nurauf, was in diesen zwei Jahren geschehen ist, sondernzieht auch eine erste Bilanz. Vor allem aber blickt ernach vorne und benennt künftige Herausforderungen;ich komme später noch darauf zu sprechen. Die Zahlenbelegen jedenfalls, dass sich das Anerkennungsgesetzvon Anfang an als ein Instrument der Fachkräftesiche-rung etabliert hat.Das Statistische Bundesamt hat im Oktober 2013 erst-malig eine Statistik vorgelegt, wonach im Zeitraum vonApril bis Dezember 2012 bundesweit rund 11 000 Ver-fahren gemeldet wurden. Von diesen 11 000 Verfahren– das kann man in der Rückbetrachtung, glaube ich, alsErfolg bezeichnen – waren zum Jahresende 2012 bereitsdrei Viertel entschieden. Der überwiegende Teil davon– 82 Prozent – wurde mit einer vollen Anerkennung be-endet.
In den Länderstatistiken zeichnet sich bereits ab, dasssich diese positive Entwicklung in 2013 fortgesetzt hat.Leider liegen die amtlichen Zahlen für das Jahr 2013 erstim Oktober oder November dieses Jahres vor und wer-den erst dann veröffentlicht werden. Der nächste Moni-toring-Bericht wird dann sicherlich eine entsprechendeAussage dazu treffen. Wir haben vor, Ihnen diesen imMai oder Juni 2015 vorzulegen.Eines zeigt sich jedenfalls: Beratung und Informationsind auch für ein erfolgreiches Anerkennungsverfahrender Schlüssel. Wir sind froh, dass es ein steigendes Inte-resse an den Angeboten, die der Bund etabliert hat, gege-ben hat. Ich möchte drei Beispiele nennen: erstens dasInternetportal „Anerkennung in Deutschland“, das be-reits im August die Marke von 100 000 Besuchern mo-natlich überschritten hat und auf dem sich mittlerweileüber 1,5 Millionen Menschen informiert haben, zweitensdie Telefonhotline beim Bundesamt für Migration undFlüchtlinge, das individuelle Fragen zur beruflichen An-erkennung beantwortet, und drittens das Beratungsnetz-werk „IQ“ – Integration durch Qualifizierung –, dasebenfalls eine ganze Reihe von Informationen zu Verfah-ren der beruflichen Anerkennung geben kann.Eine wichtige Rolle für den Erfolg des Anerken-nungsgesetzes spielt sicherlich ein effizienter und ein-heitlicher Verfahrensvollzug. Hier haben insbesonderedie Kammern entsprechende Strukturen geschaffen. Ichmöchte in diesem Zusammenhang die IHK FOSA, diezentrale Plattform der Industrie- und Handelskammer,und die Leitkammern im Handwerk, die sowohl beratenals auch selber Verfahren durchführen, nennen.Wir haben in den letzten zwei Jahren immer wieder– das nehme ich sehr ernst – den Hinweis bekommen,dass die Verfahren zu aufwendig, zu lang und zu büro-kratisch sind und dass zu viele detaillierte Informationenzu ausländischen Bildungsgängen vorgelegt werdenmüssen. Ich sage es noch einmal: Wir nehmen das sehrernst. Dort, wo es möglich ist, sollten wir das Anerken-nungsverfahren unkomplizierter und unbürokratischermachen. Gleichwohl muss man sich natürlich schon vorAugen führen, was Ziel dieses Anerkennungsverfahrensist. Ziel des Anerkennungsverfahrens ist, dass am Endedie Gleichwertigkeit mit einem deutschen Berufsab-schluss attestiert werden kann.Wir haben in Deutschland – darauf sind wir zu Rechtstolz – hohe Qualitätsstandards. Diese wollen wir beibe-halten. Deswegen garantiert natürlich nur eine umfas-sende und sorgfältige Prüfung auf der Grundlage vonverlässlichen Informationen eine entsprechende Gleich-wertigkeit. Erst dann kann es zu einer erfolgreichen An-erkennung kommen. Würde man hier Abstriche machen,würde das dem Sinn und Zweck dieses Verfahrens zuwi-derlaufen, was sicher nicht im Interesse der Antragstellersein kann.Ich vermute, die Frau Präsidentin wird mir keinegroßzügige Redezeiterweiterung einräumen, weswegenich mich beim Ausblick auf wenige Stichworte be-schränken möchte.
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5118 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Parl. Staatssekretär Stefan Müller
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– Es sei denn, Sie würden eine Zwischenfrage zu denAusblicken stellen, Herr Mutlu. Aber ich befürchte, denGefallen werden Sie mir nicht tun.
Das geht nicht mehr, da Ihre offizielle Redezeit been-
det ist.
S
Gut. – Ich beschränke mich auf wenige Stichworte:
Wir werden eine ganze Reihe von Maßnahmen und
Handlungsschwerpunkten zum Beispiel zu Ausgleichs-
maßnahmen auf den Weg bringen.
Ich will hier die Information der Betriebe ansprechen.
Der Bericht zeigt, dass es hier noch Handlungsbedarf
gibt, dass wir auch die Personalabteilungen und die Per-
sonalentwickler in den Unternehmen für das Thema An-
erkennung sensibilisieren müssen. Wir haben Hand-
lungsbedarf im Bereich der Rechtsetzung, weil wir die
novellierte EU-Berufsanerkennungsrichtlinie bis 2016 in
nationales Recht umsetzen müssen. – Das waren nur
zwei Beispiele, die zeigen, wo wir sicherlich noch wei-
terarbeiten können.
Die OECD bescheinigt uns, dass Deutschland heute
zu den Ländern mit den geringsten Hürden für die Zu-
wanderung hochqualifizierter Fachkräfte und Arbeits-
kräfte gehört – eine Botschaft, die noch viel stärker ge-
hört werden muss. Wir werden – da gehört eine schnelle
und einfache Anerkennung sicherlich mit dazu – auch in
Zukunft mit dem Anerkennungsgesetz und den entspre-
chenden Verfahren dafür sorgen können, dass unser
Land für qualifizierte Zuwanderer noch attraktiver wird.
Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Rosi Hein,
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir reden heute über den ersten Be-richt der Bundesregierung zu dem im April 2012 be-schlossenen Anerkennungsgesetz. Die umfassendeBeschreibung kann ich mir sparen; das hat der Staatsse-kretär eben getan.Menschen mit im Ausland erworbenen Abschlüssenhaben nach diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf einVerfahren zur Überprüfung der Gleichwertigkeit ihrerAbschlüsse. Es wird auch ein Zeitrahmen festgeschrie-ben. Sie haben allerdings keinen Rechtsanspruch aufAnerkennung; ich bitte, diesen Unterschied mit zu be-denken. Wenn man denn die Anerkennung bekommt,könnte man damit in Deutschland auch eine der Qualifi-kation entsprechende Beschäftigung aufnehmen. Ichlasse einmal beiseite, dass das Anerkennungsgesetzschon in § 1 des Gesetzestextes mit dem Mangel am Ar-beitsmarkt begründet wird und nicht mit dem Respektvor den Fähigkeiten zugewanderter Menschen und ihrenLebensperspektiven hier in diesem Land.In der Regel nach drei Monaten, bei Ärzten nach vierMonaten, soll es eine Entscheidung geben; eine ange-messene Verlängerung soll nur in komplizierten Fällenmöglich sein. Was ist denn aber mit der ukrainischenÄrztin, die sich an uns gewandt hat und seit über einemJahr auf eine Entscheidung wartet? Was ist am Medizin-studium in der Ukraine so schwer vergleichbar, dassneun Monate Verlängerung angemessen sind?
Und warum kommt es nicht zur Anerkennung ihres Ab-schlusses, mit der sie endlich in Deutschland in ihremBeruf arbeiten könnte? Neun Monate nach Antragstel-lung befand die zuständige Stelle, dass es Defizite gebeund Arbeitszeugnisse aus dem Heimatland nachgereichtwerden müssen – nach neun Monaten! Sie lagen zu die-sem Zeitpunkt aber schon einige Monate vor. Da mussman sich doch – Verzeihung! – veralbert vorkommen.
Bis zum Ende des Jahres 2012 wurden rund 11 000Anträge – wir haben die Zahlen eben gehört – zur Prü-fung der Anerkennung gestellt und rund 7 500 positivbeschieden, vor allem in Gesundheits- und Pflegeberu-fen. Das klingt sicherlich erst einmal nach einer sehr gu-ten Statistik; aber die Bundesregierung rechnet selbst mit300 000 möglichen Anträgen. Da wäre es schon sehrschön gewesen, diese Debatte vielleicht einen oder zweiMonate später zu führen, wenn wir die Zahlen, die imNovember veröffentlicht werden sollen, schon haben.
Denn wenn wir erst nächstes Jahr im April wieder überdiese Zahlen diskutieren, dann reden wir über alte Zah-len und können überhaupt nichts über die Fortschritte sa-gen. Wenn es sofort 300 000 Anträge gegeben hätte,dann hätte ich verstanden, wenn die Behörden ein wenigins Schwimmen gekommen wären; aber so ist die Zahlvon 7 500 beschiedenen Anträgen für mich doch einbisschen ernüchternd.
Seit Ende Juni dieses Jahres haben nun auch alle Bun-desländer eigene Landesgesetze verabschiedet, um lan-desrechtlich geregelte Berufe anerkennen zu können,wie zum Beispiel die Berufe der Lehrerin oder des Leh-rers bzw. der Erzieherin oder des Erziehers. Die Umset-zung in den jeweiligen Ländern läuft jedoch höchst un-terschiedlich. Eine einheitliche Anerkennungspraxis inDeutschland ist kaum zu erkennen, möglicherweise auchgar nicht zu erwarten, wenn man die unterschiedlichenQualifikationswege und Anforderungen in den einzelnen
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Dr. Rosemarie Hein
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Bundesländern bedenkt. Der Bundesregierung ist das of-fensichtlich bekannt; denn der Staatssekretär hat sicheben recht kritisch geäußert. Auch im Bericht ist ange-merkt, dass der Stand bei der Vereinheitlichung des Voll-zugs unbefriedigend sei.
Bis alle Menschen ihre im Ausland erworbenen Ab-schlüsse – wenn sie es wollen – hier in Deutschland an-erkannt bekommen haben – wenn es denn möglich ist –,ist es noch ein weiter Weg. Es ist auch eine Frage derKosten. Die Kosten für das Anerkennungsverfahren va-riieren zwischen den Bundesländern und den unter-schiedlichen Berufsarten teilweise erheblich.Im Kammerbereich zum Beispiel bewegen sich dieGebühren für eine Anerkennung zwischen 100 und600 Euro; das ist im vorliegenden Bericht auch aufge-führt. Dieser Unterschied ist aber doch nicht durch einenunterschiedlichen Aufwand zu erklären. Darüber hinaussteht zu befürchten, dass die Kosten für eine individuelleGleichwertigkeitsprüfung sowie für die Analyse vonQualifikationen noch weitaus höher liegen. Das ist keinAnreizsystem. Das schreckt vielmehr ab.Wenn, wie die frühere Bundesministerin, Frau Schavan,sagte, die Anerkennung der Abschlüsse „eine Frage derGerechtigkeit und des Respekts vor der Qualifikationvon Menschen“ sei, dann muss am Gesetz und an derAnerkennungspraxis noch heftig gearbeitet werden.
Wir brauchen nicht nur ein Recht auf ein Verfahren,sondern auch ein Recht auf Anerkennung. Wir brauchenbezahlbare und vergleichbare Gebühren für die Aner-kennung ebenso wie für die notwendigen Nachqualifi-zierungen.Der DGB hat heute eine Pressemeldung herausgege-ben, in der er eine gebührenfreie Anerkennung undNachqualifizierung fordert. Mit Blick auf § 1 des Aner-kennungsgesetzes stelle ich fest: Das ist angemessen;denn es geht um den deutschen Arbeitsmarkt und weni-ger um die Interessen der Betroffenen. Kosten- bzw. Ge-bührenfreiheit ist also angemessen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Karamba
Diaby für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Seit zwei Jahren haben wir ein Anerkennungsgesetz aufBundesebene, seit Sommer dieses Jahres nun endlichauch auf der Ebene der Bundesländer. Ich freue mich,dass wir heute eine erste Zwischenbilanz in Bezug aufdas Anerkennungsgesetz ziehen.Vor gut zwei Jahren trat erstmals der allgemeine undumfassende Rechtsanspruch auf ein Anerkennungsver-fahren in Kraft. Der ausländische Berufsabschluss wirdmit dem deutschen Referenzberuf verglichen und aufGleichwertigkeit geprüft. Das Ergebnis kann die voll-wertige, die teilweise oder gar keine Anerkennung desausländischen Abschlusses sein.Vielfalt schafft Werte – das ist mein persönliches poli-tisches Leitbild. In diesem Sinne ist das Anerkennungs-gesetz ein wichtiges Signal an die Eingewanderten inDeutschland und an die deutsche Wirtschaft.
Das Anerkennungsgesetz ist ein wichtiger Beitrag zurFachkräftesicherung für unseren Wirtschaftsstandort;denn wir brauchen die Talente und beruflichen Kompe-tenzen der schätzungsweise mehr als 300 000 Personenmit ausländischen Abschlüssen, die es hierzulande gibt– die Zahl wurde mehrfach erwähnt –, ohne sie geht esnicht.Ohne die formale Anerkennung ihrer Abschlüssewerden Ärztinnen weiterhin als Putzfrauen und Inge-nieure als Taxifahrer arbeiten. Sie arbeiten somit unterihrer Qualifikation. Dieser Zustand ist weder für die Ein-gewanderten noch für unsere Gesellschaft und Wirt-schaft hinnehmbar.Schon seit Jahren schlägt die deutsche WirtschaftAlarm. „Fachkräfte verzweifelt gesucht“, „DeutschlandsMittelstand gehen die Fachkräfte aus“ – so lauteten dieSchlagzeilen der letzten Jahre. Von einem flächende-ckenden Fachkräftemangel kann zwar keine Rede sein,aber für einzelne Berufe trifft er zu.
Das Gesetz entfaltet erste erfreuliche Wirkungen inden Gesundheitsberufen.
Ärztinnen und Ärzte, Gesundheits- und Krankenpflegersowie Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten füh-ren die Liste der Antragsteller bei den häufigsten Refe-renzberufen mit mehr als 70 Prozent an. Am häufigstenkommen die Antragstellerinnen und Antragsteller ausRumänien, der Russischen Föderation und Polen.Mit dem Anerkennungsgesetz haben wir begonnen,brachliegende Potenziale zu aktivieren. Das ist gut so.
Gut ist auch die hohe Quote der vollen Anerkennungen.Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt,nachzubessern, wo es notwendig ist. Ich sehe vor allemdrei zentrale Herausforderungen:Erstens. Der Bericht deutet darauf hin, dass nur einBruchteil der geschätzt mehr als 300 000 Personen mitausländischen Abschlüssen einen Antrag gestellt haben.Ich wünsche mir, dass noch mehr Menschen einen Aner-
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Dr. Karamba Diaby
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kennungsantrag stellen, damit sie endlich ihrem erlern-ten Beruf nachgehen können.
Wir brauchen Informationskampagnen, damit sich dieMöglichkeit zur Anerkennung noch mehr herumspricht.Hier müssen wir die Wirtschaft stärker sensibilisierenund in die Pflicht nehmen.
Sie sollen die Möglichkeit zur Anerkennung ausländi-scher Berufsqualifikationen noch stärker für ihre Perso-nalentwicklung nutzen.Damit komme ich zum zweiten Punkt: Anpassungs-qualifizierung. Das wurde von meinen Vorrednern schonangesprochen. Jeder zehnte Antragsteller in den regle-mentierten Berufen und jeder dritte in den nichtregle-mentierten Berufen braucht eine Anpassungsqualifizie-rung, um eine vollwertige Anerkennung zu erlangen. Ichfreue mich sehr, dass die BundesarbeitsministerinAndrea Nahles beabsichtigt, ein Qualifizierungspro-gramm mit Mitteln aus der neuen ESF-Förderperiode zubestreiten. Schließlich haben wir im Koalitionsvertragmiteinander vereinbart, dass wir Eingewanderte, dieQualifizierungsmaßnahmen absolvieren müssen, finan-ziell unterstützen wollen.Drittens. Lassen Sie uns in den weiteren Beratungengenau hinschauen – ich hoffe, die Opposition machtmit –, um bestehende bürokratische Fallstricke zu besei-tigen.
Ich denke am heutigen Tag des Flüchtlings beispiels-weise an Geflüchtete, die keinerlei Nachweise erbringenkönnen. Asylsuchende und Geduldete bringen – das wis-sen wir – Talente, Know-how und oftmals eine hervorra-gende Ausbildung mit.
