Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet. Zunächst einige Mitteilungen: Der ehemalige KollegeManfred Kanther hat am 25. Januar 2000 auf seine Mit-gliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seinNachfolger hat der Abgeordnete Helmut Heiderich, dervon 1996 bis 1998 bereits Mitglied des Hauses war, am26. Januar 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag erworben.Aus dem Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitungder SED-Diktatur scheidet der Kollege Hans-ChristianStröbele als stellvertretendes Mitglied aus. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen schlägt als Nachfolger den Kol-legen Werner Schulz vor. Sind Sie damit einverstan-den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol-lege Schulz als stellvertretendes Mitglied in den Stif-tungsrat gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der Ent-wurf der Bundesregierung zur Änderung des Arzneimit-telgesetzes auf Drucksachen 14/2292 und 14/2355 nach-träglich dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuenLänder zur Mitberatung überwiesen werden soll. SindSie auch damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rung Berufsbildungsbericht 1999 – zu dem Entschließungsantrag der Abgeord-neten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, HorstFriedrich , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P. zu der Unterrich-tung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1999 – Drucksache 14/1056, 141225, 14/1934 – Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Dr.-Ing. Rainer Jork Antje Hermenau Cornelia Pieper Angela Marquardt b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen W.Möllemann, Hildebrecht Braun , Rai-ner Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der F.D.P.9-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzli-chen Ausbildungsplätzen – Drucksachen 14/335, 14/1294 – Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Heinz Wiese
Antje Hermenau Jürgen W. Möllemann Maritta BöttcherNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-nisterin Edelgard Bulmahn das Wort.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meinesehr geehrten Herren und Damen! Junge Erwachsenestehen heute vor einer Zukunft, die ständig im Wandelbegriffen ist. Sie müssen nicht nur einen rasanten tech-nologischen Wandel bewältigen, sondern sie sollen ihnauch gestalten können. Sie werden in einer Welt leben,in der sie mit Menschen in vielen anderen Ländern ko-operieren müssen, und sie werden auch selbst mit einersehr hohen Wahrscheinlichkeit einen Teil ihres Berufs-lebens in einem anderen Land verbringen.
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7832 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Sie werden Bildung nicht auf einen bestimmten Le-bensabschnitt beschränken können, sondern sie werdenin ihrem Leben immer weiter dazulernen müssen. Aufdiese Veränderungen müssen wir sie vorbereiten, damitsie die Voraussetzungen dafür haben, ihr Leben selbst indie Hand zu nehmen und selbst zu gestalten. Entscheidend für die Bewältigung der Zukunft sindeine hohe Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbil-dung und ein möglichst breiter Zugang dazu, denn Bil-dung entscheidet über Berufs- und Lebenschancen, überdie Chancen jedes Einzelnen, sich in unserer Gesell-schaft einzubringen, teilzuhaben, mitzuwirken. Zugleichist eine gute Ausbildung die wichtigste Voraussetzungfür die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft undfür die Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungs-niveaus.
Meine Damen und Herren, die Berufsbildungspolitikist deshalb nicht die typische Ressortpolitik, sondern Be-rufsbildungspolitik ist Politik an der Schnittstelle vonBildungspolitik, von Wirtschaftspolitik, von Sozial- undArbeitsmarktpolitik. Deshalb hat sie für die Bundesre-gierung eine herausragende Bedeutung.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatunmittelbar nach ihrer Amtsübernahme das Sofortpro-gramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit undQualifizierung von 100 000 Jugendlichen gestartet.
Das war deshalb notwendig, weil wir über Jahre hinweg,seit Anfang der 90er-Jahre, eine immer größere Zahl vonJugendlichen hatten, die keinen Ausbildungsplatz fan-den, die in Warteschleifen abgedrängt wurden und dieperspektivlos wurden.Deshalb war es richtig und notwendig, dass diese Bun-desregierung mit dem Zögern, dem Hinhalten und demAbwarten Schluss gemacht hat und den Jugendlichen einkonkretes Angebot gemacht hat.
– Lieber Herr Kollege, wenn Sie das als „Salbe“ be-zeichnen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie vonder Lebensrealität keine Ahnung haben.
Rund 165 000 Jugendliche haben durch die Maßnah-men des Programms wieder den Einstieg in Ausbildungund Beruf gefunden. Genau dieses Ziel haben wir ver-folgt.
Unser selbst gestecktes Ziel, mit dem Programm100 000 Jugendliche zu erreichen – das hatten wir unsvorgenommen –, haben wir damit weit übertroffen. Un-sere Jugendlichen – das zeigt mir der Erfolg dieses Pro-gramms ganz klar – wollen arbeiten. Sie wollen sichqualifizieren. Wir müssen ihnen die Chance dazu geben.Dieser Verantwortung stellen wir uns.Das zweite Bein, auf das wir unsere Ausbildungs-und Berufsbildungspolitik stellen, ist die parlamentari-sche Arbeit, aber vor allen Dingen auch das „Bündnisfür Arbeit“. In dem „Bündnis für Arbeit“ haben wirgemeinsam mit den Sozialpartnern Vereinbarungen ge-troffen. Jeder, der auch nur einen blassen Schimmer vonBerufsbildungspolitik hat, weiß, dass wir gerade in derBerufsbildungspolitik nur dann wirklich tragfähige Ver-änderungen, die den Jugendlichen und den Betriebennützen, erreichen können, wenn wir mit den Gewerk-schaften, mit den Arbeitgeberverbänden und mit denUnternehmen zusammenarbeiten; denn die Berufsbil-dungspolitik lebt davon, dass man sich über Ziele, Inhal-te und Instrumente verständigt.
Deshalb ist dies das wichtige zweite Standbein, das mit-tel- und langfristig die Voraussetzungen dafür schafft,dass wir auf Dauer die Probleme, die in der beruflichenBildung vorhanden waren, lösen.
„Ausbildung für alle“ ist das Leitziel unserer Be-rufsbildungspolitik. Das Bundeskabinett hat deshalb imJuni letzten Jahres beschlossen, das Sofortprogramm biszum Ende des Jahres 2000 zu verlängern. Wir habenhierfür erneut 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.Das ist richtig, weil junge Menschen einen Anspruch aufAusbildung haben.
Sie haben das Recht, uns in die Pflicht zu nehmen. DieseBundesregierung will sich und wird sich dieser Pflichtnicht entziehen. Jeder junge Mensch, der kann und will,wird ausgebildet. Das ist die Kernaussage des Ausbil-dungskonsenses, den Bundesregierung, Vertreter derWirtschaftsverbände und der Gewerkschaften im„Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfä-higkeit“ geschlossen haben.Anders als Sie, meine Damen und Herren von derOpposition, haben wir nicht nur an die Sozialpartner ap-pelliert; vielmehr haben wir mit ihnen konkrete Maß-nahmen vereinbart, um unser Ziel zu erreichen. Das ha-ben wir mit Erfolg getan, wie das Beispiel der informa-tionstechnischen Berufe sehr deutlich zeigt. In den in-formationstechnischen Berufen herrscht ein Mangel vonüber 80 000 Fachkräften. Diesen Fachkräftemängel ha-ben Sie von der Opposition durch Ihre jahrelange Untä-tigkeit zu verantworten.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7833
Die im Bündnis vereinbarte und von allen Beteiligtengetragene Offensive, diesen Fachkräftemangel zu be-heben, hat bereits jetzt die Erwartungen, die wir mit derVereinbarung verbunden hatten, übertroffen. Statt 2002,wie wir das miteinander vereinbart haben, werden wirbereits in diesem Jahr die vereinbarten 40 000 neuenAusbildungsplätze in diesem Bereich schaffen.
Wir haben diese Vereinbarung zusammen mit den Sozi-alpartnern getroffen. Das habe ich vorhin gesagt, lieberHerr Kollege. Wir haben einen anderen Weg als Sie ein-geschlagen. Wir haben uns mit den Vertretern der Un-ternehmerverbände, der Unternehmen selbst und derGewerkschaften zusammengesetzt, um konkrete Verein-barungen zu treffen. Gerade der Erfolg im Bereich derinformationstechnischen Berufe, nämlich schon in die-sem Jahr das Ziel zu erreichen, dessen Erfüllung wir erstfür das Jahr 2000 angestrebt hatten, zeigt doch, dass diesder richtige Weg und die richtige Vorgehensweise ist.
Dies wird den Jugendlichen helfen, weil sie dadurch ei-ne zukunftsträchtige Ausbildung erhalten. Dies hilftauch der Wirtschaft, weil sie dadurch in Zukunft ihrenFachkräftemangel schnell und zügig beheben kann. Wir haben im Bündnis mit den Sozialpartnern wei-terhin die Modernisierung der Ausbildungsberufe ver-einbart. Damit sorgen wir dafür, dass Ausbildung für dieBetriebe wieder lohnender – eine lohnende Investition inden Erhalt und in die Verbesserung ihrer Wettbewerbs-fähigkeit – wird. Wir sorgen gleichzeitig dafür, dass dieJugendlichen eine Ausbildung erhalten, die tatsächlichup to date ist.Wir haben gemeinsam mit den Sozialpartnern be-schlossen, bestehende Ausbildungsberufe zu moderni-sieren und neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Dasgilt besonders für innovative und wachsende Beschäfti-gungsfelder im Dienstleistungssektor, weil wir in diesemBereich in den 90er-Jahren eine viel zu langsame, eineviel zu zögerliche Entwicklung hatten. Wir haben weiterhin vereinbart – das ist mir wich-tig –, dass wir die Möglichkeiten für neue Berufe auchmit weniger komplexen Anforderungen voll ausschöp-fen, weil Jugendliche mit schlechteren Startchancen, mitschlechteren schulischen Voraussetzungen besondereSchwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu er-halten. Wir wollen auch diesen Jugendlichen einen Ein-stieg in einen Beruf mit Entwicklungschancen ermögli-chen.Meine Herren und Damen, der Abbau der Jugendar-beitslosigkeit und die Schaffung von mehr Ausbil-dungsplätzen sind das oberste Ziel der Bundesregie-rung. Wir wollen erreichen, dass sich wieder mehr Be-triebe und neue Branchen an der dualen Berufsausbil-dung beteiligen, weil sie nur so auf Dauer zukunftsfähigbleiben wird.
Wir haben mit unseren Vereinbarungen im „Bündnisfür Arbeit“, aber auch mit dem Sofortprogramm denrichtigen Weg eingeschlagen und wir haben damit Er-folg gehabt. Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengungvon Bundesregierung und Wirtschaft sind bis zum30. September 1999 bundesweit rund 631 000 neueAusbildungsverträge abgeschlossen worden. Das sindrund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. Die Situation hatsich also erheblich verbessert.Ich füge aber hinzu: Sie ist noch nicht zufrieden stel-lend. Vor allem in den neuen Ländern ist die Lücke zwi-schen angebotenen und nachgefragten Ausbildungsplät-zen noch zu groß. Das Angebot an betrieblichen Ausbil-dungsplätzen ist besonders in den neuen Bundesländernzu gering. Deshalb sind auch in den kommenden Jahrenergänzende, öffentlich finanzierte Ausbildungsplatz-programme erforderlich.Ein Weiteres will ich an dieser Stelle deutlich sagen:Wir müssen, meine Herren und Damen, dahin kommen,die Förderung von Ausbildungsplätzen mit öffentlichenMitteln nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen.
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir auch im Bündnis mitden Sozialpartnern vereinbart haben, dass wir die so ge-nannten Kopfprämien in den neuen Bundesländern ab-bauen, weil sie leider zu einem Zustand der Dauerfinan-zierung geführt haben und führen werden. Daher war esrichtig, dass wir diese Vereinbarung getroffen haben.
Die Verschiebung der Ausbildungslasten von derWirtschaft auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabelnoch auf Dauer finanzierbar. Das Wichtigste ist: Wennwir die von uns im „Bündnis für Arbeit“ eingeleiteteUmorientierung nicht vornehmen würden, dann würdedas auf Dauer das duale System in seinen Grundstruktu-ren gefährden. Das wollen wir nicht.Die Betriebe, meine Herren und Damen, profitierenam meisten davon, wenn sie Jugendliche selbst ausbil-den; denn sie erhalten gut qualifizierte Fachkräfte, derenPotenziale und Fähigkeiten sie kennen. Die Ausbildungim eigenen Betrieb liegt deshalb im unmittelbaren Inter-esse der Unternehmen selbst.Das deutsche Berufsbildungssystem lebt vom Enga-gement der kleinen und der großen Betriebe. Dieses En-gagement werden wir nachhaltig unterstützen und stär-ken. Darauf haben wir uns im Bündnis verständigt. Kernder Vereinbarung, die wir gemeinsam mit den Ländernund den Sozialpartnern umsetzen werden, ist eine Ver-stärkung der regionalen Aktivitäten zur Verschaffungvon betrieblichen Ausbildungsplätzen.Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben uns ge-zeigt, dass die individuelle Ansprache vor Ort gemein-Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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7834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
sam mit den Vereinbarungen, die wir im Bündnis getrof-fen haben, der richtige Weg ist, um die Ausbildungs-probleme zu überwinden. Wir brauchen nämlichselbsttragende Strukturen in der Region, die uns helfen,die Ziele des Ausbildungskonsenses umzusetzen.Dass dies der richtige Weg ist, zeigen die Erfolge derNachvermittlungsaktion im letzten Jahr. Ende Sep-tember 1999 waren noch 29 000 Jugendliche unvermit-telt. Ende Dezember konnte diese Zahl um 16 200 auf12 800 gesenkt werden. Diesen 12 800 Jugendlichenstanden noch 7 400 nicht besetzte Ausbildungsplätzegegenüber. Das heißt, die regionale Umsetzung derNachvermittlungsaktion, die wir im „Bündnis für Ar-beit“ vereinbart haben, ist genau der richtige Weg undzeigt Erfolg.Alle Jugendlichen, die trotz verstärkter Vermittlungs-bemühungen auch im Dezember noch keinen Ausbil-dungsplatz gefunden haben, bekommen entweder mitden bislang noch unbesetzten betrieblichen Ausbil-dungsplätzen oder mit dem verlängerten Sofortpro-gramm eine weitere Chance, sodass wir unser Ziel, dassalle Jugendlichen, die können und wollen, auch einenAusbildungsplatz erhalten, erreichen können.Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schondarauf hingewiesen: Wir müssen auch den leistungs-schwächeren Jugendlichen mit schlechteren Startchan-cen die Chancen für eine berufliche Qualifizierung ge-ben. Sie haben zurzeit besonders große Schwierigkeiten.Deshalb haben wir im Bündnis vereinbart, dass wir dieberufliche Benachteiligtenförderung weiterentwickeln. Wir gehen dabei auch neue Wege, und zwar gemein-sam mit den Sozialpartnern und den Ländern, die imBündnis mitwirken. Wir gehen neue Wege in Form einerstärkeren Partnerschaft zwischen Schule und Betrieb,damit wir eine bessere Verknüpfung von Theorie undPraxis nicht erst in der beruflichen Bildung erreichen,sondern bereits in der Schule.
Ich bin davon überzeugt, dass das ein wichtiger Wegist. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsenzum Beispiel haben damit schon begonnen.
– Sie wissen, lieber Kollege, dass ich zum Beispiel imBündnis genau diese Vorschläge mit erarbeitet habe,
dass aber die Länder für die Umsetzung in den Schulenzuständig sind. Den föderalen Charakter unseres Landeswerden auch Sie nicht außer Kraft setzen.
Meine Herren und Damen, die Berufsausbildung hatfür die Bundesregierung herausragende politische Be-deutung, weil über die Berufs- und Lebenschancen jun-ger Menschen entschieden wird. Alle Betriebe und Ver-waltungen sind aufgefordert, ihr Ausbildungsengage-ment zu verstärken. Eine duale Ausbildung ist immernoch die beste Garantie – das zeigen alle Statistiken, alleKenntnisse, die wir haben, sehr deutlich –, um später ei-nen Arbeitplatz zu finden, aber auch um ihn zu behalten.Deshalb müssen Staat und Wirtschaft gemeinsam dafürsorgen, dass das duale System auf Dauer leistungsfähigbleibt.Wir stehen dabei vor zwei Aufgaben: Zum einenmüssen wir den akuten Bedarf an Ausbildungsplätzendecken. Zum anderen müssen wir gleichzeitig das dualeSystem modernisieren. Das, meine Herren und Damen,gelingt uns nur, wenn wir eine dauerhafte Verständigungzwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik er-reichen, so wie wir das im Bündnis gemacht haben. Dasist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das dualeSystem auch künftig – in Deutschland und weltweit –ein Erfolgsmodell ist. Wir haben im „Bündnis für Ar-beit“ die Basis dafür gelegt. Wir werden uns gemeinsammit Unternehmen und Gewerkschaften um die weitereUmsetzung unserer Vereinbarungen kümmern.Liebe Kollegen und Kolleginnen, die vereinbartenund getroffenen Maßnahmen der rot-grünen Bundesre-gierung und die konstruktive Haltung aller Beteiligtenim Bündnis – ich will die konstruktive Beteiligung vonWirtschaftsverbänden, Unternehmen und Gewerkschaf-ten ausdrücklich hervorheben; sie machen wirklich mitund wollen das auch künftig tun und kümmern sichselbst sehr engagiert um die Umsetzung der Vereinba-rung – haben gute Wirkung gezeigt.
– Lieber Kollege, es ist falsch, wenn Sie sagen, das seinichts Neues. Es hat in den vergangenen Jahren nicht eineinziges Mal die Fortschritte in der beruflichen Bildunggegeben, die im letzten Jahr zu verzeichnen gewesensind.
Das wird gerade von den Sozialpartnern ausdrücklichhervorgehoben, und zwar sowohl von den Wirtschafts-verbänden als auch von den Gewerkschaften.
Wir werden weiter darauf aufbauen. Wir werden unsfür die Zukunft der jungen Menschen auch künftig en-gagieren und den gemeinsam eingeschlagenen Weg wei-tergehen. Wir werden dabei Erfolg haben – im Interesseder Jugendlichen und im Interesse unseres Landes.Vielen Dank.
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7835
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsi-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Be-seitigung der Jugendarbeitslosigkeit ist zurzeit die größ-te gesellschaftspolitische Herausforderung, größer nochals die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insgesamt.
Bildung, Ausbildung und Qualifizierung junger Men-schen sind und bleiben dabei die beste Investition in dieZukunft. Das von der rot-grünen Bundesregierung auf-gelegte Sofortprogramm zum Abbau der Jugendar-beitslosigkeit habe ich hier im Plenum und in den Aus-schussberatungen vor allem als Einstiegsprogramm undhinsichtlich seiner Sogwirkung und Brückenfunktion fürbenachteiligte Jugendliche gewürdigt.
Mittlerweile hat jedoch die Jahresbilanz dieses Pro-gramms einige Mängel und Defizite aufgedeckt.
Ich will nur zwei Punkte herausgreifen: Erstens. Wennman das Programm daran misst, inwieweit es als Brückein den ersten Arbeitsmarkt tauglich ist, muss man leiderfeststellen, dass nur 14 Prozent der Auszubildenden imdualen System untergebracht werden konnten.
Das ist entschieden zu wenig.
Zweitens. Eine weitere Schwachstelle macht unshellhörig: Per Weisung und ohne die Öffentlichkeit da-rüber zu informieren, ist im Juli letzten Jahres die Betei-ligung der Bundeswehr am Sofortprogramm außer Kraftgesetzt worden.
Mit einem Federstrich sind dadurch circa 5000 Stel-len für Wehrdienstleistende ohne Anschlussbeschäfti-gung weggefallen.
Dies ist für mich eine skandalöse Entscheidung.
Uns helfen auf Dauer keine milliardenschwerenHilfsprogramme mit Strohfeuereffekten. Was wir brau-chen, sind Strukturen, die langfristig halten und rea-listische Zukunftsperspektiven eröffnen. Auch das 9-Punkte-Konzept der F.D.P. zur Schaffung zusätzlicherAusbildungsplätze weist in diese Richtung. Wir unter-stützen durchaus das Bestreben, bewährte Maßnahmenfortzusetzen.
Dazu gehören regionale Ausbilderkonferenzen undAusbildungsbörsen genauso wie, vor allem in den neuenBundesländern, der Einsatz von Lehrstellenentwicklern.Ausbildungsverbünde sollten allerdings noch intensi-ver gefördert werden.
Dann erhalten auch kleine und mittlere Betriebe, die ausfinanziellen, organisatorischen oder personellen Grün-den keine eigenen Ausbildungsplätze anbieten können,die Chance, im Rahmen des dualen Systems auszubil-den.
Meine Damen und Herren, entscheidend für dieChancen auf dem Ausbildungsmarkt ist eine solideGrundbildung. Dazu brauchen wir eine qualitäts-bewusste Weiterentwicklung unserer Schulen, in denenKinder und Jugendliche mit ihren verschiedenen Bega-bungen und Interessen wieder ernst genommen werden.Sie müssen gefördert, aber auch angemessen gefordertwerden.
Diese Erkenntnis sollte sich in allen Bundesländerndurchsetzen.
Gerade in Baden-Württemberg und Bayern haben Quali-tätssicherung und Professionalisierung der Schulbildungschon längst Priorität.
Auch in der Bildungspolitik muss es zu einem offen-siven Wettbewerbsföderalismus kommen. Dieserfruchtbare Wettstreit zwischen den Bundesländern kannentscheidend dazu beitragen, das Süd-Nord-Gefälle inDeutschland abzubauen. Notwendig ist aber auch eine bessere und kontinuier-liche Zusammenarbeit aller Einrichtungen des Bil-dungswesens. Lebenslanges Lernen sowie Fremdspra-chen- und Medienkompetenz müssen durch eine bessereVerzahnung von Erst- und Weiterbildungswegen gezieltgefördert werden.
Frau Ministerin Bulmahn hat soeben davon gespro-chen, die berufliche Bildung sei in besonders hohem
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7836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Maße den Innovationsprozessen der Wirtschaft und da-mit enormen Veränderungen unterworfen. Ich meine,neue Berufsbilder besonders im Dienstleistungs- undMultimediabereich müssen zügiger geschaffen werden.Es muss uns gelingen, möglichst allen Jugendlichen über die eigene Berufstätigkeit eine gesellschaftlicheund kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk sollten wir dabei auf die10 bis 15 Prozent aller Lehrstellenbewerber richten, dieaufgrund sozialer und kognitiver Defizite nicht ausbil-dungsreif sind. Für diese Zielgruppe gilt es, bereits inder Hauptschule den Praxisbezug zu verbessern und diepraktischen Leistungen höher zu bewerten, beispielswei-se in Form von Projektprüfungen.Für die eher praktisch begabten Jugendlichen brau-chen wir darüber hinaus neue Berufsbilder mit theorie-gemindertem Anforderungsprofil.
Auch mit Teilqualifikationen, modularen Elementen oder Stufenausbildungen kann ihnen geholfen werden.Beispielsweise geht hier das Satellitenmodell des DIHTneue Wege zu einer modernen Beruflichkeit. An dieser Stelle, meine Damen und Herren, appellie-re ich ausdrücklich an die Gewerkschaften: Hören Sieendlich auf, diese Ausbildungsprofile aus ideologischenGründen zu bekämpfen!
Außerdem sollten die Beteiligten beim „Bündnis für Ar-beit“ die bereits angesprochenen beschlossenen Leitli-nien zur beruflichen Benachteiligtenförderung zügigumsetzen.Zu begrüßen sind neue Projekte wie der verstärkteEinsatz von Jugendberufshelfern in Baden-Württembergoder die Einrichtung von Praxisklassen in Bayern. Ver-gleichbar mit dem erfolgreichen Modell „New Deal“ inEngland kümmern sich immer mehr Jugendberufshelfergezielt um die Jugendlichen in den Berufsvorbereitungs-jahren, besprechen mit ihnen die individuellen Lebens-entwürfe und versuchen, sie zu einer adäquaten Berufs-wahl und Ausbildung zu motivieren. Ohne solche Hilfendroht gerade diesen benachteiligten Jugendlichen gesell-schaftliche Randständigkeit oder sogar Ausgrenzung.Das können und dürfen wir nicht hinnehmen.
Meine Damen und Herren, bei der Schaffung vonAusbildungsplätzen kommt es aber entscheidend auf diewirtschafts- und steuerpolitischen Rahmenbedingungenan.
Wir brauchen eine große Steuerreform. Daneben müssenwir dringend zu einer soliden, wachstumsorientiertenWirtschaftspolitik zurückfinden.
Sie bringt neue Impulse für den Ausbildungsmarkt.Mit ihren Steuerbeschlüssen benachteiligt die rot-grüne Koalition jedoch den Mittelstand über Gebühr,
obwohl sie wissen müsste, dass gerade der Mittelstandüber 60 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschlandanbietet.
Auch Kleinbetriebe – vor allem das Handwerk – neh-men circa 20 Prozent aller Auszubildenden auf. Dafürverdienen sie Lob und Anerkennung, statt laufendKnüppel zwischen die Beine geschmissen zu bekom-men.
Die größte Keule in diesem Bereich ist die so genann-te Ökosteuer.
Diese Geldbeschaffungsmaßnahme ist ein reiner Etiket-tenschwindel, ein Abkassiermodell mit grünem Mäntel-chen. Sie bringt keinen Gewinn für die Umwelt, statt-dessen Mehrkosten für die Betriebe: allein im Handwerkbisher 280 Millionen DM. Dies ist sozial ungerecht undpolitisch verantwortungslos.
Auch das so genannte Steuerentlastungsgesetz erweistsich für den Mittelstand als ein Steuerbelastungsgesetz.Dies ist kein Beitrag für mehr Wachstum und Beschäfti-gung. Im Gegenteil, das ist eine Politik, die Arbeits- undAusbildungsplätze verhindert statt schafft.Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ab-schließend eine Bemerkung zum F.D.P.-Antrag. Er ent-hält einige gute Ansätze zur Verbesserung der Zukunfts-chancen unserer jungen Generation. Die CDU/CSUstimmt dem F.D.P.-Konzept zu. Es ist kein politischerWeitwurf, aber ein Schritt in die richtige Richtung.Politik mit Augenmaß bewegt sich stets zwischenBewahren und Erneuern. Deshalb sollte vieles, was sichbewährt hat, weitergeführt werden. Darüber hinaus giltes aber, für die Auszubildenden neue Wege zu gehen.Politische Innovation ist gefragt. Unsere Jugend brauchtPerspektiven, sie ist unsere Zukunft. Geben wir dieserZukunft eine Chance.Vielen Dank.
Ich erteile der Kolle-gin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Heinz Wiese
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7837
Dasfreut mich besonders, Herr Niebel. Ich habe Sie seit ges-tern Abend schon vermisst. Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Auseinandersetzung über einen Be-rufsbildungsbericht ist immer auch eine Diskussion überZahlen. 1998 – das ist der Zeitraum, den der vorliegendeBerufsbildungsbericht erfasst – hat sich der Lehrstel-lenmarkt im Vergleich zum Jahr 1997 etwas entspannt.Kamen 1997 auf 100 Bewerber und Bewerberinnennoch 96,6 Stellen, waren es 1998 bereits 98,1. 1999 –unter rot-grüner Verantwortung – lag das Verhältnis vonoffenen Ausbildungsplätzen zu Bewerberinnen und Be-werbern bereits bei über eins zu eins, im Westen sogarbei 116 zu 100. Die Jugendarbeitslosigkeit sank deutlichum 18 Prozent.
Angesichts dieser Zahlen hätten Sie wahrscheinlich inder letzten Legislaturperiode vor Begeisterung erst ein-mal Luftsprünge gemacht. Deshalb können wir sagen,dass wir es geschafft haben, innerhalb eines Jahres dieJugenderwerbslosigkeit deutlich zu senken. Dem könnensogar Sie sich nicht verschließen.
Das JUMP-Programm hat bereits im Frühjahr 199925 000 Jugendliche von der Straße geholt, die als so ge-nannte Altnachfragerinnen und Altnachfrager ohne Per-spektive waren. Das ist die Leistung, die wir gleich zuBeginn erbracht haben. Aber das war nur der ersteSchritt zur Lösung dieses Problems und noch immer gibtes Jugendliche, die in den vergangenen Jahren unvermit-telt blieben und einen Job suchen.Zu Wahrheit und Klarheit gehört es auch, an dieserStelle zu sagen, dass diese Entspannung auf dem Aus-bildungsmarkt in der Tat in erster Linie dem JUMP-Programm der Bundesregierung zu verdanken ist.
Die Zusagen der Wirtschaft wurden leider an dieserStelle wiederum nicht eingehalten – nicht 1998, als Alt-bundeskanzler Kohl mit dem – dann unerfüllten Wahl-versprechen, jedem Jugendlichen einen Ausbildungs-platz anzubieten, in den Wahlkampf zog, und auch nicht,als die Wirtschaft im Rahmen des „Bündnisses für Ar-beit“ 6 000 Stellen für den demographischen Zusatzbe-darf versprochen hat und darüber hinaus noch 10 000zusätzliche Stellen zusagte. Wenn wir den Effekt desJUMP-Programms von den erreichten Zahlen abziehen,müssen wir leider feststellen, dass wir, wenn wir übereinen Erfolg reden wollen, tatsächlich nur von einem Er-folg des JUMP-Programms reden können.Sorge muss uns an dieser Stelle auch der Rückgangvor allem in den industriellen Ausbildungsberufen imOsten machen. Deshalb appellieren wir an dieser Stellevor allem an die Wirtschaftsverbände, ihre Zusagen be-züglich der Ausbildungssituation einzuhalten und bei ih-ren Mitgliedern eine größere Verbindlichkeit herzustel-len.
Ich bin überzeugt, dass es den Unternehmen in Zu-kunft leichter fallen wird, die notwendige Motivation beiihren Mitgliedern zu erreichen, um den grundgesetzlichgebotenen Beitrag aufzubringen; denn wir stehen heutevor dem größten Wirtschaftsaufschwung seit dem Ver-einigungsboom, der damals zum Teil künstlich erzeugtwurde.Darüber hinaus ist sich die rot-grüne Koalition be-wusst, dass sie auch, vor allem was die Ausbildungssitu-ation betrifft, an den Rahmenbedingungen arbeitenmuss.
Aber das meiste von dem, was Sie von der F.D.P. undvon der Union fordern, ist längst ein Bestandteil unseresderzeitigen Maßnahmenkatalogs.
Sie haben es verpasst, in den vergangenen 16 Jahrendie richtigen Weichenstellungen vorzunehmen.
Wir dagegen haben uns vorgenommen, konkret zu han-deln und konstruktiv zu agieren.
Aber neben all diesen quantitativen Aspekten muss esuns auch um die Qualität gehen. Das JUMP-Programm –das sagen Sie – mag auch Schwächen haben, aber diesliegt auch in der Natur der Sache, nämlich in der des So-fortprogramms. Wir möchten aus diesem Sofortpro-gramm konstruktive Schlussfolgerungen ziehen; dennJUMP hatte – das wurde bereits angesprochen – nichtunerhebliche Mitnahmeeffekte bei der Wirtschaft und esorientiert sich nach wie vor an den traditionellen Be-rufsbildern. Bei jungen Männern ist immer noch derBeruf des Kfz-Mechanikers auf Rang Nummer eins undbei jungen Frauen ist noch immer der Beruf der Friseuseauf einem absoluten Spitzenplatz.Deshalb hat die Koalition beschlossen, speziell gegenden Fachkräftemangel im Bereich der Informationstech-nologien vorzugehen. Hier werden in den kommendendrei Jahren 26 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen.Aber das ist nicht alles. Wir sind auch schon dabei,neue Berufsbilder zu erarbeiten und auf den Weg zubringen.Präsident Wolfgang Thierse
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7838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Ein weiteres Problem ist die Zielgruppengenauig-keit. JUMP war niemals nur als ein Programm für be-nachteiligte Jugendliche gedacht, sondern wurde allge-mein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutsch-land eingebracht. Daher müssen wir auch Programmeweiterentwickeln, die gerade die benachteiligen Jugend-lichen ansprechen, weil wir wissen, dass 50 Prozent derarbeitslosen Jugendlichen in den alten und über 20 Pro-zent der arbeitslosen Jugendlichen in den neuen Bundes-ländern keinen qualifizierten Abschluss haben.Deshalb liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Lö-sung dieses Problems im allgemeinbildenden Schulsys-tem. Da gibt es beispielsweise die Problemgruppe der sogenannten nicht beschulbaren Jugendlichen. In eini-gen Bundesländern laufen diesbezüglich Experimente,die zeigen sollen, wie durch ganz speziell zugeschnitte-ne Schulen und Unterrichtsmodelle erreicht werdenkann, dass auch diese Jugendlichen einen qualifiziertenAbschluss schaffen. In diesem Bereich muss der Infor-mations- und der Erfahrungsaustausch erheblich intensi-viert werden, wenn wir vermeiden wollen, dass hier eineGruppe von dauerhaft Ausgegrenzten heranwächst.Ähnliches gibt es auch in einer weiteren statistisch er-fassten Problemgruppe, nämlich der Gruppe der auslän-dischen Jugendlichen und hier vor allen Dingen dermännlichen Jugendlichen. Eines ist empirisch erwiesen:Überall dort, wo auf die spezifischen Probleme der jun-gen Migrantinnen und Migranten eingegangen wird, überall dort, wo sie Kurse für die deutsche Sprache be-suchen können und wo sie schulisch und sozial gefördertwerden, entschärft sich das Problem der mangelndenQualifikation und der mangelnden Berufschancen ganzerheblich. Die Bundesregierung nimmt hier ihre Verant-wortung nicht nur im Rahmen von Sonderprogrammenund Modellprogrammen wahr. Weitere Schritte sind aber – vor allem auf Landesebene und auf Kommunal-ebene – an dieser Stelle mehr als dringend notwendig.Von besonderer Bedeutung ist auch die Vermittlungvon Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt des21. Jahrhunderts. Dazu gehören Teamfähigkeit, Kom-munikationsfähigkeit und die Fähigkeit zu kreativenProblemlösungen und zum lebenslangen Lernen. Alldies muss bereits im Schulsystem entwickelt werden.In Bayern läuft gegenwärtig ein viel versprechendesVolksbegehren von Lehrerverbänden, von Schülerinnenund Schülern sowie von den Eltern, das den Titel „Dasbessere Schulkonzept“ trägt. Leider verkennt gerade dieCSU mit ihrer fundamentalistischen Ablehnung dieserKonzepte die Zeichen der Zeit, gerade was diese Schlüs-selqualifikationen betrifft.
Schulpolitik mag in erster Linie Ländersache sein. Aberauch Sie, Herr Kollege, werden mir zustimmen, dassSchulpolitik letztlich uns alle angeht.
Kollegin Deligöz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?
Nein,
er kann sich ja nachher noch einmal melden.
Das duale Ausbildungssystem hat sich trotz erkenn-
barer Schwächen vor allem in Westdeutschland bewährt.
Die Koalition hat zahlreiche Modernisierungsvorschläge
gemacht und Anforderungen erarbeitet, die gerade in
diesem Haus Anklang finden.
Die vom DGB-Vorsitzenden Schulte geforderte Aus-
bildungsoffensive und seine zugleich verkündete Bereit-
schaft, offen und mit flexiblen Instrumenten auf die im-
mer differenziertere Ausbildungssituation einzugehen,
begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso im Grundsatz zu be-
grüßen sind die Arbeitgeberforderungen nach einer fle-
xiblen und einer offenen Gestaltung der Weiterbildung.
Es zeigt sich hier wie auch in vielen anderen Fragen,
dass die Konsensstrategie der Bundesregierung im
Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ Sinn macht und an
vielen Stellen auch Früchte trägt.
Konsensuale Schritte sind aber notwendig, um noch
unerschlossene Ausbildungsreserven zu mobilisieren.
Nur etwa 10 Prozent der ausländischen Betriebe bilden
aus. Das liegt sicherlich nicht an der mangelnden Bereit-
schaft, sondern oft auch an der mangelnden Unterstüt-
zung und an bürokratischen Hemmnissen sowie an der
Frage der Ausbildungsberechtigung. Hier können vor al-
lem die Industrie und die Handelskammern etwas unter-
nehmen, um zur Verbesserung der Situation beizutragen.
Die öffentliche Hand sollte die Ausbildungsbereit-
schaft der Betriebe dadurch fördern, dass sie bei der
Vergabe von öffentlichen Aufträgen vor allem die Be-
triebe bevorzugt, die ausbilden. Dies kommt nach der
heutigen Situation vor allem den kleineren und mittleren
Betrieben zugute.
Abschließend möchte ich festhalten: Wir haben si-
cherlich nicht für alles eine Patentlösung. Aber wir sind
auf einem sehr guten Wege. Wir können zu Recht als
rot-grüne Koalition darauf hinweisen, dass wir nicht nur
über alles reden, sondern dass wir zu Taten schreiten
und dass wir bereits einige wichtige Schritte gegangen
sind.
Ich erteile das Wortder Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.Ekin Deligöz
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7839
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Schaffung von Ausbildungs-plätzen für junge Frauen und Männer ist nicht nur diebeste Zukunftsinvestition, die wir tätigen können, son-dern – da es die Option auf einen zukünftigen Arbeits-platz einschließt – auch die beste Sozialpolitik, die manfür junge Menschen in diesem Land betreiben kann.
Daran muss sich auch die Politik der rot-grünen Bun-desregierung messen lassen. Ich sage auch ganz deut-lich, dass wir Liberale es für völlig falsch halten, geradedie Ausbildungsplatzpolitik, die berufliche Bildung zumpolitischen Schlachtfeld zu machen.
Trotzdem müssen Sie natürlich auch die Kritik derOpposition an Ihren Programmen ertragen. Ich gebe zu,der uns seit geraumer Zeit vorliegende Berufsbildungs-bericht ist nicht der geeignete Maßstab für eine Be-wertung der Leistungen dieser Bundesregierung. Er be-schreibt nämlich den Zustand vom September 1998, also das Ergebnis der Regierungsarbeit der christlich-liberalen Koalition.
Der Bericht macht deutlich, dass die alte Bundesre-gierung bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen eini-ge richtige Weichenstellungen vorgenommen hat.Zugleich zeigt er, wie wichtig es ist, Signale zur Schaf-fung zielgenauer Rahmenbedingungen für eine Stärkungder Wirtschaft zu geben, insbesondere für die kleinenund mittleren Betriebe, um damit die Ausbildungsbereit-schaft der Betriebe und Einrichtungen zu stärken. DieTarifvertragsparteien, Bund und Länder sind hier glei-chermaßen gefordert. Für mich bedeutet das, geradekleine und mittlere Unternehmen, das Handwerk zustärken.
Das betriebliche Ausbildungsangebot muss ausge-weitet werden. Ausbildungsplatzentwickler haben dabeinatürlich eine Schlüsselposition. Wir meinen aber auch,Existenzgründern muss der Zugang zur Ausbildung er-leichtert werden. Dafür fehlen die richtigen Ansätze inIhrem Programm. Der einzig richtige Weg zur Siche-rung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen,meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,ist nach wie vor die Stärkung des dualen Systems, wobeider Ausbildungsbetrieb im Zentrum stehen muss.
Industrie und mittelständische Wirtschaft werden dieAusbildung ihres Nachwuchses jedoch immer an ihremwirklichen Bedarf orientieren. Daher kann ich die War-nung nicht oft genug aussprechen: Mittelstandsfeindli-che Gesetze vernichten Ausbildungs- und Arbeitsplätzein diesem Land.
Ich sage auch: Ausbildungsbereitschaft der Wirt-schaft und der Betriebe darf nicht nur immer eingefor-dert, sie muss auch belohnt werden. Ausbildungsbetrie-be dürfen durch Übernahmeverpflichtungen im Rahmenvon Tarifverträgen nicht abgeschreckt werden.
Ich sage ganz deutlich: Es müssen verstärkt Regelun-gen geschaffen werden, die eine moderate Ausbil-dungsvergütung ermöglichen. Tarifpolitische Entschei-dungen konterkarieren zurzeit die Schaffung von be-trieblichen Ausbildungsplätzen.
Nehmen Sie doch das Beispiel des Einzelhandels:Dort bekommt eine junge Frau im ersten Lehrjahr – dashat ja auch Allgemeinverbindlichkeit für alle Einzelhan-delsfirmen – 940 DM. Wie viele Ausbildungsplätze hät-ten wir geschaffen, gerade im Osten Deutschlands, wennwir daraus zwei oder drei Ausbildungsplätze machenkönnten, gerade im Handel. Da würden wir ein großesStück vorankommen.
Die Quintessenz bleibt: Die beste Ausbildungsplatz-politik für junge Menschen ist eine erfolgreiche Mit-telstandspolitik – dafür leistet diese Bundesregierungnicht viel –, denn nur betriebliche Ausbildungsplätze er-öffnen Optionen auf einen zukunftsorientierten Arbeits-platz für junge Frauen und Männer. Dieser Akzent fehltin Ihrem Sonderprogramm.
Heute schon ist deutlich zu erkennen, worauf Rot-Grün setzt. Die Mittelstandspolitik der Regierung ist mitihrer falsch verstandenen Steuerentlastung großer Kapi-talgesellschaften und mit ihrer Ökosteuer arbeits- undausbildungsplatzfeindlich.
– Doch, ich komme gleich zu konkreten Beispielen. Der Berufsbildungsbericht zeigt uns Wege auf, dieaber in keines der Programme der jetzigen Bundesre-gierung aufgenommen wurden. Auch das im vergange-nen Herbst beschlossene Sofortprogramm zum Abbauder Jugendarbeitslosigkeit, das mit großem Kraftauf-wand von den Arbeitsämtern umgesetzt wurde,
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ist letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich sage esnoch einmal: Das kann das Grundproblem insgesamtnicht lösen. Trotz der Neuauflage des Programms in die-sem Jahr sind wir von unserem Ziel, nämlich der dauer-haften und ausreichenden Bereitstellung von be-trieblichen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, noch im-mer weit entfernt.
Solange der Mut zu echten Reformen nicht aufge-bracht wird – das muss eine gemeinsame Kraftanstren-gung in diesem Parlament sein – und immer weitere mit-telstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtendeGesetze verabschiedet werden, sehe ich zu einer Fort-führung derartiger Sofortprogramme keine Alternative.Es ist zwar richtig, wenn immer wieder gesagt wird, je-der junge Mensch, der in irgendeine Form der Beschäf-tigung gebracht werde, sei weg von der Straße. Noch soschöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäfti-gungsprogramme können aber den Betrieb nicht erset-zen.
Das sehen wir am deutlichsten im Osten, wo auf abseh-bare Zeit keine Umkehrung des Verhältnisses von aus-bildenden zu nicht ausbildenden Betrieben von 29 Pro-zent zu 71 Prozent zu erwarten ist.Ich möchte Ihnen vortragen, was der interessanteKonjunkturbericht der IHK Halle/Dessau – immerhineine wachsende Wirtschaftsregion im Osten – enthält.Die Verfasser sehen mit Besorgnis die Entwicklung derkleinen und mittelständischen Betriebe in dieser Region.Es wird bemerkt, dass es kaum noch Investitionen gibtund dass die Unternehmenslücke größer wird; allein imJahre 1999 wurden 2 000 Gewerbeanmeldungen weni-ger verzeichnet. Während es im Westen durchschnittlich45 Unternehmen je Tausend Einwohner gibt, sind es imOsten nur 33. Überwiegend herrscht eine schlechte Ge-winnsituation bei den kleinen und mittleren Betriebenvor:
Von rund 34 000 Personengesellschaften ohne Eintragins Handelsregister arbeiten drei Viertel praktisch ohneGewinn. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren vonder Regierungskoalition, diese Betriebe mit Ihrer Steu-erpolitik eigentlich erreichen?
Ich denke, bei diesen Betrieben sind die wichtigen An-satzpunkte für eine erfolgreiche Ausbildungsplatzpolitikzu setzen. Bei der Berufsausbildung müssen neue Wege be-schritten werden. Die F.D.P. setzt sich schon lange füreine Modernisierung der beruflichen Ausbildung nachdem Muster eines Baukastensystems ein: Es soll mit Ba-sisberufen angefangen und dann in Form von Qualifi-zierungs- und Aufbaubausteinen weitergeführt wer-den. So haben wir leistungsstarke und leistungsschwa-che junge Menschen gleichermaßen im Auge. Es ist eine breite Diskussion im Gange. Ich gebe zu:Die Frau Bundesbildungsministerin hat, was die berufli-che Bildung anbelangt, auch zum Thema Modernisie-rung und Flexibilisierung wichtige Akzente aufgezeigt,die wir teilen und die wir wollen. Wenn Sie, Frau Minis-terin, Punkte, die der Entschließungsantrag der F.D.P.enthält, umzusetzen beabsichtigen bzw. zum Teil schonumgesetzt haben, dann, denke ich, sollten Sie und dieRegierungskoalition gezielt und bewusst dem Ent-schließungsantrag der F.D.P.-Fraktion zustimmen. Dafürmöchte ich noch einmal werben.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehr-te Damen und Herren! Wieder einmal geht es um einenBerufsbildungsbericht, dessen Inhalt, so scheint es, inso-fern überholt ist, als die Datenlage zwei Jahre alt ist undinzwischen Ergebnisse des JUMP-Programms und derBündnisgespräche vorliegen. Diese Ergebnisse will ich –das sage ich zu Beginn ausdrücklich – weder kleinredennoch gering schätzen: Tatsächlich ist vielen Jugendli-chen durch den Kraftakt der Bundesregierung wenigs-tens vorübergehend geholfen worden.Aber gehen wir die im Bericht aufgelisteten Schwer-punkte im Einzelnen durch, so zeigt sich seine Aktualitätauch trotz der von der Regierungskoalition ergriffenenneuen Maßnahmen. Richtig ist wohl, dass die Lehrstel-lenbilanz zum Stichtag 30. September ein Plus von3 Prozent bei den neu abgeschlossenen Ausbildungs-verträgen gebracht hat. Werden jedoch die vom Staatvoll finanzierten Plätze herausgerechnet, ergibt sich einweiterer deutlicher Rückgang beim Angebot der Betrie-be. Da stellt sich die Frage, was das Sofortprogrammund die Bündnisgespräche tatsächlich zur deutlichenAusweitung des betrieblichen Ausbildungsangebots bei-getragen haben. Oder gilt dieses Ziel nicht mehr?Im Dezember war von etwa 10 000 Plätzen wenigerbei Betrieben und Verwaltungen die Rede. Versprochenwurden im Bündnis zusätzlich 16 000 Stellen, und zwar„aus eigener Kraft“. Das Angebot sank vor allem imHandwerk, bei Ländern und Kommunen und in derGroßindustrie. Ist dies nun ein Effekt, der trotz oder so-Cornelia Pieper
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gar dank des Sofortprogramms zustande gekommen ist?Vielleicht gibt es darauf in der Begleitforschung eineAntwort.Festgehalten werden muss: Die Wirtschaft hat bisherihre Lehrstellenzusage nicht erfüllt.Ein zweiter Schwerpunkt des Berichts, der nichts anAktualität eingebüßt hat, ist die weitere Talfahrt bei denLehrstellen in Ostdeutschland. Das ist hier schon an-geklungen. Auch dort ging das betriebliche Lehrstellen-angebot wiederum zurück. Die neuen Bundesländerbleiben Spitzenreiter in den Bilanzen der Arbeitsämter.Im letzten Jahr kamen auf jeweils 100 Stellen zum Bei-spiel 142 Bewerbungen in Mecklenburg-Vorpommernund 182 Bewerbungen in Sachsen vor. Als Fazit bleibt demnach die Einschätzung im Min-derheitenvotum der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer zum vorliegenden Bericht aktuell: Auch in diesemJahr hat die Politik der Freiwilligkeit und der Anreizeversagt.
Das, was an Verbesserungen und Erfolgen gemeldetwird, geht zuerst und vor allem – das ist heute schondeutlich geworden – auf das Konto des Sofortpro-gramms. Das entspricht nicht dem Geist und den Zielendes Ausbildungskonsenses. Nach wie vor gilt: MehrAusbildungs- und Arbeitsplätze werden nicht durch So-fortprogramme geschaffen, sondern durch die richtigeAusgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingun-gen.
Der Kanzler hat das auf dem Bildungskongress derSPD in dieser Woche bestätigt. Ich kann ihm dabei nurzustimmen. Die Verschiebung der Ausbildungslastenauf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel noch aufDauer finanzierbar und gefährdet das duale System.
– Das hat ja Ihr Kanzler gesagt. Da muss ich ja Rechthaben.
– Ja, Frau Bulmahn auch. Selbstverständlich.
