Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-
Joachim Otto , Rainer Funke, Dr.
Klaus Kinkel, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Stiftungsrechts
– Drucksache 14/336 –
Überweisungsvorschlag:
Meine Damen und Herren, wir denken dabei an Pro-jekte im Bereich Kunst und Kultur, nicht zuletzt auch imBereich der auswärtigen Kulturförderung und desDenkmalschutzes. Wir wollen privates Kapital aber auchvermehrt für soziale Aufgaben, für Jugend- und Alten-hilfe, für Bildungs- und Forschungseinrichtungen, fürUmweltprojekte sowie für den Breiten- und Spitzensporterschließen. Dabei geht es uns nicht allein um die Er-schließung von Finanzquellen, sondern auch um einenhöheren Stellenwert für das Ehrenamt.
Gemeinwohlorientiertes Handeln bedeutet für vieleMenschen Sinnstiftung. Bereits heute werden rund90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland von ehren-amtlichen Vorstandsmitgliedern geführt. Im übrigen istes ein Irrglaube, daß Stiftungen nur etwas für Millionäreseien. Erfreulicherweise findet in Deutschland bei-spielsweise die amerikanische Idee der CommunityFoundation, also der Bürgerstiftung, immer größereVerbreitung. In solchen Bürgerstiftungen kann sich eineVielzahl von Menschen für gemeinwohlorientierte Zielein ihrer Heimatregion einsetzen.
Metadaten/Kopzeile:
2562 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Stiftungen sind also keineswegs ein Relikt der Feu-dalzeit, wie ein SPD-Politiker vor vielen Jahren einmallästerte. Stiftungen gewinnen heute weltweit an Bedeu-tung.Wichtigster Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist es, diesteuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungenspürbar zu verbessern. Insbesondere wollen wir dieGleichbehandlung aller gemeinnützigen Zwecke imSteuerrecht. Wir wollen ferner die Abzugsfähigkeit fürZuwendungen an gemeinnützige Stiftungen von bisher5 Prozent auf nunmehr 20 Prozent des jährlichen Ein-kommens erhöhen. Es ist kein Steuersparmodell, wennein Stifter für jede Abgabenreduzierung um 50 Pfennigeine volle Mark für das Gemeinwohl hinlegt.
Hierfür verdienen Stifter nicht Mißgunst und Neid, son-dern öffentliche Anerkennung und Zuspruch.
Unser steuerliches Gesamtpaket fand bei unserer Anhö-rung am vergangenen Montag bei allen Experten einhel-lige Zustimmung.Zur Belebung der Stiftungskultur wollen wir aberauch das Errichten von Stiftungen erleichtern. Das bis-herige Konzessionssystem, also das Erfordernis einerstaatlichen Genehmigung, stammt aus den Zeiten desObrigkeitsstaates und entspricht nicht mehr einem mo-dernen Staatsverständnis. Wir schlagen statt dessen vor,eine Stiftung bereits durch die notarielle Beurkundungdes Stiftungsgeschäfts entstehen zu lassen. Wir sind unsdabei bewußt, daß dies ein mutiger Vorschlag ist, undstellen uns einer unvoreingenommenen Diskussion.Das gilt auch für die Frage, ob die Stiftungsaufsichtweiterhin durch Landesbehörden erfolgen soll und obdas Stiftungsregister zukünftig von den Gerichten ge-führt werden könnte.
Herr Kollege Otto,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Stetten?
Aber bitte.
Lieber Kollege Otto, teilen Sie mit mir zumindest die
rechtliche Beurteilung, daß das Stiftungsrecht – es be-
steht 100 Jahre – so schlecht nicht gewesen sein kann,
wenn es schon so lange besteht?
– Langsam, langsam. – Im Grunde genommen wurde
der Stifter auch beim Konzessionsmodell – sprich: bei
der Genehmigung der Stiftung – unter Umständen bera-
ten. Beim Registermodell besteht die Gefahr, daß ein
Notar nicht über alle Aspekte einer Stiftung so gut be-
raten kann, wie das in Baden-Württemberg das Regie-
rungspräsidium und in Bayern das entsprechende Mini-
sterium, also gewichtige Behörden, tun.
Laufen wir nicht Gefahr, daß gerade kleine Stiftun-
gen, die Sie ja fördern wollen, durch das Registermodell
leichtsinnig gemacht werden, da man die Folgen – man
ist nicht mehr Mitglied wie in einem Verein; vielmehr
gibt es nur noch Destinatäre – nicht kennt? Worin be-
steht der Vorteil des Registermodells gegenüber dem
Konzessionsmodell, abgesehen von der Beseitigung der
verstaubten Aspekte, die durch den von Ihnen einge-
brachten Gesetzentwurf erreicht würden?
LieberHerr Kollege von Stetten, ich kann Ihnen zunächst be-stätigen, daß es Stiftungen nicht erst seit 100, sondernseit vielen Hunderten von Jahren gibt.
– 1 000, gut, Frau Vollmer. Uns sind Stiftungen bekannt,die schon 1 000 Jahre bestehen. Das ist völlig richtig.Das kann uns aber nicht davon abhalten, uns Re-formüberlegungen auch trotz einer so langen Traditionzu machen. Wir haben bei unserer Anhörung von vielenvernommen, daß sich manche potentiellen Stifter davonabhalten lassen zu stiften, weil sie die hohen bürokrati-schen Hürden, die es bedeutet, erst zum Finanzamt, dannzur Stiftungsaufsicht, zum Regierungspräsidium usw. zugehen, fürchten. Wir wollen die Hürden für die Errich-tung einer Stiftung möglichst niedrig ansetzen.Wir freuen uns, lieber Herr Kollege von Stetten,wenn Sie sich im weiteren Verlauf an der Diskussionbeteiligen werden. Ich will es noch einmal sagen: UnserGesetzentwurf ist ein Angebot, über das wir mit Ihnendiskutieren wollen. Wir sind nicht vernagelt. Liberalezeichnen sich dadurch aus, daß sie Diskussionen offenführen.
Wichtig erscheint uns, daß auch in Zukunft Familien-stiftungen und Unternehmensträgerstiftungen zuläs-sig bleiben; sie haben sich – Herr von Stetten, darinstimme ich Ihnen zu – in einer jahrhundertelangenRechtstradition bewährt.Wir Liberalen sind uns bewußt, daß eine neue Stifter-kultur in Deutschland nur dann eine Chance hat, wenndie Reformdiskussion nicht im parteipolitischen Pulver-dampf versinkt. Wir verstehen unseren Gesetzentwurfdaher als eine Initialzündung, als einen Appell an allezur Belebung des Stiftungsgedankens und zur Belebungdes privaten Mäzenatentums.Herr Staatsminister Naumann – er ist leider nicht da;man möge es ihm ausrichten –, verehrte Kolleginnenund Kollegen aus den Koalitionsfraktionen: Lassen SieIhren Ankündigungen jetzt Taten folgen!
Hans-Joachim Otto
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2563
(C)
(D)
Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg eintretenfür eine Stärkung der Bürgergesellschaft, für eine Re-naissance der Stiftungskultur in Deutschland.Ich bedanke mich.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat jetzt der Parlamentarische Staatsse-
kretär bei der Bundesministerin der Justiz, Eckhart Pick.
D
Herr Präsident! Meine geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Das von der F.D.P.-Fraktion
vorgelegte Stiftungsreformgesetz benennt als Zweck, die
Rahmenbedingungen für Stiftungen zu verbessern, um
die Errichtung bzw. die Erweiterung von Stiftungen an-
zuregen. Ein solches Anliegen ist aus der Sicht der Bun-
desregierung vorbehaltlos zu unterstützen.
Jetzt kommt aber die Einschränkung.
Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf nur wenige
Ansatzpunkte, von denen tatsächlich Impulse für das
Stiftungswesen und die von ihm ausgehende Förderung
der Allgemeinheit ausgehen könnten.
Ich meine, daß der Vorschlag zur Änderung des BGB
– Herr Kollege von Stetten hat eben darauf hingewiesen
– schon im Ansatz nicht berücksichtigt, daß das geltende
Stiftungsrecht des BGB funktioniert und daß es die
Stiftungspraxis selbst immer wieder auf einen Nenner
gebracht hat. Das heißt nicht, daß wir uns nicht über
eine Fortentwicklung einer Handvoll Paragraphen im
BGB unterhalten könnten. Das geltende Stiftungsrecht
des BGB und vor allem die Verwaltungspraxis der Län-
der geben allerdings keinen unmittelbaren Anlaß für
tiefgreifende Änderungen.
Der Versuch der F.D.P.-Fraktion, sich in ihrer neuen
Oppositionsrolle bei der Suche nach öffentlichkeitswirk-
samen Themen als Förderer des Stiftungswesens darzu-
stellen, ist zwar teilweise originell, aber nicht gerade
praxistauglich; auch was das Handwerkliche betrifft, ha-
ben wir einige Vorbehalte.
Im Mittelpunkt der Änderung des BGB-Stif-
tungsrechts steht der Vorschlag, vom Konzessionssy-
stem abzugehen und statt dessen einer Stiftung schon
durch die Beurkundung des Stiftungsgeschäfts durch
einen Notar Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Tat-
sächlich bringt dieser Vorschlag wenig Neues. Aus un-
serer Sicht sind damit eher Nachteile bei der Stiftungs-
gründung verbunden. Bisher war es möglich, das Stif-
tungsgeschäft durch einen Gang zu tätigen, nämlich
durch den Gang zur Stiftungsbehörde, bei der zum Teil
ja auch kostenlos Service aus einer Hand erhältlich ist,
insbesondere was die Klärung der steuerrechtlichen Fra-
gen anlangt.
Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der
F.D.P., verlangt vom Stifter aber drei Gänge. Er muß er-
stens zum Notar, zweitens zum Finanzamt und schließ-
lich auch zur Stiftungsaufsichtsbehörde. Der Vorschlag
läßt zudem viele Fragen ungeklärt, so daß Rechtsun-
sicherheit und Konfliktpotential für die Stiftungspraxis
voraussehbar sind.
Es ist sicherlich richtig, daß man über den einen oder
anderen Punkt des Gesetzentwurfs nachdenken kann. Ich
meine insbesondere den Vorschlag hinsichtlich der Auf-
stellung eines Jahresabschlusses. Es gibt durchaus einige
Gesichtspunkte, die dafür sprechen.
Man muß aber auch bedenken, daß es sich dabei nicht
nur um spezifisch stiftungsrechtliche Fragen handelt,
sondern daß wir sehr schnell auch zu Querschnittspro-
blemen kommen, nämlich solchen, die alle Vereine, die
gemeinnützig sind, betreffen. Hierüber muß man mit Si-
cherheit noch nachdenken. Die Förderung des Gedan-
kens der Gemeinnützigkeit sollte nach unserer Auffas-
sung jedenfalls immer im Vordergrund stehen.
In der Tat darf dieses Stiftungsrecht nicht ausschließ-
lich – Herr Otto, ich greife den von Ihnen benutzten
Ausdruck auf – zu einer neuen Form von Steuerspar-
modellen führen.
Zu den steuerlichen Vorschlägen des Gesetzentwurfs
gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Eigentlich betrifft
das Thema, so wie es jetzt angelegt ist, zu einem gerin-
geren Teil materielles BGB-Stiftungsrecht, sondern in
erster Linie Fragen des steuerlichen Umgangs mit Stif-
tungen. Insofern ist der Finanzminister natürlich bei die-
sem Thema sehr aufmerksam, wie Sie sich denken kön-
nen; denn die Vorschläge führen durch entsprechend er-
forderliche Änderungen des Einkommen-, Körperschaft-
und Gewerbesteuerrechts zu Einkommenseinbußen des
Staates und sind deshalb durchaus fragwürdig.
Ich nenne noch einen Punkt, der besonders die Län-
der betrifft. Wenn wir Einschränkungen beim Aufkom-
men aus der Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer ma-
chen, dann wissen wir: Das betrifft ausschließlich die
Bundesländer. Sie werden natürlich ein wachsames
Auge auf unsere Überlegungen haben.
Kollege Pick, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
D
Natürlich.Hans-Joachim Otto
Metadaten/Kopzeile:
2564 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Herr Kollege Pick, darf ich Sie zum ersten darauf hin-
weisen, daß es in Ihrem eigenen Hause ein Gutachten
über diesen Entwurf gibt, in dem wird gesagt, es kommt
nicht – wie Sie eben gesagt haben – zu erheblichen
Steuereinnahmeminderungen, sondern faktisch nur zu
einer Verlagerung?
Darf ich Sie zum zweiten darauf hinweisen, daß man
das Ganze unter dem Gesichtspunkt Steuersparmodell
nicht diffamierend erwähnen darf, weil – wie hier von
dem Kollegen Otto schon gesagt worden ist – der Stifter
erheblich mehr für gemeinnützige Zwecke gibt, was ja
dem Gemeinwesen zugute kommt? Ich glaube, das war
ein bißchen zu kritisch ausgedrückt.
D
Frau Kollegin Vollmer, Sie
werden aus meinen Bemerkungen entnommen haben,
daß die Ausführungen der Bundesregierung mit den Mi-
nisterien abgestimmt sind.
– Das wollte ich auch ganz besonders betonen.
Insofern gibt es natürlich unterschiedliche Berech-
nungen, wie sich einzelne steuerrechtliche Vorschläge in
bezug auf das Stiftungsrecht auswirken. Hier gibt es sehr
verschiedene Berechnungen. Ich habe mir erlaubt, auf
diese hinzuweisen. Je nach Ausgestaltung der steuer-
lichen Vorschriften gibt es unterschiedliche Berechnun-
gen. Die sollten wir in Ruhe und Gelassenheit vorneh-
men.
Kollege Pick, ge-
statten Sie weitere Zwischenfragen der Kollegen Braun
und Hauser?
D
Ja, bitte.
Herr Kol-
lege Pick, der Duktus Ihrer Rede signalisiert, daß Sie
Ihren Mitarbeitern, die diese Rede gemacht haben, den
Auftrag erteilt haben, zu prüfen: Gibt es irgendwelche
Gründe, die ich mit Anstand vortragen kann, die gegen
das Projekt des Kollegen Otto sprechen? Sie sind doch
mit dem Motto angetreten: Neues wagen. Wäre es nicht
einfach einmal ein neuer Ansatz gewesen, den Prüfauf-
trag so zu formulieren: Gibt es nicht sehr triftige Grün-
de, weswegen ich das Projekt unterstützen könnte?
D
Herr Kollege Braun, die neue
Bundesregierung läßt sich bei der Prüfung, wo Fort-
schritt angesagt ist und wie man diesen Fortschritt be-
gleitet, von niemandem übertreffen.
Wir werden auch die Diskussion um ein neues Stiftungs-
recht – darauf können Sie sich verlassen – konstruktiv
begleiten. Dazu – Sie kennen unser Haus – sind wir im-
mer bereit.
Kollege Hauser.
Herr Staatsse-
kretär, könnten Sie mir gegebenenfalls zustimmen, daß
ein gewisses Maß an Steuerausfällen, wenn es zu diesen
käme – Kollegin Vollmer hat zu Recht darauf hingewie-
sen, daß es nicht einmal sicher ist, daß es zu diesen
kommt –, hinnehmbar wäre im Hinblick darauf, daß
Stiftungen als bürgerschaftliches Engagement erhebliche
Leistungen für diese Gesellschaft erbringen und der
Staat letztlich in der Bilanz einen Vorteil aus den Stif-
tungen hat?
D
Herr Kollege Hauser, ich habe
schon in meinen Bemerkungen angedeutet, daß die
Bundesregierung dies vorbehaltlos und objektiv prüfen
wird. Sie können gewiß sein, daß wir sehr sorgfältig ab-
wägen werden, was die Vor- und Nachteile auch in
finanzieller Hinsicht sind. Im übrigen bleibt es bei der
grundsätzlichen Begrüßung des privaten Engagements
und auch eines Engagements, das sich in einer ver-
mehrten und sinnvollen Stiftungspraxis ausdrückt.
Kollege Pick, eine
weitere Zwischenfrage des Kollegen Wilhelm Schmidt.
Herr Staatsse-kretär, ich möchte die gleiche Eingangsformulierungverwenden: Können Sie mir zustimmen, daß die ober-schlauen Fragesteller von F.D.P. und CDU/CSU 16 Jah-re Gelegenheit gehabt hätten, dieses Gesetz zu machen,wenn sie so intensiv daran interessiert sind?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2565
(C)
(D)
D
Herr Kollege Schmidt, die
Vermutung spricht für eine Bejahung Ihrer Frage. Es
kommt aber gelegentlich vor – das ist nichts Neues –,
daß man auf einmal über Nacht klüger wird. Das sollte
man jedem zugestehen.
Der Nachfragebedarf
ist erheblich. Kollege Solms wünscht, eine Frage zu
stellen.
Herr Kollege
Pick, wie interpretieren Sie es, daß just in dem Moment,
in dem Sie von der großen Aufmerksamkeit des Bundes-
finanzministers sprechen, die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Frau Dr. Hendricks – sie ist im Moment beim
Vertreter des Bundesfinanzministers beschäftigt – den
Saal verlassen hat?