Lassen Sie uns also die Gerechtigkeitslücke schließen.Lassen Sie uns für diese Fälle praktikable Lösungen ent-wickeln und erproben.Ich komme zum Ende. Ich danke den vielen kompe-tenten und engagierten Beschäftigten des Netzwerks „In-tegration durch Qualifizierung“. Sie leisten hervorra-gende Beratungsarbeit, um die Arbeitsmarktintegrationvon Menschen mit Migrationshintergrund zu verbessern.Lassen Sie uns die Beratungsstrukturen stärken. Hierkönnen auch Migrantenorganisationen eine sehr großeRolle spielen; das haben sie in der Vergangenheit ge-zeigt.Abschließend möchte ich bemerken: Wir sind auf ei-nem guten Weg. Erst kürzlich haben wir die Abschaf-fung der Optionspflicht und Maßnahmen zur Verbesse-rung der Lebenssituation von Asylsuchenden undGeduldeten beschlossen.
Das Anerkennungsgesetz reiht sich hier ein: Es ist inte-grationspolitisch wichtig, es drückt Wertschätzung undAnerkennung der Lebensleistung von Eingewandertenaus. „Vielfalt schafft Werte“ bedeutet arbeitsmarktpoli-tisch: Die Tür steht dir offen, du bist willkommen, duwirst gebraucht, und du kannst dich mit all deinen Fähig-keiten hier entfalten. – Lassen Sie uns gemeinsam diesesVersprechen einlösen.
Vielen Dank. Das war eine punktgenaue Landung. –
Nächster Redner ist Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Deutschland braucht Fachkräfte! Viele Unterneh-men, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen sindschon jetzt auf ausländische Fachkräfte angewie-sen.Mit diesen Worten beginnt der Bericht der Bundesregie-rung zum Anerkennungsgesetz. So wahr dieser Satzauch ist, ist es doch nur eine Binsenwahrheit; denn dasdürfte allen in diesem Hause bekannt sein, spätestensseit 2012. Ende 2008 hat sich der Bund mit den Ländernauf dem Bildungsgipfel auf eine Verbesserung derRechtslage zur Anerkennung im Ausland erworbenerAbschlüsse und Berufsqualifikationen verständigt. 2012ist dieses Gesetz dann endlich in Kraft getreten. Seitherist viel Wasser die Spree heruntergeflossen.Ich schaue mir den vorliegenden 169-seitigen Berichtan und frage: Was ist in der Sache überhaupt erfolgt?Wenn man sich diesen Bericht genau anschaut – an die-ser Stelle schütte ich Ihnen eine gehörige Portion Spree-wasser in Ihren Wein –, so sieht man lauter Allgemein-plätze, Zuständigkeitsgerangel und viele offene Fragen,meines Erachtens zu viele offene Fragen.
Wie schon gesagt worden ist: Wir sind eine Wirt-schaftsnation und stehen für Innovation und wirtschaftli-che Dynamik. Wir wissen seit Jahren, dass in unseremLand ein Fachkräftemangel herrscht, und das nicht nurin technischen Berufen oder im Pflegebereich, sonderninzwischen in vielen, vielen Branchen. Das Anerken-nungsgesetz und die damit einhergehende Reform wardaher nicht nur ein notwendiger, sondern auch ein abso-lut überfälliger Schritt. Die Regeln und die Verfahren zurAnerkennung von ausländischen Abschlüssen warennämlich auch nach 60 Jahren Zuwanderung absolut un-terentwickelt. Ich sage: Allein schon aus wirtschaftspoli-tischer Sicht können wir es uns nicht leisten, dass hoch-qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer nur als
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Özcan Mutlu
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Hilfskräfte angestellt werden, weil ihre Abschlüsse nichtanerkannt werden.
Wir können es uns auch nicht leisten, dass die Aner-kennungsverfahren immer noch so ewig lange dauern.Man wird das Gefühl nicht los, Sie wollten hier ein Bü-rokratiemonster erschaffen. Ehrlich gesagt verstehe ichSie auch gar nicht. Normalerweise sind Sie, wenn es umdie Interessen der Wirtschaft geht, immer schnell bei derSache, aber hier leider nicht. Ich sage: Die Anerkennungausländischer Berufsqualifikationen ist auch für die Teil-habemöglichkeiten von Zuwanderinnen und Zuwande-rern in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung.Viele Menschen, die aus den unterschiedlichstenGründen in unser Land gekommen sind, hatten in ihrerursprünglichen Heimat oft eine Ausbildung, einen Ab-schluss und sehr viel Berufserfahrung. Wir müssen dieseBerufsausbildungen und Abschlüsse zum Wohl unsererGesellschaft und auch zum Wohl unserer Wirtschaftschnell und zügig anerkennen.
Das ist auch eine gewaltige Chance für die Integration.Leider muss ich sagen, dass die Anerkennung ausländi-scher Abschlüsse trotz anders lautender Lippenbekennt-nisse, die wir auch heute wieder hören konnten, nur sehrschleppend vorankommt.
In diesem Bericht werden zahlreiche Mängel aufge-zählt, die dringend behoben werden müssen.
Da ist die Rede – wir können gerne gemeinsam daran ar-beiten –
von etlichen Regelungslücken, die zu Unsicherheiten beiden Antragsstellerinnen und Antragsstellern führen. Daist die Rede von einem erheblichen Entwicklungsbedarffür einen möglichst bundeseinheitlichen Vollzug derVerfahren. Da geht es um die uneinheitliche Regelungder Kosten. Flüchtlinge tauchen in Ihrem Bericht nurflüchtig auf, um präzise zu sein: nur mit dem Hinweis,dass sie mit „erheblichen Hürden“ konfrontiert werden,und das nach zwei Jahren. Ich frage Sie: Warum arbeitenSie denn nicht daran, diese Hürden abzubauen?
Diese Flüchtlinge sind oftmals hochqualifiziert und wä-ren auch ein Gewinn für unsere Gesellschaft.Ein anderes wichtiges Thema ist die Nachqualifizie-rung. Hier haben Sie große Lücken hinterlassen, die dieLänder nun selber schließen sollen. Da lassen Sie dieLänder gerne allein.Am meisten ärgert mich an diesem Bericht die Tatsa-che, dass Sie einzig und allein Absichtserklärungen ver-künden oder immer wieder andere zum Handeln auffor-dern. Es fehlt Regierungshandeln! Da verlangen wirmehr von Ihnen.
Wie und wann Sie selber tätig werden wollen, wie Siegemeinsam mit den Bundesländern bestehende und be-kannte Probleme lösen wollen, erfahren wir auch nichtnach Lektüre der 169 Seiten. Die Verfahren zur Aner-kennung ausländischer Berufsabschlüsse sind – ich zi-tiere jetzt wieder aus Ihrem Bericht – zu lang und zwi-schen den Bundesländern zu uneinheitlich.Ich sage: Nach zwei Jahren sollte so etwas nicht mehrin dem Bericht stehen. Setzen Sie sich mit den Bundes-ländern an einen Tisch und lösen Sie zügig die Pro-bleme, statt nur darüber zu reden. Wir brauchen flächen-deckende und funktionierende Strukturen statt einesunsäglichen Zuständigkeitsgerangels. Wir brauchen Ver-einheitlichung, Vereinfachung und Beschleunigung. Ma-chen Sie Tempo! Wir helfen Ihnen gerne dabei.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Cemile
Giousouf, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! In den Zeiten des sogenannten Wirtschafts-wunders vor über 50 Jahren wurden mit Ländern wie Ita-lien, Griechenland und der Türkei Anwerbeabkommenabgeschlossen. Mehrere Millionen Menschen wurdenfür Industriearbeitsplätze benötigt. Sie kamen hierherund arbeiteten gemeinsam am Standort Deutschland aufBaustellen, in Fabriken oder im Bergbau.Heute stehen wir wieder vor der Herausforderung,dass wir Zuwanderung brauchen. Uns fehlen Ingenieure,Facharbeiter, aber auch Ärzte, Pflegekräfte und Lehrer.In meinem Wahlkreis Hagen und im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis fehlten den mittelständischen Unternehmenletztes Jahr 24 000 Fachkräfte. Ohne die Unterstützungaus dem Ausland können wir diese Herausforderungnicht stemmen. Deshalb ist es sehr gut, dass sichDeutschland in den letzten Jahren immer mehr zu einemmodernen Einwanderungsland entwickelt hat.
Deutschland ist für immer mehr Menschen – daruntergut ausgebildete Fachkräfte – eine attraktive Wahlhei-mat. Unser Bundesinnenminister Thomas de Maizièrehat gestern im Rahmen der Diskussion über die Freizü-gigkeit in Europa nochmals deutlich gemacht, dass auchdie Mehrheit der Menschen, die aus den osteuropäischenLändern zu uns kommen, gut ausgebildet ist. Gleichzei-tig fahren aber auch in Deutschland noch viele Inge-nieure und Ärzte Taxi.
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5122 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Cemile Giousouf
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Damit wir all diese Potenziale nutzen können, wurdedas Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht. Es ist inEuropa übrigens einzigartig. Mit diesem Gesetz hat jederAntragsteller einen Anspruch auf Prüfung der im Aus-land erworbenen Qualifikation. Dieser Anspruch giltebenso für Drittstaaten und für Drittstaatenabschlüsse.Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass auch immermehr Flüchtlinge zu uns kommen, ist das eine wichtigeWeichenstellung. Deshalb freut es mich umso mehr, dassdiese neue Kultur der Anerkennung auf eine erfolgreicheRegierungsinitiative der Union zurückgeht.Lieber Herr Kollege Mutlu, wenn das alles, was wirmachen, so schlecht ist: Warum gab es dann kein Aner-kennungsgesetz unter Rot-Grün? Damals gab es nochnicht einmal ein Gesetz, über das wir heute hätten strei-ten können. Nein, das ist eine Initiative einer CDU-Ministerin gewesen, und sie wird von einer CDU-Minis-terin umgesetzt.
Die Bilanz fällt überzeugend aus:Im April dieses Jahres wurde der Bericht zum Aner-kennungsgesetz veröffentlicht. Daraus geht hervor, dassüber 82 Prozent der Berufsabschlüsse als gleichwertiganerkannt wurden, und von den IQ-Beratungsstellenwissen wir, dass das Interesse weiter zunimmt. Allein indiesem Jahr haben über 14 000 Personen ein Beratungs-gespräch geführt. Die Strukturen und Angebote werdenimmer bekannter, und das ist ein Erfolg.Oftmals hören wir die Klage über die hohen bürokra-tischen Hürden. Dazu möchte ich auch klar sagen: Esgeht um die Gleichwertigkeit mit deutschen Berufsab-schlüssen. Die Qualität deutscher Berufsabschlüsse istweltweit anerkannt, und der wirtschaftliche ErfolgDeutschlands hängt in einem nicht geringen Maße davonab. Mit anderen Worten: Diese Qualitätsstandards müs-sen beibehalten werden, auch dann, wenn wir die EU-Berufsanerkennungsrichtlinie in nationales Recht umge-setzt haben werden, was bis 2016 geschehen muss. Wirmüssen den Spagat schaffen, Menschen schnell in denArbeitsmarkt zu integrieren, ohne die Qualität deutscherBerufsabschlüsse zu verwässern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich umein noch junges Gesetz, das trotz seines frühen Erfolgsfortentwickelt werden muss; hier gebe ich den Kollegenrecht. Folgende Punkte möchte ich dabei hervorheben:Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass wir entspre-chende Qualifizierungsmaßnahmen für alle Berufe an-bieten können, um eine volle Anerkennung zu erreichen.Die größte Herausforderung ist hier natürlich die Finan-zierung. Deshalb finde ich es gut, dass das BMAS– kofinanziert mit ESF-Mitteln – entsprechende Berufs-qualifizierungen, für die der Bund zuständig ist, flächen-deckend ermöglichen wird.
Zweitens. Ich halte es für unabdingbar, dass für dieGesundheitsberufe eine zentrale Anlaufstelle auf Bun-desebene geschaffen wird – idealerweise angesiedelt beider Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen beider KMK in Bonn.Drittens. Die Länder müssen einheitliche Verordnun-gen festlegen. Es kann nicht sein, dass für die Anerken-nung unterschiedliche Standards und Hürden festgelegtwerden. Einige Länder schließen Berufe sogar aus derAnerkennung aus, wie das NRW mit dem Lehrerberufmacht. Wir wollen keinen Anerkennungstourismus zwi-schen den verschiedenen Ländern. Das ist nicht im Sinnedieses Gesetzes.
Der vierte Punkt betrifft den Beruf des Lehrers insge-samt. Jetzt müssen der Deutsche Philologenverband unddie GEW etwas tapfer sein; denn ich will folgende Fragestellen: Müssen der Mathematiklehrer aus Warschauoder die Physiklehrerin aus Bratislava, die beide hervor-ragend Deutsch sprechen und ihr fachliches Handwerkaus dem Effeff beherrschen, wirklich noch ein zweitesFach studieren, um in einer staatlichen Schule inDeutschland unterrichten zu dürfen?
Wir sprechen hier immerhin von händeringend gesuch-ten Lehrkräften in Mangelfächern. Andere Länder ken-nen den Lehrer mit zwei Fächern nicht. Sollten wir fürsolche Fälle nicht eine Brücke bauen? Es wäre gut, wenndie Bundesländer sich hier trauen würden, auch einmalneue Wege zu gehen.
Bislang ist dies nur in einem einzigen Bundesland,nämlich in Hamburg, möglich. Hamburg hat bereits imOktober 2010 – noch unter Schwarz-Grün, lieber HerrMutlu – eine Zentrale Anlaufstelle Anerkennung mitESF-Mitteln eingerichtet. Qualifizierungsmaßnahmenwerden durch Stipendien der Stadt Hamburg gefördert.Das könnte als Blaupause für andere Bundesländer die-nen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Es ist ein Gesetz mit einem großartigen Leitge-danken. Wenn selbst die gegenüber dem deutschen Bil-dungssystem notorisch griesgrämigen Bildungsexpertender OECD zu dem Schluss kommen, dass Deutschlandfür Hochqualifizierte alle Türen offen hält,
dann ist das für uns alle ebenso ein Grund zur Freudewie das europaweite Pauken von Deutschvokabeln.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5123
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich erinnere mich noch an Debatten hier im Bundestag,bei denen allein die Darstellung, dass es in Deutschlandrund 400 000 bis 500 000 akademisch gebildete zuge-wanderte Menschen gibt, deren Abschluss nicht aner-kannt wird, große Augen bei allen Kollegen hervorgeru-fen hat.
Dankenswerterweise war es die Universität Oldenburg,die solche Studien durchgeführt hat. Wir können jetztnatürlich daran erinnern, wie Olaf Scholz damals gegenden Widerstand des Kollegen Schäuble gekämpft hatund andere ihrerseits wieder gegen Widerstände anderer.Wichtig ist doch aber, dass es jetzt eine große Überein-stimmung gibt, auch hinsichtlich der operativen Teilbe-reiche, die angegangen werden müssen.Sie haben in einem sehr selbstkritischen Bericht vie-les gelesen, was Staatssekretär Müller und andere auchschon angesprochen haben. Wir werden hoffentlich inzwei Jahren einen anderen, einen besseren Bericht erhal-ten, weil es bis dahin eine bessere Koordinierung zwi-schen den Ländern und zwischen den Beratungsstellensowie vereinfachte Verfahren und hoffentlich auch ein– hier knüpfe ich an Olaf Scholz an – voll ausgebildetesQualifizierungssystem geben wird. Es war ja immer un-ser Wunsch, der Wunsch der SPD, dass es nicht nur dasRecht auf Beratung und das Recht auf Anerkennunggibt, sondern auch das Recht auf Nachqualifizierung.Auf dem Weg dorthin ist das, was Frau Nahles jetzt imNamen der Großen Koalition vorbereiten kann, ein guterund wichtiger Schritt. Wenn das Ganze dann nicht nur inein freiwilliges Programm, sondern in eine Rechtsleis-tung münden würde, dann hätten wir tatsächlich ein sehrmodernes Anerkennungsrecht.Dazu gehört auch – ich nehme das auf, was Frau Heinund Herr Mutlu gesagt haben –, dass uns die Spanne beiden Anerkennungsgebühren, die, wie es im Berichtsteht, von 100 über 600 bis zu 1 500 Euro reicht, dochselber ins Grübeln bringen muss.
Diese Menschen kommen hierher. Sie haben nicht vielGeld, aber Sie haben eine gute Qualifikation. Sie sinddurchschnittlich zwischen 25 und 35 Jahre alt. Sie habenauch noch Familie. Sie wollen sich hier einbringen undsollen dafür am Ende in einem bürokratischen Verfahrenviel Geld aufbringen. Wir müssen uns selber einmal inderen Situation hineindenken und fragen, ob diese Hürdeeigentlich so bleiben muss oder ob man dort nicht etwasändern kann.