Ich kann auch noch ein paar andere Namen nennen, aberwir sind hier nicht bei einer Veranstaltung, auf der eineLaudatio auf einzelne Menschen gehalten wird. Auch wenn sich die SPD nach dem Regierungswech-sel von dem vorher favorisierten Modell der Umlagefi-nanzierung verabschiedet hat, weil der Kanzler – sowörtlich – nicht gegen die Wirtschaft arbeitet, fragt mansich, was JUMP anderes ist als eine Umlagefinanzie-rung. Es ist allerdings eine Umlage, die nicht von derWirtschaft getragen wird.Schließlich sei mir noch eine Bemerkung zur Chan-cengleichheit gestattet. Für den Bereich der beruflichenBildung würde das im Klartext bedeuten: Jeder Jugend-liche hat das Recht auf ein gleichwertiges, qualitativhochwertiges und auswahlfähiges Ausbildungsangebot.Dass wir davon meilenweit entfernt sind, weiß jeder, dereinmal versucht hat, sich vor Ort in dem ganzen För-derwirrwarr der verschiedenen Programme zurechtzu-finden. Da die Programme und Förderrichtlinien ständigverändert werden, kommt es dazu, dass in einer Klasseauf vier bis fünf verschiedenen Wegen geförderte Schü-lerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Rechten, Bezügen und Perspektiven nebeneinander sitzen. Eskann also weder von Gleichwertigkeit dieser Ausbildun-gen untereinander und erst recht nicht im Vergleich zurbetrieblichen Ausbildung die Rede sein – ganz zuschweigen von etwaiger Chancengleichheit nach abge-schlossener Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt. VomArbeitsamt finanzierte Schmalspurausbildungen undABM-Projekte zur Pflege von Grünanlagen sind, sowichtig sie sind, mit Sicherheit keine Antwort auf dieHerausforderungen an die Bildung für das 21. Jahrhun-dert, wie sie jetzt von den großen Parteien in Grundsatz-papieren neu entdeckt werden. Ein Gutachten, das kürzlich in Sachsen zur Situationund Perspektiven der beruflichen Erstausbildung erstelltwurde, kommt zu der Schlussfolgerung, dass die bil-dungspolitischen Antworten auf die Dienstleistungs-und Wissensgesellschaft außerhalb des Fachhochschul-und Hochschulbereichs noch nicht gefunden sind, undwarnt vor der Auffassung, dass irgendeine Berufsausbil-dung besser sei als keine. Die GEW fordert, dass diestaatlichen Milliarden besser für systematisch aufeinan-der abgestimmte Ausbildungsangebote eingesetzt wer-den müssen, und fordert die Politiker auf, ihre Steu-erungsfunktion stärker wahrzunehmen. Das ist allesrichtig und unterstützenswert. Es bleibt nur die Frage:Warum müssen es staatliche Milliarden sein? Auch inder Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gibt esgroße Bereiche, die von gut ausgebildeten Menschenprofitieren und die sich durchaus an den Ausbildungs-kosten beteiligen können. Damit wären wir wieder bei der Verantwortung derPolitik, zum Beispiel für die Einführung einer gesetz-lichen Umlagefinanzierung. Vielleicht kommen wir jadoch in diesem Haus noch einmal ernsthaft auf diesesThema zurück.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Willi Brase, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSchaffung und Sicherung von ausreichend quali-Maritta Böttcher
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fizierenden Ausbildungsplätzen ist Maßgabe und erstePriorität für die rot-grüne Regierung in der Bundesrepu-blik. Dabei müssen wir natürlich bedenken und berück-sichtigen, dass sich die Situation in den Regionen undLändern sehr unterschiedlich darstellt.Es ist eben schon angesprochen worden: Die Zahl derBewerber von Sachsen bis zum Saarland auf je 100 beiden Arbeitsämtern gemeldete Ausbildungsstellen ist inhöchstem Maße differenziert zu betrachten. Sind es imSaarland nur 99, so sind es in Sachsen 182. Das bedeutetdoch offensichtlich – zumindest belegen das die Zahlenvon September 1998 bis Oktober 1999 –, dass wir mitunterschiedlichen Instrumenten an dieses Problem he-rangehen müssen.Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das von entschei-dender Bedeutung ist. Schauen Sie sich einmal an, wo-hin die jungen Leute gehen und was die häufigstenLehr- und Ausbildungsberufe sind. Wir stellen fest,dass bei den jungen Frauen Bürokauffrau, Arzthelferin,Einzelhandelskauffrau und Zahnarzthelferin die Berufesind, die sie überwiegend wählen. Man muss natürlichüberlegen, ob das in der Zukunft so bleiben kann, obdort tatsächlich die Perspektive liegt. Bei den jungenMännern sind es die Berufe Kfz-Mechaniker, Elektro-installateur, Maler, Lackierer und Tischler. Auch damüssen wir überlegen, ob wir diese Orientierung in derBerufsbildungspolitik beibehalten können.Warum sage ich das? Wir haben oft davon gespro-chen, dass in den USA ein sehr gutes Wirtschaftswachs-tum erreicht worden ist. Wenn man sich überlegt, dass der Präsident Anfang der 90er-Jahre eine IT-Offensive ins Leben gerufen und vor allen Dingenden Zugang zum Internet ermöglicht und forciert hat,dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Versäumnisse in derBundesrepublik sind Ihre Versäumnisse aus der letztenLegislaturperiode und nicht die der rot-grünen Regie-rung!
– Ob das etwas Neues ist oder nicht, es ist eine Tatsache.Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
Im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-werbsfähigkeit“ ist beschlossen worden: Jeder, derkann und will, bekommt einen Ausbildungsplatz ange-boten. Diese Kernaussage vom Juli 1999 belegt erstmalsin der Geschichte der Bundesrepublik, dass junge Men-schen mehr als einen moralischen Anspruch darauf ha-ben, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie auch inder Zukunft eine Perspektive bekommen.
Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir diesen An-satz, nämlich alle Beteiligten, von den zuständigen Stel-len bis hin zu den Unternehmensverbänden unter Einbe-ziehung der Gewerkschaften und der Politik, in die Ver-antwortung einzubinden, in meiner Heimat, im Sieger-land und Sauerland, und darüber hinaus in Nordrhein-Westfalen entwickelt haben. Das ist gut und richtig sound da brauchen wir keinen Vergangenheitsminister,sondern wir schauen nach vorne.
Die Wirtschaft hat im „Bündnis für Arbeit“ zugesagt,aus demographischen Gründen 6 000 zusätzliche Aus-bildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus will sie wei-tere 10 000 Ausbildungsplätze anbieten. Nach den bis-her vorliegenden Zahlen müssen wir aber auch hier undheute deutlich feststellen: Diese Zusage konnte von derWirtschaft bisher nicht in vollem Umfang erfüllt wer-den. Deshalb war es richtig und notwendig – das habenviele Vorrednerinnen und Vorredner dankenswerterwei-se bestätigt –, dass das Sofortprogramm zumindest inTeilbereichen Abhilfe geschaffen hat. Das heißt, die Po-litik hat ein Stück weit, hier mit über 2 Milliarden DM,etwas getan, um die Ausbildungssituation und die Zu-kunftschancen für junge Leute zu verbessern.Frau Pieper ist leider nicht mehr da. Sie hat daraufhingewiesen, dass die F.D.P. mit ihren Anträgen, die wirheute hier diskutieren, Dinge vorschlägt, die notwendigund wichtig seien.
Ich möchte nur darauf hinweisen, Herr Niebel: Die Fra-ge der Übernahme ist nach wie vor eine zentrale Frage,weil junge Leute nach der Ausbildung praktische Erfah-rung brauchen. Wenn die Tarifpartner, wie in der Me-tall- und Elektroindustrie, ihre Übernahmetarifverträ-ge für ein Jahr fortschreiben, dann leisten sie einen her-vorragenden Dienst, indem sie verhindern, dass die jun-gen Leute auf der Straße landen.
Nun zu den regionalen Ausbildungsplatzkonfe-renzen. Ich lade Sie sehr herzlich ein: Kommen Sie inmeine Heimat, wo liebe und nette Leute leben und arbei-ten. Ich zeige Ihnen, wie wir diese Fragen seit fünf,sechs Jahren intensiv thematisieren, wie wir die Schwie-rigkeiten von lernschwachen Jugendlichen einbeziehen,wie wir es schaffen, in kleinen Betrieben, in mittlerenBetrieben und in Industriebetrieben gemeinsam immerwieder genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zustellen.Dafür brauchen wir das, was im Antrag zu regionalenAusbildungskonferenzen steht, nicht. Das ist „Stand derTechnik“. Das ist schon fast Normalität. Bei der Umsetzung des Konsenses beim Bündnis fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wird ge-rade beim Instrument der regionalen Ausbildungsplatz-konferenzen, wo es noch nicht angewandt wurde, derNachholbedarf sichtbar, und man kommt dort zu verbes-serten und veränderten Zahlen. Wir sind sehr gespannt,zu welcher Einschätzung wir im März dieses Jahreskommen werden und was durch die Nachbesserungsak-tion an zusätzlichen Ausbildungsplätzen realisiert undmobilisiert werden kann. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, ich will etwas zur Mittelstandspolitik sagen,Willi Brase
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weil wir seit Jahren hören, unsere Politik sei angeblichso mittelstandsfeindlich. Die F.D.P. fordert immer Mit-telstandsfreundlichkeit. Die Unternehmensteuerbelas-tung in der Bundesrepublik Deutschland lag 1998 bei56 Prozent, 1999 schon bei 51,8 Prozent, und am 1. Ja-nuar 2001 wird sie bei knapp 38 Prozent liegen. Einebessere unternehmensorientierte Steuerpolitik gibt esnicht. Der Weg, den wir mit unserer großen Unterneh-mensteuerreform gehen werden, ist genau der richtige.
Lassen Sie mich noch etwas zur Ökosteuer und zurMineralölsteuer sagen, weil das auch ein beliebtes Ar-gument ist.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Ölpreis pro Barrel inDollar in den letzten Monaten massiv angestiegen ist.Nehmen Sie aber auch zur Kenntnis, dass die Stromkun-den insgesamt vom liberalisierten Strommarkt profitierthaben und dass dabei, so schreibt es die „SüddeutscheZeitung“, die Frage der Ökosteuer überhaupt keine Rollegespielt hat und auch nicht ins Gewicht gefallen ist.
Wir haben immer wieder gesagt, ob Sie es hören wol-len oder nicht: Wir müssen die Arbeitskosten entlastenund müssen alle Teile dieser Gesellschaft an der Finan-zierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligen. Dashaben wir getan und wir werden diesen Weg konsequentfortsetzen.
Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkteeingehen, die nach meiner Auffassung sehr wichtig sind.Frau Bundesministerin Bulmahn hat das auch sehr deut-lich dargestellt. Wir brauchen Aktivitäten für lern-schwache Jugendliche. Die inhaltliche und organisato-rische Verknüpfung von berufsvorbereitenden Bil-dungsmaßnahmen und anschließender Berufsausbildungist wichtig, damit wir unproduktive Warteschleifensitua-tionen vermeiden. Sie alle wissen, dass die jungen Menschen, wenn sienur in Warteschleifen verwahrt werden, Zukunftsper-spektiven verlieren und auch den Glauben verlieren,dass wir richtig in ihrem Sinne handeln.
Deshalb ist es richtig, was Frau Bulmahn gesagt hat,dass die erworbenen ausbildungsrelevanten Qualifikati-onen in den vorbereitenden Maßnahmen bescheinigtwerden sollen und dass sie möglicherweise auch zu ei-ner Verkürzung der anschließenden Berufsausbildungführen können. Wir sollten über diesen Punkt intensivund sachlich nachdenken.
– Das ist wunderschön.Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen uns Gedankenmachen über die Qualifizierung und Weiterqualifizie-rung junger Erwachsener, die eben nicht die Chance hat-ten, in Erstausbildung zu kommen. Auch dort hat –schauen Sie sich das genau an – das Bündnis für Arbeitentscheidende Punkte aufgeführt.Die strukturelle Weiterentwicklung ist angesprochenworden. Wir plädieren für eine Beibehaltung des Be-rufskonzepts. Das hat sich in der Vergangenheit bewährtund wird sich auch in der Zukunft bewähren. Wir wen-den uns dagegen, dass über Modularisierung auf schlei-chendem Wege alte Stufenausbildungsgänge wiedereingeführt werden. Sie helfen den jungen Leuten in derTat nicht weiter.
– Doch, diese Diskussion findet durchaus im Handwerkund auch im Bereich von mittelständischen Unterneh-men statt. Wir haben sie aufgenommen.Ich will ganz deutlich sagen, worum es geht, FrauAigner. Es geht darum, dass wir nicht zulassen, dass über Modulausbildung oder Satellitenausbildung, wie esder DIHT vorgeschlagen hat, möglicherweise die Stu-fenausbildung wieder eingeführt wird. Dagegen wehrenwir uns.
Kollege Brase, ges-
tatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner?
Ja, gerne.
Herr Kollege, ich wollte
vorhin die Ministerin nicht unterbrechen, aber dieser
Punkt hätte mich schon da interessiert. Sie hat gesagt,
sie bräuchte für praktisch begabte Jugendliche theorie-
geminderte Berufe, wenn ich sie richtig verstanden ha-
be. Sie haben das jetzt wieder anders dargestellt. Ich
weiß nicht genau, was Sie eigentlich wollen. Wie wollen
Sie Jugendlichen, die mehr praktisch orientiert sind, hel-
fen, einen Beruf zu finden? Gehen Sie eventuell den
Weg, auch theoriegeminderte Berufe anzubieten, viel-
leicht auch in einer Modulausbildung, oder wie wollen
Sie es konkret machen?
Frau Aigner, ich kann Ihnen dassehr genau sagen.
– Das können Sie auch sein, Herr Lensing. Das macheich doch gern. Junge Leute, die als lernschwach definiert werden,die möglicherweise Schwierigkeiten mit der Theorie ha-Willi Brase
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ben, kommen aus unterschiedlichen sozialen und wirt-schaftlichen Verhältnissen. Wir haben gesagt: Es kannnicht sein, dass wir diesen jungen Leuten nur eineKurzausbildung oder Kurzqualifikation oder eine zwei-jährige Ausbildung anbieten, obwohl der Anteil der ein-fachen Arbeitsplätze in dieser Republik ständig ab-nimmt. Wir erwarten und müssen zur Kenntnis nehmen,dass der Anteil der einfach ausgerichteten Arbeitsplätzein den nächsten zehn Jahren noch einmal dramatischsinken wird. Wenn junge Leute mit der Theorie mehr Problemehaben als andere – also lernschwach sind –, dann ist esdoch pädagogisch sinnvoll, ihnen mehr Zeit zum Lerneneinzuräumen und einen vernünftigen Ausbildungsplatzanzubieten. Ich halte es für falsch, zu sagen, junge Leu-te, die lernschwach sind, sollen Teilqualifizierungenmachen. Diese werden nicht in vollem Umfang auf einedrei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung angerechnet.Anschließend müssen sie sich weiter qualifizieren, umirgendwann die Chance zu erhalten, einen vernünftigenArbeitsplatz zu ergreifen.
Ich glaube, dass man hier differenzierter herangehenmuss. Ich kann Ihnen aus meiner Praxis sagen, dass wirversucht haben, über die vernünftige Verzahnung vonBerufungsvorbereitung und Berufsbegleitung bei dendrei- und dreieinhalbjährigen vollqualifizierenden Aus-bildungen weiterzukommen, und zwar an den Branchen,die es in unserer Region gibt, orientiert. Dort hat es sehrgute Übernahmequoten, die zwischen 70 und 80 Prozentlagen, gegeben. Ich will noch etwas zur Modularisierung sagen. Wirwollen kein Satellitenausbildungsprogramm nach Modu-len machen, bei dem man nach anderthalb oder zweiJahren eine Qualifizierung machen kann und ausschei-det, wenn man nicht weitermacht. Dann hat man nachunserer Auffassung nur eine teilqualifizierte Ausbil-dung. Wir sind der Auffassung, dass eine vollständigqualifizierte Ausbildung, für die man eine gewisse Zeitbraucht, notwendig ist. Diese wollen wir umsetzen, unddafür gibt das Bündnispapier einiges her.
Das sehe ich nicht im Widerspruch zu dem, was FrauBulmahn dargestellt hat. Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
– Sie können gern klatschen. Fazit: Das Wirtschaftswachstum wird optimistischeingeschätzt. Mittlerweile wirft man unserem Bundesfi-nanzminister vor, er würde das Wachstum mit 2,5 Pro-zent zu niedrig ansetzen. Die Rahmenbedingungen sindvon der Koalition und der Bundesregierung Zug um Zugverbessert worden. Die Wirtschaft muss ihr Ausbil-dungsplatzangebot in den nächsten Monaten deutlichverbessern. Die jungen Leute müssen wegkommen von denSchwerpunktausbildungsberufen, die ich eingangs ge-schildert habe. Es muss mehr in die Breite gehen, und esmuss vor allen Dingen in die neuen Bereiche Dienstleis-tungen, IT-Branche, Logistik, Verkehr und andere ge-hen. Das halten wir für richtig. Der letzte entscheidende Punkt ist: Die Kooperationin den Regionen ist zu verbessern. Ausbildungskonfe-renzen sind ein Beispiel dafür. Die Nachvermittlungsak-tionen zeigen, dass wir hier vorankommen. Nehmen Sieeines zur Kenntnis: Das Problem der Berufsschulstun-den regelt man am besten vor Ort, weil dort die Fach-frauen und Fachmänner sitzen. Wir stimmen den F.D.P.-Anträgen nicht zu.
Wir schlagen vor, den Berufsbildungsbericht zur Kennt-nis zu nehmen. Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! In meinem Diskussionsbei-trag zum Berufsbildungsbericht möchte ich mich aufzwei Schwerpunkte konzentrieren, denn das scheint mirerforderlich. Erstens beschäftigt mich vor allem die Si-tuation in den neuen Bundesländern. Nicht umsonststeht schon auf Seite 1 des Berufsbildungsberichts Fol-gendes: Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs– an Ausbildungsplätzenin den alten Ländern ein Rückgang in den neuenLändern gegenüber. Frau Ministerin Bulmahn, es nützt nichts, wenn manDurchschnittsangaben macht und mit Statistik Kosmetikbetreibt. Es nützt auch nichts, wenn wir nur vom Abbauvon Kopfprämien sprechen. Hier geht es wirklich um diejungen Menschen, die sich in den neuen Bundesländernin einer speziellen Situation befinden.Zweitens möchte ich auf die notwendige Modernisie-rung eingehen, schließlich geht es um zukunftsfähigeVerbesserungen der beruflichen Bildung. Daraus erge-ben sich für mich dann einige Forderungen:Ich komme zunächst zu der Situation in den neuenBundesländern. Mir liegt ein Bericht der Industrie- undHandelskammer in Dresden vor. Darin gibt es vier we-Willi Brase
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sentliche Kernaussagen, die ich auszugsweise zitierenmöchte:Erstens. In Sachsen wie auch in den anderen neuen Bundes-ländern ist für den Zeitraum von 1994 - 1998 fürdie duale Berufsausbildung ein Rückgang von81,5 % auf 78 % festzustellen ...Zweitens. Bei Befragungen von circa 2 000 nichtausbildenden Unternehmen liegen die Gründe dafür zu-meist in der wirtschaftlichen Situation.
Drittens. Allein mit der Konzentration der Mittel zur Scha-densreparatur – wie im Jugendsofortprogramm –kann der Entwicklung nicht Rechnung getragenwerden.Viertens. Bei vielen Unternehmen stehen unmittelba-re Überlebensfragen und keine längerfristigen Strategie-überlegungen im Vordergrund.Daraus ergibt sich meines Erachtens die erste Forde-rung an die Bundesregierung: Machen Sie eine mit-telstandsfreundliche Steuer- und Finanzpolitik!
Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die dualeBerufsbildung.In der Auswertung des Sofortprogramms ist in derZeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Pra-xis“ – und zwar in Heft 6/99 – zu lesen:In den neuen Ländern haben fast drei Viertel derTeilnehmer an Trainingsprogrammen eine außerbe-triebliche Ausbildung aufgenommen.Sie wissen, was das bedeutet. – Weiter heißt es:Tendenziell weisen Teilnehmer in den neuen Län-dern ein höheres Bildungsniveau auf.
Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen: „ein höheres Bil-dungsniveau“. Hier sind Ressourcen vorhanden. Diesesind nicht mit dem Durchschnitt in Deutschland gleich-zusetzen.Unter den Schlussfolgerungen, die teilweise sehr eu-phorisch sind – das bezieht sich natürlich auf die Durch-schnittsangaben –, steht:Die Integration in eine betriebliche Ausbildung warschwierig ...Weiter heißt es:Allerdings wird der Wechsel der Jugendlichen nachdem ersten Ausbildungsjahr auf einen betrieblichenAusbildungsplatz voraussichtlich nur wenigenmöglich sein. Vor allem in den neuen Bundeslän-dern herrscht ein hohes Maß an betrieblichem Aus-bildungsplatzmangel, auch für Jugendliche mit gu-ten Schulabschlüssen.Lassen Sie mich etwas zu dem Sofortprogramm inHöhe von 2 Milliarden DM sagen.
Wir sind uns darin einig, dass es insgesamt eine positiveResonanz gibt. Es ist etwas getan worden. Aber die Ju-gendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern istmit 15,7 Prozent – daran gibt es nichts zu schönen – be-sonders hoch. Natürlich ist die Arbeitslosenquote wegender Herausnahme arbeitsloser und schwer erreichbarerJugendlicher kurzfristig zurückgegangen. KurzfristigeEffekte durch Praktika und Qualifikations-ABM sindaber schnell verpufft. Das Programm erzeugt kaumDauereffekte. Ich muss es klar sagen: Es ist ein teuresReparaturprogramm.Das eigentliche Ziel „stabile Ausbildungsplätze durchAus- und Fortbildung“ wurde nicht erreicht.
Ich sage es noch einmal deutlich: Dies ist ein teuresStrohfeuer. Probleme werden dadurch nicht gelöst.
Ich komme zur zweiten Forderung an die Bundesre-gierung: Sagen Sie ehrlich, was an diesem Programm er-folgreich war und was nicht, und täuschen Sie keinenDurchbruch vor!
Nahezu 80 % aller betrieblichen Ausbildungsplätzewerden von kleineren und mittleren Unternehmenbereitgestellt.
So steht es in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2000. DieLehrstellenlücke in den neuen Bundesländern ist zual-lererst der äußerst schwierigen, komplizierten Situationin Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie geschul-det.
Damit komme ich zu meiner dritten Forderung: Ma-chen Sie endlich wahr, was erst gestern Ihre Justizminis-terin beim Bundesverband mittelständische Wirtschafthier in Berlin versprach! Bringen Sie ein brauchbaresGesetz zur Verbesserung der Zahlungsbedingungenauf den Weg! Darauf warten wir schon lange. Ich betoneaber: Es muss brauchbar sein.
– Da Sie so lachen, möchte ich Sie darauf hinweisen,dass Sachsen ein sehr brauchbares Konzept vorgelegthat. Sie können es sich ansehen. Dr.-Ing. Rainer Jork
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– Sind Sie für die Zukunft oder für die Vergangenheit?Denken Sie einmal darüber nach!Ich komme zur vierten Forderung. BerücksichtigenSie in angemessenem Umfang die ostdeutsche Infra-strukturförderung.
Das hängt erheblich mit Arbeitsplätzen und Lehrstellenzusammen. Eigentlich wollte ich mich mit dem Folgenden anHerrn Staatsminister Schwanitz wenden. Wo ist er denneigentlich? Wir sprechen ja jetzt über ein Problem, dasinsbesondere die neuen Bundesländer betrifft.
– Ich kann Herrn Schwanitz eigentlich nur meine fünfteForderung offenbaren, Herr Schmidt. Sehen Sie sich dieSituation dort an; sehen Sie nicht zu und weg. NehmenSie die bestehende Situation ernst, beantworten Sie dieFrage, was Chefsache ist und Priorität hat. Schicken Siedie Lehrstellenbewerber nicht in die bekannte BAföG-Falle, gekennzeichnet durch Ankündigen, Verzögernund Zurücknehmen.
Übrigens: Auch im Beschluss der Arbeitsgruppe Aus-und Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, Ausbil-dung und Wettbewerbsfähigkeit vom 22. Oktober 1999kamen die speziellen Bedingungen in den neuen Bun-desländern praktisch nicht vor. Wo war denn da HerrSchwanitz?
Ich frage mich, wozu wir diesen Minister haben. Ich binenttäuscht, möglicherweise sind es auch andere.
– Lenken Sie nicht ab.
Denken Sie einmal daran, wofür Sie Ihre Leute haben.
Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, zurModernisierung der Berufsbildung. Es hat keinenSinn, zu fragen, ob Ausbildung im Betrieb und in unter-nehmerischer Verantwortung Zukunft hat, sondern al-lenfalls, wie wir diese Ausbildung in Zukunft gestalten.Da gilt es auch unangenehme Themen anzugehen, HerrBrase.
Ich hörte das gut heraus. Ausbildungsweg- und zuständigkeitsübergreifendeMaßnahmen sind gefragt. Übrigens sehe ich in dem Be-schluss des Bündnisses durchaus eine Annäherung andie Fragen unter Punkt 2, wo Wahlpflichtbausteine undZusatzqualifikationen angeführt werden.
Kollege Jork, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Rachel?
Ja, bitte.
Herr Kollege Jork,
Sie haben die Modernisierung der Berufsausbildung an-
gesprochen. Ich möchte Sie deshalb gerne Folgendes
fragen:
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Be-
rufsausbildungspolitik und der Wirtschaftspolitik in ver-
schiedenen Bundesländern und den konkreten Auswir-
kungen in Bezug auf die Arbeitslosigkeit?
Gibt es also einen Zusammenhang zwischen den Reali-
täten und der Berufsausbildungspolitik der verschiede-
nen Bundesländer?
Herr Kollege Ra-chel, ich danke für die Frage.
Ich bin mir sicher, dass sich einige Kollegen von derSPD deshalb darüber freuen, weil sie gestern bei dembereits zitierten Treffen des Bundesverbandes der mit-telständischen Wirtschaft einige Fragen und Aufgabenins Stammbuch geschrieben bekamen und jetzt die Ge-legenheit besteht, eine Wiederholungsstunde zu nehmen. Es ging dort unter anderem um den Holzmann-Effektund die Frage, welche Möglichkeiten die mittelständi-sche Wirtschaft sieht, die Lehrstellensituation zu verbes-sern. Der Zusammenhang ist völlig unstrittig. Dazu istauch ein Heft verteilt worden. Einige der Kollegen ha-ben es eingesteckt. Ich denke, Sie können da nachlesen.Es ist – deshalb versuche ich in meiner Rede daraufeinzugehen – unverzichtbar, dass dann, wenn wir dieduale Berufsausbildung mit dem wesentlichen Teil be-triebliche Ausbildung wollen, die Wirtschaft auch dazuin die Lage versetzt wird. Das gilt für Deutschland ins-gesamt, das gilt aber ganz besonders angesichts der kri-tischen Situation in den neuen Bundesländern eben auchdort.Ich hoffe, dass die von mir zuerst genannten Forde-rungen, die ja in diese Richtung zielen, auch ankommen,also nicht nur zum Schmunzeln anregen, sondern viel-Dr.-Ing. Rainer Jork
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leicht auch im Nachgang von Herrn Schwanitz gelesenwerden, sofern er da überhaupt einen Durchgriff hat.
Ich komme noch einmal zu dem Punkt, den Herr Bra-se gegenüber der Ministerin bereits ansprach. Sie habenaus dem Begriff Modul eine Art Schlagwort im Sinnedes Zuschlagens gemacht. Ich erinnere an eine frühereRede im Bundestag, in der ich versucht habe, das zu de-finieren. Denken Sie bitte einmal daran, dass in IhrenLeitlinien, in allen Stellungnahmen und Ausarbeitungendie Begriffe Wahlpflichtbaustein, Zusatzqualifikation –ich denke an den Bericht eben –, Kernqualifikation, Sa-tellitenmodell, Flexibilisierung, aber auch Modulari-sierung und Ergänzungsmodule vorkommen. Ich glaube, wir sollten uns etwas mehr damit beschäf-tigen, was wir eigentlich wollen und was hinter diesenBegriffen steckt,
dies aber nicht ideologisch missbrauchen. Sinn der Leit-linien und Begriffe ist es doch, die duale Berufsbildungflexibler und moderner zu gestalten und Chancengerech-tigkeit für die Bewerber zu erreichen. Die Beruflichkeitder dualen Berufsbildung darf nicht infrage gestellt wer-den. Wir wollen keine Schmalspurfacharbeiter. Ich binauch gegen diesen schlimmen Begriff „kleiner Gesel-lenbrief“. Wollen wir etwa auch „kleine Juristen“, „klei-ne Ärzte“ oder „kleine Ingenieure“? Dieser Begriff isteine Beleidigung für die Facharbeiter.Im Berufsbildungsbericht, in dem auch die Ergebnis-se des „Bündnisses für Arbeit“ zusammengefasst sind,steht auch:Der Anteil an Arbeitsplätzen mit eher einfachenTätigkeitsprofilen nimmt weiter deutlich ... ab. FürGeringqualifizierte werden die Beschäftigungs-chancen weiter zurückgehen.Die Bündnispartner haben ... gebeten, Empfehlungen für die Bescheinigungder in einer Berufsvorbereitung, in einer nicht be-endeten Ausbildung oder in berufsbegleitenderNachqualifizierung erworbenen Qualifikationen zuerarbeiten. Diese Empfehlungen sollten Grundlagefür die Bescheinigung ausbildungsbezogener Quali-fizierungsbausteine sein.Herr Brase, das ist genau das, was ich unter einem Mo-dul verstehe. Das haben Sie im „Bündnis für Arbeit“und mit dem Beschluss abgesegnet. Sie sollten sich dieeigenen Unterlagen einmal anschauen.Noch eine Bemerkung zur Gerechtigkeit und zurFairness bezüglich so genannter Doppelqualifikatio-nen – das beziehe ich ausdrücklich auf die Situation inden neuen Bundesländern –: Wenn heute etwa zweiDrittel aller Schulabgänger eine Lehrstelle nachfragenund wenn davon die Hälfte letztlich doch ein Studiumaufnimmt, dann drängen sich zum Beispiel folgendeFragen auf: Haben denn Real- und Mittelschüler, die ei-nen Facharbeiterberuf anstreben, in der Berufsausbil-dung faire Chancen im Vergleich zu Abiturienten? Ist eswirklich die Aufgabe der Wirtschaft, all jenen eine Leh-re zu finanzieren, die später ein Studium aufnehmen unddann im öffentlichen Dienst arbeiten? Kann das Studiumvielerorts nicht so gestaltet werden, dass dank eines ho-hen Praxisanteils eine vorherige Lehre überflüssig wird?
War nicht das Modell „Berufsausbildung mit Abitur“für jene recht sinnvoll, die ihren Wunschberuf bereitsmit einiger Sicherheit benennen konnten?
Ich bin der Meinung, über manche dieser Fragen sollteman nachdenken. Ich schaue auf die Uhr und möchte zum Ende meinerRede kommen.
– Ich hoffe, dass Sie nicht nur die Stelle, an der Sie ge-rade Beifall geklatscht haben, mitbekommen haben,sondern auch inhaltlich etwas verstanden haben. Ichfreue mich auf die zukünftigen Diskussionen.
Ich fasse zusammen: Die anerkannt schwierige Situa-tion in der Wirtschaft und im Bereich der Lehrstellenbedarf der Konzentration der Kräfte und bedarf derSchwerpunktsetzung durch entsprechende Maßnahmen.Das 2-Milliarden-Programm muss sich mehr an derNachhaltigkeit orientieren und muss deutlich verbessertwerden. Strohfeuer genügen nicht, wenn man zukunfts-fähig sein will. Es kommt heute darauf an – das betrifftuns alle; ich denke an die Parteiprogramme, die auf Par-teitagen zur Diskussion stehen –, Bildungswege und -abläufe so zu gestalten, dass unsere Kinder und Enkelim Jahr 2020 für ihren Eintritt in das Berufsleben gerüs-tet sind.
Ich danke.
Ich schließe die Aus-sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung zum Berufsbildungsbericht 1999 der Bundes-regierung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buch-stabe a seiner Beschlussempfehlung, den Berufsbil-dungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1056 zur Kennt-nis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
Dr.-Ing. Rainer Jork
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– Es ist schwierig, das Abstimmungsergebnis festzu-stellen. Die CDU/CSU-Fraktion scheint irgendwie mei-nungslos zu sein.
– Aber Sie haben keinerlei Reaktion gezeigt. –
Im Unterschied zu Herrn Ramsauer wird mir von ande-ren zugerufen, dass sie zustimmen.
Sie haben leider keinen Arm gehoben.
Damit ist dieser Teil der Beschlussempfehlung ange-nommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe bseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934
die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimm-enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beiStimmenthaltung von PDS und Gegenstimmen derCDU/CSU sowie der F.D.P. angenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 , denEntschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zum Be-rufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1225 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Diese Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS gegendie Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An-trag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „9-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungs-plätzen“, Drucksache 14/1294. Der Ausschuss emp-fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/335 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Stimmenthaltungen? – Mit dem gleichenStimmverhalten wie zuvor ist diese Beschlussempfeh-lung angenommen.Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 sowiezu Zusatzpunkt 11: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaEichhorn, Klaus Holetschek, Wolfgang Dehnel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU) Endbericht der Enquete-Kommission „So ge-nannte Sekten und Psychogruppen“ – Drucksache 14/2361 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fortführung der Beratungen zum Endberichtder Enquete-Kommission „So genannte Sek-ten und Psychogruppen“ – Drucksache 14/2568 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö-re keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeKlaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattierenheute Morgen über ein Thema, um das es in den letzteneineinhalb Jahren relativ ruhig geworden ist, zumindestwas die parlamentarische Beratung angeht. Wir debattie-ren über das Schicksal des Abschlussberichtes der En-quete-Kommission vom Mai 1998.Der Deutsche Bundestag hatte bekanntlich aufgrundzahlreicher Petitionen im Mai 1996 beschlossen, eineEnquete-Kommission ins Leben zu rufen, weil er denAnliegen nicht Rechnung tragen konnte. Dieser Berichtwurde im Frühsommer 1998 vorgelegt. Man kann zuBerichten von Enquete-Kommissionen stehen wie manwill – man kann Kritik üben, man kann zustimmen –: Esist ein sehr umfassender Bericht, der deutlich gemachthat, dass sich alle, die dieser Kommission angehörten,des Themas sehr ernsthaft und auch wissenschaftlich un-termauert angenommen haben.
– Sehr gerne, Frau Rennebach. Das kann ich Ihnen bes-tätigen. Aber nachher komme ich zu einem Punkt, beidem ich etwas über die Behandlung durch SPD undGrüne traurig bin.
Präsident Wolfgang Thierse
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Es gibt eine Fülle von Handlungsempfehlungen, diedieser Bericht enthält. Ich wünsche mir, dass wir dieseHandlungsempfehlungen jetzt umsetzen. Gerade in derletzten Woche hatten wir im Petitionsausschuss wiedereine Petition, die sich damit beschäftigt, wann dieseHandlungsempfehlungen endlich umgesetzt werden. Eskommen zahlreiche Anfragen, in denen festgestellt wird:Na gut, jetzt liegt dieser Bericht der Enquete-Kom-mission vor; sperren wir ihn jetzt im Aktenschrank einoder ziehen wir die notwendigen Schlüsse aus diesemBericht der Enquete-Kommission? – Das wäre die Auf-gabe der rot-grünen Bundesregierung!Wir wollen mit unserem Antrag das Thema auf diepolitische Agenda zurückholen. Wir wollen, dass sichdas Parlament mit dem Thema wieder auseinander setztund dass nach Absichtserklärungen endlich Taten fol-gen. Ich will im Einzelnen nicht auf die Problematik desBerichts der Enquete-Kommission eingehen. Er bewegtsich in einem Spannungsfeld, das aus der Abwägungverschiedener Grundrechte besteht. Letztlich hat dieser Bericht festgestellt, dass der Staatdurchaus Fürsorgepflichten in diesem Bereich hat. Ichdenke besonders an die Schwächsten in unserer Gesell-schaft. Ich habe vor kurzem gehört, dass 100 000 bis200 000 Kinder – Personen unter 18 Jahren – in so ge-nannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen. DieseKinder können sich dagegen natürlich kaum wehren.Gerade für diese Schwächsten in unserer Gesellschaft –aber natürlich auch für andere – müssen wir etwas tunund ein Zeichen setzen.
Was tut die rot-grüne Bundesregierung? Bis jetzt ha-ben Sie auf diesem Feld nicht viel getan. Sie haben eineKleine Anfrage der PDS zu diesem Thema beantwor-tet – meiner Meinung nach nicht sehr aussagekräftig.
Es muss eine Prüfung stattfinden. Es bleibt abzuwarten,welche Fragen noch zu klären sind.Vor drei Tagen habe ich Ihren Antrag bekommen.Wenn wir erreicht haben, dass Sie jetzt initiativ werden,meine Damen und Herren, dann freut mich das. Ich binJurist, ich lese die Anträge zweimal. Ich habe diesen An-trag dreimal gelesen; denn ich habe ihn nicht verstanden.Ich lese ihn Ihnen jetzt vor; vielleicht verstehen Sie ihn.Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünenheißt es:Der Bundestag wolle beschließen:1. Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog.Sekten und Psychogruppen“ beschlossen.Das ist der erste Satz, den der Bundestag jetzt be-schließen soll.
Der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestagesvom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussberichtvorgelegt und beraten.
Das ist Punkt 1 Ihres Antrages, unter dem Obertitel„Der Bundestag wolle beschließen“.
Ich habe schon viel erlebt, zum Beispiel bei der Ge-sundheitsreform, bis hin zu der „maoistischen Kranken-hausfinanzierung“. Aber das finde ich wirklich gut. Dasist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich ernsthaft mitder Thematik auseinander setzen. Ich weiß nicht, werden Antrag geschrieben hat. Aber ich bin
wirklich fassungslos. – Ja, das ist richtig.Der Antrag ist nur eine Viertelseite lang. Vielleichthaben Sie diesen Punkt auch bloß eingefügt, damit dieSeite ein bisschen voller aussieht; ich weiß es nicht.Punkt 2 lässt sich mit den Worten umschreiben, dieder Präsident eines bayerischen Fußballvereins oft ge-braucht: „Schau’mer mal!“ – Etwas anderes steht nichtdrin. Es steht drin, dass wieder einmal geprüft und erör-tert werden muss. Meine Damen und Herren, diesen An-trag hätten Sie sich sparen können.
– Nein, ich hänge nicht zu lange an den Überschriften,Frau Rennebach. Angesichts dessen, was Sie dem Ho-hen Hause als Antrag auf den Tisch gelegt haben, müs-sen Sie sich gefallen lassen, dass ich pointiert herausstel-le, mit was wir uns hier befassen müssen.
Ich habe vorhin ausdrücklich erwähnt, Frau KolleginRennebach, dass, wie ich überall gehört habe – ich warleider nicht in der Enquete-Kommission –, Ihr Einsatzfür das Thema vorbildlich war. Umso mehr tut es mirLeid, dass Sie heute einen solchen Antrag vorlegen müs-sen.
Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom-mission haben verschiedene Bereiche angestoßen. Siehaben zum Beispiel aufgezeigt, dass es erhebliche For-schungsdefizite gibt – Forschungsdefizite, die darausentstanden sind, dass sich die Enquete-Kommissionnicht mit einem Schwarz-Weiß-Buch beschäftigt hat,sondern einzelne Konfliktfelder aufgezeigt hat, die esweiter zu erforschen gilt.Ich meine, wir sollten die Forschungsförderung hier-für konzentriert verbessern. Sie sprechen in der AntwortKlaus Holetschek
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7850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
auf die Anfrage der PDS von einem Modellprojekt, vonder Weiterqualifizierung bestimmter Mitarbeiter in denBeratungsstellen. Auch das ist alles sehr vage. Auch da-zu müssen Sie uns einmal Auskunft geben und die Fak-ten auf den Tisch legen.
Dasselbe gilt für den Themenbereich „Informationund Beratung“. Es gibt hier einen Bedarf. Das Thema istnach wie vor virulent. Wir müssen etwas tun. Wir dürfendas Thema nicht von der Tagesordnung absetzen, dürfenden Bericht der Enquete-Kommission nicht in dieSchublade legen. Wir müssen den Handlungsempfeh-lungen nachkommen.
Ich will auf einen Punkt eingehen, der mir besonderswichtig erscheint. Wir haben einen boomenden Psy-chomarkt; das ist uns allen bekannt. Der Esoterikbe-reich macht 18 Milliarden DM Umsatz im Jahr. Persön-lichkeitstrainings schießen wie Pilze aus dem Boden.Wir haben hier schon ein Problem: Es gibt seriöse An-bieter, aber es gibt auch sehr viele unseriöse Anbieter,die mit unterschiedlichsten Verfahren, mit einer Mi-schung aus therapeutischen Anleitungen und laienthera-peutischen Ansätzen auf die Leute zugehen. Diese Mi-schung macht es für die Verbraucher kaum noch sicht-bar: Wer steht dahinter? Wer bietet mir diese Leistungan? Ist er qualifiziert? Was für Kosten und was für einNutzen entstehen? Es gab 1997 einen Bundesratsentwurf für ein Gesetzzur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe.
– Das mag sein. Ich will das nicht abstreiten. Umsoschlimmer ist es, mit was für einem Antrag wir uns heu-te beschäftigen müssen. Ich kann es nur noch einmal sa-gen. Aus der Kiste kommen Sie nicht mehr heraus, FrauRennebach; er liegt vor.
Dieses Gesetz sollte ein Verbraucherschutzgesetzsein. Es sollte dazu führen, dass den Personen, die sichin Konfliktsituationen befinden und schnell irgendwoHilfe finden wollen, Rahmenbedingungen an die Handgegeben werden, um abschätzen zu können, was seriösund was unseriös ist. Es sollten rechtliche Regelungenfür einen schnelleren Ausstieg geschaffen werden. Ichgebe zu, der Gesetzentwurf muss in einzelnen Punktenrechtlich vielleicht noch weiterentwickelt werden. Aberes war ein Verbraucherschutzgesetz im besten Sinne ge-gen Scharlatane auf dem Psychomarkt.
– Frau Rennebach, Sie wissen doch, dass wir den Ge-setzentwurf nicht abgelehnt haben,
sondern dass er überprüft worden ist. Er müsste jetzt inden Bundestag neu eingebracht werden.Damit möchte ich – um es auf den Punkt zu bringen –sagen: Es ist ein Verbraucherschutzgesetz vorgelegtworden, das Transparenz bringen und das gerade einVorgehen gegen unseriöse Anbieter in diesem Bereichermöglichen sollte. Diesen Schritt sollten wir weiterver-folgen. Wir müssen dem Verbraucher in dieser Richtungetwas an die Hand geben. Wir haben am Montag dieser Woche im Rahmen derHanns-Seidel-Stiftung in München ein Expertenge-spräch durchgeführt, anlässlich dessen wir uns mit demThema beschäftigt haben, was glaubhafte Lebensbewäl-tigungshilfe ist. Da kamen zum Beispiel Vorschläge da-hin gehend, dass von Sachverständigen aus dem Pä-dagogik- und Psychologiebereich Positivkriterien entwi-ckelt werden sollen, die Eingang in ethische Leitlinienfinden sollen, und dass Anbieter von gewerblichen Le-bensbewältigungshilfen an eine öffentlich kontrollierba-re Organisation, wie beispielsweise die jetzt vermehrtentstehenden Psychotherapeutenkammern, gebundenwerden sollen, damit sich der Verbraucher beschwerenkann bzw. eine entsprechende Anlaufstelle hat. All dasmüssen wir weiterverfolgen. Deswegen bitte ich Sie,dieses Thema wieder ernsthaft auf die Agenda zu setzen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die SPD-Kollegin Schröter aus der Debatte vom 19. Juni 1998 zi-tieren:Meine dringende Bitte und Aufforderung an dennächsten Bundestag ist es, die Gesetzesinitiativeunmittelbar wieder aufzugreifen und das Gesetz zurgewerblichen Lebensbewältigungshilfe schnellst-möglich zu verabschieden.Ich gehe davon aus, dass Sie auch heute zu diesemWort stehen und einen entsprechenden Gesetzentwurfnoch einbringen werden. Die Grünen haben natürlich in dem vorliegenden Be-richt der Enquete-Kommission – im Wege eines Son-dervotums – eine ganz andere Meinung vertreten. Daswundert mich angesichts der weltanschaulichen Gesin-nung der Grünen nicht besonders. Ich denke, Sie werdenheute noch darauf eingehen. Ich bitte Sie noch einmal, im Sinne der Opfergruppenund der Betroffenen sowie im Sinne der Mitglieder derEnquete-Kommission – Sie kennen die entsprechendenSchreiben an den Präsidenten des Bundestags und an dieFraktionsvorsitzenden, in denen danach gefragt wird,was jetzt passiert – diesen Bericht weiterzubearbeiten.Es wäre ein Schlag ins Gesicht, wenn wir dies nicht tunwürden. Wir könnten uns weitere Einsetzungen von En-quete-Kommissionen sparen – wir haben kürzlich neueeingesetzt –, wenn wir aus den Ergebnissen früherer En-quete-Kommissionen keine Schlüsse ziehen.
Das sind wir dem Bürger bzw. dem Steuerzahler schul-dig. Denn die Erstellung dieses Berichtes der Enquete-Kommission hat 1,6 Millionen DM verschlungen. Ausdiesen Berichten müssen wir Konsequenzen ziehen. IchKlaus Holetschek
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7851
bitte Sie: Lassen Sie uns dieses Thema weiterhin sach-lich und auch parteiübergreifend behandeln.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehrgeehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Holetschek,mit Ihrem Antrag weisen Sie auf ein Politikdefizit hin,das es tatsächlich gibt. Aber dieses Defizit gibt es nichterst ab dem Zeitpunkt, seitdem die neue Bundesregie-rung im Amt ist. Dieses Defizit besteht vielmehr, weil inden Jahren vor Amtsantritt der jetzigen Bundesregie-rung, in den zwar nicht 16, aber zehn Jahren, seitdemüber dieses Thema diskutiert wird, der größte Bremserauf diesem Gebiet der Sektenpolitik nicht die sozial-demokratische Fraktion, sondern die christlich-liberaleBundesregierung gewesen ist.
Ich habe damals als Sektenbeauftragter der schles-wig-holsteinischen Landesregierung meine Erfahrungenmit dieser Politik des hinhaltenden Desinteresses ge-macht. Die Länder hätten sich zum Beispiel eine offen-sive, aktive Aufklärungs- und Informationspolitik sei-tens des Bundes gewünscht. Kapazitäten – auch fachlichhervorragend qualifizierte – sind dafür im Bundesver-waltungsamt vorhanden. Der Bund hat daraus wenig, zuwenig gemacht. Deshalb ist es richtig, darüber nachzu-denken, wie man das ändern kann. Das tun wir. Nebenbei bemerkt: Die Bestellung eines Bundesbe-auftragten für Sekten – Besoldungsgruppe B 6 – durchdie damalige Ministerin Nolte war wirklich ein schlech-ter Witz. Vielleicht ist es noch nicht einmal jedem be-kannt geworden, dass es eine solche Institution für eini-ge Monate gab. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Öffentlichist dieser Bundesbeauftragte meines Wissens niemals inErscheinung getreten.Desinteresse der alten Regierung bestand auch beifolgendem Thema – Sie haben es angesprochen, wennauch mit einem anderen Zungenschlag –: Alle Länderhatten sich 1997 auf den Entwurf eines Gesetzes zur Re-gelung des Verbraucherschutzes auf dem Markt der ge-werblichen Lebensbewältigungshilfe geeinigt. Er wur-de einstimmig im Bundesrat beschlossen, und zwar vonSchleswig-Holstein und Hamburg bis Sachsen und Bay-ern. Die alte Bundesregierung aber war skeptisch. Diesist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesemGesetzentwurf nachzulesen. Im Bundestag, wo Sie, wodamals CDU/CSU und F.D.P., die Mehrheit hatten, zogsich die Sache so lange hin, bis die Legislaturperiodeabgelaufen und der Gesetzentwurf der Diskontinuitätanheim gefallen war.
Jetzt machen Sie dicke Backen und fordern genau diesesGesetz. Herzlichen Glückwunsch!
In der Sache aber sind wir, so glaube ich, nicht soweit auseinander. Das haben sowohl die diversen Be-schlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zum ThemaScientology-Organisation gezeigt als auch der Ab-schlussbericht der Enquete-Kommission.Wir müssen und werden jetzt überlegen, welcheHandlungsempfehlungen wir wie umsetzen können. Sosteht es in unserem Antrag. Die kabarettreife Verlesungdieses Antrags sei Ihnen gestattet; aber natürlich werdenwir gemeinsam darüber beraten und vermutlich auch indem übereinstimmen, was wir dann tun werden. Im Üb-rigen glaube ich nicht, dass all das, was Sie in Ihrem An-trag geschrieben haben, in Ihrer eigenen Fraktion mehr-heitsfähig wäre.