D
Ich glaube, Frau Staatssekretä-
rin Hendricks ist in vollem Vertrauen auf die Überein-
stimmung meiner Ausführungen mit der Auffassung ih-
res Hauses kurz aus dem Plenum gegangen. Dafür habe
ich Verständnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
an Hand des Gesetzentwurfes der F.D.P. die Reform des
Stiftungsrechtes angehen; das ist sicher ein Anlaß. Wir
sollten in Ruhe und Gelassenheit auch in Form einer
Anhörung Kenntnisse und mehr Gewißheit über die
Themen erlangen. Ansonsten denken wir, daß die Vor-
schläge, wie sie im Moment vorliegen und wie sie aus-
geführt sind, insbesondere was die steuerrechtlichen
Fragen anbetrifft, eine ganze Reihe von Fragen aufwei-
sen. Deswegen wird die Bundesregierung – wie ich
schon sagte – die weiteren Bemühungen mit entspre-
chender Aufmerksamkeit und konstruktiv begleiten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollegin Rita Süssmuth.
Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elan ist nichtmehr zu übertreffen: Es darf viel geredet werden; passie-ren darf aber nichts, vor allem nicht schnell.
Das paßt zum Stiftungsrecht überhaupt nicht.Wir waren schon einmal weiter. Wir haben am12. Februar des vergangenen Jahres im Rahmen derKulturdebatte über das Stiftungsrecht debattiert. Ich fin-de, Ihre ständigen Hinweise auf die 16 Jahre helfen unsnicht weiter.
Wir waren uns einig, daß wir uns auf den Weg machenwollten – darüber gab es in diesem Haus sehr viel Über-einstimmung –, um im Sinne gesellschaftlichen Enga-gements, der Bürgergesellschaft, Stiftungen – nicht nurgroße, sondern auch kleine – voranzubringen.Wir haben bisher ein Konzessionsmodell pur undsollten uns fragen, ob wir nicht zum Normativsystemübergehen sollten. Damit möchte ich folgendes sagen:Ich finde es gut, wenn die Fraktionen unseres Bundesta-ges Gesetzentwürfe einbringen. Ich wünsche mir, daßwir ihre Behandlung nicht mehr auf die lange Bankschieben, sondern bald handeln.
Niemand sagt, daß man bisher in Deutschland keineStiftungen aufbauen konnte. Aber die Anhörung derFraktion der F.D.P., die sehr breit angelegt war, hat ge-zeigt, was die Beteiligten wollen: Sie wollen ein Rechtauf Stiftung im Rahmen der erlaubten Zwecke. Sie wol-len, daß es regelungsärmer und bevormundungsfreier ist.
Die meisten Länder sind bei der Zulassung von Stif-tungen in der Praxis vom Konzessionssystem, also vonder Ermessensentscheidung, zum Normativsystemübergegangen. Das gilt aber nicht für alle. Es ist einhel-lige Meinung: Geht von diesem alten System ab, hinzum Normativsystem!Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, obdie bewährten Einrichtungen auch zukünftig für Ge-nehmigung und Aufsicht
zuständig sein sollen oder ob man einen Wechsel hin zurZuständigkeit von Gebietskörperschaften vornehmensoll. Dieser Punkt bedarf einer Vertiefung oder sogareiner weiteren Anhörung.Wir müssen uns im Deutschen Bundestag Klarheitdarüber schaffen, daß die Bedeutung der Stiftungen imwissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereichunter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Beitragesim Vergleich zur öffentlichen Förderung gering ist; dasmuß man nüchtern sagen. Aber es kommt hier entschei-dend auf unser politisches und kulturelles Selbstver-
Metadaten/Kopzeile:
2566 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
ständnis in bezug auf Stiftungen an. Mit der Verbesse-rung der Rahmenbedingungen regen wir vermehrteEigeninitiative an. Diese eigene Agenda ist sehr wich-tig. „Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung“,hieß es in der Anhörung.
Das sind Leitmotive, die wir meines Erachtens in dieÜberlegungen einbeziehen müssen.Als Beispiel wurde die Gütersloher Stiftung ange-führt. Noch liegt der Schwerpunkt auf großen Stiftun-gen. Wir sind aber auf dem Wege zu immer mehr klei-nen Stiftungen. Bürgerschaftliches Engagement ist wie-der da; das Stiftungsrecht müßte es verstärken.Dabei geht es auf der einen Seite um die Frage, wasim BGB zu ändern ist. Es war einhellige Meinung, daßin den §§ 80 ff. Regelungsbedarf besteht. Ich möchte dieBundesregierung bitten, in dieser Angelegenheit in dieOffensive zu gehen und sich nicht hinter Bedenken zuverschanzen.
Auf der anderen Seite ist zu regeln, wer über die An-erkennung der Gemeinnützigkeit entscheidet. Vieleverweisen unter anderem auf das englische Modell undstellen zur Diskussion, ob die Anerkennung der Ge-meinnützigkeit durch eine Kommission und nicht durchden Fiskus erfolgen könnte.
Ich finde es lohnend, diesen aufgeworfenen Fragennachzugehen. Was die Mehrheit nicht will, sind neue In-stitutionen. Viele sind den Umgang mit dem Stiftungs-recht nicht gewohnt.Es wurde der Wunsch nach Beratung zum Ausdruckgebracht. Gerade wenn die Hauptförmlichkeiten im Ge-setz festgelegt werden, ist Beratung in bezug auf Unbe-denklichkeit und Eindeutigkeit der Satzung, aber auchauf die Existenzfähigkeit, auf die Gemeinnützigkeit, aufTransparenz und Publizitätspflicht erforderlich; damitstehen die Registereintragungen in Zusammenhang. Hiersind Regelungen erforderlich.Ein wesentlicher Dissens liegt in der Frage der Zu-kunft von Familienstiftungen und von mit Unterneh-men verbundenen Stiftungen. Familienstiftungen ma-chen 4 Prozent der Stiftungen aus. Mehrheitlich wurdehier auf die Gemeinnützigkeit Wert gelegt. Aber mansollte nicht mit dem Rasenmäher vorgehen und nicht mitStumpf und Stiel etwas ausrotten, was sich bewährt hat.Man muß Vorsicht walten lassen.Ich nenne ein Beispiel. Die Zeiss-Stiftung hat arbeit-nehmerbezogene Stiftungszwecke. Das Drachenfliegenbehandeln wir genauso wie arbeitnehmerbezogene Stif-tungszwecke. Da ist beiden Seiten Rechnung zu tragen.Wir können nicht die Zeiss-Stiftung beseitigen, aber dasDrachenfliegen als gemeinnützig anerkennen. Da sehenwir Regelungsbedarf.In Ihrem Gesetzentwurf ist eine Erhöhung des Anteilsam Einkommen, der Stiftungen steuerbegünstigt zuge-wendet werden kann, von 5 auf 20 Prozent vorgesehen.Dies findet beim Stifterverband und bei allen Expertenauf diesem Feld große Zustimmung. Daß dies nochweitere Diskussionen auslöst, davon gehen wir aus, HerrStaatssekretär. Wir kommen nämlich gar nicht umhin,eine Bilanz zu ziehen. Wenn wir das aber nur unter demGesichtspunkt betrachten, was dem Staat verlorengeht,dann springen wir zu kurz, weil wir nicht berücksichti-gen, was der Staat eigentlich dabei gewinnt.
Das gilt auch für die Abzugsfähigkeit der Gelder, diedas Stiftungskapital ausmachen oder als Rücklagen ge-bildet werden, um Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeitbei den Stiftungszwecken zu erreichen. Ich bin jetztnicht auf alle Bereiche eingegangen.Mir scheint es sehr wichtig, daß wir angesichts dervorliegenden Entwürfe und der Ergebnisse unserer Ar-beitsgruppe möglichst rasch klären, wieviel Gemein-samkeit wir haben und wo Unterschiede bestehen, diewir ausdiskutieren müssen. Ich glaube, daß wir mit un-serer Antwort auf die Erwartungen möglicher Stifternicht mehr viel Zeit verlieren sollten.
Das hat etwas mit der herrschenden Mentalität in derBundesrepublik zu tun: Alle Experten haben gesagt,Stiftungen geben wichtige Impulse für Innovationenund für die Bereiche in unserer Gesellschaft, in denenPionierarbeit und Thinktanks gefordert sind.
Hier müssen neue Konzepte entwickelt werden, damitProbleme gelöst werden können, die wir bisher nichtoder nicht gut gelöst haben. Wenn wir daran denken,dann haben wir nicht nur die augenblickliche Staats-quote in bezug auf Stiftungstätigkeit und öffentliche Tä-tigkeit im Auge, sondern geben eine Antwort auf diegrundsätzliche Frage: Wollen wir diesen innovativenGeist? Diese muß sich sozusagen in dem „Recht aufStiftung“ niederschlagen; damit würde eine Abkehr vombisherigen Ermessensverfahren stattfinden.Ich wünsche uns, daß wir in diesem Sinne an den be-stehenden Gesetzentwürfen arbeiten, möglichst rasch zueinem Ergebnis kommen und erkennen, daß die Ein-künfte, die wir zu verlieren meinen, durch weitaus grö-ßere Gewinne wieder eingefahren werden können.Ich danke Ihnen.
Dr. Rita Süssmuth
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2567
(C)
(D)
Ich erteile das Wort
Kollegin Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alsich den Gesetzentwurf der F.D.P. gesehen habe, hatteich ein fröhliches Déjà-vu-Gefühl.
– Eben. – Ich habe mich an die Diskussion erinnert, diewir letztes Jahr hier hatten. Da gab es allerdings keinenF.D.P.- und keinen CDU/CSU-Gesetzentwurf, sondernnur einen von Bündnis 90/Die Grünen. In der damaligenKulturdebatte ist Bundeskanzler Helmut Kohl aufge-standen und hat gesagt: Frau Kollegin Vollmer, so weitsind wir gar nicht auseinander. – Das war ein schönerDebattenerfolg. Leider haben die CDU/CSU und dieF.D.P., obwohl es 16 Jahre lang immer Bestandteil ihrerKoalitionsvereinbarungen war, kein Ergebnis zustandegebracht.
Nachdem ich die heutige Debatte verfolgt habe, ahne ichauch, in welchem Haus es diesen zähen Widerstand gab.
Interessant ist aber, daß sich damals, nachdem es derBundeskanzler so positiv aufgenommen hatte, einer sehrnegativ dazu geäußert hatte, nämlich der StaatssekretärFunke von der F.D.P., der dazu in der „Welt“ geschrie-ben hatte. Man hatte den Eindruck, daß kein rechterSchwung dahinter war.
In der Koalitionsvereinbarung zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD ist das Stiftungsrecht an zweiStellen, im steuerrechtlichen und im juristischen Teil,vorgesehen. Diese Passagen in der Koalitionsvereinba-rung halten wir für „Bibelfest“.
Es ist doch auch vernünftig und regelrecht eine An-forderung der Zeit, in diesem Falle etwas zu tun: Jetztgibt es die reichen Erben; jetzt geht es darum, endlichdie Globalisierung privater Vermögen zu bekämpfen.Denn auch das private Vermögen wandert rund um denGlobus. Stiftungen schaffen dagegen die Möglichkeit,daß dieses private Vermögen vor Ort sichtbar dem Ge-meinwesen zugute kommt. Genau das wollen wir undgenau das ist auch richtig.
Man findet eine große Bereitschaft, wenn man einegute Atmosphäre für Stiftungen schafft und an den Bür-gersinn appelliert. Genaugenommen ist das auch einAppell an die vielbeschworene Neue Mitte, daß sie sichfür das Gemeinwesen engagiert. Lothar Späth hat das„intelligente Reichtumsvernichtung“ genannt. Aber mankann das auch noch positiver sehen,
nämlich so, daß diejenigen, die in dieser Gesellschaftreich geworden sind und ihr, für ihre Ausbildung und füralles, was diese Gesellschaft ihnen an Möglichkeitengegeben hat, viel verdanken, das freiwillig zurückgebenkönnen. Das ist der eigentliche Sinn von Stiftungen.
Besonders wichtig ist uns die Idee der Bürgerstif-tung. Ich fand die Polemik gegen die Leute, die Stiftun-gen geschaffen haben – in dem Sinne: Wo habt ihr dasGeld geklaut? –, immer sehr unsozial und auch sehr tö-richt. Der Appell an Bürgerstiftungen, daß also Bürgervor Ort vereinbaren können, was notwendig ist, bedeutetletztendlich eine Auflösung des Reformstaus in unsererGesellschaft von der Bürgergesellschaft her. Deswegensind wir sehr dafür, und deswegen haben wir das auch inder Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Der jetzigeBundeskanzler ist dafür, der frühere Finanzminister wardafür, und auch der nächste Finanzminister wird dafürsein.
Jetzt noch ein Wort zu dem, was die F.D.P. will. Wiegesagt, der grundlegende Gesetzentwurf war der unsri-ge. Da finden Sie alles, was jetzt gefordert wird: Aufhe-bung des Konzessionssystems zugunsten des Normativ-systems, die jährliche Offenlegung der Bilanzen undauch die Einführung eines Stiftungsregisters.Aber nun sehe ich, daß die F.D.P. in ihrem Gesetz-entwurf über unsere Vorschläge hinaus sagt, daß die no-tarielle Beurkundung ausreichen soll. Da, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der F.D.P., gehen Sie ein biß-chen zu weit und öffnen dem Mißbrauch Tür und Tor.Wie ich gesehen habe, hat selbst der Vertreter der Bun-desnotarkammer bei Ihrer Anhörung gesagt, daß er dasnicht für richtig halte. Da sollten Sie doch noch einmalnachdenken, ob Sie das nicht ändern wollen.
Auch die Errichtung von Stiftungen zum alleinigenZweck der Führung eines Unternehmens ist nicht das,was wir wollen. Zu diesem Punkt hat Ihnen der Vertreterdes Kulturkreises des BDI, Freiherr von Loeffelholz, beiIhrer Anhörung gesagt, daß das nicht einmal die Forde-rung der Wirtschaft sei. Ich finde, da sollten Sie eben-falls noch einmal überlegen, ob Sie da richtig liegen.Liebe Rita Süssmuth, zu den Familienstiftungen:Man meint immer, eine Familienstiftung sei eine Stif-tung, die den Namen einer Familie trage. Das ist abervöllig falsch.
Metadaten/Kopzeile:
2568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Eine Familienstiftung im reinen Sinne wäre eine, diesich nur für den Erhalt einer Familie und ihrer Mitglie-der einsetzt. Das haben Sie aber gar nicht gemeint. Na-türlich unterstützen auch wir Familienstiftungen, diegemeinnützige Zwecke haben. Aber daß es sozusagenum die Feudalisierung von Vermögen in Privathand aufEwigkeit geht, kann nicht der Sinn der Sache sein undist es auch für niemanden.
Ein letzter Satz. Bei der großen Einigkeit, die es indiesem Hause doch gibt, wäre es sehr schön, wenn wirdas als Anfang eines großen Dreierschrittes nehmen undden dritten Sektor insgesamt, also das Element der Bür-gergesellschaft, von Grund auf reformieren würden.Man könnte im ersten Schritt das Stiftungsrecht refor-mieren, in einem zweiten Schritt das Freiwilligengesetz,in dem es darum geht, was der einzelne für die Gesell-schaft gibt, wenn er kein Vermögen hat, und in einemdritten Schritt – das wäre eine Herkulesarbeit – das Ge-meinnützigkeitsrecht insgesamt. Das heißt, die Gesell-schaft sollte sich neu überlegen – auch das gehört zurModernisierung –, was sie unter heutigen Bedingungeneigentlich unter Gemeinnützigkeit versteht.
Das wäre eine große Aufgabe für eine Bürgergesell-schaft. Helfen Sie uns dabei!Danke.
Für die PDS-
Fraktion hat das Wort Kollege Heinrich Fink.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Gesetz
zur Reform des Stiftungsrechtes ist dringend nötig. Dar-
über sind wir uns alle einig. Das Interesse daran ist un-
terschiedlich. Meines ist, die Spendenfreudigkeit von
Bürgerinnen und Bürgern, die sich vielleicht sogar zur
Übertragung ihrer gesamten Hinterlassenschaft ent-
schließen, zu fördern, insonderheit für die Kultur, für
die immer weniger Geld da ist.
Von diesem Standpunkt aus gesehen sind wir an allen
parlamentarischen Initiativen interessiert, die den An-
spruch erheben, eine solche vielgestaltige Kulturland-
schaft zu fördern.
Diesen Anspruch erhebt der vorliegende, auf eine Re-
form des Stiftungsrechtes zielende Gesetzentwurf der
F.D.P., der daher unser Interesse geweckt hat. Ausge-
hend von der im Grundgesetz verankerten Kulturförder-
pflicht des Staates halten wir die Kulturfinanzierung
über den Haushalt des Bundes und über die Stärkung der
Finanzkraft von Ländern und Kommunen als den wich-
tigsten Trägern von Kunst und Kultur in Verbindung mit
der weitgehend gewährleisteten demokratischen Kon-
trolle und Transparenz für notwendig,
weil noch am ehesten über eine öffentliche Kulturförde-
rung diejenigen erreicht werden, die nicht im Blickfeld
des repräsentativen Kulturbetriebes liegen.
