Protokoll:
14031

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 31

  • date_rangeDatum: 26. März 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:31 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/31 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 31. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. März 1999 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Stif- tungsrechts (Drucksache 14/336) ............. 2561 A Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P.............. 2561 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU.................................................... 2562 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ ..... 2563 A Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN..................................................... 2564 A Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. ........ 2564 B Norbert Hauser (Bonn) CDU/CSU .............. 2564 C Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD.............. 2564 D Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. ................. 2565 A Dr. Rita Süssmuth CDU/CSU.......................... 2565 B Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 2567 A Dr. Heinrich Fink PDS..................................... 2568 B Jörg Tauss SPD................................................ 2569 A Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P.......... 2569 D Tagesordnungspunkt 14: Abgabe einer Erklärung der Bundesre- gierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 2571 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 2575 C Dr. Peter Struck SPD....................................... 2579 C Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P. ........................ 2581 D Joseph Fischer, Bundesminister AA................ 2583 D Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 2586 D Dr. Norbert Wieczorek SPD............................ 2589 D Ulrich Heinrich F.D.P. .................................... 2594 A Dr. Norbert Wieczorek SPD............................ 2594 C Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) 2595 A Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN................................................................. 2598 C Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ....................... 2599 D Dr. Gerald Thalheim SPD................................ 2601 A Peter Hintze CDU/CSU ................................... 2602 D Günter Verheugen, Staatsminister AA ............ 2604 A Dr. Gerd Müller CDU/CSU............................. 2606 A Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 2607 A Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 2607 D Dr. Gregor Gysi PDS....................................... 2610 A Paul Breuer CDU/CSU.................................... 2610 D Rudolf Scharping, Bundesminister BMVg...... 2611 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 2611 D Gernot Erler SPD............................................. 2612 D Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ........................................................ 2613 C Nächste Sitzung ............................................... 2614 C II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 2615 A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungs- punkt 12) Hans Michelbach CDU/CSU ........................... 2615 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Entwurf eines Gesetzes über die allgemeine und die reprä- sentative Wahlstatistik bei der Wahl der Abge- ordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Zusatzpunkt 6) Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.... 2616 C Anlage 4 Amtliche Mitteilungen..................................... 2617 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2561 (A) (C) (B) (D) 31. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. März 1999 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Hans-Christian Ströbele Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2615 (A) (C) (B) (D) Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.3.99 Austermann, Dietrich CDU/CSU 26.3.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 26.3.99 Dr. Bergmann-Pohl, Sabine CDU/CSU 26.3.99 Bernhardt, Otto CDU/CSU 26.3.99 Bulmahn, Edelgard SPD 26.3.99 Burchardt, Ulla SPD 26.3.99 Buwitt, Dankward CDU/CSU 26.3.99 Carstens (Emstek), Manfred CDU/CSU 26.3.99 Diemers, Renate CDU/CSU 26.3.99 Formanski, Norbert SPD 26.3.99 Friedrich (Altenburg), Peter SPD 26.3.99 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 26.3.99 Götz, Peter CDU/CSU 26.3.99 Gröhe, Hermann CDU/CSU 26.3.99 Frhr. von Hammerstein, Carl-Detlev CDU/CSU 26.3.99 Hasenfratz, Klaus SPD 26.3.99 Kampeter, Steffen CDU/CSU 26.3.99 Kunik, Konrad SPD 26.3.99 Kutzmutz, Rolf PDS 26.3.99 Lennartz, Klaus SPD 26.3.99 Dr. Lippold (Offenbach), Klaus W. CDU/CSU 26.3.99 Maaß (Wilhelmshaven), Erich CDU/CSU 26.3.99 Meckel, Markus SPD 26.3.99 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 26.3.99 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 26.3.99 Neuhäuser, Rosel PDS 26.3.99 Ostrowski, Christine PDS 26.3.99 Pau, Petra PDS 26.3.99 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 26.3.99 Rauber, Helmut CDU/CSU 26.3.99 Reinhardt, Erika CDU/CSU 26.3.99 Ronsöhr, Heinrich- Wilhelm CDU/CSU 26.3.99 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 26.3.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Schütze (Berlin), Diethard CDU/CSU 26.3.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 26.3.99 Schulz (Everswinkel), Reinhard SPD 26.3.99 Seiters, Rudolf CDU/CSU 26.3.99 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 26.3.99 Steinbach, Erika CDU/CSU 26.3.99 Streb-Hesse, Rita SPD 26.3.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 26.3.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 26.3.99 Dr. Wegner, Konstanze SPD 26.3.99 Willner, Gert CDU/CSU 26.3.99 Wissmann, Matthias CSU/CSU 26.3.99 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (Tagesordnungs- punkt 12) (vgl. 30. Sitzung, Seite 2542 A und Seite 2557, Anlage 4) Hans Michelbach (CDU/CSU): Der Entwurf der PDS zur Änderung des Einkommensteuergesetzes geht an dem eigentlichen Ziel von Entschädigungszahlungen grundlegend vorbei. Ziel kann es doch nur sein, den Zwangsarbeitern möglichst schnell und unkompliziert zu helfen. Dies ist um so wichtiger, da viele dieser Geschä- digten bereits ein hohes Alter erreicht haben. Die Frage der Entschädigung sollte daher nicht zu einer reinen steuerrechtlichen Frage degradiert werden, sondern sollte ohne langfristige Steuermaßnahmen den Opfern Abhilfe für das erlittene Unrecht verschaffen. Steuer- rechtliche Aspekte sollte man in anderen Zusammen- hängen erörtern, jedoch nicht im Zusammenhang mit den nationalsozialistischen Grausamkeiten. Wichtig ist daher allein die effiziente Errichtung ei- nes Entschädigungsfonds, der sich auf die humanitären und nicht auf die steuertechnischen Aspekte konzen- triert. Die ehemalige DDR, wie sie als Nachfolgepartei der SED wissen sollten, hat ihren Beitrag dazu übrigens nicht geleistet. Bis heute verweigern ehemalige kommu- nistisch regierte Länder, Schadensausgleich für Unrecht und Vertreibung zu leisten. Die Bundesrepublik Deutschland dagegen war und ist stets bemüht gewesen, durch umfangreiche Entschädigungsregeln das zugefügte 2616 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 (A) (C) (B) (D) Unrecht wiedergutzumachen, insofern dies überhaupt möglich ist. Ausdruck dieses Entschädigungswillens ist sehr deutlich in der Erklärung ,,Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen“ zu sehen. Es wird ein Zeichen gesetzt, welches als eine unmittelbare gesellschaftliche Ergän- zung der staatlichen Wiedergutmachungspolitik anzuse- hen ist. Bislang erfolgte diese allein aus öffentlichen Steuermitteln. Eine Beteiligung deutscher Firmen an dieser Wiedergutmachungspolitik erfolgte somit bereits indirekt. Schon in der Nachkriegszeit hat die deutsche Wirtschaft aus den erwirtschafteten Erträgen einen ho- hen Steuerbeitrag für die staatliche Wiedergutma- chungspolitik geleistet. Schon bald werden sich deutsche Firmen auch direkt an dieser Wiedergutmachungspolitik beteiligen. We- sentlich ist daher die Unterstützung für die Einrichtung solcher Entschädigungsfonds statt langwieriger Diskus- sionen über eine verfassungsrechtlich bedenkliche Än- derung des deutschen Steuerrechts. Nachdem die Größenordnung der Zahlungen noch nicht feststeht, kann zu den fiskalischen Auswirkungen eigentlich keine Bewertung stattfinden. Einige Firmen haben schon aus Eigeninitiative versucht, den Opfern di- rekt und unmittelbar durch schnelle Zahlungen zu hel- fen. Hier ist insbesondere die Firma Diehl in Nürnberg zu nennen, die unkompliziert, ohne daß eine Rechts- pflicht vorgelegen hätte, an die ehemaligen Zwangsar- beiter Entschädigungsgelder gezahlt hat. Auch sollte man berücksichtigen, daß fast immer auch die Entschei- dungsträger und Eigentümer der Firmen ebenso wie alle anderen den unmenschlichen Zwangsmaßnahmen des totalitären Nazi-Regimes unterworfen waren. Die Errichtung des Entschädigungsfonds ,,Stiftungs- initiative deutscher Unternehmen“ zeigt, deutsche Fir- men scheuen sich nicht, die soziale und moralische Ver- antwortung zu übernehmen. Damit wird der Anerken- nung Deutschlands als freiheitlicher Demokratie ge- dient. Darüber hinaus würde eine Veränderung des Ein- kommensteuerrechts ein falsches Signal für andere Be- reiche aussenden: Das deutsche Recht darf nicht beliebig veränderbar sein. Der sogenannte Betriebsausgabenab- zug ist keine Steuervergünstigung, die einfach gestri- chen werden kann, er beruht vielmehr auf einem Grund- prinzip des Steuerrechts. Betriebsausgaben sind alle Aufwendungen, die durch den Betrieb veranlaßt worden sind, wozu auch die Entschädigungszahlungen an Zwangsarbeiter gehören. Eine Abzugsbeschränkung für Entschädigungszahlungen würde eine Gesetzesänderung voraussetzen, eine solche wäre verfassungsrechtlich nicht haltbar. Hintergrund dieser Vorschrift (§ 4 Abs. 5 EStG) ist, daß die Durchbrechung des im Steuerrecht geltenden Nettoprinzips ausnahmsweise auch gerecht- fertigt ist bei Aufwendungen mit Bezug zu einem recht- lich oder moralisch verwerflichen Verhalten. Bei den Leistungen an die NS-Zwangsarbeiter han- delt es sich um Wiedergutmachungsleistungen, die einen entstandenen Schaden ausgleichen sollen. Sie stellen somit Schadensersatzleistungen dar, da ihr Rechtsgrund in der beruflichen Sphäre der Banken liegt. Auf das Ver- schulden kommt es bei Schadensersatzleistungen nicht an; ansonsten dürften auch Leistungen für ärztliche Kunstfehler z.B. nicht als Betriebsausgaben abzugsfähig sein. Diese Steuerdebatte trägt zynische Züge gegenüber den Opfern der NS-Schreckensherrschaft. Die PDS schießt hiermit gerade als Nachfolgepartei der SED ein schwerwiegendes Eigentor. Die CDU/CSU-Fraktion dankt den Unternehmen für ihre Bereitschaft zur Mit- wirkung an der Einrichtung eines Entschädigungsfonds ohne eine Rechtspflicht. Damit wird die humanitäre Verpflichtung und Verantwortung wahrgenommen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zu dem Entwurf eines Gesetzes über die allge- meine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutsch- land (Zusatzpunkt 6) (vgl. 30. Sitzung, Seite 2544 B und Seite 2557, Anlage 6) Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So- wohl 1994 als auch 1998 mußten die Bürgerinnen und Bürger nach den Bundestagswahlen auf eine Auswer- tung und eine umfassende Analyse des Wahlverhaltens nach Alter und Geschlecht verzichten. Der 12. Bundes- tag hatte Sonderauszählungen ausgesetzt, und der ge- ballte Sachverstand der deutschen Wahlforschung konnte die dadurch entstandene Erkenntnislücke nicht schließen. Wir wollen unter strenger Wahrung des Da- tenschutzes die amtliche Statistik wieder einführen. Sie ist nach einhelliger Auffassung von Experten, Wissen- schaftlern und Meinungsforschern unverzichtbar. Ich darf in diesem Zusammenhang übrigens an Entschlie- ßungen des Bundesrates erinnern: Die Landesregierun- gen haben uns schon 1994 und 1998 gedrängt, hier tätig zu werden. Bei Wahlen artikulieren sich die Bürgerinnen und Bürger. Das Ergebnis müssen wir formal hinnehmen: Darum sitzen wir hier in diesem wunderbaren Saal in dieser Zusammensetzung. Wir müssen uns bei unserer Arbeit aber auch im klaren sein, was hinter den Wahler- gebnissen steckt, wie die Parteipräferenzen sind, z.B. von jungen Menschen. Hier können wir Hinweise zur Nei- gung von Jungwählern zu Extremisten in bestimmten Wählergruppen erhalten. Die Meinungsforschung liefert uns nur ein ungenaues Bild. Sie erhebt nicht die tatsäch- lich abgegebenen Stimmen. Als Bürgerrechtspartei nehmen Bündnis 90/Die Grü- nen die datenschutzrechtlichen Einwände sehr, sehr ernst. Wir waren noch nie Freunde der staatlichen Da- tensammelwut. Die Anlage von staatlichen Daten- sammlungen und überflüssigen Datenbeständen haben wir immer abgelehnt. Wir werden das auch in Zukunft ablehnen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2617 (A) (C) (B) (D) Bei der Wahlstatistik handelt es sich jedoch nicht um eine flächendeckende Abfrage wie bei einer Volkszäh- lung, sondern um eine sorgfältig erhobene Stichprobe. Hier hat es seit 1953 keine Probleme gegeben, und wir erwarten zukünftig auch keine. Ganz klar sei aber hier gesagt: Wir haben in das Gesetz strenge Sicherungen eingebaut, die es in den alten gesetzlichen Regelungen nicht gab. Zusätzlich haben wir mit der Mindestgröße der Wahlbezirke von 400 Wahlberechtigten auch eine hin- reichende Sperre gegen die Aushebelung des Wahlge- heimnisses. Weniger wäre problematisch. Eine größere Zahl – etwa 500 – wäre datenschutzrechtlich wün- schenswert. Für die Statistik wäre das allerdings pro- blematisch, da dann kleine Gemeinden, und ländliche Gebiete nicht berücksichtigt werden könnten. Dem Schutz des Wahlgeheimnisses dient auch die gesetzliche Festschreibung von zehn Geburtsjahrgangs- gruppen mit jeweils drei Jahrgängen. Weniger Gruppen lassen sich nicht bilden, da wir sonst beispielsweise nichts über das Wahlverhalten junger Erwachsene von 18 bis 21 Jahren in Erfahrung bringen. Bei diesem Gesetzentwurf haben wir sowohl die Be- dürfnisse der Wahlstatistik berücksichtigt als auch die des Datenschutzes. Wir haben also ein vernünftiges Ge- setz zustande gebracht, das sicherlich die begeisterte Zu- stimmung des gesamten hohen Hauses finden wird. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 736. Sitzung am 19. März 1999 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- stimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform – Gesetz zur Änderung von Zuständigkeiten nach demSorgerechtsübereinkommens-Ausführungsgesetz – Gesetz zur Öffnung der Sozial- und Steuerverwaltung für denEuro (Zweites Euro-Einführungsgesetz) – Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäfti-gungsverhältnisse – Gesetz zur Änderung der Berücksichtigung von Entlassungs-entschädigungen im Arbeitsförderungsrecht (Entlassungsent-schädigungs-Änderungsgesetz – EEÄndG) – Gesetz zu dem Abkommen vom 18. August 1998 zwischender Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Ver-einten Nationen und dem Sekretariat des Übereinkom-mens der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wü-stenbildung über den Sitz des Ständigen Sekretariats desÜbereinkommens – Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat fol- gende Entschließung gefaßt: 1. Der Bundesrat begrüßt das vorliegende Steuerentlastungsge-setz 1999/2000/2002, das insbesondere darauf ausgerichtetist, Wachstum und Beschäftigung zu verbessern sowie Ar-beitnehmer/innen und Familien spürbar zu entlasten. Der Bundesrat stellt fest, daß in dem nun vom DeutschenBundestag beschlossenen Gesetzentwurf wesentliche steuerli-che Belange der mittelständischen Unternehmen eine ange-messene Berücksichtigung gefunden haben. Der Bundesratverweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Bei-behaltung der Teilwertabschreibung, des Verlustrücktragesund der Ansparabschreibung sowie auf die Freibetragsrege-lung bei Veräußerungsgewinnen. Der Bundesrat erwartet, daß die Reform der Unternehmens-besteuerung ab dem Jahr 2000 umgesetzt wird. 2. Der Bundesrat weist – wie schon gegenüber der alten Bundes-regierung – auf den Ausgleichsanspruch der Länder aus derNeuregelung des Familienleistungsausgleichs hin, wonach derBund einen Anteil von 74 vom Hundert und die Länder einenAnteil von 26 vom Hundert der Lasten aus der Berücksichti-gung von Kindern im Einkommensteuerrecht zu tragen haben.Allein aus der Leistungsverbesserung beim Kindergeld abdem Jahr 1999 haben die Länder einen Anspruch von rund1,8 Mrd. DM. Zur Herstellung des vorgesehenen Lasten-teilungsverhältnisses haben die Länder darüber hinausAnsprüche von rund 2,4 Mrd. DM für das Jahr 1999 und vonrund 5,7 Mrd. DM für die Jahre 1996 bis 1998. Insgesamtbeläuft sich der Anspruch der Länder daher auf rund10 Mrd. DM. Die Länder halten daher ihre Forderung aufrecht, daß derBund der im Grundgesetz festgelegten Ausgleichspflicht ge-genüber den Ländern und ihren Gemeinden nachkommt. Die Fraktion der PDS hat mit Schreiben vom 18. März 1999 ihren Antrag „Verlängerung der Pachtver- träge für ehemals volkseigene Flächen“ – Drucksache 14/291 – zurückgezogen. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nachstehenden Vorlage absieht: Innenausschuß – Unterrichtung durch die Bundesregierung Umfassender Bericht über bisherige Wiedergutma-chungsleistungen deutscher Unternehmen – Drucksachen 13/4787, 14/272 Nr. 6 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Ab-wicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungenan jüdische Verfolgte – Drucksachen 13/8684, 14/272 Nr. 7 – Ausschuß für Wirtschaft und Technologie – Fünfter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zu-kunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft –Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ zum Thema Verbraucherschutz in der Informationsgesellschaft – Drucksachen 13/11003, 14/272 Nr. 81 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Anwendung des Subsidiaritätsprinzipsim Jahr 1997 („Subsidiaritätsbericht 1997“) – Drucksachen 13/11074, 14/272 Nr. 82 – Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Stand der Planungen für umweltfreundli-che Ansätze bei den Bauten des Bundes in Berlin – Drucksachen 13/11211, 14/69 Nr. 1.3 – Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder – Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand derDeutschen Einheit 1998 – Drucksachen 13/10823, 14/272 Nr. 172 – 2618 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 (A) (C) (B) (D) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Perspektivbericht der Bundesregierung „Vorrang fürAufbau Ost“ – Drucksachen 13/11073, 14/272 Nr. 173 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be- ratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuß Drucksache 14/272 Nr. 2 Innenausschuß Drucksache 14/272 Nr. 10Drucksache 14/272 Nr. 11Drucksache 14/272 Nr. 12Drucksache 14/342 Nr. 1.1Drucksache 14/342 Nr. 2.43 Rechtsausschuß Drucksache 14/272 Nr. 22Drucksache 14/309 Nr. 2.3Drucksache 14/309 Nr. 2.40Drucksache 14/488 Nr. 2.14 Finanzausschuß Drucksache 14/342 Nr. 2.19Drucksache 14/488 Nr. 2.22Drucksache 14/488 Nr. 2.35Drucksache 14/488 Nr. 2.41 Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Drucksache 14/342 Nr. 1.7Drucksache 14/342 Nr. 2.1Drucksache 14/342 Nr. 2.2Drucksache 14/342 Nr. 2.4Drucksache 14/342 Nr. 2.8Drucksache 14/342 Nr. 2.14Drucksache 14/342 Nr. 2.15Drucksache 14/342 Nr. 2.30Drucksache 14/342 Nr. 2.31Drucksache 14/342 Nr. 2.52Drucksache 14/342 Nr. 2.56Drucksache 14/342 Nr. 2.57 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/272 Nr. 103Drucksache 14/272 Nr. 104Drucksache 14/272 Nr. 105 Drucksache 14/272 Nr. 108Drucksache 14/272 Nr. 109Drucksache 14/272 Nr. 1.10Drucksache 14/309 Nr. 2.23Drucksache 14/309 Nr. 2.27Drucksache 14/309 Nr. 2.33Drucksache 14/309 Nr. 2.34Drucksache 14/309 Nr. 2.56Drucksache 14/309 Nr. 2.59Drucksache 14/309 Nr. 2.64Drucksache 14/309 Nr. 2.67Drucksache 14/309 Nr. 2.68Drucksache 14/342 Nr. 2.7Drucksache 14/342 Nr. 2.10Drucksache 14/342 Nr. 2.11Drucksache 14/342 Nr. 2.13Drucksache 14/342 Nr. 2.26Drucksache 14/342 Nr. 2.27Drucksache 14/342 Nr. 2.28Drucksache 14/342 Nr. 2.29Drucksache 14/342 Nr. 2.32Drucksache 14/342 Nr. 2.33Drucksache 14/342 Nr. 2.35Drucksache 14/342 Nr. 2.44Drucksache 14/342 Nr. 2.46Drucksache 14/342 Nr. 2.47Drucksache 14/342 Nr. 2.48Drucksache 14/342 Nr. 2.49Drucksache 14/342 Nr. 2.51Drucksache 14/342 Nr. 2.53Drucksache 14/342 Nr. 2.55Drucksache 14/431 Nr. 2.4Drucksache 14/488 Nr. 2.28 Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/272 Nr. 147Drucksache 14/272 Nr. 150Drucksache 14/272 Nr. 155Drucksache 14/272 Nr. 158Drucksache 14/309 Nr. 1.3Drucksache 14/309 Nr. 2.48 Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 14/74 Nr. 2.21Drucksache 14/74 Nr. 2.38 Ausschuß für Kultur und Medien Drucksache 14/74 Nr. 1.19Drucksache 14/74 Nr. 2.101Drucksache 14/272 Nr. 215 Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Uni-on Drucksache 14/309 Nr. 2.63 Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403100000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Rainer Funke, Dr.
Klaus Kinkel, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Stiftungsrechts

(StiftRReformG)

– Drucksache 14/336 –
Überweisungsvorschlag:

(federführend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei für die Fraktion der F.D.P. sieben Minuten angesetzt sind. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat Herr Kollege Otto. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir ein Signal für mehr bürgerschaftliches Engagement und für mehr Mäzenatentum setzen. Wir wollen eine neue Stifterkultur in unserem Lande. Schon aus Haushaltsgründen ist der Staat nicht in der Lage, alle gesellschaftlichen Aufgaben zu finanzieren; er soll es auch gar nicht. Die Vollkaskoversorgung ist Wesensmerkmal eines Obrigkeitsstaates, während sich die freiheitliche Gesellschaft durch die Mitwirkung und Mitverantwortung ihrer Bürger auszeichnet. Damit nun keine Mißverständnisse aufkommen: Wir wollen den Sozialund Kulturstaat nicht aus seiner Förderpflicht entlassen, die ihm durch das Grundgesetz auf erlegt ist. Stiftungen sollen, wie es Ralf Dahrendorf formuliert hat, „Initiativlücken auffinden und schließen“. Bereits heute geben die 8 000 deutschen Stiftungen jährlich 35 Milliarden DM für ihre Satzungszwecke aus; sie bieten rund 100 000 Arbeitsplätze. Aber im Verhältnis zu vielen anderen Ländern – an erster Stelle sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz zu nennen – haben wir einen großen Nachholbedarf an Stiftungen. Die private Wohlstandsentwicklung in Deutschland gibt hierfür Raum. Die Summe der Privatvermögen hierzulande wird auf 5 200 Milliarden DM geschätzt; jährlich werden rund 250 Milliarden DM vererbt. Unser gemeinsames Ziel muß es sein, einen zunehmenden Anteil dieser privaten Mittel für gemeinnützige Zwecke zu gewinnen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1403100100

Meine Damen und Herren, wir denken dabei an Pro-
jekte im Bereich Kunst und Kultur, nicht zuletzt auch im
Bereich der auswärtigen Kulturförderung und des
Denkmalschutzes. Wir wollen privates Kapital aber auch
vermehrt für soziale Aufgaben, für Jugend- und Alten-
hilfe, für Bildungs- und Forschungseinrichtungen, für
Umweltprojekte sowie für den Breiten- und Spitzensport
erschließen. Dabei geht es uns nicht allein um die Er-
schließung von Finanzquellen, sondern auch um einen
höheren Stellenwert für das Ehrenamt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gemeinwohlorientiertes Handeln bedeutet für viele
Menschen Sinnstiftung. Bereits heute werden rund
90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland von ehren-
amtlichen Vorstandsmitgliedern geführt. Im übrigen ist
es ein Irrglaube, daß Stiftungen nur etwas für Millionäre
seien. Erfreulicherweise findet in Deutschland bei-
spielsweise die amerikanische Idee der Community
Foundation, also der Bürgerstiftung, immer größere
Verbreitung. In solchen Bürgerstiftungen kann sich eine
Vielzahl von Menschen für gemeinwohlorientierte Ziele
in ihrer Heimatregion einsetzen.






(B)



(A) (C)



(D)


Stiftungen sind also keineswegs ein Relikt der Feu-
dalzeit, wie ein SPD-Politiker vor vielen Jahren einmal
lästerte. Stiftungen gewinnen heute weltweit an Bedeu-
tung.

Wichtigster Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist es, die
steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen
spürbar zu verbessern. Insbesondere wollen wir die
Gleichbehandlung aller gemeinnützigen Zwecke im
Steuerrecht. Wir wollen ferner die Abzugsfähigkeit für
Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen von bisher
5 Prozent auf nunmehr 20 Prozent des jährlichen Ein-
kommens erhöhen. Es ist kein Steuersparmodell, wenn
ein Stifter für jede Abgabenreduzierung um 50 Pfennig
eine volle Mark für das Gemeinwohl hinlegt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Hierfür verdienen Stifter nicht Mißgunst und Neid, son-
dern öffentliche Anerkennung und Zuspruch.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unser steuerliches Gesamtpaket fand bei unserer Anhö-
rung am vergangenen Montag bei allen Experten einhel-
lige Zustimmung.

Zur Belebung der Stiftungskultur wollen wir aber
auch das Errichten von Stiftungen erleichtern. Das bis-
herige Konzessionssystem, also das Erfordernis einer
staatlichen Genehmigung, stammt aus den Zeiten des
Obrigkeitsstaates und entspricht nicht mehr einem mo-
dernen Staatsverständnis. Wir schlagen statt dessen vor,
eine Stiftung bereits durch die notarielle Beurkundung
des Stiftungsgeschäfts entstehen zu lassen. Wir sind uns
dabei bewußt, daß dies ein mutiger Vorschlag ist, und
stellen uns einer unvoreingenommenen Diskussion.

Das gilt auch für die Frage, ob die Stiftungsaufsicht
weiterhin durch Landesbehörden erfolgen soll und ob
das Stiftungsregister zukünftig von den Gerichten ge-
führt werden könnte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403100200
Herr Kollege Otto,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Stetten?


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1403100300
Aber bitte.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1403100400

Lieber Kollege Otto, teilen Sie mit mir zumindest die
rechtliche Beurteilung, daß das Stiftungsrecht – es be-
steht 100 Jahre – so schlecht nicht gewesen sein kann,
wenn es schon so lange besteht?


(Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist CDU-Argumentation!)


– Langsam, langsam. – Im Grunde genommen wurde
der Stifter auch beim Konzessionsmodell – sprich: bei
der Genehmigung der Stiftung – unter Umständen bera-

ten. Beim Registermodell besteht die Gefahr, daß ein
Notar nicht über alle Aspekte einer Stiftung so gut be-
raten kann, wie das in Baden-Württemberg das Regie-
rungspräsidium und in Bayern das entsprechende Mini-
sterium, also gewichtige Behörden, tun.

Laufen wir nicht Gefahr, daß gerade kleine Stiftun-
gen, die Sie ja fördern wollen, durch das Registermodell
leichtsinnig gemacht werden, da man die Folgen – man
ist nicht mehr Mitglied wie in einem Verein; vielmehr
gibt es nur noch Destinatäre – nicht kennt? Worin be-
steht der Vorteil des Registermodells gegenüber dem
Konzessionsmodell, abgesehen von der Beseitigung der
verstaubten Aspekte, die durch den von Ihnen einge-
brachten Gesetzentwurf erreicht würden?


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1403100500
Lieber
Herr Kollege von Stetten, ich kann Ihnen zunächst be-
stätigen, daß es Stiftungen nicht erst seit 100, sondern
seit vielen Hunderten von Jahren gibt.


(Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 000!)


– 1 000, gut, Frau Vollmer. Uns sind Stiftungen bekannt,
die schon 1 000 Jahre bestehen. Das ist völlig richtig.

Das kann uns aber nicht davon abhalten, uns Re-
formüberlegungen auch trotz einer so langen Tradition
zu machen. Wir haben bei unserer Anhörung von vielen
vernommen, daß sich manche potentiellen Stifter davon
abhalten lassen zu stiften, weil sie die hohen bürokrati-
schen Hürden, die es bedeutet, erst zum Finanzamt, dann
zur Stiftungsaufsicht, zum Regierungspräsidium usw. zu
gehen, fürchten. Wir wollen die Hürden für die Errich-
tung einer Stiftung möglichst niedrig ansetzen.

Wir freuen uns, lieber Herr Kollege von Stetten,
wenn Sie sich im weiteren Verlauf an der Diskussion
beteiligen werden. Ich will es noch einmal sagen: Unser
Gesetzentwurf ist ein Angebot, über das wir mit Ihnen
diskutieren wollen. Wir sind nicht vernagelt. Liberale
zeichnen sich dadurch aus, daß sie Diskussionen offen
führen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Wichtig erscheint uns, daß auch in Zukunft Familien-

stiftungen und Unternehmensträgerstiftungen zuläs-
sig bleiben; sie haben sich – Herr von Stetten, darin
stimme ich Ihnen zu – in einer jahrhundertelangen
Rechtstradition bewährt.

Wir Liberalen sind uns bewußt, daß eine neue Stifter-
kultur in Deutschland nur dann eine Chance hat, wenn
die Reformdiskussion nicht im parteipolitischen Pulver-
dampf versinkt. Wir verstehen unseren Gesetzentwurf
daher als eine Initialzündung, als einen Appell an alle
zur Belebung des Stiftungsgedankens und zur Belebung
des privaten Mäzenatentums.

Herr Staatsminister Naumann – er ist leider nicht da;
man möge es ihm ausrichten –, verehrte Kolleginnen
und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen: Lassen Sie
Ihren Ankündigungen jetzt Taten folgen!


(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. HansPeter Repnik [CDU/CSU])


Hans-Joachim Otto (Frankfurt)







(A) (C)



(B) (D)


Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg eintreten
für eine Stärkung der Bürgergesellschaft, für eine Re-
naissance der Stiftungskultur in Deutschland.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403100600
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat jetzt der Parlamentarische Staatsse-
kretär bei der Bundesministerin der Justiz, Eckhart Pick.

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403100700
Herr Präsident! Meine geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Das von der F.D.P.-Fraktion
vorgelegte Stiftungsreformgesetz benennt als Zweck, die
Rahmenbedingungen für Stiftungen zu verbessern, um
die Errichtung bzw. die Erweiterung von Stiftungen an-
zuregen. Ein solches Anliegen ist aus der Sicht der Bun-
desregierung vorbehaltlos zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Jetzt kommt aber die Einschränkung.

(Zuruf von der F.D.P.: Das dachte ich mir!)


Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf nur wenige
Ansatzpunkte, von denen tatsächlich Impulse für das
Stiftungswesen und die von ihm ausgehende Förderung
der Allgemeinheit ausgehen könnten.


(Beifall bei der SPD)

Ich meine, daß der Vorschlag zur Änderung des BGB

– Herr Kollege von Stetten hat eben darauf hingewiesen
– schon im Ansatz nicht berücksichtigt, daß das geltende
Stiftungsrecht des BGB funktioniert und daß es die
Stiftungspraxis selbst immer wieder auf einen Nenner
gebracht hat. Das heißt nicht, daß wir uns nicht über
eine Fortentwicklung einer Handvoll Paragraphen im
BGB unterhalten könnten. Das geltende Stiftungsrecht
des BGB und vor allem die Verwaltungspraxis der Län-
der geben allerdings keinen unmittelbaren Anlaß für
tiefgreifende Änderungen.


(Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie bitte?)


Der Versuch der F.D.P.-Fraktion, sich in ihrer neuen
Oppositionsrolle bei der Suche nach öffentlichkeitswirk-
samen Themen als Förderer des Stiftungswesens darzu-
stellen, ist zwar teilweise originell, aber nicht gerade
praxistauglich; auch was das Handwerkliche betrifft, ha-
ben wir einige Vorbehalte.

Im Mittelpunkt der Änderung des BGB-Stif-
tungsrechts steht der Vorschlag, vom Konzessionssy-
stem abzugehen und statt dessen einer Stiftung schon
durch die Beurkundung des Stiftungsgeschäfts durch
einen Notar Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Tat-
sächlich bringt dieser Vorschlag wenig Neues. Aus un-
serer Sicht sind damit eher Nachteile bei der Stiftungs-

gründung verbunden. Bisher war es möglich, das Stif-
tungsgeschäft durch einen Gang zu tätigen, nämlich
durch den Gang zur Stiftungsbehörde, bei der zum Teil
ja auch kostenlos Service aus einer Hand erhältlich ist,
insbesondere was die Klärung der steuerrechtlichen Fra-
gen anlangt.

Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der
F.D.P., verlangt vom Stifter aber drei Gänge. Er muß er-
stens zum Notar, zweitens zum Finanzamt und schließ-
lich auch zur Stiftungsaufsichtsbehörde. Der Vorschlag
läßt zudem viele Fragen ungeklärt, so daß Rechtsun-
sicherheit und Konfliktpotential für die Stiftungspraxis
voraussehbar sind.

Es ist sicherlich richtig, daß man über den einen oder
anderen Punkt des Gesetzentwurfs nachdenken kann. Ich
meine insbesondere den Vorschlag hinsichtlich der Auf-
stellung eines Jahresabschlusses. Es gibt durchaus einige
Gesichtspunkte, die dafür sprechen.


(Beifall des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.])

Man muß aber auch bedenken, daß es sich dabei nicht

nur um spezifisch stiftungsrechtliche Fragen handelt,
sondern daß wir sehr schnell auch zu Querschnittspro-
blemen kommen, nämlich solchen, die alle Vereine, die
gemeinnützig sind, betreffen. Hierüber muß man mit Si-
cherheit noch nachdenken. Die Förderung des Gedan-
kens der Gemeinnützigkeit sollte nach unserer Auffas-
sung jedenfalls immer im Vordergrund stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In der Tat darf dieses Stiftungsrecht nicht ausschließ-

lich – Herr Otto, ich greife den von Ihnen benutzten
Ausdruck auf – zu einer neuen Form von Steuerspar-
modellen führen.


(Beifall bei der SPD)

Zu den steuerlichen Vorschlägen des Gesetzentwurfs

gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Eigentlich betrifft
das Thema, so wie es jetzt angelegt ist, zu einem gerin-
geren Teil materielles BGB-Stiftungsrecht, sondern in
erster Linie Fragen des steuerlichen Umgangs mit Stif-
tungen. Insofern ist der Finanzminister natürlich bei die-
sem Thema sehr aufmerksam, wie Sie sich denken kön-
nen; denn die Vorschläge führen durch entsprechend er-
forderliche Änderungen des Einkommen-, Körperschaft-
und Gewerbesteuerrechts zu Einkommenseinbußen des
Staates und sind deshalb durchaus fragwürdig.

Ich nenne noch einen Punkt, der besonders die Län-
der betrifft. Wenn wir Einschränkungen beim Aufkom-
men aus der Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer ma-
chen, dann wissen wir: Das betrifft ausschließlich die
Bundesländer. Sie werden natürlich ein wachsames
Auge auf unsere Überlegungen haben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403100800
Kollege Pick, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403100900
Natürlich.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt)







(B)



(A) (C)



(D)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403101000

Herr Kollege Pick, darf ich Sie zum ersten darauf hin-
weisen, daß es in Ihrem eigenen Hause ein Gutachten
über diesen Entwurf gibt, in dem wird gesagt, es kommt
nicht – wie Sie eben gesagt haben – zu erheblichen
Steuereinnahmeminderungen, sondern faktisch nur zu
einer Verlagerung?

Darf ich Sie zum zweiten darauf hinweisen, daß man
das Ganze unter dem Gesichtspunkt Steuersparmodell
nicht diffamierend erwähnen darf, weil – wie hier von
dem Kollegen Otto schon gesagt worden ist – der Stifter
erheblich mehr für gemeinnützige Zwecke gibt, was ja
dem Gemeinwesen zugute kommt? Ich glaube, das war
ein bißchen zu kritisch ausgedrückt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403101100
Frau Kollegin Vollmer, Sie
werden aus meinen Bemerkungen entnommen haben,
daß die Ausführungen der Bundesregierung mit den Mi-
nisterien abgestimmt sind.


(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Das merkt man tatsächlich!)


– Das wollte ich auch ganz besonders betonen.
Insofern gibt es natürlich unterschiedliche Berech-

nungen, wie sich einzelne steuerrechtliche Vorschläge in
bezug auf das Stiftungsrecht auswirken. Hier gibt es sehr
verschiedene Berechnungen. Ich habe mir erlaubt, auf
diese hinzuweisen. Je nach Ausgestaltung der steuer-
lichen Vorschriften gibt es unterschiedliche Berechnun-
gen. Die sollten wir in Ruhe und Gelassenheit vorneh-
men.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403101200
Kollege Pick, ge-
statten Sie weitere Zwischenfragen der Kollegen Braun
und Hauser?

D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403101300
Ja, bitte.


Hildebrecht Braun (FDP):
Rede ID: ID1403101400
Herr Kol-
lege Pick, der Duktus Ihrer Rede signalisiert, daß Sie
Ihren Mitarbeitern, die diese Rede gemacht haben, den
Auftrag erteilt haben, zu prüfen: Gibt es irgendwelche
Gründe, die ich mit Anstand vortragen kann, die gegen
das Projekt des Kollegen Otto sprechen? Sie sind doch
mit dem Motto angetreten: Neues wagen. Wäre es nicht
einfach einmal ein neuer Ansatz gewesen, den Prüfauf-
trag so zu formulieren: Gibt es nicht sehr triftige Grün-
de, weswegen ich das Projekt unterstützen könnte?


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403101500
Herr Kollege Braun, die neue
Bundesregierung läßt sich bei der Prüfung, wo Fort-
schritt angesagt ist und wie man diesen Fortschritt be-
gleitet, von niemandem übertreffen.


(Lachen bei der F.D.P. – Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden auch die Diskussion um ein neues Stiftungs-
recht – darauf können Sie sich verlassen – konstruktiv
begleiten. Dazu – Sie kennen unser Haus – sind wir im-
mer bereit.


(Beifall bei der SPD – Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht auch im Koalitionsvertrag!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403101600
Kollege Hauser.


Norbert Hauser (CDU):
Rede ID: ID1403101700
Herr Staatsse-
kretär, könnten Sie mir gegebenenfalls zustimmen, daß
ein gewisses Maß an Steuerausfällen, wenn es zu diesen
käme – Kollegin Vollmer hat zu Recht darauf hingewie-
sen, daß es nicht einmal sicher ist, daß es zu diesen
kommt –, hinnehmbar wäre im Hinblick darauf, daß
Stiftungen als bürgerschaftliches Engagement erhebliche
Leistungen für diese Gesellschaft erbringen und der
Staat letztlich in der Bilanz einen Vorteil aus den Stif-
tungen hat?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403101800
Herr Kollege Hauser, ich habe
schon in meinen Bemerkungen angedeutet, daß die
Bundesregierung dies vorbehaltlos und objektiv prüfen
wird. Sie können gewiß sein, daß wir sehr sorgfältig ab-
wägen werden, was die Vor- und Nachteile auch in
finanzieller Hinsicht sind. Im übrigen bleibt es bei der
grundsätzlichen Begrüßung des privaten Engagements
und auch eines Engagements, das sich in einer ver-
mehrten und sinnvollen Stiftungspraxis ausdrückt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403101900
Kollege Pick, eine
weitere Zwischenfrage des Kollegen Wilhelm Schmidt.


Wilhelm Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1403102000
Herr Staatsse-
kretär, ich möchte die gleiche Eingangsformulierung
verwenden: Können Sie mir zustimmen, daß die ober-
schlauen Fragesteller von F.D.P. und CDU/CSU 16 Jah-
re Gelegenheit gehabt hätten, dieses Gesetz zu machen,
wenn sie so intensiv daran interessiert sind?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)







(A) (C)



(B) (D)


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403102100
Herr Kollege Schmidt, die
Vermutung spricht für eine Bejahung Ihrer Frage. Es
kommt aber gelegentlich vor – das ist nichts Neues –,
daß man auf einmal über Nacht klüger wird. Das sollte
man jedem zugestehen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403102200
Der Nachfragebedarf
ist erheblich. Kollege Solms wünscht, eine Frage zu
stellen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1403102300
Herr Kollege
Pick, wie interpretieren Sie es, daß just in dem Moment,
in dem Sie von der großen Aufmerksamkeit des Bundes-
finanzministers sprechen, die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Frau Dr. Hendricks – sie ist im Moment beim
Vertreter des Bundesfinanzministers beschäftigt – den
Saal verlassen hat?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist schon wieder auf der Flucht!)