– Diskutieren Sie dann einmal mit Ihren Rechtspoliti-kern die Frage, ob sich juristische Personen – nicht na-türliche, sondern juristische Personen; so steht es bei Ih-nen – strafbar machen können sollen. So etwas schreibtsich leicht in solche Anträge hinein. Es wäre vielleichtim Zusammenhang mit ganz anderen Fragestellungenein interessantes Thema; mein Thema ist es aber nicht.Ich möchte Ihnen sagen, welche meine Prioritätensind, wenn wir an die Umsetzung herangehen:Erstens. Mir ist die Stärkung der Information undAufklärung wichtig. Dabei könnte das Sektenreferat imBundesverwaltungsamt eine wichtige Rolle überneh-men. Aufklärung, gemeinsam von Bund, Ländern undfreien Trägern geleistet, ist das A und O in einer freienpluralistischen Gesellschaft.Zweitens brauchen wir endlich das Verbraucher-schutzgesetz für den Sekten-, Esoterik- und grauen Psy-chomarkt.Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Gegen-standsbereich unserer Diskussion machen. Sie haben esrichtigerweise auf den Bereich Esoterik erweitert, indem es auch Phänome gibt, die wir regeln müssen. Zu-nächst möchte ich aber auf den Sektenbegriff eingehen.Was sind eigentlich Sekten? Auf dem Endbericht derEnquete-Kommission findet man das Wort gar nichtmehr. Keine Gruppe nennt sich selbst so; die Gruppennennen sich Zentrum, Bewegung, Kirche, Bund, Orden,Verein – was immer sie wollen. „Sekte“ ist ein Begriff,der von außen an bestimmte Gruppen herangetragenwird. Besser gesagt, es werden zwei Sektenbegriffeverwendet, die in der Vergangenheit auch für Verwir-rung gesorgt haben. Vielleicht kann ich ein bisschen zurKlarheit beitragen.Der eine, der klassische Sektenbegriff ist der theolo-gische. Er bezeichnet eine Abspaltung von der christli-chen Kirche, eine häretische Gemeinschaft, die auf eige-nen Offenbarungs- und Wahrheitsquellen beruht, alsoneben der Bibel und der christlichen Überlieferung einKlaus Holetschek
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7852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
eigenes Buch – beispielsweise das Buch Mormon – odereinen eigenen Propheten hat. Solche Gruppen sind zumBeispiel die Quäker, die in unserem Sinne überhauptnicht problematisch sind; einer von ihnen ist der Frie-densnobelpreisträger von 1949. Darum geht es uns nicht,wenn wir von Sekten sprechen.Wir verwenden den neueren kulturellen, umgangs-sprachlichen Sektenbegriff, unter dem im Übrigen jederdas versteht, was auch wir darunter verstehen. Das istaber nicht die christliche, kirchliche Definition. Dieserkulturelle Sektenbegriff bezieht sich auf die konfronta-tive Stellung der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft.Aus dieser Perspektive sind Merkmale einer Sekte dieTatsachen, dass die Gruppe sich von ihrer Umgebungabkapselt, dass die Mitglieder der Gruppe von ihrem so-zialen Umfeld isoliert werden und dass das Heilsver-sprechen der Gruppe mit einem Absolutheitsanspruchverbunden wird. Nicht das Heilsversprechen ist dasProblem – das beinhalten jeder Glaube und auch mancheIdeologie –, sondern der Absolutheitsanspruch. Elitebe-wusstsein, Machtanspruch, Gruppendruck, Bewusst-seinskontrolle, Verschwörungsdenken, Verfolgungs-wahn, Psychoterror gegen Abtrünnige und Kritiker sindweitere Merkmale einer Sekte, wie wir sie verstehen.Das hat nicht mit Religion und Weltanschauung zu tun,sondern damit, wie eine Gruppe von Menschen sich ge-genüber ihren Mitgliedern und gegenüber anderen ver-hält.Man sollte also nicht versuchen, im Sinne vonSprachpolitik einen neuen Sektenbegriff zu etablieren.Das bringt wenig. Wenn also auf dem Abschlussberichtder Enquete-Kommission „Neue religiöse und ideologi-sche Gemeinschaften und Psychogruppen“ steht, dannist das, mit Verlaub, Tüdelkram.
Die Motive, sich in solchen Gruppen zu organisie-ren – ich meine jetzt die Motive, die die Menschenselbst haben und die die Gruppen offiziell nennen –,sind auch nicht allein religiös. Es ist ein Bündel von Mo-tiven, in dem einzelne klar abgegrenzte Motive vorzu-finden sind. Es gibt therapeutische Motive. Das hat mitReligion nichts zu tun. Ich denke etwa an den Bruno-Gröning-Freundeskreis, eine Heilungsbewegung, anVPM oder an Metharia, eine UFO-Sekte, die heilt. Danngibt es politische Motive; hier sind die EAP und dieScientology-Organisation zu nennen. Letztere ist ausmeiner Sicht eine politisch und nicht religiös motivierteOrganisation. Sie ist auch nicht wirtschaftlich motiviert;das Geld dient der Machtausweitung. Es gibt aber auchwirtschaftliche und religiöse Gründe.Ein Beispiel dafür mag die Maharishi-Bewegung des Gurus Maharishi Mahesh Yogi sein, die alle vier Bereiche abdeckt: die Maharishi-Ayurveda-Ge-sundheitszentren für den Bereich Therapie, die Naturge-setz-Partei für den Bereich Politik, die Samhita GmbHund die TM-Center fürs Ökonomische und der GuruMaharishi selbst für das Religiöse. Es ist also ein Bündelvon Motiven. Die Religion kann eines sein. Unser Sek-tenbegriff bezieht sich nicht auf das Religiöse.Nicht von allen Sekten gehen konkret Gefahren aus.In Deutschland können von etwa 40 bis 50 Gruppen Ge-fahren ausgehen, von denen Länder und Bund wissenund vor denen Sie warnen oder warnen können.Was für Gefahren können von diesen Gruppen aus-gehen? Es müssen Gefahren für Grundrechtsgütersein, wenn der Staat das Recht haben soll zu warnen.Diese Grundrechtsgüter sind Leben und Gesundheit,physisch und psysisch, das Eigentum, Ehe und Familie,um einige zu nennen. Wenn diese gefährdet sind, danndarf und dann muss der Staat handeln im Sinne vonwarnen, also nicht in dem Sinne, die Gefahr durch Ver-bot auszuschließen, sondern im Sinne von warnen.Wenn es um Straftaten geht, muss er mit all dem ein-schreiten, was ihm zur Verfügung steht.Es geht also nicht darum, ob eine Ideologie seltsamist oder ob eine Religion sonderbar ist, sondern es gehtdarum, den Einzelnen stark zu machen gegen radikalvereinnahmende Kollektive. Es geht also – das ist dieHauptaufgabe des Staates in diesem Bereich – um Auf-klärung und Verbraucherschutz. Lassen Sie uns darangemeinsam arbeiten!Schönen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Birgit Homburger, F.D.P.–Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bevor ich zur Diskussionder vorliegenden Anträge komme, möchte ich noch einpaar grundsätzliche Bemerkungen machen zu den Er-gebnissen der Enquete-Kommission, weil ich es fürwichtig halte, nochmals festzuhalten, dass wir strikt un-terscheiden müssen zwischen neuen religiösen und welt-anschaulichen Gruppierungen und dem Psycho- undEsoterikmarkt. Das ist hier schon gesagt worden, aberdas wurde in der Arbeit – nicht von uns, sondern vonaußerhalb – oft in einen Topf geschmissen und hat daseine oder andere auch schwierig gemacht. Insofern, den-ke ich, sollte man das noch einmal festhalten.In einer zunehmend säkularisierten Welt ist es auchso, dass die Vielzahl dieser Gruppierungen und die im-mer größer werdende Vielfalt dieser religiösen undweltanschaulichen Gemeinschaften schwer überschaubarist. Trotzdem hat die Enquete-Kommission festgestellt,zu Recht, wie ich finde, dass sie keine grundsätzlicheGefahr für Staat und Gesellschaft in Deutschland sind.Vielmehr muss unsere Gesellschaft daran arbeiten –und das ist für uns eines der wesentlichen Ergebnisse –,sich mit dieser religiösen Vielfalt zu arrangieren, Tole-ranz und gegenseitigen Respekt im Zusammenleben zulernen und zu praktizieren. So ist die Enquete-Kommission auch zu dem Ergebnis gekommen, dass dievorhandenen gesetzlichen Vorschriften in aller Regelausreichend sind, um vorkommende Konflikte im sozia-len Nahbereich zu regeln.Dr. Hans Peter Bartels
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7853
Deswegen will ich noch einmal festhalten, dass wirLiberalen uns letztlich auch durchgesetzt haben mit derHaltung, dass unsere Verfassung bezüglich der Art. 4und 140 des Grundgesetzes, die die Religionsfreiheitgewährleisten, aber auch die Stellung der Kirchen in un-serem Staat beschreiben, weder ergänzt noch geändertwerden sollen. Das halte ich für eine wichtige Feststel-lung.
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen,all den Kolleginnen und Kollegen, die in der letzten Le-gislaturperiode als Mitglieder in dieser Enquete-Kommission gearbeitet haben, ganz herzlich zu danken.Ganz besonders danken möchte ich im Namen meinerFraktion auch noch einmal dem Kollegen RolandKohn, der für uns mitgearbeitet hat und leider nichtmehr dem Deutschen Bundestag angehört,
weshalb ich heute für unsere Fraktion zu diesem Themaspreche.Die Unterscheidung, von der ich gerade gesprochenhabe, hat auch deswegen Bedeutung – das ist die zweitegrundsätzliche Bemerkung, die ich machen will, weil siemir persönlich auch wichtig ist –, weil es meines Erach-tens Organisationen gibt, die Religionsfreiheit für sich inAnspruch nehmen, diese aber nicht für sich in Anspruchnehmen können.Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Scientology-Organisation, bei der es sich nicht um eine religiöseVereinigung handelt. Im Gegenteil, es gibt in diesemFall Hinweise auf politisch bestimmte ziel- und zweck-gerichtete Verhaltensweisen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in keiner Weise verein-bar sind. Deshalb ist aus unserer Sicht eine Beobachtungdurch den Verfassungsschutz weiterhin gerechtfertigtund erforderlich.Aber nun zu den vorliegenden Anträgen. Da möchteich anfangen mit dem Antrag der Koalition, den ich vordem Hintergrund der Aktivitäten der SPD in der letztenLegislaturperiode mit großer Verwunderung zur Kennt-nis genommen habe. Der Kollege von der CDU/CSU hatdas gerade ähnlich ausgedrückt.Solange Sie, meine Damen und Herren von der SPD,noch in der Opposition waren, haben Sie Aktivitäten an-gemahnt und vehement Maßnahmen gefordert. Das gingso weit, dass Sie ein Sondervotum abgegeben haben, indem Sie die Prüfung einer Änderung des Grundgesetzesim Hinblick auf den Status von Religionsgemeinschaf-ten vorgeschlagen haben. Seit Sie nun an der Regierungsind, hört und sieht man von alledem nichts mehr. Vordiesem Hintergrund nimmt sich Ihr gerade einmal zweinichts sagende Absätze umfassender Antrag doch ausge-sprochen mickrig aus.
Sie haben die Umsetzung der gesetzgeberischenEmpfehlung der Enquete-Kommission schlichtweg ver-schlafen. Ihr Antrag, der die Feststellung enthält, dassaufgeworfene Fragen weiter zu beraten und gesetzgebe-rische Empfehlungen des Berichtes sowie andere Maß-nahmen zu prüfen seien, klingt diesbezüglich ziemlichunwillig und ratlos.Zu Ihrem Vorwurf, wir hätten in der letzen Legisla-turperiode den Bundesratsentwurf nicht mehr auf dieTagesordnung gesetzt und er sei damit der Diskontinui-tät anheim gefallen, sage ich Ihnen Folgendes: Ich habemich kundig gemacht und in der Geschäftsordnungnachgelesen. In einer bestimmten Frist nach Druckle-gung eines Entwurfes gibt es ein Aufsetzungsrecht. Siehätten also die Beratung im Plenum durchsetzen können,wenn Sie gewollt hätten.
Ich sage noch einmal: Nicht die alte Regierung oderdie alte Koalition haben gebremst. Der Endbericht derEnquete-Kommission wurde nämlich erst am Ende derLegislaturperiode, im Juni 1998, beraten. Erst danachkonnten die Empfehlungen umgesetzt und die gesetzge-berischen Maßnahmen eingeleitet werden. Sie sind seitanderthalb Jahren dafür zuständig. Dies müssen Sie sichanhören, auch wenn es Ihnen nicht passt.
Ich möchte noch abschließend die Bemerkung ma-chen, dass wir vonseiten der F.D.P. zwei Punkte für we-sentlich halten. Der erste wesentliche Punkt ist die Ein-richtung einer Stiftung, die unabhängig und staatsfernorganisiert werden soll und deren Zweck die Informati-on und die Beratung über die Organisationen auf demPsycho- und Esoterikmarkt sein soll. Der zweite we-sentliche Punkt ist das Gesetz über Verträge auf demGebiet der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, dasnicht regulieren soll, sondern das Rahmenbedingungenzur Transparenz auf dem Markt im Sinne des Verbrau-cherschutzes setzen soll.Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vor-schlag machen. Die Enquete-Kommission hat die Bun-desregierung aufgefordert, nach zwei Jahren einen erstenBericht vorzulegen. Wir erwarten diesen Bericht imSommer, weil wir davon ausgehen, dass sich die Regie-rung an die Aufforderung der Enquete-Kommission hält.Wir schlagen deshalb vor, direkt nach der Sommerpausefraktionsübergreifend – ich kann nämlich nicht erken-nen, wo wir inhaltlich noch weit auseinander liegen,nachdem wir in der Enquete-Kommission darüber ge-sprochen haben – Initiativen auf der Basis des Berichtesder Bundesregierung zu ergreifen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wortder Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/DieGrünen.Birgit Homburger
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7854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Kollegen! Wir diskutieren heute ein Thema, das in derletzten Legislaturperiode zu ziemlichen Auseinanderset-zungen nicht nur in der Enquete-Kommission, sondernauch in der Öffentlichkeit geführt hat. Dennoch habenwir gemeinsam gute Arbeit geleistet und einen seriösenAbschlussbericht vorgelegt.Der Bundestag – dieser Punkt ist schon von anderenKollegen erwähnt worden – reagierte mit der Einsetzungdieser Enquete-Kommission auf sehr viele Petitionen,die beim Petitionsausschuss eingereicht wurden. Außer-dem gab es insbesondere in der Medienöffentlichkeit ei-ne eskalierende Auseinandersetzung um die Scientolo-gy-Organisation. Unsicherheit und Unwissenheit habendas Klima geprägt. Umso wichtiger war es dann, in die-ser Situation etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.Insgesamt hat aber der Abschlussbericht der Enquete-Kommission nicht nur Informationen geliefert, sondernauch dazu beigetragen – so sage ich aus meiner Erfah-rung in den Monaten danach –, dass die Auseinanderset-zung in rationalere Bahnen gelenkt werden konnte. Ins-besondere den Punkt, der sich mit dem Sektenbegriffbeschäftigt, halte ich im Großen und Ganzen nicht für„Tüdelkram“. Die Vereinbarung von unserer Seite, inder öffentlichen Debatte den Sektenbegriff nicht mehrzu benutzen, halte ich für einen guten Beschluss. DieseAuffassung habe ich auf vielen Veranstaltungen in derZeit nach dem Abschlussbericht vertreten, in der ich vonKirchengemeinden eingeladen worden bin, und dafürauch viel Verständnis gefunden.Wir haben festgestellt, dass es in einzelnen Fällen inden von uns untersuchten Gruppen zu psychischen undteilweise auch zu physischen Verletzungen von Men-schen kommt. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass die-se Menschen kompetente Hilfe erhalten, und zwar nichtnur von der Familie und von Freunden, sondern auchvon fachlich gut ausgestatteten staatlichen Beratungs-stellen, für die wir uns eingesetzt haben. Insbesonderehaben wir uns für die Stärkung der Ausbildung derer,die in diesen Beratungsstellen mitarbeiten, eingesetzt.Der Staat hat auch die Pflicht, über problematischeGruppen oder dort ausgeübte Praktiken aufzuklären. Al-lerdings muss strikt weltanschauliche Neutralität ge-wahrt werden. Der säkulare Rechtsstaat darf sich nichtoffensiv in den Weltanschauungskampf einmischen.Das Ergebnis der Tätigkeit der Enquete-Kommissionhat aber auch eindeutig gezeigt, dass es die immer wie-der behauptete Gefährdung von Staat, Wirtschaft undGesellschaft durch die so genannten Sekten und Psycho-gruppen nicht gibt. Das ist eines der zentralen Ergebnis-se, das ich hier wiederholen möchte, weil ich glaube,dass diese Ergebnisse der Untersuchung in der Öffent-lichkeit immer noch nicht wahrgenommen wurden, dieuns dazu geführt haben, das so zu definieren. Deshalb haben wir uns als Grüne innerhalb der En-quete-Kommission immer gegen das Tätigwerden desVerfassungsschutzes ausgesprochen, auch gegen dieScientology-Organisation. Bei Scientology handelt essich allerdings um einen Sonderfall. Deren Auseinander-setzung mit dem deutschen Staat und einzelnen Reprä-sentantinnen und Repräsentanten hat eine Form erreicht,vor allem auch im internationalen Maßstab, die nichtmehr zu tolerieren war. Die propagandistische Aussageder Scientology-Organisation, sie werde in Deutschlandverfolgt wie die Juden im NS-Staat, war unübertroffenperfide und stellte eine unerträgliche Verharmlosung derVerfolgung der Juden im NS-Deutschland und des Völ-kermordes dar.
Deswegen ist eine öffentliche politische Auseinander-setzung auch mit dieser Organisation unbedingt notwen-dig. Was den Verfassungsschutz angeht, möchte ich nocheinmal darauf hinweisen, dass der letzte nordrhein-westfälische Verfassungsschutzbericht ganz deutlichgemacht hat, dass eine Beobachtung dennoch nicht an-gemessen ist. Wir müssen andere Formen der Auseinan-dersetzung finden.
Wir haben uns in unserem Minderheitenvotum gegeneine Vielzahl von Handlungsempfehlungen ausgespro-chen, hauptsächlich aus drei Gründen:Erstens sahen wir die Masse an gesetzgeberischenund gesetzesverschärfenden Empfehlungen vom Ergeb-nis der Untersuchung der Enquete-Kommission nichtgedeckt. Man kann nicht einerseits feststellen, dass kei-ne allgemeinen Gefahren bestehen, und andererseitsmassive Gesetzesverschärfungen propagieren.Zweitens. Wir haben verfassungsrechtliche Problemegesehen, etwa bei der geplanten Finanzierung von priva-ten Beratungsstellen oder bei der Anwendung des Ver-einsrechts auf religiöse Minderheiten. Es darf keineSondergesetze gegen religiöse Minderheiten geben,wenn gleichzeitig, wofür ja vieles spricht, die traditio-nellen Kirchen nach wie vor die grundgesetzlich garan-tierte Sonderstellung behalten sollen. Hier muss Gleich-behandlung herrschen.
Drittens konnten wir uns bei der Ablehnung verschie-dener Vorschläge, beispielsweise der staatlichen Finan-zierung privater Beratungsstellen oder des Entwurfs ei-nes Lebensbewältigungshilfegesetzes, sogar auf die Stel-lungnahmen seitens der betroffenen Ministerien stützen.So hat das Justizministerium bei der Bundesratsinitiativezum Lebensbewältigungshilfegesetz eindeutig dafürplädiert, diesen Entwurf nicht zu verabschieden. In diesem Zusammenhang finde ich es besondersseltsam, dass ausgerechnet die damals regierende Unionin ihrem Antrag lapidar die zügige Umsetzung der Rege-lung zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe fordert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7855
Im Gegenteil, es ist dringend geboten, die von derEnquete-Kommission vorgeschlagenen Handlungsemp-fehlungen noch einmal sorgfältig zu prüfen, bevor manendgültig gesetzgeberische Schritte einleitet. Es istwichtig, zu überprüfen, ob durch Gesetze auch tatsäch-lich diejenigen erreicht werden, die erreicht werden sol-len. Und es ist wichtig, zu überprüfen, ob durch Rege-lungen nicht gegen die verfassungsmäßige Neutrali-tätspflicht des Staates verstoßen wird. Klar ist: Wennin so genannten Sekten und Psychogruppen Gesetze ge-brochen werden – wie wir es auch definiert haben –,müssen die Täter bestraft werden, genauso wie bei Ver-stößen in anderen Zusammenhängen.Auf der anderen Seite haben wir aber als Politikerin-nen und Politiker auch die Aufgabe, dafür zu sorgen,dass die Anhänger oder Mitglieder kleiner Religionsge-meinschaften das gleiche Recht haben, ihren Glaubenauszuüben, wie die Anhänger der Großkirchen. Wirmüssen uns dafür einsetzen, dass gesellschaftliche Aus-grenzungen, welcher Art auch immer, auf welcher Ebe-ne auch immer, unterbleiben.
Noch eine abschließende Bemerkung – sie geht an dieF.D.P. –: Unerträglich finde ich in diesem Zusammen-hang den berüchtigten Plakatentwurf der nordrhein-westfälischen F.D.P. Nicht nur, dass ich es bisher fürunvorstellbar hielt, dass eine demokratische Partei heutenoch mit dem Bild von Adolf Hitler wirbt. Das ist gera-de auch wegen steigender Akzeptanz rechtsgewirkterDenk- und Verhaltensmuster unfassbar. Man muss nur einmal nach Österreich schauen, was dortunter Umständen verborgen ist. Die Gleichstellung vonHitler und Bhagwan auf einem Plakat, wodurch eineVerbindung zwischen ihnen hergestellt wird, ist nichtnur eine Verharmlosung des Massenmörders Hitler, esist auch eine Beleidigung aller Anhänger des alternati-ven Glaubens der Osho-Bewegung. An die Adresse vonHerrn Möllemann: Ich hoffe, dass die Vernunft derWählerinnen und Wähler dieser aus reiner Profilierungs-sucht geborenen Ungeheuerlichkeit keinen Erfolg be-scheinigt.Wir sind gerade angesichts dessen, was wir gehörtund worüber wir uns auseinander gesetzt haben, dazuaufgerufen, dazu beizutragen, dass in unserer Gesell-schaft die Menschen unterschiedlicher Herkunft, unter-schiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Glau-bens nicht nur friedlich nebeneinander leben können,sondern dass sie auch gegenseitigen Respekt füreinanderaufbringen. Natürlich müssen wir uns für alle einsetzen, die Opferpsychischer und physischer Gewalt geworden sind. Wirmüssen uns außerdem dafür einsetzen – das ist mir dasAllerwichtigste –, dass insbesondere die wissenschaftli-che Forschung in diesem Bereich, die akademische Leh-re und die schulische Bildung ausgebaut werden. Dazubedarf es keiner besonderen gesetzlichen Initiativen,sondern der Bereitstellung zusätzlicher Mittel. In diesemSinne plädiere ich in dieser Frage weiterhin für eine ra-tionale und nüchterne Debatte. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Als ehemaliges Mitglied der Enquete-Kommission weiß ich, wie viele Menschen die Arbeitdort verfolgt haben. Insbesondere die Opfer dieserGruppen, ihre Angehörigen und Freunde haben zu Rechterwartet, dass nun etwas geschieht, um ihnen zu helfen.Es ist ärgerlich, dass seit eineinhalb Jahren keineKonsequenzen gezogen wurden. Das ist eine berechtigteKritik. Das einzige, was die Bundesregierung bisher an-gekündigt hat, ist ein Modellversuch, der am 1. Juli be-ginnen soll; darauf komme ich später noch zu sprechen.Dass sonst nichts geschehen ist, kann meines Erachtensnicht am fehlenden Geld liegen; denn es war genug Geldda, um diverse Verfassungsschutzämter mit der Beo-bachtung von Scientology zu beauftragen. Wir waren –meine Kollegin hat das eben schon erklärt – und werdenauch weiter dagegen sein, zumal bis heute keine konkre-teren Erkenntnisse zur Verfassungsfeindlichkeit auf demTisch liegen. Viele Betroffene haben sich in den vergangenen Mo-naten an Abgeordnete des Bundestages gewandt und ha-ben meiner Meinung nach so die Debatte heute erzwun-gen. Die PDS hat daraufhin eine Kleine Anfrage einge-bracht und – sie wurde schon erwähnt – die Bundesre-gierung gefragt, wie die Forderungen der Enquete-Kommission umgesetzt werden. Die Antwort der Bun-desregierung und der Antrag der CDU/CSU-Fraktionsind in folgendem Punkt deckungsgleich: Beide wol-len – darüber muss man hier diskutieren – den privatenInitiativen offenbar nicht helfen und ihnen nicht ihreUnterstützung geben. Die Bundesregierung hat im letzten Oktober weitergeantwortet, sie berate noch über gesetzgeberische Ini-tiativen. Nun hat die Enquete-Kommission in der Tat eingroßes Paket vorgeschlagen, das geprüft werden muss.Aber der vorliegende Antrag der Regierungsparteien istmehr als dürftig; er ist heute mehrfach kritisiert worden.Sollen wir in dieser Legislaturperiode im Ernst weiterhinnur prüfen? Das kann doch nicht das Ergebnis der lang-jährigen Arbeit einer Enquete-Kommission sein. Sokönnen Sie mit den Betroffenen nicht umgehen. Sie ha-ben in der letzten Legislaturperiode mit dieser Enquete-Kommission zu Recht Hoffnungen und Erwartungengeweckt. Was hier vorgelegt wird, geht aber nicht weitgenug. Ich will es ganz deutlich sagen: Es geht mir nicht umschärfere Strafgesetze gegen die so genannten Psycho-gruppen und Sekten. Auch wenn viele dieser Gruppenantidemokratische, rassistische, antisemitische Tenden-zen aufweisen, ist ein weiterer Ausbau des Überwa-chungsstaates nicht die richtige Antwort. Solchen Ten-denzen muss durch konsequente Aufklärungsarbeit ent-Dr. Angelika Köster-Loßack
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7856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
gegengewirkt werden. Worauf es mir ankommt, ist vorallem eine finanzielle Besserstellung und eine gesetzli-che Förderung der Opfer dieser Gruppen und insbeson-dere ihrer Selbsthilfeorganisationen, über die wir hierheute diskutieren. Ich hoffe, dass wir in den Beratungender Ausschüsse einige Schritte weiterkommen.Die Bundesregierung hat uns, wie ich bereits erwähn-te, gesagt, dass sie einen Modellversuch plant – ich zi-tiere –zur Qualifizierung von Fachpersonal zum Themen-bereich so genannter Sekten und Psychogruppen inden etablierten Beratungsinstitutionen.Das Projekt ist im Prinzip in Ordnung, aber es darf sichnicht nur an die „etablierten Beratungsinstitutionen“ al-lein richten. Ich möchte daran erinnern, dass auch Ver-treter der großen Kirchen immer wieder gefordert haben,dass private Initiativen unterstützt werden müssen. Ich halte das für einen Ansatz, der nicht umfangreichgenug ist. Nach dem Verfassungsschutz zu rufen und fürdie Opfer nichts zu tun, ihre privaten Initiativen, die sichnicht den beiden großen Kirchen unterordnen, sogarweiterhin an den Rand zu drängen bzw. dort allein zulassen, kann nicht richtig sein. Auch in dieser Frage darfam Ende nicht mehr Staatskontrolle stehen. Auch hiergeht es um die Förderung von Bürgerrechten und Bür-gerinitiativen.Danke.
Jetzt hat die Kolle-
gin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrte Frau Prä-sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde imGegensatz zu meinem Ruf und entgegen dem, was wirin den zwei Jahren Enquete-Kommission gestritten ha-ben, eine sehr ruhige Rede halten. Denn das Thema soll-te im Sinne der Opfer und Betroffenen geführt werdenund nicht durch Streit gekrönt sein. Ich sage Ihnen ehr-lich: Ich bin froh, dass wir heute – zwar erst nach einemJahr, aber immerhin – über dieses Thema reden.Wir diskutieren heute – ich muss sagen: endlich – über die Fortführung der Ergebnisse der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“aus der vergangenen Wahlperiode. Genau genommen istdies lediglich die logische Konsequenz, denn der Ab-schlussbericht der Enquete-Kommission weist eine Rei-he von Empfehlungen an den 14. Deutschen Bundestagauf, die weiterführende parlamentarische Beratungen er-fordern. Die Fortführung der Beratungen zum Endbe-richt wäre eigentlich nicht mehr als ein formaler Akt,hätten wir es nicht mit einer Materie zu tun, die in denletzten Jahren vielfältige Emotionen ausgelöst hat – auchin der Enquete-Kommission. Ich bin allerdings über-zeugt, dass wir heute den nötigen Abstand besitzen – ichhoffe es jedenfalls –, um die Ergebnisse der Enquete-Kommission mit der gebotenen Sachlichkeit zu beraten.Umso mehr ist es für mich ein großer Schritt, dass wirnun mit den Beratungen beginnen.Bevor ich näher auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion eingehe, möchte ich mich an dieser Stelle zu-nächst einmal bei den Sachverständigen der Enquete-Kommission für ihre Kompetenz und ihr Engagement,mit dem sie die Enquete-Kommission getragen haben, inaller Form bedanken. Ich möchte Ihnen vor allem dan-ken, weil Sie geduldig, entschieden und ganz ohneZweifel zu Recht die Fortsetzung der politischen De-batte eingefordert haben. Es ist schließlich auch eineFrage, wie wir mit den Ergebnissen und der geleistetenArbeit umgehen. Meines Erachtens – ich denke, Siewerden sich dieser Auffassung anschließen können –finden die Ergebnisse der Enquete-Kommission ihrenotwendige Anerkennung erst, wenn wir die Handlungs-empfehlungen aufgreifen und uns in den Gremien mitden inhaltlichen Fragestellungen auseinander setzen.Diese parlamentarische Arbeit soll mit dem heutigenTag beginnen. Ich bin darüber froh, denn es ist längstüberfällig. Ich möchte mich ebenso bei den vielen engagiertenBürgerinnen und Bürgern, bei Betroffenen und Hilfesu-chenden, die mir in den vergangenen Monaten geschrie-ben haben, bedanken. Die zahlreichen Anfragen, auch an den Petitionsaus-schuss, machen mir eines sehr deutlich: Das gesamteProblemfeld der neuen religiösen und ideologischenGemeinschaften ist ein politisches Thema und mussEingang in die parlamentarischen Beratungen finden.Wir tragen damit auch der gesellschaftlichen Bedeutungder Thematik Rechnung. Ich erinnere an die drängendeFrage von vielen Bürgerinnen und Bürgern: Was machteigentlich die Politik, um uns vor so genannten Sektenund Psychogruppen zu schützen? Die Antwort auf dieseFrage lieferte die Enquete-Kommission. Wir haben zweiJahre intensiv gearbeitet und verfügen mit dem Endbe-richt über eine hervorragende Handlungsgrundlage fürdie parlamentarische Entscheidungsfindung.Angesichts der vorliegenden Sondervoten im Ab-schlussbericht möchte ich jedoch, ohne den bevorste-henden Beratungen vorgreifen zu wollen, an alle Frakti-onen appellieren: Führen wir die Diskussion vorbehalt-los und ohne jedes Tabu. – Nun dürfen Sie klatschen.
– Sie von der anderen Seite auch!
– Ich hätte mich schon gefreut, wenn mir die Oppositiondarin zugestimmt hätte, dass wir das vorbehaltlos undohne jedes Tabu machen. Denn nur dann gelangen wirzu einer vorurteilsfreien Bewertung der Ergebnisse undletztlich zu Entscheidungen, die der vielschichtigen Pro-blematik gerecht werden.Uns liegt ein Antrag der Union vor, die Handlungs-empfehlungen zügig umzusetzen. Gestatten Sie mir dazueine kurze Anmerkung. Ich denke, wir sind uns einig,Ulla Jelpke
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dass Handlungsbedarf besteht. Ihre Forderung an dieBundesregierung, umgehend Gesetzentwürfe vorzule-gen, erscheint mir allerdings irreführend. Wenn Sieschon Forderungen aufstellen, sollten Sie genauer hinse-hen. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom-mission beziehen sich im Wesentlichen auf neu zuschaffende Rechtsvorschriften und Erweiterungen desbestehenden Rechts. Sie richten sich damit ausdrücklichan den Gesetzgeber und nicht nur an die Bundesregie-rung.Um auf unseren Antrag zu kommen: Im Gegensatz zuIhnen, die Sie an Überschriften von Programmen gehan-gen haben, die mit dem Inhalt des Programms überhauptnicht übereinstimmen, sind uns die Überschriften ersteinmal egal. Wir wollen für Inhalte kämpfen und für In-halte eintreten.Unser Antrag, der Antrag der Koalition, sieht vor,den Endbericht mit den darin enthaltenen Fragestellun-gen parlamentarisch zu beraten und gesetzgeberische Initiativen zu prüfen. Das ist die Aufgabe des 14. Deut-schen Bundestags und dieser Aufgabe sollten wir nach-kommen. Selbst wenn die Bundesregierung eigene Ini-tiativen prüft – wie Sie wissen, tut sie das –, sollten wirdie Diskussion des Endberichts im Bundestag ziel-gerichtet vertiefen. Angesichts der zahlreichen offenenFragen halte ich eine breite Debatte für unbedingt erfor-derlich. Ich kann daher die Opposition nur ermuntern,unserem Antrag zuzustimmen und den Endbericht an dieAusschüsse zu überweisen.Lassen Sie mich noch etwas zu den Handlungsemp-fehlungen sagen. Ich möchte sie nicht der Reihe nachaufführen, sondern vielmehr auf einen zentralen Aspekteingehen, den eigentlich alle Rednerinnen und Rednerbisher erwähnt haben. Besonders am Herzen liegt mirund uns der Verbraucherschutz am Psychomarkt.Vielleicht kennen Sie schon meinen bildhaften Spruch,aber plausibler lässt es sich kaum erklären: Sie könnenin Deutschland keinen Liter Milch kaufen, ohne dassdraufsteht, was drin ist. Aber es gibt Seminare, die diePsyche des Menschen elementar verändern, ohne dassdie Anbieter sagen müssen, welche Ausbildung sie ha-ben, welche Methoden sie anwenden, welches Ziel einSeminar hat und wie viele Seminare ich brauche, um dasZiel erreichen zu können. Auch die Fragen der tatsächli-chen Kosten, des Rücktrittsrechts oder der Regressmög-lichkeiten sind ungeklärt.Sie wissen, ich rede von der gesetzlichen Regelungder gewerblichen – „gewerblich“ ist das wichtige Wortin diesem Zusammenhang – Lebensbewältigungshilfe.Hier besteht nach Auffassung der SPD-Fraktion Rege-lungsbedarf, und zwar nicht, weil wir staatliche Kontrol-le brauchen, sondern damit der boomende Psychomarkt– hier geht es wie in jedem anderen Gewerbe um finan-zielle Interessen – endlich transparenter wird.
– Danke, Herr Geschäftsführer. – Der Verbraucher-schutz muss auch auf dem Psychomarkt gelten.Ich erwarte spannende Verhandlungen, die wir behut-sam führen sollten. Ich bin voller Zuversicht, dass wir instrittigen Fragen zu tragfähigen Kompromissen kommenwerden. Denn das ist schließlich die Aufgabe von Poli-tik. Es ist die Aufgabe des Parlaments.Ein Satz zum Schluss an alle Fraktionen. Niemand indiesem Hause will jemandem etwas verbieten, was fürihn gut ist. Wer sich quälen lassen möchte, kann diesnach unserem Willen und der politischen Gestaltungweiterhin tun. Aber ich möchte die Menschen schützen,die Hilfe erwarten und nur Kram bekommen. Kram gibtes bei diesem Thema eine Menge.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege
Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Lie-be Kolleginnen und Kollegen! Ich will als ehemaligerObmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der En-quete-Kommission, die über zwei Jahre lang getagt hat,meinen Eindruck ganz offen vortragen, den ich ange-sichts des Antrages der rot-grünen Koalition habe. Es isteine intellektuelle Zumutung,
dem Deutschen Bundestag einen solchen Antrag vorzu-legen, nachdem Wissenschaftler und Kolleginnen undKollegen zwei Jahre lang einen Text ausgearbeitet ha-ben, der auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist. Ihnauf diese Weise zu reduzieren macht deutlich, dass Siein der rot-grünen Koalition absolut handlungsunfähigsind, die richtigen Konsequenzen aus diesem Bericht zuziehen.
– Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Geschäftsfüh-rer.Die Ziffern 1 und 2 des Antrages von SPD undBündnis 90/Die Grünen werden dem Deutschen Bun-destag ernsthaft vorgelegt als Antrag dieser beiden Frak-tionen.
– Ich wiederhole es nur, weil es unglaubhaft ist, hiernach Überparteilichkeit und Sachlichkeit zu rufen, abereinen solchen Antrag überhaupt vorzulegen. Ich lese Ziffer 1 vor: Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog.Sekten und Psychogruppen“ beschlossen. Renate Rennebach
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Das ist ein unglaublicher Beitrag der Koalitionsfraktio-nen zur Debatte über dieses Thema.Satz zwei lautet:In der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestagesvom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussberichtvorgelegt und beraten.
Wenn das der Erkenntnisgehalt der beiden Koalitions-fraktionen ist, dann wundere ich mich über überhauptnichts mehr.
Um es deutlich zu sagen: Es gibt zwei Kernbereiche,die in dieser Enquete-Kommission, von Sondervoten derGrünen einmal abgesehen, völlig unstrittig waren. Eswar zwischen CDU/CSU, F.D.P., SPD und in diesemFall, wenn ich mich richtig erinnere, auch der PDS völ-lig unstrittig, dass wir eine Regelung zur gewerblichenLebensbewältigungshilfe benötigen. Es war aber auchunstrittig, dass der damals von Hamburg vorgelegte Ge-setzentwurf nicht ausreichend war, weil er im Hinblickauf den Gesetzeszweck und das Gesetzesziel zu unbe-stimmt war und dadurch Berufsgruppen in die Kontrolleeinbezogen würden, die nicht einbezogen werden soll-ten. Wenn Sie jetzt Handlungsbedarf sehen, dann fordernSie doch Ihre Bundesregierung auf, einen überarbeitetenGesetzentwurf vorzulegen.
Sie werden es deshalb nicht hinbekommen, weil dieGrünen – damit bin ich bei einem Ihrer Probleme – so-gar bezweifeln – Frau Dr. Köster-Loßack hat es geradedeutlich dargestellt –, dass es die Notwendigkeit gibt,hier gesetzgeberisch zu handeln. Das Problem liegt aus-schließlich in der Koalition.
Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen: Trotz derrechtlichen Probleme, die wir analysiert haben und diewir gesehen haben, haben wir die Einrichtung einerBundesstiftung für richtig gehalten. Das rechtlicheProblem, vor dem man bei der Errichtung einer Bundes-stiftung steht, liegt auf der einen Seite darin, den Betrof-fenen, den Hilfsorganisationen ein quasi stiftungsrecht-liches Hilfsangebot geben zu wollen, auf der anderenSeite darin, dass man damit in gewisse Kollisionen mitdem staatlichen Neutralitätsgebot kommt.Wir haben uns stundenlang über mehrere Sitzungenhinweg über die Frage unterhalten, wie wir dieses Prob-lem lösen können. Wenn Sie einen Blick in den Ab-schlussbericht werfen, dann sehen Sie, dass wir ganzkonkrete Gesetzesänderungen empfohlen haben, die unsaus diesem Zielkonflikt herausbringen. Dieser Zielkon-flikt kann juristisch gelöst werden. Aber die Bundesre-gierung hat in den letzten 16 Monaten nichts getan, umauch nur einen einzigen Gesetzentwurf vorzulegen, derdie Möglichkeit eröffnet, eine solche Bundesstiftung zuschaffen.Frau Rennebach, wenn Sie sich schon nicht mit denGrünen einigen können, dann wäre ich Ihnen dankbar –ich biete da ausdrücklich unsere Unterstützung an –,wenn Sie wenigstens einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion einbringen würden. Ich sichere Ih-nen zu, dass die CDU/CSU diesen Antrag, wenn er aufden Empfehlungen der Enquete-Kommission basiert,unterstützen wird.
Dann könnten wir erreichen, dass wir eine Bundesstif-tung einsetzen können, die im Ergebnis dazu führt, dassdie Selbsthilfeorganisationen und die Betroffenenorga-nisationen endlich die Möglichkeit erhalten, inhaltlichund finanziell unterstützt zu werden.
Ich will meine Ausführungen mit dem Hinweisschließen, dass wir Ihren Antrag den Betroffeneninitiati-ven und den Selbsthilfeorganisationen zusenden werden,damit sie sich ein qualifiziertes Bild davon machen kön-nen, wie Sie die Ergebnisse dieser Kommission verstan-den haben. Ich bleibe dabei: Ihr Antrag ist eine intellek-tuelle Zumutung.Herzlichen Dank.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vor-lage auf Drucksache 14/2361 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vor-lage auf Drucksache 14/2568 soll an dieselben Aus-schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenUlrich Heinrich, Jürgen Koppelin, Marita Sehn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derF.D.P. Reform der landwirtschaftlichen Sozialver-sicherungsträger – Drucksachen 14/1557, 14/1759 –Es liegen zwei Entschließungsanträge vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobeidie F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Jürgen Koppelin.Ronald Pofalla
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7859
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion fordertschon seit vielen Jahren eine Neuordnung der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung. Die bestehende Auftei-lung auf drei Spitzenverbände und je 20 Träger für Un-fallversicherung, Altersversicherung und Kranken- undPflegeversicherung muss reformiert werden. Da-rüber sind wir uns, glaube ich, alle einig. In diesem Punkt ist dem Bundesrechnungshof, der ei-nen Bericht vorgelegt hat, uneingeschränkt zuzustim-men. Verwaltungs- und Verfahrenskosten von weit über600 Millionen DM im Jahr erfordern nicht nur in Zeitenleerer Kassen sparsame und effiziente Verwaltungen.Außerdem müssen wir wegen des anhaltenden Struk-turwandels in der Landwirtschaft, der zu immer mehrLeistungsempfängern und immer weniger Beitragszah-lern führt, die Verwaltungsstrukturen in der Sozialversi-cherung zwingend erneuern. Allerdings – das will ichdeutlich machen – lehnt die F.D.P. eine zentralistischeBundesversicherungsanstalt für Landwirtschaft striktab.
Wir wollen keinen Zentralismus. Regionale Besonder-heiten müssen, so meinen wir, auch zukünftig Berück-sichtigung finden. Die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne favorisiereneine Bundesversicherungsanstalt, die zentralistisch ist.Dazu haben sie einen entsprechenden Entschließungsan-trag vorgelegt. Dieser Vorschlag der Regierungsfraktio-nen wird nicht einmal vom zuständigen Landwirt-schaftsminister – soweit ich das richtig mitbekommenhabe – unterstützt. Karl-Heinz Funke, den ich hier heuteleider vermisse
– mal wieder –, hat gesagt: Mit mir ist das nicht zu ma-chen. Kollegin Homburger, vielleicht reist er gerade durchdas Land und erklärt, wie schädlich die Ökosteuer fürdie Landwirte sei und dass er sich dafür einsetzt, dass sieabgeschafft wird.
Das kennen wir ja, und hier redet er ganz anders. Wir begrüßen, dass Herr Funke sagt: Mit mir ist dasnicht zu machen. Schauen wir aber einmal, was HerrFunke will.
In der Stellungnahme zu unserer Großen Anfrage hätteer sich allerdings klarer äußern müssen, Herr Staatsse-kretär. Denn das, was darin steht, ist nur Lyrik undnichts anderes. Er bringt nichts Konkretes. Ich will Ihnen nur einige Aspekte nennen, die gegendas zentralistische SPD- und Grünen-Modell sprechen.Eine Bundesanstalt bedarf bei ihrer Einrichtung hoherAnfangsinvestitionen. Das vom Bundesrechnungshofauf jährlich 100 Millionen DM bezifferte Einsparpoten-zial wurde bisher noch nicht einmal durch betriebswirt-schaftliche Untersuchungen belegt.
Eine Bundesanstalt ist versichertenfern und kann re-gionale Besonderheiten – darauf werde ich gleich nochzu sprechen kommen – nicht berücksichtigen. Ein bun-deseinheitlicher Beitragsmaßstab bei der landwirtschaft-lichen Berufsgenossenschaft und den landwirtschaftli-chen Krankenkassen wird den unterschiedlichen land-wirtschaftlichen Betriebsstrukturen in keiner Weise ge-recht und belastet im Übrigen die zukunftsträchtigen Be-triebe überproportional.Demgegenüber favorisieren alle LSV-Träger und ihreVerbände sowie die Bundesländer, der Deutsche Bau-ernverband, die Gewerkschaften und wohl auch – wennich das noch einmal erwähnen darf – der Bundesland-wirtschaftsminister ein regionales Modell mit sieben bisneun Trägern. Die ins Feld geführten Vorteile bei die-sem Modell sind: Durch die bereits vorhandenen Stand-orte fallen keine Anfangsinvestitionen an. RegionaleTräger sichern ein hohes Maß an Versichertennähe undkönnen Besonderheiten in den Regionen berücksichti-gen. Für mich als Schleswig-Holsteiner ist das ein ganzentscheidender Punkt. Es kann doch wohl nicht sein,dass Betriebe mit einer ausgeprägten Vollerwerbs-struktur, wie sie gerade in Schleswig-Holstein existie-ren, durch einen Zusammenschluss mit ungleichen Part-nern unnötig belastet werden.
Fusionen, die derartige Beitragsverwerfungen zwangs-läufig nach sich ziehen würden
– dazu sage ich gleich noch etwas –, sind nun wirklichnicht der geeignete Weg in Richtung einer wettbewerbs-fähigen Landwirtschaft.Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade einen Zurufgemacht. Über Niedersachsen können wir uns gesondertunterhalten. Dort gibt es bereits Bestrebungen, dies nichtzentral zu machen, sondern verschiedene Einrichtungendafür zu schaffen, was ich übrigens sehr begrüße. Dassage ich gerade als Haushälter; denn wir haben immereinen entsprechenden Druck ausgeübt.Vorrangiges Ziel muss aus Sicht der F.D.P. eine wei-tere stärkere Reduzierung von Gebietskörperschaftensein, sodass jedes vorgelegte Modell nach diesem Krite-rium zu hinterfragen und abschließend zu beurteilen ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undden Grünen – ich spreche vor allem die Kollegen ausNorddeutschland an –, auf der Vorderseite Ihres Antragssteht im unteren Teil:... dass die Träger der landwirtschaftlichen Sozial-versicherung aus eigener Kraft nicht imstande sind,die ... Mängel der derzeitigen Strukturen zu behe-ben.
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Dies kann man so nicht stehen lassen. Gehen Sie docheinmal in meine Heimat, nach Kiel oder nach Hamburgund machen Sie sich einmal kundig! Dort können dieSozialversicherungsträger aus eigener Kraft ihren Auf-gaben nachkommen. In den süddeutschen Regionen istdas ein Problem; aber darüber werden wir noch geson-dert reden müssen. Es zeugt also entweder von Ignoranzoder Unwissenheit, wenn Sie solche Aussagen in Ihr Pa-pier aufnehmen. Ich fordere Sie auf, Ihr Augenmerk aufdie eigenständigen LSV-Träger, wie es sie zum Beispielin Hamburg oder Schleswig-Holstein gibt, zu legen.Hier sind längst die notwendigen Reformen und Anpas-sungen vorgenommen worden.Als Affront gerade gegen Schleswig-Holstein undHamburg muss ich es werten, wenn Sie in Ihrem Antragauch noch von der Ineffizienz dieser Sozial-versicherungsträger sprechen.
Die haben ihre Hausaufgaben gemacht; das muss mananerkennen. Wenn aber alle Sozialversicherungsträger,die süddeutschen und die norddeutschen, zusammenge-legt würden, könnte es zu einer Ungleichheit kommen.Die norddeutschen Landwirte müssten dann wahrschein-lich höhere Beiträge zahlen. Ich denke, es ist wichtig,dass wir die regionalen Belange berücksichtigen. Inso-fern ist es nicht in Ordnung, wenn Sie eine zentrale Stel-le fordern.
Es sei noch einmal gesagt, dass es zweifellos eineÄnderung der Struktur bei den landwirtschaftlichenSozialversicherungsträgern geben muss, die neben derKostenreduzierung und Effizienzsteigerung auch eineStärkung des Bundeseinflusses beinhalten muss. Darinsind wir uns einig; denn wenn der Bund rund7,8 Milliarden zahlt – dies hat das Ministerium nocheinmal in seiner Antwort angeführt –, muss er natürlichauch mehr Einflussmöglichkeiten haben. Das streitenwir nicht ab.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undden Grünen, abschließend appelliere ich an Ihre Ver-nunft: Nutzen Sie die heutige Debatte, um aus Ihrer Iso-lation herauszukommen!