Die Beschreitung dieses Weges verlangt jedoch auch
einen verstärkten steuerlichen Zugriff auf die in diesem
Lande existierenden großen Vermögen. Eine solche In-
tervention des Staates zugunsten von Kultur, Bildung,
Forschung und vielen sozialen Belangen ist offenbar
auch von der gegenwärtigen Bundesregierung nicht zu
erwarten. Wenn diese Entschlußlosigkeit des Staates nun
mit der Mobilisierung von Teilen dieser Vermögen unter
anderem über einen Ausbau gemeinnütziger Stiftungen
kompensiert werden soll, so stellen wir uns dem nicht
generell entgegen. Wir werden aber die einzelnen
Schritte auf diesem Wege sehr kritisch begleiten.
Wir werden vor allem darauf achten, ob durch einzel-
ne Regelungen dem Mißbrauch der Stiftungen für egoi-
stische wirtschaftliche Interessen Tür und Tor geöffnet
werden. Im vorliegenden Entwurf ist dies unseres Er-
achtens durch die Einbeziehung der sogenannten unter-
nehmensverbundenen Stiftungen bereits vorprogram-
miert.
Die vorgesehene erweiterte Rücklagenbildung be-
darf ebenfalls noch einer gründlichen Abschätzung ihrer
möglichen Folgen. Zu fragen ist auch: Stellt die bisheri-
ge Regelung wirklich ein Hindernis für das Engagement
von Mäzenen und Kulturförderern unter den begüterten
Stiftungswilligen dar? Auch die sehr vage Passage im
Abschnitt „Kosten“ gibt hinsichtlich der Frage, wer der
eigentliche Gewinner der vorgeschlagenen Veränderung
im Steuerrecht ist – die Kultur oder die Wirtschaft –,
keine eindeutige Antwort. Sie muß noch gegeben wer-
den.
Hinsichtlich der ins Auge gefaßten Veränderung im
zivilrechtlichen Bereich plädieren wir für die weitge-
hende Entbürokratisierung, hohe Rechtssicherheit sowie
größte Transparenz und Öffentlichkeit.
Deshalb halten wir die Festschreibung des Normativ-
systems für wichtig. Demgegenüber wird der vorliegen-
de Entwurf auf keinen Fall den genannten Kriterien ge-
recht, wenn er für die Entstehung einer rechtsfähigen
Stiftung lediglich eine notarielle Beurkundung des Stif-
tungsgeschäftes vorschreibt.
Ich komme zum Schluß – meine Redezeit beträgt lei-
der nur 3 Minuten –: In summa: Stiftungsreform – ja, aber
mit einer hohen rechtlichen Absicherung im vorrangigen
Interesse von Kultur, Bildung und sozialen Belangen. Die
Stiftungen dürfen nicht ein Ort stiller Reserven für die
Wirtschaft und für nicht gezahlte Steuern sein.
Das Wort hat nunKollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2569
(C)
(D)
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen! Liebe Kollegen! Ich habe mir vorgenommen, heute
richtig nett zur F.D.P. zu sein, denn der Kollege Pick –
auch das ist selten – hat Sie ja genug „gepickt“.
Der Kollege Otto hat auf eine hinreißende Art und
Weise die Koalitionsvereinbarung zitiert. An diesem
Punkt haben Sie recht: Steuerpolitische Hemmnisse für
Stiftungen zu beseitigen, neue Möglichkeiten für Mä-
zenaten, Stifter und Kultursponsoren zu gewinnen ist
Originalton rotgrün. Sie können in der Koalitionsverein-
barung die entsprechende Stelle nachlesen. Wo sich die
F.D.P. der vernünftigen Linie anschließt, sollte man sie
nicht kritisieren.
Lieber Herr Kollege Otto, wir sind ja beide Mitglied
des Kulturausschusses, wo wir uns gelegentlich um Fra-
gen des Urheberrechts streiten. Deshalb will ich Ihnen
offen sagen, daß Sie ein bißchen von den Vorlagen der
Grünen aus der letzten Legislaturperiode abgeschrieben
haben.
Ich weiß, daß wir das Rad nicht immer neu erfinden
müssen. Sie haben in der Tat berechtigterweise einige
Punkte angesprochen, in denen Dissens zwischen uns
besteht.
Sie sprachen völlig zu Recht – das hat mich von sei-
ten der F.D.P. überrascht – von den großen Vermögen,
den Vermögen in Billionenhöhe, die in Deutschland zur
Vererbung anstehen. Vielleicht kann eine solche Fest-
stellung manch emotionale Debatte über Steuerreformen
in diesem Haus etwas entemotionalisieren. Sie tun ja
gemeinhin so, als stünden die Reichen kurz vor der Ver-
armung.
Nein, es gibt Menschen mit Geld in diesem Lande. Es
gibt aber auch Menschen, die erkannt haben, daß ihnen
das Vermögen lediglich treuhänderisch zusteht und
daß sie es nach ihrem Ableben an die Gesellschaft „zu-
rückzustiften“ haben. Dieses Verständnis sollte ausge-
weitet werden: Reiche müssen erkennen, daß ihnen ihr
Vermögen nur treuhänderisch zusteht.
– Ich bin ja kein Reicher. – Damit Sie nicht denken, ich
hätte Marx zitiert – ich dachte schon, jetzt würde sich
Freiherr von Stetten zu Wort melden; aber er hat sich
zurückgehalten –: Dieser Satz stammt von dem ameri-
kanischen Multimillionär Andrew Carnegie. Er hat 1890
formuliert: Reiche haben ihr Vermögen an die Gesell-
schaft zurückzugeben.
Dies hat 1890 in den USA zu einer Stimmung beige-
tragen, die eine Stiftungswelle auslöste. Ich halte dies
für interessant. Wer würde heute noch von Carnegie re-
den, hätten wir nicht in New York die Carnegie-Hall?
Sie ist eine Auswirkung dieser Stiftungswelle. – Es gab
also schon Multimillionäre, die für ihr Land mehr Ver-
antwortung gezeigt haben als der eine oder andere Rei-
che, den Sie immer so leidenschaftlich verteidigen.
Unser Problem ist, daß wir in Deutschland keine Stif-
terkultur entwickelt haben, wie es in Ländern insbe-
sondere des angelsächsischen Raums geschehen ist. Eine
Denkweise, wie sie bei Carnegie vorhanden war, ist hier
nicht ausgeprägt. Wir können sicherlich einen Beitrag
dazu leisten, daß dieses Denken gefördert wird: für Bil-
dung und Forschung, für Kultur und Kunst.
Kollege Meyer hat mich darauf aufmerksam gemacht:
Wir brauchen Modelle der Prävention für Jugendliche,
die kriminell und gewalttätig geworden sind, wissen
aber nicht genau, in welche Richtung wir dabei gehen
müssen. Stiftungen könnten hier in eine ganz wesentli-
che Bresche springen, wie es beispielsweise bei der
Deutschen Krebshilfe der Fall ist. Diese kommt bis
heute ohne eine Mark an öffentlichen Mitteln aus, wirkt
aber dennoch segensreich. – Das ist das Stiftungswesen
positiv verstanden. Ich glaube, Frau Kollegin Süssmuth,
da sind wir in der Tat einer Meinung.
Etwas problematisch wird es aber bei den 20 Prozent,
die Sie vorgeschlagen haben; das sage ich ganz offen.
Wir werden das natürlich in aller Sorgfalt diskutieren.
Was wir allerdings nicht wollen, ist eine Familien-
stiftung. Damit keine Mißverständnisse aufkommen –
ich glaube, wir haben dies auch geklärt –: Eine Familien-
stiftung hat nichts damit zu tun, daß Familien ihren Na-
men geben. Es handelt sich hier in der Tat um ein Steu-
ersparmodell, um den Erhalt privaten Vermögens. Das
ist nicht unser Ziel. Wenn Sie sagen, daß dies auch Ihr
Ziel nicht ist, dann kommen wir voran – auch bei den
Finanzbeamten, die dem, was wir tun, gründlich miß-
trauen. Ich weiß nur nicht, ob Ihr Vorschlag hinsichtlich
der 20 Prozent sehr sinnvoll ist. Ich fürchte, Sie bekom-
men nicht das Geld, das Sie haben wollen, erfahren aber
auf der Finanzseite sehr viel Widerstand.
Kollege Tauss, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Sicher. Ich war schon überrascht,
daß bisher niemand eine Zwischenfrage stellen wollte.
Kollege Otto, bitte schön.
Ich binheute friedlich. – Herr Kollege Tauss, darf ich Sie in be-zug auf Ihre Philippika gegen die Familienstiftungendarauf aufmerksam machen, daß die Familienunterhalts-stiftung – diese haben Sie eben angesprochen – über-haupt keine Steuervorteile hat, weil die Mittel aus derfinanziellen Entlastung durch das Gemeinnützigkeits-recht, über das wir heute sprechen, nur für gemeinnützi-ge Zwecke ausgegeben werden dürfen? Der Vorwurf,die Familienstiftungen seien ein Steuersparmodell, istleider von Unkenntnis getragen. Darüber muß ich Sieaufklären.
Metadaten/Kopzeile:
2570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Lieber Kollege Otto, über Un-
kenntnis können wir uns im Ausschuß lange unterhalten.
Erstens. Sie wissen ganz genau, daß es Konstruktio-
nen gibt, die höchst fragwürdig sind. Wenn Großunter-
nehmen in diesem Lande über Stiftungsmodelle mehr an
Körperschaftsteuer sparen, als sie an den Staat entrich-
ten, dann ist das ein verkehrter Weg. Dies wollen wir
nicht.
Zweitens. Ich sage Ihnen noch etwas über die Fami-
lienstiftung: Da gibt es einen mißratenen Sohn oder eine
mißratene Tochter, und die Familie will nicht, daß diese
ihr Leben auf dem Golf- oder dem Tennisplatz verbrin-
gen. Sie will das Vermögen erhalten; es soll nicht für
Jachttouren in die Karibik ausgegeben werden. Das mag
auch legitim und vernünftig sein. Genau das aber ist
nicht das Ziel, das wir mit einer Reform des Stiftungs-
rechts verfolgen. Ich hoffe, daß wir uns darauf einigen
können. Das ist eine Idee, die legitim sein mag. Wer will
schon sein Geld, das er erarbeitet hat, an lockere Men-
schen verschenken! Aber das ist nicht das Ziel, über das
wir heute diskutieren.
Wenn wir diese Signale auch den Beamten im Finanz-
ministerium deutlich machen, dann haben die weniger
schlaflose Nächte. Die denken ja immer, daß wir etwas
Unanständiges machen. Können wir uns darauf verstän-
digen?
– Ich danke Ihnen, lieber Kollege Otto.
Das, was wir vorhaben, muß seriös durchgerechnet
werden. Das ist doch völlig klar. Die bestehenden
Rechtsprobleme hat Kollege Pick angesprochen. Ich
glaube tatsächlich, daß das Registermodell nicht im
Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen sollte. Wir be-
finden uns mit den Vertretern der Länder in einem sehr
intensiven Dialog. Wir haben seitens unserer Arbeits-
gruppen für Kultur und Medien sowohl von grüner als
auch von roter Seite Vorschläge vorgelegt. Darüber
kann man sprechen. Die Stiftungsreferenten der Länder
haben ein großes Interesse signalisiert, mit uns einen
Dialog zu führen. Dies müssen wir auch tun, und zwar
auf vernünftige Weise. Wir werden Lösungen finden,
lieber Freiherr von Stetten, nicht deshalb, weil es seit
100 Jahren so ist,
sondern deshalb, weil wir miteinander etwas Vernünfti-
ges erreichen wollen.
Wir können an dieser Stelle auch über Thesaurie-
rungsverbote und all diese Dinge diskutieren. Das ist
schlichtweg Unfug. Da sind wir uns sehr schnell einig.
Das Land Rheinland-Pfalz wollte neulich eine Stiftung
gründen. Da stellte man fest, daß dies nicht geht. Ein
solches Vorgehen kann jedoch unter vielen Umständen
Sinn machen. Über all diese Dinge wollen wir sprechen.
Das ist unser Ziel.
Der Gedanke des Stiftungswesens – auch das ist zu
betonen – muß aufgewertet werden. Was passiert denn
heute, wenn einer eine Stiftung gründen will? Er muß
sich zum Beispiel im Regierungspräsidium an das Amt
für Abfallwirtschaft und Stiftungswesen wenden. Man
macht ihm damit schon auf dem Flur deutlich, daß er
eigentlich unwillkommen ist,
daß es der Verwaltung nicht willkommen ist, daß je-
mand privates Geld in gesellschaftliche Aufgaben, also
zum Beispiel in die Krebshilfe oder in andere Bereiche,
investiert.
Da können wir in der Tat – siehe Carnegie – etwas tun.
Das heißt also, wir werden einen ausgezeichneten
Gesetzentwurf vorlegen. Die Koalitionsvereinbarung
wird umgesetzt. Wenn die F.D.P. mitmacht und uns
hilft, dann ist das prima. Ich habe gehört, auch die Union
will einen Entwurf auf den Weg bringen.
– Das ist klasse. Sie sehen, die Oppositionsrolle setzt in
Ihrer Partei kreative Kräfte frei! Dabei sollte es bleiben.
Danke schön.
Ich schließe die Aus-
sprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/336 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Für die vorgesehenen Fraktionssitzungen unterbreche
ich jetzt die Sitzung. Sie wird um 11 Uhr mit der Regie-
rungserklärung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem
Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Son-
dertagung des Europäischen Rates in Berlin fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sit-zung wieder und rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Abgabe einer Erklärung der Bundesregierungzur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Ein-greifen der NATO und zu den Ergebnissen derSondertagung des Europäischen Rates in Berlin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2571
(C)
(D)
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derPDS vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion derF.D.P. auf Drucksache 14/643 wurde zurückgezo-gen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache nach der Regierungserklärung dreiStunden vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht.Dann ist so beschlossen.Ich gebe jetzt das Wort zur Abgabe einer Regierungs-erklärung dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieserWoche hat Europa Handlungsfähigkeit beweisen müs-sen. Die Kosovo-Krise, der Rücktritt der Kommissionund die Agenda 2000 waren in dieser Bündelung wohlmit die größten Herausforderungen, die ein EuropäischerRat jemals bewältigen mußte. Ich bin froh und bin auchstolz, Ihnen heute sagen zu können, daß die EuropäischeUnion unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfungbestanden hat.
In den frühen Morgenstunden ist es uns nach anstren-genden und gewiß harten Verhandlungen in Berlin ge-lungen, die Agenda 2000 zu verabschieden. Mit diesem,wie ich es nennen möchte, Berlin-Paket haben wireinen Kompromiß gefunden, bei dem alle beteiligtenParteien, also auch wir, Abstriche von ihren Ausgangs-positionen zu machen hatten. Es ist ein Kompromiß, dervernünftig ist und mit dem alle leben können. Genaudeshalb ist er gut und richtig.
Bereits am Mittwoch habe ich in meiner Eigenschaftals Präsident des Europäischen Rates Romano Prodinamens und im Auftrage des Europäischen Rates für dasAmt des Präsidenten der Kommission vorgeschlagen.Nach Zustimmung durch das Europäische Parlamentwerden wir schon im Sommer wieder eine handlungsfä-hige Kommission unter seiner gewiß hochkompetentenLeitung haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in derNacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägengegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. DasBündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitereschwere und systematische Verletzungen der Menschen-rechte im Kosovo zu unterbinden und um eine humani-täre Katastrophe dort zu verhindern.Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung unddie Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen undMonaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelas-sen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zuerzielen. Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, diealbanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und dieStaatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen.Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Pe-tritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in intensi-ver Reisediplomatie mit den beiden KonfliktparteienGespräche geführt und den Boden für ein faires Ab-kommen bereitet. In Rambouillet und Paris ist mehrereWochen lang – wir alle waren Zeugen – hartnäckig ver-handelt worden. Zu dem dort vorgelegten Abkommen,das die Menschenrechte der albanischen Bevölkerungs-mehrheit im Kosovo, aber auch die territoriale Integritätder Republik Jugoslawien gewährleistet, gibt es nachmeiner festen Auffassung keine Alternative.
Das ist der Grund, warum alle Parteien diesem Abkom-men hätten zustimmen müssen.Die Ziele dieses Abkommens – das ist mir wichtig –werden auch von Rußland geteilt. Ich selbst habe ineinem Telefongespräch mit dem russischen Premiermi-nister Primakow unterstrichen, daß die EuropäischeUnion die Beziehungen zu Rußland nicht einschränken,nicht relativieren, nein: gerade jetzt weiter ausbauenwird.