Es muss ja nicht unbedingt kostenlos sein, aber zwischen600 und 200 Euro liegt ein Unterschied, auch bezogendarauf, ob man sich einbringt oder nicht.Ich will gerne einen weiteren Gedanken von Ihnenaufnehmen, Herr Mutlu. Ja, das Verfahren soll schnellsein, es soll zügig sein, es soll einfach sein. Es muss aberauch verlässlich und leistungsbezogen sauber sein.
Gerade auf dem Arbeitsmarkt, bei den Handwerkern,den Mittelständlern und anderswo hat sich an der Ten-denz, die aus dem Bericht herauszulesen ist, dass maneben doch – in Anführungsstrichen – der deutschen Qua-lifikation mehr traut als der nachgereichten einge-deutschten Qualifikation, nichts verändert. Wenn es dortZweifel gibt, wenn sich festsetzen sollte: „Das ist einbisschen geluscht“, dann nützt es diesen Menschen janichts. Es muss ja im Gegenteil gerade bei denen, diediese Kräfte aufnehmen sollen, auch eine Bereitschaftgeben und ein hundertprozentiges Vertrauen auf Gleich-wertigkeit bestehen. Dafür wollte ich noch einmal wer-ben. Ich glaube, so haben Sie es auch verstanden. Ichwollte das unterstreichen und noch einmal ausdrücklichsagen: Das liegt jetzt bei uns als Parlamentariern. Wiehalten Sie es? Gehen Sie in die mittelständischen Be-triebe? Fragen Sie nach, ob die dort auch Hilfskräfte miteiner hohen Qualifikation haben, bei denen es an der Er-munterung durch den Chef gefehlt hat, der sagt: „Machdas doch, wir brauchen dich“? Fragen wir das so? Ichglaube, wir können als Abgeordnete in dieser Richtungviel mehr zur Bewusstseinsbildung beitragen, auch inBezug auf die Chancen, die das Anerkennungsgesetzhat.Ich kann mir vorstellen, dass es auch Veranstaltungenzur Anerkennung der Qualifikation geben kann, bei der,ähnlich wie bei der Veranstaltung, in der neuen deut-schen Staatsbürgern die deutschen Pässe verliehen wer-den, das Engagement von Menschen gewürdigt wird, diesich nachqualifiziert haben. Das ist Anerkennungskultur,das ist Willkommenskultur.Mir bleibt noch etwas Wichtiges zu sagen. Wir müs-sen darauf achten, dass keine soziale Spaltung, keineQualifikationsspaltung entsteht. Der Bericht zeigt, dassdenjenigen mit einem höheren Qualifikationsniveau dasAnerkennungsverfahren leichter fällt und sie es meistauch erfolgreich abschließen. Aber bei denjenigen miteinem nicht so hohen Qualifikationsniveau besteht ge-genüber dem Anerkennungsverfahren große Distanz.Gerade bei diesen Menschen müssen wir für das Verfah-ren werben.Das ist vielleicht ein besonderer Schwerpunkt, denman setzen kann. Die Differenz zwischen der akademi-
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5124 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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schen und der beruflichen Bildung, obwohl wir beide alsgleichwertig ansehen, bildet sich auch hier ab: Diejeni-gen, die mit einem akademischen Abschluss hierherkommen, haben es leichter als diejenigen, die mit einemBerufsabschluss zu uns kommen. Das kann es doch nichtsein. Wenn wir die Gleichwertigkeit zwischen akademi-scher und beruflicher Bildung wollen, dann muss dieseauch im Zugang zum Anerkennungsverfahren und denChancen gelten, daraus etwas für sich zu machen.Danke schön.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Katrin Albsteiger für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich freuemich, dass ich als letzte Rednerin in dieser Debatte mei-nen Redebeitrag leisten darf. Noch mehr freut es mich,dass ich zum Anerkennungsgesetz rede, das auf Initia-tive der CDU/CSU entwickelt,
eingebracht, beschlossen und im Jahr 2012 in Kraft ge-treten ist.
Es handelt sich dabei um ein völlig neues Instrumentzur Bekämpfung des Fachkräftemangels in Deutschland.Wenn wir das so sagen und wenn auch in dem Berichtdiese Begriffe auftauchen, dann heißt das nicht, dass wirkeinen Respekt vor der Qualifikation der Fachkräfte ausdem Ausland hätten, ganz im Gegenteil.
Aber es darf doch hier durchaus einmal erwähnt werden,dass wir erkannt haben, dass da Handlungsbedarf be-steht. Das Anerkennungsgesetz ist ein wesentlicher Bau-stein zur Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Das Anerkennungsgesetz ist ein sehr dynamischesGesetz.
Genau deswegen sind wir schließlich hier: Wir diskutie-ren einen Bericht. Das ist der erste Bericht zu diesemjungen, neuen, frischen Gesetz. Es ist doch gerade dasSchöne an diesem Gesetz, dass wir darin ein Monitoringfestgelegt haben. 2011 ist bei den Verhandlungen mitdem Bundesrat die Idee eingebracht worden, die Aus-wirkungen dieses Gesetzes im Rahmen eines Monito-rings zu untersuchen. Uns geht es nicht nur darum, Ge-setze zu machen, sondern auch darum, sie auf ihremWeg konstruktiv zu begleiten.
– Und weiterzuentwickeln, Herr Mutlu. Selbstverständ-lich auch das. – Dieses Monitoring bedeutet, einerseitsdie positiven Ergebnisse der Umsetzung zu benennenund andererseits die kritischen Punkte aufzugreifen undVerbesserungen aufzuzeigen. Genau das ist heute in derDebatte schon in ausreichender Art und Weise passiert.Danke, Herr Staatssekretär Müller, für Ihren Bericht.Die Bilanz ist: Die Ergebnisse dieses Gesetzes sind nachMeinung der Opposition hochdramatisch. Tatsächlich istdas nicht der Fall. Das Gesetz ist eine Erfolgsgeschichte.Zwischen April und Dezember 2012 lagen uns schon11 000 Anträge vor. Das ist schon etwas, aber da ist auchnoch Luft nach oben, keine Frage.
Ich bin sicher, dass dann, wenn wir den nächsten Berichtdiskutieren werden, auch dokumentiert werden wird,dass sich die Zahl der Anträge erhöht haben wird.Das Schöne dabei ist, dass es nicht nur darum geht,die Zahl der Anträge zu erhöhen, sondern es geht auchdarum, dass möglichst viele Anträge anerkannt werden.Mit einer Quote von über 80 Prozent sind wir da auf ei-nem hervorragenden Weg.
Während noch vor anderthalb Jahren erst fünf Bundes-länder ein Anerkennungsgesetz hatten, verfügt heute fastjedes Bundesland über ein solches Gesetz.
Auch das ist eine gute Nachricht. Genau darum ging esuns schließlich in den vergangenen Monaten.Ich möchte einen besonderen Punkt herausgreifen,nämlich die Gesundheitsberufe. Ja, da gibt es Hand-lungsbedarf. Das ist auch ein extrem wichtiger Bereich.
Es ist richtig, dass die bereits beschlossene, länderüber-greifende zentrale Gutachtenstelle aufgrund des beson-ders hohen Aufkommens in diesem Bereich ihre Arbeitaufnimmt. Zur Verbesserung der Situation wird dieseStelle zu einheitlichen Standards und einer besseren Ko-ordinierung beitragen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5125
Katrin Albsteiger
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Gerade uns als Union ist die Gleichwertigkeit der Le-bensbedingungen zwischen Stadt und Land sehr wichtig.In Bayern beispielsweise haben wir das im letzten Jahrnach einem Volksentscheid sogar in unsere Verfassunghineingeschrieben. Das ist schon eine gute Sache. Aberes reicht sicherlich nicht aus, die Verfassung zu ändern,ohne dafür zu sorgen, dass die Gleichwertigkeit der Le-bensbedingungen auch tatsächlich erreicht wird. In die-sem Zusammenhang ist die medizinische Versorgung ge-rade im ländlichen Raum ein wesentlicher Punkt. Dazutragen auch die ausländischen Fachkräfte bei. Insofernleisten wir mit dem Gesetzentwurf einen wichtigen Bei-trag.So viel zum Thema aus deutscher Sicht, aber – das seials letzter Punkt in dieser Debatte benannt – auch die eu-ropäische Sicht ist sehr wichtig. Das Anerkennungsge-setz leistet nämlich auch im europäischen Rahmen einenwichtigen Beitrag. Wir sind uns, glaube ich, darin einig,dass wir nicht nur für die Bekämpfung des Fachkräfte-mangels im eigenen Land zu sorgen haben, sondern auch– das ist unsere Pflicht, aber auch unsere Überzeugung –für die Verwirklichung eines gemeinsamen europäischenArbeitsmarktes.Gerade die Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit machendeutlich, dass es in Europa eine Generation gibt, die wirin dieser Hinsicht möglicherweise verlieren. Auch an derStelle ist es wichtig, nicht immer nur von einem mögli-chen Braindrain zu reden, sondern auch die Chance zusehen, die damit verbunden ist. Wenn ausländische Ar-beitskräfte aus Griechenland, Spanien oder Frankreichauch in Deutschland Arbeit finden, dann ist das ein guterBeitrag. Das Anerkennungsgesetz leistet ebenfalls sei-nen Teil.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen einen schönen Nachmittag.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/1000 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für
eine nachhaltige Entwicklung
– 17. Legislaturperiode –
Drucksache 17/14325
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
hat der Parlamentarische Staatssekretär Stefan Müller
das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ohne Zweifel zueiner breiten Bewegung geworden, die alle Bildungsbe-reiche vom Kindergarten über die Schule bis zum Aus-bildungsbetrieb oder zur Hochschule erfasst. Es ist eineBewegung, die alle Akteure dieser Felder sowie dieNichtregierungsorganisationen und die Wissenschaft er-reicht hat.Der nunmehr vorliegende vierte Bericht zeigt denbreiten Ansatz des Bundes zur Förderung der Bildungfür nachhaltige Entwicklung. Es wird deutlich, dass dieBNE ein eigenständiges Thema innerhalb der Bundesre-gierung ist, das aber auch gewissermaßen interdiszipli-när von den Ressorts aufgegriffen wurde. Der Berichtmacht klar, wie vielfältig die Aufgabenfelder in diesemThemenbereich sind und wie hoch die Verbreitung inden verschiedenen Gruppen der Gesellschaft mittler-weile ist.Die Dekade geht nunmehr zu Ende. Das heißt, wirblicken auf zehn Jahre BNE in Deutschland zurück. ImDezember endet die UN-Dekade „Bildung für nachhal-tige Entwicklung“.Man kann sicherlich mit Fug und Recht sagen, dassdie BNE seit 2005 einen starken Entwicklungsschub er-fahren hat. Das Bundesministerium für Bildung und For-schung hat als federführendes Ressort innerhalb derBundesregierung diese Entwicklung mit gut 9 MillionenEuro gefördert.Unser verlässlicher Partner in dieser Zeit war dieDeutsche UNESCO-Kommission, die der DeutscheBundestag mit der Umsetzung und Koordinierung derDekadeaktivitäten beauftragt hat. Gewissermaßen vonnull auf hundert wurden Arbeits- und Steuerungsstruktu-ren geschaffen, thematische Schwerpunkte gesetzt undgezielt einzelne Bereiche und Themen in den Fokus ge-nommen. Ich will deswegen die heutige Debatte zumAnlass nehmen, den Mitgliedern des eingerichteten Na-tionalkomitees und des einmal jährlich tagenden rundenTisches für ihr Engagement und ihre Arbeit in den ver-gangenen Jahren besonders zu danken.
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5126 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Parl. Staatssekretär Stefan Müller
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Die UN-Dekade hat die BNE in Stadt und Land be-kannt gemacht. Es gibt eine Reihe von im ganzen Landverbreiteten Initiativen, die als UN-Dekadeprojekt aus-gezeichnet wurden, damit eine höhere Sichtbarkeit er-reicht haben und eine verdiente Anerkennung für ihrbemerkenswert hohes – in den allermeisten Fällen ehren-amtliches – Engagement erfahren haben. Es sind beein-druckende Zahlen, die wir zur Kenntnis nehmen dürfen.Über 1 900 Projekte können sich mit der UN-Dekade-fahne schmücken, von dem kleinen Projekt „H2klar-O!“der Jugendfarm Erlangen bis hin zu dem von der Univer-sität Kiel organisierten Bundesumweltwettbewerb. Da-rüber hinaus wurden 49 offizielle Dekademaßnahmenausgezeichnet, die als Leuchttürme wirken und zugleichBNE-Initiativen regional vernetzen. Dabei wurde deut-lich, dass mittlerweile Nachhaltigkeit von vielen Unter-nehmen als Imagefaktor gesehen wird. Wir können sehrfroh darüber sein, dass diese UN-Dekade dazu geführthat, dass dieses Thema auch in der Wirtschaft weit obenauf der Agenda steht.Einen besonderen Erfolg stellen ohne Zweifel die21 prämierten Dekadekommunen dar. Es haben sichkleine und große Kommunen beteiligt. Beispielgebendsind hier die 6 700-Einwohner-Gemeinde Markt Eggols-heim, aber auch die Metropole Hamburg, die den Nach-haltigkeitsgedanken als kommunales Leitthema aufge-griffen haben.
– Bitte.Nach zehn Jahren sollten wir nicht nur Bilanz ziehen,sondern auch sagen, wie es weitergehen soll. In Zukunftwird die Nachhaltigkeit eine ähnlich große Rolle spielenwie in den letzten zehn Jahren. Natürlich spielt, Nach-haltigkeit hier auch eine große Rolle und hat auch in denletzten zehn Jahren eine große Rolle gespielt. Wir wollenStrukturen fördern, die nachhaltige Wirkung entfalten.Dazu hat das BMBF auf Begleitforschung und lokaleNetzwerke gesetzt. Wir haben die Begleitforschung beivier Verbundvorhaben an zehn Hochschulen gefördert,um den Prozess der Dekadeumsetzung wissenschaftlichbegleiten zu lassen. Um vom Projekt zur Struktur zukommen und die einzelnen Aktivitäten dauerhaft zu eta-blieren, gab es einen Wettbewerb zur Förderung von lo-kalen Bildungs- und Kompetenznetzwerken.Bemerkenswert ist, dass das Engagement und die Ar-beit, die wir hier in Deutschland im Bereich der Bildungfür nachhaltige Entwicklung geleistet haben, internatio-nal hohe Anerkennung erfährt. Das ist auch daran zu er-kennen, dass Frau Bundesministerin Johanna Wanka vonder UNESCO-Generaldirektorin eingeladen wurde, diedeutschen Initiativen auf der Weltkonferenz zum inter-nationalen Abschluss der UN-Dekade in Japan im No-vember 2014 zu präsentieren.Wir haben uns im Koalitionsvertrag eindeutig zur Bil-dung für nachhaltige Entwicklung bekannt. Wir wollenuns den Herausforderungen bei der Erfüllung dieser Le-bens- und Gemeinschaftsaufgabe weiterhin stellen. Abermit dem Ende der UN-Dekade liegt nun eine Zäsur vor,die die Neuordnung der Förderung der Bildung für nach-haltige Entwicklung in Deutschland einläutet. Wir wer-den nunmehr im Rahmen des Weltaktionsprogrammsweitere Aktivitäten vorbereiten. Um dieses Programmauf nationaler Ebene umsetzen zu können, ist das BMBFgerade dabei, im Rahmen eines Konsultationsverfahrensdie wesentlichen Akteure einzubeziehen. Zwei Anhö-rungen mit Expertinnen und Experten haben bereitsstattgefunden. Die Herausforderung besteht ohne Zwei-fel darin – das ist vielleicht auch eine Schwäche –, dasses einen großen Reichtum an Fragestellungen, Aufga-benfeldern, Themen und einzelnen Akteuren gibt. Dasmuss auch eine Rolle bei der Vorbereitung der Umset-zung des Weltaktionsprogramms spielen.Ähnliches gilt für den Bericht. Wir denken darübernach, dem nächsten Bericht eine neue Struktur zu geben.Wir könnten uns vorstellen, dass wir im Rahmen desWeltaktionsprogramms die Aktivitäten der verschiede-nen Ressorts noch enger – auch inhaltlich – zusammen-führen und darstellen. Eine Überlegung ist – ohne dassich heute mehr dazu sagen kann –, dass wir in Anleh-nung an den Bundesbildungsbericht die BNE-Aktivitä-ten entlang der Bildungskette darstellen.