Nicht nur wir und der Landwirtschaftsminister sind derAuffassung – –
– Entschuldigen Sie, wir sind doch in bester Gesellschaftmit dem Kollegen Funke. Es ist aber ähnlich wie bei derÖkosteuer; das habe ich erwähnt: Wenn wir hier überdie Belastung für die Landwirte durch die Ökosteuerdiskutieren, sitzt der Herr Landwirtschaftsminister ganzstill da oder formuliert einige nette Sätze und scherzt –das kommt auch gut an –, aber draußen im Lande ziehter von Bauernverband zu Bauernverband und sagt: Ichsetze mich dafür ein, dass die Ökosteuer abgeschafftwird oder dass es zumindest Verbesserungen gibt.
Ich könnte auch noch etwas zu der Diesel-Geschichtesagen. Das Problem des Kollegen Funke ist doch, dasser bei all dem, was von der Koalition kommt, ganz stillist, aber dies draußen im Lande kritisiert und meint, da-mit Stimmen für die Koalition gewinnen zu können. Dashat Methode.Meine Bitte ist: Versuchen Sie, aus Ihrer Isolation he-rauszukommen! Wenden Sie sich von Ihrem zentralis-tischen Modell einer Bundesanstalt ab und schlagen Sieden Weg der Vernunft ein! Dann wären wir alle einStück weiter und den Landwirten wäre geholfen.Ich bedanke mich.
Jetzt hat der Herr
Parlamentarische Staatssekretär, Dr. Gerald Thalheim,
das Wort.
Dr
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ver-
ehrte Frau Präsidentin! Mit der Großen Anfrage proble-
matisiert die F.D.P. auf der einen Seite die Auswirkun-
gen des Steuerentlastungsgesetzes, des Sanierungs-
konzepts. Aber auf der anderen Seite werden die Struk-
turen des Systems der landwirtschaftlichen Sozialversi-
cherung zum Gegenstand der Nachfrage gemacht. Zuge-
geben: Beides hat mit Geld zu tun. Wenn man aber zu
sachgerechten Entscheidungen kommen will, muss man
beide Bereiche getrennt betrachten.
Herr Kollege Koppelin, ich stimme mit Ihnen über-
ein, dass die Strukturreform der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung längst überfällig ist. Das ist keine
neue Erkenntnis. Insofern macht die F.D.P. mit der Gro-
ßen Anfrage die eigenen Versäumnisse der Vergangen-
heit zum Gegenstand der Nachfrage.
Richtig ist, Herr Kollege Koppelin, dass ein Missver-
hältnis zwischen den Einflussmöglichkeiten des Bundes
und der Tatsache, dass der Bund Geld zur Verfügung
stellt, besteht. Richtig ist auch, dass wir nach wie vor ei-
nen enormen Strukturwandel haben und dass Verwal-
tungsvereinfachungen natürlich möglich sind.
Herr Staatssekretär,gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?Jürgen Koppelin
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7861
Dr
Aber gerne.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da
Sie von unseren angeblichen Versäumnissen sprechen,
frage ich Sie: Haben Sie die letzten Haushaltsberatungen
der alten Koalition in Erinnerung, als sowohl der Kol-
lege Freiherr von Hammerstein als auch ich gesagt ha-
ben, dass es auf diesem Gebiet Veränderungen geben
muss, und auch, dass wir die Initiative über den Haus-
haltsausschuss ergriffen haben? Der Bericht des Rech-
nungshofes kommt ja nicht aus heiterem Himmel, son-
dern kommt aufgrund unserer Initiativen. Das ist ja die
Grundlage dafür, dass wir überhaupt über dieses Thema
debattieren. Ich denke, Sie waren auch mit im Boot. Wir
alle, die wir hier im Hause sind, haben das bei Haus-
haltsberatungen immer gesagt. Das Beispiel war Nie-
dersachsen – dazu kam vorhin ein Zuruf –, weil es da zu
viele dieser Versicherungsträger gab und die Kosten zu
hoch waren. Wir haben das Problem also angepackt.
Oder würden Sie bestreiten, dass wir es – gerade in der
letzten Legislaturperiode – gemeinsam diskutiert haben?
Dr
Herr Kollege Koppelin, es ist richtig, dass wir
das Ganze diskutiert haben. Aber nach den eineinhalb
Jahren, die die neue Regierung im Amt ist, messen Sie
uns ganz bewusst an dem, was wir erreicht haben, und
nicht an dem, was wir fordern. Insofern ist es folgerich-
tig, auch Sie daran, was Sie in den Jahren Ihrer Regie-
rungsbeteiligung erreicht haben, zu messen, nicht aber
daran, was Sie in den letzten Jahren im Haushaltsaus-
schuss gefordert haben.
Es waren am Ende gerade die Landesregierungen, an
denen die F.D.P. in der jeweiligen Koalition beteiligt
war, die hier Strukturreformen verhindert haben. Herr
Kollege Koppelin, das ist einfach die Beschreibung der
Wahrheit.
Nun möchte Herr
Kollege Koppelin noch eine Frage stellen.
Dr
Aber gerne.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie
schwer das Geschäft ist, das wir betreiben, nämlich Poli-
tik zu machen, etwas umzusetzen, sieht man doch auch
an Ihrer Antwort, wenn Sie sagen, Sie würden hoffen,
dass in dieser Legislaturperiode eine Reform stattfinden
kann.
Das heißt, selbst Sie haben sehr viel Zeit bis zum En-
de der Legislaturperiode, aber Sie sprechen in Ihrer
Antwort nur davon, dass Sie hoffen, das durchzube-
kommen. Uns werfen Sie vor, dass wir das in eineinhalb
Jahren nicht gepackt haben. Sie haben ja immer noch
über zwei Jahre Zeit und sprechen trotzdem davon zu
hoffen.
Dr
Herr Kollege Koppelin, wenn ich von Hoffnung
spreche, dann aus dem einfachen Grunde, dass der Bund
hier nicht allein entscheiden kann
und wir an diesem Punkt auf die Mitwirkung der Länder
angewiesen sind.
Ich wiederhole meine Antwort von vorhin, dass in der
Vergangenheit diejenigen Länder, in denen die F.D.P. an
der Regierung beteiligt war, sich nicht gerade als Vorrei-
ter geriert haben.
Nun, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, wollen wir den Redner fortfahren las-
sen. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Herr
Staatssekretär hat das Wort.
Dr
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieserStelle auf den Kern kommen, ob wir die Frage nach derExistenz einer eigenständigen landwirtschaftlichen Ver-sicherung mit der Frage nach den Strukturen verbindenkönnen. Die Antwort hierauf ist ein klares Nein. DieBundesregierung bekennt sich nach wie vor zu einer ei-genständigen landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Es ist aber auch richtig: Das System ist nicht alleinvon einer immer geringeren Zahl von in der Landwirt-schaft Tätigen zu finanzieren. Trotz der Rückführungder Bundeszuschüsse bleibt die finanzielle Unterstüt-zung des Bundes erheblich. Dazu gibt es keine Alterna-tive.
Es sind immerhin noch 7,3 Milliarden DM, die in die-sem Jahr dafür zur Verfügung gestellt werden. Eine Ab-schaffung des Sondersystems kommt also nicht in Be-tracht. Wir sind nach wie vor auf die Solidarität derSteuerzahler an dieser Stelle angewiesen. Dieses eigenständige System der landwirtschaftli-chen Sozialversicherung ist kein Privileg für die Land-wirtschaft. Der Strukturwandel – Herr Koppelin, an die-sem Punkt stimmen wir sicher überein – wird auch inanderen Bereichen der Wirtschaft flankiert, am Ende
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7862 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
durch öffentliche Gelder, konkret durch Steu-erzahlungen. Allerdings: Angesichts der Haushaltssituation desBundes und der überfälligen Strukturreform muss manschon die Frage stellen, wie die Strukturen in der Zu-kunft aussehen können. Hier gibt es den entscheidendenDissens. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass wiran einem zentralen System festhalten sollten, solangewir nicht davon überzeugt sind, dass andere Strukturen,zum Beispiel ein System mit mehreren Trägern, wie Siees vorgeschlagen haben, besser sind. Im Dialog mit denLändern soll um die beste Lösung gerungen werden.Selbstverständlich wissen wir, dass wir das im Konsenserreichen müssen. Aber wie gesagt: Nach wie vor stehtdie Frage im Mittelpunkt, auf welche Lösung wir unsam besten einigen können. Ich möchte deshalb von die-ser Stelle aus den Appell an die Länder richten, kon-struktiv mit dem Bund zusammenzuarbeiten, damit wirdie Strukturen effizienter machen können. EffizientereStrukturen in diesem Bereich sind auch ein entscheiden-der Beitrag, um das System zukunftsfest zu machen.
Ich denke, über diesen Punkt besteht wieder Einigkeit.Uns allen fällt die Aufgabe zu, auf die Landesregierun-gen einzuwirken, um entsprechende Lösungen zu erzie-len. Der Bundesregierung wird im Einvernehmen mit denKoalitionsfraktionen die Aufgabe zufallen, die öffentli-chen Gelder – ich formuliere es einmal so – auf denKernbereich der landwirtschaftlichen Betriebe zu kon-zentrieren. Wenn das gelänge, dann wäre das ein wichti-ger Beitrag, um dieses System – ich möchte das Wortnoch einmal gebrauchen – zukunftsfest zu machen.Vielen Dank.
Nun hat das Wort
der Kollege Siegfried Hornung, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Antwortder Bundesregierung auf die Große Anfrage ist – wennman es genau betrachtet – vage und enthält zentralisti-sche Töne. In Wirklichkeit bezieht sich die Antwortmehr auf einen Nebenschauplatz. Mit ihr soll von dentatsächlichen Problemen abgelenkt werden. Die Agrar- und Sozialpolitik der CDU/CSU warund ist für die Landwirtschaft zuverlässig. Mit ihr be-kennt sich die CDU/CSU nachdrücklich zu ihrer Ver-antwortung für die Menschen im ländlichen Raum. DieAgrarsozialreform 1995 hat unseren Landwirten einStück soziale Zukunft und unseren Bäuerinnen erstmalseine eigenständige soziale Absicherung gegeben, umdamit einerseits den Strukturwandel zu meistern und an-dererseits die Einkommen in der Landwirtschaft zu stär-ken.
Die ehemalige Opposition hatte darüber hinaus sogardie Fortführung des FELEG oder einer entsprechendenVorruhestandsregelung gefordert, was durchaus zu un-terstützen war. Heute hört man davon nichts mehr, ob-wohl die EU entsprechende Ansätze bieten würde unddie Sozialpolitik der einzige Bereich ist, der nicht vonder EU reglementiert wird. Auch die Agrarsozialpolitikist neben den Maßnahmen zur Abfederung der Struktur-veränderungen ein hervorragendes Instrument, um ein –so die entsprechenden Landwirtschaftsgesetze – ange-messenes Einkommen für die Landwirte gegenüber ver-gleichbaren Berufs- und Erwerbsgruppen zu erreichen.Die rot-grüne Bundesregierung greift nun durchKürzungen massiv in die agrarsoziale Sicherheit ein.Kleine und mittlere Betriebe werden durch die Kürzungvon Beitragszuschüssen und durch den Griff in dieKrankenkassen der Bauern überproportional belastet.
Auch die Bäuerinnenrente, die mit Ihrer Zustimmungeingeführt worden ist, ist in Gefahr. Die rot-grüne Bun-desregierung missbraucht die landwirtschaftlichen Sozi-alversicherungen zur Sanierung des von ihr verschulde-ten Bundeshaushaltes.
Das ist wohl das traurigste Kapitel dieser rot-grünen Re-gierung. Rot-Grün hat sich von der Landwirtschaft ab-gesetzt. Die Landwirtschaft stellt für diese Regierungeinen Steinbruch dar, den man nach Bedarf ausplünderndarf.
Eine Politik für die deutsche Landwirtschaft findetnicht mehr statt. Agenda 2000, Steuergesetze – teilweisemit „öko“ verbrämt – und besonders die rot-grüne Ag-rarsozialpolitik belasten die Landwirtschaft bis zum Un-erträglichen. Gehen Sie nach draußen! Dann spüren Siedies wie wir!
Die Regierung selbst nennt in ihrer Antwort die Steu-erreform eine Nettobelastung für die Landwirtschaft. Sowerden heute Bauern mit anderen Mitteln von ihren Hö-fen vertrieben.
Die Schröder-Regierung kürzt bereits im Jahr 2000bei der Alterssicherung der Landwirte – ohne Wider-spruch des Bundeslandwirtschaftsministers – um292 Millionen DM. In den folgenden Jahren, bis zumJahr 2003, werden die Kürzungen auf 360 Millio-Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7863
nen DM jährlich ansteigen. Das heißt, mindestens zweiDrittel der heutigen Mittel werden gestrichen.Die bereits vorhin vorgetragene Aussage, dass etwa80 Prozent des Agrarhaushaltes der Agrarsozialpolitikzuzuordnen sind, stimmt zwar; sie ist aber nicht derLandwirtschaft anzulasten. Vielmehr handelt es sich umeine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da immer mehrBauern in andere Sozialsysteme einzahlen. Dafür dürfendie Bauern nicht bestraft werden.
Im Gegenteil, trotz der im Haushalt genannten Mittelsind die bäuerlichen Familien nach wie vor in der ge-setzlichen Alterssicherung nur teilweise – bei der Un-fallversicherung nur im unteren Bereich – abgesichert.Das gilt auch – Sie wissen das – für die 1995 im Kon-sens eingeführte Bäuerinnenrente.Das Wort „sozial“ muss nach diesen beschlossenenKürzungen den Koalitionskollegen, liebe Frau Deich-mann, und der Bundesregierung geradezu im Hals ste-cken bleiben oder die Schamröte ins Gesicht treiben.
Für die Alterssicherung der Landwirte bedeutete das,dass der Beitrag der Versicherten mit Höchstzuschussursprünglich um 160 Prozent erhöht werden sollte.Durch politischen Druck von verschiedenen Gruppenund von uns wurde diese Erhöhung auf „nur“110 Prozent festgelegt. Für ein Ehepaar bedeutet dieBeitragserhöhung eine Kostensteigerung von 1 728 DM.90 000 Bauern und Bäuerinnen erhalten keinen Zu-schuss mehr.In der Unfallversicherung wird der bisherige Zu-schuss zur Abmilderung der Rentenbeiträge der aktivenlandwirtschaftlichen Betriebe – schlimmerweise von unsallen als „alte Last“ bezeichnet; manchmal sind wir soschnodderig – um 115 Millionen DM gekürzt. Darüberhinaus nimmt die Bundesregierung aus der landwirt-schaftlichen Krankenkasse – sprich: von Beiträgen derBauern – ungeniert zusätzliche 250 Millionen DM.
Durch die strukturellen Veränderungen in der Land-wirtschaft und durch die Verringerung der Zahl der Be-triebe stellt sich selbstverständlich auch die Frage nachder Struktur der landwirtschaftlichen Versicherungs-träger. Diese Situation hat sich angesichts dieser soebengenannten tief greifenden Einschnitte in die soziale Si-cherung der Landwirtschaft erheblich verschärft. Jedoch– das ist wohl nicht mehr im Bewusstsein aller – sindbereits seit einigen Jahren innerhalb des bäuerlichen Be-rufsstandes und der Sozialversicherungsträger konkreteSchritte diskutiert und eingeleitet worden.Durch ein neutrales Gutachten haben die Bundesver-bände schon vor dem Bericht des Bundesrechnungshofsund vor dem Beschluss des Rechnungsprüfungsaus-schusses entsprechende Verträge über einheitliche künf-tige Entwicklungen und Anwendungen der Datenverar-beitung abgeschlossen. Auch die Anzahl der bisher 20LSV-Träger soll – so die beschlossene Zielvorstellung –auf sieben bis acht reduziert werden, wobei die eigen-ständige Versicherung des Gartenbaus erhalten bleibensoll. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Verhand-lungen zwischen den LSV-Trägern betreffs Fusionen.Nach § 118 SGB VII ist dies in Hessen bereits vollzo-gen. In Bayern wurden entsprechende Verträge – dieAnzahl der LSV-Träger wurde von fünf auf zwei verrin-gert – abgeschlossen. In Baden-Württemberg wurde dasNotwendige in dieser Woche von beiden Vorständen be-schlossen, sodass zum 1. Januar 2001 eine einzige lan-desweite LSV besteht.Eine Bundeszentrale ist somit überholt und hättenach den vorliegenden Gutachten keine bessere Effi-zienz. Im Gegenteil, eine große Zahl von SPD-regiertenLändern stimmt einer Zentralisierung nicht zu, was auchauf der Bund-Länder-Besprechung in dieser Woche, am25. Januar, bestätigt wurde. Gegen eine Zentralisierunghat sich auch der Bundeslandwirtschaftsminister ausge-sprochen. In „Agra-Europe“ vom 4. Oktober sagte er –ich zitiere –: „Mit mir ist das nicht zu machen.“ Ich kannihn nur unterstützen.Zahlreiche Entschließungen und Argumente belegen,dass mit dem eingeschlagenen Weg der Selbstverwal-tung den veränderten Bedingungen in der Landwirt-schaft am ehesten und besten entsprochen wird. Ichverweise auf das Positionspapier der LSV-Träger. Der verstärkte Einfluss des Bundes wird von denLändern durchaus gesehen, sodass Gesprächsbereit-schaft besteht, über den § 80 ALG hinaus sachgerechteLösungen zu finden.Besonderen Wert lege ich als Landwirt darauf, dasses der vorgesehene Rahmenvertrag der LSV-Träger mitDritten auch künftig ermöglicht, dass bei den Landes-bauernverbänden vor Ort eine praxisnahe und be-troffenengerechte Beratung durch die Beratungsstellendurchgeführt wird.Recht herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehrgeehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Große Anfrage der F.D.P. greift die Situationder landwirtschaftlichen Sozialversicherung auf. Ichdenke, wir alle hier im Hause wissen, dass das Verhält-nis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern ins-besondere in der landwirtschaftlichen Alterssicherungin den vergangenen Jahren immer ungünstiger gewordenist und dass sich dieser Prozess noch fortsetzen wird.Wenn man sich nur einmal die mittlere Prognose in demSiegfried Hornung
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7864 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
1997 erstmals vorgelegten Lagebericht über die Alters-sicherung der Landwirte anschaut, dann stellt man fest,dass selbst bei der mittleren Variante für den Zeitraumvon 1996 bis 2007 von einem Rückgang der Versicher-ten um 37 Prozent auszugehen ist. Das hat natürlich gra-vierende Auswirkungen auf die Finanzierungsstrukturder landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Bundsieht sich deshalb in der Pflicht, hierfür weiterhin sehrhohe Zuschüsse zu leisten.Wir bekennen uns ausdrücklich zur Eigenständigkeitdes agrarsozialen Sicherungssystems; dies wird in keinerWeise in Frage gestellt. Klar ist auch, dass die Alterssi-cherung der Landwirte weiterhin vorrangig durch Bun-deszuschüsse finanziert werden muss; denn dazu gibt eskeine Alternative.Ich will auch nicht bestreiten, dass durch die 1995vollzogene Agrarreform etliche Defizite in der landwirt-schaftlichen Sozialversicherung beseitigt worden sind.Sowohl die Einführung der Defizitdeckung als auch diegezieltere Verwendung der Bundesmittel für Landwirtemit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen haben zurStabilisierung der Systeme beigetragen. Die Schaffungder eigenständigen Bäuerinnenrente und die Bindungder Beitrags- und Leistungsentwicklung an die gesetzli-che Rentenversicherung waren zwei wesentliche Ver-besserungen in den sozialen Leistungen für Landwirte.
Aber ein damals bereits bekanntes Problem, nämlichMängel in der Organisationsstruktur, wurde nicht ange-gangen. Die Reform von 1995 war eine reine Sachre-form. Erst mit dem Bericht des Bundesrechnungshofszur Neugestaltung der Organisationsstruktur in derlandwirtschaftlichen Sozialversicherung kam Leben indie Debatte,
obwohl die Probleme schon länger bekannt waren.Wenn die CDU/CSU meint, dass der Vorschlag desBundesrechnungshofs entsprechend der altbekanntenZentralismuskritik der CDU/CSU zu kritisieren ist, dannmüsste sie das einmal mit dem Bundesrechnungshofausdiskutieren.
Meiner Ansicht nach sind dort sehr wohl diskussi-onswürdige Vorschläge unterbreitet worden. Wir wolleneine Diskussion darüber führen. Ich denke, dass sich dieCDU/CSU der Diskussion in den Ausschussberatungennicht verweigern wird.
Bei jährlichen Verwaltungskosten in Höhe von 600Millionen DM – diese Zahl sollten Sie sich noch einmalauf der Zunge zergehen lassen – ist die Forderung nachAusschöpfung sämtlicher Einsparungspotenziale ja wohlberechtigt.Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein,ob tatsächlich Einsparungen in Höhe von – wie vomBundesrechnungshof prognostiziert – 100 Millionen DMzu erbringen sind. Aber niemand in diesem Hause ziehtwohl ernsthaft in Zweifel, dass eine durchgreifende Or-ganisationsreform unausweichlich ist.
Im Koalitionsvertrag haben Bündnis 90/Die Grünenund SPD die Neugestaltung der Organisation der agrar-sozialen Sicherung vereinbart. Zur Vorbereitung einesentsprechenden Gesetzentwurfs werden momentan in-tensive Gespräche mit den Sozialversicherungsträgernund den Gewerkschaften, aber auch mit den Bundeslän-dern geführt. Basis dieser Beratungen sind verschiedeneOrganisationsmodelle, die von den zuständigen Bundes-ressorts entwickelt wurden. Die Diskussion über dasdann tatsächlich in einem Gesetzentwurf darzulegendeModell ist noch nicht abgeschlossen.Es ist nach Ansicht meiner Fraktion nicht ausrei-chend, wenn, wie gelegentlich und heute wieder von derCDU/CSU vorgeschlagen, nur einige der derzeitigenTräger fusionieren, im Übrigen aber alles beim Altenbleibt. Die Hauptziele einer Organisationsreform sindnach Ansicht meiner Fraktion erstens die Stärkung desBundeseinflusses, zweitens die Verringerung der jeweils20 Versicherungsträger, drittens das Schaffen der Vor-aussetzungen für eine sparsame Haushalts- und Wirt-schaftsführung und viertens der Abbau ungerecht-fertigter Unterschiede in der Rechtsanwendung. Dabeimuss aus unserer Sicht die Orientierung an den Interes-sen der Versicherten gewahrt und müssen auch die Inte-ressen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Deshalbführen wir momentan sehr intensive Gespräche.Was heute seitens der CDU/CSU vorgetragen wurde,wird aus meiner Sicht absolut nicht ausreichend sein. Siesollten die Diskussion, die in den vergangenen Jahrenüber eine solche Organisationsstrukturreform stattge-funden hat, eigentlich besser in Erinnerung haben. End-effekt war bisher in der Regel, dass die Bemühungen imSande verlaufen sind und wir nach wie vor eine ineffi-ziente Struktur vorfinden. Sie können das kritisieren.Aber die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen,sind nach unserer Ansicht nicht ausreichend.
Wir drängen deshalb darauf, dass die Länder mit zurVerantwortung gezogen werden, sich der Diskussionnicht verweigern und bereit sind, mit uns über weitge-hendere Vorschläge als die, die bisher seitens der Ländergemacht worden sind, zu diskutieren. Der Bund stehtaufgrund des Prinzips der Defizitdeckung in der Ver-antwortung. Er trägt bereits heute mit 57 Prozent derGesamtkosten der agrarsozialen Sicherung den größtenAnteil an der Finanzierung dieser Systeme. Ich denke,dass daraus die sehr wohl zu rechtfertigende Haltungabzuleiten ist, dass der Bund nicht nur als Zahlmeister inder Pflicht steht, sondern auch selber Verantwortung beider sparsamen Mittelverwendung übernehmen kann.Steffi Lemke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7865
Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversiche-rung ist kein Selbstzweck. Wir wollen das eigenständigeSystem aufrechterhalten, weil nur so den Besonderheitenin der Landwirtschaft Rechnung getragen werden kann.Aber eine nur halbherzige Reform wird unweigerlich ei-ne Gefährdung des eigenständigen Systems nach sichziehen.
Die für mich zentrale Frage lautet deshalb: Wie errei-chen wir auch zukünftig eine größtmögliche soziale Ab-sicherung für die Betroffenen bei geringstmöglichemAufwand an Bürokratie und kalkulierbarer Kostenent-wicklung? Diese Frage wird für meine Fraktion dieRichtschnur für die weiteren Gespräche sein. Was uns in dem Entschließungsantrag der PDSvorgeschlagen wird, ist für mich im Hinblick auf dieDebatte wenig hilfreich. Angesichts dessen, dass Sie dieBundesregierung auffordern, ihren Standpunkt zu korri-gieren, was die Agenda 2000 sowie die Steuer- undHaushaltspolitik anbetrifft, möchte ich Sie darauf hin-weisen, dass wir uns im Jahre 10 nach der deutschenEinheit befinden und ich mich mit Aufforderungen wiesolchen, irgendwelche Standpunkte zu korrigieren, indie Vergangenheit zurückversetzt fühle. Ich möchte Sie außerdem fragen, ob Sie wissen, wasIhre Partei momentan in Sachsen-Anhalt tut, wo mit Un-terstützung der PDS massive Einschnitte in die Kinder-betreuung vorgenommen werden und wo seitens derPDS ein Volksbegehren ignoriert worden ist. Ich denke,dass die PDS aufhören sollte, sich zum Rächer der Ent-erbten aufzuspielen und sich vernünftigen Diskussionenüber die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nichtlänger verweigern sollte.
Sie werden sich aus dieser Diskussion weder auf Bun-des- noch auf Landesebene heraushalten können. Mit ei-nem solchen Antrag, wie Sie ihn heute vorgelegt haben,beteiligen Sie sich an dieser Diskussion in keiner Weise.
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Um fast 500 Millionen DM hat dieBundesregierung im Haushalt 2000 die Mittel für dielandwirtschaftliche Sozialpolitik gekürzt. Weitere Ein-schnitte sind geplant. Noch im Finanzplan 1999 ging dieBundesregierung von einem wachsenden Finanzbedarfzum Beispiel für die Alterssicherung der Landwirte aus,wobei man für das Jahr 2002 von 4,7 Milliarden DMausgegangen ist. Im Finanzplan 2000 sieht die Bundes-regierung jedoch einen Wert vor, der um 524 MillionenDM darunter liegt. Bis zum Jahre 2002 will sie weitereKürzungen vornehmen. Ähnlich ist die Situation bei derKrankenversicherung. Minister Funke hat auf der Grünen Woche erneut da-von gesprochen, dass Hofaufgaben in Höhe von jähr-lich 4 Prozent eine „ganz normale Sache“ seien. Nunlässt sich ja darüber streiten, was eine ganz normale Sa-che ist. Für die Bundesregierung ist die „ganz normaleSache“ jedenfalls nicht Anlass, eine soziale Absicherungzu garantieren, sondern Objekt der Begierde des Sparfe-tischismus.Dass die Kürzungen im Haushalt 2000 keine Aus-nahme darstellen werden, ergibt sich zum Beispiel ausder Antwort der Bundesregierung, in der sie die Konso-lidierung des Bundeshaushaltes für unausweichlich er-klärt.
Bei dieser Konsolidierung setzt sie jedoch nicht auf Fes-tigung im Sinne des Wortes, sondern auf Kürzungen desGesamthaushaltes.Mit den hochtrabend als „Zukunftsprogramm 2000“bezeichneten Maßnahmen gehen die Einkommen derlandwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe selbst nachAuskunft der Regierung um rund 6 Prozent zurück. Un-ter diesen Bedingungen ist die Feststellung in der Regie-rungsantwort „Eine dramatische Beschleunigung desStrukturwandels erwartet die Bundesregierung nicht“entweder Wunschdenken oder Ignoranz gegenüber derWirklichkeit.Der Strukturwandel wird nicht nur an den Hofaufga-ben deutlich. Er spiegelt sich auch in den sinkendenEinkommen der Bauern und der zunehmenden Unge-wissheit über ihre Zukunft wider. Wenn trotz der hohenArbeitslosigkeit 70 Prozent der Familienbetriebe keinenHofnachfolger haben, dann ist doch etwas faul im Staateund auch in der Politik. Die neuesten Zahlen zeigen,dass 53 Prozent der Betriebe ihr Eigenkapital aufzehrenund nur ein Drittel der Betriebe in ausreichendem MaßeEigenkapital bilden kann.Unsere Alternativen zur Korrektur dieser Politik ha-ben wir unter anderem in unserem Entschließungsantragdargelegt. Ich möchte Ihnen jedoch abschließend an ei-nem weiteren Beispiel die Konsequenzen der Sparpolitikder Regierung demonstrieren; Kollege Hornung brachtevorhin schon ein Beispiel.In dieser Woche hat uns ein Bauer aus Niedersach-sen seinen Beitragsbescheid von der landwirtschaftli-chen Alterskasse zugeschickt. Im Ergebnis der Erhö-hung des Regelsatzes und der Absenkung der Einkom-mensobergrenze für den Zuschuss erhöht sich der mo-natliche Beitrag für die Familie um 200 DM bzw. um62,5 Prozent. Damit beträgt die zusätzliche Belastungfür diese Familie 2 400 DM im Jahr. Das sind für einebäuerliche Familie wahrlich keine Peanuts. Die eine Seite der Medaille ist also, die soziale Abfe-derung des Agrarstrukturwandels zu garantieren. Diezweite Seite gilt der Umstrukturierung der landwirt-schaftlichen Sozialversicherungsträger. Sie muss auf dieweitestgehende Erhaltung der Arbeitsplätze sowie aufSteffi Lemke
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7866 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
die bestehenden Arbeits- und insbesondere Tarifbedin-gungen für die Beschäftigten gerichtet sein. Bei einemunvermeidlichen Abbau von Arbeitsplätzen sind durchSozialpläne die Interessen der Ausscheidenden zu be-rücksichtigen. Die soziale Grundsicherung ist für diePDS dabei Mindestmaßstab. Außerdem sind die Initiati-ven der Gewerkschaften und Betriebsräte zur aktivenMitgestaltung an der Umstrukturierung der landwirt-schaftlichen Sozialversicherungsträger maximal zu nut-zen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, IhreBitten – ich sage bewusst Bitten; Sie haben keine Forde-rungen aufgestellt – an die Bundesregierung sind unseinfach zu biegsam. Das geht frei nach dem Motto: Eineweiche Formulierung lässt mehr Freiräume zur Nichter-füllung.
Aus diesem Grund wird die PDS-Fraktion dem An-trag der Koalition nicht zustimmen.
Nun erteile ich der
Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr Koppelin,ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wirhier ein bisschen Wahlkampfgetümmel aus Schleswig-Holstein haben.
Wir hatten das vor vier Jahren fast punktgenau auch vorden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Damals wa-ren Sie Experte in Sachen Milch. Jetzt sind Sie Expertein Sachen Bäuerinnenrenten. Das ist sehr bemerkens-wert.
Ich bin inzwischen ebenfalls in Schleswig-Holsteingewesen – das sage ich auch in Richtung derCDU/CSU – und habe mit Bauernverbandskreisvorsit-zenden gesprochen. Sie haben mir gesagt: Machen Sieweiter, Sie sind auf dem richtigen Weg.
Das waren weiß Gott keine rot-grünen Koalitionäre.
– Darüber können wir uns noch unterhalten.1997 war der Bauerntag in Braunschweig. An demhaben Sie leider nicht teilgenommen; Herr Hammersteinist da gewesen. Er widmet sich jetzt nicht mehr diesemThema, hat aber zwischenzeitlich die Abschaffung derBerufsgenossenschaften gefordert. Ich sage das nur zurErinnerung; aber Sie wissen das sicherlich selbst. 1997habe ich in Braunschweig gesagt: Der Strukturwandel und der Rückgang der Versi-chertenzahlen gehen weiter – der Handlungsdruckin Richtung Organisationsreform steigt unaufhör-lich, und wenn das System nicht überstrapaziertund damit gefährdet werden soll ..., Handeln Sieselbst, bevor die Politik handelt!
Dabei muss darauf geachtet werden, dass das be-währte Konzept der landwirtschaftlichen Sozialver-sicherung in der Flächeerhalten bleibt. Wo bisherige Parallelarbeit über-flüssig wird, kann und muss zum Teil die Betreu-ung der Versicherten ausgebaut werden, anderen-falls müssen in jedem Fall sozialverträgliche Lö-sungen gefunden werden. Ich denke, das gilt heute noch genauso wie 1997.Allerdings ist mit großem Bedauern festzustellen: DieSysteme, der Berufsstand selber haben nicht gehandelt.Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch erst das Er-gebnis der Diskussionen, die wir im letzten Jahr voran-getrieben haben.
– Herr Hornung, Sie wissen das genauso gut wie ich.Das ist alles wahr. Das ist leider – so muss ich sagen –bittere Wahrheit.
– Nein, nein! Fakt ist: Wir müssen zu signifikanten Veränderungenbezüglich der Organisation kommen, damit wir auch inder Zukunft das gewährleisten können, was unabdingbarerforderlich ist, nämlich die Eigenständigkeit des Sys-tems. Agrarsozialpolitik ist auch Agrarstrukturpolitik.Die Veränderungen, die vor uns stehen – das haben allein ihren Beiträgen bestätigt –, müssen entsprechend be-gleitet werden.Sicherlich ist der schwierigste Part hierbei die Dis-kussion mit den Ländern. Die Länder haben aber aufder Agrarministerkonferenz im September letzten Jahresin Freiburg – das ist in einer Protokollnotiz des LandesSachsen enthalten – gesagt, der Bund solle neben fünfvorgelegten Lösungsmodellen weitere Optionen für dieNeugestaltung der LSV prüfen. Die Länder verschließensich also auch nicht der Diskussion, sondern sagen: Hiermuss unbedingt etwas passieren mit den Zielen best-mögliche Entlastung der Beitragszahler, Schaffung von schlanken Verwaltungsstrukturen, Kostendämpfung,einheitlichere Satzungen und Beitragssätze – das wollensogar die Länder –, gleichmäßigere Lastenverteilung,Ausgleich von Strukturveränderungen durch größerenFinanzverbund.Kersten Naumann
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Ich fordere Sie auf: Helfen Sie mit, hier eine Zu-kunftslösung zu finden! Wir sollten nicht suchen, wasalles nicht geht, sondern sollten uns dort verständigen,wo Gemeinsamkeiten sind, und von diesem Punkt ausdie Lösung erarbeiten. Dies muss kurzfristig, noch indieser Legislaturperiode geschehen, damit bei den näch-sten Sozialwahlen im Jahre 2005 wirklich mit dem Neu-einstieg begonnen werden kann.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege
Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Re-form der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträgerdiskutieren, so ist das keine neue Diskussion. Ich binjetzt seit fast zehn Jahren im Deutschen Bundestag, undwir haben über dieses Thema schon sehr oft diskutiert.Es gibt verschiedene Alternativen. Der Bundesrech-nungshof schlägt immer wieder vor, dass innerhalb einesÜbergangszeitraumes eine zentralistische Einrichtunggeschaffen werden sollte. Die Bundesregierung hat dieseForderung anscheinend übernommen. Ich bin strikt da-gegen. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen, dass hiereine bundesweite Einrichtung geschaffen wird. DieBundesländer sind in ihrer großen Mehrheit ebenfallsdagegen. Ich warne auch davor, zu glauben, dass mit derzentralistischen Einrichtung die Verwaltungskosten ge-senkt werden können.
Wir haben in Bayern die Erfahrung mit der Reformder AOKs. Mir ist bekannt, dass die Verwaltungskostenbei der AOK Bayern, nachdem sie zentralistisch verwal-tet wird, nicht gesunken sind. Eher ist das Gegenteil derFall. Ich weiß aus der Gemeindegebietsreform, dass dieVerwaltungskosten in den größeren Einheiten meistenshöher geworden sind, als es vorher bei den kleineren derFall war.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird vorOrt auch bereits gehandelt. Es ist nicht so, dass das erstauf Druck der heutigen Diskussion geschieht. Der Kol-lege Siegfried Hornung hat es angesprochen. In Bayern,wo schon bisher nicht die kleinsten Sozialversicherungs-träger waren, werden aus fünf Einheiten zwei Verwal-tungseinheiten. Der Bayerische Bauernverband unter-stützt in Eigenverantwortung vor Ort die Bestrebungen,in Bayern zwei größere Verwaltungseinheiten zu schaf-fen.Die Bundesregierung liegt falsch, wenn sie glaubt,dass sie nur über zentralistische Einrichtungen ihrenEinfluss geltend machen kann. Die Bundesregierungkann dies auch ohne sie tun. Man täuscht doch die Men-schen, indem man sie glauben macht, dass dieser Ein-fluss irgendeine positive Auswirkung auf unsere Bäue-rinnen und Bauern hätte.
Das Gegenteil ist der Fall: Wo die Bundesregierungdie Verantwortung trägt, nämlich in der Agrarsozialpoli-tik, findet eine Kahlschlagspolitik statt. In diesem Be-reich werden die Bäuerinnen und Bauern belastet. Die-ser Punkt muss hier deutlich angesprochen werden.
Rot-grüne Agrarpolitik belastet unsere Bäuerinnenund Bauern und den bäuerlichen Berufsstand insgesamtin einem unerträglichen Ausmaß. Diese Politik wird da-zu führen, dass der Strukturwandel in der Landwirt-schaft so beschleunigt wird, wie wir es uns heute wahr-scheinlich noch gar nicht vorstellen können.Ich habe die entsprechenden Zahlen herausgesucht. Inden 16 Jahren der Regierungsverantwortung vonCDU/CSU und F.D.P. betrug der Strukturwandel imDurchschnitt 2,41 Prozent pro Jahr. An dieser Zahl wirdsich die neue Bundesregierung messen lassen müssen.Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit Zahlenerreichen, die einen Strukturwandel von über 5 Prozentbelegen. Es wird ein Höfesterben stattfinden, wie es inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nochnie der Fall war.
Die Sparbeschlüsse der rot-grünen Bundesregierungzum 1. Januar 2000 belasten unsere bäuerlichen Famili-en. Vor allem die einkommensschwächsten Familien –Kollege Siegfried Hornung hat diesen Punkt schon an-gesprochen – werden belastet. Angesichts der Tatsache,dass gerade die Bäuerinnen und Bauern, die das nied-rigste Einkommen haben, mit bis zu über 100 Prozentmehr belastet werden, frage ich mich schon, wo das so-ziale Gewissen der Sozialdemokraten geblieben ist. Ichwürde mich freuen, wenn das soziale Gewissen der SPDhier mehr zum Vorschein käme.
Was mich in der ganzen Diskussion um Subventionenin der Landwirtschaft und im Agrarsozialbereich beson-ders ärgert, ist die Tatsache, dass die Landwirtschaft mitdurchschnittlich über zwei Kindern pro Familie einenBeitrag zum Generationenvertrag in unserem Landleistet, der weit über dem Durchschnitt unserer Bevölke-rung liegt. Wenn ein eigenständiges Sozialversiche-rungssystem, das auch die nachgeborenen Kinder in derLandwirtschaft einschließt, möglich wäre, dann wäre indiesem Bereich der Generationenvertrag finanzierbar.Das ist unserem Land aber leider nicht möglich.Ich bin überzeugt, dass die bäuerlichen Familien mitihren Kindern, die in ihrem späteren Berufsleben Beiträ-ge in andere Sozialversicherungssysteme zahlen, in die-sem ganzen System Nettozahler sind. Deshalb solltenwir uns abgewöhnen, von einer „alten Last“ zu spre-chen. Wir alle haben dieses Wort leichtfertig ausgespro-chen. Unsere Landwirte sind ein positiver Faktor in un-Christel Deichmann
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serem Land und keine „alte Last“. Dies möchte ich hierzum Ausdruck bringen.
Lieber Staatssekretär Gerald Thalheim, du hast früheröfter eine Vorruhestandsregelung gefordert. Jetzt wäreder Zeitpunkt für eine solche Regelung, weil die Land-wirtschaft weit mehr als andere Berufsgruppen durch dieÖkosteuer belastet wird. Die Einnahmen aus der Öko-steuer könnten sinnvoll in die Landwirtschaft wieder zu-rückfließen, indem man eine Vorruhestandsregelungschafft, die sozialverträglich den Landwirten den Aus-stieg ermöglicht, zumal diese rot-grüne Agrarpolitik vie-le Bauern zum Ausstieg zwingt.
Es bleibt das Geheimnis dieser rot-grünen Bundesre-gierung, wie die deutschen Landwirte schlagkräftigerund wettbewerbsfähiger werden können, wenn auf nati-onaler Ebene im europäischen Vergleich eine glatteWettbewerbsverzerrung erfolgt.
Minister Funke müsste einmal erklären – er sollte nichtimmer durch Abwesenheit glänzen –, wie die deutschenBauern wettbewerbsfähiger werden können. Mit dieserrot-grünen Agrarpolitik werden sie es auf jeden Fallnicht.
Auch ein weiterer Punkt ärgert mich. Der Bundes-kanzler hat die Holzmann-Fastpleite sehr medienwirk-sam verkauft. Ich bin aber überzeugt, dass diese rot-grüne Agrarpolitik in der deutschen Landwirtschaft weitmehr Arbeitsplätze gefährdet, als bei Holzmann über-haupt vorhanden sind.
Aber leider kann man diese Arbeitsplätze in der Land-wirtschaft nicht medienwirksam verkaufen. Hier liegtdas große Problem. Zu dieser rot-grünen Arbeitsplatz-vernichtung schweigt der Bundeskanzler, schweigt derBundeslandwirtschaftsminister. Hier ist Schweigen imWalde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, beide werdenihrer Verantwortung der deutschen Landwirtschaft ge-genüber nicht gerecht. Ich darf, wenn es mir die Zeit erlaubt, noch einigePunkte aus SPD-Aussagen zitieren, die alle nicht ein-gehalten worden sind. Die SPD hat in ihr Bundestags-wahlprogramm hineingeschrieben: „Wir wollen eineAgrarpolitik, die das Überleben der bäuerlich struktu-rierten Landwirtschaft ermöglicht.“
Genau das Gegenteil praktizieren Sie heute. Eine Aussage in der Koalitionsvereinbarung lautet: Die neue Bundesregierung wird die ländlichenRäume stärken und die Landwirtschaft auf derGrundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik si-chern.
Auch diese Aussage, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen, ist doch in Anbetracht der Beschlüsse, die Sie ge-fasst haben, eine Verhöhnung des bäuerlichen Berufs-standes.
Dann kommt der Bundeslandwirtschaftsminister. Erhat im „top-agrar“-Interview im November 1998 gesagt: Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirt-schaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar,und dies will die SPD auch nicht. Ja, hat sich gegenüber vorigem Jahr die Situation in derLandwirtschaft heuer verbessert, dass man sie heuer be-lasten kann? Hier werden doch Versprechungen gebro-chen. Bei einer weiteren Aussage – damit, Frau Präsidentin,komme ich zum Schluss – ist das Gleiche der Fall. DerBundeslandwirtschaftsminister hat im gleichen Inter-view gesagt: „Ich kann die Landwirte beruhigen: DieGasölbeihilfe bleibt.“ Ja, wo ist er denn, der Bundes-landwirtschaftsminister, wo bleibt denn die Gasölbeihil-fe? Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieCDU/CSU-Fraktion wird zu den Themen, die die Land-wirtschaft betreffen, nicht schweigen.
Wir werden die Interessen der Bauern hier immer wie-der einklagen. Wir werden nicht zulassen, dass die deut-sche Landwirtschaft von dieser rot-grünen Bundesregie-rung geopfert wird.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habemich sehr gefreut, als letzte Rednerin zu diesem Themazu sprechen, weil ich eigentlich gern weiter ausholenwollte. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich habe nicht dasGefühl, dass dieses existenzielle Thema dazu geeignetist, hier einen Schlagabtausch zu führen. Ich habe auchheute schon so viele Halbwahrheiten gehört, dass es mirAlbert Deß
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den Magen umdrehen könnte. Denn wenn man in inter-nen Gesprächen auch mit Kollegen der Oppositionspricht, meinen sie schon, dass wir auf dem richtigenWeg sind.
Ich werde Ihnen heute zeigen, dass unser Modellnicht mehr vage ist. Ich werde Ihnen zeigen, dass wirvorhandene Strukturen nutzen und regionale Betreuunggewährleisten werden. Herr Koppelin, hören Sie heutegut zu! Sie werden sehen, dass wir auch die regionaleBetreuung gewährleisten. Wir werden uns, Herr Hornung und Herr Deß, ganzeinfach an einem modernen Versicherungssystem in ei-ner modernen Landwirtschaft messen lassen.
Es hat sich etwas getan auf der Landesebene. Das isthier mehrfach angesprochen worden. Ich meine auch,dass die Bemühungen in den Ländern auf Druck desBundes sehr forciert wurden. Allerdings reichen dieseBestrebungen noch lange nicht aus. Ich betone zu Be-ginn ganz deutlich, dass die tief greifende Reform, diewir vor uns haben, eine breite Zustimmung braucht unddass alle Beteiligten aufeinander zugehen müssen. In den letzten Jahren mussten wir einen signifikantenRückgang der Versichertenzahlen in der Landwirt-schaft feststellen. Zum Beispiel ist von 1996 auf 1997die Zahl der Versicherten der landwirtschaftlichen Al-terskasse bundesweit von 511 000 auf 475 000 zurück-gegangen. Mittlere Prognosen für 1997 bis 2007 weiseneine weitere Verringerung um 189 000 aus.
Wir wollen uns darüber im Klaren sein, dass wir vondann noch 322 000 Versicherten sprechen. Dieser Rück-gang korreliert mit dem Rückgang der Zahl der land-wirtschaftlichen Betriebe. Das ist vorhin auch schoneinmal angesprochen worden. In den alten Bundeslän-dern ging die Anzahl der Hofstellen von 1991 bis 1999von knapp 632 000 auf ungefähr 432 000 zurück. Dasbedeutet – das muss man sich einmal vor Augen füh-ren – eine Aufgabe von 31 Prozent der Höfe. Es wirdimmer gesagt, die neue Bundesregierung grabe derLandwirtschaft das Wasser ab. Von 1991 bis 1998 wa-ren aber nicht wir verantwortlich und trotzdem gab esein Höfesterben.
Wir wollen die Eigenständigkeit der landwirtschaft-lichen Sozialversicherung erhalten. Wir wollen bei denBeiträgen den Versicherten Rechnung tragen
und wollen bei den Kosten für die agrarsoziale Siche-rung den Steuerzahlern gegenüber Verantwortung zei-gen. Das möchte ich ganz deutlich herausstellen.
Eine moderne Landwirtschaft braucht ein modernesVersicherungssystem. Seit Jahren sind sich Bund, Län-der und auch Versicherungsträger darüber einig, dass ei-ne Neugestaltung erfolgen muss. Sie ist unumgänglich.Die vorgelegten Konzepte – davon gab es schon mehre-re – sind allerdings halbherzig. Man muss feststellen:Wenn kein Druck vom Bund kommt, dann ist die frei-willige Bewegung gleich null. Auch das möchte ichdeutlich machen.
– Längst vorher, Herr Hornung.Auf die Frage der F.D.P., ob das agrarsoziale Siche-rungssystem gefährdet sei, kann ich nur antworten: Ja,nämlich dann, wenn alles beim Alten bleibt.
Es gibt Gemeinden, in denen heute auf einen Jungbauerncirca 18 Altenteiler kommen. Wer soll das noch bezah-len? Wer will denn da noch Verantwortung tragen?
Die Notwendigkeit für die Neuorganisation liegt klarauf der Hand: Es sind die unwirtschaftlichen Strukturen,die die Defizitdeckung durch die Bundesmittel infragestellen. Der Bund ist mit 68 Prozent der Kosten dabei.Hier muss eingegriffen werden. Aber das ist der Knack-punkt der ganzen Geschichte: Wir haben aus Bundes-sicht nicht die richtigen Eingriffsmöglichkeiten. Deshalbist es erforderlich, den Bund zukünftig direkt an derRechtsaufsicht zu beteiligen und effiziente Strukturen zuschaffen. Einvernehmliche Beschlüsse des Haushaltsausschus-ses und des Rechnungsprüfungsausschusses vom Okto-ber des letzten Jahres haben gezeigt, dass nicht nur dieBundesregierung allein, sondern auch Sie, die Kollegin-nen und Kollegen der Opposition, den Handlungsbedarfgesehen haben. Beide Ausschüsse haben einvernehmlichdas Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnungbeauftragt, bis Ende 2000 einen möglichst mit den Län-dern abgestimmten Gesetzentwurf einzubringen. Außer-dem ist die Bundesregierung beauftragt worden, bis En-de März dieses Jahres einen Sachstandsbericht vorzule-gen.Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undForsten ist der Entschließungsantrag zum Bedauern derSPD allerdings ohne die CDU/CSU eingebracht worden.An dieser Stelle kommen mir die Opposition und alleWaltraud Wolff
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Kritiker eines Bundesmodells so vor wir ein Assistenz-arzt während der Visite: Er steht am Bett des Kranken,erkennt, dass Hilfe geboten ist, möchte dem Patientenselber nicht noch zusätzlich Schmerzen zufügen undhofft, dass andere die lebensrettenden Maßnahmen ein-leiten. – So können und dürfen Sie sich nicht verhalten.