Wir haben – das betrifft alle Parteien dieses Hauses –mit Rußland eine Qualität in unseren Beziehungen er-reicht, die wir von unserer Seite aus nicht in Frage ge-stellt sehen wollen.Die Vertreter der Kosovo-Albaner haben dem Ab-kommen von Rambouillet schließlich zugestimmt. Ein-zig die Belgrader Delegation hat durch ihre Obstruk-tionspolitik alle, aber auch wirklich alle Vermittlungs-versuche scheitern lassen. Sie allein trägt die Verant-wortung für die entstandene Lage.
Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieggegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert.Unsagbares menschliches Leid ist die Folge dieser Poli-tik. Mehr als 250 000 Menschen mußten aus ihren Häu-sern fliehen oder wurden gar mit Gewalt vertrieben. Al-lein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal80 000 Menschen dem Inferno, das es dort gibt, zu ent-rinnen versucht. Umgerechnet auf die Bevölkerung derBundesrepublik Deutschland wäre das die Einwohner-schaft einer Metropole wie Berlin. Es wäre zynisch undverantwortungslos gewesen, dieser humanitären Kata-strophe weiter tatenlos zuzusehen.
Bis zuletzt hat sich die Staatengemeinschaft bemüht,dem Morden auf diplomatischem Wege Einhalt zu ge-Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Metadaten/Kopzeile:
2572 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
bieten. Außenminister Fischer als EU-Ratspräsident,der russische Außenminister Iwanow und der OSZE-Vorsitzende Vollebaek haben Präsident Milosevic inBelgrad zur Annahme des Rambouillet-Abkommensgedrängt. Schließlich hat Richard Holbrooke als Son-dergesandter der Vereinigten Staaten am Montag undDienstag dieser Woche einen allerletzten Versuch un-ternommen, das Regime in Belgrad zum Einlenken zubewegen – alles vergebens. Wir hatten deshalb keineandere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündetendie Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutli-ches Zeichen dafür zu setzen, daß wir als Staatenge-meinschaft die weitere systematische Verletzung derMenschenrechte im Kosovo nicht hinzunehmen bereitsind.Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß diesdas erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ist, daß deut-sche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darfIhnen deshalb versichern, daß die Bundesregierung sichihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wirwissen uns einig und in Übereinstimmung mit der gro-ßen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott seiDank, auch mit der großen Mehrheit des DeutschenBundestages – über alle Parteigrenzen hinweg.Ich möchte von dieser Stelle aus ein Wort des auf-richtig empfundenen Dankes an unsere Soldaten undihre Familien richten.
Sie erfüllen eine schwierige und – das muß man redli-cherweise hinzufügen – auch gefährliche Mission. Ob-wohl wir alles getan haben und tun werden, um für ihrenSchutz und ihre Sicherheit zu sorgen, können wir Gefah-ren für Leib und Leben nicht ausschließen. Gerade des-halb sollen sie wissen, daß die Mehrheit unserer Mitbür-gerinnen und Mitbürger ihren Einsatz für die Mensch-lichkeit und den Frieden wohl zu würdigen weiß undihnen dafür zutiefst dankbar ist.
Ich denke, es ist ein Gebot des Anstandes und der Ver-nunft, auch vom Deutschen Bundestag aus ein Zeichender Solidarität und der Unterstützung an unsere Streit-kräfte zu richten.Die Verantwortung für die entstandene Lage trägtallein die extremistische Belgrader Führung. Es liegt inihrer Hand, die Militäroperation unverzüglich zu been-den. Auch von dieser Stelle – aus dem deutschen Parla-ment heraus – fordere ich deshalb Präsident Milosevicnoch einmal auf, die Kämpfe im Kosovo sofort zu been-den und das Friedensabkommen zu unterzeichnen. Dannwird Frieden sein können, meine Damen und Herren.
Die NATO und die internationale Gemeinschaft insge-samt sind unverändert bereit, mit Zustimmung derStreitparteien mitzuhelfen, das Abkommen von Ram-bouillet umzusetzen. Wir sind auch bereit, für die mili-tärische Absicherung eines Waffenstillstandes einzu-treten. Dafür stehen erste NATO-Einheiten, darunter3 000 deutsche Soldaten, bereit. Auch sie sollen wissen,daß die Bundesregierung und das deutsche Parlamenthinter ihnen stehen.
Auf der Sondertagung des Europäischen Rates inBerlin hat Europa seine Verantwortung für eine fried-liche Entwicklung auf dem Kontinent bekräftigt. Wirkönnen heute mit berechtigtem Stolz sagen: Angesichtsder schwierigen Mission im Kosovo spricht Europawirklich mit einer Stimme.Die Staats- und Regierungschefs der EuropäischenUnion haben in Berlin einvernehmlich beschlossen, denfrüheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Pro-di zu bitten, das wichtige Amt des Präsidenten derEuropäischen Kommission zu übernehmen. Gleichzei-tig haben die Staats- und Regierungschefs der Europäi-schen Union den Rücktritt der Kommission mit Respektzur Kenntnis genommen. Gleichgültig, was auch immerkritisiert worden ist und wieviel Grund es dafür gegebenhaben mag – an dieser Stelle möchte ich der scheiden-den Kommission und deren Präsidenten Jacques Santernoch einmal für ihre Arbeit danken, die sie für Europageleistet haben.
Ich füge hinzu – ich denke, auch das ist gerade in einersolchen Situation angemessen –: Ohne die Vorarbeiten,ohne den Rat der Mitglieder sowie der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter der Kommission in Berlin und – trotzallem, was vorgefallen ist – ohne ihre konstruktivenVorschläge wären wir auf diesem Sondergipfel wohlkaum so schnell zu einer auskömmlichen Einigung ge-langt. In Anwendung des im Vertrag von Amsterdamfestgelegten Verfahrens – unabhängig von seinem wohldoch rechtzeitigen Inkrafttreten – wird die Nominierungvon Romani Prodi – nein, Romano – –
– Es ist wirklich schwierig, jedenfalls zu diesem Zeit-punkt.
Die Nominierung von Romano Prodi also wird dem ge-genwärtigen Europäischen Parlament zur Zustimmungvorgelegt werden. Anschließend soll der designierteKommissionspräsident versuchen, in Zusammenarbeit mitden Regierungen der Mitgliedstaaten so früh wie möglichdie Ernennung einer neuen Kommission vorzubereiten.Die Regierungen der Mitgliedstaaten werden dann imEinvernehmen mit Romano Prodi
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2573
(C)
(D)
die übrigen Personen benennen, die sie als Kommis-sionsmitglieder zu ernennen beabsichtigen. Dieses neueKollegium wird sich schon im Sommer dieses Jahresdem Votum des dann neu gewählten Europaparlamentsstellen. Damit schaffen Rat und Parlament die Voraus-setzungen, daß die neue Kommission ihre Arbeit zumfrühestmöglichen Zeitpunkt beginnen und ab Januar2000 für eine volle fünfjährige Amtszeit fortführenkann.
Durch den Rücktritt der Kommission drohte dem ver-einten Europa die Gefahr einer schweren institutionellenKrise. Vor diesem Hintergrund läßt sich ermessen, wiebedeutend die schnelle und überzeugende Lösung dieserKrise durch die Ernennung des neuen Kommissionsprä-sidenten ist. Europa hat – das darf man ruhig deutlichunterstreichen – in dieser Situation Entschlossenheit undauch Handlungsfähigkeit bewiesen. Ich denke, das wirdEuropa und der europäischen Idee im Bewußtsein derBürgerinnen und Bürger auch unseres Landes helfen.
Ich sage das keineswegs nur aus pragmatischenGründen. Die in Berlin versammelten Delegationen,Minister sowie Staats- und Regierungschefs waren trotzaller Unterschiede in Einzelfragen der Agenda 2000 ineiner Überzeugung geeint, nämlich in der, daß wir dieeinmalige historische Chance, die sich den europäi-schen Völkern durch den konsequenten Integrationspro-zeß bietet, wirklich beherzt ergreifen wollen. Wir habenden Schritt zur Wirtschafts- und Währungsunion getan.Weitere EU-Mitgliedstaaten werden sich dieser Unionanschließen. Genau dafür, also für die Erweiterung derUnion, sind in Berlin allerwichtigste Grundlagen gelegtworden.
Wir haben heute die Möglichkeit, ausgehend von50 Jahren Frieden in Europa, unsere Völker und Staatenin freundschaftlicher Nachbarschaft immer enger mit-einander zu verzahnen. Dies ist der Auftrag, den wir vonden Vätern und Müttern, die zwei schreckliche Kriegeauf diesem Kontinent erleben mußten, übernommen ha-ben. Wir werden ihn konsequent ausführen. Dies ist derAuftrag, den uns unsere Kinder, für die das vereinteEuropa auch eine kulturelle – nicht nur eine politische –Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich aufs neueerteilen.Dieses gemeinsame Europa kann nicht par ordre dumufti oder auf einem Gipfeltreffen beschlossen werden.Nein, es braucht die Unterstützung der freien Bürgerin-nen und Bürger dieses Kontinents, sonst greift es zukurz. Es braucht auch nicht nur auf die Entscheidungender politischen Führungen zu starren; denn in der gutenNachbarschaft unserer Völker ist ein Europa, das sichauf die Menschen stützt und stützen kann, längst ent-standen. Aber Europas Bürgerinnen und Bürger habenein Recht darauf, daß ihre Regierungen die europäischenInstitutionen handlungsfähig machen und sie dadurcherhalten. Genau das haben wir getan.
Genau das in einer schwierigen Situation geschafft zuhaben ist der große, ja der durchschlagende und währen-de Erfolg des Gipfeltreffens in Berlin.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union– ich habe darauf verwiesen – braucht so bald wie mög-lich eine starke Kommission, die dem Gebot der Effi-zienz, der Transparenz und – das ist entscheidend – derBürgernähe wirklich gerecht wird. Wir werden deshalbden designierten Kommissionspräsidenten Prodi bitten,im Dialog mit den Mitgliedstaaten ein Programm auszu-arbeiten, in dem die veränderte Arbeitsweise der neuenKommission fest umrissen wird. Ein erster Gedanken-austausch zwischen den Staats- und Regierungschefsund dem neuen Kommissionspräsidenten über ein sol-ches Reformprogramm wird bereits am 14. April, ver-mutlich in Brüssel, stattfinden.Wir müssen und wollen bei der Verwaltung von Ge-meinschaftsfonds, von Programmen und von Projektendurch die Kommission ein Höchstmaß an Integrität, aberauch ein Höchstmaß an Effizienz in der Durchführungerreichen.
Unsere Bürgerinnen und Bürger haben genau daraufeinen Anspruch.
Die europäischen Völker wollen die Integration. Siedrängen uns auch, den nächsten Schritt zu tun, ohne dendie europäische Vereinigung unvollendet bliebe: Ichmeine die Erweiterung der Europäischen Union umunsere östlichen Nachbarstaaten.
Die Union, meine Damen und Herren, darf nicht anDeutschlands Ostgrenze enden. Gerade deshalb habendie Bürgerinnen und Bürger Europas kein Verständnisfür administrativen Unterschleif oder eine Politik desnationalen Egoismus.Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß es unsauf dem Berliner Gipfeltreffen gelungen ist, darüberhinaus wichtige Vereinbarungen zu erzielen. Nach runddreijährigen Verhandlungen ist eine Einigung zumHandels- und Kooperationsabkommen mit Südafrikaerzielt worden.
Damit, meine Damen und Herren, stellt Europa unterBeweis, daß es ihm mit seinem Engagement für dasBundeskanzler Gerhard Schröder
Metadaten/Kopzeile:
2574 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
neue Südafrika – für das Südafrika des so großartigenMenschen Nelson Mandela – ernst ist.
Das geeinte Europa stellt unter Beweis, daß es eben kei-ne Exklusivveranstaltung für die Reichen der Welt ist,sondern daß es zu freundschaftlicher Zusammenarbeitgerade mit denen fähig ist, denen es nicht so gut gehtwie den reichen Nationen dieser Welt. Daß wir übrigensdiese Einigung am letzten Tag der Amtszeit von Präsi-dent Nelson Mandela, der auch mir ganz persönlich mitseinem opferreichen Kampf für die Menschenrechtestets ein Vorbild gewesen ist,
erzielen konnten, erfüllt mich wirklich mit Freude.
Meine Damen und Herren, wie es so ist: Ein guterKompromiß tut allen weh. Das gilt auch für den in Ber-lin erzielten Kompromiß zur Agenda 2000. Gleich-wohl können alle Partner, also auch wir, mit den Ergeb-nissen zufrieden sein. Bedenkt man, wie weit die Aus-gangspositionen auseinander lagen, ist das Ergebnis zu-friedenstellend, weil es ausgewogen ist. Die Einigung,die wir in Berlin erzielt haben, ist ein klares Signal andie europäischen Bürgerinnen und Bürger, an dieMärkte und an die Beitrittskandidaten, und sie belegt,daß wir alle am Ende unsere gemeinsame Verantwor-tung vor die jeweiligen Einzelinteressen gestellt haben.Das Berliner Paket ist ein tragfähiges Fundament für dasHandeln der Europäischen Union.Zwei Prinzipien standen und stehen dabei im Vorder-grund: Ausgabenstabilität und Solidarität innerhalbEuropas mit den Schwächeren.
Wir haben uns auf einen Rahmen geeinigt, der uns vor-gibt, auch in Europa strenge Haushaltsdisziplin zuüben. Wir werden dabei den Zusammenhalt unter denMitgliedstaaten wahren, so wie es der Vertrag vorsieht.Wir haben in Berlin eine Obergrenze für dieEU-Ausgaben bis zum Jahr 2006 einvernehmlich fest-geschrieben. Das war am Anfang alles andere als eineSelbstverständlichkeit. Diese Grenze wird bei 1,27 Pro-zent des EU-Bruttosozialproduktes liegen.Wir werden in zwei Stufen bis zum Jahre 2004 dieMehrwertsteuereigenmittel zur Hälfte auf Bruttosozial-produkteigenmittel umstellen. Wir erhöhen die Erhe-bungskostenpauschale bei den sogenannten traditionel-len Eigenmitteln von 10 Prozent auf 25 Prozent. BeimBeitragsrabatt für Großbritannien sowie beim Schlüsselfür die Finanzierung des Rabatts haben wir Modifikatio-nen vereinbart, die zu einer größeren Beitragsgerechtig-keit für die Nettozahler – damit meine ich alle Netto-zahler, nicht nur Deutschland – führen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in derAgrarpolitik sind wir nach langem Ringen zu einerauskömmlichen Lösung gelangt. Vielleicht wird es demeinen oder anderen an Begeisterung mangeln. Denjeni-gen, bei dem das so ist, kann ich trösten: Bei mir ist dasnicht anders.Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide undRindfleisch sowie die auf dem Petersberger Gipfel ver-einbarte Höchstgrenze für die Agrarausgaben. Auchüber den Kohäsionsfonds haben wir eine Einigung er-zielt. Innerhalb der Strukturfonds haben wir für die neu-en Bundesländer auch für die nächsten sieben Jahre diehöchste Förderpriorität gesichert.
Übrigens, dazu gehört auch eine vernünftige Übergangs-regelung für Ostberlin.
Man nennt das in der Sprache der europäischen Beamten„phasing out“.
– Sehen Sie: Irgendeinen Grund zur Freude muß ichIhnen doch auch geben.
Auch wir Deutschen haben nicht alles von demdurchsetzen können, was wir gern durchgesetzt hätten.Das gerade hier zu sagen gebietet die Redlichkeit.
Etwas Wesentliches haben wir allerdings erreicht:Die Ausgabenbegrenzung konnte so festgeschriebenwerden, wie Deutschland und einige unserer Partner esim nationalen, aber auch im europäischen Interesse ge-fordert haben. Schritte hin zu mehr Beitragsgerechtig-keit liegen nicht nur im deutschen, im niederländischen,im österreichischen oder im schwedischen Interesse; derGesichtspunkt der Solidarität und der Gerechtigkeit auchden Stärkeren gegenüber liegt vielmehr auch im euro-päischen Interesse. Solidarität ist eben keine Einbahn-straße.
Wir haben uns deshalb in Berlin darauf geeinigt, daßdie Kurve der deutschen Nettozahlungen in der Ten-denz gestoppt und – naturgemäß langsam – umgedrehtwird.
Aber es gilt ganz kühl festzustellen: Wir werden nichtauf einen Schlag reparieren können, was in der Vergan-genheit versäumt worden ist.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2575
(C)
(D)
– Das ist so! Sollte sich der eine oder andere von dieseroder jener Bank zu Wort melden, dann bin ich sehr ge-spannt darauf, ob er es schafft, das, was wir in Berlin er-reicht haben, mit dem zu vergleichen, was andere ausEdinburgh mitgebracht haben.
Auf diese Diskussion, die wir sicherlich noch mitgroßem Nachdruck und mit großem Interesse miteinan-der – in welchen Gruppierungen bei Ihnen auch immer –werden führen können, freuen wir uns wirklich.