Ohne Zweifel wird die Bundesregierung das ThemaBildung für nachhaltige Entwicklung weiter vorantrei-ben. Das erkennen Sie schon im Koalitionsvertrag. Dortbekennen wir uns dazu, dass Bildung für nachhaltigeEntwicklung in allen Bildungsbereichen stärker veran-kert werden soll.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ende dieses Jahres geht sie also zu Ende,die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“,und in jeder Legislatur legte die Bundesregierung einenBericht vor, wie das Thema nachhaltige Entwicklung inden unterschiedlichen Bildungsbereichen untersetztwird. Über fast 80 Seiten werden darin Projekte und Ini-tiativen aller Bundesministerien und der Länder aufge-zählt, und man könnte ob der Fülle schier beeindrucktsein. Die Bundesregierung scheint nach dem Motto zuarbeiten: Wer vieles bringt, wird manchem etwas brin-gen. Ich wage aber zu behaupten, dass die Fülle alleinnoch kein Ausweis für Qualität und schon gar nicht fürNachhaltigkeit ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5127
Dr. Rosemarie Hein
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Darum verstehe ich die Grundkritik des Bündnissesfür Zukunftsbildung. Das ist ein Zusammenschluss vonUmweltakteuren, Gewerkschaften und international agie-renden Verbänden. Sie alle haben sicherlich den Briefbekommen. Das Bündnis kritisiert die Begrenztheit derProjekte. Bildung für nachhaltige Entwicklung werde inDeutschland noch immer einzelnen Personen und Insti-tutionen überlassen, schreibt es in seinem Brief.Es reicht eben nicht, alle Ministerien und Beauftrag-ten der Bundesregierung über ihre Initiativen berichtenzu lassen, wobei alles aufgezählt wird, was irgendwieunter der – ich zitiere den Staatssekretär – Fahne derUN-Dekade versammelt werden kann. Dazu gehören derAusbau der frühkindlichen Bildung – das sicherlich –und die Häuser der kleinen Forscher ebenso wie das Bil-dungs- und Teilhabepaket – dies halte ich übrigens über-haupt nicht für nachhaltig –, aber es wird kein Wort überdie Defizite und Problemsichten verloren. Das fehlt mirin diesem Bericht.Übrigens fehlt erstaunlicherweise auch das Programm„Kultur macht stark“. Da hat das Bildungsministeriumden nachhaltigen Ansatz wohl gar nicht erkannt. Ichfinde, das ist nachhaltig. Ich finde außerdem, dass sicheinige Bereiche, auch in den Ländern, zu einseitig aufökologische, umweltpolitische und globale Fragen kon-zentrieren; dabei geht es bei der Bildung für eine nach-haltige Entwicklung auch um Gerechtigkeitsfragen, umsoziale Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit.Nachhaltig sein heißt nämlich, dass etwas für langeZeit hält oder bleibt. So beschreibt es Wikipedia. Nach-haltig ist im deutschen Bildungssystem aber vor allemdie Ungerechtigkeit beim Zugang zu Bildung, und dashat nachhaltige Folgen für Berufsperspektiven und per-sönliches Wohlergehen. Das hat uns der jüngste OECD-Bericht zum wiederholten Male unter die Nase gerieben.Das ist nichts Neues. Darum sind Fragen des Bildungs-zugangs und des Bildungserfolgs Nachhaltigkeitsfragen.Ich verstehe nicht, warum immer noch über 100 000 Schü-lerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss jedes Jahrim Übergangssystem geparkt werden, wenn wir landauf,landab über einen Fachkräftemangel klagen.Das Bundesministerium der Verteidigung hatte es imÜbrigen wirklich schwer, etwas zum Bericht beizusteu-ern. In den 45 mageren Zeilen kommt das Wort „Um-weltschutz“ genau achtmal vor. Das sollte man loben.Entschuldigung, aber ich kann an dieser Stelle nur sar-kastisch sein. In meinem Bundesland baut die Bundes-wehr gerade in der einzigartigen Colbitz-LetzlingerHeide eine Geisterstadt mit U-Bahn für die Ausbildungzu Kriegseinsätzen. Das hat doch nichts mit Umwelt-schutz zu tun. Wenn dann noch in den Schulen für denDienst in der Bundeswehr geworben wird, ist das keineBildung für eine nachhaltige Entwicklung. Diese Kritikmuss an dieser Stelle sein.Doch es werden in dem Bericht auch sehr viele inte-ressante Initiativen genannt, die verstetigt werden soll-ten. Aber wie das geschehen soll, darüber liest mannichts. Auch aus der Rede des Staatssekretärs haben wirnichts erfahren können. Vielleicht hofft die Bundesregie-rung auf Erleuchtung auf der Abschlusskonferenz in derkommenden Woche in Bonn, oder Frau Ministerin bringtIdeen aus Japan mit. Auch das könnte sein. Vielleichtnehmen Sie auch die nachdenklichen Töne aus einigenLändern auf, wie die vom Kultusministerium aus Sach-sen-Anhalt, das das „inflationäre Nebeneinander vonThemen“ – das war ein Zitat – kritisierte.Vielleicht lesen Sie auch noch einmal nach, was derBeauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Be-hinderungen geschrieben hat, nämlich dass der – Zitat –„Erwerb von eigenverantwortlichen und nachhaltigenHandlungsoptionen … nicht in einem separierenden undausgrenzenden Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitssys-tem gelingen“ wird.Und vielleicht verbinden Sie das auch mit der im Be-richt zu lesenden Einsicht, dass Nachhaltigkeit schon beider Planung von Schulgebäuden, bei der Rhythmisie-rung des Schulalltags und bei der Bereitstellung einesgesunden Schulfrühstücks und Schulmittagessens be-ginnt und ebenso notwendig ist wie soziales Lernen, de-mokratische Beteiligung und Bildungsthemen wie Ener-giewende, nachhaltige Lebensweise, Mobilität undbiologische Vielfalt.Da haben wir ein gewaltiges Arbeitspensum, und dieBundesregierung kann sich da nicht herausreden mitdem Verweis auf Länderzuständigkeiten und auch nichtmit dem Hinweis darauf, dass man die Finanzierung desBAföG jetzt komplett übernimmt.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Saskia Esken,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren!Planst du für ein Jahr, so säe Korn, planst du für einJahrzehnt, so pflanze Bäume, planst du für ein Le-ben, so bilde Menschen.So machte schon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrech-nung der chinesische Philosoph Kuan Chung Tzu deut-lich: Bildung und Nachhaltigkeit gehören untrennbar zu-sammen.Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Müll-vermeidung, Mülltrennung, Recycling von Wertstoffen –vor 20 Jahren waren diese Begriffe eng abgegrenzten,wohlinformierten Kreisen vorbehalten. Heute sind dieDeutschen Weltmeister im Mülltrennen. Wir recyceln,was das Zeug hält, und die Wissenschaft beginnt, dieTage zu zählen, bis es lukrativ sein wird, alte Deponienauszuräumen und das Material dem Recycling zuzufüh-ren.Wie ist dieses Kunststück gelungen, liebe Kollegin-nen und Kollegen? Sicher gibt es hier den einen oder dieandere, der oder die sich diese Entwicklung gerne als Er-folg der eigenen Gesetzgebung auf die Fahnen schreibenwürde, und das ist ja auch nicht ganz von der Hand zu
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5128 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Saskia Esken
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weisen. Die Umweltgesetzgebung und ihre Regelungenzum Umgang mit Abfall, die uns heute selbstverständ-lich erscheinen, waren zur Zeit ihrer Entstehung undDurchsetzung nicht unumstritten. Es war eine rot-grüneKoalition, die diese Gesetzgebung vorangetrieben hat.Damit hat sie nicht nur zum Schutz der natürlichen Le-bensgrundlagen, sondern am Ende auch zur wirtschaftli-chen Stärke unseres Landes beigetragen.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Gesetzgebung ge-lingt es kaum, innerhalb von 20 Jahren, also in so kurzerZeit, Gewohnheiten zu verändern und einen Wandel derHaltung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Die-ses Kunststück haben Bildungseinrichtungen vollbracht.Sie haben die Entstehung, Vermeidung und Trennungvon Müll thematisiert. Die Kinder lernten verschiedeneMüllsorten kennen und trennen und wurden sich so derKonsequenzen des eigenen Verhaltens bewusst.Also: Schulkinder haben im täglichen Handeln ge-lernt, was ökologische und gesellschaftliche Verantwor-tung bedeuten – und das mit viel Erfolg. Was haben dieKinder dann gemacht mit ihrem neuen Wissen? Sie ha-ben es nach Hause getragen zu ihren Eltern, zu ihrenGroßeltern, und damit hat eine einzige Schülergenera-tion eine ganze Gesellschaft weitergebildet.
Sehr geehrte Damen und Herren, diese kleine Anek-dote zeigt: Bildung ist Nachhaltigkeit. Die Nachhaltig-keitsstrategie einer Regierung kann ökologische, ökono-mische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit zurobersten Maxime des Regierungshandelns machen, Ge-setze und Verordnungen hervorbringen und Beiräte ein-richten; um diese Haltung auch in der Gesellschaft zuverankern, ist Bildung notwendig.Als Sozialdemokratin ist mir in diesem Vierklang diesoziale Nachhaltigkeit ein besonderes Anliegen. DasAugenmerk wird hier auf die zukunftsfähige, zwischenGenerationen, Kulturen und Geschlechtern ausgegli-chene gerechte Entwicklung einer Gesellschaft gerichtet.Für eine nachhaltig sozial stabile Gesellschaft müssenwir Chancengleichheit für alle Menschen und insbeson-dere für Kinder und Jugendliche anstreben, die Integra-tion von Menschen jedweder Herkunft und Kultur för-dern, auch von all denen, die heute noch draußen stehen,und für gleiche Rechte für Frauen und Männer sorgen.
In Deutschland ist es deshalb an der Zeit, die sehr gutenAnsätze, die heute schon in vielen Bildungseinrichtun-gen für die Verankerung der Nachhaltigkeit in der Ge-sellschaft sorgen, zu verstärken und zu verstetigen.Wie das aussehen könnte, zeigt sich derzeit in Baden-Württemberg bei der Entwicklung eines neuen Bildungs-plans. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wird einesder fünf Leitprinzipien darstellen, also über alle Fächerhinweg Basis der Erziehung und Bildung sein. Ver-gleichbare Schritte wurden auch in anderen Bundeslän-dern vollzogen, sodass wir sagen können: Ein Anfang istgemacht.Sehr geehrte Damen und Herren, auch wenn die zuEnde gehende UN-Dekade eine globale Verantwortungfür die Bildung für nachhaltige Entwicklung nahelegt,haben wir in den Industriestaaten doch eine ganz beson-dere Rolle zu spielen. Viele Jahrzehnte haben wir denWohlstand unserer Hemisphäre aufgebaut, ohne Rück-sicht auf den Ressourcenverbrauch, auf die Umwelt oderauf die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen derMenschen in aller Welt.Auch heute noch verbraucht Deutschland ein Vielfa-ches der Ressourcen, die uns, global betrachtet, zustehenwürden. Wir selbst spüren die Folgen dieses Raubbauskaum, doch die Menschen in den Entwicklungsländernleiden darunter. Hier fehlt das saubere Trinkwasser. Hierfehlt das Getreide, das wir für die Fleischerzeugung ver-brauchen. Und hier fehlt das Geld, um sich gegen dieVeränderung des Klimas zu schützen. Seien wir ehrlich:Diese Welt würde nicht mehr lange existieren, wenn sichalle nach der Art der Industrieländer entwickeln würden.
Als Bildungspolitikerin möchte ich es nicht versäu-men, darauf zu verweisen, dass zu einer nachhaltigenEntwicklung auch eine nachhaltige Bildung selbst, alsoeine Nachhaltigkeit der Bildung, gehört. Dabei geht esimmer weniger um die Vermittlung eines Wissens-kanons. Angesichts einer Wissensgesellschaft im Wan-del ist es notwendig, dass junge Menschen zukunftsfä-hige Kompetenzen entwickeln können und dazu befähigtund motiviert werden, ein Leben lang weiter zu lernen.Das sogenannte Bulimie-Lernen, also die Aneignungvon Stoff ausschließlich für eine Prüfung, muss endlichder Vergangenheit angehören; denn das ist das Gegenteilvon Nachhaltigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr-ten Damen und Herren, mit der Bildung für nachhaltigeEntwicklung nehmen wir uns vor – um das Zitat vomAnfang meiner Rede nochmals aufzugreifen –, für dieDauer eines ganzen Lebens zu planen und darüber hi-naus. Wer Verantwortung für die Zukunft übernehmenwill, muss Nachhaltigkeit zur obersten Maxime machen.Bildung für Nachhaltigkeit ist der Weg dorthin.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die KolleginBeate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge-borgt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5129
Beate Walter-Rosenheimer
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So alt dieses indianische Sprichwort auch sein magund so häufig es schon zitiert worden ist, so ist es dochimmer noch ein wahres Wort, das sehr knapp zusammen-fasst, um was es bei Nachhaltigkeit und nachhaltiger Bil-dung geht: Wir alle haben die Verantwortung gegenüberunseren Kindern, diese Erde für sie lebenswert zu erhal-ten.Leider hat sich die Regierung reichlich Zeit gelassen,den Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklungvorzulegen. Wenn wir die Haushaltswochen abziehen,dann sind schon zehn Sitzungswochen vergangen. Ichhoffe nicht, dass das etwas mit dem Stellenwert zu tunhat, den dieses Thema für Sie hat.
Bildung für nachhaltige Entwicklung – kurz: BNE –,das heißt lernen, unsere Zukunft so zu gestalten, dass un-sere Kinder und unsere Enkel auch nach uns noch guteLebensbedingungen haben.
Bildung für nachhaltige Entwicklung, so dieUNESCO, vermittelt Kindern, Jugendlichen, aber auchErwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln. Sieversetzt Menschen in die Lage, Entscheidungen für dieZukunft zu treffen und dabei abschätzen zu können, wiesich das eigene Handeln auf künftige Generationen oderdas Leben in anderen Regionen dieser Erde auswirkt.Die UN-Dekade für BNE läuft in ein paar Wochenaus. Wir haben das schon gehört. Viele Lehrkräfte,Ehrenamtliche, Nichtregierungsorganisationen, Unter-nehmen und Stiftungen haben einen ganz entscheiden-den Beitrag dazu geleistet, dass Nachhaltigkeit mehr undmehr in den Schulen, außerschulischen Lernorten undKommunen thematisiert wird. Das verdient unserenRespekt und unsere Anerkennung.
Es ist ein starkes Zeichen, dass BNE seit dem erstenAnstoß durch die rot-grüne Bundesregierung im Jahr2004 ganz unabhängig von politischen Machtverhältnis-sen immer gemeinsames Ziel war. Das hat sicherlichSeltenheitswert und zeigt, dass BNE ein Kernziel für unsalle ist.Herr Müller, Sie sprachen vorhin davon, dass dasKonzept sehr breit aufgestellt sei. Aber: Der Bericht so-wie zahlreiche andere Analysen, Studien und Empfeh-lungen zeigen uns vor allem auch eines: Eine systemati-sche Verankerung des Bildungskonzepts steht nach wievor aus. Das wollen wir ändern.
Auch die UNESCO-Zukunftsstrategie „BNE 2015+“konstatiert – ich zitiere –: Das eigentliche Ziel der vonden Vereinten Nationen ausgerufenen Dekade wurde oftnur punktuell und eher modellhaft erreicht.Der Begriff selbst ist nach wie vor – das wissen Sieauch – hauptsächlich der Fachöffentlichkeit bekannt.Dabei ist es doch ein Bildungskonzept, das für uns allevon entscheidender Tragweite ist.Eines sollte uns allen klar sein: Nachhaltigkeit ist nurmit Bildung zu haben. Das haben Sie schon gesagt.
Gerade die, die BNE als Multiplikatoren vorantreibenkönnten, also die Erzieherinnen, die Lehrerinnen – dieLehrer und Erzieher natürlich auch –, konnten in unserenAugen nicht genügend erreicht werden. Ja, auch davonhaben Sie, Herr Müller, gesprochen: Es gab ein starkes,ein bewundernswertes zivilgesellschaftliches, ehrenamt-liches Engagement, und davor ziehen wir den Hut. Aberdennoch, denke ich, können wir den Auftrag nicht alleinden Ehrenamtlichen überlassen, dürfen wir uns nicht al-lein auf sie verlassen; hier ist auch die Politik stärker ge-fragt.