D
Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1403102400
Ich glaube, Frau Staatssekretä-
rin Hendricks ist in vollem Vertrauen auf die Überein-
stimmung meiner Ausführungen mit der Auffassung ih-
res Hauses kurz aus dem Plenum gegangen. Dafür habe
ich Verständnis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ich habe gar nicht gewußt, daß die F.D.P. so infantil ist!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
an Hand des Gesetzentwurfes der F.D.P. die Reform des
Stiftungsrechtes angehen; das ist sicher ein Anlaß. Wir
sollten in Ruhe und Gelassenheit auch in Form einer
Anhörung Kenntnisse und mehr Gewißheit über die
Themen erlangen. Ansonsten denken wir, daß die Vor-
schläge, wie sie im Moment vorliegen und wie sie aus-
geführt sind, insbesondere was die steuerrechtlichen
Fragen anbetrifft, eine ganze Reihe von Fragen aufwei-
sen. Deswegen wird die Bundesregierung – wie ich
schon sagte – die weiteren Bemühungen mit entspre-
chender Aufmerksamkeit und konstruktiv begleiten.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD – Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Ziemlich kraftvoll!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403102500
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollegin Rita Süssmuth.


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1403102600
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elan ist nicht

mehr zu übertreffen: Es darf viel geredet werden; passie-
ren darf aber nichts, vor allem nicht schnell.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das paßt zum Stiftungsrecht überhaupt nicht.
Wir waren schon einmal weiter. Wir haben am

12. Februar des vergangenen Jahres im Rahmen der
Kulturdebatte über das Stiftungsrecht debattiert. Ich fin-
de, Ihre ständigen Hinweise auf die 16 Jahre helfen uns
nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Iris Gleicke [SPD]: Das kann ich mir vorstellen!)


Wir waren uns einig, daß wir uns auf den Weg machen
wollten – darüber gab es in diesem Haus sehr viel Über-
einstimmung –, um im Sinne gesellschaftlichen Enga-
gements, der Bürgergesellschaft, Stiftungen – nicht nur
große, sondern auch kleine – voranzubringen.

Wir haben bisher ein Konzessionsmodell pur und
sollten uns fragen, ob wir nicht zum Normativsystem
übergehen sollten. Damit möchte ich folgendes sagen:
Ich finde es gut, wenn die Fraktionen unseres Bundesta-
ges Gesetzentwürfe einbringen. Ich wünsche mir, daß
wir ihre Behandlung nicht mehr auf die lange Bank
schieben, sondern bald handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Niemand sagt, daß man bisher in Deutschland keine
Stiftungen aufbauen konnte. Aber die Anhörung der
Fraktion der F.D.P., die sehr breit angelegt war, hat ge-
zeigt, was die Beteiligten wollen: Sie wollen ein Recht
auf Stiftung im Rahmen der erlaubten Zwecke. Sie wol-
len, daß es regelungsärmer und bevormundungsfreier ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die meisten Länder sind bei der Zulassung von Stif-

tungen in der Praxis vom Konzessionssystem, also von
der Ermessensentscheidung, zum Normativsystem
übergegangen. Das gilt aber nicht für alle. Es ist einhel-
lige Meinung: Geht von diesem alten System ab, hin
zum Normativsystem!

Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob
die bewährten Einrichtungen auch zukünftig für Ge-
nehmigung und Aufsicht


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]:Und Registerführung!)


zuständig sein sollen oder ob man einen Wechsel hin zur
Zuständigkeit von Gebietskörperschaften vornehmen
soll. Dieser Punkt bedarf einer Vertiefung oder sogar
einer weiteren Anhörung.

Wir müssen uns im Deutschen Bundestag Klarheit
darüber schaffen, daß die Bedeutung der Stiftungen im
wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich
unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Beitrages
im Vergleich zur öffentlichen Förderung gering ist; das
muß man nüchtern sagen. Aber es kommt hier entschei-
dend auf unser politisches und kulturelles Selbstver-






(B)



(A) (C)



(D)


ständnis in bezug auf Stiftungen an. Mit der Verbesse-
rung der Rahmenbedingungen regen wir vermehrte
Eigeninitiative an. Diese eigene Agenda ist sehr wich-
tig. „Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung“,
hieß es in der Anhörung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das sind Leitmotive, die wir meines Erachtens in die
Überlegungen einbeziehen müssen.

Als Beispiel wurde die Gütersloher Stiftung ange-
führt. Noch liegt der Schwerpunkt auf großen Stiftun-
gen. Wir sind aber auf dem Wege zu immer mehr klei-
nen Stiftungen. Bürgerschaftliches Engagement ist wie-
der da; das Stiftungsrecht müßte es verstärken.

Dabei geht es auf der einen Seite um die Frage, was
im BGB zu ändern ist. Es war einhellige Meinung, daß
in den §§ 80 ff. Regelungsbedarf besteht. Ich möchte die
Bundesregierung bitten, in dieser Angelegenheit in die
Offensive zu gehen und sich nicht hinter Bedenken zu
verschanzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite ist zu regeln, wer über die An-
erkennung der Gemeinnützigkeit entscheidet. Viele
verweisen unter anderem auf das englische Modell und
stellen zur Diskussion, ob die Anerkennung der Ge-
meinnützigkeit durch eine Kommission und nicht durch
den Fiskus erfolgen könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich finde es lohnend, diesen aufgeworfenen Fragen
nachzugehen. Was die Mehrheit nicht will, sind neue In-
stitutionen. Viele sind den Umgang mit dem Stiftungs-
recht nicht gewohnt.

Es wurde der Wunsch nach Beratung zum Ausdruck
gebracht. Gerade wenn die Hauptförmlichkeiten im Ge-
setz festgelegt werden, ist Beratung in bezug auf Unbe-
denklichkeit und Eindeutigkeit der Satzung, aber auch
auf die Existenzfähigkeit, auf die Gemeinnützigkeit, auf
Transparenz und Publizitätspflicht erforderlich; damit
stehen die Registereintragungen in Zusammenhang. Hier
sind Regelungen erforderlich.

Ein wesentlicher Dissens liegt in der Frage der Zu-
kunft von Familienstiftungen und von mit Unterneh-
men verbundenen Stiftungen. Familienstiftungen ma-
chen 4 Prozent der Stiftungen aus. Mehrheitlich wurde
hier auf die Gemeinnützigkeit Wert gelegt. Aber man
sollte nicht mit dem Rasenmäher vorgehen und nicht mit
Stumpf und Stiel etwas ausrotten, was sich bewährt hat.
Man muß Vorsicht walten lassen.

Ich nenne ein Beispiel. Die Zeiss-Stiftung hat arbeit-
nehmerbezogene Stiftungszwecke. Das Drachenfliegen
behandeln wir genauso wie arbeitnehmerbezogene Stif-
tungszwecke. Da ist beiden Seiten Rechnung zu tragen.
Wir können nicht die Zeiss-Stiftung beseitigen, aber das

Drachenfliegen als gemeinnützig anerkennen. Da sehen
wir Regelungsbedarf.

In Ihrem Gesetzentwurf ist eine Erhöhung des Anteils
am Einkommen, der Stiftungen steuerbegünstigt zuge-
wendet werden kann, von 5 auf 20 Prozent vorgesehen.
Dies findet beim Stifterverband und bei allen Experten
auf diesem Feld große Zustimmung. Daß dies noch
weitere Diskussionen auslöst, davon gehen wir aus, Herr
Staatssekretär. Wir kommen nämlich gar nicht umhin,
eine Bilanz zu ziehen. Wenn wir das aber nur unter dem
Gesichtspunkt betrachten, was dem Staat verlorengeht,
dann springen wir zu kurz, weil wir nicht berücksichti-
gen, was der Staat eigentlich dabei gewinnt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das gilt auch für die Abzugsfähigkeit der Gelder, die
das Stiftungskapital ausmachen oder als Rücklagen ge-
bildet werden, um Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit
bei den Stiftungszwecken zu erreichen. Ich bin jetzt
nicht auf alle Bereiche eingegangen.

Mir scheint es sehr wichtig, daß wir angesichts der
vorliegenden Entwürfe und der Ergebnisse unserer Ar-
beitsgruppe möglichst rasch klären, wieviel Gemein-
samkeit wir haben und wo Unterschiede bestehen, die
wir ausdiskutieren müssen. Ich glaube, daß wir mit un-
serer Antwort auf die Erwartungen möglicher Stifter
nicht mehr viel Zeit verlieren sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das hat etwas mit der herrschenden Mentalität in der
Bundesrepublik zu tun: Alle Experten haben gesagt,
Stiftungen geben wichtige Impulse für Innovationen
und für die Bereiche in unserer Gesellschaft, in denen
Pionierarbeit und Thinktanks gefordert sind.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Richtig!)


Hier müssen neue Konzepte entwickelt werden, damit
Probleme gelöst werden können, die wir bisher nicht
oder nicht gut gelöst haben. Wenn wir daran denken,
dann haben wir nicht nur die augenblickliche Staats-
quote in bezug auf Stiftungstätigkeit und öffentliche Tä-
tigkeit im Auge, sondern geben eine Antwort auf die
grundsätzliche Frage: Wollen wir diesen innovativen
Geist? Diese muß sich sozusagen in dem „Recht auf
Stiftung“ niederschlagen; damit würde eine Abkehr vom
bisherigen Ermessensverfahren stattfinden.

Ich wünsche uns, daß wir in diesem Sinne an den be-
stehenden Gesetzentwürfen arbeiten, möglichst rasch zu
einem Ergebnis kommen und erkennen, daß die Ein-
künfte, die wir zu verlieren meinen, durch weitaus grö-
ßere Gewinne wieder eingefahren werden können.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Dr. Rita Süssmuth






(A) (C)



(B) (D)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403102700
Ich erteile das Wort
Kollegin Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403102800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich den Gesetzentwurf der F.D.P. gesehen habe, hatte
ich ein fröhliches Déjà-vu-Gefühl.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Dann können Sie ja zustimmen!)


– Eben. – Ich habe mich an die Diskussion erinnert, die
wir letztes Jahr hier hatten. Da gab es allerdings keinen
F.D.P.- und keinen CDU/CSU-Gesetzentwurf, sondern
nur einen von Bündnis 90/Die Grünen. In der damaligen
Kulturdebatte ist Bundeskanzler Helmut Kohl aufge-
standen und hat gesagt: Frau Kollegin Vollmer, so weit
sind wir gar nicht auseinander. – Das war ein schöner
Debattenerfolg. Leider haben die CDU/CSU und die
F.D.P., obwohl es 16 Jahre lang immer Bestandteil ihrer
Koalitionsvereinbarungen war, kein Ergebnis zustande
gebracht.


(Jörg Tauss [SPD]: So ist es!)

Nachdem ich die heutige Debatte verfolgt habe, ahne ich
auch, in welchem Haus es diesen zähen Widerstand gab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Interessant ist aber, daß sich damals, nachdem es der
Bundeskanzler so positiv aufgenommen hatte, einer sehr
negativ dazu geäußert hatte, nämlich der Staatssekretär
Funke von der F.D.P., der dazu in der „Welt“ geschrie-
ben hatte. Man hatte den Eindruck, daß kein rechter
Schwung dahinter war.


(Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!)

In der Koalitionsvereinbarung zwischen Bündnis 90/
Die Grünen und der SPD ist das Stiftungsrecht an zwei
Stellen, im steuerrechtlichen und im juristischen Teil,
vorgesehen. Diese Passagen in der Koalitionsvereinba-
rung halten wir für „Bibelfest“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist doch auch vernünftig und regelrecht eine An-
forderung der Zeit, in diesem Falle etwas zu tun: Jetzt
gibt es die reichen Erben; jetzt geht es darum, endlich
die Globalisierung privater Vermögen zu bekämpfen.
Denn auch das private Vermögen wandert rund um den
Globus. Stiftungen schaffen dagegen die Möglichkeit,
daß dieses private Vermögen vor Ort sichtbar dem Ge-
meinwesen zugute kommt. Genau das wollen wir und
genau das ist auch richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man findet eine große Bereitschaft, wenn man eine
gute Atmosphäre für Stiftungen schafft und an den Bür-
gersinn appelliert. Genaugenommen ist das auch ein
Appell an die vielbeschworene Neue Mitte, daß sie sich

für das Gemeinwesen engagiert. Lothar Späth hat das
„intelligente Reichtumsvernichtung“ genannt. Aber man
kann das auch noch positiver sehen,


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Noch positiver!)


nämlich so, daß diejenigen, die in dieser Gesellschaft
reich geworden sind und ihr, für ihre Ausbildung und für
alles, was diese Gesellschaft ihnen an Möglichkeiten
gegeben hat, viel verdanken, das freiwillig zurückgeben
können. Das ist der eigentliche Sinn von Stiftungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Besonders wichtig ist uns die Idee der Bürgerstif-
tung. Ich fand die Polemik gegen die Leute, die Stiftun-
gen geschaffen haben – in dem Sinne: Wo habt ihr das
Geld geklaut? –, immer sehr unsozial und auch sehr tö-
richt. Der Appell an Bürgerstiftungen, daß also Bürger
vor Ort vereinbaren können, was notwendig ist, bedeutet
letztendlich eine Auflösung des Reformstaus in unserer
Gesellschaft von der Bürgergesellschaft her. Deswegen
sind wir sehr dafür, und deswegen haben wir das auch in
der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Der jetzige
Bundeskanzler ist dafür, der frühere Finanzminister war
dafür, und auch der nächste Finanzminister wird dafür
sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Schauen wir mal!)


Jetzt noch ein Wort zu dem, was die F.D.P. will. Wie
gesagt, der grundlegende Gesetzentwurf war der unsri-
ge. Da finden Sie alles, was jetzt gefordert wird: Aufhe-
bung des Konzessionssystems zugunsten des Normativ-
systems, die jährliche Offenlegung der Bilanzen und
auch die Einführung eines Stiftungsregisters.

Aber nun sehe ich, daß die F.D.P. in ihrem Gesetz-
entwurf über unsere Vorschläge hinaus sagt, daß die no-
tarielle Beurkundung ausreichen soll. Da, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der F.D.P., gehen Sie ein biß-
chen zu weit und öffnen dem Mißbrauch Tür und Tor.
Wie ich gesehen habe, hat selbst der Vertreter der Bun-
desnotarkammer bei Ihrer Anhörung gesagt, daß er das
nicht für richtig halte. Da sollten Sie doch noch einmal
nachdenken, ob Sie das nicht ändern wollen.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Wir denken permanent nach!)


Auch die Errichtung von Stiftungen zum alleinigen
Zweck der Führung eines Unternehmens ist nicht das,
was wir wollen. Zu diesem Punkt hat Ihnen der Vertreter
des Kulturkreises des BDI, Freiherr von Loeffelholz, bei
Ihrer Anhörung gesagt, daß das nicht einmal die Forde-
rung der Wirtschaft sei. Ich finde, da sollten Sie eben-
falls noch einmal überlegen, ob Sie da richtig liegen.

Liebe Rita Süssmuth, zu den Familienstiftungen:
Man meint immer, eine Familienstiftung sei eine Stif-
tung, die den Namen einer Familie trage. Das ist aber
völlig falsch.


(Jörg Tauss [SPD]: Ist ein Mißbrauch!)







(B)



(A) (C)



(D)


Eine Familienstiftung im reinen Sinne wäre eine, die
sich nur für den Erhalt einer Familie und ihrer Mitglie-
der einsetzt. Das haben Sie aber gar nicht gemeint. Na-
türlich unterstützen auch wir Familienstiftungen, die
gemeinnützige Zwecke haben. Aber daß es sozusagen
um die Feudalisierung von Vermögen in Privathand auf
Ewigkeit geht, kann nicht der Sinn der Sache sein und
ist es auch für niemanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein letzter Satz. Bei der großen Einigkeit, die es in
diesem Hause doch gibt, wäre es sehr schön, wenn wir
das als Anfang eines großen Dreierschrittes nehmen und
den dritten Sektor insgesamt, also das Element der Bür-
gergesellschaft, von Grund auf reformieren würden.
Man könnte im ersten Schritt das Stiftungsrecht refor-
mieren, in einem zweiten Schritt das Freiwilligengesetz,
in dem es darum geht, was der einzelne für die Gesell-
schaft gibt, wenn er kein Vermögen hat, und in einem
dritten Schritt – das wäre eine Herkulesarbeit – das Ge-
meinnützigkeitsrecht insgesamt. Das heißt, die Gesell-
schaft sollte sich neu überlegen – auch das gehört zur
Modernisierung –, was sie unter heutigen Bedingungen
eigentlich unter Gemeinnützigkeit versteht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das wäre eine große Aufgabe für eine Bürgergesell-
schaft. Helfen Sie uns dabei!

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403102900
Für die PDS-
Fraktion hat das Wort Kollege Heinrich Fink.


Dr. Heinrich Fink (PDS):
Rede ID: ID1403103000
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Gesetz
zur Reform des Stiftungsrechtes ist dringend nötig. Dar-
über sind wir uns alle einig. Das Interesse daran ist un-
terschiedlich. Meines ist, die Spendenfreudigkeit von
Bürgerinnen und Bürgern, die sich vielleicht sogar zur
Übertragung ihrer gesamten Hinterlassenschaft ent-
schließen, zu fördern, insonderheit für die Kultur, für
die immer weniger Geld da ist.

Von diesem Standpunkt aus gesehen sind wir an allen
parlamentarischen Initiativen interessiert, die den An-
spruch erheben, eine solche vielgestaltige Kulturland-
schaft zu fördern.

Diesen Anspruch erhebt der vorliegende, auf eine Re-
form des Stiftungsrechtes zielende Gesetzentwurf der
F.D.P., der daher unser Interesse geweckt hat. Ausge-
hend von der im Grundgesetz verankerten Kulturförder-
pflicht des Staates halten wir die Kulturfinanzierung
über den Haushalt des Bundes und über die Stärkung der
Finanzkraft von Ländern und Kommunen als den wich-
tigsten Trägern von Kunst und Kultur in Verbindung mit

der weitgehend gewährleisteten demokratischen Kon-
trolle und Transparenz für notwendig,


(Beifall bei der PDS)

weil noch am ehesten über eine öffentliche Kulturförde-
rung diejenigen erreicht werden, die nicht im Blickfeld
des repräsentativen Kulturbetriebes liegen.

Die Beschreitung dieses Weges verlangt jedoch auch
einen verstärkten steuerlichen Zugriff auf die in diesem
Lande existierenden großen Vermögen. Eine solche In-
tervention des Staates zugunsten von Kultur, Bildung,
Forschung und vielen sozialen Belangen ist offenbar
auch von der gegenwärtigen Bundesregierung nicht zu
erwarten. Wenn diese Entschlußlosigkeit des Staates nun
mit der Mobilisierung von Teilen dieser Vermögen unter
anderem über einen Ausbau gemeinnütziger Stiftungen
kompensiert werden soll, so stellen wir uns dem nicht
generell entgegen. Wir werden aber die einzelnen
Schritte auf diesem Wege sehr kritisch begleiten.

Wir werden vor allem darauf achten, ob durch einzel-
ne Regelungen dem Mißbrauch der Stiftungen für egoi-
stische wirtschaftliche Interessen Tür und Tor geöffnet
werden. Im vorliegenden Entwurf ist dies unseres Er-
achtens durch die Einbeziehung der sogenannten unter-
nehmensverbundenen Stiftungen bereits vorprogram-
miert.

Die vorgesehene erweiterte Rücklagenbildung be-
darf ebenfalls noch einer gründlichen Abschätzung ihrer
möglichen Folgen. Zu fragen ist auch: Stellt die bisheri-
ge Regelung wirklich ein Hindernis für das Engagement
von Mäzenen und Kulturförderern unter den begüterten
Stiftungswilligen dar? Auch die sehr vage Passage im
Abschnitt „Kosten“ gibt hinsichtlich der Frage, wer der
eigentliche Gewinner der vorgeschlagenen Veränderung
im Steuerrecht ist – die Kultur oder die Wirtschaft –,
keine eindeutige Antwort. Sie muß noch gegeben wer-
den.

Hinsichtlich der ins Auge gefaßten Veränderung im
zivilrechtlichen Bereich plädieren wir für die weitge-
hende Entbürokratisierung, hohe Rechtssicherheit sowie
größte Transparenz und Öffentlichkeit.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb halten wir die Festschreibung des Normativ-
systems für wichtig. Demgegenüber wird der vorliegen-
de Entwurf auf keinen Fall den genannten Kriterien ge-
recht, wenn er für die Entstehung einer rechtsfähigen
Stiftung lediglich eine notarielle Beurkundung des Stif-
tungsgeschäftes vorschreibt.

Ich komme zum Schluß – meine Redezeit beträgt lei-
der nur 3 Minuten –: In summa: Stiftungsreform – ja, aber
mit einer hohen rechtlichen Absicherung im vorrangigen
Interesse von Kultur, Bildung und sozialen Belangen. Die
Stiftungen dürfen nicht ein Ort stiller Reserven für die
Wirtschaft und für nicht gezahlte Steuern sein.


(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403103100
Das Wort hat nun
Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.

Dr. Antje Vollmer






(A) (C)



(B) (D)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1403103200
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen! Liebe Kollegen! Ich habe mir vorgenommen, heute
richtig nett zur F.D.P. zu sein, denn der Kollege Pick –
auch das ist selten – hat Sie ja genug „gepickt“.

Der Kollege Otto hat auf eine hinreißende Art und
Weise die Koalitionsvereinbarung zitiert. An diesem
Punkt haben Sie recht: Steuerpolitische Hemmnisse für
Stiftungen zu beseitigen, neue Möglichkeiten für Mä-
zenaten, Stifter und Kultursponsoren zu gewinnen ist
Originalton rotgrün. Sie können in der Koalitionsverein-
barung die entsprechende Stelle nachlesen. Wo sich die
F.D.P. der vernünftigen Linie anschließt, sollte man sie
nicht kritisieren.

Lieber Herr Kollege Otto, wir sind ja beide Mitglied
des Kulturausschusses, wo wir uns gelegentlich um Fra-
gen des Urheberrechts streiten. Deshalb will ich Ihnen
offen sagen, daß Sie ein bißchen von den Vorlagen der
Grünen aus der letzten Legislaturperiode abgeschrieben
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ein bißchen?)


Ich weiß, daß wir das Rad nicht immer neu erfinden
müssen. Sie haben in der Tat berechtigterweise einige
Punkte angesprochen, in denen Dissens zwischen uns
besteht.

Sie sprachen völlig zu Recht – das hat mich von sei-
ten der F.D.P. überrascht – von den großen Vermögen,
den Vermögen in Billionenhöhe, die in Deutschland zur
Vererbung anstehen. Vielleicht kann eine solche Fest-
stellung manch emotionale Debatte über Steuerreformen
in diesem Haus etwas entemotionalisieren. Sie tun ja
gemeinhin so, als stünden die Reichen kurz vor der Ver-
armung.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Nein, es gibt Menschen mit Geld in diesem Lande. Es
gibt aber auch Menschen, die erkannt haben, daß ihnen
das Vermögen lediglich treuhänderisch zusteht und
daß sie es nach ihrem Ableben an die Gesellschaft „zu-
rückzustiften“ haben. Dieses Verständnis sollte ausge-
weitet werden: Reiche müssen erkennen, daß ihnen ihr
Vermögen nur treuhänderisch zusteht.


(Norbert Hauser [Bonn] [CDU/CSU]: Welche Stiftung gründen Sie denn?)


– Ich bin ja kein Reicher. – Damit Sie nicht denken, ich
hätte Marx zitiert – ich dachte schon, jetzt würde sich
Freiherr von Stetten zu Wort melden; aber er hat sich
zurückgehalten –: Dieser Satz stammt von dem ameri-
kanischen Multimillionär Andrew Carnegie. Er hat 1890
formuliert: Reiche haben ihr Vermögen an die Gesell-
schaft zurückzugeben.

Dies hat 1890 in den USA zu einer Stimmung beige-
tragen, die eine Stiftungswelle auslöste. Ich halte dies
für interessant. Wer würde heute noch von Carnegie re-
den, hätten wir nicht in New York die Carnegie-Hall?
Sie ist eine Auswirkung dieser Stiftungswelle. – Es gab
also schon Multimillionäre, die für ihr Land mehr Ver-

antwortung gezeigt haben als der eine oder andere Rei-
che, den Sie immer so leidenschaftlich verteidigen.

Unser Problem ist, daß wir in Deutschland keine Stif-
terkultur entwickelt haben, wie es in Ländern insbe-
sondere des angelsächsischen Raums geschehen ist. Eine
Denkweise, wie sie bei Carnegie vorhanden war, ist hier
nicht ausgeprägt. Wir können sicherlich einen Beitrag
dazu leisten, daß dieses Denken gefördert wird: für Bil-
dung und Forschung, für Kultur und Kunst.

Kollege Meyer hat mich darauf aufmerksam gemacht:
Wir brauchen Modelle der Prävention für Jugendliche,
die kriminell und gewalttätig geworden sind, wissen
aber nicht genau, in welche Richtung wir dabei gehen
müssen. Stiftungen könnten hier in eine ganz wesentli-
che Bresche springen, wie es beispielsweise bei der
Deutschen Krebshilfe der Fall ist. Diese kommt bis
heute ohne eine Mark an öffentlichen Mitteln aus, wirkt
aber dennoch segensreich. – Das ist das Stiftungswesen
positiv verstanden. Ich glaube, Frau Kollegin Süssmuth,
da sind wir in der Tat einer Meinung.

Etwas problematisch wird es aber bei den 20 Prozent,
die Sie vorgeschlagen haben; das sage ich ganz offen.
Wir werden das natürlich in aller Sorgfalt diskutieren.

Was wir allerdings nicht wollen, ist eine Familien-
stiftung. Damit keine Mißverständnisse aufkommen –
ich glaube, wir haben dies auch geklärt –: Eine Familien-
stiftung hat nichts damit zu tun, daß Familien ihren Na-
men geben. Es handelt sich hier in der Tat um ein Steu-
ersparmodell, um den Erhalt privaten Vermögens. Das
ist nicht unser Ziel. Wenn Sie sagen, daß dies auch Ihr
Ziel nicht ist, dann kommen wir voran – auch bei den
Finanzbeamten, die dem, was wir tun, gründlich miß-
trauen. Ich weiß nur nicht, ob Ihr Vorschlag hinsichtlich
der 20 Prozent sehr sinnvoll ist. Ich fürchte, Sie bekom-
men nicht das Geld, das Sie haben wollen, erfahren aber
auf der Finanzseite sehr viel Widerstand.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403103300
Kollege Tauss, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?


Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1403103400
Sicher. Ich war schon überrascht,
daß bisher niemand eine Zwischenfrage stellen wollte.

Kollege Otto, bitte schön.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1403103500
Ich bin
heute friedlich. – Herr Kollege Tauss, darf ich Sie in be-
zug auf Ihre Philippika gegen die Familienstiftungen
darauf aufmerksam machen, daß die Familienunterhalts-
stiftung – diese haben Sie eben angesprochen – über-
haupt keine Steuervorteile hat, weil die Mittel aus der
finanziellen Entlastung durch das Gemeinnützigkeits-
recht, über das wir heute sprechen, nur für gemeinnützi-
ge Zwecke ausgegeben werden dürfen? Der Vorwurf,
die Familienstiftungen seien ein Steuersparmodell, ist
leider von Unkenntnis getragen. Darüber muß ich Sie
aufklären.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: So ist es! Völlige Unkenntnis!)







(B)



(A) (C)



(D)



Jörg Tauss (Plos):
Rede ID: ID1403103600
Lieber Kollege Otto, über Un-
kenntnis können wir uns im Ausschuß lange unterhalten.

Erstens. Sie wissen ganz genau, daß es Konstruktio-
nen gibt, die höchst fragwürdig sind. Wenn Großunter-
nehmen in diesem Lande über Stiftungsmodelle mehr an
Körperschaftsteuer sparen, als sie an den Staat entrich-
ten, dann ist das ein verkehrter Weg. Dies wollen wir
nicht.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Zweitens. Ich sage Ihnen noch etwas über die Fami-
lienstiftung: Da gibt es einen mißratenen Sohn oder eine
mißratene Tochter, und die Familie will nicht, daß diese
ihr Leben auf dem Golf- oder dem Tennisplatz verbrin-
gen. Sie will das Vermögen erhalten; es soll nicht für
Jachttouren in die Karibik ausgegeben werden. Das mag
auch legitim und vernünftig sein. Genau das aber ist
nicht das Ziel, das wir mit einer Reform des Stiftungs-
rechts verfolgen. Ich hoffe, daß wir uns darauf einigen
können. Das ist eine Idee, die legitim sein mag. Wer will
schon sein Geld, das er erarbeitet hat, an lockere Men-
schen verschenken! Aber das ist nicht das Ziel, über das
wir heute diskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir diese Signale auch den Beamten im Finanz-
ministerium deutlich machen, dann haben die weniger
schlaflose Nächte. Die denken ja immer, daß wir etwas
Unanständiges machen. Können wir uns darauf verstän-
digen?


(Zuruf des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.] – Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


– Ich danke Ihnen, lieber Kollege Otto.
Das, was wir vorhaben, muß seriös durchgerechnet

werden. Das ist doch völlig klar. Die bestehenden
Rechtsprobleme hat Kollege Pick angesprochen. Ich
glaube tatsächlich, daß das Registermodell nicht im
Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen sollte. Wir be-
finden uns mit den Vertretern der Länder in einem sehr
intensiven Dialog. Wir haben seitens unserer Arbeits-
gruppen für Kultur und Medien sowohl von grüner als
auch von roter Seite Vorschläge vorgelegt. Darüber
kann man sprechen. Die Stiftungsreferenten der Länder
haben ein großes Interesse signalisiert, mit uns einen
Dialog zu führen. Dies müssen wir auch tun, und zwar
auf vernünftige Weise. Wir werden Lösungen finden,
lieber Freiherr von Stetten, nicht deshalb, weil es seit
100 Jahren so ist,


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das BGB besteht seit 100 Jahren!)


sondern deshalb, weil wir miteinander etwas Vernünfti-
ges erreichen wollen.

Wir können an dieser Stelle auch über Thesaurie-
rungsverbote und all diese Dinge diskutieren. Das ist
schlichtweg Unfug. Da sind wir uns sehr schnell einig.
Das Land Rheinland-Pfalz wollte neulich eine Stiftung
gründen. Da stellte man fest, daß dies nicht geht. Ein

solches Vorgehen kann jedoch unter vielen Umständen
Sinn machen. Über all diese Dinge wollen wir sprechen.
Das ist unser Ziel.

Der Gedanke des Stiftungswesens – auch das ist zu
betonen – muß aufgewertet werden. Was passiert denn
heute, wenn einer eine Stiftung gründen will? Er muß
sich zum Beispiel im Regierungspräsidium an das Amt
für Abfallwirtschaft und Stiftungswesen wenden. Man
macht ihm damit schon auf dem Flur deutlich, daß er
eigentlich unwillkommen ist,


(Beifall des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.])


daß es der Verwaltung nicht willkommen ist, daß je-
mand privates Geld in gesellschaftliche Aufgaben, also
zum Beispiel in die Krebshilfe oder in andere Bereiche,
investiert.


(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Jetzt hat Herr Tauss einmal wirklich recht!)


Da können wir in der Tat – siehe Carnegie – etwas tun.
Das heißt also, wir werden einen ausgezeichneten

Gesetzentwurf vorlegen. Die Koalitionsvereinbarung
wird umgesetzt. Wenn die F.D.P. mitmacht und uns
hilft, dann ist das prima. Ich habe gehört, auch die Union
will einen Entwurf auf den Weg bringen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Etwas sehr Vernünftiges!)


– Das ist klasse. Sie sehen, die Oppositionsrolle setzt in
Ihrer Partei kreative Kräfte frei! Dabei sollte es bleiben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403103700
Ich schließe die Aus-
sprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/336 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Für die vorgesehenen Fraktionssitzungen unterbreche
ich jetzt die Sitzung. Sie wird um 11 Uhr mit der Regie-
rungserklärung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem
Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Son-
dertagung des Europäischen Rates in Berlin fortgesetzt.

Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 9.52 bis 11.00 Uhr)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403103800
Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sit-
zung wieder und rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:

Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Ein-
greifen der NATO und zu den Ergebnissen der
Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin






(A) (C)



(B) (D)


Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/643 (neu) wurde zurückgezo-
gen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache nach der Regierungserklärung drei
Stunden vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht.
Dann ist so beschlossen.

Ich gebe jetzt das Wort zur Abgabe einer Regierungs-
erklärung dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1403103900
Frau Präsiden-
tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser
Woche hat Europa Handlungsfähigkeit beweisen müs-
sen. Die Kosovo-Krise, der Rücktritt der Kommission
und die Agenda 2000 waren in dieser Bündelung wohl
mit die größten Herausforderungen, die ein Europäischer
Rat jemals bewältigen mußte. Ich bin froh und bin auch
stolz, Ihnen heute sagen zu können, daß die Europäische
Union unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfung
bestanden hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In den frühen Morgenstunden ist es uns nach anstren-
genden und gewiß harten Verhandlungen in Berlin ge-
lungen, die Agenda 2000 zu verabschieden. Mit diesem,
wie ich es nennen möchte, Berlin-Paket haben wir
einen Kompromiß gefunden, bei dem alle beteiligten
Parteien, also auch wir, Abstriche von ihren Ausgangs-
positionen zu machen hatten. Es ist ein Kompromiß, der
vernünftig ist und mit dem alle leben können. Genau
deshalb ist er gut und richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bereits am Mittwoch habe ich in meiner Eigenschaft
als Präsident des Europäischen Rates Romano Prodi
namens und im Auftrage des Europäischen Rates für das
Amt des Präsidenten der Kommission vorgeschlagen.
Nach Zustimmung durch das Europäische Parlament
werden wir schon im Sommer wieder eine handlungsfä-
hige Kommission unter seiner gewiß hochkompetenten
Leitung haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Nacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägen
gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Das
Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere
schwere und systematische Verletzungen der Menschen-
rechte im Kosovo zu unterbinden und um eine humani-
täre Katastrophe dort zu verhindern.

Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung und
die Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen und
Monaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelas-

sen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu
erzielen. Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, die
albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und die
Staatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen.

Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Pe-
tritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in intensi-
ver Reisediplomatie mit den beiden Konfliktparteien
Gespräche geführt und den Boden für ein faires Ab-
kommen bereitet. In Rambouillet und Paris ist mehrere
Wochen lang – wir alle waren Zeugen – hartnäckig ver-
handelt worden. Zu dem dort vorgelegten Abkommen,
das die Menschenrechte der albanischen Bevölkerungs-
mehrheit im Kosovo, aber auch die territoriale Integrität
der Republik Jugoslawien gewährleistet, gibt es nach
meiner festen Auffassung keine Alternative.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Das ist der Grund, warum alle Parteien diesem Abkom-
men hätten zustimmen müssen.

Die Ziele dieses Abkommens – das ist mir wichtig –
werden auch von Rußland geteilt. Ich selbst habe in
einem Telefongespräch mit dem russischen Premiermi-
nister Primakow unterstrichen, daß die Europäische
Union die Beziehungen zu Rußland nicht einschränken,
nicht relativieren, nein: gerade jetzt weiter ausbauen
wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wir haben – das betrifft alle Parteien dieses Hauses –
mit Rußland eine Qualität in unseren Beziehungen er-
reicht, die wir von unserer Seite aus nicht in Frage ge-
stellt sehen wollen.

Die Vertreter der Kosovo-Albaner haben dem Ab-
kommen von Rambouillet schließlich zugestimmt. Ein-
zig die Belgrader Delegation hat durch ihre Obstruk-
tionspolitik alle, aber auch wirklich alle Vermittlungs-
versuche scheitern lassen. Sie allein trägt die Verant-
wortung für die entstandene Lage.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieg

gegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert.
Unsagbares menschliches Leid ist die Folge dieser Poli-
tik. Mehr als 250 000 Menschen mußten aus ihren Häu-
sern fliehen oder wurden gar mit Gewalt vertrieben. Al-
lein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal
80 000 Menschen dem Inferno, das es dort gibt, zu ent-
rinnen versucht. Umgerechnet auf die Bevölkerung der
Bundesrepublik Deutschland wäre das die Einwohner-
schaft einer Metropole wie Berlin. Es wäre zynisch und
verantwortungslos gewesen, dieser humanitären Kata-
strophe weiter tatenlos zuzusehen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bis zuletzt hat sich die Staatengemeinschaft bemüht,
dem Morden auf diplomatischem Wege Einhalt zu ge-

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer






(B)



(A) (C)



(D)


bieten. Außenminister Fischer als EU-Ratspräsident,
der russische Außenminister Iwanow und der OSZE-
Vorsitzende Vollebaek haben Präsident Milosevic in
Belgrad zur Annahme des Rambouillet-Abkommens
gedrängt. Schließlich hat Richard Holbrooke als Son-
dergesandter der Vereinigten Staaten am Montag und
Dienstag dieser Woche einen allerletzten Versuch un-
ternommen, das Regime in Belgrad zum Einlenken zu
bewegen – alles vergebens. Wir hatten deshalb keine
andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten
die Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutli-
ches Zeichen dafür zu setzen, daß wir als Staatenge-
meinschaft die weitere systematische Verletzung der
Menschenrechte im Kosovo nicht hinzunehmen bereit
sind.

Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß dies
das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ist, daß deut-
sche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf
Ihnen deshalb versichern, daß die Bundesregierung sich
ihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wir
wissen uns einig und in Übereinstimmung mit der gro-
ßen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott sei
Dank, auch mit der großen Mehrheit des Deutschen
Bundestages – über alle Parteigrenzen hinweg.

Ich möchte von dieser Stelle aus ein Wort des auf-
richtig empfundenen Dankes an unsere Soldaten und
ihre Familien richten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Angela Marquardt [PDS])


Sie erfüllen eine schwierige und – das muß man redli-
cherweise hinzufügen – auch gefährliche Mission. Ob-
wohl wir alles getan haben und tun werden, um für ihren
Schutz und ihre Sicherheit zu sorgen, können wir Gefah-
ren für Leib und Leben nicht ausschließen. Gerade des-
halb sollen sie wissen, daß die Mehrheit unserer Mitbür-
gerinnen und Mitbürger ihren Einsatz für die Mensch-
lichkeit und den Frieden wohl zu würdigen weiß und
ihnen dafür zutiefst dankbar ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke, es ist ein Gebot des Anstandes und der Ver-
nunft, auch vom Deutschen Bundestag aus ein Zeichen
der Solidarität und der Unterstützung an unsere Streit-
kräfte zu richten.