Zur Realisierung des Gesetzesvorhabens: Wir wollennoch in dieser Legislaturperiode die Neuorganisationverwirklichen, in diesem Jahr die Reform beschließenund vor der nächsten Sozialwahl die Umsetzung vollzo-gen haben.
– Ich werde noch genauer. Sie werden noch zuhörenmüssen. – Bund und Länder haben in dieser Frage unter-schiedliche Interessen; das ist ganz logisch. Aber es gilt,an dieser Stelle einen gemeinsamen Weg zu finden.Knapp zusammengefasst fordert der Bundesrech-nungshof die Verschlankung der Strukturen, die Verbes-serung der Wirtschaftlichkeit und die Stärkung des Bun-deseinflusses. Die Länder sind darauf aber nicht einge-gangen. Bei zehn bis zwölf Trägern kann von Ver-schlankung keine Rede sein. Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der zwischendem des Bundesrechnungshofs und dem der Ländersteht: Ein bundesweit arbeitender Träger im Gartenbauist schon vorhanden. Wir wollen einen weiteren Trägermit vier rechtlich selbstständigen Selbstverwaltungskör-perschaften für die Land- und Forstwirtschaft errichten,nämlich der Berufsgenossenschaft, der Krankenkasse,der Pflegekasse und der Alterskasse.
Damit wird das Nebeneinander von bundes- und lande-sunmittelbaren Trägern aufgelöst und es wird die inner-landwirtschaftliche Solidarität verbessert. Die regionalenBelastungsunterschiede können aufgehoben werden. DerBund erhält endlich – den Zuschüssen für die Defizitde-ckung entsprechend – die notwendige Steuerungsfunkti-on. Die Rechtsaufsicht, die Genehmigung der Haus-haltspläne und die Wirtschaftlichkeit der Verwaltungwerden deutlich verbessert. Trotzdem ist eine gewisseregionale Eigenständigkeit gewährleistet.
– Es sind keine Wunschvorstellungen – Servicezentrenvor Ort, mobile Betreuungsdienste oder Versichertenäl-teste können die persönliche Kontaktpflege übernehmen. Mit dem regionalen Unterbau, den wir geplant haben,ist auch ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze gesichert.Notwendige Einsparungen, die auch bei anderen Model-len erfolgt wären, werden selbstverständlich sozialver-träglich ausgestaltet. Eine solche Reform kann selbstverständlich nur stu-fenweise erfolgen. Das ist ganz klar. Das kann man nichtübers Knie brechen. Sie muss mit der Errichtung einerKopfstelle für den neuen Bundesträger beginnen. Die-ser ist dann für den Aufbau der Struktur verantwortlich.Schrittweise geben dann die noch bestehenden landwirt-schaftlichen Sozialversicherungsträger die künftig vomBundesträger wahrzunehmenden Aufgaben an diesen ab.Durch die Zusammenlegung der Verwaltung und durchdie Personalfluktuation werden dann die sechs bis achtBezirksverwaltungen gebildet. Dies wird nicht übersKnie gebrochen, sondern in einem Zeitrahmen bis 2005geschehen – eine Chance, die wir nicht vergeben sollten.
Meine Damen und Herren, wir stehen gemeinsam vorder Frage der Neuorganisation der landwirtschaftlichenSozialversicherung. Wir wissen, sie ist notwendig, undwir haben die Verantwortung dafür.Wenn ein Arzt einem Schwerkranken immer nur dieHand tätschelt und sagt: „Na ja, es wird schon besser“,obwohl er weiß, dass es auf diesem Weg nur bergabgeht, würden wir ihn alle als unredlich bezeichnen. AberArzt und Patient hätten eine gemeinsame Chance, wennsie einen Behandlungsplan aufstellen würden. Wir sindzwar keine Ärzte, wir sind in der Politik, aber wir habenaus diesem Grund die politische Verantwortung, für einezukunftsorientierte Neuorganisation der landwirtschaft-lichen Sozialversicherung zu sorgen. Ich lade Sie dazu ein, bei diesem Modernisierungs-prozess mitzumachen und im Interesse von Bund undLändern, von Steuerzahlern und von Versicherten ge-meinsam einen Konsens zu finden. Bewegen Sie sich,meine Damen und Herren von der Opposition, undstimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu!Vielen Dank.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses90/Die Grünen auf Drucksache 14/2572. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen von PDS,CDU/CSU und F.D.P. ist der Entschließungsantrag an-genommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache14/2574. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist gegendie Stimmen der PDS abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten HannaWolf , Lilo Friedrich (Mettmann), Dr.Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordne-Waltraud Wolff
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ten und der Fraktion der SPD sowie der Abge-ordneten Irmingard Schewe-Gerigk, MarieluiseBeck , Claudia Roth (Augsburg), weite-ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Ausländerge-setzes – Drucksache 14/2368 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss
Rechtssausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginHanna Wolf, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Sehr verehrte Damen und Herren! Heute setzen die Re-gierungsfraktionen wieder einen weiteren wichtigenPunkt ihrer Koalitionsvereinbarung um. Es ist der Ge-setzentwurf zur Änderung des § 19 des Ausländergeset-zes. Dieser Entwurf ist auf Initiative der Frauen in bei-den Fraktionen entstanden. Deshalb möchte ich beson-ders die Frauen der Opposition herzlich einladen, die-sem Gesetzentwurf ebenfalls zuzustimmen. Ich setzedarauf, dass dies auch viele Männer tun. Denn ich denke, wir waren uns in diesem Parlamentimmer einig: Wenn es um Menschenrechte, um Frauen-rechte geht, sollten wir diese alle gemeinsam stärken oder fordern.
In diesem Gesetzentwurf geht es um das eigenständi-ge Aufenthaltsrecht von ausländischen Ehegatten. Esgeht um die klare Regelung von Härtefällen, das heißt,es geht in fast allen Fällen um die Menschenrechte vonausländischen Ehefrauen und es geht auch um Kinder-rechte.Der Gesetzentwurf ist ebenfalls in dem weiteren Zu-sammenhang unserer Bemühungen zu sehen, häuslicheGewalt einzudämmen. Dazu wird diese Bundesregie-rung weitere Gesetzentwürfe vorlegen.Die heutigen Oppositionsfraktionen CDU/CSU undF.D.P. werden sagen: Wir haben § 19 des Ausländerge-setzes doch erst 1997 und davor 1990 geändert. – Das istwahr. Ebenso wahr ist aber auch, dass es jedes MalStückwerk geblieben ist. Sie haben unsere Fallbeispieledamals in den Beratungen nie ernst genommen. Sie ha-ben immer wieder den Missbrauch des Gesetzes an dieWand gemalt. Ganz besonders hart zeigten sich der da-malige Innenminister Kanther
und mit ihm Hand in Hand sein bayerischer KollegeBeckstein. Wenn man jetzt einen Blick nach Hessenwirft, merkt man, welche ganz anderen Dimensionensich hinter dem Begriff „Missbrauch“ verbergen.
Die besten Gesetze können einen Missbrauch nichtvöllig ausschließen. Wir messen aber die Qualität vonGesetzen daran, ob sie diejenigen tatsächlich schützen,die sie zu schützen vorgeben. Das ist in der bestehendenVersion des § 19 des Ausländergesetzes nicht der Fall.Der Verband binationaler Familien und Partnerschaf-ten hat zusammen mit der Frauenhaus-Koordinie-rungsstelle die Auswirkungen des seit 1997 bestehendenGesetzes untersucht. Die Ergebnisse sind nach wie vorerschreckend. Ein großer Fehler bisher ist, dass auf dem Wege ergänzender oder fehlender Verwaltungsvor-schriften eine ungleiche Behandlung in den einzelnenBundesländern herrscht. Minister Beckstein in Bayernhat eine gänzlich andere Vorstellung von „außer-gewöhnlicher Härte“ als zum Beispiel die Landesregie-rung in Nordrhein-Westfalen. Unterschiedliche Landes-vorgaben und unterschiedliche örtliche Behördenpraxiswerden für die betroffenen Frauen zum Roulette.Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf denBegriff der „außergewöhnlichen Härte“ durch den Beg-riff der „besonderen Härte“ ersetzt und diesen klar de-finiert. Gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass diesesGesetz nicht mehr zustimmungspflichtig ist. Wir wollengleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, auchfür Ausländerinnen.
Die „besondere Härte“ ist sowohl an Umstände ge-knüpft, die es dem Ehegatten, in der Regel der Ehefrau,unmöglich machen, die Ehe fortzusetzen. „BesondereHärte“ kann aber auch im Herkunftsland begründet sein,wenn die Rückkehr für die geschiedene Frau schwer-wiegendere Folgen hat als für andere Ausländer, dieDeutschland nach einer kurzen Aufenthaltszeit verlassenmüssen. Wenn eine „besondere Härte“ festgestellt ist,entfällt jegliche Frist und das eigenständige Aufenthalts-recht wird ausgesprochen.In diesem Parlament habe ich schon mehrfach denFall der Kurdin Tülay Oguz aus Kempten in Bayern an-gesprochen. Sie wurde von ihrem Ehemann jahrelangschwer misshandelt und teilweise von der Familie desMannes wie eine Sklavin gehalten. Sie ließ sich darauf-hin scheiden. Zu den Misshandlungen wurde sowohl erstinstanzlich wie auch auf eine Petition im Bayeri-schen Landtag hin festgestellt – jetzt hören Sie zu! –,dass sie weder zu Siechtum noch zu bleibenden körper-lichen Schäden geführt hätten. Also liege eine „außer-gewöhnliche Härte“ nicht vor. Wie zynisch können Ur-teile sein! Psychische Gewalt wurde überhaupt nicht be-rücksichtigt, auch nicht das Kindeswohl. Frau Oguz hatzwei Kinder, die in Deutschland geboren wurden.Nach viereinhalb Jahren Rechtsstreit ist die StadtKempten diese Woche einer Entscheidung des zuständi-gen bayerischen Verwaltungsgerichts zuvorgekommen.Sie hat Frau Oguz endlich eine Aufenthaltsbefugnis er-teilt. Das war für die Kommune eine reine Ermessens-frage.Vizepräsidentin Anke Fuchs
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Für Frau Oguz freut mich das außerordentlich. Siekönnen aber davon ausgehen, dass dieser Abschluss oh-ne die Solidarität der Menschen in Kempten, ohne denpolitischen Druck der SPD-Frauen und Grünen-Frauenund ohne den Druck der Medienberichterstattung nichtmöglich gewesen wäre.Ein klares Gesetz dagegen hätte Frau Oguz diese Torturerspart.
Damit komme ich zu der zweiten Neuerung unseresGesetzentwurfs: Die Mindestdauer des ehelichen Auf-enthalts in Deutschland soll von vier auf zwei Jahre ge-senkt werden. Danach tritt das eigenständige Ehegatten-aufenthaltsrecht in Kraft. Damit soll verhindert werden,dass vier Jahre lang Druck vom Partner ausgeübt werdenkann. Missbrauch und Erpressung dürfen nicht mehrmöglich sein. Ausländerbehörden haben in zum Teil schändlicherWeise das Spiel des willkürlichen Ehemanns unterstützt.Sie haben Aufenthaltserlaubnisse rückwirkend einge-schränkt oder aufgehoben, wenn der Ehemann einseitigdie Lebensgemeinschaft für nicht mehr existent erklärthatte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie könnensich gar nicht vorstellen, wie viele miese Tricks jemandanwenden kann, um seiner ausländischen Frau das Le-ben schwer zu machen und sie loszuwerden: rassisti-sches Verhalten, Freiheitsberaubung, Verbot der Ar-beitsaufnahme, verdientes Geld abgeben lassen, keinHaushaltsgeld geben usw. So manche dieser Ehemännerglaubten, ein „Rückgaberecht“ oder ein „Umtausch-recht“ an ihrer Ehefrau durchsetzen zu können. Demwollen wir endlich einen Riegel vorschieben.
Die dritte wichtige Neuerung betrifft das Kindes-wohl. Es kam in diesem Zusammenhang bisher kaumvor. Aber das Kinder- und Jugendhilfegesetz und dasneue Kindschaftsrecht verlangen, dass Kinder als Indi-viduen mit eigenen Rechten behandelt werden. Wirkönnen nicht zulassen, dass das Kind keine Chance aufKontakt mit der Mutter mehr hat, weil sie das Land ver-lassen muss, das Kind keinen Kontakt zum Vater mehrhat, weil es mit der Mutter das Land verlassen muss, unddas Kind aus seiner gewohnten Umgebung gerissenwird, auch wenn es erst mit in die Ehe gekommen ist.Auch das kann eine besondere Härte sein. Ich habe nur einige Fälle genannt, aber jedes Frauen-haus und jede Beratungsstelle könnten Hunderte nennen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-legen, Sie haben von solchen Fällen auch immer wiederin den Zeitungen gelesen. Niemand von uns kann sagen,dass man es nicht gewusst hat.In der letzten Legislaturperiode war es nicht möglich,endlich ein wirkungsvolles Gesetz zum Schutz der beiuns lebenden ausländischen Ehefrauen durchzusetzen.Der Law-and-Order-Minister Kanther hat da die Reihenfest zusammengehalten. Ich appelliere an Sie alle: Stimmen Sie unserem Ge-setz zu, das die Opfer schützt. Dieses Gesetz ist ein kla-res Zeichen für die Menschenrechte von Frauen.
Manchmal dauert
manches sehr lange, wie wir jetzt merken. Vielen Dank,
Frau Kollegin.
Jetzt hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir alsFrauenpolitikerinnen zu diesem Thema Stellung nehmenkönnen, obwohl es federführend im Innenausschuss an-gesiedelt ist. Es ist so wichtig – das haben Sie geradedargestellt, Frau Wolf –, dass es von Frauen mit beson-derer Sorgfalt beachtet wird. Ebenso können Sie sich natürlich auch vorstellen,dass wir nicht in allem zum selben Ergebnis kommenwie Sie,
denn es gibt natürlich auch andere Beispiele, als Sie siegenannt haben. Ich denke, mein Kollege wird gleichnoch darauf eingehen.
Wir haben zu diesem Thema viel Erfahrung aus derletzten Legislaturperiode. Da haben wir heftig über die-ses Thema gestritten und haben uns auch erst im Ver-mittlungsausschuss auf einen Kompromiss geeinigt. Ichfinde nach wie vor, dass der Kompromiss, den wir da-mals gefunden haben, sich durchaus sehen lassen konnteund sehen lassen kann, denn wir haben mit dem Gesetzdeutlich gemacht, dass wir ausländische Frauen, die inihrer Ehe psychischer und physischer Gewalt ausgesetztsind, nicht schutzlos den Ehemännern ausliefern. Wir haben auch gemeinsam dafür gesorgt, dass Män-ner, die ihre ausländischen Frauen misshandeln, diesenicht länger mit dem Ausländerrecht erpressen kön-nen. Bei unzumutbaren Härten können solche Frau-en seit In-Kraft-Treten des Gesetzes ein eigenstän-diges Aufenthaltsrecht auch ohne Fristeinhaltung er-langen. Bei unserem Kompromiss im Jahre 1997 sind wir da-von ausgegangen, dass die Formulierung „außergewöhn-liche Härte“ zusammen mit den in der Begründung an-gegebenen Fallbeispielen zu einer verbesserten Handha-bung führen würde. Wir haben damals allerdings auchmiteinander verabredet, dass wir sehr sorgfältig be-obachten wollen, wie die Rechtsprechung damit umgeht,und das kritisch begleiten wollen. Hanna Wolf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7873
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen inzwi-schen aus Einzelfallschilderungen, dass die Interpretati-on dieses Begriffs durchaus sehr unterschiedlich aus-fällt; das haben auch Sie ausgeführt. Es kann passieren,dass die Ergebnisse je nach Bundesland einander dia-metral gegenüberstehen, das heißt, dass betroffene Frau-en in vergleichbaren Ausgangssituationen je nach Bun-desland entweder schnell abgeschoben werden oder sehr kurzfristig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht er-langen.Daher finde ich es gut, wenn wir heute und in denfolgenden Ausschussberatungen kritisch mit der Wirk-samkeit der damals gefundenen Gesetzesformulierungumgehen, um gegebenenfalls Änderungen herbeizufüh-ren. Dabei wird über die Heranziehung der Fallbeispieleaus der Begründung und auch darüber zu reden sein, wiedamit in der Praxis umgegangen wird, und zwar sowohlhinsichtlich der Gewalt in der Ehe als auch der Berück-sichtigung gewachsener Bindungen, insbesondere in Be-zug auf die Kinder. Auch über eine Klarstellung der Kannbestimmungzum Sozialhilfebezug sollte in diesen Beratungen unbe-dingt geredet werden. Ich könnte mich zum Beispielsehr gut damit einverstanden erklären, dass nur bewuss-ter Sozialhilfemissbrauch, wie Arbeitsverweigerung,nicht jedoch der Sozialhilfebezug als solcher zur Aus-weisung führen kann. Damit würden zum Beispiel dieFrauen nicht unter das Abschiebegebot fallen, die inFrauenhäusern aufgenommen werden und deswegennach dem Bundessozialhilfegesetz Sozialhilfe beziehen.Auch Mütter, die kleine Kinder oder behinderte undpflegebedürftige Kinder betreuen und daher nicht arbei-ten können, würden dann nicht abgeschoben werdenkönnen. Hier müssen wir allerdings die Grenzen sehr sorgfäl-tig ziehen und – darauf will ich an dieser Stelle hinwei-sen, obwohl das anders zu regeln wäre – kritisch prüfen,ob nicht der aufenthaltsrechtliche Status dazu führt, dassFrauen Arbeit nicht aufnehmen können; denn viele wür-den sehr gern arbeiten, es wird ihnen jedoch durch denStatus verwehrt. Aber trotz dieser berechtigten Anliegen gilt: Mit demjetzt vorliegenden Gesetzentwurf schießen Sie weit überdas Ziel hinaus und verlieren etwas das Augenmaß. Da-bei will ich gern davon ausgehen, dass Sie nur das Bestefür die betroffenen Frauen wollen, doch möglicherweiseerreichen Sie damit genau das Gegenteil.So richtig es ist, dass eine ausländische Frau, die sichvon ihrem Ehemann trennen will, nicht mangels eineseigenständigen Aufenthaltsrechts erpressbar gehaltenund zur Fortsetzung einer unerträglichen Ehe gezwun-gen werden darf, so wichtig ist es aber auf der anderenSeite, der Zunahme von Scheinehen – wir kommennicht umhin, uns immer wieder mit dem Thema Schein-ehe zu befassen – als billiger Eintrittskarte zum Aufent-haltsrecht wirkungsvoll entgegenzutreten.
Es ist doch so, dass in der Scheinehe in der Regel dieEhefrau diejenige ist, die mit der Eheschließung einenganz bestimmten Zweck erfüllen muss. Es geht nichtimmer nur darum, sie in unser Land zu bringen, sonderndamit sind auch Bedingungen verbunden. Dabei geht esim schlimmsten Fall um Menschenhandel mit dem Zielder Zwangsprostitution bis zur Verheiratung über Hei-ratsmärkte mit garantierten Rückgaberechten.
Da mag es im letzteren Fall möglicherweise noch nichteinmal um Gewalt gehen, aber immer doch um men-schenverachtende Ausbeutung. Darüber sind wir unsdoch einig. Ich habe die große Befürchtung, dass Sie durch IhrenGesetzentwurf das Problem von Scheinehen verschär-fen. Bei einer Frist von generell nur zwei Jahren für dieErlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts wür-den Partner derartiger Scheinverbindungen kaum nochHemmnisse sehen, ihre Verbindung über diesen relativkurzen Zeitraum förmlich aufrecht zu erhalten. Seitensder Ehemänner könnte dies mit Gewalt oder Gewaltan-drohung durchgesetzt werden, während die Frauen, diemeistens der deutschen Sprache nicht mächtig sind, in-nerhalb einer so kurzen Zeit wohl kaum den Mut finden,sich den Behörden oder amtlichen Stellen zu offenbaren. Dass auch Sie die Möglichkeit des Missbrauchs se-hen, wird dadurch deutlich, dass Sie zum Beispiel nichtgenerell auf eine Bestandzeit der Ehe in Deutschlandverzichten. Es wird auch daran deutlich, dass Sie an derKannbestimmung festhalten, die Aufenthaltsgenehmi-gung versagen zu können, wenn die betreffende PersonSozialhilfe bezieht.Allerdings werden selbst diese MinimalforderungenMakulatur und dienen eher als Placebo; denn nach Ih-rem Gesetzentwurf soll es für die Erteilung einer eigen-ständigen Aufenthaltsgenehmigung auch genügen, wenn„dem Ehegatten im Herkunftsland etwa aufgrund gesell-schaftlicher Diskriminierungen die Führung eines eigen-ständigen Lebens nicht möglich wäre“.Das geht entschieden zu weit. Denn – das wissen wiraus den Erfahrungen mit der Befassung von Frauen inanderen Ländern –: In welchen Ländern ist den Frauenüberhaupt eine vergleichbare Lebensführung wie bei unsmöglich? Diese Klausel würde faktisch zum Verzichtjeglicher Ehebestandszeit und damit zur Erteilung eigen-ständiger Aufenthaltsgenehmigungen für alle Antrag-stellerinnen führen. Das wäre also eine Einwanderungs-politik mit anderen Mitteln. Dann müsste man es aberauch so benennen. So viel zu den Fristen. Weitaus problematischer er-scheint mir der Umgang mit der Härtefallregelung.Hier ist auf zwei Aspekte der Regelung zu achten: Zumeinen geht es um die Zumutbarkeit der Verpflichtungzur Rückkehr in das Heimatland, zum anderen aber –das liegt uns allen sicher besonders am Herzen – um dieWürdigung der Gründe, die die Gewährung eines eigen-ständigen Aufenthaltrechts bei uns nahe legen.Ilse Falk
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In der Praxis werden von den Gerichten häufig nurdie Abschiebungshindernisse im Herkunftsland beurteilt,während die Gründe für die Scheidung oft nicht ausrei-chend Berücksichtigung finden. Aus meiner Sicht gibtes zwei Alternativen, die mehr Rechtssicherheit gebenkönnten: Entweder wir übernehmen die Fallbeispiele derBegründung des geltenden Rechts in den Gesetzestextoder aber wir prüfen, ob nicht grundsätzlich in den Fäl-len, in denen ein Ehepartner eine kriminelle Handlunggegen den anderen begeht, der andere automatisch eineigenes Aufenthaltsrecht zuerkannt bekommt. Die letzte Lösung hätte meines Erachtens den Char-me, dass es zu einer wesentlich sorgfältigeren Einzel-fallbetrachtung käme. Das heißt: Vor einer möglichenAbschiebung müssten vom Gericht auch die Gründe fürdie Scheidung beurteilt werden. Handelt es sich umstrafbare Handlungen, die entweder bereits zur Ehe-schließung oder aber schließlich zur Trennung geführthaben, sollte automatisch ein eigenständiges Aufent-haltsrecht zuerkannt werden. Damit könnte man errei-chen, dass nicht die Ehefrau den Beweis der außeror-dentlichen Härte zu erbringen hätte, sondern sich dieseaus der Beurteilung der Tat des Ehemannes ergebenwürde. Das könnte nicht nur die Frauen ermutigen, sichzu offenbaren, sondern würde zugleich der Justiz helfen,strafbare Handlungen aufzuspüren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dassauch unserer Fraktion klar ist, dass es an der einen oderanderen Stelle Klärungsbedarf gibt und wir gemeinsamnach Lösungswegen suchen sollten. Dies erfordert Be-sonnenheit und, so denke ich, viel Einfühlungsvermö-gen, was in der Ausländerpolitik grundsätzlich in hohemMaße der Fall ist. So weit reichende Änderungen aller-dings, wie Sie sie vorschlagen, mit denen Sie, wie wirfürchten, dem Missbrauch Tor und Tür öffneten, könnenwir sicher nicht mittragen.
Jetzt hat die Kolle-gin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Kollegen! Auf dem langen Weg, Frauenrechte als Men-schenrechte zu achten, gehen wir heute einen großenSchritt voran. Wir wollen den § 19 des Ausländergeset-zes ändern, der in der Vergangenheit – Frau Falk, ichbin nicht Ihrer Meinung, dass die alte Regelung gereichthat – unendliches Leid über Migrantinnen gebracht hat.
Ausländische Frauen werden nicht länger vor der Alter-native stehen, entweder vier Jahre lang Misshandlungendurch ihren Ehemann ertragen oder Deutschland verlas-sen zu müssen. Endlich schützt der Staat die Opfer undnicht länger die Täter.
Seit nahezu zehn Jahren fordern die Grünen gemein-sam mit Initiativen diese Änderungen im Ausländer-recht, um die unmenschliche Abschiebepraxis endlich zubeenden. Den Gesetzentwurf der Grünen, den wir in derletzten Legislaturperiode vorgelegt haben und der einsofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsah, habenSie vonseiten der CDU/CSU und F.D.P. damals abge-lehnt. Nach geltendem Recht haben ausländische Ehefrauenin den ersten vier Ehejahren in Deutschland kein eige-nes, sondern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. DieFolgen wurden von Frau Wolf schon genannt: BeiScheidung oder Trennung während dieser Zeit werdendie Frauen in ihr Heimatland ausgewiesen. Zudem ist § 19 in der Hand des Ehemannes zu einem Machtmit-tel geworden; denn wenn er seine Frau geprügelt odervergewaltigt hat und sie deshalb ins Frauenhaus geflo-hen ist, brauchte er bisher lediglich zur Ausländerbehör-de zu gehen und die eheliche Lebensgemeinschaft fürbeendet zu erklären.Alles Weitere hat bisher der Staat für ihn erledigt. Erhat die Frau ausgewiesen, obwohl häufig Ausgrenzun-gen, Diskriminierungen, manchmal sogar lebensbe-drohende Handlungen im Heimatland zu ertragen waren. Doch damit nicht genug. Der Ehemann kann sich so-gar seiner Unterhaltsverpflichtung entziehen. Ich nennedieses Täterschutz statt Opferschutz.Daneben – auch darauf wurde schon hingewiesen –ist der § 19 für Heiratshändler ein willkommenes In-strument, um besonders osteuropäische Frauen als Warezu handeln. Ich sehe die Anzeigen, die folgendermaßenlauten: „100 Russinnen, lieb, anschmiegsam, fleißig, aber keine eigenen Ansprüche“. Mir liegen Unterlagenvor, wonach viele sogar sehr offensiv mit dem deutschenRecht werben. Sie sagen nämlich: Bei kostenlosem Um-tausch von ausländischen Ehefrauen hilft der Staat. BeiNichtgefallen Ware zurück. Die männlichen Kundenkönnen sich darauf verlassen, dass der Staat ihre Arbeitinnerhalb der Vierjahresfrist erledigt. Diesen unerträglichen Zustand wollte eigentlichschon die alte Regierung beenden, hat es allerdings 1997auch mit dem Vermittlungsausschussergebnis nicht ge-schafft.
Sie hatten damals gesagt, zur Vermeidung einer au-ßergewöhnlichen Härte soll es ein sofortiges eigenstän-diges Aufenthaltsrecht geben. Die Erfahrung zeigt aber,dass diese außergewöhnliche Härte in den wenigstenFällen angewandt wurde. Sie war im Gesetz nicht klardefiniert. Das, was der Vermittlungsausschuss in seinerBegründung wollte, ist in vielen Bundesländern so nichtangewandt worden. Die Misshandlung durch den Ehe-mann hat in vielen Fällen kein Abschiebungshindernisdargestellt.Hinzu kommen musste vielmehr, dass beim Verlas-sen des Landes der Frau ungleich größere Schwierigkei-ten auferlegt worden wären als jeder anderen Auslände-Ilse Falk
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rin oder jedem anderen Ausländer, die Deutschland ver-lassen.Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben bereitsseit 1998 auf dem Erlasswege die Möglichkeit geschaf-fen, dass die Trennung vom Ehemann wegen psychi-scher und physischer Gewalt nicht zur Ausweisungführt. Ganz anders Bayern: Bayern errichtet die Hürden sohoch, dass das Gesetz faktisch überhaupt nicht greifenkann. Konkret heißt das: Um nicht ausgewiesen zu wer-den, muss die ausländische Ehefrau sich fast zu Todequälen lassen. In Bayern muss ihr eine schwere Kör-perverletzung zugefügt werden, und Sie wissen, wiedies im Strafgesetz definiert ist. Schwere Körperverlet-zung bedeutet den Verlust eines lebenswichtigen Glie-des oder des Sehvermögens, die Betroffene müsste ge-lähmt oder geisteskrank sein. Diese Kriterien haben doch die vielen Frauen nichterfüllen können. Das bedeutet, dass dieses Gesetz für siefaktisch keine Wirkung hatte.
Diese unmenschliche Handhabungen des Ausländer-gesetzes wollen wir jetzt beenden. Den Fall Tülay O. hatKollegin Wolf hier schon dargestellt. Ich will das nichtwiederholen. Hier ist es so gewesen, dass das Verwal-tungsgericht Augsburg und auch der bayerische Petiti-onsausschuss gesagt haben, es liege hier keine außerge-wöhnliche Härte vor. Diese unzumutbaren Situationenhaben jetzt ein Ende. Ich bin froh darüber, dass wir endlich eine bundes-einheitliche verbindliche Regelung schaffen können.Verfahren nach § 19 werden somit nicht länger ein Rou-lettespiel für die Betroffenen sein. Die auslän-dischenEhefrauen müssen vor der Willkür des Ehe-mannes undauch der Behörden geschützt werden, wie dies seit Jah-ren von Migrantinnenverbänden gefordert wird. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganzherzlich auch bei den Mitarbeiterinnen in den Frauen-häusern bedanken, die trotz der prekären rechtlichen Si-tuation immer Hilfe angeboten haben. Das war keineSelbstverständlichkeit, und sie waren manchmal sehrnahe am Rande des Gesetzes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich indiesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekteingehen. Wir haben vor zwei Jahren eine Reform desSexualstrafrechts umgesetzt, nämlich die Vergewalti-gung in der Ehe strafbar gemacht. Von dieser Reformhatten die ausländischen Frauen bisher überhaupt keinenGebrauch machen können, denn hätten sie ihren Ehe-mann wegen der Vergewaltigung angezeigt und er wäreinhaftiert worden, hätten sie umgehend das Land verlas-sen müssen, zum einen wegen des Bezugs der Sozialhil-fe, zum anderen, weil die eheliche Lebensgemeinschaftaufgelöst gewesen wäre. Insofern haben wir hier einendirekten Zusammenhang zwischen dem Ausländerrechtund dem § 177. Die Würde des Menschen, das Recht auf körperlicheUnversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und dasSelbstbestimmungsrecht sind grundrechtliche Werte, dienicht nur für Deutsche gelten, sondern auch für auslän-dische Männer und Frauen. Nun zum Gesetzentwurf. Er sieht vor, die für das ei-genständige Aufenthaltsrecht erforderliche Ehe-bestandspflicht von vier auf zwei Jahre zu reduzieren.Er benennt weiterhin Kriterien, nach denen Frauen imFalle einer besonderen Härte ein sofortiges eigenständi-ges Aufenthaltsrecht bekommen. Frau Falk, Sie habengesagt, man müsse dies ins Gesetz schreiben. Es gibtVerwaltungsrichtlinien, in denen sehr genau geregelt ist,wie der entsprechende Einzelfall zu handhaben ist. Na-türlich müssen Richterinnen und Richter entscheiden, obeine besondere Härte vorliegt. Es wird nicht ausreichen,dass die Frau sagt: Es ist eine besondere Härte für mich.– Natürlich wird das einem Prüfverfahren unterzogen.Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen. Endlich wird auch das Kindeswohl berücksichtigt.Das ist eine wichtige Sache, die wir im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention unbedingt umsetzen müs-sen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht nur für unsrot-grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier wich-tig, sondern auch ein großer Erfolg für unseren Rechts-staat.
Wie groß die Erleichterung bei den betroffenen Frauen,bei den Anwaltsbüros und Beratungsstellen ist, zeigenzahlreiche Briefe und Telefonate, die ich in den letztenWochen erhalten habe. Dieser Gesetzentwurf ist einwichtiger Reformschritt. Das Ziel der Bündnisgrünen istes, grundsätzlich ein vom Ehemann unabhängiges Auf-enthaltsrecht zu schaffen. Aber Reformen müssen behut-sam angegangen werden. Dies hat uns die Vergangen-heit gelehrt. Im Zusammenhang mit der Diskussion über men-schenwürdige Regelungen des § 19 des Ausländergeset-zes haben besonders Sie, meine Herren von derCDU/CSU, und auch Frau Falk in der letzten Zeit häufigPanik gemacht, indem Sie behauptet haben, die Zahl derScheinehen steige. Diese Vermutung ist einfach insBlaue hinein gesprochen und entbehrt jeglicher Daten-grundlage. Ich habe mich auf dieses Argument vorberei-tet: Ich habe mir Zahlenmaterial vom Statistischen Bun-desamt geben lassen und habe geprüft, ob binationaleEhen oder Ehen von Migrantinnen und Migranten häufi-ger geschieden werden als deutsche. Dem ist nicht so.Insofern können Ihre Bedenken beiseite geschoben wer-den. Es gibt also keinen guten sachlichen Grund, eineReform des § 19 des Ausländergesetzes abzulehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppositionund vor allem von der F.D.P., Sie wissen um die schwie-Irmingard Schewe-Gerigk
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rige Situation von ausländischen Frauen. Wir haben inder Vergangenheit häufiger darüber diskutiert. Sie wis-sen auch, dass wir aufgrund der bestehenden Problemeneue Regelungen benötigen. Ich bitte Sie deshalb:Schließen Sie sich unserem Gesetzentwurf an, damit wirendlich gemeinsam diesen wichtigen frauenpolitischenSchritt in der Geschichte des Ausländerrechts tun kön-nen.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort
der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Eine vernünftige Re-gelung des § 19 des Ausländergesetzes muss mehrereKriterien erfüllen: Es muss das berechtigte individuelleInteresse auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nachAufhebung der Ehe berücksichtigt werden. Es muss einehumanitäre Lösung von schweren Einzelschicksalenmöglich sein. Aber es müssen auch Vorkehrungen gegenMissbrauch getroffen werden. Diese Kriterien hat frei-lich die alte Fassung des § 19 des Ausländergesetzes inkeiner Weise befriedigend erfüllt.
Daher hat die damalige Ausländerbeauftragte Corne-lia Schmalz-Jacobsen bei der Änderung des Ausländer-gesetzes in der letzten Legislaturperiode auch die Initia-tive zur Neufassung des § 19 ergriffen. Leider geriet dieNeuregelung in die Mühlsteine des Vermittlungsverfah-rens. Selten traf das Sprichwort – wenn ich das einmalso flapsig formulieren darf – „Viele Köche verderbenden Brei“ genauer zu als bei der Neuregelung des § 19.Das, was im Vermittlungsausschuss vereinbart wordenist, verdiente in keiner Weise den Namen Reform. Eswar schlicht und einfach eine Verschlimmbesserung.Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch nach dieserso genannten Reform von 1997 der Ruf nach einem neu-en Tätigwerden des Gesetzgebers nicht verstummt ist. Anlässe zur Kritik gab immer wieder die Praxis inden Ausländerbehörden. Fälle wie der schon erwähnteFall der Türkin Tülay Oguz, in dem das Ausländeramtder Stadt Kempten meinte, es läge, trotz fürchterlicherMisshandlungen, kein Härtefall vor, lösten bundesweitKopfschütteln aus. Nachdem Frau Oguz aufgrund einesjahrelangen Rechtsstreits doch ein Aufenthaltsrecht er-halten hat, hat Ihre grüne Landtagskollegin aus Bayern,Elisabeth Köhler, nun festgestellt, dass man im Rahmender bestehenden Gesetze durchaus politische Hand-lungsoptionen habe. Diese Feststellung könnte zu dem Schluss verleiten,dass eine Neuregelung des § 19 vielleicht doch nicht sodringlich ist. Ich schließe mich dem nicht an; denn eineAuswertung der Praxis ergibt zunächst einmal, dass einevöllig unterschiedliche Handhabung in den einzelnenBundesländern existiert. Dies kann vom Bundesgesetz-geber auf längere Sicht nicht akzeptiert werden.
Entscheidend für eine engherzige oder großzügigeAuslegung durch die Ausländerbehörden ist natürlichdas Meinungsklima, das in den jeweiligen Bundeslän-dern durch die politische Führung geschaffen wird. Da-her ist es kein Zufall – Herr Uhl, ich muss das leider ausder mir vorliegenden Statistik so feststellen –, dass inBayern Frauen kaum eine Chance auf Anerkennung alsHärtefall im Sinne von § 19 des Ausländergesetzes ha-ben.Es liegt also in der politischen Verantwortung derCSU, wenn Ausländerbehörden den Sinn für nahe lie-gende, geradezu gebotene humanitäre Lösungen wie imFall Oguz verloren haben. Wer seine politische Führungso wahrnimmt, der muss sich nicht wundern, dass dieDiskussion über eine Neufassung des § 19 nie ver-stummt ist.
Deswegen teilt die F.D.P.-Fraktion das Anliegen, diederzeit bestehenden Auslegungsprobleme zu beseitigenund für eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis denGrundstock zu legen.Gleichwohl, vor allem meine verehrten Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, wird es in den Aus-schussberatungen notwendig sein, sich mit dem, was Sieuns hier vorgelegt haben, in sehr differenzierter Weisezu befassen; denn trotz mancher Verbesserungen setztdie Neuregelung zum Teil an der falschen Stelle an.Erstens. Die Vierjahresfrist für das eigenständigeAufenthaltsrecht soll in den Regelfällen auf zwei Jahreherabgesetzt werden. Für die F.D.P.-Fraktion muss ichIhnen ganz ehrlich sagen, dass wir dem sehr skeptischgegenüberstehen; denn man darf die Augen vor derMöglichkeit des Missbrauchs nicht völlig verschließen.
Je weiter Sie die Regelfrist herabsetzen, umso größer istdie praktische Gefahr des Missbrauchs. Darüber mussman jedenfalls im Ausschuss noch einmal sehr gründlichdiskutieren.Zweitens. Wir begrüßen aber, dass Sie durch IhreNeuregelung versuchen, die bisherigen Auslegungs-schwierigkeiten bei der Härtefallklausel zu beseitigen.Ich halte es insbesondere für einen Fortschritt, dass nuneindeutig festgestellt wird, dass auch auf Umständewährend der Dauer der Ehe in Deutschland bei der Beur-teilung zurückzugreifen ist. Dass es auf diese Umständenicht entscheidend angekommen war, konnte niemandverstehen, etwa auch bei dem heute mehrfach zitiertenFall aus Kempten. In diesem Punkt haben Sie unsereUnterstützung. Über die Einzelheiten dessen, was Siesehr detailliert vorgeschlagen haben, werden wir imAusschuss reden.Irmingard Schewe-Gerigk
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Dritter und letzter Punkt. Im damaligen Vermitt-lungsverfahren 1997 wurde als Verschärfung erst imVermittlungsausschuss eingeführt, dass selbst eine Frau,bei der eine besondere oder außergewöhnliche Härtefestgestellt wurde, wegen Sozialhilfebedürftigkeit aus-gewiesen werden kann. Auf den tatsächlichen Bezugvon Sozialhilfe kommt es nach dieser Regelung übrigensüberhaupt nicht an.Graf Lambsdorff hat in einer persönlichen Erklärungzur Abstimmung am 26. Juni 1997 diese Verschärfungwie folgt kommentiert – ich zitiere ihn wörtlich –:Ich bin kein Befürworter exzessiver Zuteilung vonSozialhilfe.– So kennen wir alle Graf Lambsdorff. –
Aber diese Regelung ist kleinlich und sie istmenschlich schäbig. Deshalb lehne ich sie ab.
Das, was Graf Lambsdorff ausgeführt hat, hilft auchnoch heute.
Das provoziert nun
eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk. Möch-
ten Sie sie zulassen?
Ja.
Bitte sehr.
zur Kenntnis genommen, dass der Sozialhilfebezug
nicht generell das Kriterium ist, sondern nur dann, wenn
zum Beispiel eine annehmbare Arbeit abgelehnt wird
und deshalb auf Sozialhilfe zurückgegriffen wird? Wenn
die Sozialhilfe zum Beispiel deshalb gezahlt werden
muss, weil die Mutter wegen der Betreuung ihrer Kinder
nicht erwerbstätig sein kann, soll dieses Kriterium über-
haupt nicht angewandt werden. Haben Sie das zur
Kenntnis genommen?
Frau Kollegin, das habe
ich nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ich habe
es mir im Rahmen der Vorbereitung – wie Sie sehen –
auch noch gelb angestrichen.
Ich habe allerdings, nachdem ich die Begründung ge-
lesen hatte, noch einmal sehr sorgfältig den von Ihnen
vorgelegten Gesetzestext studiert. Ich muss Ihnen sagen,
dass die Begründung nicht mit dem konform geht, was
Sie als Gesetzestext vorschlagen. Ich erkenne Ihre Ab-
sicht an, dass Sie das Sozialhilfekriterium – wenn ich es
so sagen darf – entschärfen wollen. Aber ich verstehe
nicht, warum sich das in der Textfassung des Gesetz-
entwurfs – das ist das Entscheidende – nicht wieder fin-
det.
Deswegen bleibe ich dabei: Ich verstehe nicht, dass
diese Klausel in dem Text Ihres Gesetzentwurfs unver-
ändert geblieben ist und Sie lediglich in der Begründung
für ein, zwei Anwendungsfälle Ihre Absicht darlegen,
was die künftige Anwendung angeht.
Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass Herta
Däubler-Gmelin in einer persönlichen Erklärung bei der
Abstimmung über das Vermittlungsergebnis 1997 gera-
de wegen der Sozialhilfeklausel mit Nein votiert hat.
Wie kann die neue Justizministerin Herta Däubler-
Gmelin denn dann heute einen Gesetzentwurf unter-
schreiben, in dem genau die Sozialhilfeklausel unverän-
dert geblieben ist, die Bayern seinerzeit durchgesetzt
hat?
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben uns
sehr intensiv mit Ihren Vorschlägen befasst.
Trotz einiger wirklich zutreffender Verbesserungen, die
Sie vorschlagen, wird es uns in den Ausschussberatun-
gen nicht erspart bleiben, die Einzelheiten Ihres Ent-
wurfs sehr sorgfältig und kritisch zu durchleuchten.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf – da-ran besteht meiner Meinung nach kein Zweifel – warlängst überfällig und findet unsere volle Unterstützung.Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen wirdvon vielen Frauen- und Migrantinnenorganisationen seitlangem gefordert. Frau Falk und Herr Stadler, es bleibt beschämend fürdie alte Regierung, dass sie Tausende von Migrantinnenso lange in dieser unerträglichen Not gelassen hat unddie Probleme viele Jahre ignoriert hat. Man darf nichtvergessen, dass dies heute nicht die erste Debatte ist. Ichkann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wie oftwir dieses Thema und auch die einzelnen Fälle hier imParlament zur Sprache gebracht haben. Dabei sind unsdie vielen Fälle von misshandelten Frauen alle bekannt.Eine Tageszeitung titelte 1998: „Vom Mann misshan-delt – von den Behörden verlassen“.Frau Wolf und andere Kolleginnen haben schon Fälleaus Bayern vorgetragen. Herr Stadler hat selbst gesagt,dass es wohl kaum eine Frau gibt, die die Kriterien derHärtefallregelung erfüllt. Ich meine, dass diese UrteileDr. Max Stadler
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nicht nur kaltschnäuzig, sondern auch menschenverach-tend sind. Auch wenn der Missbrauch von einigen Par-teien immer wieder in den Vordergrund gestellt wird,meine ich, dass Menschenrechte Vorrang vor Kontrollenund Hürden haben müssen. Sie verhindern, dass Frauenhier wirklich menschenwürdig behandelt werden.
Ich möchte daran erinnern, dass es allein in Berlin –dies macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfällehandelt – im vergangenen Jahr rund 145 000 Migrantin-nen ohne deutschen Pass gab. Wie viele von ihnen vonhäuslicher Gewalt betroffen waren, ist statistisch zwarnicht genau erhoben. Aber wir wissen, dass die Zu-fluchtseinrichtungen wie Frauenhäuser und andere Stel-len zu etwa 50 bis 65 Prozent von Migrantinnen genutztwerden. Ich denke, das spricht eine deutliche Sprache. Das geltende Ausländerrecht zwang bisher alleMigrantinnen ohne deutschen Pass in eine extremeAbhängigkeit von ihrem Ehemann und leistete soehelichen Misshandlungen direkt Vorschub. Selbst dieBundesvorsitzende der Deutschen Katholischen Jugendhat deshalb schon vor mehr als einem Jahr von derBundesregierung gefordert, für Frauen endlich eineigenständiges Aufenthaltsrecht zu schaffen. Wir haben bei den Beratungen über die Reform desStaatsbürgerschaftsrechts einen Antrag zum eigenstän-digen Aufenthaltsrecht für Frauen eingebracht, der leiderabgelehnt worden ist. Sie werden verstehen, dass ich dashier noch einmal anmerke. Wie gesagt, es liegt ein Gesetzentwurf vor, mit demendlich versucht wird, die in der Tat empörende Recht-losigkeit der Migrantinnen zu korrigieren und aufzuhe-ben. Die PDS wird diesen Gesetzentwurf auf jeden Fallunterstützen. Er bedeutet für viele Frauen eine wichtigeVerbesserung sowie einen großen Schritt zu mehrRechtssicherheit und hoffentlich zu einer bundeseinheit-lichen Praxis. Ehrlich gesagt denke ich aber, dass nochein bisschen nachgebessert werden müsste.Die Änderung, dass künftig nicht mehr eine „außer-gewöhnliche Härte“, sondern nur eine „besondere Här-te“ vorliegen muss, um eine Fortführung der Ehe unzu-mutbar zu machen und ein eigenständiges Aufenthalts-recht zu begründen, wird von uns begrüßt und unter-stützt. Der Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ warund ist so eng gefasst, dass er in der Vergangenheit ineinigen Bundesländern – außer in Fällen von schwersterKörperverletzung – nie zur Anwendung kam.Trotzdem muss ich ein wenig Wasser in den Weingießen: Ein sofortiges, uneingeschränktes eigenständigesAufenthaltsrecht für Ehefrauen ist leider auch mit demheutigen Regierungsentwurf noch nicht erreicht. DieKollegin der Grünen hat in diesem Zusammenhang be-reits einiges zur Vergangenheit gesagt. Im Gegensatz zuFrau Falk bin ich der Meinung, dass wir in diesem Punkteinen Schritt weiter hätten gehen sollen. Völlig unbegründet ist auch, wieso eigentlich einezweijährige Ehe im Inland nachgewiesen werden muss.Es gibt mehr als genug Fälle, bei denen zum Beispieleine Ehe im Ausland schon lange bestand und ein Jahrnach Einreise der Ehefrau in die Bundesrepublik in die Brüche ging. Warum sollen diese Frauen auch gemäß dem jetzigen Gesetzentwurf gezwungen wer-den, ihre Ehe ein weiteres Jahr zu verlängern? Ich kann,ehrlich gesagt, keinen vernünftigen Grund dafür erken-nen.Ich erinnere auch daran, dass der Innenminister vonNordrhein-Westfalen bereits 1998 einen Erlass heraus-gegeben hat, wonach eine psychische und physischeMisshandlung, die Betreuung eines behinderten Kin-des oder eine im Fall der Abschiebung drohendeschwerwiegende gesellschaftliche Diskriminierung imHeimatland unter den Begriff der „außergewöhnlichenHärte“ fallen und somit ein sofortiges eigenständigesAufenthaltsrecht begründen. Schon damals hieß es – Zi-tat: – „Eine bundeseinheitliche Praxis wäre für alle Betroffenen wünschenswert.“ – Was hindert Sie ei-gentlich daran, nun endlich bundesweit ein sofortigeseigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen zu beschlie-ßen?Auch die Regelung, dass der Sozialhilfebezug nurdann kein Versagungsgrund ist, wenn die Sozialhilfewegen der Betreuung minderjähriger Kinder gezahltwird – dies wurde hier schon angesprochen –, geht unsnicht weit genug.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme gleich zum Schluss.
– Wir sind der Meinung, dass soziale Not kein Grund
sein darf, den betroffenen Frauen ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht zu verwehren. Wie gesagt – ich habe es
schon angekündigt –, wir werden über diese Punkte na-
türlich noch streiten. Das ändert aber nichts daran, dass
wir den vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen und uns
freuen, dass es endlich für die Migrantinnen in diesem
Land eine Erleichterung gibt.