Damit BNE wirklich gestärkt wird, braucht es ver-bindliche Strukturen für mehr Planungssicherheit undnatürlich ausreichende Finanzmittel, um diese Struktu-ren zu schaffen. Für meine Fraktion ist klar: Das Koope-rationsverbot stand der Bundesunterstützung für dieseStrukturen, für die flächendeckende strukturelle Umset-zung im Weg.Von Bundesland zu Bundesland unterscheidet es sichsehr stark, wie sehr Bildungseinrichtungen den Fokusauf Nachhaltigkeit richten. Wir stehen also immer nochvor großen Herausforderungen. Im November 2014– wir haben es schon gehört – soll mit dem Weltaktions-programm der UNESCO ein neuer Anstoß für Bildungfür nachhaltige Entwicklung gegeben werden. Wir Grü-nen hoffen, dass die Bundesregierung aus den Proble-men in der Umsetzung des Bildungskonzepts ihre Leh-ren zieht und das Weltaktionsprogramm in Deutschlandbesser unterstützt.An dieser Stelle will ich Sie an die Zusagen aus 2013erinnern und hoffe umso mehr, dass sie auch für die ak-tuelle Bundesregierung gelten. 2013 versprach Bundes-ministerin Wanka, dass weiterhin Geld und Ideen in die-sen Bereich fließen werden. Gerade jetzt, vor demHintergrund der Haushaltsberatungen, darf ich vielleichtdaran erinnern, dass damals in einer Regierungsbefra-gung ein Aufwuchs an Mitteln für BNE in Aussicht ge-stellt wurde.Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Ihnen die Ver-ankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung inDeutschland weiter voranzutreiben. Denn, wie die Deut-sche UNESCO-Kommission es beschreibt, BNE lehrtMenschen, vor allem Kinder und Jugendliche: MeinHandeln hat Konsequenzen – nicht nur für mich undmein Umfeld, sondern auch für andere. Ich kann etwastun, um die Welt ein Stück zu verbessern.Gemäß dem aktuellen Jahresthema der UN-Dekade inDeutschland sage ich: Lassen Sie uns Brücken in die Zu-kunft bauen und uns weiter gemeinsam für einen lebens-werten Planeten für nachkommende Generationen ein-setzen. Denn wir brauchen Kompetenzen in diesemLand. Dies sind vorausschauendes Denken, interdiszipli-
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5130 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Beate Walter-Rosenheimer
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näres Wissen, autonomes Handeln und Partizipation angesellschaftlichen Entscheidungsprozessen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Claudia
Lücking-Michel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Freitagnachmittag, vorletz-ter Tagesordnungspunkt, und ein Blick auf die Uhr zeigt:Wir haben schon lange nicht mehr fünf vor, sondern weitnach zwölf. Jetzt reden wir über das Thema Nachhaltig-keit, und es ist wichtiger als je zuvor.Das galt schon 1992 bei der UNO-Konferenz. ZumGlück können wir sagen: Seitdem ist viel passiert; aber– darin sind wir uns heute Nachmittag offensichtlich ei-nig – viel bleibt auch noch zu tun. Entscheidend auf demlangen Weg war die Erkenntnis, dass es um Bildung fürnachhaltige Entwicklung gehen muss, dass man an die-ser Stelle den Hebel ansetzen muss.Wenn die UN-Dekade für nachhaltige Bildungnächste Woche mit einer Konferenz in Bonn zu Endegeht oder wenn wir hier heute Nachmittag schon denvierten Bericht zur Bildung für nachhaltige Entwicklungdiskutieren, dann zeigt sich, dass aus dem ursprüngli-chen Gedanken, dass umwelt- und entwicklungspoliti-sche Bildung zusammengehören, mittlerweile ein um-fassendes Konzept geworden ist, ein Konzept, das alleRessorts, alle Fächer betrifft: Biologie, Chemie, Geogra-fie, Politik. Es betrifft alle formalen und informellen Bil-dungsorte. Was eigentlich nicht?Von der Idee, ausgediente Telefonzellen als Bücher-box wiederzuverwerten, über Mitarbeiterfortbildung fürdie Stadtverwaltung einer „fairen Stadt“ bis hin zu denHochschulen für nachhaltige Entwicklung: Alles ist Bil-dung für nachhaltige Entwicklung; alles findet sich indiesem Bericht und gehört zum Konzept.Eine Herausforderung will ich benennen. So typisches für Querschnittsthemen ist, dass sie überall durchde-kliniert werden müssen, so liegt auch im Erfolg die Ge-fahr. Denn wenn alles für BNE wichtig ist, dann müssenwir aufpassen, dass bald nicht alles auch irgendwiegleich unwichtig ist. Wenn wir sagen: „Bildung für nach-haltige Entwicklung wird jetzt zum Qualitätskriteriumfür gute Bildung überhaupt“, dann ist das richtig. Dochpassen wir auf, dass sich das Thema nicht auflöst – undzwar nicht unbedingt in Wohlgefallen.Deswegen drei Anmerkungen zum Bericht an dieserStelle von meiner Seite:Erstens. Wenn wir in Zukunft mehr erreichen wollen,dann dürfen wir uns nicht im Abstrakten der Konzepteverlieren, sondern müssen aufpassen, dass wir nah beiden Menschen bleiben.
Wesentlich ist doch die innere Grundhaltung, mit der je-weils geforscht wird, Inhalte entwickelt werden und un-terrichtet wird. Ein „Nach mir die Sintflut“ darf es nichtgeben. Vielmehr müssen wir die Botschaft durchbuch-stabieren, dass jede und jeder Einzelne von uns Verant-wortung hat für die Zukunft unserer Welt und die Men-schen.
Es geht um Aufklärung, um Bewusstsein und vor allemum Haltung und Motivation zum Handeln.Zweitens. Um diese Grundhaltung wirklich bei denMenschen zu verankern, müssen wir voneinander wis-sen. Internet, Facebook und Wikipedia ersetzen dochnicht direkte Begegnungen, gemeinsame Erfahrungenund Reflexion.
Programme wie ENSA für den Schüleraustausch, Ser-vice-Lernen mit „weltwärts“, Exposure- und Dialog-Programme oder der Senior Experten Service sind des-halb so wichtig und müssen unbedingt ausgebaut wer-den.Drittens. Ich appelliere dringend, die erfolgreichen in-ternationalen Projekte, die im Bericht genannt werden,zum Beispiel bei der GIZ, weiterzuführen. Im neuenWeltaktionsprogramm zu Bildung für nachhaltige Ent-wicklung sollten wir gerade bei der internationalen Zu-sammenarbeit unseren Schwerpunkt setzen.
Bildung für nachhaltige Entwicklung – das müssen wirnoch viel stärker im Dialog mit unseren Partnern im Sü-den verankern. Unsere Partnerländer erwarten da aucheinen konsequenten Beitrag Deutschlands.Dafür zum Schluss ein sehr konkretes und hoffentlichanschauliches Beispiel: Cita Mabalylan ist eine philippi-nische Bäuerin, die ich auf ihrer kleinen Farm auf Min-danao besuchen durfte. Auf dem Weg zu ihr waren wirkilometerlang durch riesige Ananasplantagen gefahren,die direkt bis an ihre Erdnussfelder reichten. Doch sieselbst wusste gar nicht, was sich da draußen abspielte:wie sich die Landschaft verändert hat, was Del Monte al-les auf die Felder spritzt und welche Gefahren für ihreeigene Landwirtschaft da lauern. Die Autofahrt vomFlughafen, die für uns das letzte Stück einer Anreise umdie halbe Welt gewesen war, war für unsere Gastgeberinlänger als alles, was sie bisher in ihrem Leben zurückge-legt hatte. Kaanib, eine Partnerorganisation von Mise-reor, entwickelte daraufhin für die Bauern ein Konzeptfür nachhaltige Entwicklung. Der Unterricht begann miteiner Fahrt über Land.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Der Bericht der Bundesregierung zeigt viele überzeu-
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Dr. Claudia Lücking-Michel
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gende Erfolge. Aber das Ende der Dekade darf nicht dasEnde unserer Anstrengungen sein. Bildung für nachhal-tige Entwicklung ist wichtiger als je zuvor. Dabei müs-sen wir in Zukunft verstärkt auf internationale Partner-schaften und Perspektiven setzen. Das ist wichtiger als jezuvor.Vielen Dank.
Als nächster Redner spricht Oliver Kaczmarek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich möchte vier Anmerkun-gen zu Impulsen politischer, insbesondere bildungspoli-tischer Art machen, die ich der Dekade „Bildung fürnachhaltige Entwicklung“ entnehmen kann.Erste Anmerkung. Vorbildliche Bildungsinitiativen– Herr Staatssekretär Müller hat schon darauf hingewie-sen – sind als Dekade-Projekte und Dekade-Maßnahmenausgezeichnet worden, und es sind Dekade-Kommunenausgezeichnet worden. Sie alle, im Übrigen auch die, dienicht ausgezeichnet wurden, spiegeln den Reichtum desbürgerschaftlichen Engagements in dem Themenfeld derBildung für nachhaltige Entwicklung wider. Sie habendazu beigetragen, dass das Anliegen der nachhaltigenEntwicklung nicht in der Theorie verbleibt – ich erinnerehier insbesondere an die Naturschutzverbände –, son-dern konkret im Alltag erfahrbar wird. Deswegen stelleich an den Anfang den Dank für das ehrenamtliche En-gagement in diesem Bereich.
Zweite Anmerkung. Bildung für nachhaltige Ent-wicklung soll Orientierung in globalen Krisen geben.Globale Krisen, Klimawandel und andere Dinge, verun-sichern die Menschen, weil deren Ursachen nicht in ih-rem Alltagsraum zu finden sind. Im lokalen Maßstabund im lokalen Bezugsraum kann deshalb auch Hand-lungsspielraum aufgezeigt werden. Insofern soll Bildungfür nachhaltige Entwicklung auch Orientierung liefern,soll Erklärungen liefern, soll zu Kritikfähigkeit anregen,soll zu konstruktivem Denken und zu Alternativen anre-gen. Deshalb: Bildung für nachhaltige Entwicklung trägtso zur allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung und zurkritischen Urteilsfähigkeit bei. Ich bin froh, dass dieseherausragenden Ziele unserer Bildungspolitik in diesemFall konsequent erreicht werden.
Dritte Anmerkung. Der Abschluss der Dekade „Bil-dung für nachhaltige Entwicklung“ liefert Erkenntnisseund Herausforderungen, die wir bildungspolitisch nut-zen können, und zwar im globalen wie auch im nationa-len Maßstab. Was den globalen Maßstab angeht, möchteich darauf hinweisen, dass die Zielsetzungen auf demAgenda-21-Prozess beruhen. Dort ist im Kapitel 36 dieNotwendigkeit einer Neuausrichtung der Bildung füreine nachhaltige Entwicklung niedergelegt. Hier werdenganz konkrete Ziele aufgeführt, von denen ich zwei be-nennen will.Dort ist als Ziel beschrieben, dass wir sicherstellenwollen, dass weltweit mindestens 80 Prozent der Jungenund mindestens 80 Prozent der Mädchen im Primar-schulalter an Grunderziehung teilhaben. Ebenfalls istdort festgelegt, dass die Quote der Analphabeten welt-weit um 50 Prozent gegenüber 1990 gesenkt werdenmuss. Das zeigt, dass es hier um ganz elementare Rechtegeht. Nach unserem Bildungsverständnis ist das Rechtauf Lesen und Schreiben, das Recht auf einen unge-hinderten Schulbesuch für Jungen und Mädchen fürDeutschland und die deutsche Politik zentral und univer-sal. Deshalb: Niemand darf vom Besuch der Schule aus-geschlossen werden. Auch das lehrt uns diese Dekade.Das bleibt eine herausragende Aufgabe für Deutschlandim globalen Maßstab.
Was den nationalen Maßstab angeht, so gibt es hiereinige Dinge, die wir aus der Durchführung der Projekteableiten können. Zwei möchte ich benennen. Die He-rausforderung ist: Ja, der Analphabetismus, vor allemder funktionale Analphabetismus, ist auch ein deutschesPhänomen. Wir wissen: Es gibt 7,5 Millionen Betroffeneim erwerbsfähigen Alter. Und deswegen ist das, was wirim Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben, nämlicheine nationale Alphabetisierungsdekade zu beginnen, dierichtige Antwort und ein gutes Zeichen. Wir sollten unsauch in den anstehenden Haushaltsberatungen bemühen,das auszugestalten und endlich damit anzufangen.
Die zweite Herausforderung im nationalen Maßstab.Gerade die Umsetzung zeigt – im Bericht der Bundesre-gierung sind einige interessante Hinweise enthalten –,dass wir in den Bildungseinrichtungen Zeit brauchen,um Themen abseits des standardisierten Kanons, wie ersich in Curricula, Kernlernplänen usw. niederschlägt,einbeziehen zu können. Der Bericht der Bundesregie-rung hält das auch fest und sagt vollkommen richtig:Deshalb sind Ganztagsschulen ganz besonders wichtigund ganz besonders geeignet. – Ich freue mich, dass derBericht der Bundesregierung zu Recht die Bedeutungdes Investitionsprogramms „Zukunft, Bildung und Be-treuung“ aus dem Jahr 2003 hervorhebt, mit dem über8 000 Ganztagsschulen in Deutschland geschaffen wur-den.
– Ja. – Ganztagsschulen sind ein prägnantes Beispiel da-für, wie Schulen Raum für mehr Lernen und mehr Lebenund damit auch für mehr Bildung schaffen. Deswegenmüssen wir auf dem Weg weitermachen: quantitativerAusbau, qualitativer Ausbau. Der Bund hat mit der Un-terstützung der Begleitforschung die Möglichkeit, einen
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Oliver Kaczmarek
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substanziellen Beitrag zu leisten, damit wir mehr überGanztagsschulen wissen. Das sollten wir angehen.
Letzte Anmerkung. Man kann viel lernen aus der De-kade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ für die Ge-staltung von Bildungsprozessen – das ist die Zielsetzung –,aber auch für Politikentwicklung. Beteiligungsorientie-rung – viele Akteure sind einbezogen worden, vor allemdie ehrenamtlichen –, globale Probleme in Netzwerkenlokaler Art aufgreifen, Umsetzung in langen Zeiträumen– nicht kurzatmig –, Dekadenorientierung, Interdiszipli-narität: All das sind Dinge, die wir aus der Umsetzungdieser Dekade lernen können. Wenn wir das tatsächlichtun und es lernen, haben wir nicht nur etwas über nach-haltige Bildung, sondern auch etwas über nachhaltigePolitik gelernt.Vielen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Matern von Marschall das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich, dass ich als Mitglied im Parla-mentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung dieseDebatte heute abschließen darf.Ich möchte, vielleicht durchaus im Einklang mit denKolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen, sagen:Wir sind auf einem guten Weg. Es gibt eine Fülle vonEinzelinitiativen. Aber wir sind tatsächlich noch weit da-von entfernt, nachhaltige Bildung – bis hinunter in dieLänder und Kommunen – systematisch zu etablieren.Das wird eine Aufgabe für die Zukunft sein.
Darüber hinaus – das sage ich als Europapolitiker –brauchen wir nicht nur in Deutschland eine Nachhaltig-keitsstrategie, zu der auch Bildung zählt. Wir brauchensie insbesondere auf europäischer Ebene. Wir müssen inEuropa eine gemeinsame Strategie zur Nachhaltigkeitüberhaupt erst einmal entwickeln. Daran werden wir imParlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit arbeiten,und zwar schon in Kürze.
Die Einzelinitiativen vor Ort, die sehr viel mit unmit-telbarer Erfahrung zu tun haben, ohne die so etwas garnicht funktionieren kann, sind unglaublich wichtig.Wenn ich die jungen Menschen, wie wir sie hier heuteals Zuhörer haben, sehe, dann stelle ich mir eine Schul-klasse vor, die eine Streuobstwiese pflegt und später dortÄpfel ernten kann. Wenn man so etwas macht, weißman, dass man Ressourcen schont, dass man Naturschont und dass man aber auch ein Wirtschaftsgut er-zeugt hat. Das sind viele Einzelbeispiele für das, wasNachhaltigkeit ist.Auf der Tribüne sehe ich auch viele Leute, die schöneT-Shirts tragen. Viele Menschen müssen heute aber ersteinmal lernen, zu verstehen: Wo kommt das T-Shirtüberhaupt her? Unter welchen Bedingungen ist es produ-ziert worden? Was hat die Näherin bekommen? Was hatder Handel bekommen? Was bekommt eigentlich der,der das Label draufdruckt? Das sind ganz wichtige Fra-gen. Diese Fragen müssen in der Bildung zur nachhalti-gen Entwicklung gestellt und beantwortet werden. Dennnur dadurch lernt der Einzelne, persönlich Verantwor-tung zu übernehmen. Das ist von wesentlicher Bedeu-tung.
Ich möchte auch sagen, dass der Begriff der Nachhal-tigkeit ein Konzept beschreibt, das vielleicht nicht über-all das Gleiche ist. Darüber müssen wir sprechen, insbe-sondere auch mit Blick auf Europa. Ob „durabilité“ und„Nachhaltigkeit“ tatsächlich dasselbe Konzept beschrei-ben, wird erst herauszufinden sein. Ich könnte mir vor-stellen und wünsche mir, dass „Nachhaltigkeit“, viel-leicht ähnlich wie „Kindergarten“, ein Lehnwort inanderen europäischen Sprachen wird. Darüber würde ichmich sehr freuen.Ich komme aus Freiburg. Dort planen wir einen ober-rheinischen Hochschulverbund mit dem Elsass in Frank-reich und der Schweiz. Das ist ein europäisches Projekt.Herr Staatssekretär, ich meine, dass Forschung über dasThema Nachhaltigkeit von größter Bedeutung ist. Viel-leicht könnte ein Leistungszentrum für die Forschungüber Nachhaltigkeit bei uns in Freiburg aufgebaut wer-den.Ich komme auf die europäische Ebene zurück. DerParlamentarische Beirat wird in Kürze nach Brüssel rei-sen. Wir werden den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker daran erinnern, dass er im vergangenenJahr, als Kofi Annan von Bertelsmann den Preis fürNachhaltigkeit erhielt, bei seiner Laudatio Folgendes ge-sagt hat – ich zitiere es jetzt –:Die schönste … Definition von Nachhaltigkeit …bringt uns nicht weiter, wenn wir Nachhaltigkeitnicht auch politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlichund … persönlich umsetzen. … Europa muss beidiesem Prozess voranschreiten.