Die Verantwortung für die entstandene Lage trägt
allein die extremistische Belgrader Führung. Es liegt in
ihrer Hand, die Militäroperation unverzüglich zu been-
den. Auch von dieser Stelle – aus dem deutschen Parla-
ment heraus – fordere ich deshalb Präsident Milosevic
noch einmal auf, die Kämpfe im Kosovo sofort zu been-
den und das Friedensabkommen zu unterzeichnen. Dann
wird Frieden sein können, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die NATO und die internationale Gemeinschaft insge-
samt sind unverändert bereit, mit Zustimmung der
Streitparteien mitzuhelfen, das Abkommen von Ram-
bouillet umzusetzen. Wir sind auch bereit, für die mili-
tärische Absicherung eines Waffenstillstandes einzu-
treten. Dafür stehen erste NATO-Einheiten, darunter
3 000 deutsche Soldaten, bereit. Auch sie sollen wissen,
daß die Bundesregierung und das deutsche Parlament
hinter ihnen stehen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in
Berlin hat Europa seine Verantwortung für eine fried-
liche Entwicklung auf dem Kontinent bekräftigt. Wir
können heute mit berechtigtem Stolz sagen: Angesichts
der schwierigen Mission im Kosovo spricht Europa
wirklich mit einer Stimme.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union haben in Berlin einvernehmlich beschlossen, den
früheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Pro-
di zu bitten, das wichtige Amt des Präsidenten der
Europäischen Kommission zu übernehmen. Gleichzei-
tig haben die Staats- und Regierungschefs der Europäi-
schen Union den Rücktritt der Kommission mit Respekt
zur Kenntnis genommen. Gleichgültig, was auch immer
kritisiert worden ist und wieviel Grund es dafür gegeben
haben mag – an dieser Stelle möchte ich der scheiden-
den Kommission und deren Präsidenten Jacques Santer
noch einmal für ihre Arbeit danken, die sie für Europa
geleistet haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich füge hinzu – ich denke, auch das ist gerade in einer
solchen Situation angemessen –: Ohne die Vorarbeiten,
ohne den Rat der Mitglieder sowie der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Kommission in Berlin und – trotz
allem, was vorgefallen ist – ohne ihre konstruktiven
Vorschläge wären wir auf diesem Sondergipfel wohl
kaum so schnell zu einer auskömmlichen Einigung ge-
langt. In Anwendung des im Vertrag von Amsterdam
festgelegten Verfahrens – unabhängig von seinem wohl
doch rechtzeitigen Inkrafttreten – wird die Nominierung
von Romani Prodi – nein, Romano – –


(Heiterkeit)

– Es ist wirklich schwierig, jedenfalls zu diesem Zeit-
punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Die Nominierung von Romano Prodi also wird dem ge-
genwärtigen Europäischen Parlament zur Zustimmung
vorgelegt werden. Anschließend soll der designierte
Kommissionspräsident versuchen, in Zusammenarbeit mit
den Regierungen der Mitgliedstaaten so früh wie möglich
die Ernennung einer neuen Kommission vorzubereiten.
Die Regierungen der Mitgliedstaaten werden dann im
Einvernehmen mit Romano Prodi


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


die übrigen Personen benennen, die sie als Kommis-
sionsmitglieder zu ernennen beabsichtigen. Dieses neue
Kollegium wird sich schon im Sommer dieses Jahres
dem Votum des dann neu gewählten Europaparlaments
stellen. Damit schaffen Rat und Parlament die Voraus-
setzungen, daß die neue Kommission ihre Arbeit zum
frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen und ab Januar
2000 für eine volle fünfjährige Amtszeit fortführen
kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch den Rücktritt der Kommission drohte dem ver-
einten Europa die Gefahr einer schweren institutionellen
Krise. Vor diesem Hintergrund läßt sich ermessen, wie
bedeutend die schnelle und überzeugende Lösung dieser
Krise durch die Ernennung des neuen Kommissionsprä-
sidenten ist. Europa hat – das darf man ruhig deutlich
unterstreichen – in dieser Situation Entschlossenheit und
auch Handlungsfähigkeit bewiesen. Ich denke, das wird
Europa und der europäischen Idee im Bewußtsein der
Bürgerinnen und Bürger auch unseres Landes helfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage das keineswegs nur aus pragmatischen
Gründen. Die in Berlin versammelten Delegationen,
Minister sowie Staats- und Regierungschefs waren trotz
aller Unterschiede in Einzelfragen der Agenda 2000 in
einer Überzeugung geeint, nämlich in der, daß wir die
einmalige historische Chance, die sich den europäi-
schen Völkern durch den konsequenten Integrationspro-
zeß bietet, wirklich beherzt ergreifen wollen. Wir haben
den Schritt zur Wirtschafts- und Währungsunion getan.
Weitere EU-Mitgliedstaaten werden sich dieser Union
anschließen. Genau dafür, also für die Erweiterung der
Union, sind in Berlin allerwichtigste Grundlagen gelegt
worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben heute die Möglichkeit, ausgehend von
50 Jahren Frieden in Europa, unsere Völker und Staaten
in freundschaftlicher Nachbarschaft immer enger mit-
einander zu verzahnen. Dies ist der Auftrag, den wir von
den Vätern und Müttern, die zwei schreckliche Kriege
auf diesem Kontinent erleben mußten, übernommen ha-
ben. Wir werden ihn konsequent ausführen. Dies ist der
Auftrag, den uns unsere Kinder, für die das vereinte
Europa auch eine kulturelle – nicht nur eine politische –
Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich aufs neue
erteilen.

Dieses gemeinsame Europa kann nicht par ordre du
mufti oder auf einem Gipfeltreffen beschlossen werden.
Nein, es braucht die Unterstützung der freien Bürgerin-
nen und Bürger dieses Kontinents, sonst greift es zu
kurz. Es braucht auch nicht nur auf die Entscheidungen
der politischen Führungen zu starren; denn in der guten
Nachbarschaft unserer Völker ist ein Europa, das sich
auf die Menschen stützt und stützen kann, längst ent-
standen. Aber Europas Bürgerinnen und Bürger haben
ein Recht darauf, daß ihre Regierungen die europäischen

Institutionen handlungsfähig machen und sie dadurch
erhalten. Genau das haben wir getan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genau das in einer schwierigen Situation geschafft zu
haben ist der große, ja der durchschlagende und währen-
de Erfolg des Gipfeltreffens in Berlin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Europäische Union
– ich habe darauf verwiesen – braucht so bald wie mög-
lich eine starke Kommission, die dem Gebot der Effi-
zienz, der Transparenz und – das ist entscheidend – der
Bürgernähe wirklich gerecht wird. Wir werden deshalb
den designierten Kommissionspräsidenten Prodi bitten,
im Dialog mit den Mitgliedstaaten ein Programm auszu-
arbeiten, in dem die veränderte Arbeitsweise der neuen
Kommission fest umrissen wird. Ein erster Gedanken-
austausch zwischen den Staats- und Regierungschefs
und dem neuen Kommissionspräsidenten über ein sol-
ches Reformprogramm wird bereits am 14. April, ver-
mutlich in Brüssel, stattfinden.

Wir müssen und wollen bei der Verwaltung von Ge-
meinschaftsfonds, von Programmen und von Projekten
durch die Kommission ein Höchstmaß an Integrität, aber
auch ein Höchstmaß an Effizienz in der Durchführung
erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Bürgerinnen und Bürger haben genau darauf
einen Anspruch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die europäischen Völker wollen die Integration. Sie

drängen uns auch, den nächsten Schritt zu tun, ohne den
die europäische Vereinigung unvollendet bliebe: Ich
meine die Erweiterung der Europäischen Union um
unsere östlichen Nachbarstaaten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Union, meine Damen und Herren, darf nicht an
Deutschlands Ostgrenze enden. Gerade deshalb haben
die Bürgerinnen und Bürger Europas kein Verständnis
für administrativen Unterschleif oder eine Politik des
nationalen Egoismus.

Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß es uns
auf dem Berliner Gipfeltreffen gelungen ist, darüber
hinaus wichtige Vereinbarungen zu erzielen. Nach rund
dreijährigen Verhandlungen ist eine Einigung zum
Handels- und Kooperationsabkommen mit Südafrika
erzielt worden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.])


Damit, meine Damen und Herren, stellt Europa unter
Beweis, daß es ihm mit seinem Engagement für das

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


neue Südafrika – für das Südafrika des so großartigen
Menschen Nelson Mandela – ernst ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


Das geeinte Europa stellt unter Beweis, daß es eben kei-
ne Exklusivveranstaltung für die Reichen der Welt ist,
sondern daß es zu freundschaftlicher Zusammenarbeit
gerade mit denen fähig ist, denen es nicht so gut geht
wie den reichen Nationen dieser Welt. Daß wir übrigens
diese Einigung am letzten Tag der Amtszeit von Präsi-
dent Nelson Mandela, der auch mir ganz persönlich mit
seinem opferreichen Kampf für die Menschenrechte
stets ein Vorbild gewesen ist,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

erzielen konnten, erfüllt mich wirklich mit Freude.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Meine Damen und Herren, wie es so ist: Ein guter
Kompromiß tut allen weh. Das gilt auch für den in Ber-
lin erzielten Kompromiß zur Agenda 2000. Gleich-
wohl können alle Partner, also auch wir, mit den Ergeb-
nissen zufrieden sein. Bedenkt man, wie weit die Aus-
gangspositionen auseinander lagen, ist das Ergebnis zu-
friedenstellend, weil es ausgewogen ist. Die Einigung,
die wir in Berlin erzielt haben, ist ein klares Signal an
die europäischen Bürgerinnen und Bürger, an die
Märkte und an die Beitrittskandidaten, und sie belegt,
daß wir alle am Ende unsere gemeinsame Verantwor-
tung vor die jeweiligen Einzelinteressen gestellt haben.
Das Berliner Paket ist ein tragfähiges Fundament für das
Handeln der Europäischen Union.

Zwei Prinzipien standen und stehen dabei im Vorder-
grund: Ausgabenstabilität und Solidarität innerhalb
Europas mit den Schwächeren.


(Zustimmung bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben uns auf einen Rahmen geeinigt, der uns vor-
gibt, auch in Europa strenge Haushaltsdisziplin zu
üben. Wir werden dabei den Zusammenhalt unter den
Mitgliedstaaten wahren, so wie es der Vertrag vorsieht.
Wir haben in Berlin eine Obergrenze für die
EU-Ausgaben bis zum Jahr 2006 einvernehmlich fest-
geschrieben. Das war am Anfang alles andere als eine
Selbstverständlichkeit. Diese Grenze wird bei 1,27 Pro-
zent des EU-Bruttosozialproduktes liegen.

Wir werden in zwei Stufen bis zum Jahre 2004 die
Mehrwertsteuereigenmittel zur Hälfte auf Bruttosozial-
produkteigenmittel umstellen. Wir erhöhen die Erhe-
bungskostenpauschale bei den sogenannten traditionel-
len Eigenmitteln von 10 Prozent auf 25 Prozent. Beim
Beitragsrabatt für Großbritannien sowie beim Schlüssel
für die Finanzierung des Rabatts haben wir Modifikatio-
nen vereinbart, die zu einer größeren Beitragsgerechtig-
keit für die Nettozahler – damit meine ich alle Netto-
zahler, nicht nur Deutschland – führen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Agrarpolitik sind wir nach langem Ringen zu einer
auskömmlichen Lösung gelangt. Vielleicht wird es dem
einen oder anderen an Begeisterung mangeln. Denjeni-
gen, bei dem das so ist, kann ich trösten: Bei mir ist das
nicht anders.

Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide und
Rindfleisch sowie die auf dem Petersberger Gipfel ver-
einbarte Höchstgrenze für die Agrarausgaben. Auch
über den Kohäsionsfonds haben wir eine Einigung er-
zielt. Innerhalb der Strukturfonds haben wir für die neu-
en Bundesländer auch für die nächsten sieben Jahre die
höchste Förderpriorität gesichert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Übrigens, dazu gehört auch eine vernünftige Übergangs-
regelung für Ostberlin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man nennt das in der Sprache der europäischen Beamten
„phasing out“.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Sehen Sie: Irgendeinen Grund zur Freude muß ich
Ihnen doch auch geben.


(Heiterkeit und Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)


Auch wir Deutschen haben nicht alles von dem
durchsetzen können, was wir gern durchgesetzt hätten.
Das gerade hier zu sagen gebietet die Redlichkeit.


(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Etwas Wesentliches haben wir allerdings erreicht:

Die Ausgabenbegrenzung konnte so festgeschrieben
werden, wie Deutschland und einige unserer Partner es
im nationalen, aber auch im europäischen Interesse ge-
fordert haben. Schritte hin zu mehr Beitragsgerechtig-
keit liegen nicht nur im deutschen, im niederländischen,
im österreichischen oder im schwedischen Interesse; der
Gesichtspunkt der Solidarität und der Gerechtigkeit auch
den Stärkeren gegenüber liegt vielmehr auch im euro-
päischen Interesse. Solidarität ist eben keine Einbahn-
straße.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben uns deshalb in Berlin darauf geeinigt, daß
die Kurve der deutschen Nettozahlungen in der Ten-
denz gestoppt und – naturgemäß langsam – umgedreht
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Aber es gilt ganz kühl festzustellen: Wir werden nicht
auf einen Schlag reparieren können, was in der Vergan-
genheit versäumt worden ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


– Das ist so! Sollte sich der eine oder andere von dieser
oder jener Bank zu Wort melden, dann bin ich sehr ge-
spannt darauf, ob er es schafft, das, was wir in Berlin er-
reicht haben, mit dem zu vergleichen, was andere aus
Edinburgh mitgebracht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf diese Diskussion, die wir sicherlich noch mit
großem Nachdruck und mit großem Interesse miteinan-
der – in welchen Gruppierungen bei Ihnen auch immer –
werden führen können, freuen wir uns wirklich.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So eine Nullnummer!)


Deutschland hat die EU–Ratspräsidentschaft in einer
gewiß prekären Lage übernommen. Am Ende dieses
Halbjahres werden wir vier Gipfeltreffen der Staats- und
Regierungschefs hinter uns gebracht haben, und dies
– wie wir mit ein Stück weit Stolz sagen – durchaus mit
Erfolg.

Mit der Nominierung von Prodi haben wir eine insti-
tutionelle Krise in der Union abwenden können. Die La-
ge im Kosovo hat die europäische Wertegemeinschaft
erstmals seit dem zweiten Weltkrieg vor den Zwang ge-
stellt, mit militärischen Mitteln eine humanitäre Kata-
strophe verhindern zu müssen.

Mit dem Berliner Paket haben wir eine gute Basis
gelegt, um die Osterweiterung der Europäischen Union
voranzutreiben. Diese Erweiterung ist und bleibt unsere
größte, unsere drängendste Aufgabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Europäische Union strukturell und finanziell für die
Aufnahme der Beitrittskandidaten fit zu machen – ich
habe darauf immer wieder hingewiesen – stand und steht
weit oben auf der europäischen Tagesordnung.

Auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni wollen wir dar-
über hinaus einen Beschäftigungspakt für und in Europa
verabschieden und einen Fahrplan für die dringend not-
wendigen institutionellen Reformen der EU festlegen.
Damit erweisen wir uns einmal mehr als der in der Rea-
lität und nicht nur im Reden wirkliche und ehrliche An-
walt der Beitrittskandidaten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit dem in Berlin erreichten Kompromiß sind wir
unseren Zielen, vor allen Dingen dem Ziel, Europa zu
erweitern, ein großes Stück näher gekommen. Ich er-
warte nicht, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses
allen Einzelheiten des Kompromisses zustimmen. Aber
ich erwarte, meine Damen und Herren, daß wir den
ernstgemeinten Versuch machen, europäische Politik ein
Stück weit herauszuhalten aus dem politischen Konkur-
renzkampf der Parteien.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Langanhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104000
Das Wort hat
jetzt der Herr Vorsitzende der CDU/CSU–Fraktion, Dr.
Wolfgang Schäuble.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1403104100
Frau Präsi-
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eugen
Gerstenmaier, der große Präsident dieses Hauses, hat
seine Memoiren mit dem Titel überschrieben: „Streit
und Friede hat seine Zeit“. Wir sind heute in einer be-
sonderen Situation. Wir haben, Herr Bundeskanzler, ge-
stern schon kurz darüber debattiert. Deswegen will ich
ganz ruhig und klar sagen, inwieweit wir das unterstüt-
zen, was Sie gesagt haben, und worin wir uns unter-
scheiden.

Wir unterstützen, Herr Bundeskanzler, das, was Sie
zur Lage im Kosovo gesagt haben. Ich habe gestern für
die CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß sich die Bundesre-
gierung auf unsere Unterstützung verlassen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich fand richtig – und wir unterstützen das –, was Sie
grundsätzlich zu Europa, zum Prozeß der europäischen
Integration und zu der Notwendigkeit der Erweiterung
gesagt haben. Wir unterstützen besonders und begrüßen,
daß es dem Europäischen Rat gelungen ist, sich so rasch
auf einen Nachfolger von Santer zu einigen. Wir begrü-
ßen, daß man sich darauf geeinigt hat, Romano Prodi als
neuen Kommissionspräsidenten vorzuschlagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind in der Bewertung dessen, was auf dem Berli-
ner Gipfel zur Agenda 2000 erreicht worden ist, unter-
schiedlicher Meinung. Das muß auch so bleiben. Herr
Bundeskanzler, ich glaube auch gar nicht, daß es gut wä-
re, wenn wir Europa und europapolitische Fragen, wie Sie
am Schluß ein bißchen mißverständlich – vielleicht habe
ich Sie nicht richtig verstanden – gesagt haben, aus dem
Streit, aus der politischen Konkurrenz herausnehmen
würden. Die Demokratie, die Suche nach Alternativen,
das Ringen um die besseren Lösungen muß bei aller Ge-
meinsamkeit darüber, daß die europäische Einigung das
wichtigste Projekt am Ende dieses Jahrhunderts ist, auch
und gerade in europäischen Fragen funktionieren.

Ich möchte gerne noch ein Wort zu der aktuellen Si-
tuation im Kosovo sagen. Das erste ist: Wir fühlen uns
in diesen Stunden mit den Soldaten, mit ihren Familien
und auch mit den Streitkräften unserer Verbündeten ver-
bunden. Unsere Unterstützung gilt ihnen. Wir begrüßen,
daß alles getan wird, um Gefahren so gering wie mög-
lich zu halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man muß es immer und immer wieder sagen: Die
Völkergemeinschaft hat mit unendlicher Langmut ver-
sucht zu verhindern, was unvermeidlich geworden ist.
Aber es ist gut, notwendig und unausweichlich, daß am

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Ende Langmut nicht mit Wankelmut verwechselt wer-
den durfte. Deswegen mußte jetzt eine klare, feste Ent-
scheidung getroffen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Angriffe richten sich nicht gegen das serbische

Volk. Die Menschen sollten sich auch nicht durch die
jetzt angeworfene Propagandamaschine in die Irre leiten
lassen. Worum es geht, ist, Morden zu verhinden und zu
helfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall in
Europa, auch in Jugoslawien und vor allem im Kosovo,
wiederhergestellt wird. Worum es geht, ist, daß eine
Tragödie für Hunderttausende von Menschen so rasch
wie möglich beendet wird. Darum und um nichts ande-
res geht es. Dafür werden wir geschlossen und ent-
schlossen die getroffenen Entscheidungen unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir stimmen darin überein, daß es notwendig und
richtig ist, so rasch wie möglich zu erreichen, daß die
Waffen im Kosovo schweigen, und so rasch wie mög-
lich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wieder
humanitäre Hilfe geleistet werden kann, damit das
Elend, dem die Menschen durch die Aggression, das
Verbrechen, das Morden dieses Diktators ausgesetzt
sind, gelindert werden kann.

Ich will noch eine Bemerkung im Hinblick auf manche
Äußerungen aus diesem Hause am gestrigen Tage und
auch in der öffentlichen Debatte machen: Ich finde, wir
haben im Oktober in Kenntnis aller Probleme auf sicherer
verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grund-
lage die notwendige Entscheidung dieses Bundestages
sorgfältig erwogen und getroffen. Ich bin dagegen, jetzt in
eine verfassungsrechtliche Rabulistik einzutreten, die
nicht weiterführt. Im übrigen will ich noch eine Bemer-
kung machen: Das Verfassungsgericht hat die Klage ge-
gen diesen militärischen Einsatz ja zurückgewiesen.

Ich habe schon einmal diesen Aufsatz aus einer gro-
ßen deutschen Tageszeitung im Zusammenhang damit
zitiert. Wenn ich mir die verfassungsrechtlichen Debat-
ten dazu so anhöre, habe ich das Gefühl, daß man nicht
immer unterscheiden kann. Wir werden nicht durch
einen Verzicht auf militärische Mittel – eingesetzt zur
Bewahrung des Friedens und zur Beendigung des Mor-
dens – Frieden erreichen und das Morden beenden. Es
geht darum, größeres Morden zu verhindern.

Es kann am Ende dieses Jahrhunderts doch nicht sein,
daß am Schluß dieser rabulistischen Diskussionen Über-
schriften stehen wie jene eines Zeitschriftenaufsatzes, die
da lautete: „Wir lassen uns in Ruhe – auch beim Morden“.
Wir dürfen uns in Europa und in dieser einen Welt beim
Morden nicht mehr in Ruhe lassen. Darum geht es.


(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die aktuelle Lage unterstreicht – insofern fand dieser
Berliner Gipfel ganz gewiß unter bestimmten Umständen
statt –, wie notwendig ein handlungsfähiges, ein starkes
Europa ist. Es ist der beste Weg, die größte Chance an der
Schwelle zum kommenden Jahrhundert, Frieden in ganz

Europa sicherzustellen, was leider in diesen Tagen immer
noch nicht gelungen ist. Deswegen ist es auch richtig, daß
wir alle unsere Kraft darauf verwenden, den Beitritt der
Länder aus Mittelost- und Südosteuropa so rasch wie
möglich voranzubringen. In diesem Zusammenhang ist
daran zu erinnern, daß die Aufgabe der Agenda 2000 vor
allem darin bestand, die Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, daß dieser Beitritt erleichtert wird und er so rasch wie
möglich zustande kommen kann. Auch da stimmen wir
also im Grundsätzlichen überein.

Ich finde gut, daß die Entscheidung für Romano
Prodi so schnell getroffen worden ist. Wir unterstützen
auch die Absicht, schon jetzt nach den Regeln des Am-
sterdamer Vertrages – auch wenn er noch gar nicht in
Kraft ist – zu verfahren, so daß die Entscheidung des
Rates durch das jetzt im Amt befindliche Europäische
Parlament bestätigt und Prodi beauftragt wird, ein Re-
formprogramm zu entwickeln und eine Kommission zu
bilden. Diese muß dann noch einmal als Ganzes vom
neu zu wählenden Parlament einer Bestätigung zuge-
führt werden, um dann eine neue, handlungsfähige
Kommission zu haben, die für die volle Amtszeit von
fünf Jahren an einem Programm institutioneller Refor-
men arbeiten und somit einen Beitrag leisten kann, um
den wichtigen und schwierigen Reformprozeß in Europa
voranzubringen.

Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben – das
muß man sagen – hinter den Notwendigkeiten und hinter
den gesteckten Erwartungen zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das gilt in besonderer Weise für die Agrarpolitik; dar-
an kann kein Zweifel sein. Natürlich muß man Kom-
promisse finden, natürlich war es schwierig. Aber was
wir schon vor einer Woche gesagt haben, gilt auch heu-
te: Es war nach unserer Überzeugung ein schwerer Feh-
ler, das von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unter-
stützte Ziel der Kofinanzierung als einen ersten Schritt
für mehr Subsidiarität auch in der Agrarpolitik schon
vor dem Berliner Gipfel aufzugeben.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Leider!)

Die Aufgabe dieser Position hat sich auf die Ergebnisse des
Berliner Gipfels, so wie wir sie kennen, zum Nachteil einer
wirkungsvollen Reform der Agrarpolitik ausgewirkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir kennen die Zahlen nicht im einzelnen. Das ist

keine Kritik; der Berliner Gipfel ging ja bis in die frühen
Morgenstunden. Wir legen einen Entschließungsantrag
vor, in dem wir – gemäß unserer Überzeugung, daß das
Parlament als Ganzes Stellung beziehen sollte – eine
Position formulieren. Aber auch wenn man die Zahlen
nicht im einzelnen kennt, eines ist klar: Die grundlegen-
den Probleme in der Agrarpolitik werden durch das Er-
gebnis des Berliner Gipfels nicht gelöst. Manches wird
sogar schlechter. Der Preisdruck beispielsweise durch
die Milchquoten wird eher stärker werden. Die Ein-
kommenseinbußen für die deutsche Landwirtschaft
– wie immer sich die Zahlen im einzelnen darstellen –
sind erheblich. Wir muten keinem anderen Teil unserer
Bevölkerung etwas Vergleichbares zu.

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


Angesichts dieser Situation, wo wir den Bauern in
Deutschland etwas zumuten, was wir keiner anderen
Bevölkerungsgruppe zumuten, will ich noch einmal mit
allem Nachdruck an die Mehrheit dieses Hauses appel-
lieren: Es ist falsch und unverantwortlich, durch Maß-
nahmen nationaler Gesetzgebung – von der sogenannten
Steuerentlastung, die für die Landwirtschaft eine Steuer-
mehrbelastung bedeutet,


(Widerspruch bei der SPD)

über die Ökosteuer bis zur Kürzung der Zuschüsse für
die landwirtschaftliche Unfallversicherung – zusätzliche
Einkommensverluste in einer Größenordnung von
1,8 Milliarden DM für die deutsche Landwirtschaft zu
beschließen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch wenn es unvermeidlich ist, im Zuge der Reform

der europäischen Agrarpolitik Kompromisse zu schlie-
ßen, auch Opfer zuzumuten, ist es in einer solchen Si-
tuation auch um des inneren Friedens und der sozialer
Gerechtigkeit willen in diesem Lande geradezu verhee-
rend, der Bevölkerungsgruppe, der man die meisten
Auswirkungen von Reformen zumutet – vielleicht teil-
weise zumuten muß –, durch nationale Maßnahmen zu-
sätzliche Belastungen aufzuerlegen, anstatt daß man ver-
sucht, die Auswirkungen für die betroffenen Menschen,
für die betroffene Bevölkerungsgruppe durch nationale
Maßnahmen zu mindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich sage noch einmal, verehrte Kolleginnen und Kol-
legen: Wer glaubt, die Bauern in unserem Lande seien
nur eine kleine Minderheit, über die man sich leicht
hinwegsetzen könne, der hat nicht verstanden, daß die
Stabilität unseres Landes auf einem ausgewogenen Ver-
hältnis von städtischen Ballungszentren und ländlichen
Räumen beruht und daß der ländliche Raum ohne eine
funktionierende Landwirtschaft nicht lebensfähig ist.
Das wird auch in der Zukunft so bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen: Wer die Lebensfähigkeit unserer Land-

wirtschaft untergräbt, schadet nicht nur den Bauern,
sondern verletzt die innere Stabilität unseres Landes.


(Uwe Hiksch [SPD]: Das glauben Sie ja selber nicht!)


– Ja, natürlich, wegen der Ausgewogenheit im Vergleich
zu anderen Ländern. Ich komme gleich auf die Regio-
nalpolitik zu sprechen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das weiß der Kalle Funke besser!)


Wenn Sie ein wenig über die Vorteile unserer Bun-
desrepublik Deutschland – eine größere Balance auch
als Folge unseres föderalen Systems und eine größere
Ausgewogenheit zwischen ländlichen Regionen, klei-
nen, mittleren und großen Städten bzw. Zentren – nach-
denken, dann werden Sie vielleicht verstehen, daß die
Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes nicht nur für die
Menschen dort, sondern auch für die Menschen in den

städtischen Ballungszentren wichtig ist. Deswegen geht
es nicht um Klientelpolitik, sondern um die richtigen
ordnungs- und strukturpolitischen Entscheidungen für
unser Land.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch einmal sagen: Natürlich muß die euro-

päische Agrarpolitik reformiert werden, um die Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, daß die Erweiterung der
Europäischen Union besser vorankommt. Da wir aber
gleichzeitig darüber reden, Herr Bundeskanzler, wie der
weitere Weg institutioneller Reformen auszusehen hat
– von den Arbeiten, die Romano Prodi in der Vorberei-
tung auf eine neue Kommission und sein Programm zu
leisten hat bis zum Kölner Gipfel und zu dem Prozeß,
der von dort ausgehen muß –, will ich noch einmal das
Prinzip beschreiben: Wir werden die Probleme der euro-
päischen Agrarpolitik besser lösen, wenn wir im Bereich
der Einkommenshilfen – wie immer sie heißen, ob es
landwirtschaftliche Sozialpolitik ist, ob es direkte Ein-
kommensbeihilfen oder was auch immer sind – das
Subsidiaritätsprinzip stärker verwirklichen.

Wir können angesichts der ganz unterschiedlichen
klimatischen, regionalen und sonstigen Strukturen in Eu-
ropa, des unterschiedlichen Wohlstands und Preisni-
veaus in Europa


(Ludwig Stiegler [SPD]: Jetzt erzählt er Selbstverständliches!)


bei der Reform der europäischen Agrarpolitik die Le-
bensfähigkeit der Landwirtschaft in Deutschland nicht
allein durch europäische Maßnahmen sichern. Deswe-
gen brauchen wir stärker das Subsidiaritätsprinzip.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung über
Maßnahmen zu stärkeren nationalen Gestaltungsmög-
lichkeiten erreicht worden ist – die Kofinanzierung wäre
der entscheidende Schritt in diese Richtung gewesen –,
ist dieser Gipfel gescheitert. Dafür trägt die Bundesre-
gierung erhebliche Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


– Ich weiß doch, daß das für Frankreich ein ganz
schwieriges Thema ist.


(Bundesminister Joseph Fischer: Nächstes Mal nehmen wir Sie mit!)


– Die deutsch-französische Freundschaft ist doch kein
Grund dafür, daß man mit unseren französischen Freun-
den und Nachbarn nicht intensiv darüber reden kann und
muß, was der richtige Weg für Europa ist. Wenn man
aber die Debatte so, wie Bundeskanzler Schröder es An-
fang des Jahres getan hat, als er sagte, jetzt ist Schluß
damit, daß in Brüssel das deutsche Geld verbraten wird,
beginnt, dann kann man mit Frankreich nicht zu einem
Ergebnis kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war Herr Stoiber!)


Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


Es ist doch bemerkenswert, daß Tony Blair nach sei-
ner Rückkehr sagen kann – wenn ich die Agenturmel-
dungen richtig gelesen habe –, daß kein britisches Pfund
mehr bezahlt werde und man den britischen Beitragsra-
batt gehalten habe. Auch die Franzosen können sagen:
Wir haben alles gehalten. Auch die Südländer können
sagen: Wir haben alles gehalten.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Aber der deutsche Bundeskanzler, der am Anfang der
deutschen Präsidentschaft am meisten davon geredet hat,
welche angeblichen Fehler seiner Vorgängerregierung
jetzt korrigiert werden müssen, hat am wenigsten er-
reicht. So macht man sich durch eigenes Reden die
Erfolge kaputt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Wer hat denn die Kürzungen ins Spiel gebracht? – Weiterer Zuruf von der SPD: Jetzt kommen Sie wieder in das alte Fahrwasser!)


Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch endlich davon
ab, die Legende zu bilden – ich drücke mich noch sehr
zurückhaltend aus –,


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Stoiber sitzt auf der anderen Bank!)


als sei in den vergangenen Jahren die Entwicklung dahin
gegangen, daß Deutschland immer mehr gezahlt habe,
und als habe Ihre Vorgängerregierung – wie haben Sie
sich ausgedrückt? – das Geld geradezu nach Brüssel ge-
schaufelt, damit es dort verbraten werde. Die Wahrheit
ist, daß der deutsche Nettobeitrag nach den amtlichen
Zahlen der Kommission in den Jahren 1994 bis 1997
– für diese Jahre haben wir die amtlichen Zahlen; für
1998 gibt es die Zahlen noch nicht – von 27 Milliarden
DM auf 22 Milliarden DM gesunken ist. Die Trendwen-
de ist also 1994 eingeläutet worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die von Ihnen in Ihrer Regierungserklärung eingefor-
derte Gemeinsamkeit kann nicht auf der Grundlage fal-
scher Zahlen und falscher Legenden zustande kommen,
mit denen Sie die Bevölkerung und das Parlament ein
Stück weit täuschen. Die Wahrheit ist, daß die Regie-
rung Kohl/Waigel in den Jahren 1994 bis 1997 eine
Trendwende durch die Senkung des deutschen Netto-
beitrags von 27 auf 22 Milliarden DM erreicht hat. Ge-
messen daran sind die Ergebnisse, die Sie in Berlin er-
reicht haben, ausgesprochen kläglich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich will noch ein Wort zur europäischen Regional-
politik sagen. In der heutigen Debatte will ich vor allen
Dingen noch einmal das Prinzip, um das es uns geht,
klarmachen. Wir sagen in unserem Entschließungsantrag
– ich habe das auch in der vergangenen Woche von die-
sem Platz aus gesagt –: Wir akzeptieren, daß die Förde-
rung für die Bundesrepublik Deutschland aus den euro-
päischen Strukturfonds zurückgeführt wird. Wir akzep-

tieren notfalls auch, daß die Strukturförderung für
Deutschland überdurchschnittlich zurückgeführt wird.
Das ist ja das Ergebnis von Berlin, wenn man die Zah-
len, die wir jetzt kennen, einigermaßen richtig bewertet.
Wenn dies aber geschieht, dann ist es zwingend notwen-
dig, daß die Mitgliedstaaten und die Regionen, soweit
sie in den Mitgliedstaaten eine rechtliche Qualität besit-
zen – für die Bundesrepublik Deutschland heißt das
Bund und Länder –, mehr Möglichkeiten erhalten, mit
eigenen Mitteln in eigener Zuständigkeit regionale Pro-
bleme zu lösen, für die es in Zukunft weniger Mittel aus
Brüsseler Kassen gibt. Das fordern wir; das haben Sie
nicht erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das läßt sich an vielen Zahlen belegen.
Das Entscheidende ist, daß wir das Prinzip der Auf-

gabenabschichtung, der Subsidiarität, klarer durchsetzen
müssen: Wofür ist Europa, wofür sind die Mitgliedstaa-
ten und wofür sind die Regionen zuständig? Das wird
auch die entscheidende Aufgabe für den institutionellen
Reformprozeß sein müssen.

Wenn wir in Europa weiterhin die Entwicklung ha-
ben, daß für immer mehr Aufgaben in immer stärkerem
Maße die europäische Ebene zuständig ist, daß wir eine
Mischfinanzierung haben, die am Ende keiner mehr
richtig durchschaut, und daß wir auf europäischen Gip-
feln in den Nacht- und Morgenstunden Regelungen und
Geld hin- und herschieben – 10 Millionen für dich,
5 Millionen für mich –, so daß am Ende keiner mehr
weiß – das ist kein Vorwurf –, was nun im einzelnen be-
schlossen worden ist, dann werden wir – –


(Dr. Peter Struck [SPD]: Wie war es denn früher?)


– Ich bitte Sie herzlich, verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen, ich habe mit keinem Wort kritisiert, daß der Bun-
deskanzler in seiner Regierungserklärung keinerlei sub-
stantielle Angaben zu den Inhalten des Ergebnisses des
Berliner Gipfels gemacht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Aber wenn Sie hier solche Zwischenrufe machen, dann
muß ich doch darauf hinweisen, daß ich ja verstehe, daß
man ein paar Stunden nach Abschluß des Gipfels noch
nicht in einer Regierungserklärung sagen kann, was im
einzelnen beschlossen worden ist.


(Widerspruch bei der SPD)

Das zeigt doch die Absurdität dieses Verfahrens. Das

können wir nur dann besser lösen, wenn wir bei der in-
stitutionellen Reform der Europäischen Union zu ein-
facheren, klareren Regelungen kommen. Es muß nicht
jede Aufgabe in Europa durch europäische Institutionen
gelöst werden. Subsidiarität, mehr Bürgernähe, mehr
Transparenz und mehr Klarheit, das ist der bessere Weg,
um Europa voranzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


Das ist vor allen Dingen deswegen wichtig, weil wir
Europa nur voranbringen werden, wenn es uns gelingt,
die Menschen in Europa und auch in Deutschland davon
zu überzeugen – und zwar sowohl im Großen und
Grundsätzlichen als auch im Kleinen und Konkreten,
also nicht nur in den Festreden, sondern auch im Alltag –,
daß Europa der bessere Weg für unsere Zukunft ist.
Deswegen müssen die Ergebnisse und die Entscheidun-
gen in Europa für die Menschen nachvollziehbar sein.
Deswegen muß man wissen, wer was entscheidet, wer
wofür die Verantwortung trägt, warum welche Entschei-
dung getroffen wird und wie sie demokratisch legiti-
miert ist. Das ist, in einfachen Worten, die Aufgabe für
die institutionellen Reformen.

Davon war im übrigen der Berliner Gipfel ein Teil.
Die Ergebnisse des Berliner Gipfels werden diesem
Maßstab aber nicht gerecht. Sie bedeuten nicht eine
Stärkung der Subsidiarität in Europa, sondern sie resul-
tieren wiederum nur aus dem Versuch – vielleicht war es
in dieser Woche in der Lage gar nicht anders möglich –,
die Milliarden ohne eine systematische Klarheit hin- und
herzuschieben. Bei diesem Hin- und Herschieben von
Milliarden hat die deutsche Präsidentschaft für die deut-
schen Interessen weniger erreicht, als die Regierungen
anderer Mitgliedstaaten erreicht haben, wie alle Agen-
turmeldungen von heute morgen zeigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Damit sich dies nicht wiederholt, wird es notwendig

sein – ich nütze die Gelegenheit dieser Debatte, dafür zu
werben –, daß wir Europa bei den institutionellen Re-
formen mit einer Art Verfassungsvertrag unterstützen,
um das Ganze für die Menschen einsehbar und nach-
vollziehbar zu machen, um die Menschen für Europa zu
gewinnen und sie mitzunehmen. Sie sollen sehen, daß
ihre Sache dort entschieden wird, und zwar nicht nega-
tiv, sondern positiv. Es soll erkennbar werden, wer in
Europa für welche Entscheidung zuständig ist und wie
jede Entscheidung in Europa demokratisch legitimiert
wird – auch das ist wichtig –, was wir nicht allein durch
die nationalen Parlamente machen können, weswegen
das Europäische Parlament gestärkt werden muß. Je bes-
ser das gelingt, um so größer sind die Chancen, daß wir
die Menschen dafür gewinnen, den Weg der europäi-
schen Einigung in guten und in schwierigen Zeiten wei-
ter voranzugehen. Das ist das Wichtigste. Die große
Aufgabe deutscher und europäischer Politik ist ange-
sichts der Ereignisse dieser Woche, in der sich viele
dramatische Entwicklungen sozusagen wie zu einem
Knoten zusammengefügt haben, dafür zu sorgen, daß
sich die Menschen weiterhin für die demokratischen
Entscheidungsprozesse interessieren.

Deswegen darf dieser Punkt nicht aus dem demokra-
tischen Meinungsstreit ausgeklammert werden, Herr
Bundeskanzler. Die entsprechende Diskussion muß
vielmehr Gegenstand des demokratischen Wettbewerbs
sein. Es muß klar sein, wer wo um welche Konzeptionen
streitet. Unsere Konzeption für Europa beinhaltet ein
handlungsfähiges und starkes Europa; ein Europa, das
Frieden, Freiheit, Menschenrechte, soziale Gerechtig-
keit, wirtschaftlichen Wohlstand, ökologische Nachhal-
tigkeit und den Schutz von Natur und Umwelt sichert.
Aus diesem Grunde ist die Erweiterung so wichtig.

Wir müssen die Subsidiarität stärken, um demokrati-
sche Entscheidungen auf allen Ebenen zu ermöglichen,
und wir müssen die kommunale Selbstverwaltung und
die Zuständigkeit der Länder ernst nehmen. Die Mit-
gliedstaaten müssen ihre Funktion, die sie bisher wahr-
genommen haben, beibehalten und sich für die Interes-
sen der Menschen einsetzen. Europa ist längst nicht
mehr eine Festveranstaltung, sondern – wenn die Politik
richtig angelegt ist – die beste Antwort, um die Interes-
sen der Deutschen im kommenden Jahrhundert zu wah-
ren.

Dazu gehört, daß wir die Kraft aufbringen, Entschei-
dungen zu treffen, auch wenn die Entscheidungen, für
die es wie im Falle der aktuellen Lage im Kosovo keine
bessere Alternative gibt, sehr weh tun.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104200
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1403104300
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
im Namen der SPD-Fraktion gratuliere ich Ihnen zu den
Ergebnissen, die Sie in Berlin erreicht haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bevor ich darauf und auch auf die Bemerkungen
meines Vorredners näher eingehe, möchte ich noch eini-
ge Ausführungen zur aktuellen Situation im Kosovo
machen. Niemand in diesem Hause wird in diesen Tagen
und Stunden ohne Skrupel sein; niemand wird unbeein-
druckt von den Fernsehbildern der letzten beiden Nächte
sein. Es wird niemanden geben, der sich nicht eindring-
lich fragt und prüft, ob der militärische Einsatz in Jugo-
slawien wirklich berechtigt ist. Es wird auch niemanden
geben, der sich nicht der gewaltigen Zäsur bewußt ist,
daß erstmals nach dem zweiten Weltkrieg deutsche Sol-
daten in Kampfeinsätze geschickt werden mußten.