Deutschland hat die EU–Ratspräsidentschaft in einergewiß prekären Lage übernommen. Am Ende diesesHalbjahres werden wir vier Gipfeltreffen der Staats- undRegierungschefs hinter uns gebracht haben, und dies– wie wir mit ein Stück weit Stolz sagen – durchaus mitErfolg.Mit der Nominierung von Prodi haben wir eine insti-tutionelle Krise in der Union abwenden können. Die La-ge im Kosovo hat die europäische Wertegemeinschafterstmals seit dem zweiten Weltkrieg vor den Zwang ge-stellt, mit militärischen Mitteln eine humanitäre Kata-strophe verhindern zu müssen.Mit dem Berliner Paket haben wir eine gute Basisgelegt, um die Osterweiterung der Europäischen Unionvoranzutreiben. Diese Erweiterung ist und bleibt unseregrößte, unsere drängendste Aufgabe.
Die Europäische Union strukturell und finanziell für dieAufnahme der Beitrittskandidaten fit zu machen – ichhabe darauf immer wieder hingewiesen – stand und stehtweit oben auf der europäischen Tagesordnung.Auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni wollen wir dar-über hinaus einen Beschäftigungspakt für und in Europaverabschieden und einen Fahrplan für die dringend not-wendigen institutionellen Reformen der EU festlegen.Damit erweisen wir uns einmal mehr als der in der Rea-lität und nicht nur im Reden wirkliche und ehrliche An-walt der Beitrittskandidaten.
Mit dem in Berlin erreichten Kompromiß sind wirunseren Zielen, vor allen Dingen dem Ziel, Europa zuerweitern, ein großes Stück näher gekommen. Ich er-warte nicht, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hausesallen Einzelheiten des Kompromisses zustimmen. Aberich erwarte, meine Damen und Herren, daß wir denernstgemeinten Versuch machen, europäische Politik einStück weit herauszuhalten aus dem politischen Konkur-renzkampf der Parteien.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt der Herr Vorsitzende der CDU/CSU–Fraktion, Dr.
Wolfgang Schäuble.
Frau Präsi-dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! EugenGerstenmaier, der große Präsident dieses Hauses, hatseine Memoiren mit dem Titel überschrieben: „Streitund Friede hat seine Zeit“. Wir sind heute in einer be-sonderen Situation. Wir haben, Herr Bundeskanzler, ge-stern schon kurz darüber debattiert. Deswegen will ichganz ruhig und klar sagen, inwieweit wir das unterstüt-zen, was Sie gesagt haben, und worin wir uns unter-scheiden.Wir unterstützen, Herr Bundeskanzler, das, was Siezur Lage im Kosovo gesagt haben. Ich habe gestern fürdie CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß sich die Bundesre-gierung auf unsere Unterstützung verlassen kann.
Ich fand richtig – und wir unterstützen das –, was Siegrundsätzlich zu Europa, zum Prozeß der europäischenIntegration und zu der Notwendigkeit der Erweiterunggesagt haben. Wir unterstützen besonders und begrüßen,daß es dem Europäischen Rat gelungen ist, sich so raschauf einen Nachfolger von Santer zu einigen. Wir begrü-ßen, daß man sich darauf geeinigt hat, Romano Prodi alsneuen Kommissionspräsidenten vorzuschlagen.
Wir sind in der Bewertung dessen, was auf dem Berli-ner Gipfel zur Agenda 2000 erreicht worden ist, unter-schiedlicher Meinung. Das muß auch so bleiben. HerrBundeskanzler, ich glaube auch gar nicht, daß es gut wä-re, wenn wir Europa und europapolitische Fragen, wie Sieam Schluß ein bißchen mißverständlich – vielleicht habeich Sie nicht richtig verstanden – gesagt haben, aus demStreit, aus der politischen Konkurrenz herausnehmenwürden. Die Demokratie, die Suche nach Alternativen,das Ringen um die besseren Lösungen muß bei aller Ge-meinsamkeit darüber, daß die europäische Einigung daswichtigste Projekt am Ende dieses Jahrhunderts ist, auchund gerade in europäischen Fragen funktionieren.Ich möchte gerne noch ein Wort zu der aktuellen Si-tuation im Kosovo sagen. Das erste ist: Wir fühlen unsin diesen Stunden mit den Soldaten, mit ihren Familienund auch mit den Streitkräften unserer Verbündeten ver-bunden. Unsere Unterstützung gilt ihnen. Wir begrüßen,daß alles getan wird, um Gefahren so gering wie mög-lich zu halten.
Man muß es immer und immer wieder sagen: DieVölkergemeinschaft hat mit unendlicher Langmut ver-sucht zu verhindern, was unvermeidlich geworden ist.Aber es ist gut, notwendig und unausweichlich, daß amBundeskanzler Gerhard Schröder
Metadaten/Kopzeile:
2576 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Ende Langmut nicht mit Wankelmut verwechselt wer-den durfte. Deswegen mußte jetzt eine klare, feste Ent-scheidung getroffen werden.
Die Angriffe richten sich nicht gegen das serbischeVolk. Die Menschen sollten sich auch nicht durch diejetzt angeworfene Propagandamaschine in die Irre leitenlassen. Worum es geht, ist, Morden zu verhinden und zuhelfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall inEuropa, auch in Jugoslawien und vor allem im Kosovo,wiederhergestellt wird. Worum es geht, ist, daß eineTragödie für Hunderttausende von Menschen so raschwie möglich beendet wird. Darum und um nichts ande-res geht es. Dafür werden wir geschlossen und ent-schlossen die getroffenen Entscheidungen unterstützen.
Wir stimmen darin überein, daß es notwendig undrichtig ist, so rasch wie möglich zu erreichen, daß dieWaffen im Kosovo schweigen, und so rasch wie mög-lich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wiederhumanitäre Hilfe geleistet werden kann, damit dasElend, dem die Menschen durch die Aggression, dasVerbrechen, das Morden dieses Diktators ausgesetztsind, gelindert werden kann.Ich will noch eine Bemerkung im Hinblick auf mancheÄußerungen aus diesem Hause am gestrigen Tage undauch in der öffentlichen Debatte machen: Ich finde, wirhaben im Oktober in Kenntnis aller Probleme auf sichererverfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grund-lage die notwendige Entscheidung dieses Bundestagessorgfältig erwogen und getroffen. Ich bin dagegen, jetzt ineine verfassungsrechtliche Rabulistik einzutreten, dienicht weiterführt. Im übrigen will ich noch eine Bemer-kung machen: Das Verfassungsgericht hat die Klage ge-gen diesen militärischen Einsatz ja zurückgewiesen.Ich habe schon einmal diesen Aufsatz aus einer gro-ßen deutschen Tageszeitung im Zusammenhang damitzitiert. Wenn ich mir die verfassungsrechtlichen Debat-ten dazu so anhöre, habe ich das Gefühl, daß man nichtimmer unterscheiden kann. Wir werden nicht durcheinen Verzicht auf militärische Mittel – eingesetzt zurBewahrung des Friedens und zur Beendigung des Mor-dens – Frieden erreichen und das Morden beenden. Esgeht darum, größeres Morden zu verhindern.Es kann am Ende dieses Jahrhunderts doch nicht sein,daß am Schluß dieser rabulistischen Diskussionen Über-schriften stehen wie jene eines Zeitschriftenaufsatzes, dieda lautete: „Wir lassen uns in Ruhe – auch beim Morden“.Wir dürfen uns in Europa und in dieser einen Welt beimMorden nicht mehr in Ruhe lassen. Darum geht es.
Die aktuelle Lage unterstreicht – insofern fand dieserBerliner Gipfel ganz gewiß unter bestimmten Umständenstatt –, wie notwendig ein handlungsfähiges, ein starkesEuropa ist. Es ist der beste Weg, die größte Chance an derSchwelle zum kommenden Jahrhundert, Frieden in ganzEuropa sicherzustellen, was leider in diesen Tagen immernoch nicht gelungen ist. Deswegen ist es auch richtig, daßwir alle unsere Kraft darauf verwenden, den Beitritt derLänder aus Mittelost- und Südosteuropa so rasch wiemöglich voranzubringen. In diesem Zusammenhang istdaran zu erinnern, daß die Aufgabe der Agenda 2000 vorallem darin bestand, die Voraussetzungen dafür zu schaf-fen, daß dieser Beitritt erleichtert wird und er so rasch wiemöglich zustande kommen kann. Auch da stimmen wiralso im Grundsätzlichen überein.Ich finde gut, daß die Entscheidung für RomanoProdi so schnell getroffen worden ist. Wir unterstützenauch die Absicht, schon jetzt nach den Regeln des Am-sterdamer Vertrages – auch wenn er noch gar nicht inKraft ist – zu verfahren, so daß die Entscheidung desRates durch das jetzt im Amt befindliche EuropäischeParlament bestätigt und Prodi beauftragt wird, ein Re-formprogramm zu entwickeln und eine Kommission zubilden. Diese muß dann noch einmal als Ganzes vomneu zu wählenden Parlament einer Bestätigung zuge-führt werden, um dann eine neue, handlungsfähigeKommission zu haben, die für die volle Amtszeit vonfünf Jahren an einem Programm institutioneller Refor-men arbeiten und somit einen Beitrag leisten kann, umden wichtigen und schwierigen Reformprozeß in Europavoranzubringen.Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben – dasmuß man sagen – hinter den Notwendigkeiten und hinterden gesteckten Erwartungen zurück.
Das gilt in besonderer Weise für die Agrarpolitik; dar-an kann kein Zweifel sein. Natürlich muß man Kom-promisse finden, natürlich war es schwierig. Aber waswir schon vor einer Woche gesagt haben, gilt auch heu-te: Es war nach unserer Überzeugung ein schwerer Feh-ler, das von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unter-stützte Ziel der Kofinanzierung als einen ersten Schrittfür mehr Subsidiarität auch in der Agrarpolitik schonvor dem Berliner Gipfel aufzugeben.
Die Aufgabe dieser Position hat sich auf die Ergebnisse desBerliner Gipfels, so wie wir sie kennen, zum Nachteil einerwirkungsvollen Reform der Agrarpolitik ausgewirkt.
Wir kennen die Zahlen nicht im einzelnen. Das istkeine Kritik; der Berliner Gipfel ging ja bis in die frühenMorgenstunden. Wir legen einen Entschließungsantragvor, in dem wir – gemäß unserer Überzeugung, daß dasParlament als Ganzes Stellung beziehen sollte – einePosition formulieren. Aber auch wenn man die Zahlennicht im einzelnen kennt, eines ist klar: Die grundlegen-den Probleme in der Agrarpolitik werden durch das Er-gebnis des Berliner Gipfels nicht gelöst. Manches wirdsogar schlechter. Der Preisdruck beispielsweise durchdie Milchquoten wird eher stärker werden. Die Ein-kommenseinbußen für die deutsche Landwirtschaft– wie immer sich die Zahlen im einzelnen darstellen –sind erheblich. Wir muten keinem anderen Teil unsererBevölkerung etwas Vergleichbares zu.Dr. Wolfgang Schäuble
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2577
(C)
(D)
Angesichts dieser Situation, wo wir den Bauern inDeutschland etwas zumuten, was wir keiner anderenBevölkerungsgruppe zumuten, will ich noch einmal mitallem Nachdruck an die Mehrheit dieses Hauses appel-lieren: Es ist falsch und unverantwortlich, durch Maß-nahmen nationaler Gesetzgebung – von der sogenanntenSteuerentlastung, die für die Landwirtschaft eine Steuer-mehrbelastung bedeutet,
über die Ökosteuer bis zur Kürzung der Zuschüsse fürdie landwirtschaftliche Unfallversicherung – zusätzlicheEinkommensverluste in einer Größenordnung von1,8 Milliarden DM für die deutsche Landwirtschaft zubeschließen.
Auch wenn es unvermeidlich ist, im Zuge der Reformder europäischen Agrarpolitik Kompromisse zu schlie-ßen, auch Opfer zuzumuten, ist es in einer solchen Si-tuation auch um des inneren Friedens und der sozialerGerechtigkeit willen in diesem Lande geradezu verhee-rend, der Bevölkerungsgruppe, der man die meistenAuswirkungen von Reformen zumutet – vielleicht teil-weise zumuten muß –, durch nationale Maßnahmen zu-sätzliche Belastungen aufzuerlegen, anstatt daß man ver-sucht, die Auswirkungen für die betroffenen Menschen,für die betroffene Bevölkerungsgruppe durch nationaleMaßnahmen zu mindern.
Ich sage noch einmal, verehrte Kolleginnen und Kol-legen: Wer glaubt, die Bauern in unserem Lande seiennur eine kleine Minderheit, über die man sich leichthinwegsetzen könne, der hat nicht verstanden, daß dieStabilität unseres Landes auf einem ausgewogenen Ver-hältnis von städtischen Ballungszentren und ländlichenRäumen beruht und daß der ländliche Raum ohne einefunktionierende Landwirtschaft nicht lebensfähig ist.Das wird auch in der Zukunft so bleiben.
Deswegen: Wer die Lebensfähigkeit unserer Land-wirtschaft untergräbt, schadet nicht nur den Bauern,sondern verletzt die innere Stabilität unseres Landes.
– Ja, natürlich, wegen der Ausgewogenheit im Vergleichzu anderen Ländern. Ich komme gleich auf die Regio-nalpolitik zu sprechen.
Wenn Sie ein wenig über die Vorteile unserer Bun-desrepublik Deutschland – eine größere Balance auchals Folge unseres föderalen Systems und eine größereAusgewogenheit zwischen ländlichen Regionen, klei-nen, mittleren und großen Städten bzw. Zentren – nach-denken, dann werden Sie vielleicht verstehen, daß dieLebensfähigkeit des ländlichen Raumes nicht nur für dieMenschen dort, sondern auch für die Menschen in denstädtischen Ballungszentren wichtig ist. Deswegen gehtes nicht um Klientelpolitik, sondern um die richtigenordnungs- und strukturpolitischen Entscheidungen fürunser Land.
Ich will noch einmal sagen: Natürlich muß die euro-päische Agrarpolitik reformiert werden, um die Voraus-setzungen dafür zu schaffen, daß die Erweiterung derEuropäischen Union besser vorankommt. Da wir abergleichzeitig darüber reden, Herr Bundeskanzler, wie derweitere Weg institutioneller Reformen auszusehen hat– von den Arbeiten, die Romano Prodi in der Vorberei-tung auf eine neue Kommission und sein Programm zuleisten hat bis zum Kölner Gipfel und zu dem Prozeß,der von dort ausgehen muß –, will ich noch einmal dasPrinzip beschreiben: Wir werden die Probleme der euro-päischen Agrarpolitik besser lösen, wenn wir im Bereichder Einkommenshilfen – wie immer sie heißen, ob eslandwirtschaftliche Sozialpolitik ist, ob es direkte Ein-kommensbeihilfen oder was auch immer sind – dasSubsidiaritätsprinzip stärker verwirklichen.Wir können angesichts der ganz unterschiedlichenklimatischen, regionalen und sonstigen Strukturen in Eu-ropa, des unterschiedlichen Wohlstands und Preisni-veaus in Europa
bei der Reform der europäischen Agrarpolitik die Le-bensfähigkeit der Landwirtschaft in Deutschland nichtallein durch europäische Maßnahmen sichern. Deswe-gen brauchen wir stärker das Subsidiaritätsprinzip.
Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung überMaßnahmen zu stärkeren nationalen Gestaltungsmög-lichkeiten erreicht worden ist – die Kofinanzierung wäreder entscheidende Schritt in diese Richtung gewesen –,ist dieser Gipfel gescheitert. Dafür trägt die Bundesre-gierung erhebliche Verantwortung.
– Ich weiß doch, daß das für Frankreich ein ganzschwieriges Thema ist.
– Die deutsch-französische Freundschaft ist doch keinGrund dafür, daß man mit unseren französischen Freun-den und Nachbarn nicht intensiv darüber reden kann undmuß, was der richtige Weg für Europa ist. Wenn manaber die Debatte so, wie Bundeskanzler Schröder es An-fang des Jahres getan hat, als er sagte, jetzt ist Schlußdamit, daß in Brüssel das deutsche Geld verbraten wird,beginnt, dann kann man mit Frankreich nicht zu einemErgebnis kommen.
Dr. Wolfgang Schäuble
Metadaten/Kopzeile:
2578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Es ist doch bemerkenswert, daß Tony Blair nach sei-ner Rückkehr sagen kann – wenn ich die Agenturmel-dungen richtig gelesen habe –, daß kein britisches Pfundmehr bezahlt werde und man den britischen Beitragsra-batt gehalten habe. Auch die Franzosen können sagen:Wir haben alles gehalten. Auch die Südländer könnensagen: Wir haben alles gehalten.
Aber der deutsche Bundeskanzler, der am Anfang derdeutschen Präsidentschaft am meisten davon geredet hat,welche angeblichen Fehler seiner Vorgängerregierungjetzt korrigiert werden müssen, hat am wenigsten er-reicht. So macht man sich durch eigenes Reden dieErfolge kaputt.
Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch endlich davonab, die Legende zu bilden – ich drücke mich noch sehrzurückhaltend aus –,
als sei in den vergangenen Jahren die Entwicklung dahingegangen, daß Deutschland immer mehr gezahlt habe,und als habe Ihre Vorgängerregierung – wie haben Siesich ausgedrückt? – das Geld geradezu nach Brüssel ge-schaufelt, damit es dort verbraten werde. Die Wahrheitist, daß der deutsche Nettobeitrag nach den amtlichenZahlen der Kommission in den Jahren 1994 bis 1997– für diese Jahre haben wir die amtlichen Zahlen; für1998 gibt es die Zahlen noch nicht – von 27 MilliardenDM auf 22 Milliarden DM gesunken ist. Die Trendwen-de ist also 1994 eingeläutet worden.
Die von Ihnen in Ihrer Regierungserklärung eingefor-derte Gemeinsamkeit kann nicht auf der Grundlage fal-scher Zahlen und falscher Legenden zustande kommen,mit denen Sie die Bevölkerung und das Parlament einStück weit täuschen. Die Wahrheit ist, daß die Regie-rung Kohl/Waigel in den Jahren 1994 bis 1997 eineTrendwende durch die Senkung des deutschen Netto-beitrags von 27 auf 22 Milliarden DM erreicht hat. Ge-messen daran sind die Ergebnisse, die Sie in Berlin er-reicht haben, ausgesprochen kläglich.
Ich will noch ein Wort zur europäischen Regional-politik sagen. In der heutigen Debatte will ich vor allenDingen noch einmal das Prinzip, um das es uns geht,klarmachen. Wir sagen in unserem Entschließungsantrag– ich habe das auch in der vergangenen Woche von die-sem Platz aus gesagt –: Wir akzeptieren, daß die Förde-rung für die Bundesrepublik Deutschland aus den euro-päischen Strukturfonds zurückgeführt wird. Wir akzep-tieren notfalls auch, daß die Strukturförderung fürDeutschland überdurchschnittlich zurückgeführt wird.Das ist ja das Ergebnis von Berlin, wenn man die Zah-len, die wir jetzt kennen, einigermaßen richtig bewertet.Wenn dies aber geschieht, dann ist es zwingend notwen-dig, daß die Mitgliedstaaten und die Regionen, soweitsie in den Mitgliedstaaten eine rechtliche Qualität besit-zen – für die Bundesrepublik Deutschland heißt dasBund und Länder –, mehr Möglichkeiten erhalten, miteigenen Mitteln in eigener Zuständigkeit regionale Pro-bleme zu lösen, für die es in Zukunft weniger Mittel ausBrüsseler Kassen gibt. Das fordern wir; das haben Sienicht erreicht.
Das läßt sich an vielen Zahlen belegen.Das Entscheidende ist, daß wir das Prinzip der Auf-gabenabschichtung, der Subsidiarität, klarer durchsetzenmüssen: Wofür ist Europa, wofür sind die Mitgliedstaa-ten und wofür sind die Regionen zuständig? Das wirdauch die entscheidende Aufgabe für den institutionellenReformprozeß sein müssen.Wenn wir in Europa weiterhin die Entwicklung ha-ben, daß für immer mehr Aufgaben in immer stärkeremMaße die europäische Ebene zuständig ist, daß wir eineMischfinanzierung haben, die am Ende keiner mehrrichtig durchschaut, und daß wir auf europäischen Gip-feln in den Nacht- und Morgenstunden Regelungen undGeld hin- und herschieben – 10 Millionen für dich,5 Millionen für mich –, so daß am Ende keiner mehrweiß – das ist kein Vorwurf –, was nun im einzelnen be-schlossen worden ist, dann werden wir – –
– Ich bitte Sie herzlich, verehrte Kolleginnen und Kolle-gen, ich habe mit keinem Wort kritisiert, daß der Bun-deskanzler in seiner Regierungserklärung keinerlei sub-stantielle Angaben zu den Inhalten des Ergebnisses desBerliner Gipfels gemacht hat.
Aber wenn Sie hier solche Zwischenrufe machen, dannmuß ich doch darauf hinweisen, daß ich ja verstehe, daßman ein paar Stunden nach Abschluß des Gipfels nochnicht in einer Regierungserklärung sagen kann, was imeinzelnen beschlossen worden ist.
Das zeigt doch die Absurdität dieses Verfahrens. Daskönnen wir nur dann besser lösen, wenn wir bei der in-stitutionellen Reform der Europäischen Union zu ein-facheren, klareren Regelungen kommen. Es muß nichtjede Aufgabe in Europa durch europäische Institutionengelöst werden. Subsidiarität, mehr Bürgernähe, mehrTransparenz und mehr Klarheit, das ist der bessere Weg,um Europa voranzubringen.
Dr. Wolfgang Schäuble
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2579
(C)
(D)
Das ist vor allen Dingen deswegen wichtig, weil wirEuropa nur voranbringen werden, wenn es uns gelingt,die Menschen in Europa und auch in Deutschland davonzu überzeugen – und zwar sowohl im Großen undGrundsätzlichen als auch im Kleinen und Konkreten,also nicht nur in den Festreden, sondern auch im Alltag –,daß Europa der bessere Weg für unsere Zukunft ist.Deswegen müssen die Ergebnisse und die Entscheidun-gen in Europa für die Menschen nachvollziehbar sein.Deswegen muß man wissen, wer was entscheidet, werwofür die Verantwortung trägt, warum welche Entschei-dung getroffen wird und wie sie demokratisch legiti-miert ist. Das ist, in einfachen Worten, die Aufgabe fürdie institutionellen Reformen.Davon war im übrigen der Berliner Gipfel ein Teil.Die Ergebnisse des Berliner Gipfels werden diesemMaßstab aber nicht gerecht. Sie bedeuten nicht eineStärkung der Subsidiarität in Europa, sondern sie resul-tieren wiederum nur aus dem Versuch – vielleicht war esin dieser Woche in der Lage gar nicht anders möglich –,die Milliarden ohne eine systematische Klarheit hin- undherzuschieben. Bei diesem Hin- und Herschieben vonMilliarden hat die deutsche Präsidentschaft für die deut-schen Interessen weniger erreicht, als die Regierungenanderer Mitgliedstaaten erreicht haben, wie alle Agen-turmeldungen von heute morgen zeigen.
Damit sich dies nicht wiederholt, wird es notwendigsein – ich nütze die Gelegenheit dieser Debatte, dafür zuwerben –, daß wir Europa bei den institutionellen Re-formen mit einer Art Verfassungsvertrag unterstützen,um das Ganze für die Menschen einsehbar und nach-vollziehbar zu machen, um die Menschen für Europa zugewinnen und sie mitzunehmen. Sie sollen sehen, daßihre Sache dort entschieden wird, und zwar nicht nega-tiv, sondern positiv. Es soll erkennbar werden, wer inEuropa für welche Entscheidung zuständig ist und wiejede Entscheidung in Europa demokratisch legitimiertwird – auch das ist wichtig –, was wir nicht allein durchdie nationalen Parlamente machen können, weswegendas Europäische Parlament gestärkt werden muß. Je bes-ser das gelingt, um so größer sind die Chancen, daß wirdie Menschen dafür gewinnen, den Weg der europäi-schen Einigung in guten und in schwierigen Zeiten wei-ter voranzugehen. Das ist das Wichtigste. Die großeAufgabe deutscher und europäischer Politik ist ange-sichts der Ereignisse dieser Woche, in der sich vieledramatische Entwicklungen sozusagen wie zu einemKnoten zusammengefügt haben, dafür zu sorgen, daßsich die Menschen weiterhin für die demokratischenEntscheidungsprozesse interessieren.Deswegen darf dieser Punkt nicht aus dem demokra-tischen Meinungsstreit ausgeklammert werden, HerrBundeskanzler. Die entsprechende Diskussion mußvielmehr Gegenstand des demokratischen Wettbewerbssein. Es muß klar sein, wer wo um welche Konzeptionenstreitet. Unsere Konzeption für Europa beinhaltet einhandlungsfähiges und starkes Europa; ein Europa, dasFrieden, Freiheit, Menschenrechte, soziale Gerechtig-keit, wirtschaftlichen Wohlstand, ökologische Nachhal-tigkeit und den Schutz von Natur und Umwelt sichert.Aus diesem Grunde ist die Erweiterung so wichtig.Wir müssen die Subsidiarität stärken, um demokrati-sche Entscheidungen auf allen Ebenen zu ermöglichen,und wir müssen die kommunale Selbstverwaltung unddie Zuständigkeit der Länder ernst nehmen. Die Mit-gliedstaaten müssen ihre Funktion, die sie bisher wahr-genommen haben, beibehalten und sich für die Interes-sen der Menschen einsetzen. Europa ist längst nichtmehr eine Festveranstaltung, sondern – wenn die Politikrichtig angelegt ist – die beste Antwort, um die Interes-sen der Deutschen im kommenden Jahrhundert zu wah-ren.Dazu gehört, daß wir die Kraft aufbringen, Entschei-dungen zu treffen, auch wenn die Entscheidungen, fürdie es wie im Falle der aktuellen Lage im Kosovo keinebessere Alternative gibt, sehr weh tun.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,im Namen der SPD-Fraktion gratuliere ich Ihnen zu denErgebnissen, die Sie in Berlin erreicht haben.
Bevor ich darauf und auch auf die Bemerkungenmeines Vorredners näher eingehe, möchte ich noch eini-ge Ausführungen zur aktuellen Situation im Kosovomachen. Niemand in diesem Hause wird in diesen Tagenund Stunden ohne Skrupel sein; niemand wird unbeein-druckt von den Fernsehbildern der letzten beiden Nächtesein. Es wird niemanden geben, der sich nicht eindring-lich fragt und prüft, ob der militärische Einsatz in Jugo-slawien wirklich berechtigt ist. Es wird auch niemandengeben, der sich nicht der gewaltigen Zäsur bewußt ist,daß erstmals nach dem zweiten Weltkrieg deutsche Sol-daten in Kampfeinsätze geschickt werden mußten.Ich muß für meine Person bedrückt feststellen, daß ichkeine Alternative zu diesen Entscheidungen gefunden ha-be. Ich halte die begonnenen Luftschläge gegen militäri-sche Ziele in Jugoslawien für unabdingbar. Die Gewalt-herrschaft des jugoslawischen Präsidenten Milosevic unddas blutige, menschenverachtende Vorgehen der serbi-schen Polizei- und Militärkräfte im Kosovo konnten mitdiplomatischen und politischen Mitteln nicht mehr ge-stoppt werden. Im Gegenteil: Je intensiver sich die USA,Europa und auch die Vereinten Nationen um Lösungenbemühten, desto grausamer gingen die Schergen von Mi-losevic im Kosovo vor: mehr als 2 000 Tote, über 500zerstörte Dörfer und 500 000 Vertriebene. Die Tragödieder Kosovo-Albaner mußte ein Ende haben.
Es gab viele Stimmen, die das Zuwarten der NATOseit dem Massaker von Racak im letzten Januar kritisiertDr. Wolfgang Schäuble
Metadaten/Kopzeile:
2580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
haben. Sie könnten vielleicht sogar recht haben. Un-zweifelhaft ist aber auf jeden Fall, daß die Regierungender NATO-Mitgliedstaaten, die Bosnien-Kontaktgruppe,die Europäische Union, die OSZE und die VereintenNationen alles versucht und alle Möglichkeiten ausge-schöpft haben, um Milosevic zu einer friedlichen Lö-sung des Konflikts zu bewegen. Auch die russische Re-gierung hat sich intensiv an solchen Überzeugungsver-suchen beteiligt.Alle diese Versuche hatten das Ziel, einerseits Ver-treibungen, Dorfzerstörungen und Tötungen durch serbi-sche Einheiten zu beenden, andererseits den Gewaltak-ten der albanischen UCK Einhalt zu gebieten. Sie zieltenauf eine menschenrechtskonforme Lösung des Konfliktsim Rahmen einer fairen Lösung für beide Konfliktpar-teien: Bewahrung und Sicherstellung der Souveränitätund der territorialen Integrität Jugoslawiens, weitgehen-de Autonomie und Selbstverwaltung für die albanischeMehrheit im Kosovo, Garantie der individuellen Men-schenrechte. Alle diese Bemühungen aber prallten andem machtversessenen, zynischen Diktator Milosevicab.Angesichts dieser Erfahrungen darf Europa keinzweites Srebrenica zulassen!
In Bosnien haben wir zu lange gewartet, nicht frühzeitiggenug schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeitunterbunden und haben dadurch einen Völkermord mit-ten in Europa geschehen lassen. Das darf und wird unsnicht noch einmal passieren. – Wenn wir glaubhaft fürden Aufbau und die Schaffung eines demokratischenEuropas eintreten wollen, wenn wir für dieses Europadie höchsten Menschenrechtsnormen beanspruchen, dannbleibt uns nichts, als gegen die humanitäre Katastrophe,gegen Gewalt und Willkür im Kosovo entschieden vor-zugehen.Ich sehe das Dilemma, das eine Reihe von Ihnen hierim Haus, auch aus meiner Fraktion beklagen. Wir stan-den vor der schwierigen Alternative, entweder ethnischeSäuberungen und andere schwerste Menschenrechts-verletzungen geschehen zu lassen oder ohne die Zu-stimmung Rußlands und Chinas im Sicherheitsrat für ei-ne Beendigung dessen zu sorgen. Ich halte unsere Ent-scheidung und die unserer Partnerstaaten für letzteresunter den konkreten Umständen für angemessen, vorallem deshalb, weil die Verhinderung von Völkermordschwerer ins Gewicht fällt als der Respekt vor dem Ve-torecht von zwei Mitgliedern des Sicherheitsrates, zumaldies aus sachfremden Gründen mißbraucht worden ist.
Von dieser Stelle aus wende ich mich an all die vielenMitbürgerinnen und Mitbürger jugoslawischer Herkunftin unserem Land. Ihnen und dem serbischen Volkmöchte ich eindringlich klarmachen, daß weder dieNATO noch die Europäische Union, daß weder die USAnoch Deutschland oder ein anderer europäischer StaatFeindschaft gegen das serbische Volk, die RepublikSerbien oder die Bundesrepublik Jugoslawien hegen.
Unser Vorgehen richtet sich allein gegen den Diktatorund gewalttätigen Hasardeur Milosevic und die von ihmbefehligten Polizei- und Streitkräfte. Er handelt gegendie Interessen seines eigenen Volkes, indem er es vomdemokratischen Europa isoliert.Meine Damen und Herren, mit Genugtuung und Re-spekt habe ich verfolgt, wie der Bundesverteidigungs-minister mit großer Umsicht und Fürsorge den größt-möglichen Schutz für unsere am Einsatz beteiligten Sol-daten veranlaßt hat.
Um die Last, die in diesen Tagen auf ihm liegt, ist ernicht zu beneiden. Er verdient für diese Aufgabe dieUnterstützung aller, auch die seines Vorgängers im Amt.
Trotz aller Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmenbleibt ein hohes Gefahrenpotential für die Gesundheitund das Leben unserer Soldaten. Zum erstenmal nachdem zweiten Weltkrieg beteiligen sie sich an einemKampfeinsatz, nach dem sich niemand von uns gedrängthat. Sie sind beteiligt an einem Einsatz, der Terror undVölkermord mitten in Europa beenden und die Grundla-ge für ein friedliches Miteinander garantieren soll. Unse-re Gedanken und unsere Anteilnahme sind bei den Tor-nadopiloten und bei den Bodentruppen in Mazedonien.Wir bangen mit ihren Familien. Wir hoffen mit ihnen,daß alle unbeschadet zurückkehren.
Die Schrecken im Kosovo machen uns bewußt, daß eszur europäischen Integration keine Alternative gibt. Sieallein ist der Weg zu Frieden und gemeinsamem Wohl-stand auf diesem Kontinent.Einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung istin diesen Tagen die Europäische Union auf dem Son-dergipfel in Berlin gegangen. Erstmals in der Ge-schichte der Europäischen Union mußten drei große Po-litikbereiche reformiert werden: die gemeinsame Agrar-politik, der Strukturfonds und das gesamte EU-Finanzsystem. Daß bei dieser komplexen Gemengelageein umfassender und tragfähiger Kompromiß gefundenwerden konnte, ist eine große Leistung des Europäi-schen Rates.
Die Ergebnisse des Gipfeltreffens in Berlin sind eingroßer persönlicher Erfolg auch für Sie, Herr Bundes-kanzler, und für Sie, Herr Bundesaußenminister.
Dr. Peter Struck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2581
(C)
(D)
Die unermüdlichen Bemühungen des Bundeskanzlers imVorfeld und auf dem Gipfel des Europäischen Rates ha-ben zu sehr beachtlichen Resultaten geführt. Sie, HerrBundeskanzler, habe Ihre Kritiker damit Lügen gestraftund in kürzester Zeit diplomatische und europapolitischeAkzente gesetzt. Für Europa sind diese Ergebnisse sehrermutigend.
Wenn die Opposition hier im Hause das Ergebnis vonBerlin kritisiert, so gehört dies zu ihrer Aufgabe. Siewürde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie dies nicht täte.Wenn sich allerdings Ihre Kritik, Herr KollegeSchäuble, vor allen Dingen auf die Beschlüsse im Be-reich der gemeinsamen Agrarpolitik konzentriert, dann,denke ich, springen Sie viel zu kurz. Europa ist mehr alsnur eine gemeinsame europäische Agrarpolitik.