In dieser Aussage wollen wir Herrn Juncker bestäti-gen. Wir wollen ihn aber auch herausfordern. Das wirddie Aufgabe sein, die sich der Parlamentarische Beiratfür Nachhaltigkeit in diesem Bereich gestellt hat. Das istganz wichtig, weil wir in Europa, auch und gerade inZeiten von Krieg und Terror, das Prinzip der Nachhaltig-keit, welches auch ein Prinzip von Kooperation und
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Matern von Marschall
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Friedlichkeit ist, besonders ernstnehmen müssen und esnicht hinter all die anderen aktuellen, wichtigen und dra-matischen Aufgaben hintanstellen dürfen. Denn nurdann haben wir die Möglichkeit, unseren Kindern undEnkelkindern eine Welt zu hinterlassen, in der auch siedie Chance auf ein gelingendes Leben haben.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung auf Drucksa-
che 17/14325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE sowie der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Claudia Roth , Dr. Frithjof Schmidt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen stop-
pen – Für neue Verhandlungen ohne Druck
und Fristen
Drucksache 18/2603
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachhaltige Entwicklungsziele der Vereinten
Nationen – Soziale Ungleichheit weltweit über-
winden
Drucksachen 18/1328, 18/1916
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verhandlungen über die Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen – Neustart ohne Drohun-
gen und Fristen
Drucksachen 18/1615, 18/2073
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
ter Rednerin Heike Hänsel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir besprechen heute als letzten Tagesordnungspunktdieser Woche die großen Zukunftsfragen der Welt unddamit eigentlich die wichtigsten Fragen – leider ganz amEnde der Sitzungswoche. Es geht um globale Ziele, diesich die Weltgemeinschaft ab 2015 gemeinsam steckenwill, die sogenannten nachhaltigen Entwicklungsziele,auf Englisch: Sustainable Development Goals, allge-mein abgekürzt als SDGs. Das sage ich für die Gäste,weil ich mir sicher bin, dass viele noch nicht davon ge-hört haben.Ein erster Entwurf dieser Ziele wurde im Rahmen derUN-Generalversammlung vorgestellt, die zurzeit tagt. Esgeht um 17 nachhaltige Entwicklungsziele. Ganz obensteht natürlich das Ziel, die Armut zu überwinden. Wirmüssen die weltweiten Ressourcen schonen, den Klima-schutz vorantreiben und die weltweite Ungleichheit be-kämpfen. Es geht um Zielvorgaben, die für die Länderdes Südens, aber genauso für die Industrieländer geltensollen.Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, noch vorder Sommerpause, also schon vor einigen Monaten, weilwir über dieses Thema hier im Parlament diskutierenwollten. Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, istdie Frage der Partizipation, der Beteiligung. Alle warensich einig – es gab viele Verlautbarungen der Regierun-gen –: Ja, wir wollen eine ganz breite Beteiligung, weiles um die Entwicklung unserer Gesellschaften geht. –Ich muss sagen: Wir haben jetzt zwar Ziele vorgelegt be-kommen, es kommt auch zu einer Beteiligung; aberwenn ich hier fragen würde, wer schon einmal von denEntwicklungszielen gehört hat, dann würde ich vermut-lich erfahren, dass es die wenigsten sind. Das ist ein gro-ßer Kritikpunkt. Wenn wir über so wichtige Fragen dis-kutieren, braucht es viel breitere Diskussionsprozesseund eine ernsthafte Beteiligung der Zivilgesellschaft.
Wir haben vorgeschlagen, mit dem Thema in dieSchulen, in die Universitäten und in die Kommunen zugehen. All das wäre wichtig, um einen breiten Diskus-sionsprozess anzustoßen; denn alle Menschen sind da-von betroffen. Es geht um ihren Lebensstil, darum, wassie konsumieren. All das sind wichtige Fragen; wir dis-kutieren sie mit Schulklassen. Aber es ist doch wichtig,die Beteiligung auch institutionell zu verankern. Ichhätte mir von der Bundesregierung gewünscht, dass sieeinen viel breiteren Prozess anstößt, dass sie die Diskus-sion nicht auf der Ebene der NGOs, der Nichtregierungs-organisationen, belässt – NGOs sind wichtig, aber essind spezielle Gruppen –, sondern das Thema mehr indie Öffentlichkeit trägt. Ich denke, da muss man mehrmachen.
Uns geht es, wenn ich mir die Ziele anschaue, vor al-lem um die Frage der sozialen Ungleichheit; das ist die
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Heike Hänsel
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größte Herausforderung. Wir kennen zum Teil die Zah-len; ich will eine nennen: Die 85 reichsten Personenweltweit besitzen ungefähr so viel wie die Hälfte derWeltbevölkerung. Ich denke, diese Zahl spricht für sich.Deshalb ist unsere große Forderung: Wir müssen denKampf gegen die soziale Ungleichheit weltweit undauch in unserer eigenen Gesellschaft an die erste Stellesetzen.
Es gibt einen weiteren Punkt, der mich wundert. Dievorherigen Ziele, die 2015 auslaufenden Millenniums-entwicklungsziele, befassten sich auch mit dem ThemaFrieden. Dies wird in den neuen Zielen kaum themati-siert. Wir sehen doch weltweit die Kriege und Krisen;wir wissen ja gar nicht mehr, auf welche Kriegsregionwir zuerst schauen sollen. Deshalb hatten wir von An-fang an gefordert: Die Friedenspolitik muss in die Ent-wicklungsziele aufgenommen werden. Frieden und Ent-wicklung sind zwei Seiten einer Medaille.
Ganz konkret haben wir gesagt: Es muss um Rüstungs-export, aber auch um Abrüstung gehen. Weltweit werden1,2 Billionen Euro für Rüstung ausgegeben. Diese kön-nen wir doch in Ausgaben für Entwicklung umwidmen.Das ist doch die zentrale Herausforderung. Wir brauchendas Geld für Entwicklung.
Wir haben noch einen zweiten Antrag eingebracht,den wir gemeinsam mit den Grünen verfasst haben, wasich sehr begrüße. Wir haben ihn vorgelegt, weil nächsteWoche, am 1. Oktober, eine Deadline der EuropäischenUnion endet. Es geht um Handelsfragen, die eine zen-trale Rolle spielen, wenn es um die Bekämpfung sozialerUngleichheiten geht.Viele Menschen engagieren sich momentan sehr da-für, dass das TTIP, das Freihandelsabkommen mit denUSA, nicht zustande kommt. Es gibt aber auch andereWirtschaftsabkommen mit den Ländern des Südens, vorallem mit den afrikanischen Ländern. Die afrikanischenLänder haben sich zwölf Jahre gegen das Ansinnen derEuropäischen Union gewehrt, Wirtschaftspartnerschafts-abkommen abzuschließen, da dies für sie große Verände-rungen zur Folge hätte: die Öffnung und Liberalisierungihrer Märkte, gleicher Zugang von EU und afrikanischenLändern. All das bedroht massiv die Existenz von Klein-bauern und viele Arbeitsplätze. Deswegen haben wirvon Anfang an gesagt: Wir wollen diese Form der Wirt-schaftspartnerschaftsabkommen nicht. Wir wollen neueMandate, durch die die selbstbestimmte Entwicklung inden Ländern gestärkt wird.
In der nächsten Woche, am 1. Oktober, läuft dieDeadline der EU ab. Die EU hat den verschiedenen afri-kanischen Ländergruppen gesagt: Wer bis dahin nichtunterzeichnet hat, für den fällt der zollfreie Zugang zuden Märkten weg. Das betrifft einige Länder, die sich inden letzten Jahren viel aufgebaut haben; konkret ist Ke-nia zu nennen. Sie gelten in der EU als Mitteleinkom-mensländer. Falls sie die Wirtschaftspartnerschaftsab-kommen nicht unterschreiben, fällt ab dem 1. Oktoberder zollfreie Zugang zu den Märkten weg. Das ist reineEU-Erpressungspolitik, und die lehnen wir ab.
Wir fordern, dass der freie Zugang zu den Märkten überden 1. Oktober hinaus aufrechterhalten wird.Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass es inKenia um 500 000 Arbeitsplätze im Blumensektor geht,die konkret betroffen wären, wenn Zölle auf den Exportvon Blumen erhoben würden. In erster Linie würde dasviele Fairtrade-Blumen betreffen. Diese Strukturen wur-den unter anderem durch deutsche Entwicklungsgelderaufgebaut. Wir können als Entwicklungspolitiker dochnicht unterstützen, dass die EU diese Länder erpresstund dass Projekte, die mit deutschen bzw. EU-Entwick-lungsgeldern aufgebaut wurden, in ihrer Existenz be-droht werden. Ich bitte die Bundesregierung: Setzen Siesich dafür ein, dass der zollfreie Zugang für all dieseProdukte aus Kenia über den 1. Oktober hinaus erhaltenbleibt.Danke.
Als nächster Redner spricht Tobias Zech.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kon-struktive Kritik ist gut. Sie bewirkt nämlich, dass mansich mit einer Problemstellung intensiv befasst, Vor- undNachteile untersucht und Lösungsansätze findet. Im Pro-zess, der sich mit den Millenniumentwicklungszielen be-fasst, wird genau das gemacht.Blicken wir zurück: Bei dem Treffen im Jahr 2000konnten sich hochrangige Vertreter von 189 Ländern aufacht internationale Entwicklungsziele einigen. Das istein erster Erfolg, wenn man überlegt, wie divers dieStaatenwelt ist. Die Einfachheit, die Praktikabilität unddie Fokussierung des Katalogs machte es den Staats- undRegierungschefs möglich, sich mit den entsprechendenThemen auseinanderzusetzen. Heute, kurz vor Ablaufder Frist, können wir einige Erfolge verzeichnen: DerAnteil der in absoluter Armut lebenden Menschen an derWeltbevölkerung hat sich halbiert. Nur noch 14,9 Pro-zent statt 23,2 Prozent der Menschen sind unterernährt.Wir konnten den Anteil der Müttersterblichkeit radikalsenken. Immer mehr Kinder haben die Möglichkeit, eineordentliche Grundschulausbildung zu erhalten. – Trotzdieser beachtlichen Erfolge bestehen weiterhin zahlrei-
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Tobias Zech
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che Herausforderungen. Die MDGs werden bis 2015nicht erfüllt sein.Wir bzw. die Staatengemeinschaft haben konstruktiveKritik geübt. Das neue internationale Rahmenwerk solldrei maßgebliche Neuausrichtungen beinhalten: Erstens.Es soll eine universelle Gültigkeit beinhalten, das heißt,dass sich nicht nur der Süden, sondern auch der Nordenanpassen muss. Zweitens. Globale Partnerschaften be-deuten auch, als gleichberechtigte Partner aufzutreten; esist eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Drittens. Da wir ineiner Welt leben, ist die Entscheidung, die Beschlüssedes Rio+20-Gipfels in den Post-MDG-Prozess zu integ-rieren, wegweisend. Das ist notwendig, um sich den He-rausforderungen stellen zu können. Ich begrüße, dass dieThemen soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltig-keit, ökonomische Entwicklung, gute Regierungsführungsowie Friedens- und Sicherheitsfragen aufgenommenwurden; denn das sind wichtige Rahmenbedingungen.
Mit dem im Februar veröffentlichten Eckpunktepa-pier unterstreicht die Bundesregierung ihr Engagementund setzt vier Schwerpunkte. Auch der Mitte Juli veröf-fentlichte Entwurf der international besetzten offenen Ar-beitsgruppe, in der Staatsministerin Professor Dr. MariaBöhmer Deutschland vertritt, schließt sich dieser Rich-tung an.Noch einmal: Der Post-MDG-Prozess ist ein erfolg-reicher Prozess. Er beleuchtet kritisch den bestehendenZielkatalog und plädiert für einen Paradigmenwechsel.In der Verknüpfung der beiden Prozesse liegt eine großeChance: Nachhaltige Entwicklung kann wirksamer alsbisher vorangetrieben und umgesetzt werden.Von konstruktiver Kritik kann man bei dem Antragder Linken leider nicht komplett sprechen, Frau Hänsel.Ich sehe in manchen Punkten eher ein bloßes Querschie-ßen. Man merkt die Zerrissenheit in Ihrer Fraktion beimThema Entwicklungspolitik. Eine konkludente Liniekann ich nicht erkennen.
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen klarmachen:Sie fordern zum einen die Aufgabe des unilateralenGood-Governance-Konzeptes. An einem Punkt habenSie ja recht: Das Ideal wäre die Rechtfertigung durch daseigene Volk. Wir erleben aber immer öfter Staaten – let’sface reality –, in denen Korruption eben nicht nur in Tei-len der Regierung bzw. der Administration eine Rollespielt, sondern in denen sich Regierung und Administra-tion quasi nur durch Korruption am Leben halten.Schauen Sie einmal in die Ukraine.
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ukraine hatsich in den letzten 15 Jahren entwickelt. Unser Ziel einesGood Governance ist für die Menschen vor Ort eine not-wendige Voraussetzung, um Rechtsstaatlichkeit zuschaffen. Mit Rechtsstaatlichkeit wird Sicherheit ge-schaffen; diesbezüglich widersprechen Sie sich in IhremAntrag. Mit Rechtsstaatlichkeit wird für den Schutz vonMinderheiten gesorgt, auch für den Schutz von Frauen-rechten, den Sie fordern. Somit ist Good Governance füruns nicht nur etwas, was auf den Prüfstand zu stellen ist.Good Governance ist für uns viel mehr. Ich halte GoodGovernance für einen ganz wichtigen Punkt in unsererEntwicklungsarbeit. Es geht um Fördern und Fordern,wie in Afghanistan; das BMZ und Minister Müller ma-chen es uns vor. Ich denke, diesbezüglich sind wir aufdem richtigen Weg. Das sollten wir auf jeden Fall nichtaufgeben.Sie fordern zum anderen die Entmilitarisierung derinternationalen Politik und der Entwicklungspolitik.
Schauen wir uns die Weltlage an: Boko Haram in Afrikaund ISIS. Angesichts dessen ist es schon sehr zynisch,hier an einem Freitagnachmittag zu sagen: Passt mal auf,wir liefern euch Hygieneartikel, Medikamente und etwaszu essen. Dann seid ihr, wenn die ISIS kommt, wenigs-tens satt und gesund, bevor sie euch erschießen. – Das istzynisch. Das ist keine Entwicklungspolitik.
– Herr Kekeritz, bitte?
– Welche Informationen?
– Das ist von mir. Herr Kekeritz, das Zitat ist von mir.
– Nein, ich kritisiere die Entmilitarisierung der Entwick-lungspolitik.
Das wird nicht funktionieren. Herr Kekeritz, Sie müssenerst Sicherheit haben. Ohne Sicherheit können Sie keineEntwicklungspolitik machen.
Deswegen ist die Forderung nach einer kompletten Ent-militarisierung nicht realistisch. Das wird nicht funktio-
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nieren. Sie müssen natürlich auch militärisch Sicherheitherstellen können. Sie müssen die Menschen schützenkönnen. Danach können Sie Entwicklungspolitik betrei-ben. Das wollte ich sagen. Ich denke, diesbezüglich soll-ten wir letztlich einer Meinung sein.Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, die Ab-schaffung von Warentermingeschäften. Auch hierzu gibtes unterschiedliche Meinungen. Ich denke, dass wir unshinsichtlich der Warentermingeschäfte in einem Punkteinig sind: Wir müssen sie regulieren und überwachen.