Ich muß für meine Person bedrückt feststellen, daß ich
keine Alternative zu diesen Entscheidungen gefunden ha-
be. Ich halte die begonnenen Luftschläge gegen militäri-
sche Ziele in Jugoslawien für unabdingbar. Die Gewalt-
herrschaft des jugoslawischen Präsidenten Milosevic und
das blutige, menschenverachtende Vorgehen der serbi-
schen Polizei- und Militärkräfte im Kosovo konnten mit
diplomatischen und politischen Mitteln nicht mehr ge-
stoppt werden. Im Gegenteil: Je intensiver sich die USA,
Europa und auch die Vereinten Nationen um Lösungen
bemühten, desto grausamer gingen die Schergen von Mi-
losevic im Kosovo vor: mehr als 2 000 Tote, über 500
zerstörte Dörfer und 500 000 Vertriebene. Die Tragödie
der Kosovo-Albaner mußte ein Ende haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Es gab viele Stimmen, die das Zuwarten der NATO
seit dem Massaker von Racak im letzten Januar kritisiert

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


haben. Sie könnten vielleicht sogar recht haben. Un-
zweifelhaft ist aber auf jeden Fall, daß die Regierungen
der NATO-Mitgliedstaaten, die Bosnien-Kontaktgruppe,
die Europäische Union, die OSZE und die Vereinten
Nationen alles versucht und alle Möglichkeiten ausge-
schöpft haben, um Milosevic zu einer friedlichen Lö-
sung des Konflikts zu bewegen. Auch die russische Re-
gierung hat sich intensiv an solchen Überzeugungsver-
suchen beteiligt.

Alle diese Versuche hatten das Ziel, einerseits Ver-
treibungen, Dorfzerstörungen und Tötungen durch serbi-
sche Einheiten zu beenden, andererseits den Gewaltak-
ten der albanischen UCK Einhalt zu gebieten. Sie zielten
auf eine menschenrechtskonforme Lösung des Konflikts
im Rahmen einer fairen Lösung für beide Konfliktpar-
teien: Bewahrung und Sicherstellung der Souveränität
und der territorialen Integrität Jugoslawiens, weitgehen-
de Autonomie und Selbstverwaltung für die albanische
Mehrheit im Kosovo, Garantie der individuellen Men-
schenrechte. Alle diese Bemühungen aber prallten an
dem machtversessenen, zynischen Diktator Milosevic
ab.

Angesichts dieser Erfahrungen darf Europa kein
zweites Srebrenica zulassen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


In Bosnien haben wir zu lange gewartet, nicht frühzeitig
genug schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit
unterbunden und haben dadurch einen Völkermord mit-
ten in Europa geschehen lassen. Das darf und wird uns
nicht noch einmal passieren. – Wenn wir glaubhaft für
den Aufbau und die Schaffung eines demokratischen
Europas eintreten wollen, wenn wir für dieses Europa
die höchsten Menschenrechtsnormen beanspruchen, dann
bleibt uns nichts, als gegen die humanitäre Katastrophe,
gegen Gewalt und Willkür im Kosovo entschieden vor-
zugehen.

Ich sehe das Dilemma, das eine Reihe von Ihnen hier
im Haus, auch aus meiner Fraktion beklagen. Wir stan-
den vor der schwierigen Alternative, entweder ethnische
Säuberungen und andere schwerste Menschenrechts-
verletzungen geschehen zu lassen oder ohne die Zu-
stimmung Rußlands und Chinas im Sicherheitsrat für ei-
ne Beendigung dessen zu sorgen. Ich halte unsere Ent-
scheidung und die unserer Partnerstaaten für letzteres
unter den konkreten Umständen für angemessen, vor
allem deshalb, weil die Verhinderung von Völkermord
schwerer ins Gewicht fällt als der Respekt vor dem Ve-
torecht von zwei Mitgliedern des Sicherheitsrates, zumal
dies aus sachfremden Gründen mißbraucht worden ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Von dieser Stelle aus wende ich mich an all die vielen
Mitbürgerinnen und Mitbürger jugoslawischer Herkunft
in unserem Land. Ihnen und dem serbischen Volk
möchte ich eindringlich klarmachen, daß weder die
NATO noch die Europäische Union, daß weder die USA
noch Deutschland oder ein anderer europäischer Staat

Feindschaft gegen das serbische Volk, die Republik
Serbien oder die Bundesrepublik Jugoslawien hegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unser Vorgehen richtet sich allein gegen den Diktator
und gewalttätigen Hasardeur Milosevic und die von ihm
befehligten Polizei- und Streitkräfte. Er handelt gegen
die Interessen seines eigenen Volkes, indem er es vom
demokratischen Europa isoliert.

Meine Damen und Herren, mit Genugtuung und Re-
spekt habe ich verfolgt, wie der Bundesverteidigungs-
minister mit großer Umsicht und Fürsorge den größt-
möglichen Schutz für unsere am Einsatz beteiligten Sol-
daten veranlaßt hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Um die Last, die in diesen Tagen auf ihm liegt, ist er
nicht zu beneiden. Er verdient für diese Aufgabe die
Unterstützung aller, auch die seines Vorgängers im Amt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Trotz aller Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen
bleibt ein hohes Gefahrenpotential für die Gesundheit
und das Leben unserer Soldaten. Zum erstenmal nach
dem zweiten Weltkrieg beteiligen sie sich an einem
Kampfeinsatz, nach dem sich niemand von uns gedrängt
hat. Sie sind beteiligt an einem Einsatz, der Terror und
Völkermord mitten in Europa beenden und die Grundla-
ge für ein friedliches Miteinander garantieren soll. Unse-
re Gedanken und unsere Anteilnahme sind bei den Tor-
nadopiloten und bei den Bodentruppen in Mazedonien.
Wir bangen mit ihren Familien. Wir hoffen mit ihnen,
daß alle unbeschadet zurückkehren.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Schrecken im Kosovo machen uns bewußt, daß es
zur europäischen Integration keine Alternative gibt. Sie
allein ist der Weg zu Frieden und gemeinsamem Wohl-
stand auf diesem Kontinent.

Einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung ist
in diesen Tagen die Europäische Union auf dem Son-
dergipfel in Berlin gegangen. Erstmals in der Ge-
schichte der Europäischen Union mußten drei große Po-
litikbereiche reformiert werden: die gemeinsame Agrar-
politik, der Strukturfonds und das gesamte EU-
Finanzsystem. Daß bei dieser komplexen Gemengelage
ein umfassender und tragfähiger Kompromiß gefunden
werden konnte, ist eine große Leistung des Europäi-
schen Rates.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Mit liederlichem Ausgang!)


Die Ergebnisse des Gipfeltreffens in Berlin sind ein
großer persönlicher Erfolg auch für Sie, Herr Bundes-
kanzler, und für Sie, Herr Bundesaußenminister.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Peter Struck






(A) (C)



(B) (D)


Die unermüdlichen Bemühungen des Bundeskanzlers im
Vorfeld und auf dem Gipfel des Europäischen Rates ha-
ben zu sehr beachtlichen Resultaten geführt. Sie, Herr
Bundeskanzler, habe Ihre Kritiker damit Lügen gestraft
und in kürzester Zeit diplomatische und europapolitische
Akzente gesetzt. Für Europa sind diese Ergebnisse sehr
ermutigend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn die Opposition hier im Hause das Ergebnis von
Berlin kritisiert, so gehört dies zu ihrer Aufgabe. Sie
würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie dies nicht täte.
Wenn sich allerdings Ihre Kritik, Herr Kollege
Schäuble, vor allen Dingen auf die Beschlüsse im Be-
reich der gemeinsamen Agrarpolitik konzentriert, dann,
denke ich, springen Sie viel zu kurz. Europa ist mehr als
nur eine gemeinsame europäische Agrarpolitik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Verabschiedung der Agenda 2000 ist nach der
sehr schnellen und sehr übereinstimmenden Entschei-
dung zugunsten von Romano Prodi das zweite wesentli-
che Ergebnis des Gipfels. Mit der Agenda 2000 ist ein
Handlungsrahmen geschaffen worden, der die finan-
zielle Solidität der Gemeinschaft und die Stabilität der
Europäischen Währungsunion garantiert. Gleichzeitig
sind die in der Agenda 2000 getroffenen Regelungen
entscheidende Voraussetzungen für die Osterweiterung
der Europäischen Union. Jedem Kenner war klar, daß
nicht jedes Detail der deutschen Vorstellungen durchzu-
setzen war und daß alle Beteiligten Kompromißfähigkeit
zeigen mußten. Wesentlich ist aber, daß im Hinblick auf
die Agrarausgaben eine reale Konstante erreicht worden
ist. Sie liegt nur gering oberhalb der angestrebten Gren-
ze von jährlich 40,5 Milliarden Euro.

Sie, Herr Kollege Schäuble, haben festgestellt, daß
alle beteiligten Regierungschefs in ihren Ländern aus ih-
rer nationalen Sicht das Ergebnis des Gipfels als Erfolg
bezeichnet haben. Ich denke, der Bundeskanzler hat ge-
nau das erreicht, was man auf einem solchen Gipfel
überhaupt erreichen kann: Alle sind zufrieden, das heißt,
alle tragen diesen Kompromiß mit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Alles in allem konnte die deutsche Nettobelastung
durch die Berliner Entscheidungen gesenkt werden. Die
Entlastung ist nicht so hoch, wie wir es uns gewünscht
hätten. Sie ist ganz sicherlich nicht so hoch, wie es von
der Opposition absurderweise gefordert wurde, die von
einer Entlastung in Höhe von 14 Milliarden DM sprach
und die Möglichkeit der Durchsetzung einer solchen
Forderung suggerieren wollte. Jeder Experte wußte, daß
das eine unsinnige Forderung war.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Zufriedenheit auf niedrigem Niveau!)


Wir haben die Hypotheken, die wir von der Regierung
Kohl übernehmen mußten, nicht von heute auf morgen

abtragen können. Das dauert etwas länger, meine Damen
und Herren. Aber wir sind auf dem richtigen Wege.


(Beifall bei der SPD)

Es ist eine Tendenzumkehr erreicht worden. Weitere
Schritte müssen folgen.

Mit dem erfolgreichen Abschluß des Berliner Gipfels
ist die Europäische Union dem Ziel, auf dem globalen
Markt wirtschaftlich konkurrenzfähig und mitgestaltend
bestehen zu können, ein gutes Stück nähergerückt.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das kann bloß ein Ahnungsloser sagen!)


Die neue Regierung, die nur zwei Monate Vorberei-
tungszeit hatte, kann mit dem Ergebnis mehr als zufrie-
den sein. Sie hat ihre europapolitische Kompetenz be-
wiesen.


(Beifall bei der SPD)

Damit sind die Weichen für Erfolge beim Beschäfti-
gungspakt und in der Weiterentwicklung der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik positiv gestellt.

Berlin war ein entscheidender Meilenstein für den er-
folgreichen Abschluß der deutschen Präsidentschaft. Da-
für danken wir dem Bundeskanzler Gerhard Schröder
und seiner Bundesregierung.


(Lebhafter Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104400
Jetzt hat das
Wort der Franktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolf-
gang Gerhardt.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1403104500
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte wer-
den wir bei SPD, den Grünen, der CDU/CSU und der
F.D.P. Gemeinsamkeiten feststellen; wir werden auch
Unterschiede markieren müssen. Das ist ein normaler
Vorgang in einer demokratischen Ordnung.

Zunächst zu den Punkten, bei denen Übereinstim-
mung besteht.

Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen – ich füge
hinzu: wir danken ausdrücklich auch dem Verteidi-
gungsminister – beim Thema Kosovo zu, was Engage-
ment, Zielrichtung, Verhandlungsführung und Entschei-
dung anbelangt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das konnten Sie erwarten. Wir haben es so beschlossen,
als wir noch Regierungsverantwortung hatten; das gilt
auch heute.

Mit Blick auf die gestrige Debatte möchte ich mich
nicht mit defensiven Auskünften begnügen. In einer sol-
chen Debatte und angesichts der ersten europäischen
Herausforderung durch Gewalt muß man Festigkeit in
der Sache bewahren. Mir geht es nicht um general-
stabsmäßige Diskussionen über den NATO-Einsatz dort.
Mir geht es darum, hier noch einmal klarzustellen, daß

Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


sich dieses Hohe Haus bewußt ist, daß wir dort Prinzipi-
en, die sich aus der Kulturgeschichte Europas ergeben,
verteidigen – gegen Menschen, die sie nicht achten und
die über andere Menschen herfallen. Deshalb sage ich
Ihnen, Herr Kollege Gysi: Pazifismus ist eine respekta-
ble Haltung. Wenn aber Pazifismus am Ende nicht mehr
fähig ist, Menschen in Not zu helfen, dann verliert er
seinen Bezug zur Menschlichkeit.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist der Kernpunkt der Auseinandersetzung, die wir
führen.

Es mag richtig sein, auf den Zusammenbruch oder je-
denfalls die Gefahr des Zusammenbruchs einer Welt-
ordnung hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, daß das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Ent-
scheidung der NATO in einen Konflikt miteinander ge-
raten. Aber Weltordnungen, die am Ende nicht mehr in
der Lage sind, Gewaltanwendung gegen Menschen zu-
rückzudrängen, verlieren an Legitimität. Deshalb kann
über die Weltordnung hier nicht nur unter dem Aspekt
diskutiert werden, ob sie verletzt wird. Eine Weltord-
nung muß sich mit allen ihren politischen Anstrengun-
gen ständig dahin gehend legitimieren, daß sie der Idee
der Menschlichkeit auf dieser Welt gerecht wird. Des-
halb ist nicht nur eine formale völkerrechtliche Diskus-
sion zulässig, sondern auch eine zutiefst emotionale,
menschliche in der Zuwendung zu den Menschen.

Ich habe hier eine Meldung vor mir. Ob sie zutrifft,
kann ich noch nicht einmal sagen. Aber wir spüren alle,
daß sie zutreffen könnte. Diese Reuters-Meldung ist von
11.39 Uhr. Danach haben im Kosovo nach Informatio-
nen der albanischen Nachrichtenagentur jugoslawische
Soldaten und serbische Polizisten 21 Lehrer albanischer
Abstammung vor den Augen ihrer Schüler umgebracht.
Man vermutet, daß das so sein könnte. Wenn ich so et-
was lese, bin ich nicht mehr in der Lage, eine Diskussi-
on darüber zu führen, ob man sich da heraushalten kann.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD])


Daß das vor den Toren Europas, nach den Massakern,
die wir schon erlebt haben, passieren kann, verlangt von
jedem Mitglied dieses Hauses sehr persönliche Stel-
lungnahmen und sehr persönliche Bekenntnisse.

Deshalb, glaube ich, sind die getroffenen politischen
Entscheidungen der alten und der neuen Bundesregie-
rung, der Mehrheit hier im Hause, auch Ihre Erklärung,
richtig. Daß wir uns in einem Dilemma befinden, stimmt
ebenso, wie die Tatsache richtig ist, daß wir dazu keine
Alternative haben. Wenn wir jetzt nicht diesem Rechts-
brecher entgegentreten, werden wir nie mehr in der Lage
sein, Rechtsbrechern entgegenzutreten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb ist die Entscheidung richtig gewesen.
Das Handling des Bundesverteidigungsministers,

den ich an dieser Stelle für meine gesamte Fraktion aus-

drücklich persönlich loben möchte, ist vorsichtig, der
Lage angemessen und, was den Schutz der deutschen
Soldaten betrifft, völlig richtig gewesen. Dafür danken
wir Ihnen. Auch das gehört zum Thema.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Deutschen wünschen sich immer international
geordnete Verhältnisse, wie das ordentlichen Menschen
wünschenswert erscheint. Aber leider entwickeln sich
die internationalen Verhältnisse nicht immer so, wie das
diesen guten deutschen Menschen wünschenswert er-
scheint.

Sie haben uns am Ende Ihrer Regierungserklärung
zum Thema „europäische Politik“ aufgefordert, mög-
lichst den Versuch zu machen, europäische Entschei-
dungen aus Binnenwahlkämpfen und aus der Wettbe-
werbssituation deutscher Parteien herauszunehmen. Das
hätten wir uns früher gewünscht, als wir Ihre Äußerun-
gen als niedersächsischer Ministerpräsident zu europäi-
schen Themen gehört haben.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darf ich Sie daran erinnern, was Sie zu dem wichtigsten
europäischen Projekt, dem Euro, der mit großen Kraft-
anstrengungen realisiert werden mußte, gesagt haben?


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist noch kein Jahr her!)


„Endlich haben wir ein nationales Thema“, haben Sie
erklärt. Sie haben zum Euro gesprochen wie Gauweiler.
– Heute appellieren Sie an uns, europäische Entschei-
dungen aus Binnenwahlkämpfen herauszuhalten.

Was hat Ihren früheren Finanzminister denn die Un-
abhängigkeit der Europäischen Zentralbank geschert?
Das ist ein hohes Gut. Es geht nicht nur um Gipfel wie
den in Berlin, sondern auch um Ansehen, Souveränität
und Unabhängigkeit europäischer Institutionen. Was hat
ihn dazu getrieben, diese Institution eher anzugreifen,
ihre Unabhängigkeit in den Augen vieler Deutscher zu
beschädigen, die Geldwertstabilitätspolitik eher in Miß-
kredit zu bringen? Das war doch nicht hehres europäi-
sches Bewußtsein. Das, was er vorgeführt hat, war ganz
kleines deutsches, sozialdemokratisches Karo.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zu europäischer Politik gehört im Grunde nicht nur,

sich zu den europäischen Themen zu äußern. Was haben
die Auftritte Ihres Umweltministers Trittin in Frankreich
zum deutsch-französischen Verhältnis als Achse für die
Vorphase des Berliner Gipfels beigetragen? Das war
doch keine europäische Dimension. Das war noch klei-
neres Karo. Das war die alte 68er Bewegung, die den
Kernenergieausstieg will. Daß man damit am Ende die-
ses Jahrhunderts in Europa ein gutes Klima schaffen
kann, bezweifle ich.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Ingrid Mätthäus-Maier [SPD]: Nichts gegen die 68er!)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


Herr Bundeskanzler, die Aufforderung an uns geht
bemerkenswert ins Leere. Ordnen Sie erst einmal Ihre
Truppen, vermitteln Sie denen europäisches Bewußtsein,
ehe Sie an die übrigen Fraktionen des Bundestages
Empfehlungen geben, sich europäisch zu verhalten. Wir
als F.D.P. haben da keinen Nachholbedarf. Es ist eher in
Ihrem Lager einiges nachzuholen.


(Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Sie haben in Ihrer Regierungserklärung daran erin-
nert, daß die damalige Regierung und die damalige Op-
position in diesem Hause der Übereinkunft von Edin-
burgh, die zur heutigen Nettozahlerposition geführt hat,
gemeinsam zugestimmt haben. Sie fügten hinzu: „Jetzt
ist es an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“
Richtig. Hätten Sie zur Nettozahlerposition von Anfang
an in diesem Stil geredet, dann könnte ich jetzt gelassen
sagen: Er hat eine schöne Formulierung gefunden, daß
wir keinen Lottogewinn gemacht haben. – Aber da Sie
von Scheckbuchdiplomatie und davon, daß unser Geld
verbraten wird und unsere nationalen Interessen nicht
gewahrt werden, geredet haben, muß ich Ihnen sagen:
Sie haben nicht nur keinen Lottogewinn gemacht, Sie
haben nicht einmal drei Richtige aus Berlin mitgebracht,
Herr Bundeskanzler.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Oh! Oh!)


Dieses Vokabular stört mich ausdrücklich. In der
Vorphase der deutschen Ratspräsidentschaft haben Sie
mit diesem Vokabular die anderen erst in ihre Positionen
gebracht.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!)

Das hat sie eher dazu veranlaßt, ihre Interessen wieder
stärker national zu behaupten, als in europäischer Di-
mension zu denken. Dadurch sind Sie natürlich in eine
Situation gekommen, in der Ihnen am Ende nichts ande-
res übrigblieb, als eine Addition von Interessen neu zu
verrechnen. Das ist der Vorgang des Berliner Gipfels,
den wir beklagen,


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

den wir uns so nicht gewünscht haben.

Unsere Kritik bezieht sich doch nicht darauf, daß Sie
sagen: Was konnte ich in der Situation anderes machen?
Unsere Kritik, Herr Bundeskanzler, bezieht sich darauf,
daß die Art Ihres Herangehens an das Thema nichts
weiter gebracht hat als dieses Ergebnis in Berlin. Das
Ergebnis sind traditionelle, alte westeuropäische Aus-
tauschsysteme in Finanzierungsfragen, Agrarkompro-
misse, Verlängerung der Milchquoten um zwei Jahre,
Absetzen von Struktur- und Kohäsionsfonds. Das Er-
gebnis ist keine Perspektive und das neue Kapitel für die
Osterweiterung der Europäischen Union.

Der Berliner Kompromiß ist zu schmal; er ist kein
großer Wurf, aus der westeuropäischen Union in die
Europäische Union nach Osten. Mit Ihrer Verhaltens-
weise – ich denke an die mangelnde Klugheit bei
der Wortwahl und dem Umgang mit europäischen Part-

nern – haben Sie – nicht nur Sie alleine, sondern manche
Mitglieder Ihres Kabinetts – vorher eine so schlechte
Aussaat gestreut, daß in Berlin nur diese schmale Ernte
übriggeblieben ist. Das ist der Vorgang, der uns zur Kri-
tik bringt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb ist das, was heute allgemein mitgeteilt wor-

den ist – Haushaltsdisziplin, Zusammenhalt und Beitritts-
chancen – für meine Fraktion nicht ausreichend, um Ih-
nen zu avisieren, ob wir das gut fänden oder dem zu-
stimmen könnten. Wir möchten das schon etwas genauer
wissen; wir möchten dem, was verhandelt worden ist,
auf den Grund gehen. Deshalb werden wir eine weitere
Debatte darüber im Deutschen Bundestag brauchen –


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist sehr richtig!)

vertiefter, inhaltlicher und konzeptioneller, als das heute
nach Ihren Mitteilungen möglich war. Deshalb meinen
wir, daß dieser kleine Schritt in Berlin – wenn auch in
einer durchaus bedrängten Situation – nicht ausreichend
ist. Gerade in kritischen Situationen liegen größere
Chancen, als Sie sie in Berlin verhandeln konnten. Sie
hätten sie verhandeln können, wenn Sie die Verhand-
lungen nicht durch die Aussagen der bundesdeutschen
Regierung vorher so gestört hätten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, ich will mich auch des-
halb nicht damit begnügen, weil Sie und der Bundesau-
ßenminister, der nach mir reden wird, als Kritiker des
früheren Bundeskanzlers Kohl immer diese ambitio-
nierte Europapolitik, diese Leidenschaft und diese Emo-
tionen, Europa weiterzubringen, gefordert haben. Jetzt
sind Sie in der Verantwortung und sehen auf einmal, wo
Sie an Grenzen kommen. Natürlich – der Bundesau-
ßenminister hat es dazwischengerufen – wissen wir, was
auch dann nur möglich gewesen wäre, wenn wir neben
Herrn Chirac gesessen hätten. Ich muß Ihnen aber vor-
werfen: Sie haben vorher den Boden zerstört, auf dem
ein besserer Berliner Kompromiß hätte herauskommen
können.


(Lebhafter Beifall bei der F.D.P. – Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104600
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war und
ist eine historische Woche für Europa. Wir haben es mit
einem sehr ungewöhnlichen Zusammentreffen dreier
Krisen, dreier großer Herausforderungen zu tun, die auf
dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs
in Berlin räumlich zusammengefügt wurden: Das war
die durch den Rücktritt der Kommission ausgelöste in-
stitutionelle Krise der Europäischen Kommission; das

Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


war die Agenda 2000; und das war der beginnende
Krieg im Kosovo.


(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ihr habt den Lafontaine vergessen!)


Es gibt dabei einen sehr engen inneren Zusammen-
hang, der sich auf den ersten Blick überhaupt nicht er-
schließt. Ich wurde oft von Journalisten gefragt, ob denn
der Einigungsdruck auf die Staats- und Regierungschefs
wegen der Krise im Kosovo jetzt größer sei. Ich habe
immer geantwortet: Nein, diesen direkten Zusammen-
hang gibt es nicht. – Was aber zu spüren war, war das
größere Maß an Verantwortung, das auf diesem Gipfel
auf den Schultern der Staats- und Regierungschefs ruhte,
eben weil es diesen Zusammenhang gab und weil klar
war, daß der Kosovo direkt und unmittelbar eine Krise
in Europa ist, durch Europa gelöst werden muß und daß
wir uns nicht wegdrehen können und dürfen. Vielmehr
muß uns bewußt sein, daß diese Krise, daß dieser Krieg
auf dem Balkan, der nicht erst in dieser Woche begon-
nen hat, sondern seit längerem tobt – mal ein heißer
Krieg, mal ein weniger heißer Krieg, aber immer gleich
brutal – ein Teil Europas ist und von den Europäern ge-
löst werden muß, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gleichzeitig haben alle gespürt, wie wichtig es ist, die-
ses Europa voranzubringen. Sicherlich sind Milchquote,
Interventionspreise und Anteile an den Strukturfonds
ebenfalls eminent wichtige Fragen. Aber Europa kann
dabei nicht stehenbleiben. Die Lösung dieser Fragen in
Verbindung mit der Wahrung der Unverletzlichkeit der
Menschenrechte, Demokratie und Freiheit des Individu-
ums, auf denen dieses Europa gründet, ist letztendlich
die gemeinsame Wertegrundlage. Das war in Berlin zu
spüren. Beide Bereiche haben die Staats- und Regie-
rungschefs zum Gegenstand ihrer Beratungen in Berlin
gemacht. Sie haben eine Erklärung unter Teilnahme der
neutralen Staaten verfaßt, in der sie klargestellt haben,
daß wir Europäer eine Politik der Gewalt, eine Politik
des Mordens und eine Politik des Vertreibens nicht ak-
zeptieren dürfen und nicht akzeptieren werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Das sind die Gründe dafür, daß wir einerseits der Ge-
waltpolitik von Herrn Milosevic Einhalt gebieten müs-
sen. Auf der anderen Seite müssen wir durch die Lösung
der EU-Finanzprobleme einen wichtigen Schritt in
Richtung Aufbau einer Europäischen Union als ein
handlungsfähiges politisches Subjekt tun. Dieser Zu-
sammenhang war in Berlin spürbar. Er bestand und be-
steht.

Ich habe gesagt, daß der Krieg im Kosovo ein Krieg
in Europa ist und uns deshalb unmittelbar angeht. Las-
sen Sie mich zu diesem Punkt gerade im Hinblick auf
die gestrige Debatte, deren Verlauf ich den Zeitungen
entnommen habe, noch einiges anfügen: Die Bundesre-
gierung hat gemeinsam mit unseren Partnern nun wirk-
lich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen –

und zu diesen Partnern rechne ich ausdrücklich auch
Rußland; ich habe ständig telefonischen Kontakt mit
dem russischen Außenminister Iwanow; Herr Kollege
Gysi, ich möchte Ihnen nicht mitteilen, was er mir über
seinen Eindruck nach seinem letzten Belgrad-Besuch
gesagt hat, weil das die Vertraulichkeit verletzen würde;
aber ich kann soviel sagen, daß seine Einschätzung der
Motive und der Politik in Belgrad nicht sehr weit von
meiner entfernt war. Dick Holbrooke, der Sonderbot-
schafter der USA, den Ihre Partei, Herr Gysi, allzu gerne
als Kriegstreiber hinstellt, hat Milosevic noch in der
letzten Sekunde das Angebot gemacht: Stoppe deine
Soldateska im Kosovo! Führe nicht eine abschließende
Beschlußfassung des serbischen Parlaments herbei.
Wenn du das befolgst, dann können wir weiterverhan-
deln. So sah das Angebot in der letzten Sekunde aus. Es
ist ausgeschlagen worden, wissend, was dann passiert.
Insofern trägt Milosevic an dem jetzigen Krieg die allei-
nige Schuld und eine schwere Verantwortung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Im Rahmen der EU, der OSZE und im UN-
Sicherheitsrat wurde alles versucht, um eine friedliche
Lösung zu finden. Es kann doch nicht wahr sein, daß ein
Krieg gegen die eigene Bevölkerung und die Unterdrük-
kung einer großen Minderheit im eigenen Land wieder
zum europäischen Standard des 21. Jahrhunderts gehö-
ren. Das ist nicht der einzige Punkt. Erinnern wir uns: Es
begann im Kosovo 1989, und zwar mit der Aufhebung
des Autonomiestatuts. Ich darf Sie auch an den Krieg
in Slowenien erinnern, der allerdings auf Grund der ent-
schiedenen Gegenwehr der Slowenen – Gott sei Dank –
sehr kurz war. Ich darf Sie an Dubrovnik und an Vukova
erinnern. Im Rückblick muß man sagen, spätestens nach
Vukova hätte die internationale Staatengemeinschaft
eingreifen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Schwarz-Schilling [CDU/CSU])


Ich darf Sie an die furchtbaren Grausamkeiten im Bos-
nien-Krieg erinnern. Ich darf Sie immer wieder an die-
selben Erfahrungen erinnern: Es wurde immer wieder
versucht, den Krieg zu verhindern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Späte Erkenntnis!)

Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensver-
trag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, daß
der Vertrag gebrochen wurde und daß die Politik der
Gewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mit
allem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, daß wir
hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges
betreiben. Wir können nicht zulassen, daß sich in Euro-
pa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, die
keine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen, und die bereit ist,
über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehn-
tausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das ist
keine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist als
Ergebnis der Politik von Milosevic zu sehen. Wenn das
geschieht, würde das nicht nur unsägliches Leid für die
Menschen in der betroffenen Region, sondern auch eine

Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


Gefährdung für Frieden und Sicherheit in dieser Region
mit fatalen Konsequenzen bedeuten. Deswegen muß
diesem jetzt Einhalt geboten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, dies ist nicht mit einer
Aggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalisti-
scher Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassisti-
scher Verblendung entstanden ist und für die das Deut-
sche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zweimal verantwortlich war. Wir sind in die internatio-
nale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien der
EU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratien
riskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten, um Menschen-
leben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedens-
vertrag durchzusetzen.

Es war für mich – ich sage das all denen, deren Skru-
pel ich gut verstehe – einer der deprimierendsten Tage,
als klar war, daß die Konfrontation nicht mehr aufzu-
halten ist, weil ein Frieden mit der langfristigen Konse-
quenz einer Gesamtordnung auf dem Balkan nicht zu
erreichen war. Was notwendig gewesen wäre, liegt auf
dem Tisch; wir können es mit Händen greifen: zunächst
das Autonomiestatut von Rambouillet und als nächstes
dann eine Friedenskonferenz für den südlichen Balkan
mit einem langfristigen Engagement von Europäischer
Union und dem Westen für eine Gesamtordnung. Der
einzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Ge-
waltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Ju-
goslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war das
Ziel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevic
müßte nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Und was folgt, wenn er ja sagt?)


Herr Milutinovic – –

(Zuruf des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])

– Warum soll ich nicht mit der PDS reden? Die PDS ar-
tikuliert eine Position, die in der deutschen Bevölkerung
weit verbreitet ist und die ich angesichts von Krieg und
Frieden als legitim empfinde. Das sind Fragen, die von
einer Regierung beantwortet werden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Entschuldigen Sie, auch das möchte ich einmal klarstel-
len: Jede Fraktion in diesem Hause ist nach meiner Auf-
fassung als Diskussionspartner zu akzeptieren. Wenn
sich die Bundesregierung hier mit einer Position ausein-
andersetzt, die von der PDS und einigen anderen vertre-
ten wird, dann ist das nicht abzuqualifizieren. Ich finde
Ihren Zwischenruf, Herr Kollege Haussmann, mit Ver-
laub gesagt, unmöglich und eines demokratischen Par-
laments nicht würdig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich möchte hier die Argumente wägen, die uns entge-
gengehalten werden. Ich möchte es mir nicht so einfach

machen; denn es sind teilweise Argumente, mit denen
ich mich selbst auseinandergesetzt habe. Ich nehme an,
daß auch viele von Ihnen diese Argumente abgewogen
haben, weil die Risiken ja in der Tat auf der Hand lie-
gen.

Meine Damen und Herren, für mich ist ganz ent-
scheidend, daß die Verantwortung bei Milosevic liegt.
Es hätte nur eines Wortes bedurft und es bedarf auch
heute nur eines Wortes, um die Konfrontation zu been-
den, nämlich des Wortes: Wir wollen substantiell ver-
handeln und unterschreiben. In dem Moment wäre die
Konfrontation beendet, und wir könnten dann über den
Frieden und die Implementierung des Friedens reden.
Dies ist – ich kann dem Bundeskanzler nur zustimmen –
der einzige Weg.

Wir haben uns unmittelbar für die Flüchtlinge und
die Flüchtlingshilfe verwandt. Die Stützung von Maze-
donien, von Albanien und von Montenegro ist uns ein
ganz entscheidender Punkt. Darüber hinaus stehen wir in
enger Kooperation mit den Partnern – das gilt nicht nur
für den Gipfel von Berlin, sondern auch für die USA
und Rußland –, um eine weitere Friedensinitiative zu
ermöglichen. Aber dies alles wird nur bei einer klaren
Absage von Milosevic an eine Politik der Gewalt gehen.
Wenn er diesen Schritt nicht tut, dann kann die Kon-
frontation nicht enden. Die Voraussetzung für Frieden
ist der Verzicht auf Gewalt. Wir können nicht Frie-
densgespräche führen, wenn im Kosovo das Morden
durch die jugoslawische Armee und die serbische Son-
derpolizei weitergeht; das ist kein Frieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.])


Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch
einmal an die Verantwortlichen in Belgrad appellieren,
endlich umzukehren und den Weg zum Frieden zu er-
möglichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige
wenige Minuten auf den Berliner Gipfel eingehen. Ich
hätte ja Lust, in die hier übliche Polemik einzusteigen.
Herr Gerhardt, Sie haben dem Bundeskanzler vorgehal-
ten, hätte er sich anders verhalten, sozusagen F.D.P.-
kompatibler,


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


dann hätten Jacques Chirac und José María Aznar heute
nacht eine andere Position vertreten. Herr Gerhardt, ich
schätze Sie zu sehr, als daß ich Ihnen unterstellte, Sie
würden diesen Unfug im Ernst glauben.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Herr Außenminister, das ist aber eine einfache Interpretation meiner Worte!)


Sie mögen ja durchaus das eine oder andere an uns kriti-
sieren.

Bundesminister Joseph Fischer






(B)



(A) (C)



(D)


Weil ich dabei war – was ich vorher dachte, war
Theorie –, ist mir heute nacht zum erstenmal wirklich
klargeworden – ich sage das als überzeugter Europäer;
vielleicht kann es Dr. Kohl aus seinen vielen Erfahrun-
gen bestätigen –, daß dieses Europa mit Horrido ausein-
anderfliegt, wenn unser Land die europäische Füh-
rungsaufgabe nicht wahrnimmt.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der F.D.P. – Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Das habe ich euch 16 Jahre lang gesagt!)


Wenn das wahr ist, dann müssen Herr Schäuble und
Herr Gerhardt ihre Reden sofort wieder einpacken. Das
sage ich Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich hätte die beiden bei so einer Gelegenheit gern einmal
dabei. Warum soll man bei einem europäischen Gipfel
nicht einmal überparteilich zusammensitzen? Das wäre
wirklich hervorragend.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Im Gegensatz zu Ihnen habe ich mir das so vorgestellt!)


Die Alternative zu der Entscheidung von heute nacht
war, daß wir ausschließlich unseren nationalen Stand-
punkt vertreten. Manchmal war man angesichts dessen,
was einem an nationalen Standpunkten entgegenge-
bracht wurde, wirklich versucht, zu sagen: Jetzt reicht's.
Alles andere, als eine Entscheidung für Europa zu tref-
fen, wäre aber kurzsichtig gewesen.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Es ist hier anders geredet worden!)


Die Bedeutung der Entscheidung von heute nacht be-
steht darin, daß sie für Europa ausgefallen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben Europa in einer historisch einmalig
schwierigen Situation zusammengehalten. Dennoch ha-
ben wir gleichzeitig die wesentlichen Ziele der realen
Konstanz – ich kann sie in der Kürze der Zeit nicht ein-
zeln aufführen – erreicht.


(Zuruf)

– Ich stimme Ihnen hinsichtlich der Kofinanzierung
doch zu. Aber mit Frankreich war die Kofinanzierung
jetzt nicht durchsetzbar. Wenn das hätte geschehen sol-
len, hätten Sie mit entsprechenden Verhandlungen frü-
her beginnen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Herr Dr. Kohl, sagen Sie es Ihren Buben doch einmal.
Sie wissen es doch besser.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich teile manches von Ihrer Kritik an der Agrarpoli-
tik. Nur, was geschehen ist, war eine Entscheidung für
Europa. Das ist der Punkt. Im entscheidenden Augen-
blick stellte sich die Frage, ob der Bundeskanzler natio-
nales Interesse – im kurzfristigen und damit im falsch
verstandenen Sinne – vertritt oder ob unser nationales
Interesse im Sinne der europäischen Einigung an erster
Stelle steht. Um diese Frage drehte sich die Entschei-
dung, und diese Entscheidung haben wir in die richtige
Bahn gelenkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, werden wir
die Debatte dazu mit ausreichend Zeit, wie es der Kolle-
ge Gerhardt angeboten hat, schön quantifiziert führen.


(Klaus Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Schwach! Sehr schwach!)


– Ich wünsche mir gerne weiterhin so schwache Reden
und so starke Ergebnisse, wie wir sie heute im Bundes-
tag erleben.


(Heiterkeit und anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403104800
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403104900
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gestatten Sie mir, mit dem EU-
Gipfel zu beginnen. Ich finde eine solche Debatte ein-
fach deshalb schwierig, weil die meisten im Hause das
Ergebnis noch nicht kennen. Wir hatten überhaupt keine
Möglichkeit, die Vereinbarungen zu studieren. Wir
sind also allein auf die Informationen des Bundeskanz-
lers und des Bundesaußenministers angewiesen, und wir
sollen darüber diskutieren. Nur, diese Informationen
sind so allgemein, daß eine Beurteilung wirklich ausge-
sprochen schwerfällt.

Andererseits möchte ich der rechten Opposition in
diesem Hause sagen: Man kann an das Ergebnis eines
solchen Gipfels auch nicht die gleichen Maßstäbe anle-
gen wie an einen Kabinettsbeschluß; denn es muß eine
Übereinstimmung mit sehr vielen Ländern in Europa
herbeigeführt werden. Exkanzler Kohl und viele andere
wissen, wie schwierig das ist. Das muß schon der Aus-
gangspunkt für die Beurteilung sein.


(Beifall bei der PDS)

Auf jeden Fall kann man jetzt schon zwei Dinge be-

grüßen, nämlich erstens, daß es der Europäischen Union
gelungen ist, sich sehr schnell auf einen neuen Kommis-
sionspräsidenten zu verständigen, und zweitens, daß
dies Herr Prodi sein soll. Daß das so zügig ging, ist auf
jeden Fall zu begrüßen. Das wird auch von meiner
Fraktion ausdrücklich begrüßt.


(Beifall bei der PDS)


Bundesminister Joseph Fischer






(A) (C)



(B) (D)


Natürlich begrüßen wir auch die Vereinbarung mit
Südafrika als einen ganz wichtigen Schritt zur Koope-
ration mit diesem in jeder Hinsicht geschundenen Land.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Es wäre übrigens gut gewesen, wenn die Solidarität mit
Mandela in diesem Hause nicht erst begonnen hätte, als
er Präsident dieses Landes geworden ist. Dies sage ich
in Richtung des gesamten Hauses.


(Beifall bei der PDS)

Ich stelle fest, daß es dann mit der Beurteilung aller-

dings sehr schwierig und auch kritisch wird. Die Bun-
desregierung hat vorher – das können Sie nicht leugnen,
Herr Bundesaußenminister – wirklich groß getönt, was
die Nettoentlastung der Bundesrepublik Deutschland
betrifft. Daß die Töne von Herrn Stoiber da noch lauter
wurden, ist zwar richtig. Aber animiert worden ist er ur-
sprünglich durch den Bundeskanzler, der damit begon-
nen hat. Das Ganze konnte so nicht funktionieren.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Es war aber Bundeskanzler Kohl in Cardiff, der das gemacht hat!)