Die Verabschiedung der Agenda 2000 ist nach dersehr schnellen und sehr übereinstimmenden Entschei-dung zugunsten von Romano Prodi das zweite wesentli-che Ergebnis des Gipfels. Mit der Agenda 2000 ist einHandlungsrahmen geschaffen worden, der die finan-zielle Solidität der Gemeinschaft und die Stabilität derEuropäischen Währungsunion garantiert. Gleichzeitigsind die in der Agenda 2000 getroffenen Regelungenentscheidende Voraussetzungen für die Osterweiterungder Europäischen Union. Jedem Kenner war klar, daßnicht jedes Detail der deutschen Vorstellungen durchzu-setzen war und daß alle Beteiligten Kompromißfähigkeitzeigen mußten. Wesentlich ist aber, daß im Hinblick aufdie Agrarausgaben eine reale Konstante erreicht wordenist. Sie liegt nur gering oberhalb der angestrebten Gren-ze von jährlich 40,5 Milliarden Euro.Sie, Herr Kollege Schäuble, haben festgestellt, daßalle beteiligten Regierungschefs in ihren Ländern aus ih-rer nationalen Sicht das Ergebnis des Gipfels als Erfolgbezeichnet haben. Ich denke, der Bundeskanzler hat ge-nau das erreicht, was man auf einem solchen Gipfelüberhaupt erreichen kann: Alle sind zufrieden, das heißt,alle tragen diesen Kompromiß mit.
Alles in allem konnte die deutsche Nettobelastungdurch die Berliner Entscheidungen gesenkt werden. DieEntlastung ist nicht so hoch, wie wir es uns gewünschthätten. Sie ist ganz sicherlich nicht so hoch, wie es vonder Opposition absurderweise gefordert wurde, die voneiner Entlastung in Höhe von 14 Milliarden DM sprachund die Möglichkeit der Durchsetzung einer solchenForderung suggerieren wollte. Jeder Experte wußte, daßdas eine unsinnige Forderung war.
Wir haben die Hypotheken, die wir von der RegierungKohl übernehmen mußten, nicht von heute auf morgenabtragen können. Das dauert etwas länger, meine Damenund Herren. Aber wir sind auf dem richtigen Wege.
Es ist eine Tendenzumkehr erreicht worden. WeitereSchritte müssen folgen.Mit dem erfolgreichen Abschluß des Berliner Gipfelsist die Europäische Union dem Ziel, auf dem globalenMarkt wirtschaftlich konkurrenzfähig und mitgestaltendbestehen zu können, ein gutes Stück nähergerückt.
Die neue Regierung, die nur zwei Monate Vorberei-tungszeit hatte, kann mit dem Ergebnis mehr als zufrie-den sein. Sie hat ihre europapolitische Kompetenz be-wiesen.
Damit sind die Weichen für Erfolge beim Beschäfti-gungspakt und in der Weiterentwicklung der Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik positiv gestellt.Berlin war ein entscheidender Meilenstein für den er-folgreichen Abschluß der deutschen Präsidentschaft. Da-für danken wir dem Bundeskanzler Gerhard Schröderund seiner Bundesregierung.
Jetzt hat das
Wort der Franktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolf-
gang Gerhardt.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte wer-den wir bei SPD, den Grünen, der CDU/CSU und derF.D.P. Gemeinsamkeiten feststellen; wir werden auchUnterschiede markieren müssen. Das ist ein normalerVorgang in einer demokratischen Ordnung.Zunächst zu den Punkten, bei denen Übereinstim-mung besteht.Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen – ich fügehinzu: wir danken ausdrücklich auch dem Verteidi-gungsminister – beim Thema Kosovo zu, was Engage-ment, Zielrichtung, Verhandlungsführung und Entschei-dung anbelangt.
Das konnten Sie erwarten. Wir haben es so beschlossen,als wir noch Regierungsverantwortung hatten; das giltauch heute.Mit Blick auf die gestrige Debatte möchte ich michnicht mit defensiven Auskünften begnügen. In einer sol-chen Debatte und angesichts der ersten europäischenHerausforderung durch Gewalt muß man Festigkeit inder Sache bewahren. Mir geht es nicht um general-stabsmäßige Diskussionen über den NATO-Einsatz dort.Mir geht es darum, hier noch einmal klarzustellen, daßDr. Peter Struck
Metadaten/Kopzeile:
2582 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
sich dieses Hohe Haus bewußt ist, daß wir dort Prinzipi-en, die sich aus der Kulturgeschichte Europas ergeben,verteidigen – gegen Menschen, die sie nicht achten unddie über andere Menschen herfallen. Deshalb sage ichIhnen, Herr Kollege Gysi: Pazifismus ist eine respekta-ble Haltung. Wenn aber Pazifismus am Ende nicht mehrfähig ist, Menschen in Not zu helfen, dann verliert erseinen Bezug zur Menschlichkeit.
Das ist der Kernpunkt der Auseinandersetzung, die wirführen.Es mag richtig sein, auf den Zusammenbruch oder je-denfalls die Gefahr des Zusammenbruchs einer Welt-ordnung hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, daß dasGewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Ent-scheidung der NATO in einen Konflikt miteinander ge-raten. Aber Weltordnungen, die am Ende nicht mehr inder Lage sind, Gewaltanwendung gegen Menschen zu-rückzudrängen, verlieren an Legitimität. Deshalb kannüber die Weltordnung hier nicht nur unter dem Aspektdiskutiert werden, ob sie verletzt wird. Eine Weltord-nung muß sich mit allen ihren politischen Anstrengun-gen ständig dahin gehend legitimieren, daß sie der Ideeder Menschlichkeit auf dieser Welt gerecht wird. Des-halb ist nicht nur eine formale völkerrechtliche Diskus-sion zulässig, sondern auch eine zutiefst emotionale,menschliche in der Zuwendung zu den Menschen.Ich habe hier eine Meldung vor mir. Ob sie zutrifft,kann ich noch nicht einmal sagen. Aber wir spüren alle,daß sie zutreffen könnte. Diese Reuters-Meldung ist von11.39 Uhr. Danach haben im Kosovo nach Informatio-nen der albanischen Nachrichtenagentur jugoslawischeSoldaten und serbische Polizisten 21 Lehrer albanischerAbstammung vor den Augen ihrer Schüler umgebracht.Man vermutet, daß das so sein könnte. Wenn ich so et-was lese, bin ich nicht mehr in der Lage, eine Diskussi-on darüber zu führen, ob man sich da heraushalten kann.
Daß das vor den Toren Europas, nach den Massakern,die wir schon erlebt haben, passieren kann, verlangt vonjedem Mitglied dieses Hauses sehr persönliche Stel-lungnahmen und sehr persönliche Bekenntnisse.Deshalb, glaube ich, sind die getroffenen politischenEntscheidungen der alten und der neuen Bundesregie-rung, der Mehrheit hier im Hause, auch Ihre Erklärung,richtig. Daß wir uns in einem Dilemma befinden, stimmtebenso, wie die Tatsache richtig ist, daß wir dazu keineAlternative haben. Wenn wir jetzt nicht diesem Rechts-brecher entgegentreten, werden wir nie mehr in der Lagesein, Rechtsbrechern entgegenzutreten.
Deshalb ist die Entscheidung richtig gewesen.Das Handling des Bundesverteidigungsministers,den ich an dieser Stelle für meine gesamte Fraktion aus-drücklich persönlich loben möchte, ist vorsichtig, derLage angemessen und, was den Schutz der deutschenSoldaten betrifft, völlig richtig gewesen. Dafür dankenwir Ihnen. Auch das gehört zum Thema.
Die Deutschen wünschen sich immer internationalgeordnete Verhältnisse, wie das ordentlichen Menschenwünschenswert erscheint. Aber leider entwickeln sichdie internationalen Verhältnisse nicht immer so, wie dasdiesen guten deutschen Menschen wünschenswert er-scheint.Sie haben uns am Ende Ihrer Regierungserklärungzum Thema „europäische Politik“ aufgefordert, mög-lichst den Versuch zu machen, europäische Entschei-dungen aus Binnenwahlkämpfen und aus der Wettbe-werbssituation deutscher Parteien herauszunehmen. Dashätten wir uns früher gewünscht, als wir Ihre Äußerun-gen als niedersächsischer Ministerpräsident zu europäi-schen Themen gehört haben.
Darf ich Sie daran erinnern, was Sie zu dem wichtigsteneuropäischen Projekt, dem Euro, der mit großen Kraft-anstrengungen realisiert werden mußte, gesagt haben?
„Endlich haben wir ein nationales Thema“, haben Sieerklärt. Sie haben zum Euro gesprochen wie Gauweiler.– Heute appellieren Sie an uns, europäische Entschei-dungen aus Binnenwahlkämpfen herauszuhalten.Was hat Ihren früheren Finanzminister denn die Un-abhängigkeit der Europäischen Zentralbank geschert?Das ist ein hohes Gut. Es geht nicht nur um Gipfel wieden in Berlin, sondern auch um Ansehen, Souveränitätund Unabhängigkeit europäischer Institutionen. Was hatihn dazu getrieben, diese Institution eher anzugreifen,ihre Unabhängigkeit in den Augen vieler Deutscher zubeschädigen, die Geldwertstabilitätspolitik eher in Miß-kredit zu bringen? Das war doch nicht hehres europäi-sches Bewußtsein. Das, was er vorgeführt hat, war ganzkleines deutsches, sozialdemokratisches Karo.
Zu europäischer Politik gehört im Grunde nicht nur,sich zu den europäischen Themen zu äußern. Was habendie Auftritte Ihres Umweltministers Trittin in Frankreichzum deutsch-französischen Verhältnis als Achse für dieVorphase des Berliner Gipfels beigetragen? Das wardoch keine europäische Dimension. Das war noch klei-neres Karo. Das war die alte 68er Bewegung, die denKernenergieausstieg will. Daß man damit am Ende die-ses Jahrhunderts in Europa ein gutes Klima schaffenkann, bezweifle ich.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2583
(C)
(D)
Herr Bundeskanzler, die Aufforderung an uns gehtbemerkenswert ins Leere. Ordnen Sie erst einmal IhreTruppen, vermitteln Sie denen europäisches Bewußtsein,ehe Sie an die übrigen Fraktionen des BundestagesEmpfehlungen geben, sich europäisch zu verhalten. Wirals F.D.P. haben da keinen Nachholbedarf. Es ist eher inIhrem Lager einiges nachzuholen.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung daran erin-nert, daß die damalige Regierung und die damalige Op-position in diesem Hause der Übereinkunft von Edin-burgh, die zur heutigen Nettozahlerposition geführt hat,gemeinsam zugestimmt haben. Sie fügten hinzu: „Jetztist es an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“Richtig. Hätten Sie zur Nettozahlerposition von Anfangan in diesem Stil geredet, dann könnte ich jetzt gelassensagen: Er hat eine schöne Formulierung gefunden, daßwir keinen Lottogewinn gemacht haben. – Aber da Sievon Scheckbuchdiplomatie und davon, daß unser Geldverbraten wird und unsere nationalen Interessen nichtgewahrt werden, geredet haben, muß ich Ihnen sagen:Sie haben nicht nur keinen Lottogewinn gemacht, Siehaben nicht einmal drei Richtige aus Berlin mitgebracht,Herr Bundeskanzler.
Dieses Vokabular stört mich ausdrücklich. In derVorphase der deutschen Ratspräsidentschaft haben Siemit diesem Vokabular die anderen erst in ihre Positionengebracht.
Das hat sie eher dazu veranlaßt, ihre Interessen wiederstärker national zu behaupten, als in europäischer Di-mension zu denken. Dadurch sind Sie natürlich in eineSituation gekommen, in der Ihnen am Ende nichts ande-res übrigblieb, als eine Addition von Interessen neu zuverrechnen. Das ist der Vorgang des Berliner Gipfels,den wir beklagen,
den wir uns so nicht gewünscht haben.Unsere Kritik bezieht sich doch nicht darauf, daß Siesagen: Was konnte ich in der Situation anderes machen?Unsere Kritik, Herr Bundeskanzler, bezieht sich darauf,daß die Art Ihres Herangehens an das Thema nichtsweiter gebracht hat als dieses Ergebnis in Berlin. DasErgebnis sind traditionelle, alte westeuropäische Aus-tauschsysteme in Finanzierungsfragen, Agrarkompro-misse, Verlängerung der Milchquoten um zwei Jahre,Absetzen von Struktur- und Kohäsionsfonds. Das Er-gebnis ist keine Perspektive und das neue Kapitel für dieOsterweiterung der Europäischen Union.Der Berliner Kompromiß ist zu schmal; er ist keingroßer Wurf, aus der westeuropäischen Union in dieEuropäische Union nach Osten. Mit Ihrer Verhaltens-weise – ich denke an die mangelnde Klugheit beider Wortwahl und dem Umgang mit europäischen Part-nern – haben Sie – nicht nur Sie alleine, sondern mancheMitglieder Ihres Kabinetts – vorher eine so schlechteAussaat gestreut, daß in Berlin nur diese schmale Ernteübriggeblieben ist. Das ist der Vorgang, der uns zur Kri-tik bringt.
Deshalb ist das, was heute allgemein mitgeteilt wor-den ist – Haushaltsdisziplin, Zusammenhalt und Beitritts-chancen – für meine Fraktion nicht ausreichend, um Ih-nen zu avisieren, ob wir das gut fänden oder dem zu-stimmen könnten. Wir möchten das schon etwas genauerwissen; wir möchten dem, was verhandelt worden ist,auf den Grund gehen. Deshalb werden wir eine weitereDebatte darüber im Deutschen Bundestag brauchen –
vertiefter, inhaltlicher und konzeptioneller, als das heutenach Ihren Mitteilungen möglich war. Deshalb meinenwir, daß dieser kleine Schritt in Berlin – wenn auch ineiner durchaus bedrängten Situation – nicht ausreichendist. Gerade in kritischen Situationen liegen größereChancen, als Sie sie in Berlin verhandeln konnten. Siehätten sie verhandeln können, wenn Sie die Verhand-lungen nicht durch die Aussagen der bundesdeutschenRegierung vorher so gestört hätten.
Meine Damen und Herren, ich will mich auch des-halb nicht damit begnügen, weil Sie und der Bundesau-ßenminister, der nach mir reden wird, als Kritiker desfrüheren Bundeskanzlers Kohl immer diese ambitio-nierte Europapolitik, diese Leidenschaft und diese Emo-tionen, Europa weiterzubringen, gefordert haben. Jetztsind Sie in der Verantwortung und sehen auf einmal, woSie an Grenzen kommen. Natürlich – der Bundesau-ßenminister hat es dazwischengerufen – wissen wir, wasauch dann nur möglich gewesen wäre, wenn wir nebenHerrn Chirac gesessen hätten. Ich muß Ihnen aber vor-werfen: Sie haben vorher den Boden zerstört, auf demein besserer Berliner Kompromiß hätte herauskommenkönnen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war undist eine historische Woche für Europa. Wir haben es miteinem sehr ungewöhnlichen Zusammentreffen dreierKrisen, dreier großer Herausforderungen zu tun, die aufdem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefsin Berlin räumlich zusammengefügt wurden: Das wardie durch den Rücktritt der Kommission ausgelöste in-stitutionelle Krise der Europäischen Kommission; dasDr. Wolfgang Gerhardt
Metadaten/Kopzeile:
2584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
war die Agenda 2000; und das war der beginnendeKrieg im Kosovo.
Es gibt dabei einen sehr engen inneren Zusammen-hang, der sich auf den ersten Blick überhaupt nicht er-schließt. Ich wurde oft von Journalisten gefragt, ob dennder Einigungsdruck auf die Staats- und Regierungschefswegen der Krise im Kosovo jetzt größer sei. Ich habeimmer geantwortet: Nein, diesen direkten Zusammen-hang gibt es nicht. – Was aber zu spüren war, war dasgrößere Maß an Verantwortung, das auf diesem Gipfelauf den Schultern der Staats- und Regierungschefs ruhte,eben weil es diesen Zusammenhang gab und weil klarwar, daß der Kosovo direkt und unmittelbar eine Krisein Europa ist, durch Europa gelöst werden muß und daßwir uns nicht wegdrehen können und dürfen. Vielmehrmuß uns bewußt sein, daß diese Krise, daß dieser Kriegauf dem Balkan, der nicht erst in dieser Woche begon-nen hat, sondern seit längerem tobt – mal ein heißerKrieg, mal ein weniger heißer Krieg, aber immer gleichbrutal – ein Teil Europas ist und von den Europäern ge-löst werden muß, meine Damen und Herren.