Wir haben aber auch festgestellt, dass Warenterminge-schäfte eine Absicherung sind. Das wird deutlich, wennSie sich jetzt die Situation infolge der Ebolakatastrophein Afrika anschauen. Das gilt aber auch für Naturkata-strophen und schlechte Ernten. Warentermingeschäftesind eine Absicherung nicht nur für die Anbauer, son-dern auch für die Weiterverarbeiter, für alle, die an derWertschöpfung beteiligt sind, und für die Konsumenten.Zum letzten Punkt: Öffentlichkeit und die Kommuni-kation des Postagendaprozesses. Wir haben die vonMinister Müller angestoßene „Zukunftscharta EINE-WELT – Unsere Verantwortung“. Das ist, glaube ich, einsehr gutes Kommunikationstool. Das Projekt verankertbei jedem Einzelnen das Bewusstsein, dass man für dieZukunft der Welt mitverantwortlich ist. Angefangen alsVision haben zahlreiche Menschen die Aufforderung an-genommen, und wir haben auch schon mehrere Kommu-nikationsprozesse gestartet und Dialoge begonnen. DasBMZ spricht sich mit diesem Projekt für starke Multiak-teurspartnerschaften zwischen Regierungen, Zivilgesell-schaft, Wissenschaft und Privatwirtschaft aus, oder wieauf einer der eingeschickten sogenannten Zukunftspost-karten steht: Jeder ist Entwicklungshelfer.Natürlich kann es immer mehr sein. Daher lautetmeine Aufforderung an alle, jetzt die erste schriftlicheZusammenfassung des bisherigen Dialogs zur Zukunfts-charta zu kommentieren. Auf einer der sogenannten Zu-kunftspostkarten, die an das BMZ im Rahmen des ProjektsZukunftscharta gesendet wurden, zitiert der Absenderden Autor Stefan Zweig:Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die vielekleine Schritte tun, können das Gesicht der Weltverändern.Das zeigt besonders schön: Die Debatte ist in der Öffent-lichkeit angekommen, und – das ist noch wichtiger – dasBewusstsein, selbst etwas zu tun, selbst etwas zu denSDGs beizutragen, besteht bereits in zahlreichen Köp-fen.Partnerschaften zwischen zivilgesellschaftlichen Ak-teuren und das Engagement Einzelner können Verände-rungen schaffen. Aber auch hier, im Post-2015-Prozess,gilt: In erster Linie ist es Aufgabe der Staaten bzw. derStaatengemeinschaft, menschenwürdige Lebensbedin-gungen zu schaffen und globale öffentliche Güter zuschützen. Mit dem nächsten Rahmenwerk muss die Staa-tengemeinschaft dazu verpflichtet werden, sich der dreigroßen Herausforderungen Klimaschutz, Welternährungund Frieden anzunehmen. Das ist eine Chance, eineChance, die wir nicht verspielen sollten.Herzlichen Dank.
Als nächster Redner spricht Uwe Kekeritz.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Zech, Franz Josef Strauß konnte das definitiv bes-ser. In der Rhetorik hat er ganz oft eines gemacht: Er hatsich selbst ganz dumme Argumente zusammengebastelt,dann hat er sie dem politischen Gegner zugeordnet, unddann war die Widerlegung dieses Arguments einfachsouverän.
Wir erinnern uns an die Argumentation von 1980, FranzJosef Strauß gegen Helmut Schmidt: Wer glaubt, dassder Strom aus der Steckdose kommt, der soll SPD undFDP wählen. Wer glaubt, dass die Russen uns besser be-schützen als die Amerikaner, der soll SPD und FDPwählen.
Das war 1980. Über solch eine Rhetorik sollten wir indiesem Hause hinwegkommen.
Frau Hänsel hat schon sehr viel zum Thema SDG ge-sagt. Wir haben hier ein ganz gravierendes Problem. DieIndustrienationen haben nicht kapiert, dass die SDGsselbstverständlich auch für sie selbst gelten, also auchfür Deutschland. Wenn sich die ökonomisch starkenNationen nicht endlich wesentlich engagierter für einenachhaltige, sozial gerechte und friedenspolitisch aus-gleichende Entwicklung einsetzen, werden wir weiterdazu beitragen, Armut in der Welt zu verbreiten, Länderzu destabilisieren, das Klima zu schädigen und Kriegezu fördern. Darum lautet meine Frage an die gesamteRegierung, aber insbesondere an das Entwicklungsmi-nisterium: Wann fängt das Entwicklungsministeriumendlich an, die Öffentlichkeit über diesen Prozess zu in-formieren? Wir brauchen eine breite Beteiligung; sonstwird das nichts. Mein Eindruck ist, dass Sie das Themaam liebsten totschweigen würden. Irgendwann ist dasJahr 2015 vorbei, und dann schläft alles ein.Wir müssen hier in Europa, in Deutschland unsereVerhältnisse ändern, um die Lage der Menschen in denEntwicklungsländern zu verbessern. Wir leben hier nichtauf einer Insel. Es geht ums Ganze: Es geht um den Glo-bus, und es geht darum, global zu denken. Sie glauben es
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5137
Uwe Kekeritz
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nicht: Es geht auch darum, endlich konsequent nationalzu handeln.
Wir brauchen eine andere Landwirtschafts- und Klima-politik, eine ehrliche Menschenrechts- und Friedenspoli-tik sowie neue globale Finanzstrukturen. Wir brauchennatürlich auch eine bewusste und fortschrittliche Ener-giepolitik, deren Ziel nicht sein darf, die Entwicklungder erneuerbaren Energien zu bremsen. Darauf sind Siespezialisiert. Wir brauchen aber auch eine ganz andereHandelspolitik; denn unsere Handelspolitik behindertschon seit vielen Jahren die Entwicklung von Entwick-lungsländern. Das gilt in einem ganz besonderen Maßenatürlich auch für die EPAs, die Abkommen zwischenEuropa und den afrikanischen Ländern.Früher ist Europa noch davon ausgegangen, dass manden afrikanischen Ländern einen begünstigten Zugangzum europäischen Markt gewähren muss. Man sagte da-mals: Das hilft ihnen bei ihrer Entwicklung. Diese Über-zeugung hat Europa verloren. Man sagt jetzt: Diese Pri-vilegien sollen nur noch die allerärmsten Länder haben.Die bereits entwickelten Länder – auch die nur ein biss-chen entwickelten Länder – sollen sie nicht mehr haben.Für die EU bleibt alles beim Alten; für die Entwick-lungsländer in Afrika soll sich allerdings vieles ändern.
Sie sollen vor allen Dingen auf Import- und Exportsteu-ern verzichten. Der Markt soll liberalisiert und weitge-hend privatisiert werden, und er soll sich für unsere In-dustrieprodukte völlig öffnen. Die afrikanischen Länderhaben sich zu Recht, wie Frau Hänsel ausgeführt hat,zwölf Jahre lang dagegen gewehrt. Stärke hat auch die-sen Widerstand gebrochen. Die Position der EU war:Entweder ihr unterschreibt, oder ihr verliert eure Privile-gien auf dem europäischen Markt. – Das ist nichts ande-res als knallharte Erpressung.
Die Länder sind nun einmal von den Exporten finanziellabhängig. Die Blumen in Kenia wurden genannt; es gehtaber natürlich auch um Bananen und andere Sachen. DieEuropäische Union hat mit ihrer Politik einen enormenpolitischen Druck aufgebaut, und schließlich haben dieLänder kapituliert.Letztlich kommt der Vertrag auch einem Deindustria-lisierungsprogramm gleich. In einigen afrikanischenLändern gibt es so etwas wie eine positive kleine Indust-rialisierung. Ab jetzt müssen sich die Produkte, die inAfrika produziert werden, mit den europäischen Produk-ten messen. Sie stehen in Konkurrenz zueinander, undich kann Ihnen sagen, wie das Spiel ausgehen wird: Dieafrikanischen Produkte haben keine Chance gegen dieeuropäischen. Es muss jedem von uns klar sein: Ein klei-ner Betrieb, der sich dort entwickelt, enthält immer aucheinen Keim für eine positive Entwicklung. Dieser Ver-trag greift diesen Keim ganz enorm an.Unter diesem Aspekt wird natürlich deutlich, warumdie Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit so negativgesehen wird. Herr Silberhorn, vielleicht sagen Sie dasauch Ihrem Minister: Die Öffentlichkeit ist immer mehrder Ansicht, dass die Entwicklungspolitik nur eine Alibi-funktion übernimmt.
– Das ist doch nicht wahr.
Das weiß zum Beispiel auch die EU, die einen Ausgleichfür den Verlust der Exportsteuer leistet: 5 MilliardenEuro sollen innerhalb von fünf Jahren gezahlt werden.Das ist nichts anderes als eine Subventionierung der Im-portindustrie hier in Europa. Der deutsche Steuerzahler– auch der europäische – wird quasi zum Subventionie-rer der Importeure von afrikanischen Rohstoffen.
Das ist nicht haltbar.
Lieber Herr Kollege, da Sie auf das Warnlicht nicht
reagieren, muss ich Sie ermahnen, zum Schluss zu kom-
men.
Ich bin gleich am Schluss. – Wir stellen uns deswegen
ganz konkret gegen die EPAs und fordern von der EU,
dass diese Verhandlungen gestoppt werden. Das ist der
Auftrag an die deutsche Regierung, sich dafür einzuset-
zen.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin spricht Dr. Bärbel Kofler.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir debattieren heute zwei Themen von großer Be-deutung; das ist schon angesprochen worden. Ich möchtemich den Worten der ersten Rednerin anschließen: BeideThemen wären es wert, ausführlicher debattiert zu wer-
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5138 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Dr. Bärbel Kofler
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den und dafür mehr Raum in diesem Haus und vielleichtauch eine andere Zeit zu finden.
Ich möchte mich vorrangig auf das Thema Sustaina-ble Development Goals, auf die Nachhaltigkeitsziele,konzentrieren. Der Kollege Sascha Raabe wird späternoch zu den EPAs, den Wirtschaftspartnerschaftsabkom-men, Stellung nehmen.Es ist angesprochen worden – das finde ich an dieserStelle besonders wichtig –, dass es bei den Nachhaltig-keitszielen um universelle Ziele geht. Ich glaube, dasmüssen wir alle uns klarmachen, in der Politik, aber auchin der Gesellschaft. Anders als bei den Entwicklungszie-len geht es nicht darum, was sich alles in den Entwick-lungsländern verändern muss, sondern darum, wie wirunser Verhalten ändern müssen, um weltweit armutsbe-kämpfend, armutsreduzierend und entwicklungsförderndzu sein. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Darum,glaube ich, müssen wir ringen.Vorgestern wurde von der UN-Generalversammlungein erster Entwurf vorgelegt, der 17 Hauptziele und169 Unterziele enthält. Auf einige dieser, wie ich finde,sehr spannenden Ziele möchte ich noch eingehen. Ichglaube aber, dass es jetzt unsere politische Aufgabe ist,diese Ziele zu bewerten und herauszufinden, was wir alsDeutscher Bundestag, als Parlamentarier voranbringenwollen. Welche Ziele wollen wir in dem politischen Pro-zess, der sich in einem Jahr anschließt, als unsere wich-tigsten Ziele zur Veränderung der Weltgemeinschaft an-sehen?
Dafür brauchen wir auch weltweit Verbündete. Darüberentscheidet ja nicht allein der Bundestag, darüber ent-scheiden nicht allein wir in Deutschland, sondern da-rüber entscheiden wir gemeinsam mit den anderen Euro-päern; denn Europa spricht auf Ebene der UN mit einerStimme. Wir brauchen also die anderen europäischenPartner. Wir brauchen aber auch Verbündete aus denLändern des Südens; denn die Ziele, die mir persönlich,meiner Fraktion oder uns gemeinsam wichtig sind, sindkeineswegs auf der ganzen Welt als besonders wichtigeZiele anerkannt.
Dafür müssen wir kämpfen. Darum muss es gehen.Ich möchte ein Ziel aus dem Entwurf herausgreifen,das Ziel 8 „Nachhaltiges Wachstum, Vollbeschäftigungund menschenwürdige Arbeit“. Dabei geht es darum,was wir verändern, darum, dass wir überlegen, was wirdazu beitragen wollen. Das ist durchaus auch eine Frage,die den Handel betrifft. Dazu passt das Thema EPAs, dasSascha Raabe noch ansprechen wird. Es geht darum, wiewir Lieferketten gestalten, wie wir verbindliche Regelnaufstellen, wie Arbeitsbedingungen bei uns gestaltetsind. Aber es geht natürlich auch darum, dass andereLänder zu einem Arbeitsrecht kommen, das Menschen-rechtsverletzungen gar nicht erst ermöglicht. Es sindweltweite Prozesse, mit denen wir zur Stärkung der Ar-beitsrechte der Menschen beitragen müssen.
Weil ich sehr wohl glaube, dass Entwicklungspolitikdazu einen Beitrag leisten kann und soll, werden wir alsKoalitionsfraktionen in der nächsten Sitzungswoche ei-nen Antrag zum Thema „Gute Arbeit weltweit“ vorle-gen. Ich glaube, es ist ein guter Antrag, der einen erstenAufschlag zu diesem wichtigen Thema darstellt.
Wir werden uns im Rahmen der SDGs auch mit derUnterschiedlichkeit der Nationen beschäftigen müssen;das ist wichtig, um alle Länder ins Boot zu holen. DasZiel 10 schlägt vor, sich mit dem Thema „Ungleichheitzwischen den Ländern“ auseinanderzusetzen. Das hatauch viel mit Fragen der Sicherheit und des Friedens zutun. Auf der einen Seite geht es darum, wie man bei fra-gilen Staaten überhaupt Staatlichkeit aufbauen, zivileProzesse fördern, Verwaltungen aufbauen und zu einemMindestmaß an Sicherheit beitragen kann, zum Beispielim Sinne von Polizeiaufbau, aber auch im Sinne vonKorruptionsbekämpfung, wenn es um die Frage der Ge-hälter von Sicherheitskräften geht. Auf der anderen Seitemüssen wir unser Verhalten anschauen und uns fragen:Wofür sind wir denn verantwortlich? Das Stichwort„Klima“ ist an der Stelle sicher ein ganz entscheidenderPunkt. Welche gewachsene historische Verantwortunghaben wir für die Länder des Südens? Diese können fürviele Veränderungen schlicht nichts. Dafür sind wir ver-antwortlich.
Besonders wichtig bei diesem Ziel, die Ungleichheitzwischen den Ländern zu verringern, finde ich einen Un-terpunkt, den wir uns einmal genau anschauen müssen.Da geht es um die Regulierung der Finanzmärkte, einganz spannendes Thema. Wie bekommt man Zugang zuvernünftigem Kapital, um Investitionen voranzubringen?Wie verhindert man das, was wir in den letzten Jahrenmit einer Krise nach der anderen erlebt haben? Das hatsich ja besonders auf die Entwicklungsländer ausge-wirkt. Machen wir uns nichts vor! Für diese Länder istdie Möglichkeit, sich zu refinanzieren, massiv zurückge-gangen. Das sind doch ganz entscheidende Punkte, diehier zu diskutieren sind. Dafür müssen wir in der Welt-gemeinschaft um Verbündete werben. Darum geht es,glaube ich, in dem Prozess im nächsten Jahr, in dem wireiniges voranbringen wollen.Im November wird der sogenannte Syntheseberichtder UN erscheinen, in dem die Zielvorgaben, die ich ge-rade angesprochen habe, mit den Finanzfragen – dazuhat sich auch eine Expertengruppe gebildet – in einemBericht zusammengeführt werden. Auf der Basis diesesBerichts werden wir gemeinsam einen Antrag formulie-ren, der einen Beitrag dazu leisten soll, klare politische
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5139
Dr. Bärbel Kofler
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Vorgaben zu machen, was die deutsche Regierung unse-rer Ansicht nach in diesem Prozess tun soll.Ich möchte noch etwas sagen. Ich erkenne in dem An-trag der Linken viele überlegenswerte und spannendeForderungen. Aber es geht um den SDG-Prozess und– mit Verlaub – nicht um ein Ich-wünsch-mir-was-Kon-zert. Auch ich kann mir viele Dinge vorstellen, die Sieangesprochen haben und die richtig und gut sind. Aberin diesen ohnehin schon schwierigen Prozess auch nochdie Forderung nach einer Reform der UN und andererInstitutionen zu integrieren, überfrachtet diesen Prozess;es tut mir wirklich leid, das so zu sagen.
Ich sehe, ich muss zum Ende meiner Rede kommen. –Es fehlt bei diesem Prozess einiges. Es geht um Umset-zungspläne. Es geht um Überprüfungsmechanismen. Esgeht auch um die Finanzierungsfrage. Es geht um denBeitrag der Gebernationen, aber auch um die Fragen„Kapitalflucht verhindern“ und „Steueroasen austrock-nen“, um die Frage „Aufbau eines funktionierendenSteuersystems“, damit die Länder des Südens eineChance haben, sich nicht nur über Zölle zu finanzieren,sondern über reale Steuereinnahmen. Damit schließt sichder Kreis zum Thema EPAs, das ich durchaus kritischsehe und bei dem ich viele kritische Punkte in dem vor-gelegten Antrag nachvollziehen kann.Eine Bemerkung ganz zum Schluss. Ich wünsche mirwirklich, dass wir speziell im Fall Kenia – das ist daseinzige Land, dessen Waren ab dem 1. Oktober 2014 vonZöllen betroffen sein werden – zu einer konstruktivenLösung kommen würden. Dass wir den fairen Handelvon Blumen mit Zöllen blockieren, ist einfach nicht hin-nehmbar.Danke.