Nun habe ich mir die Rede des Bundeskanzlers
durchgelesen, um zu sehen, was er dazu gesagt hat. Da
habe ich wirklich einen schönen Satz gefunden. Da steht
nämlich folgendes:

Wir haben uns in Berlin geeinigt, daß die Kurve der
deutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestoppt
und umgedreht wird.

Das ist so nebulös, Herr Bundesaußenminister, daß
damit nun überhaupt kein Mensch etwas anfangen kann.
Was heißt „in der Tendenz“? Wann wird das sein? In
welche Richtung wird das gehen, und in welchen Stufen
wird das geschehen? Das ist als Information ein bißchen
dünn. Ich denke einmal, wenn die Ergebnisse erfolgrei-
cher gewesen wären, hätte der Bundeskanzler bei die-
sem Punkt etwas länger verharrt; dann wäre er darauf
ausführlicher eingegangen, als er es getan hat.


(Beifall bei der PDS)

Dann gibt es noch einen schönen Satz, und zwar zur

Frage der Beitragsgerechtigkeit, was Großbritannien
betrifft. Da heißt es:

Bei dem Beitragsrabatt für Großbritannien sowie
beim Schlüssel für die Finanzierung dieses Rabatts
haben wir Modifikationen vereinbart, die zu einer
größeren Beitragsgerechtigkeit führen.

Allgemeiner und verschwommener kann man es nicht
ausdrücken. Kein Mensch weiß, was da nun wirklich
vereinbart worden ist, wie das Ergebnis aussieht.

Ich meine auch, daß die Ergebnisse für die Land-
wirtschaft bedrückend sind. Nun kann es ja sein – das
muß ich durchaus einräumen –, daß in Berlin kein ande-
rer Kompromiß zu erreichen war; das ist möglich. Aber
dann ist das, was Sie im Zusammenhang mit der soge-
nannten ökologischen Steuerreform und durch andere
Gesetze an zusätzlichen Belastungen für die Landwirt-
schaft beschlossen haben, einfach unvertretbar.


(Beifall bei der PDS)


Wenn man auf europäischer Ebene keinen Ausgleich
erreicht, dann hätte man ihn innerstaatlich erstreiten
müssen. Aber die Landwirtschaft jetzt von allen Seiten
kaputtzumachen, ist einfach indiskutabel. Das gilt für
die Landwirtschaft in Ost und West. Wir werden die
Folgen zu spüren bekommen.

Ansonsten muß man, auch wenn man die Ergebnisse
noch nicht kennt, würdigend sagen: Es gab auch in die-
sem Hause und in der Presse, und zwar in der gesamten
europäischen Presse, sehr viele, die es überhaupt nicht
mehr für möglich gehalten haben, daß dort ein Kom-
promiß gefunden wird. Es wurde von einer lang anhal-
tenden Strukturkrise gesprochen. Daß heute nacht ein
Ergebnis zustande gekommen ist, ist zunächst einmal
ein Ergebnis für sich, das man auch positiv bewerten
sollte.


(Beifall bei der PDS)

Ich komme jetzt zu dem wesentlich schwereren Kon-

flikt, der uns hier bewegt, über den wir gestern schon
debattiert haben und zu dem der Bundesaußenminister
eben noch einmal sehr eindringlich gesprochen hat. Das
ist die Frage des europäischen Krieges gegen Jugosla-
wien und des Kosovo-Konflikts.

Es hat mich schon bestürzt, Herr Bundesaußenmi-
nister, daß Sie zur rechtlichen Grundlage dieses Krie-
ges kein einziges Wort verloren haben, genausowenig
wie der Bundeskanzler und genausowenig wie der Frak-
tionsvorsitzende der F.D.P., Gerhardt. Der einzige, der
etwas dazu gesagt hat, war der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU, Herr Schäuble.

Er hat gesagt, daß der Beschluß vom 16. Oktober
1998 auf sicherer verfassungsrechtlicher und völker-
rechtlicher Grundlage gefaßt worden sei; dies hätte jetzt
auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Karlsruhe hat Ihnen doch die Anwort gegeben!)


Das ist völlig falsch. Erstens hat das Bundesverfas-
sungsgericht das überhaupt nicht bestätigt, weil es sich
nur mit der Zulässigkeit eines Antrages auseinanderge-
setzt hat. Es hat diese Frage sogar ausdrücklich offen-
gelassen und festgestellt, daß es damit kein Urteil über
die Verfassungsmäßigkeit trifft. Zweitens ist es ganz
eindeutig: In der Wissenschaft, im Großteil der Medien,
von der UNO – nicht nur von Rußland –, vom General-
sekretär der Vereinten Nationen, wird klar darauf hin-
gewiesen, dieser europäische Krieg ist ein Völker-
rechtsbruch.


(Beifall bei der PDS)

Nun haben Sie, Herr Gerhardt, dazu gesagt: Rechts-

brechern muß man entgegentreten. Das ist wahr. Aber
muß man ihnen mit Rechtsbruch entgegentreten? Ich sa-
ge nein. Das ist immer der falsche Weg.


(Beifall bei der PDS)

Wissen Sie, Völkerrecht dann einzuhalten, wenn es mit
den eigenen Zielen, mit dem, was man ohnehin tun will,
übereinstimmt, das ist ja leicht. Das ist wie beim inner-
staatlichen Recht. Aber es dann einzuhalten, wenn es
einem politisch nicht paßt, das ist die eigentliche

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


Schwierigkeit. Für genau solche Fälle schafft man
Recht. Wenn man es verletzt, dann ist man nicht viel
besser als andere Rechtsverletzer. Dieser Tatsache müs-
sen wir einfach ins Auge sehen.


(Beifall bei der PDS)

Sie – sowohl der Bundeskanzler als auch Herr

Schäuble – haben gesagt, die Bomben richten sich nicht
gegen das serbische Volk, sondern gegen Milosevic.
Meine Damen und Herren, das ist doch nichts weiter als
eine abstrakte Phrase, die mit Realitäten nichts zu tun
hat. Bomben richten sich niemals gegen einen einzelnen
Diktator, sondern immer gegen das Volk.


(Beifall bei der PDS)

Es sind immer die Zivilisten und die wehrpflichtigen
Soldaten, die dabei sterben, nicht der Diktator. Das war
im Irak so. Erklären Sie mir doch einmal: Ist denn Sad-
dam Hussein durch die Bombenangriffe heute in irgend-
einer Form geschwächt? Ich behaupte, auch hinter Milo-
sevic standen noch nie so viele Jugoslawen wie heute.
Das ist auch das Ergebnis der Bombenangriffe.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Wir liegen doch in der Beurteilung dieses Mannes gar

nicht so weit auseinander, Herr Bundesaußenminister
Fischer, und auch nicht in der Beurteilung des Kosovo,
obwohl man dazu noch einiges sagen muß. Ich sage nur:
Ihre Antwort darauf, die Antwort Krieg, das ist genau
die falsche. Sie bringt uns keinen Schritt weiter und setzt
uns völkerrechtlich und nach dem eigenen Grundgesetz
ins Unrecht.


(Beifall bei der PDS)

Krieg darf nicht wieder zum Mittel der Politik wer-

den. Mir wird immer gesagt: Ja, würden Sie denn taten-
los zusehen? Sie, Herr Gerhardt, haben gesagt: Pazifis-
mus ist etwas Ehrenwertes, führt hier aber nicht weiter.
Es gibt in meiner Partei viele Pazifisten. Ich würde mich
gar nicht so bezeichnen, weil ich zum Beispiel das Recht
auf Notwehr innerstaatlich durchaus akzeptiere. Ich gehe
auch so weit zu sagen: Man muß sich auch militärisch
gegen eine Aggression wehren dürfen.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, es gibt auch das Recht auf Nothilfe!)


Das Problem ist nur, Herr Gerhardt, Jugoslawien hat
keinen der Staaten angegriffen, die jetzt Jugoslawien
bombardieren. Deshalb ist es eben kein Verteidigungs-,
sondern ein Angriffskrieg. Und der ist völkerrechtlich
verboten. Das ist eine Tatsache. Im Völkerrecht gibt es
nichts dazwischen.


(Beifall bei der PDS – Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nothilfe!)


Sie können doch eines nicht leugnen, Frau Matthäus-
Maier: Die Ordnung, die nach 1945 in der UN-Charta
festgelegt worden ist, ist beseitigt. Wenn Sie mir das
schon nicht glauben, vielleicht glauben Sie es dann Pro-
fessor Bradeddo von der Bundeswehrakademie Ham-
burg, also jemandem, der sich nun wirklich mit Bun-
deswehr beschäftigt und mit Sicherheit, wenn er dort

Professor ist, eine positive Beziehung dazu hat. Dieser
Mann hat heute im Frühstücksfernsehen gesagt: Es ist
ein klarer Verfassungs- und Völkerrechtsbruch; 40 Jahre
UN-Politik sind damit zerstört.


(Beifall bei der PDS)

Wenn Sie das Vetorecht Rußlands und Chinas aushe-

beln, dann hat auch das von Frankreich und Großbritan-
nien in anderen Situationen keinen Wert mehr. Sie ge-
ben doch die UN-Charta nicht nur für die NATO frei,
die Sie davon abkoppeln, sondern praktisch für alle
Kontinente. Das ist das Problem. Es geht doch nicht nur
um kurzfristige Folgen, sondern auch um Spätfolgen, die
man mitzubedenken hat.


(Dr. Christa Luft [PDS]: Selektive Wahrnehmung!)


Ich sage noch etwas anderes. Natürlich weiß ich, daß
die Situation schwer ist. Aber wie hat denn alles ange-
fangen? Alles hat nach Dayton damit angefangen, daß
Jugoslawien die Rechte der albanischen Minderheit in
Jugoslawien bzw. der albanischen Mehrheit im Kosovo
verletzt hat. Das ist wahr. Aber es gab damals keine
Massaker, es gab eine Verletzung der Rechte. Das ken-
nen wir von der Welt. Dann passiert irgendwann folgen-
des: Diese Bevölkerung fängt an, sich zu bewaffnen, um
für Unabhängigkeit und Loslösung von dem Staat ein-
zutreten. Jeder Zentralstaat setzt dagegen Militär ein.
Das war und ist im Baskenland so, das war und ist so in
Nordirland, das ist vor allem im kurdischen Gebiet der
Türkei so. Das war in Tschetschenien so und im Kauka-
sus. Erinnern Sie sich noch, als die russische Armee ge-
gen Tschetschenien lief und wir alle – nicht wir alle,
leider – protestiert und gesagt haben: Das ist kein Lö-
sungsmittel? Herr Kohl, Sie haben sich damals als Bun-
deskanzler hingestellt und gesagt: Man muß auch das
Recht Rußlands auf territoriale Integrität respektieren.
Deshalb hätten Sie Verständnis für diesen Einsatzbefehl.
Ich hatte dieses Verständnis überhaupt nicht. Ich hatte es
auch nicht bei Jugoslawien, weil ich nicht glaube, daß
man solche Probleme – und seien sie auch innerstaatlich
– mit militärischen oder polizeilichen Mitteln lösen
kann.


(Beifall bei der PDS)

Insofern gibt es eine Glaubwürdigkeitslücke: Sie be-

urteilen das je nach Situation anders. Die Türkei ist
Mitglied der NATO und macht jetzt bei der Abwendung
einer humanitären Katastrophe mit, während sie seit
Jahrzehnten eine schlimme humanitäre Katastrophe im
eigenen Land organisiert. In der letzten Woche hat eine
Regierung aus SPD und Grünen neuen Waffenlieferun-
gen an die Türkei zugestimmt, anstatt diese wenigstens,
wie sie es vorher immer hier im Bundestag gefordert ha-
ben, zu stoppen.


(Beifall bei der PDS)

Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit. Das kommt gar
nicht in Frage; das ist ganz klar.

Was ist denn passiert? Nachdem sich die Zustände
verschlimmert hatten, hat man im Oktober ein Abkom-
men getroffen. Tatsächlich haben sich – das kann man ja

Dr. Gregor Gysi






(A) (C)



(B) (D)


nicht leugnen – die jugoslawischen Streitkräfte und die
Polizei zurückgezogen. Es wurde sozusagen etwas er-
träglicher. Dann wurden OSZE-Beobachter hinge-
schickt. 2 000 waren vereinbart. Die Höchstzahl derjeni-
gen, die da waren, betrug 1 200. Warum haben wir nicht
wirklich die 2 000 entsandt? Anschließend begannen die
Verhandlungen in Rambouillet. Immerhin hatte Jugo-
slawien der Autonomie schon im Prinzip zugestimmt. Es
ist doch nicht so, daß in Rambouillet gar nichts heraus-
gekommen wäre. Im übrigen gab es ja zwei Vertrags-
entwürfe, Herr Bundesaußenminister. Auf dieser
Grundlage hätte man zwingend weiter verhandeln müs-
sen. Denn ganz schlimm wurde es im Kosovo wieder,
nachdem die OSZE-Beobachter im Zuge der Vorberei-
tungen der Bombardierungen abgezogen wurden, weil
die jugoslawische Armee und Polizei dann nachstieß.

Was Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenmi-
nister, mir nicht beantwortet haben: Worin soll denn die
Lösung Ihrer Alternative bestehen? Es gibt keine andere
als die von Verhandlungen. Sie sagen, Milosevic müsse
nur zustimmen. Sie haben Ihn als schlimmen Diktator,
als irrational bezeichnet.


(Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Ist er das denn nicht?)


Sie sagen, er nehme den Krieg in Kauf und handele ge-
gen die Interessen seines eigenen Volkes. Können Sie
mir dann erklären, warum er nach vier, fünf Bombenan-
griffen plötzlich rational werden, plötzlich sein Volk
lieben und plötzlich den Krieg als ein Mittel ausschlie-
ßen soll? Er wird nicht unterschreiben.

Und was machen wir dann? Diese Frage ist nicht be-
antwortet. Was ist das politische Ziel, wenn er nicht un-
terschreibt? Denn wenn er allein einem Waffenstillstand
zustimmen würde, genügte das nicht; Sie verlangen ja
zudem die Unterschrift. Sie haben der deutschen Bevöl-
kerung bislang keine Antwort auf die Frage gegeben,
was Sie dann machen. Sollen dann Bodentruppen ein-
marschieren? Wo ist das politische Lösungskonzept?
Das ist hier nicht offenbar geworden. Das sind Fragen,
die ganz viele Menschen bewegen – ich finde, zu Recht.
Sie haben eine Antwort darauf verdient.


(Beifall bei der PDS)

Man kann doch nicht einfach sagen: Wir bomben bis

zur Unterschrift. Wie lange soll das gehen, wenn sie
nicht kommt?


(Gernot Erler [SPD]: Er hat es nicht verstanden!)


– Ich glaube schon, daß ich es verstanden habe.

(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie geben auf die andere Frage keine Antwort: Was geschieht, wenn nichts gemacht wird?)


– Stellen Sie eine Zwischenfrage! Ich kann das akustisch
nicht verstehen. Ich bin sehr gerne bereit, darauf zu ant-
worten.

Wir müssen die Bombardierungen beenden. Wir
müssen zurück zu Verhandlungen. Wir müssen Ruß-

land wieder in das Boot nehmen. Rußland war bereit,
den Druck zu verschärfen. Vor allem müssen wir den
UN-Sicherheitsrat wieder einschalten. Ansonsten hat das
katastrophale Folgen. Das Tischtuch zu Rußland ist
doch schon nahezu zerschnitten.

Jetzt noch zu etwas, was mich in den letzten Tagen
sehr beschäftigt hat: Die Argumente sind fatal. Es wird
immer von der militärischen Überlegenheit der NATO
gegenüber Jugoslawien gesprochen, die natürlich zwei-
fellos gegeben ist. Das Argument in bezug auf Rußland
ist dann: Die können gar nichts machen, die brauchen
neue Kredite, und zwar spätestens im Mai, wenn die
neue Charge des IWF ansteht. Wo sind wir moralisch
hingekommen, wenn das die entscheidenden politischen
Argumente werden: Wir sind a) militärisch überlegen
und b) finanziell stärker; deshalb können wir eh ent-
scheiden, was die anderen machen?


(Beifall bei der PDS)

Wer sagt Ihnen denn, wer in einem halben Jahr in Ruß-
land die Macht hat? Wer garantiert, daß dann, wenn das
Argument mit dem Geld noch zehnmal gebraucht wird,
dort nicht ganz irrationale Entscheidungen getroffen
werden? Politik ist nicht nur rational; sie ist auch irratio-
nal. Das macht mir große Sorgen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403105000
Herr Kollege
Gysi, Sie haben schon die ganze Ihrer Fraktion zuste-
henden Redezeit ausgeschöpft.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403105100
Frau Präsidentin, ich kom-
me zum letzten Satz. – Über die historische Dimension
ist übrigens so gut wie gar nicht gesprochen worden; le-
diglich der Bundesaußenminister hat am Rande darauf
hingewiesen.

Es bleibt eine traurige Tatsache: Europa und die Welt
werden hinterher anders aussehen. Das gilt ebenso für
die SPD, aber auch für die Grünen, die ihren Pazifismus
aufgegeben haben.

Ich finde es traurig –


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403105200
Herr Kollege
Gysi!


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403105300
–, daß dieser Krieg in Euro-
pa in Deutschland durch einen Kanzler der Sozialdemo-
kratie angeordnet wurde. Das hätte nie passieren dürfen.
Das wird Folgen haben – kurzfristige, mittelfristige und
auch langfristige Folgen.


(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403105400
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1403105500
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, nur ein

Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)


Wort zu Ihnen: Wenn Sie von Notwehr sprechen und da-
für sind, dann ist auch Nothilfe erforderlich.

Zu dem, was jetzt passiert ist, möchte ich das wieder-
holen, was andere bereits gesagt haben: Wir tun gut dar-
an, an unsere Soldaten und ihre Angehörigen zu denken.
Wir tun aber auch sehr gut daran – ich würde mir wün-
schen, daß das stärker geschieht –, ebenfalls der Opfer
dieser Politik von Milosevic zu gedenken. Die künftigen
Planungen der EU sollten eine Hilfe für diese Opfer und
diese Region vorsehen. Denn nur so kann dort eine auf
die Zukunft gerichtete Entwicklung einsetzen. Aber der
Kampf muß jetzt wohl ausgefochten werden.


(Beifall bei der SPD)

Ich habe deshalb großen Respekt vor dem, was auf

dem Gipfel in dieser Situation erreicht worden ist. Es
war schon vorher schwierig genug, auf einen Kom-
promiß hinzusteuern. In dieser Situation war der Gip-
fel, glaube ich, ein großer Erfolg. Es sind auch die
Grundlagen der EU deutlicher geworden; sie gehen im
Gerangel um Milchquoten und Milchkühe manchmal
unter.

Lassen Sie mich zu diesem Gerangel etwas sagen: Ich
sehe in diesem Streit um kleinliche Interessen in Wirk-
lichkeit einen Teil der vollzogenen Integration. Denn in
der EU sind mittlerweile überall Interessen betroffen,
über die verhandelt werden muß. Aber sicherlich erin-
nerte man sich auch daran, was die EU für uns darstellt:
In Europa – jedenfalls in Westeuropa, wir hoffen, bald
auch in Mittel- und Osteuropa – ist sie ein Garant für
Frieden, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Ich glaube,
der erzielte Kompromiß ist auf dieser Grundlage ein
großer Schritt in diese Richtung.


( V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss )

Deswegen gilt es als erstes, jetzt die Funktionsfähig-

keit der EU-Institutionen zu sichern. Darum begrüße ich
für die SPD-Fraktion ausdrücklich, daß sich die Staats-
und Regierungschefs auf Romano Prodi als Präsidenten
der EU-Kommission geeinigt haben. Ich begrüße eben-
falls, daß bereits im April mit ihm über die weiteren an-
stehenden Reformen geredet werden soll.


(Beifall bei der SPD)

Die Entwicklungen auf dem Balkan zeigen uns über-

deutlich, welche Bedeutung der Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union für Frieden und Sicherheit in Euro-
pa zukommt. Im Amsterdamer Vertrag, Herr Kohl, ist ja
einiges erreicht worden; das ist begrüßenswert. Nun ist
es erforderlich, daß der besondere Beauftragte – Mister
GASP, oder wie immer man ihn benennt – eingesetzt
wird, damit wir zu einer Strategie kommen. Es gilt jetzt,
diese außenpolitischen Strategien zu entwickeln und an-
zuwenden, und zwar mit Blick auf mehr gemeinsame
europäische Politik, auch wenn sie weitgehend noch in-
tergouvernemental bleibt. Ich sehe das als eine Aufgabe
auch auf der Basis dieses Gipfels. Ohne eine Einigung
bei der Agenda 2000 würde das im luftleeren Raum ste-
hen.

Ich möchte noch darauf hinweisen, daß es in der EU
lange eine schwierige Periode gegeben hat. Ich glaube,

daß mit dieser Agenda 2000 der Reformstau aufgehoben
ist und daß wir wieder handlungsfähig geworden sind,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und zwar in der Kombination von Agenda 2000, Reform
der Kommission und der Verwaltung und der neuen
Stellung des Präsidenten sowie durch die Bewältigung
neuer Aufgaben, die uns zwar schon der Amsterdamer
Vertrag aufgegeben hat, mit deren Bewältigung wir aber
noch nicht sehr weit gekommen waren, weil über die
Agenda 2000 noch nicht entschieden war.

Ich glaube, daß dieser Gipfel ein großer Erfolg für die
Bundesregierung war, insbesondere auch für den Bun-
deskanzler.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich darf daran erinnern, daß bei der letzten Europade-
batte in der vergangenen Woche die CDU/CSU der
Bundesregierung Substanzlosigkeit in der Europapolitik
vorgeworfen hat. Herr Ministerpräsident Stoiber hat an-
gesichts des Rücktritts der Kommission sogar die Ver-
schiebung des Berliner Gipfels gefordert; dies wurde
mehrfach gesagt. Herr Schäuble wollte das in der letzten
Debatte zwar nicht wahrhaben; aber dummerweise für
ihn kam die Meldung während der Debatte hier herein.

Es wäre verantwortungslos gewesen, so zu handeln.
Durch ein Verschieben des Gipfels wäre die Europäi-
sche Union sehenden Auges zu einer Zeit in eine ganz
ernste Krise geraten, in der Europa insgesamt sich in
einer Konfliktsituation befindet. Ich sage das gerade mit
Blick auf den Kosovo, aber nicht ausschließlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für uns stand daher immer fest: Es gibt keine Ver-
schiebung der Agenda. Das gehörte nie zu unserer Stra-
tegie. Unsere Standfestigkeit hat sich ausgezahlt. Die
Agenda 2000 ist jetzt verabschiedet. Damit haben wir
Europa an drei strategischen Punkten in eine gute Aus-
gangslage gebracht: Die notwendigen internen Refor-
men sind auf den Weg gebracht; sie werden zum Abbau
von Bürokratie, zu mehr Transparenz in den Sachpoliti-
ken, zum Beispiel im Agrarbereich, zu mehr Spielraum
für die Mitgliedstaaten und Regionen, zum Beispiel bei
der Prämiengestaltung, führen. Die Reformen sind des-
halb auch ein Schritt zu mehr Subsidiarität in der Euro-
päischen Union. Nur, Subsidiarität kann nicht heißen,
alles wieder zu renationalisieren, so daß es dann keine
Gemeinsamkeiten mehr gibt. Dieser Begriff meint etwas
anderes.

Die zentralen Reformschritte im Hinblick auf die EU-
Finanzen sind: Die Ausgaben werden wesentlich lang-
samer steigen, als es die Kommission in ihren eigenen
Vorschlägen vorgesehen hatte; es wird mehr Beitragsge-
rechtigkeit geben. Beispielhaft möchte ich auf den Ra-
batt für Großbritannien eingehen. Es stimmt, daß er er-
halten geblieben ist; das war auch nicht anders zu er-
warten. Aber seine Berechnungsart und die Art und
Weise, wie – und von wem – er finanziert wird, hat sich
deutlich geändert; dieses wird sich günstig auf die Bei-

Dr. Norbert Wieczorek






(A) (C)



(B) (D)


tragszahlungen der Bundesrepublik Deutschland aus-
wirken, um es einmal deutlich zu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


– Das ist so, ich könnte Ihnen die Zahlen jetzt nennen,
möchte es aber mit Rücksicht auf Herrn Blair und die
Diskussionen in seinem Land nicht machen. Sie können
jedenfalls die vorläufigen Zahlen nachher gern von mir
bekommen.


(Walter Hirche [F.D.P.]: Wir werden sie noch diskutieren!)


– Das werden wir mit Freude tun. Sie werden sich dann
für die Fehlinformationen, die Sie gegeben haben, mit
„mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ entschuldi-
gen. Ich hoffe zumindest, daß Sie diese Größe haben,
Herr Hirche.

Ich möchte auch darauf hinweisen, daß es gelungen
ist, die reale Konstanz einzuhalten und insgesamt einen
Oberdeckel von 1,27 Prozent vom BIP für den Haushalt
festzuschreiben. Das schließt die Mittel für die Erweite-
rung ein, die separiert bleiben. Herr Kollege Hauss-
mann, Sie haben jetzt den Sitz von Herrn Gerhardt ein-
genommen. Ist Ihnen völlig entgangen, was Herr Aznar
für die spanische Regierung gefordert hat? Er forderte
deutlich mehr als 1,27 Prozent und Deutschland möge
noch mehr Beitrag zahlen. Haben Sie das nicht wahrge-
nommen? Oder wollen Sie es nicht wahrnehmen, weil
Sie nur noch an den Europa-Wahlkampf denken und
deshalb Scheuklappen tragen?


(Beifall bei der SPD)

Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mit der

Agrarreform, die ich mir etwas weitgehender ge-
wünscht hätte – ich sage das auch hier –, die deutsche
Landwirtschaft in Europa insgesamt wieder wettbe-
werbsfähiger, umweltverträglicher und marktorientierter
wird. Die Strukturfondsförderung wird künftig viel stär-
ker als bisher auf die strukturschwächsten und damit
förderbedürftigsten Regionen konzentriert. Das ist bei
uns zum Beispiel Ostdeutschland, das als Ziel-1-
Fördergebiet eingestuft ist. Die Mittel werden also viel
effizienter eingesetzt. Zudem wird die Förderung verein-
facht und Bürokratie abgebaut. Das ist ja ein alter
Wunsch, Herr Stoiber, der gerade vom Bundesrat immer
geäußert wurde. In den Details wurden also Verbesse-
rungen erzielt. Das ist zu begrüßen.

Die Europäische Union ist auf dem Weg zur Erweite-
rungsfähigkeit einen großen Schritt vorangekommen.
Sie hat damit den Beitrittskandidaten in Mittel- und Ost-
europa unmißverständlich signalisiert: Ihr könnt euch
auf uns verlassen. Die deutsche Bundesregierung weiß
auch um die Verantwortung für den Beitrittsprozeß.
Verantwortung tragen – das sage ich an die Adresse
derjenigen, die immer möglichst frühe Daten nennen
wollen – heißt auch, keine leichtfertigen Versprechun-
gen abzugeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben jedenfalls zu keinem Zeitpunkt unrealistische
Versprechungen gegenüber unseren Partnern im Osten
gemacht. Wir haben vielmehr versprochen, alles zu tun,
um die materiellen Voraussetzungen für die Erweite-
rungsfähigkeit zu schaffen. Das ist mit dem in Berlin be-
schlossenen Paket geschehen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Nein! Das ist zuwenig, mein Lieber!)


Der Agrarkompromiß – bei all seinen Feinheiten –
hat auch die Ausgangsposition für die WTO-Runde ge-
stärkt.


(Lachen des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])


– Sie brauchen gar nicht so zu lachen, Herr Haussmann.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Unglaublich! Nichts wurde erreicht!)

– Nein, das ist schon so, die Preise werden abgesenkt
usw. Das ist schon ein Einstieg.

Ich sage aber ausdrücklich: Dies ist nicht ausrei-
chend. Denjenigen, die ganz besonders auf ihren per-
sönlichen, nationalen Interessen herumgeritten sind und
deshalb den ursprünglichen Kompromiß, den Herr Fun-
ke ausgehandelt hatte, verlassen hatten, rate ich nur,
noch einmal zu überlegen, ob sie nicht zuviel gefordert
haben und ob sie nicht sehr bald durch die WTO-
Verhandlungen zu einer Revision gezwungen werden.
Ich sage das in Richtung auf einen bestimmten westli-
chen Nachbarn, der sogar in diesem Zusammenhang, in
einer Situation von relativ geringer Bedeutung, das Wort
der „vitalen nationalen Interessen“ ins Spiel gebracht
hat. Ich halte dieses Wort für sehr gefährlich, denn das
war damals die Begründung für den Rückzug von de
Gaulle aus dem Brüsseler Geschehen. Ich erinnere daran
für den Fall, daß das jemand nicht mehr weiß. Ich sage
deshalb auch nicht, daß WTO und freier Welthandel für
uns von vitalem nationalen Interesse sind, jedenfalls
nicht in dem rechtlichen Sinne, in dem dieser Begriff
verwendet wurde. Aber ich möchte doch darauf verwei-
sen, daß die WTO für uns von ganz zentralem Interesse
ist;


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Jawohl!)

denn wir leben vom freien Welthandel, und das darf
nicht durch ein kleinliches Durchsetzen von Partikular-
interessen in der Landwirtschaftspolitik gefährdet wer-
den.


(Beifall bei der SPD)

Ich wollte damit deutlich machen: Man kann mit dem

Ergebnis nicht hundertprozentig zufrieden sein. Aber ein
alter Freund hat mir kurz vor den Verhandlungen gesagt:
Weißt du, Norbert, wenn alle gleichermaßen unglücklich
aus den Verhandlungen gehen, dann ist es eigentlich ein
glückliches Ergebnis. Ich glaube, das haben wir fast er-
reicht. Insofern bin ich ganz zufrieden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auf dem Berliner Gipfel ist die Stabilisierung der

Ausgaben im EU-Haushalt beschlossen worden. Die

Dr. Norbert Wieczorek






(B)



(A) (C)



(D)


Ausgaben werden übrigens zwischen 2000 und 2006
deutlich geringer steigen, als sie zwischen 1994 und
1999 gestiegen sind. Bei den wichtigsten Ausgaben-
blöcken, nämlich der Agrar- und Strukturpolitik, werden
die Haushaltsansätze künftig erheblich unter dem
Niveau liegen, das die Europäische Kommission im
Rahmen der Agenda 2000 vorgeschlagen hatte. Die In-
itiative der Kommission war die ursprüngliche Ver-
handlungsgrundlage; daran muß erinnert werden.

Das heißt aber auch, daß unsere Beiträge stabilisiert
werden. Für die gemeinsame Agrarpolitik haben sich die
Staats- und Regierungschefs auf die reale Konstanz ver-
ständigt. Auch dies wird unseren Beitrag durch geringe-
re Zahlungen an den EU-Haushalt stabilisieren.

Es wird auch zu einer gerechteren Verteilung der
finanziellen Lasten kommen. Das geht nicht von heute
auf morgen; aber die Reform auf der Einnahmeseite ist
fest vereinbart. Der Übergang vom Mehrwertsteuerre-
gime zur Bemessungsgrundlage Bruttoinlandsprodukt
– wobei Italien einen mutigen Schritt gemacht hat; auch
das muß man einmal erwähnen – ist ein ganz erheblicher
Fortschritt, der weit über das Jahr 2006 hinausgeht, ins-
besondere im Hinblick darauf, daß entsprechend der
Erweiterung der EU im Haushalt mehr Mittel zur Verfü-
gung gestellt werden müssen. Dies halte ich für einen
ganz entscheidenden Fortschritt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Den Korrekturmechanismus beim britischen Beitrags-

rabatt habe ich schon genannt. Wenn ich es richtig gese-
hen habe, ist das sogar Teil eines Korrekturmechanis-
mus, der ein Einstieg in einen künftigen allgemeinen
Korrekturmechanismus sein könnte.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Könnte!)

Dies wäre sehr positiv, wenn es im schriftlichen Ergeb-
nis endgültig so geregelt wäre.

Dann zur Kofinanzierung. Ich persönlich – ich glau-
be, auch die SPD insgesamt – bedaure sehr, daß Ko-
finanzierung nicht möglich war. Sie hätte nämlich einen
viel besseren Einstieg in die Agrarreform bedeutet und
manches erleichtert. Nur, eines verstehe ich nicht, Herr
Schäuble: wie Sie Kofinanzierung so fordern können,
obwohl in der Kofinanzierungsvariante von Herrn Stoi-
ber ausdrücklich das enthalten war, was die Franzosen
dauernd gegen die Kofinanzierung angeführt haben,
nämlich eine Aufkündigung der gemeinsamen Agrar-
politik, ein Weggehen von der obligatorischen Agrar-
politik.


(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Quatsch! Das ist falsch!)


– Wenn Sie sagen, das sei falsch, dann müssen Sie das
Herrn Védrine, Herrn Chirac und dem französischen
Parlament sagen, die das in ihren Beschlüssen festge-
halten haben. Ich referiere hier lediglich, was Sie gesagt
haben. Die Franzosen haben gesagt, wir wollten diese
Kofinanzierung, während der Vorschlag der deutschen
Bundesregierung anders war als der der CSU; das ist
richtig. Denn wir haben gesagt: Das Ganze bleibt obli-
gatorisch, und es geht lediglich darum, daß die Auszah-

lungen nicht aus dem Brüsseler Haushalt, sondern natio-
nal erfolgen; es soll aber keinen Spielraum mehr für dis-
kretionäre nationale Maßnahmen geben. Das, was Sie
als Kofinanzierung gefordert haben, war genau das, wo-
gegen sich die Franzosen gewendet haben. Sie haben
also mit diesem Gerede den Franzosen überhaupt erst
den Vorwand geliefert, das insgesamt abzulehnen.


(Beifall bei der SPD)

Soweit zur historischen Wahrheit, wenn Sie sich schon
nicht um die Details kümmern.

Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich das Protokoll der
Beratung im französischen Parlament anzuschauen.
Dann werden Sie genau sehen, wie dort Kofinanzierung
interpretiert wurde, nämlich wie von Herrn Stoiber und
nicht so wie wir es gefordert haben. Das müssen Sie ein-
fach zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen nicht helfen,
wenn Sie sich zuwenig in der Europapolitik tummeln
und das nicht mitbekommen. Das ist Ihr Problem.

Mit dem Agrarkompromiß wird übrigens die Politik
der schrittweisen Anpassung an den Markt fortgesetzt.
Ich halte das für positiv, wenn ich es mir auch besser
gewünscht hätte. Aber eines möchte ich auch sagen: Die
unsachliche Begleitmusik, die von den Bauernverbänden
kam, halte ich auf dieser Basis nicht für gerechtfertigt.
Um einmal mit einer Mär aufzuräumen: Die alte Agrar-
reform hat durchaus eine Verbesserung der Einkom-
menssituation gebracht. Ich nehme an, daß die Bauern
das sehr viel schneller begreifen werden als ihre Funk-
tionäre.

Da Sie so skeptisch schauen: Vor mir liegt der Agrar-
bericht des Jahres 1999 der alten Bundesregierung. Die
Steigerung der Gewinne der landwirtschaftlichen Haupt-
erwerbsbetriebe betrug 1995/96 7,2 Prozent, 1996/97
3,4 Prozent und 1997/98 3,7 Prozent. Diese Steigerung
liegt weit über der Steigerung der Arbeitnehmerein-
kommen insgesamt. Auf diesen Punkt wollte ich verwei-
sen.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie haben es wirklich nicht begriffen!)


– Ihre Koalition war doch für diesen Bericht verant-
wortlich. Entweder nehmen Sie den Bericht zur Kennt-
nis, oder Sie sagen, daß Ihre damalige Bundesregierung
einen falschen Bericht vorgelegt hat. Ich kann mir aber
nicht vorstellen, daß die zuständigen Beamten so gehan-
delt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt wundert mich gar nichts mehr!)


Ein Wort zu den Strukturfonds. In diesem Bereich
finde ich das Ergebnis besonders respektabel. Die
Kommission hatte 240 Milliarden Euro gefordert; her-
ausgekommen sind jetzt 213 Milliarden Euro mit einer
gleichzeitigen Konzentration auf die Ziel-1-Gebiete, was
insbesondere für die neuen Bundesländer wichtig ist. Es
wird noch eine weitere Verbesserung des Rückflusses in
die neuen Bundesländer geben. Eine Quote von 68 Pro-
zent für die Ziel-1-Gebiete ist sogar höher als geplant.

Dr. Norbert Wieczorek






(A) (C)



(B) (D)


In diesem Zusammenhang muß man darauf hinwei-
sen, daß Berlin auf Grund der positiven Entwicklung in
Ostberlin nicht mehr ein Ziel-1-Gebiet sein kann. Die
Übergangshilfen werden aber mit der „kleinen“ Summe
von 100 Millionen Euro großzügig bemessen. Dies ist
ein sehr gutes Signal. Ich finde es ferner sehr positiv,
daß die Ziel-2-Gebiete zusammengeschnitten worden
sind. Aber auch hier wurden Sicherheitssätze eingebaut,
die den Übergang erleichtern.

Ein Wort zum Kohäsionsfonds. Es hat die Legende
gegeben – leider ist sie von vielen geteilt worden –, der
Kohäsionsfonds sei nur zur Heranführung an die Wäh-
rungsunion geschaffen worden. Ich muß daran erinnern,
daß sich darüber kein einziges Wort im Vertrag findet.
Ich habe aber in einem alten Ecofin-Bericht gelesen, daß
1992 der damalige Staatssekretär von Theo Waigel, den
ich nach wie vor sehr schätze, ausdrücklich darauf hin-
gewiesen hat, daß es sich beim Kohäsionsfonds nicht um
Mittel handeln sollte, die die Konvergenz – damit ist die
Annäherung an die Maastricht-Kriterien gemeint – be-
wirken sollten.

In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
daß der Kohäsionsfonds eine andere Funktion hatte.
Herr Kohl weiß vermutlich – ich will diesen Punkt aber
nicht weiter vertiefen oder sein Handeln gar kritisieren –,
was die Folgen auf Grund seiner Zusage waren, daß
nach der Aufnahme der ostdeutschen Länder in die Ziel-
1-Gebiete die bisherigen Ziel-1-Gebiete nicht weniger
Geld bekommen sollten. Ich habe für diese Haltung
volles Verständnis und kritisiere sie nicht. Aber man
kann nicht den Popanz aufbauen, als sei der Kohäsions-
fonds nur für die Heranführung an die Währungsunion
eingerichtet worden.


(Beifall bei der SPD)

Ich will an dieser Stelle noch einen Punkt hinzufügen:

Ich halte den Kohäsionsfonds gerade in bezug auf die
Osterweiterung für ein zielgerichtetes und daher erhal-
tenswertes Instrument.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In bezug auf die neuen und nicht auf die alten Länder!)


– Ich rede über den Kohäsionsfonds als Instrument; ich
rede nicht über Dotierung. – Dieses Instrument hat sich
in der Praxis als besonders zielgerichtet in Fragen des
Umweltschutzes und der Verbesserung der Infrastruktur
erwiesen. Ich bitte, über diesen Punkt einmal nachzu-
denken und dann vielleicht die Debatte anders zu führen.
Das heißt nicht, daß Spanien noch Geld erhalten sollte,
wenn sein Bruttoinlandsprodukt 90 Prozent des Durch-
schnitts der EU überschritten hat. In diesem Punkt sind
wir uns doch einig.

Ich möchte noch einen kurzen Ausblick auf das ge-
ben, was noch vor uns liegt. Wir haben einen Gipfel er-
folgreich abgeschlossen; ein anderer steht uns bevor. Bei
diesem Gipfel geht es unter anderem um die Reform der
Europäischen Kommission. Mit Prodi als neuem Präsi-
denten wird der Einstieg in die Reform der Kommissi-
on vollzogen. Unter Reform verstehe ich insbesondere
die Schaffung neuer interner Verhaltensvorschriften. Es
muß mehr Transparenz, mehr Verantwortlichkeit und

mehr Effizienz geben. Man muß sich in diesem Zusam-
menhang auch überlegen, ob das Kabinetts- und Gene-
raldirektorensystem in der bisherigen Art und Weise
fortgeführt werden sollte.


(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Unverbrauchte Kommissare!)