Danke.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Lilo Fried-
rich von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzent-wurf ist nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrech-tes ein weiterer bedeutender Schritt hin zu einer men-schenwürdigeren Gesellschaft, insbesondere für hier le-bende Migrantinnen. Ulla Jelpke
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7879
Nach der bisherigen Gesetzeslage haben ausländischeEhefrauen und Ehemänner in den ersten vier Ehejahrenin Deutschland kein eigenes, sondern ein vom Ehepart-ner abgeleitetes Aufenthaltsrecht, mit der Folge, dasswährend dieser Zeit die Frauen im Fall einer Trennungoder Scheidung in ihr Heimatland ausgewiesen werden.Häufig bedeutet dies, dass ausländische Ehefrauen ausAngst vor der Ausweisung über keine Handhabe gegen-über ihren gewalttätigen Ehemännern verfügen.Die Diskussion über eine Reform des eigenständigenEhegattenaufenthaltrechtes wird seit langem geführt undÄnderungen werden von Frauenorganisationen, Kirchenund Verbänden gefordert. Doch bisher haben alle Ver-suche – wie zuletzt der der ehemaligen Bundesregierungim Jahre 1997 –, diese unerträgliche Situation zu been-den, zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis geführt.Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen, haben deshalb bereits im Koalitionsvertrag ver-einbart, die im ausländerrechtlichen Vermittlungsverfah-ren nur unzureichend umgesetzte Reform des eigen-ständigen Ehegattenaufenthaltsrechts zu Ende zu füh-ren. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderungdes Ausländergesetzes werden wir diese angekündigteReform nun endlich auf den Weg bringen können.
Zielsetzung ist, die Voraussetzungen zur Erlangungeines eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländischeEhegatten zu erweitern und zu erleichtern, dies insbe-sondere mit dem Ziel, unzumutbare Verhältnisse wäh-rend der Ehe in Deutschland zu berücksichtigen. Hierzuwollen wir § 19 des Ausländergesetzes wie folgt än-dern:Erstens. Die erforderliche Ehebestandszeit wird vonvier auf zwei Jahre verkürzt. Denn wir halten als gene-relle Grenze für die Erlangung eines eigenständigenAufenthaltsrechts bereits einen Zeitraum von zwei Jah-ren für angemessen, in denen die eheliche Gemeinschaftin Deutschland geführt wurde.Zweitens. Künftig sollen Umstände während der Ehe,die ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaftunzumutbar machen, Berücksichtigung finden, wenn sieeine besondere Härte darstellen.In der Vergangenheit hat die Regelung des eigenstän-digen Aufenthaltsrechtes für Ehegatten nach Beendi-gung der ehelichen Lebensgemeinschaften immer wie-der zu Diskussionen geführt. Deshalb wurde § 19 desAusländergesetzes bereits in der letzten Legislaturperio-de geändert. Der damals gewählte Begriff der „außer-gewöhnlichen Härte“ hat in der Praxis jedoch zu zahl-reichen Auslegungsproblemen und Unzulänglichkeitengeführt.Auch in der Rechtsprechung ist es umstritten geblie-ben, ob eine Härte im Sinne der Vorschrift auch alleindarin gesehen werden kann, dass der Ehegatte die eheli-che Lebensgemeinschaft wegen erheblicher Verletzungvon Rechtsgütern aufgelöst hat. Diese Auslegungs-schwierigkeiten und damit einhergehende willkürlicheEntscheidungen durch Ausländerbehörden und Verwal-tungsgerichte wird es durch unsere Reform dann nichtmehr geben.Nunmehr wird klargestellt, dass ein eigenständigesAufenthaltsrecht bereits dann zu erteilen ist, wenn derEhegatte durch die Rückkehr in das Herkunftsland un-gleich härter getroffen wird als andere Ausländer, dienach kurzen Aufenthaltszeiten Deutschland verlassenmüssen. Darüber hinaus darf es kein Kriterium mehrsein, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Al-leinerziehenden versagt wird, weil sie wegen der Be-treuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf denBezug von Sozialhilfe angewiesen sind.In welchen Fällen eine besondere Härte gegeben ist,wird in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf präziseausgeführt. Eine besondere Härte liegt erstens dann vor,wenn der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaftaufgelöst hat und in Zusammenhang mit der Rückkehr-verpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seinerschutzwürdigen Belange droht. Dies ist zum Beispiel derFall durch gesellschaftliche Diskriminierungen im Her-kunftsland, die eine eigenständige Lebensführung nichtermöglichen, durch eine drohende Zwangsabtreibung,durch Nichtbeachtung des Kindeswohls, für dessen Er-halt ein weiterer Aufenthalt in Deutschland erforderlichist, oder wenn die Gefahr besteht, dass durch den Auf-enthalt im Ausland der Kontakt zum Kind willkürlichuntersagt wird. Zweitens liegt eine besondere Härte vor, wenn be-sondere Umstände während der Ehe in Deutschland esdem Ehegatten unzumutbar machen, zur Erlangung ei-nes eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichenLebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Umstände sindzum Beispiel physische oder psychische Misshandlungoder sexueller Missbrauch oder Misshandlung des Kin-des.Die dritte entscheidende Änderung des § 19 des Aus-ländergesetzes besteht darin, dass künftig auch das Kin-deswohl als schutzwürdig berücksichtigt wird und eineErteilung des eigenständigen Aufenthaltsrechts rechtfer-tigen soll. Dies entspricht auch internationalen Standardswie der UN-Kinderrechtskonvention. Besonders wichtig erscheint mir bei unserer Reform,dass die Gründe für die Anerkennung von Härtefällennun bundeseinheitlich in den Ländern geregelt werden.Bisher ist dies in den Bundesländern sehr unterschied-lich gehandhabt worden, sodass es keine einheitlicheRechtslage für die Frauen gab. Der vorliegende Gesetzentwurf ist im Bundesrat nichtzustimmungspflichtig. Aber er bindet die Länder beiseiner Umsetzung eng an die Vorgaben des Bundesge-setzgebers.Der Kampf gegen häusliche Gewalt kann nicht an dereigenen Haustür Halt machen. Wenn wir die Vorgabenunseres Grundgesetzes, nämlich die Würde des Men-schen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zuwahren, ernst nehmen, dann müssen wir diese Werteauch den hier lebenden ausländischen Frauen garantie-ren.Lilo Friedrich
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Deshalb ist es mir als Innen- und Menschenrechtspo-litikerin wichtig, dass keine Frau ein Martyrium durch-leiden muss, um in Deutschland bleiben zu können.Frauenrechte sind Menschenrechte.Ich danke Ihnen.
Das
Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der § 19des Ausländergesetzes regelt in der Tat einen schwieri-gen Lebenssachverhalt. Es gibt den Nachzug von Frauenund Männern nach Deutschland. Es gibt Gewaltbereit-schaft bei den Nachziehenden und bei den hier inDeutschland Lebenden. In all diesen Fällen kann es zuScheidungen oder Trennungen kommen. Wir müssendann klären, wer ein eigenständiges Aufenthaltsrechtbekommt und wer nicht.Im geltenden Recht gibt es eine Kombination zwi-schen einer Fristenregelung, bei der die Mindestzeit vierJahre beträgt, und einer Härtefallregelung. Eine außer-gewöhnliche Härte muss vorliegen; dann wird ein eigen-ständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Dem Grunde nachist dies vernünftig geregelt, weil man die Vielgestaltig-keit der Lebenssachverhalte auf diese Weise am bestenerfassen kann.Das Ziel ist – wenn Sie so wollen – ein zweifaches:Erstens. Es geht um das Ziel der Integration der hierlebenden Ausländer. Wenn sie vier Jahre hier waren,haben sie sich erfahrungsgemäß integriert und sollen beieinem Scheitern der Ehen nicht ausgewiesen werden.Zweitens. Es geht um das Ziel, den Nichteinwan-derungsgrundsatz aufrechtzuerhalten. Wir sind keinEinwanderungsland und man sollte nicht im großen Stil auf dem Wege der Deutschverheiratung – sei sie missbräuchlich oder nicht – eine Einwanderung ermög-lichen.Lassen Sie mich nun zu Ihren Vorschlägen zur Ände-rung des Ausländergesetzes kommen. Sie sagen, eineFristverkürzung von vier auf zwei Jahre sei eine besse-re Lösung. Ihre Begründung lautet, dies sei angemessen.Mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen. Ich habe gesucht,ob noch weitere Begründungen geliefert werden, aberdies war nicht der Fall. Nun kann man sagen: Eine Frist-verkürzung auf zwei Jahre löst das Problem der Härte-fälle. Innerhalb von vier Jahren müsste die Frau zu vielertragen. Aber ob sie zwei oder vier Jahre geschlagenwird und ein Martyrium durchleidet: Wo ist hier IhreLösung?
Ihre Vorschläge sind keine Lösung, sondern nach wievor Willkür.Ich bin der Meinung, dass ein Mensch, der aus sei-nem Heimatland nach Deutschland kommt und zweiJahre hier gelebt hat, sich noch gar nicht so sehr integ-riert haben kann und sich von seinem Heimatland nochgar nicht so weit entfernt haben kann, dass eine Rück-kehr in dieses Heimatland eine unzumutbare, außerge-wöhnliche Härte darstellen muss.
Deswegen kommt es darauf an, diese Fälle einzeln zuklären. Es darf nicht pauschal und durch Automatismusim Wege der Zweijahresfristenregelung zu einem eigen-ständigen Aufenthaltsrecht kommen.Wenn Sie die Frist auf zwei Jahre verkürzen, lösenSie damit eine Fülle von Missbrauchsmöglichkeiten aus.Wir wissen aufgrund der Erfahrung – ich jedenfalls weißes aus meiner Erfahrung; ich hatte unter anderem elfJahre die Ausländerbehörde in München zu leiten –,
dass es eine Vielzahl von Scheinehen gibt, die durch Ih-re Vorgehensweise noch viel mehr werden würden.Denn es wäre einfach, solche Scheinehen einzugehen.Menschenhandel würde erleichtert werden.
– Frau Kollegin, in München gab es den Fall eines alba-nischen Drogendealers,
der natürlich hätte ausreisen müssen, es sei denn, er wä-re deutsch verheiratet worden. Daraufhin hat er sich einedeutsche Drogenabhängige zur Frau genommen. Diesemusste natürlich, weil sie von ihm abhängig war, alles,was er sagte, zugeben und bestätigen. Das heißt: Auf-grund dieser Eheschließung konnte der Betreffende inDeutschland bleiben. Wollen Sie so etwas wirklich för-dern? Halten Sie es mit Ihren Vorstellungen von Frauen-rechten für vereinbar, wenn Sie so etwas fördern?
Wir hatten viele Fälle von Nigerianern, die inDeutschland Asylverfahren betrieben haben – teilweisemehrere unter Alias-Personalien – und deren Asylantragabgelehnt wurde. Durch die Heirat mit einer DeutschenLilo Friedrich
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haben sie aber das Aufenthaltsrecht erhalten. Das wollenSie alles fördern. Warum eigentlich?
Es gibt auch die Fälle von Schleusern, die Frauen ausOsteuropa nach Deutschland als Tänzerinnen und alsProstituierte – zu welchen Zwecken auch immer – ein-schleusen. Diese Fälle müssten Ihnen doch bekannt sein.Es müsste doch auch Ihre Absicht sein, dieses zu ver-hindern; es müsste doch auch Ihr gesetzgeberisches Zielsein, das nicht zu befördern oder zu erleichtern.
Mit dieser Änderung erleichtern Sie jedenfalls diesenTypen das Geschäft.
Der alte Gesetzestext regelt Härtefälle in der Weise,dass er vorschreibt, dass im Falle des Scheiterns der Ehezunächst einmal der Härtefall im Heimatland gegebensein muss. Das heißt, die Rückkehr in das Heimatlandmuss unzumutbar sein. Diese Regelung ist logisch undauch in Ordnung.Aber das geltende Recht ermöglicht auch – das ist be-reits vom Kollegen Stadler gesagt worden; es wurde sei-nerzeit im Vermittlungsausschuss so festgelegt – die Be-rücksichtigung eines Härtefalls im Inland, also inDeutschland. Das heißt, wenn die Fortsetzung der Eheunzumutbar ist, dann kann die betreffende Person, Mannoder Frau, hier bleiben.Zugegeben: Der Gesetzeswortlaut könnte verbessertwerden. Ich gehe aber im Gegensatz zu Ihnen, FrauFriedrich, davon aus, dass es sich um ein zustim-mungspflichtiges Gesetz handelt, das im Vermittlungs-ausschuss landen wird, und dass man da so etwas redak-tionell nachbessern kann.
Es gibt keine Notwendigkeit für Ihre Forderungen, dielediglich zu einer Verschlechterung und nicht zu einerVerbesserung führen würden.Frau Kollegin Wolf, ich möchte Sie einmal mit fol-gendem Fall konfrontieren.
– Ich rede nur aus Erfahrung. Ich werde gleich nochplastische Beispiele aus dem täglichen Leben bringen. –Eine junge, in Deutschland aufgewachsene und lebendeTürkin – von ihnen gibt es ja sehr viele – hat unsereWertvorstellung verinnerlicht. Sie wird von ihrer Fami-lie mit einem streng religiösen osttürkischen Mann vomLande zwangsverheiratet; diesen Fall gab es auch inmeiner Behörde.
Der Türke reist nach Deutschland und beide leben zu-sammen in Deutschland. Er stört sich aber an dem westlich geprägten Lebens-wandel seiner jungen Ehefrau. Sie, emanzipiert, wie sienun mal ist, verhöhnt ihn wegen seiner rückständigenLebensauffassung. Das ist ganz normal, es treffen zweiWelten aufeinander. Er empfindet ihr Verhalten natür-lich als eine Belästigung – Sie würden darin eine schwe-re psychische Misshandlung durch diese emanzipierteEhefrau sehen –, die er nicht hinnimmt. Ihm ist das Wei-terführen der Ehe nicht zumutbar. Daher verlässt er dieeheliche Wohnung.
Schauen Sie sich den Fall in Kempten einmal genauan! Kurde heiratet Kurdin in Deutschland. Sie will undkann mit ihm nicht mehr zusammenleben. Die Ehe istein Martyrium für sie.
Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er kommtaber zurück und vergewaltigt sie. Daraufhin reicht siedie Scheidung ein. Aber in der Zwischenzeit bekommtsie noch ein Kind von ihm. Die Behörde glaubt ihr nicht.Das war ein schwerer Fehler und eine unsensible Ent-scheidung der Behörde in Kempten. Aber dafür gibt esja Gott sei Dank Gerichte, die solche Entscheidungenkorrigieren und in diesem Fall korrigiert haben.
An diesem Beispiel kann man aber auch einen ande-ren Punkt erkennen: Wir müssen Frauen, die hier leben,vor solchen gewalttätigen Männern schützen, die nachDeutschland ziehen und die sich niemals in unseremLand integrieren können.
Den Kolleginnen und Kollegen – von den Grünen, vonder PDS, von wo immer –, die diese Änderung wollen,sage ich: Sie meinen es gut; Sie wollen diesen Frauenhelfen. Aber in Wahrheit helfen Sie je nachdem, wie derFall liegt, auch den männlichen Peinigern. Lassen Siemich zum Schluss noch ein paar ganz konkrete Fällevortragen. Frau Kollegin Wolf, es gibt eben nicht nurden einen Fall, den Sie – warum auch immer – im Augehaben, nämlich den Fall einer nachziehenden Auslände-rin, die von brutaler deutscher Männerhand gepeinigtwird. Diesen Fall gibt es zwar; aber es gibt auch ganzandere Fälle.
Dr. Hans-Peter Uhl
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Beispiel: Der Ägypter Ahmed kommt nach Münchenals Mathematikstudent. Das Studium nimmt er aber nieauf. Er weiß, er muss eines Tages ausreisen. Das will eraber nicht. Also sagt er seiner Vermieterin – er ist 25, sieist 63 –: Ich heirate dich; als Gegenleistung darf ich inDeutschland bleiben. Er verspricht auch, die Vermiete-rin zu pflegen, für sie zu sorgen; denn sie ist schwerkörperbehindert. Kurze Zeit nach der Eheschließung –ich berichte aus den Akten in München – pflegt er sienicht, sondern schlägt er sie, von Woche zu Wochemehr. Er raubt ihr den Pass, er raubt ihr das Geld, denSchmuck und alles, schließt sie in der Wohnung ein, so-dass sie nicht mehr herauskommt. Nur einem glückli-chen Umstand war es zu verdanken, dass sie ins Frauen-haus flüchten konnte.Wollen Sie diesem Typen durch Ihre zweijährigeFristenregelung helfen? Er kann nach zwei Jahren hierbleiben, weil er ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat,und kann weiter diese Frau peinigen.
Das wollen Sie nicht, aber Sie bewirken es, ohne eszu wollen. Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen zweitenund dritten Fall kurz vortragen.
Ihre Re-
dezeit verlängert sich nicht automatisch. Sie ist abgelau-
fen.
Dann gestatten Sie
mir bitte, dass ich ganz kurz nur noch einen Fall vortra-
ge. Es geht um einen Nigerianer, der seine Aufenthalts-
erlaubnis dadurch erlangt hat, dass er eine deutsche Tou-
ristin in Lagos geheiratet hat. Er ist dann mit ihr nach
Deutschland eingereist und hat, weil er früher Asylbe-
werber in Deutschland gewesen ist, sofort wieder Kon-
takt zu seiner nigerianischen Freundin aufgenommen,
die als Asylbewerberin noch hier war. Seine deutsche
Frau hat er gezwungen zu gestatten, dass seine nigeria-
nische Freundin in die eheliche Wohnung mit einzieht.
Das hat sie freilich abgelehnt. Daraufhin hat er sie so
sehr geschlagen, dass sie die Polizei rufen musste. Sie
reichte die Scheidung ein.
Da aber die Dreijahresfrist für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht noch nicht abgelaufen war – das galt
damals –, hat er natürlich sofort eine neue deutsche Frau
geheiratet und er lebt nach wie vor in Deutschland. Das
ist das Produkt Ihres Gesetzesvorschlags mit der Fristen-
regelung von zwei Jahren.
Das, meine Damen und Herren, lehnen wir aus guten
Gründen ab: weil wir Frauen schützen wollen.
Als letz-
te Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Par-
lamentarische Staatssekretärin Frau Sonntag-Wolgast.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident!Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich war eigent-lich schon ganz hoffnungsvoll bei einigen Beiträgen aus der Opposition, zum Beispiel bei der differenzier-ten Auseinandersetzung von Frau Falk mit unserem Gesetzentwurf oder auch bei den Argumenten des Kol-legen Stadler. Ich dachte also, wir seien auf gutem We-ge. Nur leider haben Sie, Herr Kollege Uhl, uns auf denBoden der nicht so erfreulichen Tatsachen zurückge-führt.
Herr Uhl, was mir auffiel: Sie haben viele Mühe undviel Argumentationsverrenkungen aufgewandt, um dieArgumente, die für das Gesetz und für die Änderungsprechen, genau in das Gegenteil zu verkehren und Fällevorzuführen, die Sie als Beweis anführen, die aber inkeiner Weise der Realität entsprechen, die wir besser re-geln wollen.
Herr Uhl, gerade weil es Schicksale gibt wie das der30-jährigen Kurdin Tülay Oguz – es ist heute mehrfachzitiert worden –, müssen wir etwas tun. Ich finde: Wasjetzt geschieht, ist längst überfällig gewesen. Man erlebtmanchmal Momente im Parlament, wo man richtig auf-atmet und sagt: Na endlich! Es ist wirklich ein guter Tag. Wenn Sie einmal aufden Antrag schauen, stellen Sie fest, dass zunächst alleParlamentarierinnen, die dies unterstützen, genannt wer-den und dann die Männer folgen. Das kommt nicht alleTage vor. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sichFrauen um dieses Thema, das tatsächlich in erster LinieFrauen betrifft, kümmern, tätig werden und gemeinsamDruck ausüben. Wir haben wirklich lange um diese Re-form des § 19 des Ausländergesetzes gerungen, um aus-ländischen Ehegatten und vor allem Ehegatinnen deut-lich früher als bisher das eigenständige Aufenthalts-recht zu geben und um Härtefälle wirklich so zu regeln,Dr. Hans-Peter Uhl
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dass es dem humanitären Anspruch des Staates gerechtwird.
Schon vor Jahren ist die Forderung nach einem eigen-ständigen Aufenthaltsstatus nicht erst nach vier, sondernschon nach zwei Jahren ehelicher Gemeinschaft undnach einer großzügigeren Handhabung im Härtefall er-hoben worden, und zwar nicht nur von uns, den Parla-mentarierinnen und Parlamentariern, sondern auch vonvielen Frauenverbänden, Menschenrechtsorganisationenund Vertretern aus Kirchen und Gewerkschaften. Das,was heute eingebracht wird, zeigt Augenmaß und stütztsich auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft. Des-wegen hoffe ich auf zügige Beratungen und auf baldigeVerabschiedung des Gesetzentwurfes. Außerdem, liebeKollegen und vor allem liebe Kolleginnen, hoffe ichnoch immer auf Zuspruch über die Grenzen zwischenRegierung und Opposition hinweg. Den haben diese Ini-tiative und diejenigen, die es betrifft, wahrlich verdient.
Herr Kollege Uhl, Sie glaubten, dieses Gesetz sei zu-stimmungspflichtig. Diesen Punkt haben wir in unseremHause gründlich prüfen lassen. Wir können tatsächlichzu einer schnellen und zügigen Verabschiedung kom-men, ungebrochen durch irgendwelche Kompromisse,die wir sonst machen müssten. Ich finde, dass der An-satz nicht über das Ziel hinausschießt; er ist vielmehrabgewogen und angemessen.
Einige Bemerkungen dazu, dass die Frist zur Erlan-gung des eigenständigen Aufenthaltsrechts halbiert wer-den soll. Viele, die sich in der Lebenswirklichkeit aus-kennen, sagen, dass man einer Halbierung zustimmenkann. Ganz auf eine solche Frist verzichten wollten undkönnen wir nicht, denn ein gewisses Maß an Integrationsollen die Betroffenen – da haben Sie Recht – im Regel-fall erlangt haben; außerdem wollen wir Scheinehenvermeiden. Aber ich möchte den Unkenrufern im Lagerder Gegner dieses Gesetzentwurfs, die jetzt massenhaf-ten Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts via Eheschlie-ßung wittern, entgegenhalten: Erstens sind die zwei Jah-re der richtige Zeitraum, um solche Risiken einzu-dämmen. Zweitens lehnt diese Bundesregierung eineMigrationspolitik, die ausschließlich von Misstrauen ge-genüber Ausländern geprägt wird, ab.
Meine zweite Bemerkung betrifft die Härtefälle.Hierunter fallen diejenigen, die nach kurzer Zeit von ih-ren Ehepartnerinnen oder Ehepartnern unerträglich schi-kaniert und gequält werden. Solche Fälle dulden keineWartefrist – weder vier noch drei, noch zwei Jahre. DieVerbesserung, die 1997 im Zuge der Veränderungen desAusländergesetzes erreicht worden ist, bleibt, Frau Kol-legin Falk, unzulänglich. Diese Verbesserung beschränktsich auf den Begriff der so genannten außergewöhnli-chen Härte. Darunter versteht man in erster Linie das,was einem Ehepartner in der Heimat droht, wenn ermangels eigener Aufenthaltsberechtigung Deutschlandverlassen muss. Der Gesetzentwurf, den wir heute bera-ten, spricht von „besonderer Härte“ und will eben auchdie Fälle umfassen, bei denen das weitere Festhalten aneiner tief zerrütteten Ehe in Deutschland unzumutbargeworden ist und auch die seelische und körperliche Ge-sundheit von Kindern gefährdet ist. Sie beschwören die „Einladung zur Zwangsprostituti-on“. Genau das müssen Frauen eher dann erleiden, wennsie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, wenn siesich nicht wehren können, wenn sie solchen schikanösenBehandlungen ausgesetzt werden. Gerade dagegen wirddas Gesetz einen Damm errichten.
Wir helfen den Opfern dieser Verhältnisse und befreiensie von dem Druck, sich misshandeln und ausbeuten zulassen, weil sie außerhalb einer schrecklich zerstörtenGemeinschaft keine Existenzmöglichkeit für sich sehen.Das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist ein Beitragzur Stärkung der Menschenwürde und zum Ab-bau von Gewalt im intimsten Bereich des Zusammen-lebens. Die Gesetzesänderung dient aber auch dem Frieden inunserer Gesellschaft und der Integration von Zuwande-rern; denn ein eigenständiges Aufenthaltsrecht stärktdiejenigen, die sich in dieser Gesellschaft wohl fühlenwollen, die sich hier eingliedern wollen. Genau das, wasSie als Gefahr an die Wand malen, sehe ich nicht. Ichsehe eher, dass das Gesetz in einer ganz anderen Weiseund in einer ganz anderen Richtung hilft. Das Fazit: Nach dem neuen Staatsangehörigkeitsge-setz, nach der Einigung mit den Ländern über eine Alt-fallregelung für langjährig hier lebende Familien ist diesdie dritte Innovation, die diese Koalition in der Auslän-derpolitik auf den Weg bringt. Man könnte so schön of-fiziell sagen: Die Bundesregierung begrüßt das. Ich geheein wenig weiter. Ich sage: Ich bin froh und erleichtert,dass wir diesen Reformschritt endlich tun. Danke schön.
Ichschließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-entwurfes auf Drucksache 14/2368 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibtes dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zuParl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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7884 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-JensRössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einstieg in eine umfassende Reform der Fi-nanzierung der Städte, Gemeinden und Land-kreise
– Drucksachen 14/1302, 14/2556 – Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Scheelen Jochen-Konrad Fromme Heidemarie EhlertNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei diePDS eine Redezeit von 5 Minuten erhalten soll. Gibt esdagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann istes so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Dr. Uwe-Jens Rössel von der PDS-Fraktion dasWort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Bund und auch die Län-der haben die finanziellen Grundlagen kommunalerSelbstverwaltung ausgezehrt. Die kommunalen Inves-titionen entwickeln sich rückläufig. Die Möglichkeiten,Zuschüsse an soziale, soziokulturelle und ökologischeVereine bei der Erfüllung der so genannten freiwilligenAufgaben zu geben, sind spürbar eingeschränkt. DerBund und auch die Länder tragen damit dazu bei, dassdie demokratischen Grundlagen dieses Staates zumin-dest geschwächt werden. Das ist nicht hinnehmbar.
Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinba-rung zugesagt, die Finanzkraft der Kommunen zu stär-ken und der kommunalen Selbstverwaltung neuen An-schub zu geben. Wer betrachtet, was seit dieser Zeit pas-siert ist, muss maßlos enttäuscht sein. Die Einsetzungeiner internen Regierungskommission mag unterstüt-zenswert sein, reicht aber nicht aus. Nehmen wir dieFakten, wie der Bund speziell die kommunale Finanz-ausstattung beeinträchtigt: Die Sanierung des Bundeshaushaltes – dies liegtnur wenige Wochen zurück – wird vorwiegend zu Las-ten der sozial Schwachen, aber auch der Länder undKommunen vollzogen. Der Bund hat versucht, etwa3 Milliarden DM der Einsparungen zu Lasten der Län-der bzw. der Kommunen zu verlagern. Die Abschaffungder originären Arbeitslosenhilfe, ein sozialpolitisch ver-werflicher Akt, hat die finanziellen Grundlagen derKommunen allein mit nahezu 1 Milliarde DM ohne ent-sprechenden Ausgleich belastet. Die auswuchernden So-zialhilfeetats sind dadurch weiter angestiegen und ha-ben die Möglichkeiten, Probleme im Interesse der Bür-gerinnen und Bürger zu lösen, erheblich geschmälert.Darüber hinaus wurde der Unterhaltsvorschuss des Bun-des weggekippt und auf die Finanzgrundlagen derKommunen verlagert. Auch das ist nicht hinnehmbar.Mit der Unternehmensteuerreform, die vorgesehenwird, geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg.Durch die eingeräumte Möglichkeit der Verrechnungdes Gewerbesteueraufkommens mit der Einkommens-teuerschuld werden die Kommunen, sollte dieser Ge-setzentwurf im Bundestag verabschiedet werden, vomJahre 2001 bis zum Jahre 2004 mit Belastungen in Höhevon 4,5 Milliarden DM betroffen. Das sind die neuestenSchätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebun-des – eine unverantwortliche Situation.
Zugleich soll die Gewerbesteuerumlage als Ausgleich –diese Umlage ist an Bund und Länder zu zahlen; vondiesem Aufkommen haben die Gemeinden nichts – nachdem Willen der Bundesregierung von derzeit 20 Prozentauf 26 Prozent im Jahr 2001 gesteigert werden. Das be-deutet, dass die Kommunen 4,1 Milliarden DM, die ih-nen zurzeit noch zur Lösung ihrer eigenen Aufgaben zurVerfügung stehen, nicht mehr haben würden. All das zeigt, die rot-grüne Bundesregierung hat ihreKoalitionsvereinbarung offenbar ad acta gelegt und so-gar einen gegenteiligen Weg eingeschlagen. Das istnicht zu verantworten.
Dem steht gegenüber, dass die PDS-Bundes-tagsfraktion ein alternatives Angebot für den Einstieg ineine kommunale Finanzreform gemacht hat. Dieser Ein-stieg beinhaltet insbesondere folgende Grundsätze: Wirsind erstens dafür, dass auf Bundesebene endlich das sogenannte Konnexitätsprinzip eingeführt wird. Es be-sagt, dass der Bund und auch die Länder bei der Verla-gerung von Aufgaben an die Städte und Gemeindenauch dafür zu sorgen haben, dass die finanziellen Mög-lichkeiten gleichermaßen übertragen werden.
Dieser Grundsatz wird vehement belastet und verletzt.So werden etwa 25 Prozent der Sozialhilfekosten derGemeinden alleine dafür genutzt, die finanziellen Folgender Langzeitarbeitslosigkeit zu bezahlen, eine Aufgabe,die ganz und gar nichts mit der Verantwortung derKommunen und ihrer Daseinsvorsorge zu tun hat.Zweitens verlangen wir, dass die Gemeinden stabile,sichere, eigenverantwortliche Planungsgrundlagen fürihr kommunales Handeln erhalten. Als einen erstenSchritt schlagen wir vor, den Anteil der Städte und Ge-meinden an der Lohn- und Einkommensteuer von der-zeitig 15 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das ist ge-rade einmal der Ausgleich für Fehlentwicklungen dervergangenen Jahre.Drittens. Besonders belastet und betroffen sind auf-grund der eigenen Steuerschwäche die ostdeutschenGemeinden. Daher fordern wir die Wiederauflage einerkommunalen Investitionspauschale des Bundes, wasdurchaus verfassungsrechtlich möglich ist und wie wires im Grundsatz 1991 und 1993 bereits hatten. Dadurchkönnten die Gemeinden in Abhängigkeit von ihrer Ein-wohnerinnen- und Einwohnerzahl über stabile Möglich-keiten verfügen, die rückläufige Investitionstätigkeit zuVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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stoppen, die die Arbeitslosenzahlen so besonders drama-tisch nach oben getrieben hat.
Wir verlangen, dass auch ökologische Momente beider Erhebung der Grundsteuer berücksichtigt werden.Hier gibt es Chancen, die es zu nutzen gilt.Ich bitte Sie, im Interesse der Städte, Gemeinden undLandkreise, ihrer Einwohnerinnen und Einwohner so-wie des sozialen Milieus in den Städten und Gemein-den: Stimmen Sie dem Antrag der PDS für eine Re-form der Kommunalfinanzen zu und lehnen Sie den Beschlussantrag des federführenden Finanzausschussesab.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Als
nächster Redner hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Man muss den Zuhörern auf den Rän-gen, aber auch den Menschen draußen zu dieser Debat-te sagen, dass am 13. Februar in Halle Oberbürger-meisterwahl ist und der Kollege Rössel dort Kandidatist.
Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die PDSdieses Thema rechtzeitig entdeckt hat, um es heute hierzu behandeln.
Herr Kollege Dr. Rössel, wir kennen uns ja ganz gut.Trotzdem meine ich, Sie müssten nicht Oberbürgermeis-ter in Halle werden. Ich bin dafür, dass Ingrid HäußlerOberbürgermeisterin in Halle wird.
– Dass er für Sie ein Problem ist, kann ich mir vorstel-len.
Politik erfährt der Bürger, wenn er nicht gerade Be-sucher in diesem Hause ist, am unmittelbarsten in seinerKommune, in seiner Stadt, in seiner Gemeinde, in sei-nem Landkreis, sei es zum Beispiel durch die Erhöhungder Müllgebühren, für die die Gemeinde die Verantwor-tung trägt, sei es durch die Unterrichtsversorgung in denSchulen für die Kinder, für die das Land verantwortlichzeichnet, oder sei es durch die Verbesserung der Rah-menbedingungen im Sportverein der Gemeinde, für dieder Bund gesorgt hat, indem er zum Beispiel die Übungsleiterpauschale um 50 Prozent heraufgesetzt hat.
Die Sozialdemokratische Partei ist mit ihren Land-tagsfraktionen und mit ihrer Bundestagsfraktion sehrstark in den Kommunen verwurzelt. Wir sind die Kom-munalpartei schlechthin, und das seit über 100 Jahren.
– Das wird auch so bleiben, Herr Kollege, völlig richtig.
Deshalb, Herr Kollege Dr. Rössel, bedarf es IhresAntrages zu den Kommunalfinanzen nicht. Denn dieKoalitionsfraktionen – Sie haben das in Ihrem Antrag jaaus der Koalitionsvereinbarung abgeschrieben – habenvereinbart, die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prü-fung zu unterziehen. Deshalb ist Ihr Antrag heute über-flüssig und wir werden ihn ablehnen.
Außerdem, Herr Kollege, ist Ihr Antrag vom Inhalther so gestrickt, dass er sowieso abzulehnen ist. Sie wol-len den Kommunen, wenn man alles zusammenrechnet,was Sie in Ihrem Antrag aufführen, zusätzlich36 Milliarden DM zukommen lassen.
Sie wollen das erreichen, indem der Bund 8 Milliar-den DM aus der Sozialhilfe übernimmt, indem den Ost-kommunen vom Bund eine Investitionspauschale von3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wird und indemBund und Länder zusammen auf 14 Milliarden DM ausder Einkommensteuer zugunsten der Kommunen ver-zichten. Das macht zusammen schon 25 Milliarden DM,von denen Sie aber nicht sagen – das ist jetzt mein Vor-wurf –, wie sie finanziert werden sollen. Dafür gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Die Bundes-regierung könnte ein Sparpaket II auflegen. Wenn ichmich allerdings an das Lamento erinnere, das Sie beimSparpaket I, beim Konsolidierungsprogramm, ange-stimmt haben, scheint das auszuscheiden. Es bleibt alsonur eine Steuererhöhung übrig. Sie sagen aber nicht,welche Steuern Sie erhöhen wollen, denn Ihre Wunder-waffe Vermögensteuer wollen Sie ja zusätzlich mit5 Milliarden DM an die Kommunen durchreichen, wieauch weitere 6 Milliarden DM aus der Ausweitung desKreises der Gewerbesteuerpflichtigen.Also was bleibt übrig, um 25 Milliarden DM einzu-fahren? Man muss die Mehrwertsteuer um zwei Pro-zentpunkte anheben. Man sollte also den Menschen inVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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7886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Halle auch einmal deutlich machen, was hinter IhrenVorschlägen an Konsequenzen steht.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert?
Bitte schön.
Herr
Seifert.
Lieber Herr Kollege, Sie wer-
fen uns gerade vor, dass wir keine Finanzierungsvor-
schläge für das Geld machen, das der Bund an die
Kommunen weiterreichen soll. Wollen Sie nicht zumin-
dest einräumen, dass es unmittelbar zur Konsumption
beiträgt, wenn wir Geld in diesen Bereichen in die
Kommunen geben, das heißt, das Geld unmittelbar wie-
der in den Kreislauf geht, sodass ein sich selbst tragen-
der Effekt zu erwarten ist, den Sie überhaupt nicht in
Rechnung gestellt haben?
Wenn ich das richtig ver-
standen habe, meinen Sie, dass, wenn man 36 Milliarden
DM an die Kommunen gibt und sie nicht ge-
genfinanziert, das durch einen selbsttragenden Auf-
schwung quasi wieder eingespielt wird. Dieses Argu-
ment habe ich bei Ihnen nicht gehört, als es darum ging,
die Unternehmensteuerreform und die Einkommensteu-
erreform zu gestalten. Da sagen wir: Bestimmte Sum-
men muss man als Staat für verzichtbar erklären, um so
etwas zu machen. Dabei haben Sie immer vehement da-
gegen argumentiert. Insofern verstricken Sie sich auch
hier wieder in Widersprüche. Was Sie betreiben, ist rei-
ner Populismus.
Meine Damen und Herren, wir brauchen im Moment
keine Steuererhöhungen. Was wir brauchen, sind Steu-
ersenkungen, und das am Beginn eines Konjunkturauf-
schwungs. Die Bundesregierung ist dabei auf sehr gutem
Weg.
Die zweite Stufe der Einkommensteuerreform ist ge-
rade zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Sie
bringt der durchschnittlichen Arbeitnehmerfamilie, ver-
glichen mit dem Jahr 1998, dem letzten Jahr der Kohl-
Regierung, einen Zuwachs von über 2 000 DM im Jahr.
Durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform
auf den 1. Januar 2001 wird die Entlastung auf über
3 000 DM weiter ansteigen. Das, meine Damen und
Herren, ist die größte Steuerreform, die es in der Ge-
schichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Das ist
erst durch konsequente Sparpolitik möglich geworden,
und zwar durch die konsequente Sparpolitik dieser Bun-
desregierung und insbesondere von Finanzminister Hans
Eichel.
Diese Sparpolitik ist bei Ihnen, bei der versammelten
Opposition von PDS bis CSU, auf vehemente Ableh-
nung gestoßen. Aber dieses Zukunftsprogramm 2000 hat
erst die Spielräume eröffnet, um Bürger und Unterneh-
men weiter von Steuern zu entlasten und gleichzeitig die
Neuverschuldung herunterzufahren.
Der Staat, meine Damen und Herren, muss lernen,
wieder mit dem Geld auszukommen, das die Bürger ihm
geben. Diese Erkenntnis hat es in den 16 Jahren Regie-
rungszeit von Helmut Kohl nicht gegeben. Im Gegenteil:
Die Staatsverschuldung wurde in Schwindel erregende
Höhen getrieben. 1,5 Billionen DM liegen als Schulden-
berg vor und sind abzuarbeiten. Sie bedingen eine jährli-
che Zinsbelastung des Bundes von 82 Milliarden DM –
eine Summe, die sich der Normalbürger nicht vorstellen
kann.
Man kann es sich vielleicht so verdeutlichen: Bei 82
Millionen Bürgern entfallen etwa 1 000 DM auf den
Kopf jedes einzelnen Mitbürgers. Jeder, von den Neuge-
borenen im Kreißsaal bis zu den Menschen auf dem
Sterbebett, müsste also zu Beginn jedes Jahres erst ein-
mal 1 000 DM auf den Tisch legen. Jeder muss 1 000
DM auf den Tisch legen, ohne damit Anspruch auf staat-
liche Leistungen zu haben. Das ist die Voraussetzung
dafür, dass der Staat überhaupt anfangen kann, etwas zu
tun.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Rössel?
Sehr gerne.
Herr
Rössel.
Lieber Kollege
Scheelen, Sie haben festgestellt, dass die Bundesregie-
rung das Steuerentlastungsgesetz um ein Jahr auf das
Jahr 2001 vorziehen wird. Können Sie bestätigen, dass
sich dadurch negative finanzielle Auswirkungen auf die
Kommunen in einem Umfang von 3,5 bis 3,8 Milliarden
DM jährlich ergeben, da die Kommunen mit 15 Prozent
an der Lohn- und Einkommensteuer beteiligt sind?
Wenn ja, wie wollen Sie diese Verluste für die Kommu-
nen ausgleichen?
Herr Kollege Dr. Rössel,eines ist klar: Wenn man Steuersenkungen im Einkom-mensteuerbereich betreibt, dann sind die prozentualenAnteile der Ausfälle, die auf die verschiedenen staatli-chen Ebenen entfallen, auch von diesen staatlichen Ebe-Bernd Scheelen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7887
nen zu tragen. Die Gemeinden sind mit 15 Prozent ander Einkommensteuer beteiligt. Jetzt komme ich auf Ihr Argument von eben zurück,das zeigt, wie populistisch Sie argumentieren. Sie habengesagt, man müsse eine Nettoentlastung vornehmen,damit es einen selbsttragenden Aufschwung gibt, der dieSteuereinnahmen wieder sprudeln lässt. Genau das isthier unser Ansatz: Wir wollen die Einkommen- und Un-ternehmensteuern senken, um den Menschen mehr Geldin die Hand zu geben, damit die Konjunktur weiter anFahrt gewinnen kann und sich der Aufschwung dadurchstabilisiert.
Genau das ist die Politik, die wir betreiben. Wenn Siesie unterstützen, ist es umso besser. Meine Damen und Herren, die 82 Milliarden DM –an dieser Stelle wurde ich durch die Zwischenfrage un-terbrochen – bedeuten pro Sekunde 2 400 DM Zinsen,die der Staat auf den Tisch legen muss. Während meinerzehnminütigen Redezeit sind das, sollte ich sie ausnut-zen, etwa 2 Millionen DM, die der Staat aufbringenmuss. Der Staat aber sind die Bürgerinnen und Bürger,die durch ihre Arbeit und ihre Leistungen an den Staatdiese Schulden abtragen müssen. Deswegen war esdringend an der Zeit, eine Trendwende einzuleiten. Die-se ist mit dem Zukunftsprogramm gelungen.
Wir werden Jahr für Jahr die Neuverschuldung re-duzieren und im Jahr 2006 zum ersten Mal seit Jahr-zehnten einen ausgeglichen Haushalt vorlegen. Erstdann können wir daran gehen, den Schuldenberg abzu-bauen und die Belastungen der Zukunft zu reduzieren. Das Zukunftsprogramm, Herr Dr. Rössel, belastet dieKommunen unterm Strich eben nicht; insofern sind IhreRechnungen falsch. Die Gemeinden profitieren in vielenBereichen. Einige will ich Ihnen nennen: Sie profitierenzum Beispiel von der Begrenzung des Anstiegs der Re-gelsätze in der Sozialhilfe, von der Begrenzung des Zu-wachses der Pensionen und der Beamtengehälter, vonder Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, den auchdie Kommunen als Arbeitgeber zu zahlen haben – ihnhaben wir jetzt schon um einen Prozentpunkt gesenkt,und weitere Senkungen sind im Rahmen der ökologisch-sozialen Steuerreform vorgesehen –, und von Maßnah-men im steuerlichen Bereich, beispielsweise von derAbschaffung des Vorkostenabzugs bei den eigenheimzu-lagebegünstigten Wohnungen und von der Senkung derHöchstsätze für die Eigenheimzulage. Daraus – das wis-sen auch Sie – finanzieren wir eine Erhöhung desWohngeldes, und das entlastet wiederum die Kommu-nen bei der Sozialhilfe, die sie zu zahlen haben. Herr Kollege Rössel, ich muss Ihnen noch einmal wi-dersprechen: Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind invielen Kommunen rückläufig, Gott sei Dank.
– Doch, das ist in vielen Kommunen der Fall.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ehlert?
Ich bin schon von meinenKollegen darauf hingewiesen worden, dass wir ein we-nig auf die Zeit achten müssen. Ich weiß, dass die Fra-gen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden, abersie verlängern die gesamte Dauer der Debatte. Deshalbbitte ich Sie, Frau Kollegin Ehlert, um Verständnis, dassich jetzt keine Frage mehr zulassen möchte.
– Wir unterhalten uns hinterher. Die rückläufigen Ausgaben der Sozialhilfe in mehre-ren Kommunen – wir eruieren gerade, wie viele es ge-nau sind – hängen unter anderem mit Anstrengungen zu-sammen, die die Bundesregierung zum Beispiel mit demProgramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit, das Arbeitsminister Riester aufgelegt hat, unter-nommen hat. Dieses 2 Milliarden DM teure, überaus er-folgreiche Sofortprogramm hat dazu geführt, dass200 000 Jugendliche von der Straße geholt werdenkonnten. Das ist eine großartige Leistung, die sich imüberproportionalen Rückgang der Arbeitslosenquote beiden Jugendlichen manifestiert.
Die ökologisch-soziale Steuerreform belastet dieKommunen unter dem Strich nicht, auch wenn in derÖffentlichkeit Gegenteiliges behauptet wird. Die mode-rate Erhöhung der Kosten – wir haben uns für die Hal-bierung der Sätze ausgesprochen und sie beschlossen –bei Strom und Diesel beim öffentlichen Personennah-verkehr wird durch die Entlastungen bei der Rentenver-sicherung kompensiert. Weitere Maßnahmen dieses Ge-setzes entlasten die Betreiber des öffentlichen Personen-nahverkehrs – das sind in der Regel die Stadtwerke –auch auf anderen Gebieten. Berlin – das habe ich heute Morgen im Radio ge-hört – hat die Konsequenz daraus gezogen, die Preise indiesem Jahr nicht zu erhöhen. Dazu kann ich nur sagen:Gut so, das ist die richtige Entscheidung.Fazit: Die Städte, Gemeinden und Kreise sind beidieser Bundesregierung in den besten Händen.
Wir werden die Gemeindefinanzen reformieren – das istin der Koalitionsvereinbarung festgelegt –, und dazusind bei Bund und Ländern Arbeitsgruppen eingerichtet,deren Ergebnisse allerdings – hier bitte ich um ein wenigGeduld – abzuwarten sind. Es macht keinen Sinn, dieDiskussionen in den Arbeitsgruppen durch öffentlicheDebatten zu begleiten. Dabei kommt in der Regel nichtsherum.Den Gemeinden kann am besten durch eine Politikfür mehr Wachstum und Beschäftigung geholfenBernd Scheelen
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7888 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
werden. Mehr Arbeitsplätze bedeuten weniger Ausgabenbei der Sozialhilfe. Wirtschaftsaufschwung bedeutetsprudelnde kommunale Finanzquellen.Eine Gemeindefinanzreform muss sich allerdingsauch an dem Ziel orientieren, die Einnahmen der Kom-munen zu verstetigen. Auch muss ein Bindeglied zwi-schen Wirtschaft und Kommunen erhalten bleiben, wiees im Moment und seit Jahren die Gewerbesteuer dar-stellt; das wird auch in Zukunft so sein müssen. Zudemmüssen wir die Finanzkraft der strukturschwachenKommunen stärken.Wer allerdings glaubt, dafür müsse man Steuern er-höhen, der irrt; denn der Staat – ich wiederhole mich –muss mit dem Geld auskommen, das ihm die Bürger ge-ben. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch fürLänder und Gemeinden. Der Streit wird darüber zu füh-ren sein, wer mit welchen Finanzmitteln auf welcherEbene welche Aufgaben zu erfüllen hat. Dazu erarbeitendie Bund-Länder-Arbeitsgruppen Vorschläge. Ich bindafür, dass wir diese diskutieren, wenn sie auf demTisch liegen, aber nicht heute.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Jochen-Konrad From-
me von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheelen,damit es keine Legenden gibt, eines vorab: Von den 1,5 Billionen DM Schulden musste nahezu die Hälf-te aufgewendet werden, um die Folgen von 40 Jahren Sozialismus zu beseitigen. Diesem Programm haben Sie im Bundesrat uneingeschränkt zugestimmt, so-dass Sie mit die Verantwortung dafür tragen. Das kön-nen Sie nicht einfach den anderen in die Schuhe schie-ben.
Sie sagen – und das ist richtig –, dass wir keine Steu-ererhöhung gebrauchen können. Aber Sie tun et-was anderes: Über die AfA-Tabellen erhöhen Sie dieSteuern klammheimlich in Milliardenhöhe; über die Ökosteuer beschaffen Sie sich neue Steuermittel. Es sind keine Steuersenkungen, sondern Steuererhöhun-gen.
Wie gut die Kommunen bei ihnen aufgehoben sind,erkennt man auch an Ihren Versprechungen zur Übungs-leiterpauschale.
Noch im Frühjahr letzten Jahres haben Sie 4 800 DMversprochen, mit 3 600 DM haben Sie dieses Verspre-chen jetzt „eingelöst“.Meine Damen und Herren, die kommunalen Spitzen-verbände haben in der Winterumfrage festgestellt, dassden Kommunen im nächsten Jahr wieder ein Defizit von2,6 Milliarden DM ins Haus steht. Nach wie vor müssenviele Städte laufende Ausgaben dauerhaft durch Kreditefinanzieren, weil ihre Verwaltungshaushalte hohe Defi-zite ausweisen – Originalton Hajo Hoffmann, Städte-tagspräsident und bekanntermaßen Ihr Parteifreund, alsoein unverdächtiger Kronzeuge.