Als nächster Redner spricht Frank Heinrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Anfangein Dank an die Opposition für die Anträge, in diesemFall für das zweite Thema, das wir hier diskutieren. EinDank für das erste Thema ist hier schon ausgesprochenworden.Es wird hier viel von Abkürzungen die Rede sein: vonden SDGs und den MDGs. Sie, das Publikum, müssensich wundern, was wir hier alles behandeln. Vorher ginges um die Millennium Development Goals, jetzt abergeht es um die EPAs und die WPAs, das eine ist derdeutsche, das andere der englische Begriff für Wirt-schaftspartnerschaftsabkommen.Die Vertreter der Opposition haben hier ihre Sorgezum Ausdruck gebracht. Diese Sorge teilen wir. Das ha-ben wir auch in dem Antrag, der sich auf den Europa-Afrika-Gipfel bezog, sehr deutlich gemacht. Aber esgeht, wie mein Kollege Zech vorhin gesagt hat, um einekonstruktive Auseinandersetzung. Hin und wieder gingIhr Antrag – ich weiß nicht, wer ihn alles gelesen hat –über Konstruktives hinaus.
Wenn in dem Antrag nicht nur in der Überschrift vonDrohungen und Fristen die Rede ist – ich verstehe IhrAnliegen –, sondern auch im Text selber laufend „esdroht“, „es ist zu befürchten“ und „große Gefahr“ zu le-sen ist, dann fällt es mir schwer, Ihnen zu glauben.Es geht uns genauso wie Ihnen – diese Zusammenar-beit soll schließlich eine Zukunft haben – darum, Inhaltezu teilen, zum Beispiel nachhaltige Entwicklung, die Be-teiligung von Zivilgesellschaften, gerechte Handelsre-geln, die Exportdumping verhindern und gleichzeitigProdukten aus Entwicklungsländern faire Absatzchan-cen gewähren, industrielle Wertschöpfung – man mussehrlich sein: das muss am Schluss möglich sein, da wiehier –, regionale Integration – all das haben Sie in demAntrag beziffert –, einen Überwachungsmechanismus zuden Auswirkungen dieser WPAs und – da bin ich Men-schenrechtler, nicht nur in diesem Ausschuss – eine kon-tinuierliche Beobachtung der Einhaltung der Menschen-rechte, die davon betroffen sind. Da haben wir garantiertnoch eine Menge Arbeit vor uns. Ich denke, da sind wiruns einig.Das ist, wie gerade genannt, auch in anderen Anträ-gen in diesem Umfeld und in dem Antrag, den FrauKofler angekündigt hat, zu lesen. Diese Punkte stehenals solches nicht zur Debatte, aber diese Werte sind unsgenauso wichtig wie Ihnen. Sie befürchten aber, dass sieabhandenkommen könnten. Für diese Werte setzt sichzum Beispiel auch die Bundesregierung ein. Vorgesternwar in einem Drahtbericht der AKP-Ratsarbeitsgruppe– das ist wieder eine Abkürzung; es geht dabei um Staa-ten in Afrika, der Karibik und dem Pazifik – einmalmehr nachzulesen: Die Auseinandersetzung um diesePartnerschaftsabkommen ist eine Auseinandersetzungum die wirtschaftspolitische Ordnung weltweit.Was wollen wir denn? Möglicherweise stehen heutenoch mehr Fragen als Antworten im Raum. Wollen wirpartnerschaftliche Zusammenarbeit oder Bevormun-dung, die Sie immer relativ schnell dahinter vermuten?Wollen wir freien Handel in einem rechtssicheren Kon-text oder Protektionismus, wie es ihn früher gab? Müs-sen wir die Kleinen, wie es oft heißt, vor den Großenschützen?Im Antrag von Linken und Grünen heißt es – ich zi-tiere –:Die EU war … zu einigen Zugeständnissen hin-sichtlich der Importzölle und Exportsteuern bereit…Sehr gut.Gleichwohl steht zu befürchten,– da kommt wieder einmal dieses Wort im Antrag vor –
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5140 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014
Frank Heinrich
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dass die EPAs in vielen Bereichen zu massiven Ver-schlechterungen für Kleinproduzenten im Agrar-und Industriebereich führen, die nun nicht mehrdurch Importbeschränkungen vor der übermächti-gen Konkurrenz durch europäische Agrarunterneh-men geschützt werden können.Die betroffenen Middle-Income Countries haben es inden letzten Jahren geschafft, dort hinzukommen, wo siejetzt sind. Ihnen jetzt zu unterstellen, dass das alles ver-loren geht, und sie wieder ein Stück zu entmündigen, nurweil wir sie auf einmal ernster nehmen als vorher – denndarum geht es –, halte ich für falsch.
Herr Kollege Heinrich, lassen Sie eine Zwischenfrage
von Frau Hänsel zu?
Im Moment nicht, vielleicht später. Ich möchte noch
diesen Gedanken zu Ende führen. – Das sind nämlich die
gleichen Ängste, die Sie vorhin ganz moderat angekün-
digt haben, wie zum Beispiel TTIP gegenüber, häufig
aus der Feder von Kritikern des sogenannten Neolibera-
lismus und der Globalisierung im Allgemeinen.
Ich glaube, dass Entwicklungszusammenarbeit im
21. Jahrhundert nicht mehr nur von Feindbildern be-
stimmt sein darf und dass es schon gar kein Gefälle bei
den Partnern untereinander geben darf.
Eine gleichberechtige Partnerschaft auf Augenhöhe ist
nämlich das, was die Globalisierungskritiker im selben
Atemzug fordern, und zwar, finde ich, zu Recht.
Auch die meisten AKP-Staaten beanspruchen mehr
und mehr Ownership für sich. Ich war gestern bei der
Botschafterin eines dieser Middle-Income-Länder. Sie
sagte mir sehr deutlich: Wir sind sehr stolz auf das, was
wir jetzt sind und wo wir jetzt sind, auch wenn wir uns
nun Sorgen machen. Damit meinte sie aber nicht den
Vertrag, sondern sie fürchtet, dass das bisher Erreichte
ohne Entwicklungszusammenarbeit nicht erhalten und
fortgeführt werden kann. Es ging ihr aber nicht darum,
etwas einzufordern.
Die Leitfragen müssten sein: Wie wird Handel fair?
Was nützt beiden Partnern? Wie können wir verbindlich
international anerkannte Mindeststandards so durchset-
zen, dass sie auch befolgt werden? Mein Kollege hat es
angesprochen – da wurde die Debatte ein bisschen leb-
hafter –: Das gilt auch dort, wo Korruption mehr als nur
ein bisschen im Raum steht. Wie kann die Rolle des Pri-
vatsektors zugunsten nachhaltiger Entwicklung stärker
werden? Wie wird Rechtssicherheit für nichtstaatliche
Akteure hergestellt? Entsprechende Mängel in einigen
dieser Länder bemitleiden wir Menschenrechtler oft.
Schließlich geht es aber auch um die Frage: Wie kom-
men Verhandlungen in absehbarer Zeit zu einem Ende,
insbesondere wenn Player wie China schnell und zu für
die Partner langfristig nicht gerade positiven Bedingun-
gen Verträge aushandeln und diese Länder dann unter
den negativen Bedingungen tatsächlich mehr leiden, als
Sie es in Ihrem Antrag befürchten?
Entgegen der Darstellung in den Anträgen gibt es
auch einige positive Entwicklungen im Zusammenhang
mit solchen WPAs. Das wird in Ihren Anträgen nicht
dargestellt; ich finde, auch das gehört zu einer objekti-
ven Darstellung. Dazu gehört zum Beispiel das Abkom-
men mit der Karibik, das bereits im fünften Jahr Anwen-
dung findet. Eine Studie zu den Auswirkungen ist für
diese Tage angekündigt. Vielleicht gibt sie uns Antwor-
ten auf einige der Fragen, die ich gerade genannt habe
und die darüber hinaus noch im Raum stehen.
Es ist wichtig, die Implementierung dieser Abkom-
men eng zu begleiten – darin sind wir ganz nah bei Ih-
nen – und genau zu beobachten. Das will ich, und das
wollen wir als Koalition. Gleichwohl bewerten wir die
Chancen und Potenziale, die von den WPAs ausgehen,
deutlich anders, als Sie es mit Ihren Drohungen hinsicht-
lich der Risiken tun.
Daher liegt uns eine Ablehnung Ihres Antrags nahe.
Darüber wundern Sie sich wahrscheinlich nicht, auch
wenn wir sehr wohl – das möchte ich abschließend sa-
gen – an vielen Stellen Verbesserungsbedarf sehen,
gerne konstruktiv diskutieren und die konstruktive Aus-
einandersetzung auch brauchen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem Kollegen Sascha Raabe das Wort
gebe, erhält die Kollegin Hänsel die Gelegenheit zu ei-
ner Kurzintervention.
Danke, Frau Präsidentin. – Ich weiß, dass wir alleschnell nach Hause wollen. Deshalb fasse ich mich ganzkurz. Aber eine Sache kann ich nicht auf sich beruhenlassen, lieber Kollege Heinrich. Sie haben gesagt, es seiunsere Befürchtung, dass die heimischen Produkte invielen Ländern mit den Importen aus der EuropäischenUnion nicht konkurrieren könnten. Erstens gibt es schonzahlreiche Erfahrungen in vielen westafrikanischenStaaten, die mit Produkten aus der Europäischen Unionwie Hähnchenfleisch und Tomaten überschwemmt wer-den und sich mit einem Kleinbauernproblem konfron-tiert sehen.Zweitens gibt es viele Briefe und Appelle gerade ausden westafrikanischen Staaten. Die dortigen Wirtschafts-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 55. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. September 2014 5141
Heike Hänsel
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verbände, Kirchen und Gewerkschaften schreiben unsAbgeordneten und an die Europäische Union und bittendarum, nicht so eine breite Liberalisierung zuzulassen.Diese Staaten, die sich gerade aus der Armut herausge-kämpft und eigene Strukturen aufgebaut haben – vor al-lem geprägt durch Kleinunternehmen –, sollen nun inKonkurrenz zur übermächtigen Europäischen Union tre-ten. Damit verhält es sich so, als ob Sie einen Porscheund ein Fahrrad nebeneinander stellen und sagen: Nunmachen wir ein 100-Meter-Wettrennen. – Das sind keinegerechten Bedingungen. Haben Sie denn gar keinenBrief aus diesen Ländern gelesen und die Appelle ausden dortigen Zivilgesellschaften, dass wir so keinenWettbewerb organisieren können, nicht wahrgenom-men?
Herr Kollege Heinrich.
Ich will die Antwort ganz kurz halten. Ich werde
meine Rede nicht noch einmal halten, obwohl Sie, Frau
Hänsel, zum großen Teil das wiederholt haben, was Sie
vorhin in Ihrer Rede gesagt haben.
Wir bewerten die Briefe, die wir bekommen, im Hin-
blick auf die Chancen, und zwar nicht nur im Hinblick
auf die Chancen, die wir Europäer haben. Unsere Ge-
wichtung liegt vielleicht bei etwa 60 zu 40. Ja, wir neh-
men diese Briefe und Appelle wahr. Trotzdem kommen
wir nach Abwägung von Risiken und Chancen zu einem
anderen Ergebnis. Möglicherweise müssen wir je nach
Land – ich nenne als Beispiel Kenia – unterschiedlich re-
agieren. Wir sehen jedenfalls in der Ablehnung Ihres
Antrages eine ganz andere Bewertung.
Jetzt hat der Kollege Sascha Raabe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Es ist gut, dass wir in der heutigen De-batte über beide Aspekte diskutieren. Natürlich habendie SDGs sehr viel mit einem gerechten Handel zu tun.Es wird nur möglich sein, eines der übergeordnetenZiele der SDGs bis 2030 zu erreichen, nämlich Hungerund extreme Armut zu beseitigen, wenn die derzeit vor-herrschenden Handelsbedingungen verändert werden,wenn die Industriestaaten nicht mehr mit Agrarexport-dumping die Märkte in den Entwicklungsländern störenund – darauf hat Frau Kofler hingewiesen – wenn dieAktivitäten von mit Geldern der Entwicklungszusam-menarbeit aufgebauten guten und fairen Handelsunter-nehmen beispielsweise im Blumenbereich nicht konter-kariert werden. Wir müssen uns um eine gerechteGestaltung der Globalisierung bemühen.Manche werden sich erinnern, dass die ersten EPAsvor über zehn Jahren diskutiert wurden. Sicherlich ist esdiskussionswürdig, ob der Zeitplan – auch unter juristi-schen Aspekten – mit der WTO so aufgestellt werdenmusste. Auf jeden Fall war der erste Grundgedanke nichtso schlecht, mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkom-men den Süd-Süd-Handel zu befördern. Ich glaube, da-gegen hat niemand etwas. Die afrikanischen Staatenmüssen untereinander Zölle und Handelsschranken ab-bauen, um eigene große Wirtschaftsmärkte zu schaffen,sich nachhaltig zu entwickeln und für Wertschöpfungvor Ort zu sorgen. Wahr ist aber auch: Leider wurdenviele Verhandlungen der Europäischen Union über Han-delsabkommen von oben herab und intransparent ge-führt. Gerade die Parlamentarier der Partnerländer hattenoft keine Informationen. Aus diesen Gründen wolltenviele Länder diese Abkommen bisher nicht abschließen.An dieser Stelle teilen wir als SPD-Fraktion die Kritik,die in dem Antrag der Linken und Grünen enthalten ist.Wir wollen nicht mit Eile etwas übers Knie brechen,sondern lieber nachverhandeln. Wir können uns Zeit las-sen und die Kritikpunkte ausräumen. Da sind wir ganzauf Ihrer Seite.Allerdings fehlt uns etwas in Ihrem Antrag. Sie rich-ten den Blick bei diesen Handelsabkommen und auchbei den Auswirkungen auf die Menschenrechte, wie Siein dem Antrag schreiben, nur darauf – es ist auch in Ord-nung, diese eine Seite zu beleuchten –, welche negativenAuswirkungen es hat, wenn Güter aus der EuropäischenUnion auf diese Märkte kommen. Wir müssen in Han-delsabkommen aber auch immer berücksichtigen, was indiesen Ländern selbst passiert. Da nenne ich zum Bei-spiel die Menschenrechte und die ILO-Kernarbeitsnor-men, das Gleiche, was wir bei CETA und TTIP diskutie-ren und zu Recht einfordern.Es ist auch ein Teil der Wahrheit, dass ostafrikanischeStaaten wie zum Beispiel Kenia sich weigern, eine Klau-sel zu Menschenrechten und Good Governance in dieseVerträge aufzunehmen. Deswegen sage ich: Der eineTeil Ihres Antrags ist gut. Ich würde gerne zu einer ge-meinsamen Position kommen und auch das andere hin-einschreiben; denn die Frage der Kernarbeitsnormen isteine, die in jedes dieser Abkommen gehört.
Es freut mich, dass wir hier eine Übereinstimmunghaben; denn die Europäische Union muss umdenken.Als diese Verhandlungen anfingen, waren die LissabonerVerträge noch anders. Da hatten weder das EU-Parla-ment noch die Nationalstaaten ein echtes Mitsprache-recht. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen– ich bin froh, dass viele hier sind, die nicht dem Ent-wicklungshilfeausschuss angehören –: Diese Abkom-men sind eigentlich meistens gemischte Abkommen.Das heißt, wir werden über eine Zustimmung zu den Ab-kommen, über die wir heute reden, am Ende im Deut-schen Bundestag noch einmal reden müssen.Deswegen bin ich der Meinung, wir sollten bereitsjetzt der EU sagen: Wir wollen bei den Nachverhandlun-gen zu diesen Abkommen mitreden. Wir können nichtsagen, dass wir uns in die Abkommen mit Kanada und
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Dr. Sascha Raabe
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den USA mit Macht einmischen, was ich richtig finde,aber, wenn es um die Abkommen mit Afrika geht, dieEU es alleine machen lassen – und dann noch eherschlecht als recht. Deswegen, liebe Kolleginnen undKollegen, lassen Sie uns gemeinsam gerechte Abkom-men mit Afrika schaffen.Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am
Schluss der Debatte und kommen zu den Abstimmun-
gen.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/2603 mit dem Titel „Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen stoppen – Für neue Ver-
handlungen ohne Druck und Fristen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen. Ent-
haltungen? – Enthaltungen sehe ich keine. Damit ist der
Antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt wor-
den.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Nachhaltige Entwicklungs-
ziele der Vereinten Nationen – Soziale Ungleichheit
weltweit überwinden“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1916, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1328
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Enthaltungen sehe
ich nicht. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Verhandlungen über Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen – Neustart ohne Dro-
hungen und Fristen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/2073, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1615 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die
Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Da-
mit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition angenommen worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, hoffent-
lich mit etwas Erholung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destags auf Mittwoch, den 8. Oktober 2014, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.