Zu der anstehenden institutionellen Reform wird die
Bundesregierung im Auftrag des Gipfels von Wien auf
dem Gipfel in Köln einen Verfahrensvorschlag machen.
Auch die Überprüfung der im Amsterdamer Vertrag
festgelegten Stellung der Kommission gehört dazu. Ich
kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß der Präsi-
dent der Europäischen Kommission künftig vom Euro-
päischen Parlament gewählt wird – das wollen wir alle –,
daß es aber nach wie vor keine Vorschrift gibt, die be-
sagt, daß er selbst die Vertrauensfrage im Parlament
stellen kann. In diesem Bereich liegt ein Revisionsbe-
darf. Man muß sich ferner fragen, welche Regelung gilt,
wenn die gesamte Kommission zurücktritt. Heute tut
man so, als könne sie weiterarbeiten, wenn nur ein
Kommissar aus irgendeinem Grund ausgeschieden wäre.
Dieser Punkt ist nicht in Ordnung. Er muß in das La-
stenheft aufgenommen werden.

Ich warne davor, die Regierungskonferenz mit ande-
ren Dingen, zum Beispiel mit der WEU-Integration, zu
überfrachten. Wir müssen uns auf die institutionellen
Reformen beschränken, weil das der zweite Teil der
Beitrittsfähigkeit der EU ist. Ich bin sehr dafür und auch
sicher, daß wir das machen werden.

Ein Wort noch zum europäischen Beschäftigungs-
pakt. Es wird eine große Aufgabe sein, die beschäfti-
gungs- und wirtschaftspolitischen Leitlinien zusammen-
zuführen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit gemeinsam be-
kämpfen wollen – es ist unbestritten, daß dies vor allen
Dingen eine nationale Aufgabe ist, aber wir können uns
gegenseitig helfen –, dann gilt es, zu einer vernünftigen
Kombination aus makroökonomischen Strategien – das
Modewort lautet: Policy-mix –, richtigen Strukturrefor-
men und einem maßgeschneiderten arbeits- und be-
schäftigungspolitischen Instrumentarium zu kommen;
für mich sind alle drei Punkte gleichwertig. Das wird
unsere Aufgabe für den Gipfel in Köln sein. Ich erwähne
dies hier, weil die Entscheidung des Ältestenrates eine
Debatte im Plenum vor dem Gipfel in Köln praktisch
nicht möglich macht.


(Beifall bei der SPD)

Ich wünsche mir, daß dieser Gipfel in diesen Fragen im
Ergebnis genauso erfolgreich ist wie der Gipfel in Berlin.


(Beifall bei der SPD)

Gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Bemer-

kung: Natürlich bedanken wir uns beim Bundeskanzler
und bei den Kabinettsmitgliedern, die mitgewirkt haben,
für das erreichte Ergebnis. Ich möchte aber ausdrücklich
alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Dank
einschließen, die eine gewaltige Arbeit geleistet und die-
sen Erfolg möglich gemacht haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dr. Norbert Wieczorek






(B)



(A) (C)



(D)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403105600
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Ulrich Heinrich,
F.D.P., das Wort.


Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1403105700
Frau Präsidentin, ich habe
mich wegen der Aussagen des Herrn Kollegen Wieczo-
rek zur Agrarpolitik zu einer Kurzintervention gemeldet.

Eine Einigung ist erfolgt; das stimmt. Die Probleme
aber sind nicht gelöst. Die Einkommen der Landwirte
werden sinken. Die Landwirte werden mit bis zu 2 Mil-
liarden DM zusätzlich belastet. Im Gegensatz zu dem,
was Sie gesagt haben, Herr Wieczorek, ist nicht zu er-
warten, daß von dieser Reform positive Impulse für die
Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft ausge-
hen werden. Die Überschüsse werden nicht abgebaut.
Vor allen Dingen aber werden die Exportsubventionen
nicht geregelt. Das heißt, im Herbst, wenn wir diese
Politik in der WTO-Runde darzustellen haben, werden
wir entsprechend unter Druck geraten. Wenn die 15 Re-
gierungen nur einen solchen Kompromiß zustande brin-
gen, frage ich mich, warum wir als Parlament dies auch
noch beklatschen sollen. Dafür habe ich kein Verständ-
nis.

Meine Damen und Herren, zu der Entwicklung der
Weltmarktpreise. Die eingeschlagene Richtung ist
falsch. Es wird nämlich nicht zu einer stärkeren Wett-
bewerbsfähigkeit der Landwirtschaft kommen. Vielmehr
wird die Abhängigkeit der Landwirtschaft von der Poli-
tik erhöht, und das können wir nicht gebrauchen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie werfen den Landwirten nachher wieder vor, sie
seien Subventionsempfänger. Monatelang ist von Ihnen
aufs Tapet gebracht worden, daß wir einen zu hohen
Anteil an Subventionen kassieren und daß die Landwirte
nur deshalb gegen die Agenda 2000 sind, weil sie dann
weniger an Subventionen bekommen. Dies wird natür-
lich durch die Weltmarktpreisphilosophie noch ver-
stärkt. Genau das ist der Punkt, wo wir ansetzen müssen.

Anstatt eine eigenständige europäische Preispolitik zu
betreiben, mit der wir die Überschüsse planmäßig ab-
bauen können und mit der wir die Abhängigkeit der
Landwirtschaft von dem Geld der Steuerzahler reduzie-
ren, gehen Sie in eine völlig falsche Richtung.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weil Sie nicht reden dürfen, strapazieren Sie unsere Geschäftsordnung!)


– Ich habe eine Redezeit von drei Minuten.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403105800
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind doch parlamentarischer Geschäftsführer! Sie wissen doch Bescheid!)



Ulrich Heinrich (FDP):
Rede ID: ID1403105900
Ich komme zu meinem
Schlußwort. Ich sage Ihnen: So kommt es zu einer

Vernichtung von Volkswirtschaftsvermögen. Wissen-
schaftler belegen das. Wenn das so weitergeht, dann
wird das Agrarsystem bald nicht mehr finanzierbar sein.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Ein schöner Marktwirtschaftler! – Uwe Hiksch [SPD]: Das war ja keine F.D.P. mehr!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106000
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Dr. Wieczorek, bitte.


Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1403106100
Herr Kollege, wenn
ich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie einen Bei-
trag zur Landwirtschaft machen und nicht so sehr zu
dem, was ich gesagt habe. Ich möchte auf drei Dinge
Ihrer Kurzintervention eingehen, die ich tatsächlich an-
gesprochen habe. Mit Ihren anderen Bemerkungen ha-
ben Sie Ihre Redezeit ausgenutzt. Dafür hat man ja Ver-
ständnis.

Erstens. Im Hinblick auf die Preisstützung und dies-
bezügliche Interventionen ist, soweit ich es aus dem,
was bisher veröffentlicht wurde, erkennen konnte, aus-
drücklich eine Überprüfung vorgesehen. Ich schlage vor,
daß man sich genauer anschaut, was festgelegt worden
ist.

Zweitens. Bei der letzten Reform, bei der Mc-Sharry-
Reform, gab es erst eine sehr große Aufregung, bis sich
herausstellte, daß eine Reihe von Landwirten besserge-
stellt wurde. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen,
warum wir in diese Situation – etwa bei der Milchquote –
gekommen sind. Die französischen Bauern haben damals
einen Aufstand gemacht. Die Regelung der Milchquote
hat sich für sie so entwickelt, daß sie dabei ausgespro-
chen gut weggekommen sind. Deswegen hat Herr Chi-
rac – ich muß diesen Namen jetzt doch einmal nennen –
so darauf insistiert, daß dieses System bis 2006 erhalten
bleibt. So kann man sich täuschen, wenn man zu schnell
sagt: Das oder jenes ist das Ergebnis. Darauf wollte ich
noch einmal hinweisen.

Drittens zur WTO. Da könnte ich fast sagen, Sie
wollten mich unterstützen. Aber ich bin nicht sicher, ob
Sie das wirklich wollten. Ich sehe sehr wohl die Proble-
matik, daß die WTO-Konformität angesichts dessen,
was jetzt im Ergebnis herausgekommen ist, bei weitem
nicht in dem Maße zu erreichen ist, wie es vorgesehen
war. Auch da war sie noch nicht ganz erreicht. Etwa in
der Hälfte der Periode 2000 bis 2006 wird es im Ver-
handlungsablauf einen Überprüfungszwang im Rahmen
der EU geben.

Sie sollten sich erinnern: Ich habe gesagt, daß ich den
Begriff „vitale nationale Interessen“ ausdrücklich nicht
verwende. Ich halte ihn in der Europapolitik für alles
andere als angebracht. Ich wiederhole – zu diesem Punkt
gab es von Ihrer Fraktion sogar Beifall –, daß wir ein
sehr zentrales Interesse daran haben, daß der Welthandel
noch liberaler wird, daß der freie Welthandel erhalten
bleibt – das ist ja im Moment gar nicht so sicher, wenn
Sie die Diskussion im amerikanischen Kongreß be-
trachten –, und daß dazu eine Abwägung dahin gehend






(A) (C)



(B) (D)


gehört, was man im Landwirtschaftsbereich und was
man insgesamt tut.

Aus diesem Grunde wird eine Diskussion über diese
Dinge mit unseren französischen Freunden noch sehr
notwendig sein. Ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstüt-
zen, wenn wir das tun werden, und daß Sie nicht – wie
bei der Kofinanzierung – durch andere Modelle Verwir-
rung stiften.

Danke sehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106200
Es spricht jetzt der
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund
Stoiber.


(Uwe Hiksch [SPD]: Jetzt kommt Europa aus der Sicht von Gunzenhausen!)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine
sehr verehrten Herren! Die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland, wir alle in diesem Hohen Hause stehen
unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse im Ko-
sovo. Wir alle sind angesichts der Bilder, die uns abends
und in der Früh über die Fernsehschirme erreichen, be-
drückt. Mitten in Europa muß mit Waffengewalt um
Frieden, Freiheit und Recht gekämpft werden. Die
Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, des
friedlichen Miteinanders der Völker und die Menschen-
rechte müssen in ganz Europa gelten.

Bei dem NATO-Einsatz gegen das Regime in Bel-
grad geht es deshalb auch um die Zukunft Europas. Das
menschenverachtende System von Milosevic hat der
Staatengemeinschaft keine andere Wahl gelassen, als
mit militärischen Mitteln den organisierten und eskalie-
renden Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo
entgegenzutreten.

Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß es uns allen ge-
meinsam gelingt, diese Sichtweise besonders auch den
jugoslawischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in
Deutschland eindeutig darzulegen. Ich bin ein wenig
betroffen davon, wie sehr Menschen aus Jugoslawien,
die bereits lange Zeit hier in Deutschland leben, an der
Politik und an der Position von Milosevic hängen. Wir
sollten diese Gefahren nicht geringschätzen und uns
deswegen bemühen, daß die Menschen in Deutschland,
auch die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger,
unsere Position, die eine gemeinsame Position ist, rich-
tig einordnen können und sie verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die bosnische Tragödie darf sich im Kosovo nicht

wiederholen. Anders als mit militärischen Mitteln war
offenbar keine Einsicht zu erzwingen, um dem Unheil
für Hunderttausende von Menschen Einhalt zu gebieten.
Wir dürfen die Augen vor Unrecht, Vertreibung und
Mord unmittelbar vor unserer Haustüre nicht verschlie-
ßen. – Ich respektiere, was der Außenminister hier ge-
sagt hat, der in der Beurteilung solcher Fragen in den

letzten 20 Jahren – wenn ich mir alle seine Äußerungen,
die von früher und die von heute, anschaue – einen wei-
ten Weg zurückgelegt hat.


(Dr. Willfried Penner [SPD]: Haben Sie das auch?)


Ich halte das in der Tat für bemerkenswert und positiv.
– Aus dieser Mitverantwortung heraus tragen wir alle
die schwierige Entscheidung der Bundesregierung mit.

Mit persönlichem Einsatz und großem Risiko treten
unsere Soldaten dieser Aggression gegen die Bevölke-
rung des Kosovo entgegen. Für diese Pflichterfüllung
gilt allen, die den Menschenrechten dort wieder zur
Geltung verhelfen und Frieden schaffen wollen, unser
persönlicher Dank. In diesen Dank beziehe ich alle An-
gehörigen unserer Soldaten ausdrücklich mit ein, die
natürlich jetzt ganz schwierige Stunden erleben. Es ist
wichtig, daß alle in der Bundesrepublik Deutschland
deutlich erklären, wie sehr sie mit ihnen fühlen und wie
sehr sie ihnen zur Seite stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Angesichts des tausendfachen Leids und der drohen-
den Gefahren treten selbstverständlich alle anderen
wichtigen politischen Themen etwas in den Hintergrund.
Dieser Konflikt macht uns einmal mehr den historischen
Auftrag deutlich, die Teilung Europas endgültig zu
überwinden. Deshalb liegt die Osterweiterung der Euro-
päischen Union nicht nur im Interesse Deutschlands,
sondern auch im Interesse aller europäischen Nationen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dafür will die Agenda 2000 die Voraussetzungen schaf-
fen. Doch so klar dieses Ziel ist, so schwierig ist die Lö-
sung der Einzelfragen. Es geht um den Ausgleich der
nationalen Interessen und die Verteilung der Ressour-
cen. Wegen der gravierenden Folgen ist hart gerungen
worden. Über die Ergebnisse ist heute nur kursorisch zu
sprechen. Die Ereignisse im Kosovo bewegen uns na-
türlich innerlich mehr.

Am Tag der Beendigung des Europäischen Rates von
Berlin gilt es zu bilanzieren: Was waren die Ziele? Was
wurde erreicht? Und wie geht es weiter? Ihre Ziele, Herr
Bundeskanzler, haben Sie in Ihrer Regierungserklärung
am 10. November 1998 und natürlich auch bei anderen
Gelegenheiten, in besonderem Maße auf dem SPD-
Parteitag in Saarbrücken, im einzelnen erläutert. Zu
Ihren Kernpunkten des Jahrhundertwerks der Agen-
da 2000, das für die nächsten sieben Jahre immerhin ein
Finanzvolumen von weit über 1 000 Milliarden DM be-
deutet, zählt die Neuregelung der EU-Finanzen. In Ihrer
Regierungserklärung am 10. November haben Sie gesagt
– ich zitiere –:

Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen
wollen wir … auch zu einer höheren Beitragsge-
rechtigkeit kommen und die deutsche Nettobela-
stung auf ein faires Maß verringern.

Das haben Sie in Ihrer Erklärung als Ziel angegeben.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Wir zahlen die nächsten Jahre mehr!)


Dr. Norbert Wieczorek






(B)



(A) (C)



(D)


Durch einen Sparhaushalt sollte der finanzielle Spiel-
raum für die Osterweiterung geschaffen werden. Sie
sprachen von – ich zitiere – „eiserner Haushaltsdiszi-
plin“. In der Agrarpolitik wollten Sie „grundlegende
Veränderungen“ erreichen. Ihre Ziele waren eine Kofi-
nanzierung, die Sie in vielen Interviews und auch in Re-
den vor diesem Haus immer wieder gefordert haben, und
eine „Agrarreform, die zu weniger Ausgaben“ führt. Sie
haben sich für eine grundlegende Reform der Struktur-
politik ausgesprochen. Sie sollte sparsam, effizient und
zielgerichtet sein. Das waren die Vorgaben, mit denen
Sie Ihre Position vor diesem Hohen Hause erläutert
haben.

In diesen Zielen waren sich Regierung und Opposi-
tion weitgehend einig. Doch sie waren nicht neu. Schon
die von Helmut Kohl und Theo Waigel geführte Bun-
desregierung hatte sich dafür eindeutig eingesetzt. CDU
und CSU haben am 19. Februar in einem gemeinsamen
Positionspapier offengelegt, woran sie das Ergebnis der
Agenda 2000 messen werden. Dabei haben wir – auch
wenn das oft behauptet wird – nie Maximalforderungen
aufgestellt. Wir haben die berechtigten Anliegen unserer
Partner anerkannt. Wir stehen zu unserer Verpflichtung
zu europäischer Solidarität. Wir haben ausdrücklich an-
erkannt und in diesem Positionspapier festgestellt, daß
Deutschland auch nach der Korrektur größter Nettozah-
ler in der Europäischen Union bleiben wird. Wir haben
ausdrücklich unser Einverständnis mit der Reduzierung
der EU-Förderkulisse in Deutschland signalisiert. Wir
haben die Notwendigkeit einer Reform der gemeinsa-
men Agrarpolitik akzeptiert.

Was wurde erreicht? Das ist die zweite Frage. Wir
müssen heute mit großer Enttäuschung zur Kenntnis
nehmen: Die Bundesregierung hat ihre selbstgesetzten
Ziele, die hier formuliert worden sind, verfehlt. Die
Agenda 2000 sollte das Regierungsprogramm für die
nächsten sieben Jahre sein. Doch das, was uns heute prä-
sentiert wird, ist eher eine Verfestigung des Status quo
als ein Aufbruch in die Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Das Ziel eines strikten Sparkurses wurde verfehlt.
Der EU-Haushalt steigt von 164 Milliarden DM im Jah-
re 1998 auf 206 Milliarden DM im Jahre 2006 und zwar
ohne Berücksichtigung der Inflation. Das widerspricht
dem, was Sie hier als Ihr Ziel vorgegeben haben. In die-
ser Summe sind die Kosten für die Osterweiterung be-
reits berücksichtigt. Selbst wenn man diese Kosten her-
ausrechnet, liegt der Haushalt im Jahre 2006 mit 189
Milliarden DM – wiederum ohne Inflation – immer noch
deutlich über dem von 1998. Von Sparkurs kann also
überhaupt keine Rede sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der Eu-
ropäischen Union besteht weiter. Natürlich wußten wir,
daß wir Nettozahler bleiben würden. Aber wir hätten
erwartet, daß Sie eine merkliche Korrektur der unge-
rechten Nettobelastung erreichen. Die Konzepte dafür
lagen auf dem Tisch, zum Beispiel die nationale Ko-

finanzierung in der Landwirtschaft. Hier haben Sie
frühzeitig Positionen geräumt. Ich will das noch einmal
deutlich machen: Die Kofinanzierung ist – nach der lan-
gen Verweigerung der Europäischen Kommission, das
Thema auf die Tagesordnung zu setzen – ein Verdienst
der Regierung Kohl, ein Verdienst des früheren Finanz-
ministers Waigel. Die Europäische Kommission hat die
Kofinanzierung Mitte der 90er Jahre als ein wichtiges
Mittel zu einer gerechteren Beitragsgestaltung für viele
Länder fixiert.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU])


Ich muß ganz offen sagen: Sie haben dieses System sehr
schnell aufgegeben. Ich werde versuchen, im Laufe der
nächsten Wochen zu eruieren, was dahintersteckt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ein anderes Konzept ist die Bemessung der Beiträge
nach dem Bruttosozialprodukt. Hier haben Sie, Herr
Bundeskanzler, allenfalls eine Teilkorrektur erreicht.
Von einem allgemeinen Korrekturmechanismus in der
Form eines Kappungsmodells ist leider nicht mehr die
Rede.

Sie haben gerade gesagt, Sie seien neugierig, wie ein
Vergleich der Regierung Kohl/Waigel mit der Regie-
rung Schröder/Fischer hinsichtlich des deutschen
Finanzbeitrags aus der Sicht dieser oder jener Seite
ausfallen wird. Kollege Schäuble hat schon dargestellt,
daß sich der deutsche Nettobeitrag von 27 Milliarden
DM im Jahre 1994 auf 22 Milliarden DM im Jahre 1998
ermäßigt hat. Herr Bundeskanzler, ich betrachte jetzt
einmal die Zahlen des Bruttobeitrages: 1994 betrug der
Bruttobeitrag Deutschlands – in den jeweiligen Ist-
Zahlen, also unter Berücksichtigung der Inflation –
42 Milliarden DM; vier Jahre später, 1998, betrug er
44 Milliarden DM. Nach dem von Ihnen ausgehandelten
Ergebnis wird der deutsche Bruttobeitrag im Jahre 2006
bei 58 Milliarden DM liegen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Diese Zahlen sagen alles!

Wir werden noch darüber zu reden haben, wie Sie bei
dieser beachtlichen Steigerungsrate des Bruttobeitrages
und bei weiteren Maßnahmen im Bereich der Rückflüsse
überhaupt zu einer weiteren Senkung des Nettobeitrags
kommen wollen. Das bleibt der weiteren Diskussion
überlassen. Auf Grund der mir vorliegenden Zahlen –
Bruttobeitrag von 58 Milliarden DM – kann ich nicht
nachvollziehen, was Sie heute früh gesagt haben, näm-
lich daß Sie den Nettobeitrag in den nächsten Jahren
senken werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Korrektur bei der Bemessung der Beiträge – nach

dem Bruttosozialprodukt anstatt nach der Mehrwert-
steuer – ist nun in zwei Stufen verwirklicht worden. Ich
sage Ihnen aber angesichts der jetzigen Berechnungen
voraus: Sie werden nicht das erreichen, was Kollege
Waigel und Bundeskanzler Kohl damals in Edinburgh
erreicht haben, nämlich daß der Nettobeitrag dadurch,

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)







(A) (C)



(B) (D)


daß man bei der Bemessung der Beiträge von der
Mehrwertsteuer auf das Bruttosozialprodukt übergegan-
gen ist, in den letzten vier Jahren um 5 Milliarden DM
gesenkt worden ist. Erst dann, wenn Sie Vergleichbares
erreichen – nach dem heutigen Ergebnis werden Sie das
nicht schaffen –, können Sie ernsthaft sagen, Sie hätten
bei der Senkung des Nettobeitrages mehr als die frühere
Regierung erreicht. Sie stellen sich heute aber hin und
sagen, die Vorgängerregierung sei schuld, Sie hätten die
Weichen erst neu stellen müssen. Die alte Regierung hat
die Weichen gestellt; und ich bezweifele, daß Sie zu
besseren Weichenstellungen kommen werden, meine
sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das Ergebnis kann auch bei der Strukturpolitik

nicht befriedigen. Bei den Strukturfonds wird nicht ge-
spart: Obwohl weniger Gebiete gefördert werden, wird
mehr Geld ausgegeben. Das, was sich durch die Agenda
2000 ändert, geht sowohl bei den Ziel-2-Fördergebieten
als auch bei den Kostensteigerungen überproportional zu
Lasten Deutschlands. Wenn Sie doch wenigstens das ge-
schafft hätten, was Sie in den Runden mit den Minister-
präsidenten zugesagt hatten! Wenn wir bei der europäi-
schen Förderung schon mehrere Gebiete verlieren, dann
hätten Sie uns wenigstens Spielraum beim Einsatz unse-
rer eigenen Mittel zur Förderung unserer Problemge-
biete verschaffen müssen! Genau das – mehr Möglich-
keiten für die Nationen, wenn man schon Gebiete aus
der europäischen Förderung herausnimmt – wäre Subsi-
diarität gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler, Sie haben außerdem nicht er-

reicht, ein definitives Ende des Kohäsionsfonds für die
Eurostaaten zu vereinbaren. Der Kohäsionsfonds wurde
geschaffen, um möglichst viele Mitgliedstaaten für die
Währungsunion fit zu machen. Das war die Intention
von Maastricht.


(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das ist schlicht nicht richtig!)


– Doch, das war die Intention von Maastricht. – Nun
aber werden auch solche Staaten weiter unterstützt – und
zwar beinahe in alter Höhe –, denen das Attest für die
Eurotauglichkeit ausgestellt wurde. Das ist der Weg in
die Transferunion, die gerade nicht in unserem Interesse
sein kann.

Weil also unklar ist, was im Jahr 2006 geschieht, muß
man davon ausgehen, daß der Kohäsionsfonds wahr-
scheinlich wie bisher weitergeführt wird. Dann fällt der
Vorwurf, den Sie – unbilligerweise – der alten Regie-
rung gemacht haben, in voller Schärfe auf Sie selber zu-
rück.

Sie haben Bundeskanzler Kohl immer wieder kriti-
siert – zuletzt noch vor einigen Wochen –, weil in Edin-
burgh nicht geregelt worden sei, was nach dem Ende des
Eigenmittelbeschlusses 1999 geschehen solle. Sie haben
behauptet, Kohl und Waigel hätten in Edinburgh einen
schweren Fehler begangen, weil die Anschlußregelun-
gen nach dem Jahre 1999 nur einstimmig festgelegt
werden könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Von einer Stärkung der Eigenverantwortung der
Regionen, von Transparenz und Bürgernähe ist meines
Erachtens nichts zu sehen. Spätestens der Rücktritt der
EU-Kommission hätte Anlaß dafür sein müssen, System-
änderungen einzuleiten: Abbau der Subventionen und
Stärkung der politisch Verantwortlichen vor Ort. Ich hof-
fe, daß auf dem Sondergipfel, den Sie heute angesprochen
haben, auch dafür die Weichen gestellt werden.

Auch eine wirkliche Reform der Agrarpolitik
– darüber ist heute schon viel geredet worden – bleibt
aus. Entscheidend wäre – trotz aller Schwierigkeiten, die
es mit dem französischen Partner gibt – die Einführung
der Kofinanzierung gewesen. Mit dieser Einführung
hätten Sie gleich drei Ziele erreichen können: eine Si-
cherung der Existenzgrundlage unserer Landwirte, ein
gerechteres Finanzierungssystem und vor allen Dingen
einen ausreichenden finanziellen Spielraum für die
Osterweiterung. Die Osterweiterung ist angesichts der
Probleme, die im Rahmen dieser Erweiterung auf die
Landwirtschaft zukommen, ohne Kofinanzierung finan-
ziell nicht zu schaffen. Deswegen ist bei den Verhand-
lungen in Berlin die Durchsetzung dieses wichtigen
Elements für die Osterweiterung wie für die Reduzie-
rung der deutschen Nettobeiträge versäumt worden. Man
muß sich nur einmal vorstellen, wie viele Bauern es in
der Europäischen Union geben wird, wenn die drei
Staaten Tschechische Republik, Ungarn und Polen bei-
getreten sind. Das kann gar nicht über das gegenwärtige
Finanzierungssystem aufgefangen werden. Hierfür wäre
eine Kofinanzierung notwendig gewesen. Deswegen
muß man auch zu dieser Stunde an diesem Punkt deut-
lich Kritik üben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine wesentliche Schwachstelle bei den Verhandlun-

gen war meines Erachtens – wenn es nicht so gewesen
wäre, wäre ein besseres Ergebnis erzielbar gewesen –
die mangelnde Koordinierung der deutschen Position.
Oftmals wurde nicht klar, was die Deutschen wirklich
wollten und wer für die Bundesregierung handelt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen war klar, daß Sie es nicht wollten!)


Ein Schulterschluß mit der Opposition wurde überhaupt
nicht angestrebt. Darüber wurde hier noch nicht einmal
diskutiert.


(Lachen des Bundesministers Joseph Fischer)

– Es war so. – Forderungen der Länder im Bundesrat
haben Sie ignoriert. Wir haben den nationalen Konsens
in der Europapolitik nicht aufgekündigt, wie Sie es uns
immer wieder vorwerfen; vielmehr haben Sie diesen
Konsens überhaupt nicht gesucht. Sie haben mit einigen
flapsigen Bemerkungen Ihre Verhandlungsposition in
Berlin erschwert. Und dann ist auch noch der Finanz-
und Europaminister – das darf man nicht vergessen;
auch das sollte zu dieser Stunde angesprochen werden –
in der heißen Phase der Verhandlungen zurückgetreten.
Das hat die Verhandlungen sicherlich nicht erleichtert.
Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auch
dafür tragen Sie Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)







(B)



(A) (C)



(D)


Ich stelle auf Grund des Kenntnisstandes, den wir mo-
mentan haben – die Verhandlungen sind ja erst heute früh
beendet worden –, fest: Die Bundesregierung hat in Brüs-
sel und in Berlin so verhandelt, wie sie in Bonn regiert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Da hilft es auch gar nichts, wenn Sie uns immer wieder
wortreich erklären, was mit wem nicht zu machen war –
Sie haben das gerade getan, Herr Außenminister –: mit
Frankreich die Kofinanzierung, mit Spanien der Aus-
stieg aus dem Kohäsionsfonds für die WWU-
Teilnehmer, mit Großbritannien die Abschaffung des
Beitragsrabatts und mit Italien die volle Umstellung der
Finanzbeiträge auf einen gerechten Maßstab, das Brutto-
sozialprodukt. Ich frage Sie hier ganz deutlich: Was war
eigentlich mit Deutschland „nicht zu machen“, Herr
Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sagen hier, die Aufgabenverteilung in Europa

sei etwa wie folgt: Die anderen vertreten nationale Inter-
essen – so habe ich Sie verstanden, Herr Außenminister –,
während Deutschland nur europäische Interessen zu
vertreten habe, auch wenn sie nationalen Interessen wi-
dersprechen. Diese Politik werden Sie den Menschen
draußen nicht erläutern können. Deswegen werden wir
immer wieder auf diesen Satz zurückkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Genauso wie in Deutschland Kommunalinteressen
nicht mit Landesinteressen und Landesinteressen nicht
immer mit deutschen Interessen identisch sein müssen,
ist natürlich auch das nationale Interesse nicht immer
mit dem europäischen Interesse identisch. Das ist oft ein
schwieriger Balanceakt – das gebe ich zu –; denn wir
haben ein besonderes Interesse an der europäischen In-
tegration. Deswegen sage ich auch, daß wir immer Net-
tozahler bleiben werden. Aber Sie dürfen es der Bevöl-
kerung nicht so erklären, daß wir auf die anderen, die
nationale Interessen vertreten, Rücksicht zu nehmen
hätten, während wir unsere eigenen Interessen generell
zurückzustellen hätten. Damit schaffen Sie keine Ak-
zeptanz Europas, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD)


Sie haben meines Erachtens Ihre Versprechungen aus
der Regierungserklärung und aus vielen anderen Reden
nicht erfüllt. Wir werden in den nächsten Wochen und
Monaten die Folgen des Ergebnisses des Gipfels von
Berlin noch heftig zu diskutieren haben; denn die Pro-
bleme, die nun für Teile unserer Bevölkerung entstehen,
verlangen dann zumindest – dazu hätten Sie heute auch
etwas sagen können – eine nationale Hilfe, um dramati-
sche Strukturbrüche abzumildern. In dem Sinne erwarte
ich noch klare Worte von Ihnen.

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106400
Es spricht nun der
Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo
Schlauch.


Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403106500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich
mich mit dem Herrn Ministerpräsidenten aus Bayern
auseinandersetze, möchte ich erst einmal meine Freude
und die Freude unserer Fraktion über das Ergebnis von
Berlin zum Ausdruck bringen. Wir beglückwünschen
den Herrn Bundeskanzler, unseren Außenminister und
die übrigen Regierungsmitglieder zu ihrem Erfolg von
heute morgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit der Einigung über die Agenda 2000 und dem Er-
gebnis des Gipfels von Berlin hat die Europäische Union
in einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit be-
wiesen. Von dem Gipfel in Berlin geht ein klares Zei-
chen an die beitrittswilligen osteuropäischen Länder aus:
Die Europäische Union will die Osterweiterung. Sie
hat mit der Reform ihrer Finanzverfassung die Voraus-
setzung für eine Vertiefung der europäischen Integration
und für ihre Erweiterung geschaffen. Die entscheidende
und unmißverständliche Botschaft des Berlin-Gipfels ist:
Der Weg für die Osterweiterung ist frei. Meine Damen
und Herren, das ist hundertmal mehr wert als Verspre-
chungen hinsichtlich Daten, die von vornherein nicht zu
halten waren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


– Wer hat denn die Versprechungen in Richtung der ost-
europäischen Länder im Hinblick auf konkrete Beitritts-
daten gemacht und nicht eingehalten? Es war doch die
ehemalige Regierung, die von vollkommen illusionären
Daten ausgegangen ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Aber auch innenpolitisch hat die Europäische Union
Handlungsfähigkeit bewiesen. Die Nominierung Ro-
mano Prodis für den Vorsitz der EU-Kommission zeigt
die Entschlossenheit der Mitgliedsländer zu einer ra-
schen Beendigung der Krise, die durch den Rücktritt der
Kommission eingetreten ist.

Der Berliner Gipfel hat ein neues Kapitel in der Ge-
schichte der Europäischen Union aufgeschlagen. Er hat
bewiesen, daß die Staatengemeinschaft schwierige Si-
tuationen meistern, sich selbst reformieren und die
Osterweiterung auf den Weg bringen kann. Insbesondere
durch die wochenlangen Bemühungen von Bundes-
kanzler Schröder und Außenminister Fischer wurde die-
ses Ergebnis möglich,


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Welches Ergebnis?)


und dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere Aner-
kennung.

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)







(A) (C)



(B) (D)


Die Bedeutung dieses Berliner Gipfels ist internatio-
nal unumstritten. Der österreichische Bundeskanzler
Klima sagt: Wir haben Handlungsfähigkeit bewiesen.
Jospin sagt: Das ist ein guter Moment für Europa. Auch
innenpolitisch findet die Leistung der Regierung Schrö-
der/Fischer große Anerkennung. Sowohl der Deutsche
Industrie- und Handelstag als auch der Deutsche Bau-
ernverband – Herr Kollege Heinrich, ich habe mich dar-
über gewundert, aber ich habe es so gelesen – haben in
ersten Stellungnahmen die Ergebnisse des Berliner Gip-
fels ausdrücklich begrüßt,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


weil dort – trotz einer sehr schlechten Ausgangssituation
– Verbesserungen ausgehandelt worden sind.

Die einzigen, die den Erfolg schlechtreden, sind die
Damen und Herren von der Opposition und der bayeri-
sche Ministerpräsident.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Herr Stoiber, heute sind Sie anders als noch vor wenigen
Wochen dahergekommen. Heute sind Sie wie das öster-
liche Lamm aufgetreten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was allerdings das Verhandlungsergebnis angeht, waren
Sie gegen das, was ausgehandelt worden ist, nach wie
vor hart, und damit waren Sie auch hart gegen die bei-
trittswilligen osteuropäischen Länder.

Wenn Sie sagen, man habe oft den Eindruck gehabt,
nicht zu wissen, was die deutsche Ratspräsidentschaft
verhandeln wolle, dann entgegne ich Ihnen: Bei Ihnen
wußte man genau, was Sie wollten. Sie wollten die
Agenda 2000 stoppen; Sie wollten den Berliner Gipfel
platzen lassen. Sie hätten damit Stagnation und Rück-
schritt der europäischen Einigung in Kauf genommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wo stünden wir denn heute, wenn wir Ihren funda-
mentalistischen Ratschlägen gefolgt wären? Was hätte
es denn bedeutet, den Gipfel abzusagen? Welcher Scha-
den wäre für unser Land entstanden? – Wir hätten keine
Agenda 2000, wir hätten keine positive Perspektive für
die Beitrittskandidaten, und wir hätten uns vor der ge-
samten Welt lächerlich gemacht!


(Beifall beim des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben Sie angesichts der Forderungen, die Sie letzte
Woche erhoben haben, eines Besseren belehrt. Mit Zau-
derei, Wankelmut und bayerischer Kleinkrämerei wer-
den wir den historischen Dimensionen der europäischen
Einigung nicht gerecht.


(Michael Glos [CDU/CSU]: „Bayerische Kleinkrämerei“, das nehmen Sie zurück! So was!)


Es ist doch klar, daß wir uns mit unseren deutschen
Forderungen bei einer Kompromißlösung nicht in Rein-
form – darin besteht das Wesen des Kompromisses; das
wissen wir doch alle – durchsetzen konnten. Angesichts
Ihrer Maximalforderungen wäre der Gipfel allerdings
von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Weil
Sie es immer wieder gern vergessen, erinnere ich Sie
daran: Die Höhe der deutschen Nettozahlungen ist doch
nicht das Ergebnis unserer Politik, sondern das Ergebnis
Ihrer langjährigen Politik.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Es ist ein gutes Zeichen, daß wir – wenn auch noch nicht
in ausreichendem Maße – die Tendenz nun umgekehrt
haben und den jetzigen Stand der deutschen Nettozah-
lungen reduzieren konnten. Sie aber haben die Dimen-
sion der europäischen Einigung aus den Augen verloren.
Wenn Sie den Erfolg von Berlin schlechtreden, dann tun
Sie dies oft auch aus innenpolitischen Gründen.

Sie haben hier heute – jedenfalls für meine Begriffe –
keine Alternative aufgezeigt. Das gilt auch für Sie, Herr
bayerischer Ministerpräsident. Sie haben das europäi-
sche Erbe Helmut Kohls nicht angetreten, sondern Ihre
Rede war eigentlich von einem nationalen und regio-
nalen Egoismus durchsetzt, den wir mit diesem Ergeb-
nis von Berlin Gott sei Dank überwunden haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie sich selbst und Ihre Rede ernst nehmen,
dann müssen Sie zugeben, daß Ihre Kritik, übertragen
auf die außenpolitische Situation, insbesondere in Rich-
tung der osteuropäischen Länder, bedeutet: Wir wollen
euch nicht, jedenfalls nicht so schnell wie möglich.
– Wir hingegen rufen den beitrittswilligen Ländern zu:
Wir wollen die Erweiterung. Wir wollen die europäi-
sche Integration. Wir wollen Frieden und Stabilität in
Europa. – Deshalb freuen wir uns mit der Bundesregie-
rung über die Ergebnisse dieses Gipfels.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106600
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.


Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1403106700
Frau Präsidentin!
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Ver-
ständnis dafür, daß Sie sich angesichts der innenpoliti-
schen Lage auch über bescheidene außenpolitische Er-
folge freuen. Wenn man die Gipfel verfolgt, so muß man
sagen: Der Berliner Gipfel wird nicht in die europäische
Geschichte eingehen. Er war ein Gipfel auf kleinstem
gemeinsamen Nenner.

Herr Fischer, ich gönne es Ihnen, daß Sie Ihre erste
Gipfelerfahrung gemacht haben. Bundeskanzler Kohl
hat über 25 EU–Gipfel gestaltet, Außenminister Gen-
scher über 30. Aber mit so kurzen Hosen, mit so be-

Rezzo Schlauch






(B)



(A) (C)



(D)


scheidenen Ergebnissen kam die frühere Regierung nie
nach Hause, Herr Fischer.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben in Europa gar keine Hosen an! Sie stehen in Europa ohne jede Hose da!)


Es ist schade, Herr Schlauch, daß wir unter einer rot-
grünen Regierung nur noch über das Geld reden müssen,
ohne Leidenschaft und ohne Vision für Europa. Aber
wenn wir schon über das Geld reden, dann muß ich sa-
gen: Das große Versprechen war doch die Senkung des
deutschen Nettobeitrags.

Ich zitiere jetzt aus der Regierungserklärung: Erstens.
Die Obergrenze wurde auf 1,27 Prozent des EU-
Bruttosozialprodukts festgeschrieben. – Das ist über-
haupt nichts Neues. Das hatte die alte Regierung längst
erreicht.

Zweitens. Die Eigenmittel werden bis zum Jahre
2004 in zwei Stufen zur Hälfte reduziert. – Das ist eine
dreifache Relativierung. Man kann überhaupt nicht
quantifizieren, was das bringt.

Drittens. Der Beitragsrabatt für Großbritannien
wird modifiziert. – Heute morgen habe ich Herrn Blair
im Fernsehen gesehen. Er hat sich sehr gefreut und ge-
sagt, kein Penny werde hingegeben. Es ist auch ver-
ständlich, daß sich Herr Blair und Herr Chirac freuen;
denn so einfach haben es die anderen Länder auf Gipfeln
noch nie gehabt. Das ist der Punkt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man darf sich auch nicht wundern, daß andere Länder

ihre Interessen so massiv vertreten, wenn der Bundes-
kanzler zu Beginn sagt: Ich habe zwar die Präsident-
schaft, aber ich habe ein Ziel: Die deutsche Position
muß sich verändern.


(Bundesminister Joseph Fischer: 10 Milliarden!)


Es ist doch klar, daß die anderen dann genau das gleiche
machen. Daß es Herrn Aznar sogar gelingt, eine Erhö-
hung der Mittel für den Kohäsionsfonds zu erreichen,
hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie gedacht, daß das noch
teurer wird.

Im Agrarbereich – so hörte ich heute morgen von
Fachleuten – wurden die Nahrungsmittelbeihilfen nicht
so stark abgesenkt. Da wurde noch etwas draufgelegt,
um Herrn Chirac zufriedenzustellen. Es wird alles nur
teurer. Das heißt, für die Bauern wird es bürokratischer,
und für die deutschen Steuerzahler wird es teurer. Es
gehört schon einiges dazu, das als großen Erfolg zu fei-
ern.