Wie es wirklich um die Kommunen aussieht, machtinsbesondere das Beispiel Niedersachsen, in dem dieserBundeskanzler besondere Verantwortung trug, deutlich.Die Kommunen haben einen Kassenkredit von 2,5 Mil-liarden DM aufgehäuft. Das heißt: In dieser Höhe habensie laufende Ausgaben durch Kredite finanziert, was ei-gentlich verboten ist. Das kennzeichnet die Situation.Folge ist ein Rückgang der kommunalen Investitionen.Wenn die Kraft für Ausgaben nicht vorhanden ist, hatdies natürlich erhebliche Auswirkungen auf den volks-wirtschaftlichen Kreislauf.Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen auf-grund bundespolitischer Entscheidungen Einnah-men fehlen oder Ausgaben aufgebürdet werden,sich an die jeweilige Landesregierung zu wenden.Die Bundesregierung macht es sich allerdings zuleicht, wenn sie die Finanznöte der Städte und Ge-meinden mit dem Hinweis auf die Finanzverant-wortung der Länder abtun. Für einen Teil derKommunalhaushalte, vor allem für die Jugend- undSozialhilfe, ist das Ausgabevolumen bundesrecht-lich vorgegeben. Zu Recht fordern die kommunalenSpitzenverbände für solche Fälle, dass der Bundnach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufga-benübertragung und Finanzverantwortung diekommunalen Zweckausgaben trägt, soweit diekommunalen Verwaltungen kein nennenswertesAusführungsermessen haben. Mehr noch: Dasdurch die Finanzkrise angespannte Verhältnis zwi-schen den Kommunen und den Ländern kann nurdurch eine Gemeindefinanzreform verbessert wer-den, die das Verhältnis von Aufgaben und Finanz-ausstattung wieder in Übereinstimmung bringt. Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder, als ernoch Ministerpräsident war und noch nicht hier in BerlinRegierungsverantwortung hatte.
Die Frage der Gemeindefinanzreform lässt sich inmeinen Augen nicht isoliert betrachten. Sie gehört inden Zusammenhang mit der Reform des Föderalismus.Deswegen müssen wir uns mit diesen Fragen viel grund-sätzlicher beschäftigen.Deswegen, meine Damen und Herren von der PDS,greift Ihr Antrag auch viel zu kurz. Seine UmsetzungBernd Scheelen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7889
würde zwar Geld für die Kommunen bedeuten – das wä-re auch wünschenswert –, aber er verändert die Struktu-ren nicht, und deshalb ist er abzulehnen.Wer ein föderales System will, der muss auch eineföderale Finanzverfassung haben. Das heißt, Verant-wortung für Einnahmen und Ausgaben auf jeder Ebenedes Staates wahrzunehmen. Nur dann, wenn es diesewirkliche Verantwortung in einer Hand gibt, können wirauch dazu kommen, dass vernünftig gewirtschaftet wirdund die Kommunen für das Ergebnis ihres Handelnsverantwortlich gemacht werden können. Davon sind wirmeilenweit entfernt, und die Verantwortung dafür liegtbei Bund und Ländern.Veränderungen sind nicht nur deshalb notwendig,weil Art. 28 GG Rechnung getragen werden muss, son-dern weil wir davon überzeugt sind, dass kommunaleSelbstverwaltung und damit dezentrale Entscheidungs-findung, aber auch dezentrale Kreativität und Wettbe-werb unter den Kommunen nötig sind. Was für die Län-der gilt, das gilt natürlich auch für die Kommunen. Die kommunale Finanzausstattung ist in mehrfacherHinsicht strukturell mangelhaft. Erstens. Originäre Aufgaben müssen mit originärenEinnahmen finanziert werden. Der hohe Anteil von Zu-weisungen und Umlagen an den kommunalen Einnah-men zeigt, dass dieses nicht gewährleistet ist. Zweitens. Der Zusammenhang zwischen Ausgabenund staatlichen Aufgaben muss merklich sein. Wennder Bürger nicht spürt, dass eine neue Forderung auchGeld kostet, dann wird er mehr fordern, als eigentlich zubezahlen ist. Wenn diese Merklichkeit nicht wieder her-gestellt wird, werden wir die Vollkaskomentalität nichtbeseitigen können. Das ist ein struktureller Mangel, unddeswegen müssen wir dies ändern. Das gilt insbesonderefür die sehr ausgabenträchtige Ebene der Landkreise, diein Bezug auf die Finanzen im Augenblick überhauptkeine Achse zu ihren Bürgern haben. Man kann unge-straft neue Turnhallen, neue Schulen und Ähnliches for-dern. Das müssen wir ändern.Drittens. Diese finanzielle Verbindung muss abernicht nur zwischen der Bürgerschaft und dem Staat be-stehen, sondern sie muss auch zwischen der Wirtschaftund dem Staat bestehen, damit man aufeinander Rück-sicht nimmt, damit man auf die gegenseitigen Interesseneingeht. Deshalb muss auch im Rahmen der Unterneh-mensteuerreform über diese Fragen neu nachgedachtwerden. Wir haben deshalb in unserem Konzept vorge-sehen, dass uns zunächst einmal ein Gutachter beratensoll.
Herr
Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Rössel?
Aber bitte.
Lieber Kollege
Fromme, Sie haben das Problem der Landkreisfinanzie-
rung angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen eine Frage
stellen.
Würden Sie dafür plädieren, den Landkreisen eine ei-
gene Steuerhoheit zuzuerkennen? Sollten sie eigene
Steuern erheben können? – Dazu möchte ich gern Ihre
Position erfahren.
Ich binschon dafür, dass eine finanzielle Achse zwischen denBürgern und den Landkreisen geschaffen wird. Ob dasim Wege der Erhebung von Steuern passieren muss oderob man das anders regeln kann, muss man im Laufe derDiskussion sehen. Dazu gibt es sehr unterschiedlicheVorstellungen. Auf jeden Fall muss es nicht eine neueSteuer geben.Wenn ich von Strukturveränderungen rede, bezieheich mich auf die Frage der qualitativen Verbesserungender Kommunalfinanzen. Zu der Frage des Volumenskomme ich an anderer Stelle.Viertens. Trotz Ausweitung der Aufgaben ist der An-teil der Kommunen an den Steuereinnahmen gesunken.Hatten die Kommunen 1991 noch 12,8 Prozent desSteueraufkommens, so erhielten sie 1999 nur noch 12,3Prozent. Das wird nach der Finanzplanung im nächstenJahr ähnlich sein – trotz erheblich gestiegener Aufwen-dungen im Bereich der Jugendhilfe, trotz erheblich ge-stiegener Aufwendungen im Bereich der Sozialhilfe.Fazit: Qualität und Quantität der kommunalen Fi-nanzausstattung stimmen nicht mehr. Deswegen brau-chen wir eine Gemeindefinanzreform im Rahmen einerFöderalismusreform.
Die neue Regierung hat versprochen, dass es nicht zuLastenverschiebungen kommt. Im Koalitionsvertrag ist– das wurde hier bereits gesagt – das Konnexitätsprinzipverankert. Das bedeutet, dass eben Aufgaben und Aus-gaben miteinander in Beziehung stehen sollen. Meine Damen und Herren, Anspruch und Wirklich-keit liegen bei Ihnen – wie zum Beispiel auch bei dersteuerlichen Behandlung der Übungsleiterpauschale – weit auseinander. Die jetzige Bundesregierung hat mit dem Sparpaketschwer in die kommunalen Haushalte eingegriffen. Daswar zum großen Teil kein Sparpaket, sondern ein Ver-schiebebahnhof. Allein mit der Neuregelung der originä-ren Arbeitslosenhilfe, die hier genannt wurde, hat mannach den Aussagen des Städte- und Gemeindebundescirca 2,5 Milliarden DM mal eben zulasten der kommu-nalen Kassen verschoben.Ein zweiter schwerer Sündenfall dieser Regierung of-fenbart sich in der Finanzierung des Familienaus-gleichs.Die A-Länder haben 1996 eine Sonderregelungdurchgesetzt, nach der außerhalb der üblichen De-ckungsquotenberechnung die Finanzierung des Famili-enlastenausgleichs im Verhältnis 74 zu 26 festgeschrie-Jochen-Konrad Fromme
Metadaten/Kopzeile:
7890 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
ben wurde. Manche von Ihnen wollen das nicht mehrwahrhaben. Zwei von den damaligen Hauptmatadoren,Herrn Voscherau und Herrn Lafontaine, haben Sie un-terwegs verloren. Aber der heutige Bundeskanzler undder heutige Finanzminister Eichel haben als Minister-präsidenten daran mitgewirkt. In den Unterlagen zumGesetzgebungsverfahren war ausdrücklich von einemSonderlastenausgleich die Rede. Es sollte nicht, wie Siees heute glauben zu machen versuchen, im Rahmen desüblichen Berechnungsverfahrens geregelt werden. Soändert sich mit der Position auch die Einstellung.Nur, aus kommunaler Sicht kann man Ihnen das nichtdurchgehen lassen; denn das bedeutet, dass im Laufe derJahre den Kommunen 6 Milliarden DM vorenthaltenworden sind. Das Vorenthalten von 6 Milliarden DMbedeutet, dass die Kommunen ihrem Auftrag nicht mehrin vollem Umfang nachkommen können. Das bedeutet,dass die Ausgaben für das kulturelle Leben gekürzt wer-den müssen. Wenn Sie einmal offenen Auges durch dieStädte und Gemeinden fahren, dann werden Sie sehen,dass im Augenblick die Unterhaltung der Straßen undder Hochbauten sträflich vernachlässigt wird. Wir wer-den bitter erfahren, dass in Zukunft eine Bauhypotheknach der anderen aufgenommen wird. Jeder Einfamili-enhausbesitzer weiß, dass eine unterlassene Unterhal-tungsmaßnahme am Ende sehr viel teurer wird. Es droht neues Ungemach. Wenn der von Ihnen neuins Amt berufene Kartellamtspräsident den Querverbundüber den Weg des Wettbewerbrechts aus den Angelnheben will – hier geht es um ein Finanzvolumen von10 Milliarden bis 20 Milliarden DM, mit dem im Au-genblick die Kommunen zum Beispiel den ÖPNV sowiekulturelle und sportliche Einrichtungen finanzieren –,dann müssen Sie für eine Ersatzfinanzierung sorgen.Das Ganze setzt eine Abwärtsspirale in unsererVolkswirtschaft in Gang: Es fehlen Aufträge. Das Feh-len von Aufträgen bedeutet weniger Arbeit. Dies bedeu-tet wiederum einen Mehrbedarf für die Arbeitslosenun-terstützung. Dies bedeutet weniger Steuereinnahmen.Deswegen muss hier Grundlegendes geschehen. Aber das Wichtigste – das kann auch schnell erledigtwerden – ist eine gute Wirtschaftspolitik für mehr Arbeitund Beschäftigung. Eine solche Politik kann im Rahmendes vorhandenen Systems – ohne Korrekturen – fürmehr Geld in den kommunalen Kassen sorgen. In dem,was wir für richtig halten, unterscheiden wir uns sehrdeutlich von Ihnen. Ich möchte jetzt nicht im Einzelnen die Fragen derUnternehmensteuerreform aufribbeln. Aber ich möch-te einen Punkt herausgreifen, nämlich die Anrech-nung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer.Sie wollen das auf der Basis des doppelten Messbetragesmachen. Das ist eine Einladung zur Anhebung der Gewerbesteuer; denn jede Gemeinde, deren Hebesatzzurzeit unter 400 Punkten liegt, kann die Gewerbesteu-er auf 400 Punkte anheben, ohne dass es den Steuer-pflichtigen selber trifft; denn dieser bekommt es vom Finanzamt wieder. Ich möchte einmal den Stadt-kämmerer sehen, der angesichts der Notlage, in die Sieihn durch Ihre Politik gebracht haben, dies nicht tunwird.Sie merken: Es gibt strukturelle Mängel in Ihrer Steu-erpolitik en masse. Die Kommunen sind bei Ihnen nichtgut aufgehoben, wie Sie das versprochen haben. Ganzim Gegenteil: Still und heimlich werden den Kommunenüberall neue Daumenschrauben angelegt. Sie werdenneu belastet und können ihre Aufgaben nicht mehr erfül-len. Mit dieser Koalition sind die Kommunen wahrlichnicht gut bedient. Aber das ändert nichts daran, dass dieUnion den Antrag der PDS ablehnt; denn dieser Antragsieht keine strukturellen Veränderungen vor. Aber eineGemeindefinanzreform muss strukturelle Veränderun-gen umfassen.Danke schön.
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christine
Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit der Be-schreibung irgendwelcher Horrorszenarien bezüglich derfinanziellen Entwicklung in den Kommunen wird keinerKommune geholfen. Wir müssen stattdessen die födera-len Finanzen grundsätzlich und umfassend neu ordnen.Um dies zu erreichen, haben wir aufgrund des Urteilsdes Bundesverfassungsgerichts vom 11. November letz-ten Jahres den Auftrag erteilt, dass der Finanzausgleichinsgesamt auf eine neue Grundlage zu stellen ist. DieArbeiten an diesem Gesetz werden forciert fortgeführt.Die Kommunen werden selbstverständlich – das ist fürdie Regierung eine klare Sache – an diesen Arbeiten be-teiligt. Das heißt, man versucht, die vorhandenen Prob-leme aufzudröseln.Da hilft ein solcher Antrag wenig. Wir wissen alle,dass die derzeitige Vermischung von Kompetenzen zwi-schen Bund, Ländern und Kommunen und auch diestaatlichen Finanzströme innerhalb des föderalen Auf-baus immer unübersichtlicher geworden sind.
Das hat nicht die neue Regierung zu verantworten;vielmehr ist dies die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.Wir wissen alle, dass das von Mischfinanzierungen ge-prägte Bild oftmals auch für die finanzielle Verantwor-tung der einzelnen Ebenen und für den effizienten Um-gang mit Geldern nicht gerade förderlich ist.
Das ist ein Grundproblem, das gelöst werden muss.Herr Fromme, Sie haben angesprochen, dass Kom-munen auf bestimmten Maßnahmen sitzen bleiben. Dasliegt – man muss sagen: leider – oft auch daran, dassvonseiten der Länder Komplementärmittel eingestelltwerden sollen – die Aufträge waren genehmigt, dieKommunen haben Vorfinanzierungen geleistet –, diesesich dann aber aus der Finanzierungsverantwortung zumJochen-Konrad Fromme
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7891
gegebenen Zeitpunkt erst einmal zurückgezogen haben.Dementsprechend müssen die Kommunen mit einer ho-hen Zinslast vorfinanzieren. Wir kennen das vor allemaus Bayern.
Nicht ohne Not erzielt der bayerische Landeshaushaltzwar in der Öffentlichkeit eine gute Wirkung; aber da-hinter steckt auch, dass man viele Gelder noch nichtdurchgereicht hat.
In der neuen Finanzverfassung muss glasklar definiertwerden, welche Ebene für welche Aufgabe zuständig ist.Demzufolge muss die finanzpolitische Kompetenz ver-teilt werden. Mehr finanzielle Autonomie bedeutet einstärkeres Interesse an Steuereinnahmen und auch mehrWettbewerb zwischen den Standorten. Das sollte mannicht unterschätzen.Herr Rössel, Sie haben die Zahlen angesprochen.Niemand bestreitet, dass die Kommunen in den neuenBundesländern über einen sehr engen finanziellen Spiel-raum verfügen. Die Landesrechnungshöfe haben Bei-spiele für Ausgaben geliefert, über deren Sinn man strei-ten kann. Darüber sind wir uns in diesem Hause einig.Auf der anderen Seite muss man die Gesamtverantwor-tung des Bundes für die Entwicklung des Ganzen sehen.Wir sind Bundespolitiker. Ich verstehe gut, dass Sie,weil Sie in Halle Wahlkampf machen, versuchen,Kommunalpolitik in die Debatte einzubringen und dem-entsprechend hier den Kommunalpolitiker mimen. Wirtragen eine Gesamtverantwortung, und zwar für alleLänder und alle Kommunen.Wenn wir uns die Zahlen für 1999 anschauen, dannwird deutlich, dass der Bund und die Länder Defiziteausweisen, während die Kommunen mit einem Finanzie-rungsüberschuss von insgesamt 2,5 Milliarden DM we-sentlich günstiger dastehen. Zur Erinnerung: 1997 hattendie Kommunen noch ein Defizit von 5,9 Milliarden DM.Das Gesamtdefizit ist zurückgegangen, weil die Kom-munen ihrer Verantwortung, ihre Haushalte zu konsoli-dieren, Rechnung getragen haben.Ich möchte noch eine Prognose für das Jahr 2000 ab-geben. In den Zahlen des BMF wird davon ausgegan-gen, dass die Kommunen als einzige föderale Ebenemehr Einnahmen als Ausgaben haben werden. Die Redeist von 1,5 Milliarden DM.
Wenn man das Zukunftsprogramm 2000 anschaut,dann erkennt man, dass es Ihrerseits der Ehrlichkeit hal-ber angebracht wäre, diejenigen Teile, die sich von die-sem Reformpaket positiv auf die Kommunen auswir-ken – beispielsweise die Begrenzung des Rentenanstiegsoder die Eigenheimzulage –, anzuerkennen, statt es mitkeiner Silbe zu erwähnen. Wir müssen den Bogen etwasweiter schlagen: Das gesamte Zukunftsprogramm 2000,das wir seit über einem Jahr verwirklichen, ist natürlichauch Politik im Interesse der Kommunen. Wir setzen unsere Haushaltskonsolidierung fort. Wirsetzen ganz eindeutig auf eine wachstumsorientierteSteuerpolitik. Wir lenken den Fokus auf mehr Investiti-onen und Beschäftigung. Dies wird den Kommunen nüt-zen. Es bringt mehr Arbeitsplätze und baut die Sozialhil-fe ab. Das – nicht irgendwelche populistischen Forde-rungen – ist der richtige Weg.Danke schön.
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Kollege Rössel, Ihr Antrag ist PDS-typisch: Er zeigt Probleme auf, ohne in irgendeiner Wei-se Lösungsansätze zu bieten, allenfalls solche, die nichtrealisierbar sind.
– Herr Kollege Scheelen, wir können hier in einer hal-ben Stunde keine kommunalpolitische Generaldebatteführen.
Wenn wir eine solche führten, dann müsste man auf vie-les von dem eingehen, was Sie gesagt haben. Dann wür-de von Ihrem Anspruch, die Kommunalpartei inDeutschland zu sein, nicht allzu viel übrig bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau-chen eine radikale Selbstverantwortung der Kommu-nen. Das setzt aber voraus – Frau Scheel hat schon dar-auf hingewiesen –, auch die Verteilung von Steuerquel-len in einer Weise zu verändern, dass der erhöhtenSelbstverantwortung der Kommunen Rechnung getragenwird. Das wird aber nie Erfolg haben, wenn bei der Ver-teilung der Staatsaufgaben auf Bund, Länder und Ge-meinden alles so bleibt wie bisher.Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang, der dalautet: Reform der Finanzverfassung. Inzwischen hatauch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dieReform der Finanzverfassung unabweisbar ist. Nur indiesem Zusammenhang kann es die von niemandemmehr bestrittene Gemeindefinanzreform geben. Werdiese Voraussetzung nicht sieht, läuft mit allen Gedan-ken, Ideen und Anträgen schlicht und einfach ins Leere.Das Herumdoktern an Symptomen führt keinen Schrittweiter. Das gilt auch für den uns heute vorliegenden An-trag der PDS, der zwar – das räume ich ein – mancheReformnotwendigkeiten als Problem richtig beschreibt,aber keine realistischen Lösungen aufzeigt.Im Übrigen enthält der Antrag auch Horrorszenarien,die dem richtigen Gedanken von mehr Selbstverantwor-Christine Scheel
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7892 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
tung fundamental widersprechen. Darauf habe ich schonbei der Einbringung des Antrags in diesem Hause hin-gewiesen.
– Ich nenne als Beispiel nur die Revitalisierung der Ge-werbesteuer. Alles andere will ich heute nicht wiederho-len.Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom11. November des vergangenen Jahres rückt der Finanz-ausgleich, der Teil unserer föderativen Ordnung ist – dasist den meisten nicht mehr bewusst – in das Zentrum desöffentlichen Interesses.Im letzten Jahrzehnt hat der Umfang der Umvertei-lung von Steuereinnahmen zwischen den Gebietskörper-schaften ganz erheblich zugenommen, und das ganz ge-wiss nicht zum Vorteil der Kommunen. Daran haben al-lerdings auch die Länder ein erhebliches Maß an Mit-schuld.Die Gründe dafür liegen nicht allein in den Folgender deutschen Einheit. Nein, die Gründe liegen darin,dass es keinen angemessenen Finanzausgleich mehrgibt. Eine weit gehende Nivellierung ist zum Prinzipgeworden. Die damit verbundenen großen Probleme – inSonderheit für die Gemeinden – sind Anlass, nicht nurden Finanzausgleich, sondern die Gestaltung unserer fö-derativen Ordnung insgesamt zu überdenken. Wir müssen die Fehlentwicklungen, deren Vorhan-densein im Grundsatz von niemandem bestritten wird,stoppen und Prinzipien wie Eigenverantwortlichkeit,Subsidiarität und Solidarität in ihrem Verhältnis zuein-ander neu ordnen. Das ist unsere primäre Aufgabe. DerPDS-Antrag wird dieser Aufgabe in keiner Weise ge-recht. Darum wird die F.D.P.-Fraktion ihm auch nichtzustimmen.
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zu einer Reform der Kommunalfinan-
zierung, Drucksache 14/2556. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/1302 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfeh-
lung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
angenommen.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt 12:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Die Ergebnisse des Russland-Besuches des
deutschen Außenministers Joseph Fischer am
20. Januar 2000 und die Haltung der Bundes-
regierung zum Tschetschenienkrieg
Ich eröffne die Aussprache. Als Antragstellerin hat
die PDS Anspruch auf die erste Rede. Ich erteile das
Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke von der PDS-
Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir wollen mit dieser Aktu-ellen Stunde dem Bundestag die Gelegenheit geben, über den Krieg in Tschetschenien zu diskutieren. Unsschien, dass die von Außenminister Fischer in Moskaugeführten Gespräche dazu der richtige Anlass seien. Ichhätte mir allerdings gewünscht, dass der Bundestag un-ter Anwesenheit von noch mehr Abgeordneten zu einemfrüheren Termin darüber diskutiert hätte. Mein Dank analle Kolleginnen und Kollegen, die zu dieser Stunde andieser Debatte teilnehmen.Aus meiner Sicht ist die an der Reise des Außenmi-nisters nach Moskau geübte Kritik unangemessen. Kei-ner konnte erwarten, dass substanzielle Ergebnisse er-zielt werden. Ich halte es für notwendig, dass gerade inKrisenzeiten der Dialog nicht abreißt, man auf Dialogsetzt und daran arbeitet.
Das war übrigens schon zu Zeiten der alten Regierungso, wenn man zum Beispiel an den Krieg in Afghanistandenkt.Aus meiner Sicht ist eine Doppelstrategie der deut-schen Politik notwendig. Diese sollte aus einer striktenAblehnung des Krieges und dem gleichzeitigen Behar-ren auf Sicherheit für Russland bestehen. Es kann keinenZweifel geben: Der Krieg Russlands in Tschetschenienist nicht akzeptabel – weder moralisch noch politisch,noch völkerrechtlich.
Auch wenn dies in Moskau anders gesehen wird: Eshandelt sich um einen Krieg. Terroristen bekämpft mannicht mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und einer gan-zen Armee. Das Völkerrecht spricht in diesem Falle vonangemessenen Mitteln. Die hier eingesetzten Mittel sindnicht angemessen.Für mich steht auch fest, dass die Ursachen diesesKrieges nicht nur in Tschetschenien selbst, sondern auchin der russischen Innenpolitik zu suchen sind. Ich glau-be, dass der Aufstieg des amtierenden Ministerpräsiden-ten in gewisser Weise damit verbunden ist. Mich be-sorgt, dass man heute mit Kriegen und nicht mit FriedenWahlen gewinnen kann. Das möchte ich gerne geänderthaben.
Mich besorgt, dass ich keine politische KonzeptionRusslands, wie es aus diesem Krieg herauskommt, er-kennen kann. Eine solche politische Konzeption musseingefordert werden. Wir als Deutscher Bundestag soll-ten an unsere Kolleginnen und Kollegen in der russi-schen Duma appellieren, den Krieg in Tschetschenien zubeenden. Seitens der Duma sollte deutlich gemacht wer-den, dass Russland Frieden auch in Tschetschenien will.Gerhard Schüßler
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Wir sollten an sie appellieren, dass die Bereitschaft in-ternationaler Organisationen hier zu vermitteln, ange-nommen wird. Wir sollten an sie appellieren, den dorti-gen Flüchtlingen endlich zu helfen. Ich glaube, wir ha-ben ein Recht, in diesem Sinne an unsere russischenKolleginnen und Kollegen zu appellieren.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Kaukasus dieInteressen verschiedener Kräfte, die Interessen Russ-lands, Europas, der USA und anderer Staaten – übrigensauch die der NATO – aufeinander stoßen und dass manmit solchen Interessen sensibel umgehen muss. ZurWahrheit gehört auch, darauf hinzuweisen, dass vieleÄußerungen – aus meiner Sicht zu Recht – Unruhe inMoskau auslösen. Auf eine dieser Äußerungen möchte ich kurz einge-hen: Für die USA gebe es eigentlich nur eine Region, fürdie es sich wirklich zu kämpfen lohne, schrieb im Som-mer 1998 der damalige Stellvertretende Direktor im Bü-ro des Staatssekretärs im US-Verteidigungsministerium,David Tucker. Dieses Gebiet sei „das Gebiet vom Persi-schen Golf nördlich bis zum Kaspischen Meer und öst-lich bis nach Zentralasien“. Er klärt seine Leser auf, wa-rum man für dieses Gebiet kämpfen sollte: Diese Regionberge rund 75 Prozent der weltweiten Öl- und33 Prozent der Erdgasreserven. Ich kann das Gefühl Russlands, eingekreist zu wer-den, verstehen; es ist nicht von der Hand zu weisen. Ichnenne in diesem Zusammenhang die Osterweiterung derNATO, die Beitrittswünsche der baltischen Staaten undGeorgiens, das Angebot Aserbaidschans, NATO-Kontingente auf seinem Territorium zu stationieren, dieneuen Trassen für Erdölpipelines unter Umgehung derbilligeren russischen Transportwege und die Debatte, diedarüber geführt wird, ob diese Pipelines militärischdurch die Türkei geschützt werden sollen. Ich habe dasGefühl, dass der Krieg in Tschetschenien ohne denKrieg im Kosovo nicht möglich gewesen wäre. DerKrieg im Kosovo hat die Sitten verwildern lassen.
Ich empfinde die Situation so: Zwei Züge rasen auf-einander zu, und zwar von der einen Seite die neue NA-TO-Konzeption, der Krieg im Kosovo, die ausbleibendeRatifizierung des Atomteststoppabkommens und dieDebatten über die Aufkündigung des ABM-Vertragessowie von der russischen Seite der Krieg in Tschetsche-nien, eine neue Sicherheitsdoktrin, die Senkung derSchwelle für Atomwaffeneinsätze und die gerade heuteerschienene Meldung, die Rüstungsausgaben für dasJahr 2000 um 50 Prozent zu erhöhen. Die Wege aus dem Krieg heraus müssen auf derGrundlage einer solchen Doppelstrategie gefunden wer-den. Russland muss die Sicherheit haben, dass Deutsch-land für seine territoriale Integrität in Wort und Tat ein-tritt. Wir sollten unsere guten Beziehungen zu Georgienund Aserbaidschan nutzen, um auch dort für gute Nach-barschaft und die Sicherheit der Grenzen von Russlandzu werben. Ebenso klar, wie wir Russland kritisieren,muss unsere Ablehnung des tschetschenischen Terro-rismus ausfallen.Die russische Regierung muss den ersten Schritt tun.Sie muss eine friedliche Lösung wollen. Hilfreich wärees, wenn sie die internationale Öffentlichkeit einbezögeund dafür die Voraussetzungen schaffte. Notwendig ist,dass die internationale Öffentlichkeit – die NGOs, Re-gierungen, Parteien und internationale Organisationen –über den Kaukasus und das Kaspische Meer spricht, dieLage analysiert und die Interessenkonstellationen be-nennt. Kenntnis, Aufgeschlossenheit und Vorschläge derinternationalen Öffentlichkeit würden es den Konflikt-parteien in der Region erleichtern, einen Dialog aufzu-nehmen. Ich erwarte, dass die deutsche Politik dazu ei-nen Beitrag leistet. Es geht um Sicherheit für Russlandund Friede in Tschetschenien.
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt Palis von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen, liebe Kollegen! Was als kurzfristige Operation zurBestrafung und Eliminierung einiger weniger Terror-banden ausgegeben wurde, ist zu dem geworden, wasnicht wenige Beobachter von vornherein vorausgesehenhaben: zum zweiten Tschetschenienkrieg Russlands,der inzwischen in den fünften Monat geht. Ein erfolgrei-ches Ende der Kämpfe ist entgegen wiederholter russi-scher Ankündigung nicht abzusehen. Die tschetscheni-sche Hauptstadt Grosny erlebt, obwohl bereits in Trüm-mern liegend, pausenlos Luft- und Artillerieangriffe, da-zu einen Häuserkampf Mann gegen Mann.Wie viele Zivilpersonen ihr Leben lassen mussten, istnicht bekannt; viele müssen aber noch in den Kellernvon Grosny um ihres fürchten. Russland meldet offiziellcirca 600 tote Soldaten und 1 500 Verwundete. DieMoskauer Presse misstraut den Angaben und schätzt die Verluste auf mindestens 1 300 Tote und circa5 000 Verwundete. Das „Komitee der Soldatenmütter“in Moskau geht mit seinen Schätzungen darüber hinausund spricht von 3 000 Toten und 6 000 Verwundeten.Hinsichtlich der Rebellenverluste schwanken die Anga-ben zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend.Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in ih-rem Bemühen, mäßigend auf die russische Politik ein-zuwirken
und für eine Beendigung der Kampfhandlungen zu wer-ben.
Bombardierungen und groß angelegte militärische Bo-denoperationen sind keine geeigneten Mittel der Terro-Wolfgang Gehrcke
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7894 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
rismusbekämpfung. Die zivilen Opfer und die Zerstö-rung von Dörfern und Städten wiegen am Ende schwererals die dadurch erreichte Schwächung von Terroristen.Auch wenn wir nachvollziehen können, dass mannach den verheerenden Bombenanschlägen auf russischeWohnhäuser die Schuldigen zur Verantwortung ziehenwill, appellieren wir auch von dieser Stelle aus an dierussische Seite, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zubeachten und die vielen unschuldigen Menschen nichtzu übersehen, die ihr Leben, ihre Gesundheit und ihrHab und Gut verlieren.
Die Erwartung jedoch, der deutsche Außenministerwerde mit seinem Appell zur Beendigung der Kampf-handlungen in Moskau auf offene Ohren treffen, wäreauf jeden Fall unrealistisch gewesen. Soweit ich sehe –Herr Kollege Gehrcke hat das eben noch einmal bestä-tigt –, ist sie auch nicht geäußert worden. Selbst die PDSals die diese Aktuelle Stunde beantragende Fraktionmuss eigentlich mit dem Ergebnis des Gesprächs vonMinister Fischer mit Wladimir Putin und AußenministerIwanow zufrieden sein. Zum Beleg zitiere ich den ADN-Bericht von Mittwoch, dem 26. Januar 2000, über dieDemonstration der PDS vor der russischen Botschaft,wo es heißt: Eine Isolierung oder gar ein Embargo hielt Gysi fürgefährlich, da diese Maßnahmen mit Sicherheit zueiner Verhärtung der Situation führen würden.Auch wolle man den europäischen Frieden mit sol-chen Forderungen nicht aufs Spiel setzen.Das klingt richtig staatsmännisch.
Wie aber sollen die europäischen Institutionen unddie Bundesregierung bei all dem auch noch „wirksame-ren Druck auf die russische Staatsführung ausüben“, wie ADN Sie weiter zitiert, Herr Gysi? Dies ist, wie mir scheint, eine hohle Forderung. Sollten sich jedochIhre Pläne bezüglich der Reise nach Moskau realisie-ren lassen, dann können Sie ja zeigen, wie dies funktio-niert.Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion begrüßtdie Ankündigung der OSZE, in Tschetschenien ein Bürozu eröffnen und vor Ort humanitäre Hilfe leisten zu wol-len. Die humanitäre Notlage, insbesondere das Heer dercirca 200 000 Flüchtlinge in Inguschetien, erfordert so-fortiges Handeln. Die internationalen Hilfsorganisatio-nen sollen und wollen schnell und wirksam helfen.Wenn die russische Regierung in Zusammenarbeit mitden örtlichen Behörden dafür die Voraussetzungenschafft, werden wir darin auch einen wichtigen Teiler-folg des Moskaubesuchs unseres Außenministers erken-nen können.
Ich habe vor wenigen Minuten einer Tickermeldungvon Interfax von heute entnehmen können, dass Russ-land die humanitären Hilfsaktionen im Nordkaukasusunterstützen wolle – so der amtierende Präsident Putingegenüber dem UN-Generalsekretär Kofi Annan. Esbleibt jedoch das wichtigste Ziel, die russische Seite unddie tschetschenischen Kämpfer zu einer Deeskalationund Einstellung der Kämpfe zu bewegen.
Die gegenwärtige militärische Eskalation birgt dieGefahr in sich, sich in einen anhaltenden Guerillakriegzu verzetteln und die gesamte Kaukasusregion zu desta-biliseren. Eine dauerhafte Lösung der Probleme in dieserRegion kann nur politisch herbeigeführt werden.
Dies Ihren Gesprächspartnern in Moskau in eindringli-cher Weise vorgetragen zu haben, entsprach vollständigder Erwartung meiner Fraktion. Dafür, Herr Minister Fi-scher, danken wir Ihnen.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wir sind der Ansicht, dass der Dialog mit Moskau
nicht abgebrochen werden darf. Nur durch weitere Ge-
spräche und Anmahnungen kann die russische Regie-
rung zu einer friedlichen Lösung in Tschetschenien ge-
drängt werden.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die-
ser Ministerbesuch weitere Ergebnisse hatte, die für die
Entwicklung der Beziehung zwischen Deutschland und
der NATO einerseits und Russland andererseits von
großer Bedeutung sind: Wenn es alsbald gelingt, die in-
stitutionellen Beziehungen im NATO-Russland-Rat
wieder zu beleben, so ist dies ebenso begrüßenswert wie
die Festigung und der Ausbau der bilateralen Beziehun-
gen zwischen unseren Ländern. Wir werden uns jeder-
zeit dafür einsetzen. Doch zunächst müssen die Waffen
in Tschetschenien schweigen.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas
Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht hät-Kurt Palis
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7895
ten wir diese Aktuelle Stunde auf Antrag der PDS ja garnicht gebraucht, wenn Vertreter der PDS vor zwei Tagenim Auswärtigen Ausschuss anwesend gewesen wären,als wir zu diesem Thema gesprochen haben.
– Herr Gehrcke, ich komme gleich darauf zu sprechen.Sie haben sich in aller Form und korrekt entschuldigt.Sie waren bei der Demonstration vor der russischen Bot-schaft hier in Berlin.
Mich hat ein Anflug von Ironie überkommen, dassdie Nachfolger der SED, die früher die Völkerfreund-schaft mit dem sozialistischen Brudervolk demonstrierthaben, auf der Straße Unter den Linden gegen den Kriegin Tschetschenien demonstrieren. Der Frankfurter Spon-ti und Friedensaktionist Joseph Fischer sitzt in feinemTuch im Deutschen Bundestag und erklärt, warum wirgegenüber den Kriegsherren im Kreml Zurückhaltungwalten lassen müssen. Herr Außenminister, das warschon eine ironische Situation. Ich hätte gern Gedanken gelesen. Mich würde inte-ressieren – Sie brauchen es nicht hier vor dem HohenHause sagen, aber vielleicht sagen Sie es mir einmal un-ter vier Augen; Sie haben ja die Seiten gewechselt –:
Küster [SPD]: Nehmen Sie mal Herrn Kohl inden Beichtstuhl!)Wenn Sie vorübergehend für ein paar Stunden IhreKleider umtauschen könnten, hätten Sie dann nicht Lust,wieder einmal in einer solchen Situation an einer fetzi-gen Demonstration teilzunehmen?Wir sind von dem Ergebnis Ihres Besuches in Mos-kau nicht enttäuscht, weil ein anderes Ergebnis realisti-scherweise nicht zu erwarten war. Wir werfen Ihnennicht vor, Herr Außenminister, dass Sie mit leeren Hän-den zurückgekommen sind. Aber die Frage muss schonerlaubt sein, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel her-zugeben, das im Kreml derzeit gespielt wird.Der Krieg in Tschetschenien ist eine Machtdemonst-ration, die sich in erster Linie an die eigene Bevölkerungund an das nahe Ausland richtet. Putin hat kein Interessean einer politischen Lösung; er hat – zumindest bis zuden Wahlen – ein Interesse am Krieg. Die innenpoliti-sche Wirksamkeit dieses Mittels ist ja leider bei denDuma-Wahlen im Dezember bestätigt worden. Für Putinist dieser Vernichtungskrieg ein Mittel, den Großmacht-anspruch Russlands zu untermauern und der eigenenBevölkerung zu suggerieren, dass Russland dadurch einstärkeres nationales Selbstbewusstsein wiedererlangenkönne.Wir haben es doch mit Krieg als Strategie zur Macht-erhaltung zu tun. Nur militärische Erfolge konnten Putindie Zustimmung in der Bevölkerung geben, die er heutegenießt. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Ap-pelle, die gut gemeint und die auch richtig sind, in dieserSituation nicht zu einer Demonstration der Hilflosigkeitdes Westens werden. Der Krieg hat innenpolitische Mo-tive. Deswegen zeigt die Reaktion Russlands, dass essich nicht für unsere Haltung in dieser Frage interessiert.
Die Entwicklungen im Kaukasus stehen viel stärkerals beim ersten Tschetschenienkrieg im Kontext wach-sender geostrategischer Gegensätze zwischen Russlandund anderen Regionalmächten wie etwa der Türkei. Aber in zunehmender Weise haben auch die VereinigtenStaaten von Amerika den Kaukasus und Zentralasienexplizit zu einer strategischen Interessenzone erklärt.
Demgegenüber ist die öffentliche Reaktion der Verei-nigten Staaten jetzt auffallend zurückhaltend. Wir Euro-päer stehen erst am Anfang, eine gemeinsame Strategiegegenüber Russland zu entwickeln, die wir dringendbrauchen. Im Moment besteht Einigkeit noch nicht inhinreichendem Maße. Aber wir sind diejenigen, die Ak-tivitäten entfalten und die sich zum Musterschüler ent-wickeln, indem wir nach Moskau fahren, um Appelle zuüberbringen. Der Verdacht kann ja nicht von der Handgewiesen werden, dass die Aktionen auch bei unsmanchmal eher aus innenpolitischen oder auch aus par-teiinternen Motiven erfolgen.Wir begrüßen, dass sich Europa seit dem erstenTschetschenienkrieg intensiver in der Region enga-giert. Das beste Beispiel ist die Aufnahme Georgiens inden Europarat im vergangenen Jahr. Wir begrüßen denVersuch, mit Russland gemeinsam Maßnahmen zur Be-friedung des Kaukasus vorzuschlagen. Wir glauben abernicht, dass dies mit einem Russland möglich ist, das ei-nen Krieg zu Wahlkampfzwecken führt.Wir wollen Russland nicht isolieren; Russland isoliertsich selbst, solange es die Spielregeln, die nach unseremdemokratischen Verständnis selbstverständlich sind,nicht einhält. Deswegen ist die Frage, ob im Moment öf-fentliche Zurückhaltung gegenüber Russland nicht an-gebrachter wäre.Vielen Dank.
Als
nächster Redner hat der Kollege Helmut Lippelt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Gehrcke, nachdem wir uns alle darin einigsind, dass die Reise des Außenministers nach Russlandder Schwierigkeit der Situation angemessen war unddeshalb nicht zu beanstanden ist, möchte ich einen Punktansprechen, der auch von Ihnen schon angesprochenDr. Andreas Schockenhoff
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7896 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
wurde und über den wir schon lange gemeinsam nach-denken. Es geht um den Zusammenhang zwischen demKosovo- und dem Tschetschenienkrieg.Ich glaube, dass man die Situation ein wenig andersals Sie interpretieren muss. Wer die Daten und Faktengenau verfolgt, der weiß, dass seit April 1998 der Auf-bau der russischen Truppen in Südrussland RichtungKaukasus stattgefunden hat. Diese Tatsache muss manim Kopf haben. Man muss aber auch im Kopf haben, dass es eineseltsame Änderung der Kriegsziele unter dem jetzt am-tierenden Präsidenten Putin gab. Zunächst Containment,dann Revision des Friedens von 1996, also des vonRussland als Schandfrieden empfundenen Friedens. Ichglaube, dass dies schon sehr viel früher der geheimeGrund war. Deshalb ist dies alles so kompliziert. Und eswird – nun in Richtung von Herrn Schockenhoff – nochkomplizierter, wenn man sieht, dass die Reise des Au-ßenministers auch deshalb unter besonderen Bedingun-gen stattfand, weil die Provokationen, die den Tsche-tschenen – zum Teil zu Recht, zum anderen Teil zwei-felhafterweise – zugeschrieben wurden, die russischeStimmung so beeinflussten, dass das Reden zur Ver-nunft so schwierig ist. Eine der Provokationen war derEinfall nach Dagestan; Wahnsinn des Herrn Bassajew.Das andere waren die zusammenfallenden Häuser, überdie ja viele verschieden denken. Wir müssen das wissen, wenn wir jetzt über Tsche-tschenien sprechen. Wir haben im Auswärtigen Aus-schuss jetzt nach langem Zögern, weil wir erst auch dieandere Seite hören wollten, einen Antrag verabschiedet.Die Debatte, die wir heute führen, ist der Einstieg in ei-ne Debatte, die weitergehen wird. Im Europarat ist, wie ich finde, etwas ganz Hervorra-gendes geschehen. Ein sehr weit gehender Antrag, denrussischen Delegierten ihre Rechte zu nehmen, wurdemit ganz knapper Mehrheit abgelehnt und dann wurdemit den russischen Delegierten eine politische Resoluti-on, die auf sofortigen Waffenstillstand drängt, verab-schiedet. Hier zeigt sich die Möglichkeit eines Verhal-tens, das wir auch in Betracht ziehen müssen. Im Europarat sitzt der von uns allen hoch geschätzteHerr Kowaljow. Weil ich seine intern gegebenen Wer-tungen so aufregend fand, dass ich sie mitgeschriebenhabe, möchte ich einen entscheidenden Punkt seinerWertung vortragen als Einstieg in die Diskussionen, diewir in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit derVerabschiedung des Antrages weiterführen werden. Kowaljow sagt, er habe für die Aufnahme Russlandsin den Europarat gekämpft. Er habe auch immer gesagt,der Europarat nehme damit eine große Last auf sich,denn Russland sei noch keine Demokratie in unseremSinne. Ein Ausschluss der russischen Delegation sei be-rechtigt, wäre aber völlig wirkungslos. Wichtiger sei es,eine ständige Beobachtermission mit weit reichendenVollmachten zu verlangen, auf sofortige Friedensge-spräche zu drängen – was ja auch die russischen Dele-gierten getan haben – und dafür die Vermittlerdienstedes Europarats anzubieten. Dann spricht Kowaljow über Maschadow. Das istsehr wichtig, weil Maschadow immer wieder von Mos-kau beiseite geschoben und immer wieder diskreditiertwird, indem er mit unmöglichen Forderungen, etwa Bas-sajew mal soeben auszuliefern, überzogen wird. Statt-dessen baut man hier einen Kriminellen als Quisling auf.Kowaljow sagt über Maschadow – über den er gewissviel weiß; denn er hat mit ihm damals beim erstenTschetschenienkrieg im Keller des Regierungsgebäu-des im Grosny gesessen –, er hätte nach dem Friedenvon 1996, wäre er damals geachtet worden, nur zu gerneinen Rechtsstaat in Tschetschenien aufgebaut.
– Von Russland.Er habe extremistischen Kräften nachgegeben; denner wollte keinen Bürgerkrieg in Tschetschenien selbst.Dafür habe er jetzt teuer bezahlen müssen. „Aber wir,die Russen“, so Kowaljow, „haben ihm nicht geholfen.Maschadow hatte nur 30 Prozent der Bevölkerung hintersich, die extremistischen Kommandeure 70.“ Damit beschreibt er die Tragödie eines Mannes, dieman, glaube ich, für die weiteren Gespräche mit Moskauim Hinterkopf haben muss, um nicht zu schnell derMoskauer oder der Iwanowschen Rede zu folgen: „Wirbrauchen Verhandlungspartner.“ Wenn man dann nachdem Grund der Diskreditierung fragt, heißt es: Mascha-dow hat ja nichts hinter sich. – Das Problem geht tiefer.Ich glaube, das ist ein Mann, der eine große persönlicheTragik durchlebt.
– Ein wenig. Aber interessanterweise kommt Rugovawieder. Das ist das Überraschende. Damit in die nächste Woche, wo die Diskussion fort-geführt wird!
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer
von der F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kritisieren den Bun-desaußenminister nicht dafür, dass er nach Moskau ge-reist ist und dort versucht hat, auszuloten, um welchePersönlichkeit es sich bei dem neuen amtierenden russi-schen Präsidenten handelt. Wir halten es für ganz selbst-verständlich, dass Kontakte mit denen sich an der Machtbefindenden Menschen gesucht, geknüpft und gepflegtwerden. Was wir kritisieren, Herr Bundesaußenminister, istdie Diskrepanz, die sich hier zwischen großen Wortenund sehr verhaltenem Tun wieder aufgetan hat. Der Gip-Dr. Helmut Lippelt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7897
fel von Helsinki hat sehr starke Vokabeln gefunden, umdie Situation in Tschetschenien zu beurteilen und zuverurteilen. Sie haben jetzt nach Ihrem Besuch in Mos-kau öffentlich erklärt, dass gar nicht erwogen wird, ir-gendwelche Sanktionen gegen Russland zu verhängen,um auf das Kriegsgeschehen Einfluss zu nehmen. Ichweiß – das habe ich Ihnen im Auswärtigen Ausschussvorgestern bestätigt –, dass Sanktionen immer eineschwierige Sache sind, weil man nicht wissen kann, obsie, wenn sie verhängt werden, das Ziel, das man damitanstrebt, tatsächlich erreichen oder ob das Ganze nichtins Leere läuft. Aber von vornherein zu erklären, eswürden keinerlei Sanktionen auch nur in Erwägung ge-zogen, gibt der Seite, die man beeinflussen will, dieMöglichkeit, eine „carte blanche“ zu haben. Sie habendoch öffentlich erklärt, dass an Sanktionen nicht gedachtist. Ich halte es deswegen für wesentlich wirkungsvoller,was die Delegation des Europarates in Moskau erwirkthat. Unter Leitung des Präsidenten Lord Russel Johnstonist eine Delegation der Parlamentarischen Versammlungin Moskau bei Herrn Putin gewesen, hat dort ganz deut-lich gesagt, was die Staatengemeinschaft und insbeson-dere der Europarat von dem Krieg in Tschetschenienhalten und hat Putin daran erinnert, dass seitens Russ-lands bei der Aufnahme in den Europarat Verpflichtun-gen übernommen worden seien.Auch Kowaljow hat es damals für richtig gehalten,dass Russland aufgenommen wurde. Jetzt stellt sich her-aus, dass die Drohung, die Mitgliedschaft Russlands un-ter Umständen zu suspendieren oder einzuschränken unddie Mandate der russischen Kollegen nicht zu bestäti-gen, offensichtlich ein wirkungsvolleres Mittel ist als al-les andere sonst. Die Russen haben nämlich eine Hei-denangst davor, dass ihr Status im Europarat in irgend-einer Weise verändert werden könnte. Deshalbhaben sie reagiert. Sie haben Lord Russel Johnston zu-gestanden, dass eine permanente Beobachtermission desEuroparates installiert wird. Man muss jetzt natür-lich noch ausloten, wo sie aus Sicherheitsgründen etab-liert werden kann. Aber dies ist zumindest ein Zuge-ständnis. Die Parlamentarische Versammlung hat mit großerMehrheit gesagt, sie werde weiter ihren Finger in derWunde lassen, sie werde weiter Sanktionsmaßnahmengegen Russland erwägen. Das ist eine dringend notwen-dige Maßnahme, die zeigt, dass die Wirkung erzieltwerden kann, dass die Russen weiterhin wissen, dass ihrVerhalten nicht akzeptabel ist.