Daß es so gekommen ist, ist ja auch kein Wunder,
wenn man bedenkt, daß der wichtigste Fachminister
während der Verhandlungen über Bord gegangen ist.
Man muß sich das einmal vorstellen: In der entschei-
denden Sitzung des Ecofin-Rats muß der Ersatzmann,
der arme Herr Müller, dem man vorher die Europakom-
petenz weggenommen hat, auftreten und muß sich vor
Leute wie Herrn Strauss-Kahn und andere hinstellen und

deutsche Interessen vertreten. Dabei kann nicht mehr
herauskommen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Insofern ist das Ergebnis äußerst bescheiden.

Aber ich bin fair genug, um zu sagen, angesichts der
Kosovo-Krise, angesichts des Rücktritts der gesamten
EU-Kommission wäre ein völliges Scheitern eine abso-
lute Katastrophe gewesen. Nur, das Ergebnis jetzt schön-
zureden und zu sagen, wir haben uns durchgesetzt ist
nicht richtig. Die Zahlen werden ergeben – da kann ich
nur dem bayerischen Ministerpräsidenten zustimmen –:
Wir werden in der Strukturpolitik, in der Agrarpolitik,
bei der Verrechnung, bei der Finanzarchitektur mehr
zahlen müssen.

Ich finde, die „Süddeutsche Zeitung“ hat recht – sie
steht uns ja nicht immer so nahe –, wenn sie schreibt:
Berlin war eben kein Reformgipfel; es hätten auch
Staatssekretäre beurkunden können, daß Deutschland in
wesentlichen Dingen einfach nachgegeben hat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das beste Ergebnis war die schnelle Nominierung

von Herrn Prodi. Da konnte man auch nicht viel falsch
machen. Es ist interessant, daß Herr Prodi jetzt von
Herrn Schröder gerühmt wird. Mich freut es; denn Herr
Prodi ist ein absolut liberaler Reformer. Er hat interna-
tionale Erfahrung. Er hat im übrigen in Harvard, in Stan-
ford auf der London School of Economics studiert. Das
sind alles liberale Kaderschmieden.


(Beifall bei der F.D.P. – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, Stanford eine liberale Kaderschmiede?] – Ja, natürlich, Herr Schlauch. Herr Schlauch, waren Sie einmal in Stanford? (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Das sind die „schlimmen“ Kaderschmieden, wo die
Marktwirtschaft so hart vertreten wird. Daß dieser Mann
jetzt so gerühmt wird, läßt hoffen. Er hat ja in einer Re-
de in Frankfurt darauf hingewiesen, was er für wichtig
hält, nämlich radikale Privatisierung, Staatsverschlan-
kung, offene und flexible Arbeitsmärkte das heißt, genau
das Gegenteil von dem, was Rotgrün hier in Deutsch-
land macht, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb hoffen wir auf Herrn Prodi. Wir können nur
sagen, Herr Prodi hat auch eine gute Kommission ver-
dient. Deshalb kann es nicht sein, daß Kommissarinnen,
die belastet wurden, erneut antreten wollen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deutschland hat das Anrecht, daß ein frischer Start er-
folgt. Es kann auch nicht so sein, daß in Kürze im soge-
nannten Parteirat der Grünen ausgeklüngelt wird, wer
– ohne jede Europaerfahrung – die Quote für die Frauen
erfüllt. So können wir in Zukunft die Europäische
Kommission nicht mehr besetzen. Das neue Parlament

Dr. Helmut Haussmann






(A) (C)



(B) (D)


wird solchen Nominierungen auch nicht mehr zustim-
men; denn da gilt bereits der Vertrag von Amsterdam.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wir müssen die Krise der

Kommission für einen echten Neubeginn mit wirklich
guten Leuten nutzen. Ich hoffe, daß Deutschland gute
Vorschläge macht, nicht nach dem Parteienproporz. Wir
brauchen eine Stärkung des Europäischen Parla-
ments, das seine Feuertaufe, wenn auch erst im zweiten
Anlauf, bestanden hat. Wir hätten das gleich damals im
Januar machen können. Langfristiges Ziel muß eine
europäische Verfassung sein, für die wir seit langer Zeit
eintreten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403106800
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gerald Thalheim.


Dr. Gerald Thalheim (SPD):
Rede ID: ID1403106900
Sehr geehrte Frau Prä-
sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Einigung über das Gesamtpaket der Agenda 2000 stellt
auch aus der Perspektive der Agrarpolitik einen großen
Erfolg dar. Zumindest kommt man zu der Bewertung,
wenn man sich erstens die Ausgangssituation vergegen-
wärtigt und zweitens an die Tatsachen hält.

Was die Ausgangsposition anbelangt, so ist erstens
festzustellen, daß nach vielen Jahren der Untätigkeit
eine Reform durchgeführt werden mußte, ohne daß mehr
Geld, sondern eher weniger Geld zur Verfügung steht.
Zweitens hat es die alte Bundesregierung versäumt, ge-
rade im Landwirtschaftsbereich strategische Partner für
viele Positionen zu suchen. Im Gegenteil hatten die Mit-
gliedstaaten eher sehr unterschiedliche Positionen.

Das zu der Ausgangssituation. Nun zu den Ergebnis-
sen. Zunächst ist als Erfolg festzuhalten: Die Agraraus-
gaben werden auf 40,5 Milliarden DM beschränkt. Das
erlaubt es, die Nettozahlungen zurückzuführen und die
Osterweiterung voranzutreiben. Daß das nur durch die
Zusage harter Sparmaßnahmen erreicht werden konnte,
steht auf einem anderen Blatt. Eine Möglichkeit stand
jedoch nicht offen, nämlich die der Kofinanzierung der
Agrarausgaben – ein Punkt, der auch heute wieder
mehrfach gefordert wurde.

Die Antwort, die man auf diese Forderung geben
sollte, ist in der „Süddeutschen Zeitung“ vom vergange-
nen Freitag nachzulesen. Dort schreibt Udo Bergdoll:

Wer behauptet, … Frankreich könne zur Akzeptanz
der Kofinanzierung in der Landwirtschaft gezwun-
gen werden, nimmt sich selbst nicht mehr ernst.

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wenn man es dennoch tun wollte, dann das: In der Op-
position ist in der Tat die Gefahr groß, populäre Forde-

rungen zu erheben und sich selbst nicht mehr ernst zu
nehmen.

Wenn für die Landwirtschaft etwas erreicht wurde,
dann die Gewißheit, daß man mit den zugesagten Zahlen
rechnen kann. Die Ausgleichszahlungen bis zum Jahre
2006 sind eine verläßliche Basis für die Landwirtschaft.
Künftig wird von den Brüsseler Geldern mehr bei den
Bauern ankommen und weniger für Lagerhaltung und
Exporterstattungen draufgehen – ein wichtiger Erfolg
der Agenda 2000. Aber die Landwirtschaft muß sich
künftig viel stärker am Markt orientieren. Damit wird
ein Versäumnis der Vergangenheit offengelegt.

Tatsache ist, daß die zunehmende Verflechtung der
Märkte zu einer stärkeren Liberalisierung der Agrar-
märkte führt. Das GATT-Abkommen von 1994 hat
nicht diese Bundesregierung, sondern die Vorgängerre-
gierung beschlossen. Es grenzt an Realitätsverweige-
rung, wenn man so tut, als hätten die Beschlüsse von
damals für die Landwirtschaft heute keine Konsequen-
zen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den letzten
Wochen in Versammlungen von vielen Bauern gehört,
daß sie die Notwendigkeit einer Reform einräumen. Das
wird von Ihnen und den Vertretern der Bauernverbände
natürlich geleugnet.

Tatsache ist auch, daß die Intervention als Instru-
ment der Agrarpolitik ausgedient hat. Gegenwärtig be-
laufen sich die Interventionsbestände bei Rindfleisch auf
mehr als 500 000 Tonnen, bei Getreide auf 19 Millionen
Tonnen, mit der Aussicht, daß letztere bis Ende des
Wirtschaftsjahres auf 20 Millionen Tonnen oder darüber
steigen werden.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Warum denn? Weil die Kommission die Instrumente nicht angewendet hat!)


Wer leugnet, daß es hier Handlungsbedarf gibt, der geht
an der Realität vorbei.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Angesichts dieser Entwicklung brauchen wir eine Men-
genbegrenzung bei der Produktion. Hier ist oft gefragt
worden, welche Erfolge denn unter deutscher Präsident-
schaft erreicht worden sind.


(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Keine!)

Bis zum Jahr 2006 werden 10 Prozent stillgelegt – eine
Forderung, die ich von Dir, Siegfried Hornung, in den
letzten Wochen mehrfach gehört habe. Dies ist ein ein-
deutiger Erfolg der Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch die Milchquotenregelung wird fortgeführt.
Diesbezüglich fällt meine Freude aber schon viel ge-
dämpfter aus. Denn wir wissen, daß sich die Intention
der Milchquotenregelung längst in ihr Gegenteil ver-
kehrt hat: hohe Kostenbelastungen für die aktiven
Milcherzeuger und niedrige Preise. Wenn jetzt erneut
gefordert wird – so zum Beispiel vom bayerischen
Landwirtschaftsminister Miller –, endlich das Altpacht-

Dr. Helmut Haussmann






(B)



(A) (C)



(D)


problem zu klären, kann ich nur fragen: Was hat die alte
Bundesregierung, was hat die Bayerische Staatsregie-
rung in den letzten Jahren getan, um dieses Problem zu
klären?


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie sind am Zug!)


Wir werden das angehen. Allerdings: Die Erblast der
Verrechtlichung – mit 34 Änderungsverordnungen allein
für den Milchbereich – stellt gerade auf diesem Gebiet
eine schwere Hypothek für Veränderungen dar.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie sind im Amt! Ändern Sie es!)


– Sie können sicher sein, das werden wir tun. Dafür sind
wir auch gewählt worden.


(Beifall bei der SPD)

Zu den Tatsachen der Agenda 2000 gehört auch, daß

es im Landwirtschaftsbereich mehr Chancen gibt, als
immer wieder behauptet wird, und die Einkommens-
verluste bei weitem nicht in der Höhe eintreten, wie Sie
hier immer wieder behaupten, wobei Sie Horrorszena-
rien an die Wand malen.

Unter der deutschen Präsidentschaft ist erreicht wor-
den, daß es eine Degression, also die Verringerung der
Ausgleichszahlungen, für größere Betriebe nicht geben
wird.

Ich verstehe die Welt nicht mehr, daß hier gerade von
der PDS die Agrarpolitik kritisiert wurde. Bei der Agen-
da 2000 sind alle die Positionen erfüllt worden, die vor
allen Dingen von Ostdeutschland gefordert wurden, ob
das die betriebsbezogene Degression, der Abbau der
150 000 Hektar prämienberechtigten Flächen oder die
90-Tier-Grenze ist. Ich kann nur sagen, Herr Gysi: Mehr
Unfug zu diesem Thema habe ich von Ihnen in der letz-
ten Zeit hier nicht gehört.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ein Erfolg bei der Agenda 2000 – nach Erfolgen ist

von Ihnen immer gefragt worden – sind die Ergebnisse
im Rindfleischbereich und beim Getreide. Das Ergeb-
nis der Kiechle-Reform von 1992 ist, daß Deutschland
in erheblichem Umfang Prämienrechte beim Rindfleisch
verloren hat. In den Verhandlungen ist es der Bundesre-
gierung gelungen, die Prämienrechte für Deutschland
von 9 auf 14 Prozent zu steigern. Das wird vor allen
Dingen den bayerischen Bauern zugute kommen. Auch
insofern ist nicht zu verstehen, daß die Ergebnisse im-
mer wieder kleingeredet werden.

Das gleiche gilt für die Preisabsenkung um 15 Pro-
zent beim Getreide. Auch hier ist es gelungen, eine Ab-
senkung um 20 Prozent zu verhindern.

Weniger zufrieden sind wir mit dem Ergebnis bei der
Milch, auch wenn es den Forderungen der CDU und des
Bauernverbandes eher entspricht. Wir befürchten, daß es
zu Preisabsenkungen am Markt ohne Ausgleich kommt.


(Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist die Konsequenz!)


Mancher Bauernverbandsfunktionär hat uns hinter
der vorgehaltenen Hand gesagt: Wir nehmen die Erwei-
terung der Quote ganz gerne hin, wenn ihr euch bei den
Ausgleichszahlungen bei der Milch durchsetzt.

Die Bundesregierung wird also in den nächsten Jah-
ren dafür sorgen, daß sich die Belastungen in Grenzen
halten.

Mit Ihrer Kritik bleiben Sie eher Ihrer Entwicklung in
der Vergangenheit treu; denn die Einkommenssicherung
für die Zukunft kann nicht durch Intervention und staat-
lich vorgegebene Preise geschehen, sondern nur durch
ein erfolgreiches Bemühen am Markt. Vor allen Dingen
dort liegen die Versäumnisse der alten Bundesregierung.
Die Vermarktungsstrukturen in Deutschland sind in
Europa, zumindest im Vergleich zu anderen wichtigen
Agrarstaaten, kaum wettbewerbsfähig. Insofern geht
Ihre Kritik an den Beschlüssen der Agenda 2000 ins
Leere.

Wir gehen davon aus, daß die Landwirtschaft in den
nächsten Jahren die Vorteile und Chancen einsehen
wird, die die Beschlüsse der Agenda gebracht haben.
Wir als Bundesregierung werden auch künftig die
Landwirtschaft weiter unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107000
Nächster Redner ist
der Kollge Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1403107100
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Erfolg oder nicht
Erfolg, das ist die Frage in dieser Debatte. Ich glaube,
der bisherige Diskussionsstand hat deutlich gemacht:
Das Ergebnis von Berlin hat bei kritischer und auch bei
vorsichtiger Würdigung schwere Mängel.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun ist in dieser Debatte vom Herrn Außenminister

– der nicht mehr auf der Regierungsbank sitzt –, die Frage
aufgeworfen worden, was denn eine Regierung – –


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da ist er! Sie sollten nicht nur nach rechts gucken, sondern auch geradeaus!)


Es wurde die Frage aufgeworfen, was denn eine Regie-
rung Helmut Kohl in einer solchen Situation erreicht
hätte. Ich stehe hier nicht an zu sagen: Ich weiß nicht,
welches Ergebnis wir in einer solchen Situation erreicht
hätten. Ich weiß aber, daß eine Regierung Helmut Kohl
am Anfang einer deutschen Präsidentschaft Frankreich
und Großbritannien in der Frage der Einhaltung von
Verträgen zur Entsorgung von Brennelementen nicht
verprellt hätte. Ich weiß, daß ein Bundeskanzler Helmut
Kohl in Paris den französischen Staatspräsidenten nicht
dadurch angegangen hätte, daß er ihm sagte, ich will
nicht französischer Bauernpräsident werden. Ich weiß
auch, daß in einer Regierung Helmut Kohl der Finanz-
minister Theo Waigel nicht durch vorzeitige Selbstpen-

Dr. Gerald Thalheim






(A) (C)



(B) (D)


sionierung den Ecofin-Rat und die deutsche Präsident-
schaft ins Schleudern gebracht hätte. Soviel weiß ich,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun hat der Herr Bundeskanzler in seiner ersten Ein-

schätzung im Fernsehen – ich berücksichtige, daß sie
nach einer Nachtsitzung erfolgte und er erschöpft war –
gesagt, dies und jenes sei erreicht worden und man sei
froh, daß man überhaupt etwas geschafft habe. So eine
Grundbewertung muß ja auch zulässig sein. Dann hat er
gesagt, für Deutschland sei aber „kein Lottogewinn“ da-
bei herausgesprungen. Das ist eine lockere Formulie-
rung, die aber vielleicht doch einiges verrät.


(Staatsminister Günter Verheugen: Kein Lottogewinn!)


– Ja eben, den haben wir nicht erreicht. Der Begriff
„Lottogewinn“ ist das Interessante; das möchte ich dem
Zwischenrufer von der Regierungsbank sagen.

Eine solche Präsidentschaft ist eben kein Lotterie-
spiel, bei dem man abwartet, was herauskommt, und
hinterher enttäuscht feststellen muß, daß nichts heraus-
gekommen ist,


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

sondern eine solche Präsidentschaft hat die Aufgabe, die
Reformen, die nötig sind, um die Erweiterung der
Europäischen Union zu ermöglichen und im Prozeß der
Globalisierung klarzukommen, anzupacken.

Unser Urteil, Herr Verheugen, wäre vielleicht nicht
so kritisch ausgefallen, wenn es nur um Mark und Pfen-
nig ginge. Wir haben in diesem Hause schon oft darüber
gesprochen, daß man große und überragende Ziele nicht
immer nur in kleine Münze umrechnen kann. Unser
Vorwurf ist aber – Wolfgang Schäuble hat das in seinem
Debattenbeitrag deutlich gemacht; ich will das hier am
Ende der Debatte noch einmal sagen –, daß die grund-
sätzliche Reform und die mit ihr verbundenen großen
Ziele, also mehr Subsidiarität, mehr Bürgernähe in
Europa, mehr Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung,
nicht so von Ihnen angegangen wurde, daß sie in ihrer
Struktur die nächsten Jahre über trägt. Das haben Sie
nicht geschafft. Deshalb sind die kläglichen finanziellen
Ergebnisse auch Ausdruck der Konzeptionslosigkeit in
der Gesamtanlage.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die anderen fahren strahlend nach Hause. Robin

Cook, der englische Außenminister: Wir haben keinen
Penny unseres Rabattes abgegeben. Die Spanier sagen:
Das Ergebnis ist prima für Spanien. Der Bundeskanzler
hat hier gesagt: Wir wollen doch einmal würdigen, daß
Berlin erfreulicherweise weiterhin in der Phasing-out-
Förderung verbleibt. Ich habe eben in dem englischen
Bericht nachgeschaut. Es ist ja auch eine neue Mode in
Europa, daß selbst dann, wenn wir Deutschen die Präsi-
dentschaft innehaben, die Schlußfolgerungen zuerst in
englischer Sprache erscheinen. Sei es, wie es sei.

Es ist erfreulich, daß Berlin durch die Phasing-out-
Förderung 100 Millionen bekommt; aber Lissabon erhält

durch das Phasing-out 500 Millionen. Es sei den Portu-
giesen und auch Lissabon gegönnt. Aber man muß es ins
Verhältnis setzen.

Besonders interessant in diesem Bericht ist – das ist
in den vorab herausgekommenen Pressemeldungen nicht
deutlich geworden –, daß das ursprüngliche Verspre-
chen, den Kohäsionsfonds wenigstens abzuschmelzen
und ihn auslaufen zu lassen, glatt gebrochen wurde. Der
Kohäsionsfonds wird eher noch aufgebläht. Von einem
Auslaufen ist nicht die Rede. Diese Grundsatzentschei-
dung geht in die völlig falsche Richtung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wenn wir ihn nicht auslaufen lassen, dann werden wir
die zusätzlichen Mittel, die wir für die Osterweiterung
brauchen, nicht schultern können.

Nun hat hier eben der Vertreter des Herrn Landwirt-
schaftsministers zur Landwirtschaft gesprochen. Ich
möchte darauf nur ganz kurz eingehen, weil Gerd Müller
es gleich für unsere Fraktion noch auf den Punkt bringen
wird.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Jawohl.

Was hier mit der Landwirtschaft geschieht, ist mehr
als bedenklich. Schauen wir uns nur einmal die Situation
eines normalen Hofes, eines kleinen Betriebes mit
40 Milchkühen und 47 Hektar landwirtschaftlicher Flä-
che an. Gewinn im Wirtschaftsjahr 1997/98: 45 000
DM. Gewinn am Ende der Reform im Jahr 2006: ab-
züglich der Agenda-Lasten 35 000 DM, abzüglich wei-
terer 2 000 DM wegen der Senkung der Vorsteuerpau-
schalierung und abzüglich 1 500 DM Ökosteuer – die
mögliche Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung
der Unfallversicherung lassen wir einmal weg –: etwa
31 000 DM. Und da sagen Sie, Sie hätten für die Land-
wirtschaft etwas herausgeholt! Diese Aussage liegt auf
der Grenze zwischen Zynismus und Unkenntnis.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist es, was uns so beschwert. Wenn es im Bereich

der Landwirtschaft gelungen wäre, den zentralen Pro-
blemen, etwa daß wir eine Überproduktion haben, so zu
begegnen, daß sie gelöst und gleichzeitig die Einkom-
men der Landwirtschaft gesichert werden können,
könnte man darüber reden. Aber was macht man? Man
senkt den Preis, schafft einen Teilausgleich, zwingt die
Landwirtschaft, die Produktivität eher noch zu erhöhen
und dafür zu sorgen, daß die Einkommensverluste hier
ausgeglichen werden, und drückt kleine und mittlere
Betriebe langsam, aber sicher über die Kante. Der Bun-
deskanzler nannte den Agrarkompromiß heute morgen
eine „auskömmliche Lösung“. Ich finde diesen Begriff
fehl am Platze, wenn man sich die Zahlen ganz genau
anschaut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wir haben für die heutige Debatte einen Entschlie-
ßungsantrag eingebracht, über den wir auch gerne ab-
stimmen würden. Aber die Mehrheit im Hause verwei-

Peter Hintze






(B)



(A) (C)



(D)


gert uns die Abstimmung. Deswegen wird er an den
Ausschuß überwiesen. Ich schlage aber hier vor, daß wir
uns, wenn die Dokumente dieses Gipfels und die Ein-
zelheiten vorliegen – einige Details habe ich Ihnen eben
aus der englischen Fassung vorgetragen –, im Plenum
des Deutschen Bundestages noch einmal Zeit nehmen


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Ja!)

– Sie von der SPD nicken, das freut mich –, die Dinge
ganz gründlich zu besprechen und bei dieser Debatte
auch zu überlegen, wie wir in Deutschland durch mög-
liche innerstaatliche Maßnahmen, etwa im Bereich der
Landwirtschaft, die gröbsten Härten für die Menschen
abwenden können, die nach dem jetzigen politischen
Stand der Dinge die Agenda 2000 durch massive Ein-
kommensverluste bezahlen sollen. Die Agenda 2000 ist
weiß Gott kein großer Wurf. Sie greift wesentlich zu
kurz. Es kommt darauf an, daß wir mit unseren inner-
staatlichen Möglichkeiten das zum Besseren korrigieren,
was dieser Regierung auf europäischer Ebene nicht
gelungen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107200
Es spricht jetzt der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen.

G
Günter Verheugen (SPD):
Rede ID: ID1403107300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich mache einmal einen Vorschlag zur
Güte: Ich glaube, daß die etwas aufgeregten Reaktionen
des bayerischen Ministerpräsidenten – der hier, wie auch
bei der letzten Unterrichtung der Ministerpräsidenten
durch den Bundeskanzler, nicht mehr anwesend ist –
und der Kollegen Haussmann und Hintze zurückgestellt
werden sollten, bis wir die tatsächlichen Zahlen haben.
Es hat doch gar keinen Zweck, jetzt ein Ergebnis zu be-
urteilen, dessen Einzelheiten niemand hier bewerten
kann, weil sie nicht vorliegen. Herr Hintze, machen Sie
bitte den Übersetzern keinen Vorwurf dafür, daß Sie,
wenn morgens um viertel nach sechs die Verhandlun-
gen abgeschlossen sind, mittags keine deutsche Fassung
haben können. Wir sind froh, daß wir um sieben Uhr
eine englische Fassung hatten. Das sollten Sie bitte ver-
stehen.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wichtig ist, daß Sie wissen, was drinsteht! Aber das wissen Sie ja gar nicht!)


Hier einen billigen Punkt zu Lasten von Mitarbeitern zu
machen, die 58 Stunden ununterbrochen zu arbeiten
hatten, finde ich schäbig, Herr Hintze.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Das ist so; das müssen Sie sich schon gefallen lassen.
Zum anderen müssen Sie sich endlich einmal ent-

scheiden, was Sie nun eigentlich für Ihre Argumentation
als Maßstab nehmen wollen. Beim letzten Mal hat uns
Herr Schäuble hier vorgetragen, was für eine grauen-
hafte Vorlage diese Agenda 2000 – eine Vorlage der
Kommission, was Sie nicht vergessen dürfen – eigent-

lich sei. Da stimme ich zu; sie war wirklich grauenhaft.
Wenn Sie aber nun anfangen zu vergleichen, dann müs-
sen Sie das Ergebnis des heutigen Tages mit der
ursprünglichen Vorlage vergleichen. Sie, Herr Hintze,
der Sie nun, glaube ich, der europapolitische Sprecher
Ihrer Fraktion sind, sollten inzwischen wissen, daß wir
eine Agenda, die auf einem Vorschlag der Kommission
beruht, nicht einfach mit neuen Vorschlägen und neuen
Themen befrachten können. Sie haben hier eine Reihe
von Forderungen aufgestellt, was wir hätten tun sollen.
Das war aber nicht das Thema dieser Agenda.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hätten Sie doch das Kappungsmodell übernommen!)


Das war nicht der Vorschlag der Kommission. Das ist
das Thema für den nächsten Gipfel. Dazu sage ich
gleich noch etwas.

Nun will ich einmal etwas zu den Zahlen sagen. Das
sind jetzt bereits verbindliche Zahlen; ich kann Ihnen
sagen, daß sie stimmen. Die Kommission hatte vorge-
schlagen, für Struktur- und Kohäsionsfonds in der
vollen Periode 239 Milliarden Euro auszugeben. Wir
sind bei 213 Milliarden Euro gelandet. Ich finde,
26 Milliarden Euro weniger als vorgeschlagen sind ein
schönes Ergebnis.


(Beifall bei der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Kommt drauf an, wer sie bezahlt!)


Wenn wir das hätten bezahlen müssen, was in der finan-
ziellen Vorausschau vorgesehen war, dann würden unse-
re Nettobeiträge ganz anders aussehen.

Dasselbe ist bei der Landwirtschaftspolitik der Fall.
Nach dem Vorschlag der Kommission waren als
Grundlage der Agenda 2000 – Herr Schäuble hat uns das
letztes Mal vorgehalten, als sei es unsere Grundlage ge-
wesen – 313 Milliarden Euro für die Agrarpolitik in der
ganzen Periode vorgesehen. Aus den Verhandlungen
herausgekommen sind wir mit 283,5 Milliarden Euro.
Das ist wiederum eine Ersparnis von knapp 30 Milliar-
den Euro. Damit sind wir zusammen bereits bei fast
60 Milliarden Euro. Wenn das für Sie Peanuts sind –
bitte schön. Bei einem Volumen von 1,3 Billionen Euro
mögen 60 Milliarden Euro keine große Rolle spielen.
Für mich spielt es aber eine große Rolle, ob wir in den
nächsten sieben Jahren 60 Milliarden Euro zusätzlich
finanzieren müssen oder nicht.


(Beifall bei der SPD)

Ich denke, Sie sollten einmal abwarten, wie das tat-

sächliche Ergebnis aussieht. Warten Sie bitte auch ein-
mal ab, wie die Verordnungen aussehen, die bekanntlich
noch durch das Parlament müssen. Die Agenda 2000 in
der Berliner Fassung ist eine politische Einigung. Hier
werden zum Teil bereits Details verlangt, oder es wird
schon über Details geredet, die überhaupt noch nicht in
Verordnungstexten formuliert sind.

Ich möchte noch einmal auf ein sehr ernstes Thema
zurückkommen, das in mehreren Reden angesprochen
wurde, damit das wirklich einmal aus der Welt ist. Es
geht um die angeblich aus der Hand gegebenen Ver-

Peter Hintze






(A) (C)



(B) (D)


handlungsinstrumente; als Beispiel wurde immer die
Kofinanzierung genannt. Das ist wirklich ein sehr ern-
stes Thema. Ich habe gar keinen Zweifel daran, daß die
Kofinanzierung genau die positiven Elemente hat, die
Sie alle beschrieben haben. Sie ist das für uns genau
maßgeschneiderte Instrument; daran besteht gar kein
Zweifel. Darum haben wir es, zusammen mit einer Rei-
he von anderen Instrumenten, auch in die Verhandlun-
gen eingeführt. Aber fragen Sie, Herr Kollege Hintze,
doch einmal die Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer
Fraktion, die schon Mitglied einer Regierung waren
– Herr Schäuble, der einmal Chef des Kanzleramtes war,
weiß es ganz genau –: An einem bestimmten Punkt wis-
sen Sie, was mit einem wichtigen Partner – in diesem
Fall dem wichtigsten, nämlich Frankreich – geht und
was mit ihm nicht geht. Es gab, wie Sie wissen, eine
wirkliche Störung im deutsch-französischen Verhältnis.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben das verursacht!)


– Ich werde Ihnen sagen, wodurch sie ausgelöst worden
war.


(Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

– Schreien Sie doch nicht dazwischen. Hier geht es
wirklich um ein sehr ernstes Thema. – Sie war dadurch
ausgelöst worden, daß unsere französischen Partner
nicht verstanden haben, warum wir das Thema Kofinan-
zierung auf der Tagesordnung der Agendaverhandlun-
gen gelassen haben, obwohl Frankreich ganz klar gesagt
hatte: Wir machen das unter keinen Umständen mit. –
Ich muß Ihnen wirklich sagen: Das war der späteste
Zeitpunkt, das Thema fallenzulassen. Frankreich hat
selbstverständlich erwartet, daß der engste Partner in
dem Augenblick, in dem er weiß, daß Frankreich etwas
als eine Zumutung betrachtet, die es nicht akzeptieren
wird, dieses Thema nicht weiter verfolgt. Wenn wir
Ihrem Rat gefolgt wären, wäre das deutsch-
französische Verhältnis jetzt in Trümmern. Das müs-
sen Sie ganz deutlich sehen. Das konnte man nicht
riskieren.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Wenn Sie also Kritik üben wollen, daß ein ganz be-
stimmtes Instrument nicht angewandt werden kann,
melden Sie diese Kritik bitte in Paris bei Herrn Präsident
Chirac an, der ja seine Gründe hat, warum er das nicht
wollte.

Bei den anderen Punkten ist es genauso. Sie tun gera-
dezu so, als lägen hier die Elemente auf dem Tisch, und
Deutschland bräuchte nur noch zuzugreifen: Wir neh-
men dieses Element, wir nehmen jenes Element; dann
setzen wir das zusammen, und alle anderen haben dann
gefälligst zu parieren – als ginge es in Europa immer nur
nach der Mütze eines einzigen Landes! Sie müssen eine
Lösung finden, der 15 Staaten zustimmen können, nicht
nur einer. All diese wunderschönen Elemente – wir
kennen sie und hatten sie immer im Blick – haben leider
einen schwerwiegenden Nachteil: Über kein einziges
dieser Instrumente konnte mit allen 15 EU-Staaten eine
Einigung erreicht werden.

Was macht man in einem solchen Fall, angesichts
einer Lage, die wir in Europa noch nie hatten: eine
zurückgetretene EU-Kommission,


(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Eine Amateurmannschaft aus Bonn!)


eine Kosovo-Krise auf dem Höhepunkt

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein zurückgetrete ner Finanzminister!)

und das schwierigste und umfangreichste Finanzpaket in
der Geschichte der Europäischen Union auf der Tages-
ordnung? Gemäß Ihrem Rat hätten wir den Gipfel nach
einigen Stunden abbrechen und sagen sollen: Leider
können die deutschen Vorstellungen hier nicht durch-
gesetzt werden, lassen wir es also sein! –


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Keiner von uns hat gesagt, daß Sie ihn abbrechen sollen!)


Herr Hintze, das ist doch eine lächerliche Vorstellung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

In einer solchen Situation steht man immer vor der

Frage: Ist es dieses eine Element wert, daß in Europa ein
völlig falsches Signal gesetzt wird, daß der Einigungs-
prozeß zum Stehen kommt, daß vielleicht sogar ein
Rückschritt erfolgt? Sie würden dann genau wie ich im-
mer sagen: Nein, der Prozeß der europäischen Einigung
ist wichtiger als ein einzelnes Element. So haben wir uns
verhalten; das war auch richtig so.

Ich will Ihnen noch etwas sagen: Eine Reihe von
Außenministern und Regierungschefs in Europa haben
im vergangenen Jahr, vor der Bundestagswahl, wissen
lassen, warum sie wollen, daß die Agenda 2000 unter
deutscher Präsidentschaft behandelt wird. Die Agenda
war alt genug; man hätte sie bereits im vergangenen Jahr
abschließen können. Es war aber gewollt, daß dies unter
deutscher Präsidentschaft geschieht. Was glauben Sie,
warum? Dafür gibt es einen sehr einfachen Grund; dar-
auf kann jeder leicht kommen. Der Grund war der Ge-
danke, daß Deutschland im Rahmen seiner Präsident-
schaft in dem Zwang, einen Kompromiß anzubieten, am
Ende auch bereit sein würde, diesen Kompromiß zu
bezahlen.

Darum war es notwendig, zu Beginn der Präsident-
schaft deutlich zu machen, daß es für uns eine Grenze
gibt. Diese Grenze wurde klar beschrieben: Neben der
Stabilisierung und der Beachtung der Haushaltsdisziplin
mußte erreicht werden, daß bezüglich der Lastenvertei-
lung innerhalb der EU Gerechtigkeit eintritt.

Was ist in dieser Hinsicht gelungen? Italien konnte
durch die Umstellung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel
auf Bruttosozialprodukt-Eigenmittel 50 Prozent abge-
nommen werden, wenn auch in einer etwas verklausu-
lierten Form.


(Zuruf von der F.D.P.: Etwas? Sehr!)

– Es war eine diplomatische Veranstaltung. Sie müssen
schon erlauben, daß man Formulierungen wählt, die es
einem befreundeten Regierungschef erlauben, damit in
seinem Land vor das Parlament zu treten.

Staatsminister Günter Verheugen






(B)



(A) (C)



(D)


Zur Frage des Rabatts für Großbritannien hat der
Bundeskanzler gesagt, daß Modifikationen vereinbart
wurden. Das heißt auf deutsch: Der Rabatt wird anders
aufgebracht und nach anderen Maßstäben berechnet, und
zwar nicht zugunsten Großbritanniens, sondern zu unse-
ren Gunsten.

Das ist ein Einstieg in die Veränderung dieses
Systems; dies hat es bisher nicht gegeben. – Herr Hintze,
das ist eine ganze Menge, viel mehr, als man erwarten
konnte, auf diesem Gipfel zu erreichen.

Wenn ich unter all das einen Strich ziehe, dann
komme ich zu dem Ergebnis:


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Desaster!)

Dieser Gipfel ist, verglichen mit vielen anderen in den
zurückliegenden Jahren, der wahrscheinlich erfolgreich-
ste Gipfel in der Geschichte deutscher EU-Präsi-
dentschaften gewesen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107400
Jetzt spricht der
Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1403107500
Herr Staatsminister
Verheugen, nach einem solchen Gipfel leidet man offen-
sichtlich ein wenig an Wahrnehmungsstörungen. Man
erkennt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht.


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich habe mir schon lange Zeit, in den letzten Monaten

im Ausschuß und auch heute, da wir die Ergebnisse die-
ses Gipfels diskutieren, immer wieder die Frage gestellt:
Warum ist das Ergebnis so schlecht, so katastrophal?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei der SPD – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daß Sie an Wahrnehmungsstörungen leiden, ist offensichtlich!)


Herr Staatsminister Verheugen, Sie haben mit Ihrer
Rede gerade ein Beispiel für Arroganz, Selbstgefällig-
keit und Überheblichkeit in bezug auf das Auftreten der
Regierung zu Hause und im Ausland gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Wenn ich an Herrn Trittin denke, dann möchte ich hin-
zufügen, daß das Auftreten der Regierung ein Beispiel
für Unverschämtheit war. Im Stil, wie Sie Politik betrei-
ben, liegen die Ursachen und die wahren Gründe, für das
vorliegende Ergebnis. Diplomatie ist das nicht. Minister
Fischer würde sagen: Avanti, dilettanti!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe eine Redezeit von nur wenigen Minuten.


(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Was mir
bei dieser Zahlenspielerei von heute gefehlt hat, ist die

Gestaltungsidee. Unser Fraktionsvorsitzender hat danach
gefragt. Sie reduzieren Europa auf Prämien. Sie machen
aus Europa einen Kuhhandel. Sie haben keine Idee zur
Gestaltung Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon einmal etwas von der Osterweiterung gehört, oder geht das über Ihren bayerischen Horizont?)


Ich komme zu einem weiteren Aspekt. Diese Reform
hat verheerende Auswirkungen auf die deutsche Land-
wirtschaft. Gerhard Schröder und Minister Funke haben
die deutschen Bauern betrogen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Blanker Lobbyismus!)


Sie ruinieren das Land. Dies ist ein Generalangriff auf
die deutsche Landwirtschaft und auf den ländlichen
Raum.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Ergebnisse dieser Reform möchte ich Ihnen ver-

deutlichen. Es ist der pure Zynismus! Wissen Sie über-
haupt, was 1 Doppelzentner Weizen heute noch kostet?
Ganze 14 DM.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist durch die Regierung Kohl entstanden, nicht durch uns!)


A
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107600
Es ist ein großer Erfolg, wenn wir die-
se 14 DM für 1 Doppelzentner Weizen – das ist ein
geringerer Preis als der, den man heute für Müll bezah-
len muß – noch einmal um 20 Prozent reduzieren. – Das
ist die Perspektive, die Sie unseren Bauern eröffnen.
Deshalb sagen wir zum Agrarteil der Agenda 2000 ganz
klar nein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich komme zu meinem letzten Gedanken. Sie spre-

chen immer wieder von der Kofinanzierung. Minister
Fischer sagte: Das ist eine Kriegserklärung an Frank-
reich. Ich sehe Theo Waigel hier sitzen. Was waren die
Milchquote und die Kofinanzierung für historische
Themen! All dies konnten Sie nicht durchsetzen, weil
das in Frankreich, wie Sie sagten, historische Themen
von national-dramatischem Rang sind. Ich frage Sie:
Warum hat Theo Waigel es geschafft,


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil er besser ist!)

den europäischen Stabilitätspakt durchzusetzen und die
Einführung des Euro zu verwirklichen, die Europäische
Zentralbank nach Frankfurt zu holen und Wim Duisen-
berg zum Präsidenten zu machen? Weil er besser ver-
handelt hat und weil wir eine bessere Regierung hatten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Da lacht sogar Herr Stoiber!)


Staatsminister Günter Verheugen






(A) (C)



(B) (D)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107700
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1403107800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme
zu dem ernsteren Thema zurück. Wir haben hier gestern
und heute Worte leidenschaftlicher Empörung und der
Anklage von Herrn Gysi für seine Fraktion


(Zuruf von der CDU/CSU: Scheinheilig!)

und von meinem Freund Ströbele für einige unserer
Fraktionskolleginnen gehört. Wir haben aber auch eine
Rhetorik gehört, die manche Zusammenhänge auf den
Kopf gestellt hat.

Ich glaube, niemand hier in diesem Hause ist sich
nicht der Tragweite bewußt, die die erste deutsche
Beteiligung an Kampfeinsätzen der NATO hat. Wir
haben den Rubikon überschritten. Auch ich habe meine
Hand bei der Zustimmung zu diesem Einsatz gehoben.

Deshalb darf ich darauf hinweisen, was mich am
Morgen des 24. März dieses Jahres – wissend, daß die
Flugzeuge und die Raketen geflogen waren – bewegt
hat: Ich habe – Historiker, der ich nun einmal bin – an
den August 1914 gedacht, an patriotisch begeisterte
Menschen, die ihre soldatischen Angehörigen zu den
Zügen an die Front begleiteten, an eine patriotische Be-
geisterung, die später in den Schützengräben von Ver-
dun erstarb. Ich denke, jeder hier hat Remarque gelesen,
und jeder teilt das Gelöbnis: Nie wieder Krieg!


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ich habe aber auch an den August 1939 gedacht, als
Hitler eine Panzereinheit durch Berlin rollen ließ, um die
Stimmung der Bevölkerung zu testen. Diese stand
stumm und erschrocken am Straßenrand, so wie heute in
Belgrad Menschen am Straßenrand stehen und nicht be-
greifen können, was da mit ihnen geschieht. Und sie
wurden doch – ich spreche jetzt von der Berliner Bevöl-
kerung – in die Verbrechen verwickelt, die Namen tra-
gen wie Auschwitz, Treblinka, aber auch Oradour,
Lidice, Marzobotto und Kragujevac – eben jenes Kra-
gujevac in jenem Serbien, dessen Bevölkerung jetzt von
dem Regime Milosevic in seine Verbrechen verwickelt
wird. Deshalb muß man den nach Europa zurückge-
kehrten ethnischen Mord auch so benennen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Herr Kollege Gysi hat uns gestern den Vorwurf
gemacht, daß wir vieles ausblenden, aber er selber hat
auch Namen wie Omarska, wie Srebrenica, wie Racak
ausgeblendet. Man darf auch nicht die Reihe der gebro-
chenen Verträge ausblenden. Es handelt sich allein um
17 oder 18 Waffenstillstandsverträge, mit denen die in-
ternationale Gemeinschaft in Bosnien das Morden zu
stoppen versuchte. Auf das Kosovo bezogen: Man darf
nicht vergessen, daß die Jelzin/Milosevic-Vereinbarung
schon nach einer Woche gebrochen wurde. Man darf
nicht verschweigen, daß das Holbrooke/Milosevic-
Abkommen vom Oktober nach kurzer Zeit ebenfalls ge-

brochen wurde, und man darf nicht diesen letzten euro-
päischen Versuch einer politischen Lösung vergessen,
die mit den Stichworten Rambouillet und Paris bezeich-
net wird. Man darf auch nicht das kühle Kalkül eines
Regimes vergessen, mit dem das Ende der Pariser Ge-
spräche als Beginn eines erneuten Angriffs auf die
Kosovo-albanische Bevölkerung angesetzt wurde. Die-
ses Regime hat natürlich mit dem russisch-ameri-
kanischen Gipfel in der folgenden Woche und mit dem
europäischen Gipfel kalkuliert, weil man meinte, eine
Woche Zeit zu haben, in der man dann die Situation zu
„bereinigen“ dachte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wenn der Kollege Gysi gestern – das hat er heute
wieder getan – die Zerstörung einer mühsam errichteten
Weltfriedensordnung beklagt, möchte ich ihm entgeg-
nen: Ja, auch wir beklagen das. Aber es gilt doch: Mord
zerstört jede Friedensordnung, ob im kleinen oder im
großen. Massenmord beschädigt jeden Versuch einer
Weltfriedensordnung. Wir stimmen mit dem Kollegin
Gysi darin überein, daß wir nicht die Rolle eines Welt-
polizisten, weder für uns noch für die NATO, anstreben.
Aber sollte man, wenn man das Morden überall in der
Welt nicht verhindern kann, es nicht dort zu verhindern
versuchen, wo man es kann, nämlich in der Mitte Euro-
pas?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich habe sehr genau zugehört, als der Kollege Gysi,
der ja ein vorzüglicher Jurist ist,


(Zuruf von der CDU/CSU: Na!)

auf internationale Rechtsexperten Bezug genommen hat,
und mir ist klar geworden: Diese Definitionen erfolgten
immer auf der Grundlage zwischenstaatlichen Rechts.
Was aber geschieht bei innerstaatlichen „ethnischen
Säuberungen“?


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja!)

Das Regime begeht ja Morde am ethnisch andersartigen,
aber staatsrechtlich eigenen Volk. Das ist das Problem.
Ich möchte den Kollegen Gysi gern fragen, ob er denn
glaubt, daß eine wirkliche Weltfriedensordnung, die wir
ja alle erst entwickeln müssen, innerstaatlichen Völ-
kermord übersehen kann. Ich glaube, sie kann es nicht,
meine Freunde glauben es auch nicht. Deshalb trägt die
Mehrheit meiner Fraktion diesen Einsatz mit, auch wenn
wir beschimpft werden mit den Worten, daß das ein
erstmaliger deutscher Kriegseinsatz sei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403107900
Es spricht jetzt der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es






(B)



(A) (C)



(D)


ist richtig, daß wir im Zusammenhang mit Europa auch
über das Kosovo reden. Denn was wir in Europa, zu-
nächst in seinem westlichen Teil, als ein einzigartiges
Modell an Zivilisation und Friedenssicherung durch In-
tegration zu schätzen gelernt haben, ist ja Ergebnis
schwerer Prüfungen. Manches für die Zukunft erwächst
offenbar nur aus solchen schweren Prüfungen.

Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß wir
den Idealen der europäischen Aufklärung, des europäi-
schen Humanismus ins Gesicht schlagen würden, wenn
wir nach der Methode verfahren würden, die uns gestern
anempfohlen wurde. Diese Methode lautet: Wenn zehn
Menschen zu ertrinken drohen und ich nur einen retten
kann, lasse ich es lieber ganz bleiben; dann sind jeden-
falls alle gleichbehandelt. – Diese zynische Argumenta-
tion nimmt nicht zur Kenntnis, daß man einerseits für
Menschenrechte, für Freiheit und für Demokratie mit
einem durchaus weltweiten, nämlich universellen An-
spruch eintritt und andererseits weiß, welche begrenzten
Handlungsmöglichkeiten man hat, gerade militärisch.
Wer aus diesem Dilemma den Schluß zieht, seine Ver-
antwortung überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, seine
Handlungsmöglichkeiten überhaupt nicht mehr einzu-
setzen, der handelt, Herr Kollege Gysi, in meinen Augen
völlig verantwortungslos.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich weiß nicht, wie es anderen Mitgliedern in diesem
Hause geht, aber ich erinnere mich sehr gut an Erfah-
rungen, die im Jahre 1968 begonnen haben. Das ist übri-
gens ein Umstand, den Sie gestern wohlweislich ver-
schwiegen haben: diese eigenartige Form des sozialisti-
schen Internationalismus, die es da gegeben hat.


(Zuruf von der PDS: Auf der Schiene bewegen Sie sich!)


Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wenn man sich
an das Gefühl der Ohnmacht bei der Besetzung der
Tschechoslowakei, an das Gefühl der Ohnmacht bei der
Unterdrückung der Charta 77, an das Gefühl der Ohn-
macht bei der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen
erinnert und das mit seinen ganz persönlichen Erinne-
rungen verknüpft – ich jedenfalls tue das –, muß man
sagen: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist
für meine Begriffe das Gefühl des Skrupels und der Be-
sorgnis angesichts der Handlungszwänge, in denen wir
stehen, wesentlich besser zu tragen als dieses Gefühl der
völlig hilflosen und wirklich verfluchten Ohnmacht, den
Menschen nicht helfen zu können, denen die ganze
Sympathie und die ganze politische Unterstützung galt.

Daß wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in
Europa in der Lage sind, unsere Werte und unsere Ideale
nicht nur zu reklamieren, sondern mehr für sie zu tun als
in den Zeiten davor, finde ich, ist auch ein Teil der Ver-
antwortung, die mit dem Kosovo verbunden ist. Deshalb
sage ich, daß angesichts der Realitäten, die sich dort
entwickelt haben, angesichts des monatelangen Bemü-
hens um eine politisch vereinbarte Verhandlungslösung
und angesichts der grauenhaften Umstände, die dort
mittlerweile herrschen, auch das problembeladene Tun

immer noch besser ist als jedes Nichtstun. Dieses
Nichtstun, daß ist der Winkel, in den sich nur die Men-
schen zurückziehen können, die am Ende aus ihrem Ge-
fühl für Menschen keine praktischen Konsequenzen
mehr zu ziehen bereit sind.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da droht das humane Ideal zur Phrase zu verkommen.
Die jugoslawische Armee hat im Kosovo – entge-

gen allen internationalen Vereinbarungen – mittler-
weile 40 000 Soldaten zusammengezogen. Sie hat über
300 Panzer, über 700 Gefechtsfahrzeuge und über
700 Artilleriegeschütze im Kosovo zusammengezogen.
Warum?


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn es wirklich darum ginge, im Kosovo Terrorismus
zu bekämpfen – wie das reklamiert wird –, wenn es
wirklich darum ginge, nur die staatliche Integrität Jugo-
slawiens zu sichern, dann hätte die Regierung Milosevic
in allen europäischen Staaten einen Partner. Es geht ihr
aber um etwas anderes.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sollten wir das alles – die großserbische Obsession,
die gegen Slowenien, in der Krajina und in Bosnien-
Herzegowina vorging, die immer wieder Menschen das
Leben gekostet hat und unschuldige, nur nach Unabhän-
gigkeit oder wenigstens Autonomie strebende Bevölke-
rungsgruppen mit Mord und mit Krieg überzogen hat –
vergessen? Sollen wir wirklich alle diese Erfahrungen
vergessen? Sollen wir die hilflose Situation der Solda-
ten, die im Auftrag der Vereinten Nationen vor Ort wa-
ren, angekettet waren und am Ende bei dem Massaker in
Srebrenica zuschauen mußten, vergessen? Sollen wir das
alles vergessen?

Wir müssen heute mit einem Völkerrecht umgehen,
das ich nicht gering schätzen will. Ich weiß, welchen
Mißverständnissen man sich aussetzt, wenn man das in
diesem Zusammenhang diskutiert. Diesen Punkt habe
ich schon am 16. Oktober des letzten Jahres im Deut-
schen Bundestag einmal angeschnitten. Aber ist es
wirklich zu rechtfertigen, an den Weltsicherheitsrat
gebunden zu sein, wenn sich dort drei von fünfzehn Na-
tionen – Rußland, China und Namibia – gegen das Vor-
gehen der NATO und der westlichen Staatengemein-
schaft ausgesprochen haben und von den zwölf anderen
zwei mindestens Verständnis und die übrigen Unterstüt-
zung bekundet haben? Können wir es uns auf Dauer lei-
sten, daß die Weltgemeinschaft mit dem aus der Rolle
der Atommächte begründeten Vetorecht lebt und daß
damit die Durchsetzung von Recht aus Gründen, wie sie
zum Beispiel die Volksrepublik China hatte, verhindert
wird – die Souveränität Mazedoniens und seine Politik
mißachtend, das UNPREDEP-Mandat beendend, den
Staat einem großen Risiko aussetzend usw.? Ist es zu
rechtfertigen, daß eine solch große Macht wie China

Bundesminister Rudolf Scharping






(A) (C)



(B) (D)


wegen ihrer Belange – oder was sie dafür hält – in Tibet
glaubt, sie müsse auf der ganzen Welt ethnisch begrün-
deten Völkermord einfach deshalb akzeptieren, weil er
in innerstaatlichen Grenzen stattfindet?

Was im Kosovo geschieht, ist eine Prüfung. Zunächst
ist es für die Menschen eine fürchterliche, eine schreck-
liche, eine unmenschliche Prüfung. Es ist aber auch eine
Prüfung für uns, für unser politisches Gewissen, für un-
sere Fähigkeit, aus beanspruchter Moral praktische Kon-
sequenzen zu ziehen, und auch für unsere Fähigkeit, die
Grenzen militärischer Handlungsmöglichkeiten sehr ge-
nau zu kennen. Es wäre auch gegenüber den eingesetz-
ten Soldaten ganz und gar unverantwortlich, zu glauben,
daß Frieden schon aus der Beendigung von Mord und
Gewalt entstünde. Das ist der erste Schritt auf einem
langen Weg. Europa hat aber neben dem, was wir alle
gemeinsam tun, um das Morden zu beenden, noch eine
andere Verpflichtung, nämlich die ökonomischen, die
sozialen und die kulturellen Grundlagen für einen Frie-
densprozeß auf dem Balkan zu schaffen – genau so,
wie wir es im Westen Europas nach den verheerenden
Erfahrungen von Faschismus und Zweitem Weltkrieg
begonnen haben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich füge hinzu: Man muß in der Geschichte Deutsch-
lands schon sehr weit zurückdenken, um einen Punkt zu
finden, an dem Deutschland in den Jahrhunderten vor
dem Entstehen der Bundesrepublik einmal in Einklang
mit der westlichen Zivilisation und in Einklang mit den
humanistischen und demokratischen Idealen gehandelt
hätte. Das tun wir seit 1949, seit der Verabschiedung des
Grundgesetzes, das bald 50 Jahre alt sein wird. Was für
einen Sinn sollte es machen, diese freiheitliche Ver-
fassung als stabiles Fundament von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu preisen, wenn wir den Anspruch
aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes, die Würde
des Menschen zu schützen, auf uns selbst – und hier bei
uns möglicherweise auf die Inhaber eines deutschen
Passes – beschränken wollten? Das war nicht das Ideal
der Mütter und Väter unserer Verfassung.

Deshalb sage ich: Es darf unbeschadet aller militäri-
scher Maßnahmen und der notwendigen Diskussion über
die damit zusammenhängenden Einzelheiten sowie der
Skrupel, die hoffentlich immer mit militärischen Maß-
nahmen verbunden sind, auch kein Zweifel daran be-
stehen, daß wir aus unseren eigenen Erfahrungen Kon-
sequenzen ziehen, zwar mit Standfestigkeit und mit
Klarheit, und uns nicht von dem Weg abbringen lassen,
der für Deutschland in Europa Aussöhnung, Freund-
schaft, Frieden und Wohlstand gebracht hat. Wenn man
das alles genießen will, dann hat man auch die ver-
dammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen seiner
Handlungsmöglichkeiten wenigstens denen in der un-
mittelbaren Nachbarschaft zu helfen, wenn man es
schon weltweit nicht kann.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zu den
Detaildiskussionen der letzten Tage sagen, die mich er-

staunt haben. Die Menschen, die jetzt als Soldaten im
Kosovo eingesetzt werden, brauchen zweierlei: Sie
brauchen eine eigene innere Überzeugung, um dem, was
sie dort tun, Sinn zu geben. Das ist Gott sei Dank so. Es
ist ein großes Glück für die Bundesrepublik Deutsch-
land, daß sie zum erstenmal eine Armee hat, die demo-
kratisch und gesellschaftlich fest verankert ist.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P)


Aber unsere Soldaten und ihre Familien brauchen noch
etwas anderes, nämlich Rückhalt im Parlament und in
der Öffentlichkeit. Dieser Rückhalt könnte durch De-
batten geschmälert werden, die dafür nicht gut sind, die
allenfalls gut für die eine oder andere Schlagzeile oder
die eine oder andere kurzatmige Nachricht sind.

Ich muß den Kollegen von der CDU/CSU sagen: Ich
war erschrocken, als mein Vorgänger


(Zurufe von der CDU/CSU: Na! Na!)

am vergangenen Freitag ein Interview gab,


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Er hat drei Interviews gegeben!)


das am darauffolgenden Samstag, Herr Kollege Breuer,
erschien, genau an dem Tag, als der Abzug der OSZE-
Beobachter aus dem Kosovo begann – der Abzug
wurde wegen der Gefahren notwendig; die Menschen
schwebten in einer immer größer werdenden Gefahr; sie
wurden beispielsweise beschossen –, und darin über den
Abzug der Soldaten redete, die zum Schutz der OSZE-
Beobachter dort sind


(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das hat er nicht gesagt!)


– ich beziehe mich auf das Interview in den „Lübecker
Nachrichten“; ich habe es bei mir –, also zu einem Zeit-
punkt, als der Abzug der Beobachter noch nicht einmal
begonnen hatte, geschweige denn abgeschlossen war.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)

Das kann man nicht machen. Das ist nicht verantwort-
bar.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Wir müssen auch keine Diskussionen über Themen
führen, die wirklich keine Themen sind. Wenn jemand
beginnt, Befürchtungen auszuräumen, die er selbst in die
Welt gesetzt hat, dann ist das sein höchst privates Anlie-
gen. Das soll er dann auch tun. Aber die Wirkung sol-
cher geäußerten Befürchtungen auf die Öffentlichkeit
und auf die eingesetzten Soldaten und ihre Familien
sollten doch vorher sorgfältig bedacht werden.

Ich habe in diesem Hause einige Male dafür gewor-
ben, daß es einen außen- und sicherheitspolitischen
Konsens in Deutschland gibt. Ich halte ihn aus vielen
Gründen für wertvoll. Er bewährt sich unter anderem in
der jetzigen Situation. Für Deutschland ist dies eine Prü-
fung und zugleich mit Blick auf seine Geschichte eine
gute Erfahrung, daß es sich zum erstenmal in einer so
schwierigen Situation in völliger Übereinstimmung mit

Bundesminister Rudolf Scharping






(B)



(A) (C)



(D)


Europa und mit den westlichen Demokratien befindet.
Es sollte uns allen bewußt bleiben: Wenn diese schwie-
rige Zeit vorbei ist – hoffentlich bald; es liegt an Milo-
sevic –, dann müssen Voraussetzungen für eine andere
Zeit geschaffen werden, die den Menschen eine größere
Hoffnung vermittelt und die anknüpft an die Erfahrun-
gen, die wir in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank
sammeln konnten.

Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108000
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das
Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108100
Herr Bundesverteidigungs-
minister, Sie haben mich unter anderem dafür kritisiert,
daß ich gestern nicht auf den Einmarsch in die CSSR
und auch nicht auf das Kriegsrecht in Polen eingegangen
bin. Es gab für mich zumindest gestern dafür auch kei-
nen Grund. Aber ich will das gerne tun.

Der Einmarsch der damaligen Sowjetunion und der
anderen Länder des Warschauer Pakts mit Ausnahme
von Rumänien in die CSSR war ein klarer Verstoß
gegen das Völkerrecht. Er war nach meiner tiefsten
Überzeugung übrigens auch völlig antisozialistisch und
deshalb scharf zu verurteilen.


(Lachen bei der SPD)

– Ich will Ihnen das gerne erläutern: Ich war damals
Student an der Humboldt-Universität und habe wegen
meiner Äußerungen zu diesem Einmarsch mein einziges
Parteiverfahren bekommen. Interessant an der Begrün-
dung der Strafe war, daß es hieß, ich stellte das formale
Völkerrecht über die notwendige Sicherung der soziali-
stischen Errungenschaften in der CSSR. Aus dieser Er-
fahrung heraus – das ist mir danach noch ganz häufig in
der DDR begegnet – bin ich gegen das Argument be-
sonders empfindlich, in Situationen, in denen es um
andere Zwecke geht, Recht als formal zu bezeichnen.

Als Sie die Beispiele CSSR und Polen nannten, hät-
ten Sie auch noch auf Afghanistan hinweisen können,
wo der Einmarsch der Sowjetunion genauso völker-
rechtswidrig und indiskutabel war und Folgen gezeitigt
hat, mit denen wir noch heute in Afghanistan zu tun
haben.

Sie haben gesagt, Sie hätten darunter gelitten, daß der
Westen damals ohnmächtig war und nicht helfen konnte.
Meine Kritik ist – lassen Sie mich das deutlich sagen,
denn es geht mir nahe –: Das Gegenteil von Ohnmacht,
Herr Bundesverteidigungsminister, können doch nicht
Bomben sein. Morden beendet man doch nicht, indem
man selbst mit Bomben völlig ungezielt tötet. Ich emp-
finde also die Antwort als falsch, nicht die Analyse der
Situation. Bei ihr mag es auch gewisse Differenzen
geben, die aber nicht sehr dramatisch sind. Ich sehe bei
Ihnen keine politische Lösung. Das kritisiere ich, und
darum streite ich.

Sie haben gesagt, daß im Weltsicherheitsrat nur drei
Länder, nämlich China, Rußland und Namibia, dagegen
gestimmt hätten, und hinzugefügt, es könne nicht ange-
hen, daß diese drei Länder eine bestimmte Entscheidung
verhinderten, auch wenn das Völkerrecht – das Veto-
recht von Rußland und China – dies ausdrücklich er-
laubt. Sie wissen ganz genau, daß es Hunderte von Be-
schlüssen im Sicherheitsrat gegeben hat, die mehrheits-
fähig waren und daran gescheitert sind, daß die USA
von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben. Aus ver-
schiedensten Gründen ist das nun einmal so in der
UN-Charta festgelegt worden.

Wenn man das überwinden und demokratischer ge-
stalten will, wenn man dadurch auch zu einer anderen
Friedensordnung kommen will, dann ist dagegen nichts
zu sagen. Nur, wir haben es nicht wirklich überwunden,
wir haben keine neue Friedensordnung. Wir schaffen die
alte Ordnung ab und setzen keine neue Ordnung an die
Stelle, sondern nur das Recht der militärischen Macht
und des Geldes. Das werden sich noch ganz andere in
ganz anderen Situationen herausnehmen. Davor wird
man doch wenigstens warnen dürfen. Darum ging es
mir, weil ich glaube, daß hinterher diese Welt eine ande-
re sein wird, als sie es vorher war. Ich glaube nicht an
den Krieg als Mittel der Politik.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108200
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Paul Breuer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Herr Rühe? Gestern war er auch nicht da!)



Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1403108300
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ohne jeden Zweifel und ohne jeden
Vorbehalt können wir dem Sinn dessen, was Bundes-
verteidigungsminister Scharping gesagt hat, zustimmen.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)

Sie wissen, Herr Minister, daß Sie der Zustimmung der
übergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages ein-
schließlich der gesamten CDU/CSU-Fraktion sicher sein
können. Das ist wichtig für Sie, für die Soldaten der
Bundeswehr und für Deutschland.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und jetzt zu Herrn Rühe!)


Sie haben in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht, daß
man in einer solchen Situation ein hohes Maß an Solida-
rität benötigt. Dem stimme ich zu. Ich stimme auch zu,
daß man in einer öffentlichen Diskussion sehr genau
abwägen muß, was man sagt. Aber wenn Sie die Solida-
rität, die Sie fordern und bekommen, so betonen, dann
frage ich mich auch, warum es notwendig ist, den Kol-
legen Rühe hier in dieser Art und Weise anzusprechen.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr zurückhaltend! – Dr. Peter Struck [SPD]: Wo ist Herr Rühe denn?)


Bundesminister Rudolf Scharping






(A) (C)



(B) (D)


– Der Kollege Rühe hat heute nachmittag eine Ver-
pflichtung. Wenn ich auf Ihre Bänke schaue, dann stelle
ich fest, daß es auch dort Kollegen gibt, die eine Ver-
pflichtung haben. Versuchen wir doch, in einer vernünf-
tigen Art und Weise miteinander zu sprechen!


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Es geht um das Interview!)


Herr Minister, daß Sie heute so handeln können, wie
Sie es tun, und daß eine Grundsolidarität, ein Grundkon-
sens vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem
Kollegen Volker Rühe.


(Lachen bei der SPD)

Das möchte ich an dieser Stelle betonen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Daß die Bundeswehr heute – ich sage das ohne Vorwurf –
trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten die notwendige
Struktur für einen solchen Einsatz aufweist und daß
nicht nur in der Bundeswehr, sondern in unserer Bevöl-
kerung das notwendige Bewußtsein für einen solchen
Einsatz vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem
Kollegen Volker Rühe. Er hat in den vergangenen Jah-
ren mit der CDU/CSU, mit der F.D.P. und mit Teilen
der SPD in einer hohen Verantwortung diese Auseinan-
dersetzung gegen zum Teil erhebliche Widerstände ge-
führt. Diese Feststellung müssen wir heute treffen, wenn
es um Solidarität geht.

Lassen Sie mich eine zweite Feststellung machen.

(Bernd Reuter [SPD]: Ach, nein!)


Herr Minister Scharping, es kann nicht sein, daß unter-
halb der Ebene einer grundsätzlichen Solidarität ein der-
artiger Konsensdruck erzeugt wird, daß eine freie öf-
fentliche Äußerung nicht mehr möglich ist.


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Volker Rühe hat aus der Sorge heraus gesprochen – ich
teile diese Sorge –, daß deutsche Soldaten in etwas ver-
wickelt werden können, was wir alle – auch Sie – nicht
wollen. Ich weiß, daß Sie Ihrer Aufgabe mit hoher Ver-
antwortung nachgehen.

Wir sollten uns hier gegenseitig versichern, daß wir
auch dann, wenn etwas schiefgeht und deutsche Solda-
ten zu Schaden kommen, dazu bereit sind, grundsätzli-
che Solidarität zu üben und nicht in etwas zu verfallen,
was nicht nur unseren Soldaten, sondern uns alle in er-
heblicher Weise belasten könnte. Das ist das eigentlich
Wichtige.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108400
Zu Erwiderung Herr
Bundesminister Scharping, bitte.

Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Kollege Breuer, damit wir uns nicht falsch
verstehen: Ich kann gut nachvollziehen, daß es andere
Verpflichtungen gibt. Gestatten Sie mir – bei allem Re-

spekt und bei aller Wertschätzung einer Grundsolidarität
– eine offene Bemerkung: Wenn die Fülle der Inter-
views mit der Fülle der Abwesenheit stark korreliert,
dann ist es etwas schwierig, noch miteinander zu reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ansonsten geht es mir um einen einzigen Punkt, der
mit Konsensdruck überhaupt nichts zu tun hat: Man
sollte sehr vorsichtig damit umgehen, Fragen aufzuwer-
fen, in denen alle beteiligten Staaten – die Bundesrepu-
blik Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die
USA – einig sind. Auch die amerikanische Außenmini-
sterin Madeleine Albright hat es gerade noch einmal öf-
fentlich gesagt: Wir haben nicht die Absicht, über die
vorhandenen Mandate hinauszugehen.

Es wäre ganz gut, keine Befürchtung in die Welt zu
setzen, um am Ende als derjenige auftreten zu können,
der die Grenze gegen diese Befürchtung gezogen hat.
Denn damit wird unterstellt – das macht, wohlgemerkt,
nur in dieser Frage den Konsens etwas schwierig –, an-
dere hätten möglicherweise die Absicht, die hinter dieser
Befürchtung steht. Wie Sie vielleicht verstehen, lasse ich
mir das nicht so gerne gefallen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108500
Als nächster Redner
hat das Wort der Kollege Christian Ströbele, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

gen! Verehrte Damen und Herren! Ich spreche jetzt für die
Frauen – vor allen Dingen – und Männer meiner Fraktion,
die sich schon in der letzten und auch in dieser Legislatur-
periode immer konsequent gegen den Einsatz deutscher
Soldaten out of area eingesetzt haben und dies auch bei
ihrem Stimmverhalten hier im Hause gezeigt haben.

Herr Bundesminister, auch ich bin geprägt von einer
jahrelangen Ohnmacht. Ich kann Ihre Gefühle nachvoll-
ziehen. Meine Ohnmacht bestand darin, daß ich Jahre
vor dem Fernseher saß und mit ansehen mußte, wie in
Vietnam ein Krieg geführt wurde, der – ich will versu-
chen, das neutral zu formulieren –


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist es jetzt schon nicht mehr!)


Hunderttausende von Menschen das Leben kostete, wäh-
rend wir hier in Europa saßen und daran nichts ändern
konnten. Ich habe die Forderung der Friedensbewegung
„Nie wieder Krieg!“ immer so verstanden – das will ich
klarstellend zu dem sagen, was ich gestern geäußert ha-
be und was zum Teil kritisiert worden ist –, daß ich
mich mit meinem politischen Handeln, mit meinem gan-
zen politischen Engagement dafür einsetze, daß sich
deutsche Soldaten an keinem Krieg mehr beteiligen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Das ist meine Grundüberzeugung.

Paul Breuer






(B)



(A) (C)



(D)


Nun stelle ich fest, daß eine Regierung, die ich mit
gewählt habe, mit dafür verantwortlich ist, daß deutsche
Soldaten vorgestern abend und gestern abend – das wer-
den Sie heute abend wahrscheinlich wieder tun – Bom-
ben und Raketen auf Belgrad, auf Pristina, im Kosovo
und in Montenegro – keiner weiß genau, wo; ich jeden-
falls nicht – abgeworfen haben.

Ich gebe Ihnen recht, sich danebenzustellen und zu
sagen, ich tue nichts, ist das Schlechteste. Auch ich will
etwas tun. Aber heißt das, daß man Bomben und Rake-
ten wirft?


(Beifall bei der PDS)

Ich will jetzt versuchen – das wollte ich gestern auch

schon –, die Diskussion ohne viel Polemik zu führen.
Etwas tun, was heißt das im Hinblick darauf, daß diese
Zustände im Kosovo, die unerträglich sind, wirklich be-
endet werden – daß ich dies erreichen will, können Sie
mir abnehmen; das nehme ich auch Ihnen ab; das nehme
ich allen ab, die sich hierzu engagiert geäußert haben –,
die Zustände, wie sie vor Wochen und Monaten und
auch in der letzten Woche gewesen sind? Daß da etwas
geschehen muß, darin sind wir uns ja einig. Die Frage
aber ist das Wie.

Ich und meine politischen Freunde und Freundinnen
verstehen oder versuchen zu verstehen, daß Sie andere
Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte ziehen.
Wir sagen: Wir wollen das nie wieder zulassen. Auch
Sie sagen, daß Sie das nie wieder zulassen wollen. Das
kann für Sie jedoch auch heißen, daß mit kriegerischen
Mitteln, mit Bomben und Raketen und möglicherweise
auch noch mit mehr eingegriffen wird.

Dazu sage ich: Das ist kurzsichtig. Sehen Sie sich
doch jetzt einmal die Situation im Kosovo an, und ver-
gleichen Sie sie mit der Situation von vor einer Woche.
Heute sind dort zehnmal mehr Menschen auf der Flucht.
Es werden Menschen getötet, wahrscheinlich mehr, als
bekannt wird. Vorhin wurde hier ein Beispiel genannt,
das so grausam ist, daß ich es nicht glauben kann, ob-
wohl es durchaus möglich ist. Durch einen solchen
Krieg, dadurch, daß da jede Nacht Bomben und Raketen
abgeworfen werden, daß Menschen umgebracht werden
und Zerstörungen angerichtet werden, werden doch die
Grausamkeit und der Haß gefördert. Es wird doch in den
nächsten Tagen und Wochen noch mehr an Menschen-
rechtsverletzungen, an Tötungen, an Zerstörung ange-
richtet werden, wenn das so weitergeht.


(Beifall bei der PDS)

Das heißt, Krieg ist doch gerade in dieser Situation

ein ganz schlechtes und gefährliches Mittel, weil er die
Situation der Menschen im Kosovo nicht verbessert,
sondern erheblich verschlechtert. Es gibt dort auch keine
Menschenrechtsorganisationen mehr. Es gibt keine OS-
ZE-Beobachter mehr. Mit dem Abbruch der Verhand-
lungen, mit dem Rückzug der OSZE-Beobachter hat
sich die Situation, die Hilflosigkeit der Menschen dra-
matisch verschlechtert. Das müssen wir zur Kenntnis
nehmen.


(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Richtig!)


Die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheit
konnten und mußten von Anfang an wissen: Wenn man
sich in diese Logik des Krieges begibt, wird eine solche
Situation eintreten und ist eine Eskalation nicht auszu-
schließen. Wir alle hoffen, daß sie nicht eintritt.

Auch wir überlegen uns natürlich, was man machen
kann. Von unserem Minister ist vorhin darauf hingewie-
sen worden: Wenn Milosevic und die Serben erklären,
auch sie wollen die Autonomie hinnehmen, akzeptieren
und garantieren, dann kann man sofort telefonieren und
das Ganze abbrechen.

Ich sage Ihnen aber – das kann man jeden Tag in der
Zeitung lesen –: Die Sache scheitert doch für den Koso-
vo im Augenblick nicht an der Frage der Autonomie,
wenigstens nicht verbal. Vielmehr gibt es keinen ande-
ren Weg, als NATO-Truppen im Kosovo zu implantie-
ren oder einrücken zu lassen und dort zu stationieren.
Das ist doch das Entscheidende. Da frage ich mich:
Mußte man sich den Forderungen der UCK und denen
der USA so weit unterwerfen, daß man über andere
Möglichkeiten wie etwa über die Stationierung einer
Friedenstruppe unter UNO-Mandat überhaupt nicht
mehr diskutiert hat?


(Beifall bei der PDS)

Muß man sich auch heute noch so weit unterwerfen,

daß man von Milosevic fordert: Wenn du die sofortige
Implantierung von UNO-Truppen im Kosovo nicht so-
fort akzeptierst, dann bomben wir weiter? Heißt das
wirklich, daß Sie sagen, die Entscheidung liegt allein bei
Milosevic? Müssen er und die serbische Regierung sich
in dieser Weise unterwerfen? Oder können wir nicht
eine sofortige Beendigung des Bombardements, natür-
lich eine sofortige Beendigung der Gewalttätigkeiten der
Serben im Kosovo, einen Wiederbeginn von Verhand-
lungen fordern mit dem Ziel, eine abgesicherte Autono-
mie für den Kosovo zu garantieren? Wir können doch
nicht nur mit diesem Prestigedenken sagen: Es geht
nicht anders als mit den Truppen der NATO.


(Beifall bei der PDS)

Würde man diesen Vorschlag heute machen, hätten wir
eine Chance, daß dieses Töten, daß der Krieg dort been-
det werden könnte.

Ich bitte Sie, ich fordere die Bundesregierung auf:
Stellen Sie diesen Krieg und unsere deutsche Beteili-
gung ein! Beenden Sie das Ganze! Versuchen Sie, auf
dem Verhandlungsweg weiterzukommen. Die Situation
der Menschen im Kosovo würde sich dadurch sofort
verbessern.


(Beifall der Abg. Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108600
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Gernot Erler das Wort.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1403108700
Herr Kollege Ströbele, ich bin
Ihnen dankbar, daß Sie heute im Deutschen Bundestag
etwas leisere Töne angeschlagen haben als gestern. Wir
wissen ja auch, daß Sie hier nicht die Mehrheitsmeinung

Hans-Christian Ströbele






(A) (C)



(B) (D)


Ihrer Fraktion vertreten. Aber Ihre Äußerungen können
nicht ohne Hinterfragung im Raum stehenbleiben.

Sie haben im Grunde genommen noch einmal be-
hauptet, daß es eine Alternative dazu gegeben hätte,


(Dr. Heinrich Fink [PDS]: Es gibt immer Alternativen!)


in dem Augenblick etwas zu tun, wo mitten in Europa
im Jahre 1999 ganze Dörfer und Landstriche durch die
Anwendung von militärischer Gewalt gegen wehrlose
Menschen entvölkert werden.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


– Dazu gibt es keine andere Alternative, als etwas zu
tun.

Oder, Herr Kollege Ströbele, wollten Sie ernsthaft
vorschlagen, daß wir in der Situation, als die Serben
nein zum dem Ergebnis von Rambouillet gesagt haben –
was nicht der entscheidende Punkt war; vielmehr sind
die Serbein parallel den Verhandlungen mit Panzern und
Artillerie gegen die Dörfer im Kosovo verstärkt vorge-
gangen und haben damit den Krieg eröffnet – folgendes
zu den Albanern sagen: Prima, ihr habt Rambouillet un-
terzeichnet, ihr ward sogar zur Entwaffnung der UCK
bereit, aber es tut uns leid, dagegen, daß die Gewalt ge-
gen eure Familien fortgesetzt wird, können wir nichts
machen; wir sind bestenfalls bereit, die Flüchtlinge auf-
zunehmen.

Herr Ströbele, Sie können hier im Bundestag nicht
ernsthaft die Meinung vertreten, das sei eine Alternative
gewesen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt noch etwas dazu, wie man da wieder heraus-
kommt. Ich glaube, der Ernst dieser Diskussion hat ge-
zeigt: Wir alle wollen die erstbeste Gelegenheit nutzen,
um aus dieser Tragödie wieder herauszukommen. Aber
Sie haben ja den Spieß umgedreht. Zuerst muß der Be-
fehl von Milosevic kommen, die Kampfhandlungen im
Kosovo einzustellen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zunächst muß er bereit sein zu verhandeln. Das ist er ja
nicht. Auch Herr Draskovic, der Vizepräsident Jugosla-
wiens, hat heute morgen gesagt, die NATO solle mit den
Luftangriffen aufhören; dann seien auch sie bereit auf-
zuhören. Das aber war die Situation bei den Verhand-
lungen von Rambouillet. Da ist der Krieg begonnen
worden. Nicht die NATO hat doch den Krieg begonnen,
sondern die Truppen von Milosevic.

Einen letzten Gedanken. Ich finde, am Ende einer
solchen Debatte muß man auch Ihnen, Herr Ströbele,
sagen: Wir haben großen Respekt vor dem serbischen
Beitrag zur europäischen Kultur. Wir leben mit 500 000
Serben, die in der Bundesrepublik leben, gut zusammen.
Von dieser Debatte sollte auch das Signal ausgehen: Wir

wollen, daß die Serben so schnell wie möglich wieder in
die europäische Integration einbiegen. Wir wollen sie
hier in Europa haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. sowie der Abg. Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Eine Voraussetzung dafür ist, daß dieser furchtbare
Krieg, der von serbischer Seite und leider in serbischem
Namen geführt wird, aufhört. Dieses Signal muß von
dort kommen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108800
Zur Erwiderung Herr
Kollege Ströbele, bitte.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

von Argumenten kommen und nicht bei Polemik hän-
genbleiben.

Herr Kollege, ich sehe das anders. Sie haben die Si-
tuation so geschildert, wie auch ich sie nie gewollt habe.
Ich würde nie sagen: Lassen wir das alles! Nur, wir be-
finden uns im Augenblick im Krieg. Wenn man einen
Krieg beenden will – das ist immer so gewesen und
sollte auch jetzt so sein –, sollte man als erstes sagen:
Wir lassen die Waffen auf beiden Seiten schweigen. Wir
treffen eine Übereinkunft; ab dieser Stunde gibt es kei-
nen Waffengang mehr.


(Widerspruch bei der SPD)

– Schicken Sie ein Telegramm nach Belgrad mit dem
Inhalt: Wir lassen die Waffen schweigen; ab heute wird
nicht mehr bombardiert,


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Wo leben Sie?)

im Kosovo darf nicht mehr geschossen werden. Dann
kann man sich an den Verhandlungstisch setzen.

Sie haben völlig recht – ich will gar nicht polemisie-
ren –: Die Albaner haben noch ein bißchen gewartet, bis
sie den Vertrag unterschrieben haben. Aber entschei-
dend war, daß die Verhandlungen abgebrochen wurden
und die NATO, die Vertreter der USA und der Bundes-
republik Deutschland gesagt haben: Jetzt gibt es Luftan-
griffe. Sie haben ja nicht gesagt: Wir müssen mal sehen,
warten wir mal noch bis übermorgen!, sondern: Die
Verhandlungen haben nicht zu dem gewünschten Er-
gebnis geführt – ihr habt nicht unterschrieben –, jetzt
gibt es Luftangriffe. In dem Augenblick war der Krieg
erklärt. Das ist eine Kriegserklärung, wenn man sagt: Es
ist nur noch eine Frage der Zeit, wann unsere Flugzeuge
aufsteigen können.

Deshalb stimmt Ihre Argumentation einfach nicht.
Sie hätten recht, wenn man hätte weiter verhandeln
wollen, wenn man sich in dem einen oder anderen
Punkt, zum Beispiel bei der Frage der Stationierung der
Sicherungskräfte, flexibel gezeigt hätte und bereit gewe-
sen wäre, noch das eine oder andere zu erörtern, und die

Gernot Erler






(B)



(A) (C)



(D)


Serben sich dennoch so verhalten hätten, wie es der Fall
war. Aber so war es nicht. Die Verhandlungen wurden
abgebrochen, und man hat gesagt: Jetzt wird bombar-
diert; es ist nur noch eine Frage der Zeit.


(Widerspruch bei der SPD)

Daraufhin haben die Serben das gemacht, was ihnen

heute auch der Minister vorwirft: Sie sind mit erheblichen
zusätzlichen Kräften militärisch im Kosovo eingerückt.


(Gernot Erler [SPD]: Das war doch schon vorher!)


Sie standen an der Grenze von Mazedonien der NATO-
Macht in fünf Kilometer Entfernung gegenüber und sagen
heute: Wir müssen uns gegen diese NATO-Macht schüt-
zen, die übermorgen möglicherweise einmarschiert. Sie
können doch nicht das eine vom anderen trennen.


(Gernot Erler [SPD]: Sie verdrehen die Reihenfolge!)


– Nein.
Deshalb nochmals mein Appell: Stellen Sie die Luft-

angriffe ein, setzen Sie sich in der NATO dafür ein, daß
das auch die anderen tun, und beginnen Sie morgen
wieder mit Verhandlungen! Jeder Tag Verhandlungen
– selbst wenn er noch so mühselig ist – ist besser als das,
was im Augenblick im Kosovo passiert.


(Beifall bei der PDS)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403108900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf der Drucksache 14/675 soll zur federführenden Be-
ratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuß, den Finanzausschuß, den Haus-
haltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und Tech-
nologie sowie an den Ausschuß für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf der Druck-
sache 14/669. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
bei einer Enthaltung aus der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.

Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich
berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein. Diese Sit-
zung wird in Berlin durchgeführt.

Die Sitzung ist geschlossen.