Ich möchte noch folgende kurze Bemerkung machen.Herr Putin könnte sich mit der nach wie vor gezeigtenHärte in diesem Krieg verrechnen. Man könnte etwaszynisch sagen, die Tatsache, dass man diesen Krieg soführt, wie er geführt wird, um innenpolitisch die Zu-stimmung bei Duma-Wahlen zu erzielen, beweist schon,dass Russland auf dem Wege zur Demokratie weiterfortgeschritten ist, als das manche für möglich halten.Das ist zwar ein zynisches Argument, aber nicht ganzvon der Hand zu weisen. Es mehren sich bedauerlicherweise die Opfer beimrussischen Militär; mehr und mehr Tote und Verletztesind zu beklagen. Wie lange in der öffentlichen Meinungin Russland der Krieg angesichts dieser zunehmendenZahl von Opfern noch bejubelt wird und innenpolitischzugunsten der Regierenden als Instrument eingesetztwerden kann, das bleibt abzuwarten. Vielleicht wäre Pu-tin gut beraten, auch aus innenpolitischen Rücksichtenden Krieg rechtzeitig zu beenden. Wir wissen, wie wichtig Russland für uns ist. OhneRussland wird es keine gesamteuropäische Sicherheits-architektur geben können. Wir müssen Russland alsPartner behandeln. Insofern, Herr Fischer, war das jetztbei weitem keine Fundamentalkritik. Wir müssen unsaber doch gemeinsam überlegen, wie wir mit den In-strumenten, die wir haben, also OSZE und Europarat,den Druck auf Russland verstärken können, um zu ei-nem Ende des Schlachtens und des Mordens zu kom-men. Ich bedanke mich.
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rudolf Bindig
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Es ist Krieg in Tschetschenien.Auch heute wird gekämpft, auch heute wird geschossen,auch heute wird bombardiert. Davon sind betroffen dieZivilbevölkerung, die -in Grosny ist, aber auch die in-tern vertriebenen Flüchtlinge, die südlich von Grosny inden Bergen eingeschlossen sind, die keine Unterstützungund keine humanitäre Hilfe erhalten. Es gibt die vielenFlüchtlinge in Inguschetien. Es gibt auch die 140 000Soldaten der Russischen Föderation, von denen keinerden Krieg wollen kann, ihn aber durchzuführen hat. Esgibt auf der anderen Seite auch die tschetschenischenKämpfer, die sich – aus welchen Motiven auch immer –dort engagieren. Deshalb müssen alle Überlegungendarauf gerichtet werden, dort die Kriegshandlungen zubeenden und in Verhandlungen überzuleiten, um nachWegen zu suchen, wie humanitäre Hilfe geleistet wer-den kann.
Für eine sofortige humanitäre Hilfe und für Prozessezur Überleitung in Verhandlungen muss alles eingesetztwerden, alle internationalen Gremien, die es gibt: Das istdie OSZE, das sind die G-7-Gespräche, das sind bilate-rale Gespräche, das ist der Europarat. Ich finde, dass esganz wirkungsvolle Ansätze gibt, mit einem breitenUlrich Irmer
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7898 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Spektrum von Maßnahmen zu wirken. Der Außenminis-ter ist dort gewesen und hat dort gesprochen. Als Teilnehmer einer Delegation des Europarates hat-te ich die Möglichkeit, mich erst in Dagestan, dann inTschetschenien und dann in Inguschetien zu informierenund mit den Verantwortlichen im Kreml darüber zu re-den und Argumente vorzutragen, dass es unmöglich ist,dort den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Alle Erfahrun-gen, auch mit internationalem Terrorismus, zeigen, dassman sich irgendwann an den Verhandlungstisch setzenmuss, wenn man tragfähige Ergebnisse erzielen will, umspäter nicht wieder einen Partisanenkrieg oder einzelneTerrorakte im Lande zu haben. Wir haben darüber gestern den ganzen Tag im Euro-parat diskutiert. Hier wurde gesagt: Die Russen habeneine Heidenangst. Das haben sie wahrlich nicht in dieserFrage. Aber sie nehmen das Problem doch ernst, wennsie sehen, wie die internationale Völkergemeinschaftund andere Staaten Europas darauf reagieren.
Herr Iwanow hat sich gestern im Europarat fünfStunden lang die Reden von Parlamentariern aus 41Ländern angehört. Diese wurden dort im Vier-Minuten-Rhythmus gehalten. Praktisch alle, die dort geredet ha-ben – ob das die Delegierten aus Großbritannien, ausFrankreich, aus Italien, aus Deutschland, aus Moldawienwaren; auch einige russische Redner haben sich ent-sprechend geäußert –, haben gesagt: So kann der Kon-flikt in Tschetschenien nicht ausgetragen werden. Dasist kein Kampf gegen angebliche Terroristen, sondern esist ein Krieg, der auch aus anderen Motiven geführtwird. Wir haben Herrn Iwanow vorgetragen, dass die Rus-sische Föderation mit ihren Maßnahmen die Europäi-sche Menschenrechtskonvention, das Recht auf Leben,den Schutz vor unwürdiger Behandlung oder Strafe, dasRecht auf Sicherheit verletzt. Die Vorgehensweise dortverletzt ebenfalls das Genfer Abkommen zum Schutzvon Zivilpersonen in Kriegszeiten. Wir haben ihm sogarvorgehalten, dass die Vorgehensweise nicht im Einklangsteht mit der Gesetzeslage in der Russischen Föderation.Dort gibt es ein Gesetz zum Kampf gegen dieorganisierte Kriminalität. Auf dieser Basis wird dasgemacht. Das rechtfertigt aber nicht solche großenMilitärinterventionen. Es ist kein Notstand ausgerufenworden – bewusst nicht –, weil man willkürlich handelnwill. Man will dort ohne irgendeine Rechtsgrundlage,ohne irgendwelche Regeln vorgehen. Herr Iwanow hat sich dies – Gott sei Dank – fünfStunden anhören müssen. Dann hat die Versammlung inRuhe und Besonnenheit Beschlüsse gefasst, um einer-seits festzustellen, dass dort schwere Menschenrechts-verletzungen stattfinden, und um diese andererseits mitharten Worten zu verurteilen, einen sofortigen Waffen-stillstand zu verlangen und operative Schritte vorzu-schlagen, wie man unter Beteiligung des Europaratesund der anderen Gremien versuchen kann, Einfluss zunehmen, damit zumindest – das ist ja auch etwas – hu-manitäre Hilfe geleistet wird und Verhandlungsprozessein Gang kommen.Diese Strategie, mit einer Fülle von Maßnahmen ver-schiedener Gremien und auch bilateral zu versuchen,weiter Einfluss zu nehmen, scheint mir hier ein richtigerAnsatzpunkt zu sein. Andere Gremien und auch dieBundesregierung werden weiter daran arbeiten. Wir hof-fen, dass wir die Russen doch noch irgendwie beeinflus-sen und überzeugen können. Es wird schwer sein. Einigesagen, sie wollten das aus innenpolitischen Gründendurchziehen, so brutal und hart das auch sei.
Das Wort hat
jetzt Dr. Karl Lamers.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es istschon recht pikant, dass ausgerechnet die PDS diese Ak-tuelle Stunde zum Thema Tschetschenien beantragt hat,geht es doch nicht zuletzt um Menschenrechte. Bei die-sem Thema kann natürlich gerade die PDS ungewöhn-lich glaubwürdig auftreten, quasi als Experten,
nachdem Ihre Vorgänger der SED über 40 Jahre dieMenschenrechte mit Füßen getreten haben.
Jeden Abend sehen wir die schrecklichen Bilder ausGrosny von diesem furchtbaren Krieg, der so viel Leidüber die Menschen in Tschetschenien und viele Russengebracht hat und bringt. Wir alle sind uns sicher einig:Dieser Krieg darf nicht militärisch entschieden werden.Was wir brauchen, ist eine politische Lösung. Das müs-sen auch die Russen endlich begreifen.Herr Außenminister Fischer hat nach seiner Rückkehraus Moskau mit Stolz berichtet, dass sich Präsident Pu-tin statt der geplanten einen Stunde ganze eindreiviertelStunden Zeit für ihn genommen habe. Ich verstehe, dasschmeichelt der Eitelkeit.
Aber für mich ist weniger die Quantität, die Länge desGesprächs von Bedeutung als vielmehr der innere Ge-halt des Gesprächs.
Sie sprechen von einem tief greifenden, sehr offenenGespräch. Mich interessiert: Was haben Sie konkret er-reicht? Was konnten Sie von unserer, der deutschen, dereuropäischen, Position umsetzen? Sie haben erklärt, dieRudolf Bindig
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7899
Verständigung sei gut gewesen – in deutscher Sprache.Ich frage Sie: Haben Sie sich auch gut verstanden? HatHerr Putin gespürt, um was es geht, nämlich dass keinLand, auch nicht Russland, das Recht hat, das Völker-recht zu verletzen und gegen Menschenrechte sowie ge-gen europäische Vereinbarungen und Verhaltensmaßre-geln zu verstoßen? All dies geschieht doch in diesem mitunglaublicher Brutalität geführten Krieg Russlands ge-gen das tschetschenische Volk.Wir müssen doch die Dinge beim Namen nennen.Russland greift massiv zivile Ortschaften an. Russlandmacht ein ganzes Volk zu Geiseln seiner Machtpolitik.Russland ist verantwortlich für den massenhaften Todvon Zivilisten und für die Vertreibung von Hunderttau-senden von Menschen. Das widerspricht dem Völker-recht. Das alles kann doch nicht mit einer „antiterroristi-schen Operation“ gerechtfertigt werden! Nein, das ver-letzt insbesondere den OSZE-Verhaltenskodex von1994, nach dem kein Staat, auch nicht bei einem Einsatzim Innern seines Landes, unverhältnismäßige Gewaltanwenden darf.Russland will sich aus dem Kaukasus nicht verdrän-gen lassen. Rechtfertigt das diesen Krieg? Der amtieren-de Präsident Putin verspricht sich Vorteile für seineWahl. Rechtfertigt das diesen Krieg? Viele wollen demneuen Mann auf der diplomatischen Bühne eine Chancegeben. Ist das, Herr Außenminister, der Grund für dieneue Milde des westlichen Protests? Nützen wir ihm,nützen wir irgendjemandem damit? Müssen wir nichterkennen, dass das, was wir sagen, fordern und erklären,in Moskau zwar freundlich zur Kenntnis genommenwird, aber doch letztlich keinerlei erkennbare Reaktio-nen und Konsequenzen in der russischen Politik nachsich zieht?Der Außenminister ist so richtig Realpolitiker gewor-den und betont immer wieder – sicherlich nicht zu Un-recht –, dass unsere Möglichkeiten, mit Sanktionen aufRussland einzuwirken, in Wirklichkeit sehr bescheidensind.Herr Fischer ist ein richtiger Diplomat, ganz staatsmän-nisch. Das passt zum Amt. Aber ich frage mich: Passt esauch zur Person? Ich habe nachgelesen, was Sie, Herr Außenminister,im Jahre 1996, am 28. Februar, bei einer Tschetsche-nien-Debatte im Deutschen Bundestag zu Bundeskanz-ler Kohl nach seiner Rückkehr aus Moskau gesagt ha-ben.
Es ging auch um Tschetschenien, aber es gab einen gro-ßen Unterschied: Sie waren noch nicht Außenminister.Sie sind überhaupt, wie ich meine, kaum wie-derzuerkennen, in jeder Hinsicht. Herr Fischer war zwar schon damals nicht mehr dergroße Moralisierer, der er vorher gewesen ist, aber allenErnstes haben Sie damals dem Bundeskanzler vorgewor-fen, er habe das Einklagen der Menschenrechte und ei-ner demokratischen Entwicklung seiner Realpolitik ge-opfert. Das war Ihr Vorwurf! Sie sprachen von „geduck-ter Haltung“, gar von „Anbiederung“. Das sind starkeWorte, verglichen mit dem, was Sie heute an Verständ-nis für die Besorgnisse der Russen im Nordkaukasus äu-ßern. Ich heiße nicht Fischer, und deswegen möchte ichmeinerseits nicht diese harten Worte wiederholen undauch keine Vergleiche zu damals anstellen. Nur einsmöchte ich feststellen: Die Zeiten haben sich geändert.Vielleicht haben Sie auch dazugelernt, geläutert durchdas Amt, das Sie heute bekleiden. Ich will nur sagen: Uns allen wird in diesen Wochenklar, wie schwer es ist, Russland tatsächlich in unsereWerteordnung einzubinden und es tatsächlich zu beein-flussen. Dazu bedarf es Mut. Es ist richtig: Putin, der Interimspräsident, schlägt ei-ne neue Linie ein. Ich frage mich: Stehen die Zeichenauf Demokratie und Frieden oder gibt es einen Rückfallin alte, überholte Strukturen und Denkmuster? Was wirjetzt brauchen, ist Realismus, keine Verniedlichung, istdie Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen, aber auchWachsamkeit. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Reisedes Außenministers war richtig und notwendig. KollegeSchockenhoff ist jetzt nicht mehr da; er hat gefragt, obes sinnvoll war, sich für das Spiel des Kremls her-zugeben. Dazu kann man auch umgekehrt sagen: Washätten Sie hier für einen Terz aufgeführt, wenn Außen-minister Fischer nicht gefahren wäre!
Dann hätten Sie gesagt: Er versucht nicht einmal, igend-etwas zu erreichen. Sie hätten versucht, ihn zu geißelnund uns hier Unterlassungssünden vorzuwerfen. Nun ister gefahren und da sagen Sie, man gebe sich für einSpiel des Kremls her.
Meine Damen und Herren, enttäuschend ist, dassRussland die Beschlüsse des OSZE-Gipfels in Istanbulnicht eingehalten hat, und nicht einmal den russischenZusagen, wenigstens Sicherheitsgarantien und Erleichte-rungen für Hilfsmaßnahmen, für humanitäre Maßnah-men zu gewähren, sind Taten gefolgt. Hier müssen wirund auch die Bundesregierung unermüdlich nachhaken,um wenigstens ein Minimum an Verbesserung der Situa-tion der Flüchtlinge herbeizuführen.
Dr. Karl A. Lamers
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Wir sind hier aber auch noch in einer anderen Weisegefordert: Wenn die wenigen Flüchtlinge, die überhauptnach Deutschland kommen, hier nach Asyl fragen,stimme ich Pro Asyl zu, die Bleiberecht und Schutz inDeutschland für sie fordern.
Es ist für mich unfassbar, dass es jetzt noch einen Rich-ter in Deutschland gibt, der nach Grosny abschiebenlässt. Deswegen bin ich auch sehr froh, Herr Außenmi-nister, dass wir endlich die Nachricht haben, dass dieBundesanstalt für die Anerkennung ausländischerFlüchtlinge ab sofort die Entscheidung über Asylanträgerussischer Staatsbürger ausgesetzt hat.Was die Situation in Russland und Tschetschenienangeht, sind wir uns hier sicher alle einig: Es leidet zual-lererst die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Russlandschickt seine jungen Männer in den Tod und letztendlichleidet die russische Gesellschaft als Ganzes unter diesemVerstoß gegen Normen und Grundsätze, die die Grund-lage für Menschenrechte, Sicherheit und internationaleZusammenarbeit bilden.Russland versucht, seine Herrschaft über Tschetsche-nien mit unverantwortbaren Mitteln aufrecht zu erhalten.Aber es kann diesen Krieg auf lange Sicht nicht gewin-nen. Im Gegenteil: Dieser Krieg destabilisiert die Regi-on und es ist an der Zeit, dass Russland sich vom Traumder alten Großmachtpolitik verabschiedet und die Leh-ren aus Afghanistan zieht, statt das Desaster weiter vo-ranzutreiben.Aber so bitter es ist, Herr Kollege Irmer: Wir habenkeinen wesentlichen Einfluss auf diese Politik. LeereDrohungen bewirken nichts und rein verbale Zusagenhelfen nicht weiter. Russland ist ein anderer Partner aufdem internationalen Parkett als Ex-Jugoslawien. Es hatseine Rolle noch nicht gefunden. Was kann unsere Konsequenz daraus sein? Ich glau-be, sie heißt, den Dialog nicht abbrechen, aber mit denVerantwortlichen immer Klartext reden. Sie bedeutetauch, die Kräfte der Zivilgesellschaft wahrnehmen undstärken. Für uns heißt sie, nicht schweigen, nicht nach-lassen und nicht resignieren, sondern unsere Forderun-gen an Russland bei jeder Gelegenheit vorbringen. Unsere Forderung ist bekannt, wir alle haben sie er-hoben: die Einhaltung internationaler humanitärer Völ-kerrechtsbestimmungen. Es geht nicht an, dass man einganzes Volk zur Geisel erklärt. Es geht nicht an, dassman die Männer im Alter von 10 bis 60 Jahren – dasmuss man sich einmal vorstellen – zum Freiwild erklärt,und es geht nicht an, dass man Krankenhäuser beschießtund humanitäre Hilfe nicht zulässt. Das Angebot der OSZE, eine Vermittlerrolle zu über-nehmen, steht, und Russland sollte endlich darauf einge-hen.
Die Forderungen der Parlamentarischen Versamm-lung des Europarats sollten so schnell wie irgend mög-lich umgesetzt werden: Waffenstillstand, Verhandlun-gen, Bewegungsfreiheit für die Flüchtlinge und – dafürmöchte ich noch einmal ganz dringend appellieren –Zugangsmöglichkeiten und verbindliche Schutzzusagenfür humanitäre Hilfsmaßnahmen. Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte inStichpunkten mit dem beginnen, was aus Sicht der PDS-Fraktion im Bereich der Menschenrechte und in derFlüchtlingsfrage getan werden kann und verstärkt getanwerden muss, um den Opfern dieses Krieges zu helfenund um diejenigen Kräfte in Russland zu stärken, diediesen Krieg entschieden ablehnen.Erstens. Russischen und tschetschenischen Deserteu-ren muss in Deutschland ohne Wenn und Aber Schutzgewährt werden. Ihre Weigerung zu töten ist ein wesent-liches Moment bei der Schwächung der militärischenLogik in diesem Konflikt.
Zweitens. Pazifistische Organisationen und Kriegs-gegner, etwa das Komitee der russischen Soldatenmüt-ter, müssen massiv politisch und finanziell unterstütztwerden. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Präsi-dentschaftswahlen.
Drittens. Die Bundesrepublik muss sofort einen Ab-schiebestopp – ich habe gehört, er sei jetzt ausgesetzt –für tschetschenische Flüchtlinge erlassen und einen ak-tuellen Lagebericht vorlegen. Dieser fehlt nämlich nochimmer. Es ist bedenklich – übrigens in jeder Hinsicht –,dass das Auswärtige Amt den letzten Bericht 1998 vor-gelegt hat und es heute offenbar noch Entscheider undRichter gibt, die aufgrund dieses Lageberichts ihre Ent-scheidungen fällen. Es drängt sich schlicht der Eindruckauf, so manche Amtsstube befindet sich entweder im Talder Ahnungslosen oder – wie so häufig – es dominierendie Asylpraxis auch hier wieder einmal innenpolitischeVorgaben und nicht etwa die jeweilige Menschenrechts-lage. Viertens. Die Unterstützung für die Kaukasusrepubli-ken Inguschetien und Dagestan muss verstärkt werden.Allein Inguschetien hat derzeit etwa 180 000 Flüchtlingeaus Tschetschenien aufgenommen, und das bei einer ei-genen Bevölkerungsgröße von etwa 300 000 Menschen.Das muss man sich vorstellen. Rund 80 Prozent der Flüchtlinge sind in Privathaus-halten untergekommen, die restlichen 20 Prozent lebenRita Grießhaber
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unter äußerst problematischen Bedingungen. LautUNHCR droht derzeit eine Tuberkuloseepidemie. Ge-genüber Jürgen Bartel, Mitarbeiter der HilfsorganisationCare Deutschland, formulierte der inguschetische Minis-ter für Gesundheitswesen dementsprechend eindringlich:Wenn die ausländische Hilfe ausbleibt, sieht es sehrschlecht aus. Inguschetien wendet derzeit – nach eigenen Anga-ben – täglich 250 000 US-Dollar zur Unterbringung derFlüchtlinge auf. Diese Zahl muss man ins Verhältnis zurGröße des Landes setzen. Fünftens. Gegenüber Russland müssen umgehend –erste Anzeichen dafür gibt es – bessere Arbeitsbedin-gungen für diejenigen Hilfsorganisationen mit Nach-druck eingefordert werden, die die Flüchtlinge unterstüt-zen. Formelle wie informelle Kontakte müssen dafür in-tensiver genutzt werden. Dies funktioniere auch schonjetzt bei entsprechendem Engagement, wie mir ein Spre-cher von Care Deutschland erst gestern versicherte. Der-zeit sind, jedenfalls nach meinen Informationen, ledig-lich UNHCR und Care kontinuierlich und Cap Anamursporadisch vor Ort. Sechstens. Die Bundesrepublik und die EU müssenihren Druck auf beide Kriegsparteien dahin gehend ver-stärken, dass es zu einem Waffenstillstand, zumindestaber zu einer Feuerpause kommt, die es Hilfsorganisati-onen ermöglicht, der in Grosny eingeschlossenen Zivil-bevölkerung wirksam zu helfen, besser noch: sie aus derStadt zu bringen, wenn es die einzige Lösung ist. AllenBerichten nach leben noch zwischen 10 000 und 30 000Menschen in der völlig zerstörten Stadt; ihre Lebensbedingungen sind grauenhaft. Hier muss eine Lösung gefunden werden, die über Appelle hinausgeht.Siebtens. OSZE und EU müssen stärken darauf drän-gen, so schnell wie möglich ein Büro in Tschetschenienzu eröffnen, um von dort aus sowohl im Menschen-rechtsbereich als auch in der Frage einer zivilen Kon-fliktbewältigung aktiv werden zu können. KonkreteVermittlungsarbeit vor Ort ist nicht selten wir-kungsvoller als internationale Diplomatie, zumal als diebisher betriebene.So weit die konkreten Forderungen. Erlauben Sie miraber noch einige grundsätzliche Bemerkungen.Was sich derzeit in Tschetschenien, aber auch inRussland abspielt, ist eine politische Katastrophe – einepolitische Katastrophe, die darauf verweist, wie gefähr-det zurzeit der Demokratisierungsprozess in Russlandist, wie stark sich dort soziale und ökonomische Verwer-fungen, der Zusammenbruch selbst rudimentärer sozia-ler Sicherungssysteme und die seitens des Westens of-fensiv betriebene Verdrängung Russlands von der Büh-ne der international respektierten Akteure instrumentali-sieren lassen, um nationalistischen und chauvinistischenKräften den Boden zu bereiten, um ein politisch völligkonzept- und hilfsloses, dafür aber umso brutaleres Um-sich-Schlagen zu legitimieren.Aber auch wenn klar ist, dass die unmittelbare Ver-antwortung für das Morden, der Schlüssel für das Endedes Krieges, für eine politische Lösung des Konflikts inMoskau liegt, kann man nicht umhin, auch dem Westeneine nicht unerhebliche Verantwortung für diese Ent-wicklung zuzuschreiben. Dazu gehört nicht zuletzt eineMenschenrechtspolitik der gespaltenen Zunge.Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl – er isteben hier zitiert worden –, hat gestern noch auf etwasanderes hingewiesen. Er hat mit Blick auf den Krieg imKosovo gesagt, Deutschland und die NATO-Staaten hät-ten sich im vergangenen Jahr nicht gescheut, einenKrieg gegen Serbien zu führen mit der Begründung,Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Jetztreiche die Empörung des Bundesaußenministers nichteinmal zu einem entschiedenen Protest gegenüber derrussischen Regierung aus. O-Ton Kauffmann: Hier muss man den Eindruck gewinnen, dass Men-schenrechte instrumentalisiert, nach zweierlei Maßgemessen werden.Dem ist zuzustimmen, meine Damen und Herren,womit ich keineswegs dafür plädieren will, gegenüberRussland ähnlich verhängnisvoll zu agieren wie gegen-über Serbien, also mit völkerrechtswidriger Gewaltan-wendung, der Zerstörung ziviler Infrastruktur und Sank-tionen, die allein der Zivilbevölkerung massive Opferabverlangen. Das wäre eine untaugliche Logik. Woran ich aber erinnern möchte, ist die gerade andiesem Ort von der Bundesregierung vorgetragene mo-ralische Entrüstung, sind die präsentierten Bilder vonVertreibung und Mord, ist der Ruf nach entschiedenenReaktionen auf die massiven Menschenrechtsverletzun-gen im Kosovo. Das ist erst wenige Monate her. Undobwohl sich die humanitäre Situation in Tschetschenien– ich komme gleich zum Schluss – derzeit wohl kaumvon der im Kosovo unterscheidet – das haben wir allekonstatiert –, herrscht nun vergleichsweise Funkstilleoder Pragmatismus, wie man will.Ich möchte, weil ich meine Rede etwas zu lang kon-zipiert habe, nur noch ein Zitat bringen, weil es mehr-fach Appelle an die russische Regierung gegeben hat,was die Verhältnismäßigkeit der Mittel anbetrifft. Umdeutlich zu machen, dass die russische Regierung dies ineiner ganz bestimmten Art und Weise wertet, möchte ichzitieren, was Edward N. Luttwak, der strategische Bera-ter der US-Regierung, am 25. Januar in der „FAZ“ ge-schrieben hat:Die russische Taktik ist nicht zimperlich und miss-achtet die Sicherheit der Zivilisten, die sich noch inGrosny aufhalten, vollkommen. ... Aber westlicheArmeen würden keine andere Taktik verwenden,weil sie hohe Verlustzahlen mindestens ebenso sehrscheuen wie die Russen.Ich danke Ihnen.
Ich glaube inder Tat, Herr Kollege Hübner, dass das Text für mindes-Carsten Hübner
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tens zehn Minuten war. Man kann nicht schneller spre-chen, als Sie es an diesem Pult getan haben. – So viel fürdas nächste Mal.Jetzt hat der Herr Bundesminister Joschka Fischer dasWort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn mander Debatte gefolgt ist – für jemanden, der an den De-batten des Auswärtigen Ausschusses über Tschet-schenien teilgenommen hat, ist dies nicht verwunder-lich – und parteipolitische Vorwürfe außer Acht lässt,dann wird man feststellen, dass es in der Substanz ei-gentlich über alle Fraktionen hinweg Übereinstimmunggibt. Das gilt auch für die PDS-Fraktion.Herr Kollege Hübner, was Sie in der Sache vorgetra-gen haben, das ist im Wesentlichen das, was die Grund-lage unserer Forderungen gegenüber Russland etwa imhumanitären Bereich von Anfang an ausgemacht hat,aber über die Schwierigkeiten auf russischem Territori-um haben Sie nichts gesagt, und das ist der entscheiden-de Punkt.
Die Bundesregierung kann sich eben nicht nur mit For-derungen begnügen.Ich finde es schon putzig: Da wird mir auf der einenSeite vorgeworfen, nicht entschieden genug aufzutreten,und in der russischen Öffentlichkeit wird von Journalis-ten die Feststellung getroffen, ich sei der härteste Kriti-ker Europas am Tschetschenienkrieg, und die Frage ge-stellt, was ich zu folgenden Punkten sage. Es gibt hiereine völlig unterschiedliche Perspektive. Ich denke, wir sollten die Dinge einen Augenblick soanalysieren, dass die Handlungsalternativen, die wir ha-ben, tatsächlich klar werden. Nur aufgrund des Ver-säumnisses, vorhandene Handlungsalternativen nichtgenutzt zu haben, für deren Einsatz vieles spricht, würdemeines Erachtens ein Vorwurf politisch zu erheben sein. Wir haben es in Tschetschenien mit einer politischenund humanitären Katastrophe zu tun, ohne jeden Zwei-fel. Sosehr wir das Recht Russlands betonen, ja sogarseine Pflicht, seine Grenzen zu verteidigen, weil nie-mand ein Interesse an einem sich vielleicht auch nur par-tiell auflösenden Russland haben kann, sosehr betonenwir aber auch, dass der Kampf gegen Terrorismus, denwir bejahen, mit verhältnismäßigen, rechtsstaatlichenMitteln geführt werden muss. Der Krieg gegen ein gan-zes Volk ist kein verhältnismäßiges Mittel im Kampfgegen Terrorismus.
Für uns steht das Recht der Selbstverteidigung Russ-lands gegen Terrorismus mit verhältnismäßigen Mitteln,für uns steht die territoriale Integrität Russlands nicht in-frage. Insofern wird man hier nicht darüber diskutierenmüssen, sondern man muss die konkrete, spezifische Si-tuation, die zu dieser humanitären und politischen Ka-tastrophe geführt hat, analysieren und daraus die not-wendigen Konsequenzen ziehen. Der Vertrag von 1996, der damals unter Lebed aus-gehandelt wurde, war so schlecht nicht. Das große Prob-lem, das wir heute haben, ist, dass wir es aufgrund des-sen, dass dieser Vertrag nie mit Leben erfüllt wurde –Kollege Lippelt hat die tragische Rolle des PräsidentenMaschadow angesprochen –, heute mit einem Dilemmazu tun haben, das wir in Afghanistan in der Tat auffurchtbare Art und Weise zum ersten Mal erleben muss-ten: entweder Interventionskrieg von außen, die russi-sche, die damals sowjetische Intervention von außen,oder – im Falle des Abzugs – aufgrund des nicht statt-findenden politischen Friedensprozesses die Talibanisie-rung, das heißt die Fortsetzung des Krieges gegen dieZivilbevölkerung von innen heraus. Das ist die verfluch-te Situation, in der wir heute stecken, weil die Zeit seit1996 nicht für eine politische Lösung genutzt wurde. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hübner: Die Situationin Tschetschenien macht gerade den Unterschied zudem, was im Kosovo geschehen ist und warum dort ein-gegriffen werden musste, klar. Sonst hätten wir eine Si-tuation der permanenten Destabilisierung aufgrund derGewaltpolitik Milosevics gehabt. Heute ist die Perspek-tive des Balkans bei allen Schwierigkeiten, bei allenMenschenrechtsverletzungen, bei allen großen Proble-men, die die nicht gelöste albanische Frage und dasFortbestehen der Diktatur Milosevics mit sich bringt,klar, nämlich eine Europäisierung. Der Anfang, der jetztin Kroatien gemacht wird, sich vom Nationalismus zulösen, stimmt mich sehr hoffnungsvoll. Ich bin mir si-cher, dass wir etwa in Verbindung mit der Stärkung derdemokratischen serbischen Opposition und der Demo-kratie in Montenegro, verbunden mit einer massivenHilfe, aber auch mit dem Verlangen, mit einer Politikder Flüchtlingsrückkehr in der Krajina Ernst zu machen,in der Tat eine neue Dynamik demokratischer Verände-rungen in Belgrad erreichen können – und das ist derentscheidende Punkt – eingerahmt in den Stabilitätspakt.
Ich wäre heilfroh, wenn wir im Kaukasus nur einenSchimmer einer solchen politischen Lösung hätten. Ichwäre heilfroh, aber es ist nichts zu sehen.Deswegen, meine Damen und Herren, meine ich, wirdürfen nicht müde werden, uns in klarer und eindeutigerSprache zu artikulieren. Dabei bin ich für jede Unter-stützung dankbar. Es gibt zwischen der Bundesregie-rung, dem Deutschen Bundestag und den politischenParteien verteilte unterschiedliche Rollen; das ist über-haupt keine Frage. Der Bundestag kann da eindeutigweiter gehen. Ich sage das, weil Sie es mit Hinweis auf meine da-malige Position angesprochen haben. Sie hätten meineAusführungen insgesamt zitieren müssen. Ich war da-mals aus den selben Gründen wie heute gegen Wirt-schaftssanktionen, gegen die politische Isolierung. Al-Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
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lerdings habe ich damals die klare Sprache vermisst.Daran lassen wir es heute nicht mangeln.Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesregierungkann sich natürlich nicht darauf zurückziehen, Dingeanzuprangern, sondern zu Recht verlangen Sie von uns,dass wir die Handlungsoptionen ausloten. Ich denke, damuss man klar sehen, dass wir mit dem Beschluss vonHelsinki durchaus etwas erreicht haben, nämlich das Ul-timatum wegzubekommen. Das war damals der ent-scheidende Punkt. Wenn wir eine realistische Analyse durchführen,müssen wir erkennen, dass unsere Kraft zwar ausreicht,um das russische Vorgehen zu zügeln, aber nicht aus-reicht, um es wirklich zu stoppen. Das ist die Realität.Unter allen öffentlichen Diskussionsbeiträgen undKommentaren, die ich gelesen habe, ist mir kein Vor-schlag aufgefallen, den wir bisher noch nicht bedachthätten. Ich habe auch im Rahmen der internationalenDiskussion kein neuen Vorschlag gefunden.Damit komme ich zu der meines Erachtens entschei-denden Frage, nämlich ob wir am Ende unserer Analysenicht zu Mitteln greifen, die das Gegenteil von dem be-wirken, was wir erreichen wollen.
Das hat überhaupt nichts mit Appeasement, Anpassungoder Verneigung vor irgendwelchen Kriegsherren zutun. Das wissen Sie.
– Es ist überhaupt nicht interessant, dass ich in der„Zwischenzeit“ zu diesem Ergebnis komme. Entschei-dend ist, dass wir nicht das Gegenteil von dem, was wirwollen, erreichen.Man muss erkennen, dass die Situation in Russlandgespalten ist. Wir haben ein substanzielles Interesse ander territorialen Integrität Russlands. Wir haben auch einInteresse daran, dass demokratische, marktwirtschaftli-che und rechtsstaatliche Reformen in Russland voran-kommen. Wir haben ein großes Interesse daran, dass dieWahlen zur Duma fair verlaufen und dass es einen kon-stitutionellen Machttransfer auf der Präsidentenebenegibt. Das wären wichtige Entwicklungen; denn wir kön-nen ein in sich instabiles Russland angesichts seiner Be-deutung für die Sicherheit und den Frieden in Europaund in der Welt nicht zulassen. Aber auf dieser Grund-lage kritisieren wir auch das Vorgehen Russlands inTschetschenien und die humanitäre und politische Ka-tastrophe, die der dortige Krieg verursacht hat; denn esbesteht in der Tat die Gefahr, dass Russland das Gegen-teil von dem erreicht, was es will: Mit der Parole „Ver-nichtung der Terroristen“ wird die Grundlage für einemassenhafte Unterstützung der Terroristen geschaffen.Dies kann wiederum zur Talibanisierung der Region, zurDestabilisierung anderer Regionen außerhalb Russlandsund auch zur Destabilisierung der demokratischen Ent-wicklung in Russland führen. Das ist ebenfalls unseregroße Sorge.Die Forderung nach dem Schweigen der Waffen undnach einer politischen Lösung muss im Zentrum stehen.Die Bemühungen um eine humanitäre Lösung zu ver-stärken ist auch ein entscheidender Punkt. Wir verbin-den mit dem Besuch von Kofi Annan am heutigen Tagdie Hoffnung, dass nicht nur der UNHCR, sondern auchandere internationale Hilfsorganisationen endlich voran-kommen und Bedingungen sowohl für ihre Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter als auch für die materielle Hilfevereinbaren können, wie sie in solchen Krisensitu-ationen in der Tat üblich und für eine effektive Unter-stützung notwendig sind. Der entscheidende Punkt ist al-lerdings die Unterstützung durch die Innenpolitik Russ-lands. Machen wir uns nichts vor: Solange es dort einemassive Mehrheit gibt, die die bisherige Politik Russ-lands unterstützt, so lange sind unsere Mittel begrenzt.Herr Kollege Irmer, ich habe doch nicht Sanktionenausgeschlossen. Ich bin lediglich dafür, dass Sanktionensehr sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie taugen odernicht. Ich war für die Verhängung von Sanktionen gegendie Bundesrepublik Jugoslawien. Der Visa-Bann ist einhervorragendes Instrument gegen die Nomenklatura.Das Einfrieren ihrer Konten ist ein hervorragendes In-strument, das ich sogar noch verschärfen möchte. Abermittlerweile sind nach meiner Meinung das Ölembargo,das aus militärischen Gründen ausgesprochen wurde,und das Flugverbot kontraproduktive Sanktionen, diedeswegen aufgehoben werden müssen. Ich appelliere –darüber müssen wir uns im Klaren sein; ich bin fürWahrhaftigkeit –, nicht Sanktionen zu verhängen, die inWirklichkeit noch nicht einmal an der Oberfläche krat-zen, geschweige denn die russische Führung zu eineranderen Politik als bisher zwingen. Wenn man Sanktio-nen erfolgreich durchsetzen möchte, dann muss man In-strumente einsetzen – ihre politische Wirkung sollte manvorher durchdeklinieren –, wie zum Beispiel das drasti-sche Herunterfahren der Wirtschaftsbeziehungen zwi-schen der Europäischen Union und Russland. Dies wür-de auf eine Isolierung Russlands hinauslaufen. Davorkann ich nur warnen; denn so lange sich Russland nichtin einer strategischen Konfrontation mit Europa unddem Westen befindet, so lange dürfen wir auch nichtstrategische Containment-Mittel einsetzen, es sei denn,wir wollten eine neue Isolierung herbeiführen. Dies hiel-te ich für eine katastrophal falsche Politik.
Unsere Politik sollte sich an drei Elementen orientie-ren: Punkt eins. Wir sollten Russland klarmachen, so wiees alle Rednerinnen und Redner gefordert haben, dassseine Vorgehensweise nicht akzeptabel ist, dass sie sichmit den internationalen Vereinbarungen, die Russlandauf europäischer, aber auch auf globaler Ebene einge-gangen ist, genau so wenig verträgt wie mit den langfris-tigen russischen Interessen.Bundesminister Joseph Fischer
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Punkt zwei. Wir sollten auf Verbesserung der huma-nitären Hilfe insistieren, damit die humanitäre Katastro-phe abgewandt werden kann. Neben dem Beenden desKrieges ist das der andere wesentliche Punkt.Punkt drei. Wir sollten allerdings darauf verzichten,dass Russland in die Isolation abgleitet; denn wir wür-den damit mehr verlieren als gewinnen.
Wenn das als Grundlage der gemeinsamen Politik indiesem Hause anerkannt wird, dann werden wir nach derPräsidentenwahl mit einer Politik der strategischen Ge-duld und der Prinzipienfestigkeit eine neue Chance ha-ben. Darin besteht die Möglichkeit, einen Neuanfang zuversuchen. Ob er gelingt, weiß ich nicht. Wenn er nichtgelingt, wird man meines Erachtens die Diskussion da-nach erneut, und zwar in eine andere Richtung geleitet,zu führen haben.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In derDiskussion über den Krieg ist viel über die unmöglicheArt und Weise der Terrorismusbekämpfung gesagt wor-den. Um diese Terrorismusbekämpfung zu begründenund um den Terrorismus zu beenden, führt man einenKrieg nach zaristischer und stalinistischer Art. Daraufwill ich gar nicht weiter eingehen.Ich will zu der Frage zurückkommen, wie es in Mos-kau war. Ich bin überzeugt, dass Sie, Herr Außenminis-ter, die Dinge angemessen vorgetragen haben. Es hatuns allerdings etwas überrascht, dass bei Ihrem Lande-anflug zur Realpolitik die Landeklappen ziemlich weitausgefahren waren und die Landung sehr sanft war.
Wenn Sie selbst meinen, Sie müssten diese Form derRealpolitik aus Gründen der Abwägung vertreten, dannkann ich mir vorstellen, dass der Bundeskanzler seineKontakte nach Moskau nutzt. Ich greife damit übrigensein Wort auf, Herr Außenminister, das der Oppositions-politiker Fischer in einer Debatte, die wir an anderemOrt, aber im gleichen Saale
vor vier oder fünf Jahren über die Frage „Wie verhältman sich denn?“ geführt haben, benutzt hat. Der dama-lige Bundeskanzler hat sich an den damaligen russischenPräsidenten gewandt.
– Das ist natürlich der Punkt. Wenn man sich um dasThema nicht so kümmert, dann kann man auch nicht re-agieren.Allein aus Kontakten nach Moskau wird noch keinSommer in Tschetschenien werden. Die Frage ist: Waskönnen wir über das hinaus, was wir allseits beklagt ha-ben, anbieten? Das, was der Europarat gesagt hat – Kol-lege Bindig musste schon weg –, kann ich nur als positivempfinden. Es ist zu bedauern, dass diese Stellungnah-me nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist. KollegeLippelt, ich muss zugestehen: Ich habe vor vier oderfünf Jahren, als wir mit Kowaljow über die Mitglied-schaft im Europarat geredet haben, eigentlich die Positi-on eingenommen, dass man die Russen lieber draußenlassen solle. Wir haben auf seinen Rat hin – dies war inder damaligen Moskauer Opposition übrigens keine ein-hellige Meinung; es gab auch da unterschiedliche Mei-nungen – gesagt: Gut, wir wollen euch aufnehmen, umstärker einwirken zu können. Ich konstatiere, dass dassicherlich der richtige Weg ist. Die fünf Stunden Iwa-now haben das gezeigt.Herr Außenminister, in der gegenwärtigen Debattefehlt mir über die drei Punkte hinaus die Behandlung derFrage, was wir außer einer Kriegscontainmentpolitik,außer einer appellativen Politik machen. Was sind dieUrsachen des Konfliktes? Die Lage im ethnischen Be-reich ist verworren. Die Lage im wirtschaftlichen Be-reich ist schwierig. Es geht um die strategische Positiondieser Region, Stichwort „Ölversorgung“. Es gibt viel-fältige Interessen vielfältiger Staaten an dieser Region.In der Debatte gestern haben Sie eine Regierungser-klärung abgegeben, in der Sie sich zugute gehalten ha-ben, dass Sie eine Initiative für Südosteuropa gestartethaben. Wir haben das sachlich abgehandelt, kritisiertund in wesentlichen Punkten haben wir Unterstützungzugesagt.An Ihrer Stelle würde ich einen vierten Punkt zu dem,was wir tun müssen, hinzufügen. Wir sollten den Russennach dem 26. März oder hoffentlich etwas vorher eineweitere Chance geben. Ich bin nicht so ganz sicher, obPutins Kalkül aufgeht. Sie hatten schon angesprochen:Was ist denn, wenn der Terrorismus in die Städte Russ-lands zurückkehrt? Hören Sie sich Luschkow an, derheute ganz anders argumentiert, als er es getan hat, als erdirekt unter dem Eindruck des damaligen Attentatsstand. Luschkow sagt heute: Wir hätten diesen Kriegnicht anfangen sollen. Da hat er wohl Recht.Wir müssen über die Energieversorgung und diedurchaus kontroverse Interessenlage diskutieren. Damitverbunden ist, von einer ganz anderen Warte aus, dieFrage einer gewissen religiösen Fundamentalisierung.Sie haben das Stichwort „Taliban“ genannt. Ich denkean die Verknüpfung von Religion und Ölinteressen. Icherinnere an die Wahabiten und all das andere, was damitverbunden ist.Sollten wir nicht überlegen, eine Zentralasienkonfe-renz durchzuführen, die, gerade was diese Fragestellun-gen angeht, Russland eine Möglichkeit gibt, seinedurchaus berechtigten Interessen nicht in zaristischerForm – was die Russen immer wieder in TschetschenienBundesminister Joseph Fischer
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gemacht haben, sie notfalls eben zu kujonieren – durch-zusetzen, sondern auch unter Einbeziehung anderer Inte-ressen: georgischen, armenischen, aserbaidschanischen,türkischen, europäischen und amerikanischen Interes-sen?
Wir lassen die USA in dieser Frage von europäischerSeite aus relativ alleine laufen. Wieso formulieren wirEuropäer unsere Sicherheits- und Rohstoffinteressen indieser Region nicht? Das muss nicht in aggressiverForm geschehen.
– Das ist gefährlich. Aber es ist noch gefährlicher, Dingelaufen zu lassen, ohne zu erkennen, wo die wahren Ur-sachen des Konfliktes liegen.
Aus diesem Grunde würde ich den vierten Punkt ger-ne anfügen und sagen: Wir müssen überlegen, wie wir indieser Region – nicht nur in Tschetschenien, sondernauch in Dagestan, Tatarstan, in all den Gebieten bis hinin die anderen Länder der GUS – eine vernünftige Mög-lichkeit des Interessenausgleichs schaffen können. Lei-tungen um Russland herum zu bauen und Russland aus-schalten zu wollen, das wird auf Dauer keinen Friedenin dieser Region bringen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich das aufgrei-fen, was der Kollege Kurt Palis gesagt hat. Die Russ-landpolitik des Außenministers findet die volle Unter-stützung der SPD-Fraktion. Das gilt auch für seine Reisenach Moskau.Herr Kollege Schmidt, was Ihre Appelle angeht, so istes für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass es vorder Reise von Herrn Fischer ein Gespräch zwischen demBundeskanzler und Putin gegeben hat, übrigens, soweitich unterrichtet bin, auch ein Gespräch zwischen Ihremehemaligen Ehrenvorsitzenden, dem ehemaligen Bun-deskanzler Helmut Kohl, und Jelzin.Wenn man in Russland etwas erreichen will, wennman Kontakt mit Putin haben will, dann muss man nachMoskau fahren. Sie kennen die russische Verfassung.Putin hat als Ministerpräsident und als amtierender Prä-sident gerade eine Doppelrolle inne. Er darf das Landnicht verlassen.Es gibt hier eine Menge Gemeinsamkeiten. Es ist gut,dass das zum Ausdruck gebracht worden ist. Man mussaufpassen, dass wir uns hier nicht eine provinzielle Dis-kussion leisten; denn – darüber sind wir uns doch wohlim Klaren – nur dann, wenn wir eine gemeinsame Posi-tion nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europahaben, kann das irgendeine Auswirkung auf eine Machtwie die der russischen Föderation haben.Wir müssen auch aufpassen, dass wir ehrlich mit denberechtigten Forderungen an die russische Führung um-gehen. Ich stimme all denen zu, die hier gesagt haben,im Zentrum müsse dabei die Art der Kampfführung ste-hen. Unterschiedslose Bombardierung von Dörfern undStädten ist kein Kampf gegen Terrorismus.
Insofern kann das nur den Protest der Weltöffentlichkeithervorrufen.Ich möchte eines – das gehört zur Ehrlichkeit – dazu-sagen: Dieser Appell geht auch an die tschetschenischenKämpfer. Es gibt einen Bericht von Human RightsWatch, aus dem hervorgeht, dass die tschetschenischenEinheiten gegen den Willen der Dorfältesten Dörfer alsSchutz für ihre Operation nehmen, dass sie sogar Leute,die dagegen protestieren, misshandeln. Das ist natürlichauch eine Provokation, was die Angriffe auf diese Dör-fer angeht. Dieser Appell muss also auch in diese Rich-tung gehen.
Bei der politischen Lösung, liebe Kolleginnen undKollegen, die wir immer wieder fordern, sind wir unsüber die Schwierigkeiten von Verhandlungsgesprächenim Klaren. Es muss eigentlich auch weitergehen. In derTat, nach dem Vertrag von Chasaviot ist eines nicht pas-siert, nämlich irgendeine Perspektive für die lange schonin der Krise lebende tschetschenische Bevölkerung auf-zubauen. Das war in dem Vertrag versprochen worden,ist aber nicht passiert. Das hat den enormen Exodus derBevölkerung aus Tschetschenien fortgesetzt, der 1991begonnen hat.1991 lebten in Tschetschenien 1 Million Menschen, undzwar 750 000 Tschetschenen, 230 000 Russen und nocheinige andere. Schon bis 1994, bis zu dem Zeitpunkt, alsder erste Tschetschenienkrieg begann, sind wegen derkrisenhaften Entwicklung 250 000 Menschen weggezo-gen und bis 1996 weitere 100 000. Zu Beginn des jetzi-gen Krieges waren noch ganze 650 000 Menschen inTschetschenien, und zwar als Residenten – so hörenwir – nur noch 350 000; die anderen haben bereits inNachbarrepubliken gearbeitet und zum Teil dort auchgelebt. Das zeigt die ganze Tragödie, die sich dort abgespielthat. Das zeigt übrigens auch, welches Risiko Russlandeingeht, wenn es keine dauerhafte politische Lösungsucht. Denn es gibt in der russischen Diaspora 500 000Tschetschenen, davon 250 000 in Moskau. Das sind imGrunde genommen sehr viele potenzielle Kämpfer,wenn es keine dauerhafte Lösung gibt. Es ist immerwieder lohnend, das der russischen Führung klarzuma-chen. Christian Schmidt
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7906 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000
Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einer Zentral-asienkonferenz gesprochen. Es stimmt, der Tschetsche-nienkrieg ist kein lokales Ereignis. Tschetschenien isteingebettet in eine Krisenregion, die von Transkaukasienbis nach Transkaspien reicht. Was wir dort brauchen, istetwas Ähnliches wie auf dem Balkan, nämlich ein regi-onales Konzept, das von Machtspielen bzw. von einerNeuauflage des „great game“ des 19. Jahrhunderts undvon einer Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderenMitteln wegführt. Dazu müssen wir einen konzeptionellen Beitrag leis-ten. Mit unseren amerikanischen Freunden sollten wireinen Dialog führen, was die Art ihrer Interessenver-tretung angeht. Denn wenn wir die Einbettung der Lö-sung dieses Konflikts in ein Konzept regionaler Sicher-heit nicht erreichen, dann wird es morgen andere tsche-tschenisch aussehende Schauplätze in dieser Region ge-ben. Das waren zum Schluss dieser Debatte ein paar nach-denkliche Bemerkungen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege
Gert Weisskirchen hat darum gebeten, seine Rede zu
Protokoll geben zu dürfen*). Diesem stimmen wir alle,
so glaube ich, gerne zu.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet und wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, 16. Februar 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.