Gleichzeitig haben alle gespürt, wie wichtig es ist, die-ses Europa voranzubringen. Sicherlich sind Milchquote,Interventionspreise und Anteile an den Strukturfondsebenfalls eminent wichtige Fragen. Aber Europa kanndabei nicht stehenbleiben. Die Lösung dieser Fragen inVerbindung mit der Wahrung der Unverletzlichkeit derMenschenrechte, Demokratie und Freiheit des Individu-ums, auf denen dieses Europa gründet, ist letztendlichdie gemeinsame Wertegrundlage. Das war in Berlin zuspüren. Beide Bereiche haben die Staats- und Regie-rungschefs zum Gegenstand ihrer Beratungen in Berlingemacht. Sie haben eine Erklärung unter Teilnahme derneutralen Staaten verfaßt, in der sie klargestellt haben,daß wir Europäer eine Politik der Gewalt, eine Politikdes Mordens und eine Politik des Vertreibens nicht ak-zeptieren dürfen und nicht akzeptieren werden.
Das sind die Gründe dafür, daß wir einerseits der Ge-waltpolitik von Herrn Milosevic Einhalt gebieten müs-sen. Auf der anderen Seite müssen wir durch die Lösungder EU-Finanzprobleme einen wichtigen Schritt inRichtung Aufbau einer Europäischen Union als einhandlungsfähiges politisches Subjekt tun. Dieser Zu-sammenhang war in Berlin spürbar. Er bestand und be-steht.Ich habe gesagt, daß der Krieg im Kosovo ein Kriegin Europa ist und uns deshalb unmittelbar angeht. Las-sen Sie mich zu diesem Punkt gerade im Hinblick aufdie gestrige Debatte, deren Verlauf ich den Zeitungenentnommen habe, noch einiges anfügen: Die Bundesre-gierung hat gemeinsam mit unseren Partnern nun wirk-lich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen –und zu diesen Partnern rechne ich ausdrücklich auchRußland; ich habe ständig telefonischen Kontakt mitdem russischen Außenminister Iwanow; Herr KollegeGysi, ich möchte Ihnen nicht mitteilen, was er mir überseinen Eindruck nach seinem letzten Belgrad-Besuchgesagt hat, weil das die Vertraulichkeit verletzen würde;aber ich kann soviel sagen, daß seine Einschätzung derMotive und der Politik in Belgrad nicht sehr weit vonmeiner entfernt war. Dick Holbrooke, der Sonderbot-schafter der USA, den Ihre Partei, Herr Gysi, allzu gerneals Kriegstreiber hinstellt, hat Milosevic noch in derletzten Sekunde das Angebot gemacht: Stoppe deineSoldateska im Kosovo! Führe nicht eine abschließendeBeschlußfassung des serbischen Parlaments herbei.Wenn du das befolgst, dann können wir weiterverhan-deln. So sah das Angebot in der letzten Sekunde aus. Esist ausgeschlagen worden, wissend, was dann passiert.Insofern trägt Milosevic an dem jetzigen Krieg die allei-nige Schuld und eine schwere Verantwortung.
Im Rahmen der EU, der OSZE und im UN-Sicherheitsrat wurde alles versucht, um eine friedlicheLösung zu finden. Es kann doch nicht wahr sein, daß einKrieg gegen die eigene Bevölkerung und die Unterdrük-kung einer großen Minderheit im eigenen Land wiederzum europäischen Standard des 21. Jahrhunderts gehö-ren. Das ist nicht der einzige Punkt. Erinnern wir uns: Esbegann im Kosovo 1989, und zwar mit der Aufhebungdes Autonomiestatuts. Ich darf Sie auch an den Kriegin Slowenien erinnern, der allerdings auf Grund der ent-schiedenen Gegenwehr der Slowenen – Gott sei Dank –sehr kurz war. Ich darf Sie an Dubrovnik und an Vukovaerinnern. Im Rückblick muß man sagen, spätestens nachVukova hätte die internationale Staatengemeinschafteingreifen müssen.
Ich darf Sie an die furchtbaren Grausamkeiten im Bos-nien-Krieg erinnern. Ich darf Sie immer wieder an die-selben Erfahrungen erinnern: Es wurde immer wiederversucht, den Krieg zu verhindern.
Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensver-trag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, daßder Vertrag gebrochen wurde und daß die Politik derGewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mitallem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, daß wirhier von deutschem Boden aus eine Politik des Kriegesbetreiben. Wir können nicht zulassen, daß sich in Euro-pa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, diekeine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen, und die bereit ist,über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehn-tausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das istkeine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist alsErgebnis der Politik von Milosevic zu sehen. Wenn dasgeschieht, würde das nicht nur unsägliches Leid für dieMenschen in der betroffenen Region, sondern auch eineBundesminister Joseph Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2585
(C)
(D)
Gefährdung für Frieden und Sicherheit in dieser Regionmit fatalen Konsequenzen bedeuten. Deswegen mußdiesem jetzt Einhalt geboten werden.
Meine Damen und Herren, dies ist nicht mit einerAggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalisti-scher Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassisti-scher Verblendung entstanden ist und für die das Deut-sche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertszweimal verantwortlich war. Wir sind in die internatio-nale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien derEU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratienriskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten, um Menschen-leben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedens-vertrag durchzusetzen.Es war für mich – ich sage das all denen, deren Skru-pel ich gut verstehe – einer der deprimierendsten Tage,als klar war, daß die Konfrontation nicht mehr aufzu-halten ist, weil ein Frieden mit der langfristigen Konse-quenz einer Gesamtordnung auf dem Balkan nicht zuerreichen war. Was notwendig gewesen wäre, liegt aufdem Tisch; wir können es mit Händen greifen: zunächstdas Autonomiestatut von Rambouillet und als nächstesdann eine Friedenskonferenz für den südlichen Balkanmit einem langfristigen Engagement von EuropäischerUnion und dem Westen für eine Gesamtordnung. Dereinzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Ge-waltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Ju-goslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war dasZiel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevicmüßte nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt.
Herr Milutinovic – –
– Warum soll ich nicht mit der PDS reden? Die PDS ar-tikuliert eine Position, die in der deutschen Bevölkerungweit verbreitet ist und die ich angesichts von Krieg undFrieden als legitim empfinde. Das sind Fragen, die voneiner Regierung beantwortet werden müssen.
Entschuldigen Sie, auch das möchte ich einmal klarstel-len: Jede Fraktion in diesem Hause ist nach meiner Auf-fassung als Diskussionspartner zu akzeptieren. Wennsich die Bundesregierung hier mit einer Position ausein-andersetzt, die von der PDS und einigen anderen vertre-ten wird, dann ist das nicht abzuqualifizieren. Ich findeIhren Zwischenruf, Herr Kollege Haussmann, mit Ver-laub gesagt, unmöglich und eines demokratischen Par-laments nicht würdig.
Ich möchte hier die Argumente wägen, die uns entge-gengehalten werden. Ich möchte es mir nicht so einfachmachen; denn es sind teilweise Argumente, mit denenich mich selbst auseinandergesetzt habe. Ich nehme an,daß auch viele von Ihnen diese Argumente abgewogenhaben, weil die Risiken ja in der Tat auf der Hand lie-gen.Meine Damen und Herren, für mich ist ganz ent-scheidend, daß die Verantwortung bei Milosevic liegt.Es hätte nur eines Wortes bedurft und es bedarf auchheute nur eines Wortes, um die Konfrontation zu been-den, nämlich des Wortes: Wir wollen substantiell ver-handeln und unterschreiben. In dem Moment wäre dieKonfrontation beendet, und wir könnten dann über denFrieden und die Implementierung des Friedens reden.Dies ist – ich kann dem Bundeskanzler nur zustimmen –der einzige Weg.Wir haben uns unmittelbar für die Flüchtlinge unddie Flüchtlingshilfe verwandt. Die Stützung von Maze-donien, von Albanien und von Montenegro ist uns einganz entscheidender Punkt. Darüber hinaus stehen wir inenger Kooperation mit den Partnern – das gilt nicht nurfür den Gipfel von Berlin, sondern auch für die USAund Rußland –, um eine weitere Friedensinitiative zuermöglichen. Aber dies alles wird nur bei einer klarenAbsage von Milosevic an eine Politik der Gewalt gehen.Wenn er diesen Schritt nicht tut, dann kann die Kon-frontation nicht enden. Die Voraussetzung für Friedenist der Verzicht auf Gewalt. Wir können nicht Frie-densgespräche führen, wenn im Kosovo das Mordendurch die jugoslawische Armee und die serbische Son-derpolizei weitergeht; das ist kein Frieden.
Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus nocheinmal an die Verantwortlichen in Belgrad appellieren,endlich umzukehren und den Weg zum Frieden zu er-möglichen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einigewenige Minuten auf den Berliner Gipfel eingehen. Ichhätte ja Lust, in die hier übliche Polemik einzusteigen.Herr Gerhardt, Sie haben dem Bundeskanzler vorgehal-ten, hätte er sich anders verhalten, sozusagen F.D.P.-kompatibler,
dann hätten Jacques Chirac und José María Aznar heutenacht eine andere Position vertreten. Herr Gerhardt, ichschätze Sie zu sehr, als daß ich Ihnen unterstellte, Siewürden diesen Unfug im Ernst glauben.
Sie mögen ja durchaus das eine oder andere an uns kriti-sieren.Bundesminister Joseph Fischer
Metadaten/Kopzeile:
2586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Weil ich dabei war – was ich vorher dachte, warTheorie –, ist mir heute nacht zum erstenmal wirklichklargeworden – ich sage das als überzeugter Europäer;vielleicht kann es Dr. Kohl aus seinen vielen Erfahrun-gen bestätigen –, daß dieses Europa mit Horrido ausein-anderfliegt, wenn unser Land die europäische Füh-rungsaufgabe nicht wahrnimmt.
Wenn das wahr ist, dann müssen Herr Schäuble undHerr Gerhardt ihre Reden sofort wieder einpacken. Dassage ich Ihnen.
Ich hätte die beiden bei so einer Gelegenheit gern einmaldabei. Warum soll man bei einem europäischen Gipfelnicht einmal überparteilich zusammensitzen? Das wärewirklich hervorragend.
Die Alternative zu der Entscheidung von heute nachtwar, daß wir ausschließlich unseren nationalen Stand-punkt vertreten. Manchmal war man angesichts dessen,was einem an nationalen Standpunkten entgegenge-bracht wurde, wirklich versucht, zu sagen: Jetzt reicht's.Alles andere, als eine Entscheidung für Europa zu tref-fen, wäre aber kurzsichtig gewesen.
Die Bedeutung der Entscheidung von heute nacht be-steht darin, daß sie für Europa ausgefallen ist.
Wir haben Europa in einer historisch einmaligschwierigen Situation zusammengehalten. Dennoch ha-ben wir gleichzeitig die wesentlichen Ziele der realenKonstanz – ich kann sie in der Kürze der Zeit nicht ein-zeln aufführen – erreicht.
– Ich stimme Ihnen hinsichtlich der Kofinanzierungdoch zu. Aber mit Frankreich war die Kofinanzierungjetzt nicht durchsetzbar. Wenn das hätte geschehen sol-len, hätten Sie mit entsprechenden Verhandlungen frü-her beginnen müssen.
– Herr Dr. Kohl, sagen Sie es Ihren Buben doch einmal.Sie wissen es doch besser.
Ich teile manches von Ihrer Kritik an der Agrarpoli-tik. Nur, was geschehen ist, war eine Entscheidung fürEuropa. Das ist der Punkt. Im entscheidenden Augen-blick stellte sich die Frage, ob der Bundeskanzler natio-nales Interesse – im kurzfristigen und damit im falschverstandenen Sinne – vertritt oder ob unser nationalesInteresse im Sinne der europäischen Einigung an ersterStelle steht. Um diese Frage drehte sich die Entschei-dung, und diese Entscheidung haben wir in die richtigeBahn gelenkt.
Wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, werden wirdie Debatte dazu mit ausreichend Zeit, wie es der Kolle-ge Gerhardt angeboten hat, schön quantifiziert führen.
– Ich wünsche mir gerne weiterhin so schwache Redenund so starke Ergebnisse, wie wir sie heute im Bundes-tag erleben.
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Gestatten Sie mir, mit dem EU-Gipfel zu beginnen. Ich finde eine solche Debatte ein-fach deshalb schwierig, weil die meisten im Hause dasErgebnis noch nicht kennen. Wir hatten überhaupt keineMöglichkeit, die Vereinbarungen zu studieren. Wirsind also allein auf die Informationen des Bundeskanz-lers und des Bundesaußenministers angewiesen, und wirsollen darüber diskutieren. Nur, diese Informationensind so allgemein, daß eine Beurteilung wirklich ausge-sprochen schwerfällt.Andererseits möchte ich der rechten Opposition indiesem Hause sagen: Man kann an das Ergebnis einessolchen Gipfels auch nicht die gleichen Maßstäbe anle-gen wie an einen Kabinettsbeschluß; denn es muß eineÜbereinstimmung mit sehr vielen Ländern in Europaherbeigeführt werden. Exkanzler Kohl und viele anderewissen, wie schwierig das ist. Das muß schon der Aus-gangspunkt für die Beurteilung sein.
Auf jeden Fall kann man jetzt schon zwei Dinge be-grüßen, nämlich erstens, daß es der Europäischen Uniongelungen ist, sich sehr schnell auf einen neuen Kommis-sionspräsidenten zu verständigen, und zweitens, daßdies Herr Prodi sein soll. Daß das so zügig ging, ist aufjeden Fall zu begrüßen. Das wird auch von meinerFraktion ausdrücklich begrüßt.
Bundesminister Joseph Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2587
(C)
(D)
Natürlich begrüßen wir auch die Vereinbarung mitSüdafrika als einen ganz wichtigen Schritt zur Koope-ration mit diesem in jeder Hinsicht geschundenen Land.
Es wäre übrigens gut gewesen, wenn die Solidarität mitMandela in diesem Hause nicht erst begonnen hätte, alser Präsident dieses Landes geworden ist. Dies sage ichin Richtung des gesamten Hauses.
Ich stelle fest, daß es dann mit der Beurteilung aller-dings sehr schwierig und auch kritisch wird. Die Bun-desregierung hat vorher – das können Sie nicht leugnen,Herr Bundesaußenminister – wirklich groß getönt, wasdie Nettoentlastung der Bundesrepublik Deutschlandbetrifft. Daß die Töne von Herrn Stoiber da noch lauterwurden, ist zwar richtig. Aber animiert worden ist er ur-sprünglich durch den Bundeskanzler, der damit begon-nen hat. Das Ganze konnte so nicht funktionieren.
Nun habe ich mir die Rede des Bundeskanzlersdurchgelesen, um zu sehen, was er dazu gesagt hat. Dahabe ich wirklich einen schönen Satz gefunden. Da stehtnämlich folgendes:Wir haben uns in Berlin geeinigt, daß die Kurve derdeutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestopptund umgedreht wird.Das ist so nebulös, Herr Bundesaußenminister, daßdamit nun überhaupt kein Mensch etwas anfangen kann.Was heißt „in der Tendenz“? Wann wird das sein? Inwelche Richtung wird das gehen, und in welchen Stufenwird das geschehen? Das ist als Information ein bißchendünn. Ich denke einmal, wenn die Ergebnisse erfolgrei-cher gewesen wären, hätte der Bundeskanzler bei die-sem Punkt etwas länger verharrt; dann wäre er daraufausführlicher eingegangen, als er es getan hat.
Dann gibt es noch einen schönen Satz, und zwar zurFrage der Beitragsgerechtigkeit, was Großbritannienbetrifft. Da heißt es:Bei dem Beitragsrabatt für Großbritannien sowiebeim Schlüssel für die Finanzierung dieses Rabattshaben wir Modifikationen vereinbart, die zu einergrößeren Beitragsgerechtigkeit führen.Allgemeiner und verschwommener kann man es nichtausdrücken. Kein Mensch weiß, was da nun wirklichvereinbart worden ist, wie das Ergebnis aussieht.Ich meine auch, daß die Ergebnisse für die Land-wirtschaft bedrückend sind. Nun kann es ja sein – dasmuß ich durchaus einräumen –, daß in Berlin kein ande-rer Kompromiß zu erreichen war; das ist möglich. Aberdann ist das, was Sie im Zusammenhang mit der soge-nannten ökologischen Steuerreform und durch andereGesetze an zusätzlichen Belastungen für die Landwirt-schaft beschlossen haben, einfach unvertretbar.
Wenn man auf europäischer Ebene keinen Ausgleicherreicht, dann hätte man ihn innerstaatlich erstreitenmüssen. Aber die Landwirtschaft jetzt von allen Seitenkaputtzumachen, ist einfach indiskutabel. Das gilt fürdie Landwirtschaft in Ost und West. Wir werden dieFolgen zu spüren bekommen.Ansonsten muß man, auch wenn man die Ergebnissenoch nicht kennt, würdigend sagen: Es gab auch in die-sem Hause und in der Presse, und zwar in der gesamteneuropäischen Presse, sehr viele, die es überhaupt nichtmehr für möglich gehalten haben, daß dort ein Kom-promiß gefunden wird. Es wurde von einer lang anhal-tenden Strukturkrise gesprochen. Daß heute nacht einErgebnis zustande gekommen ist, ist zunächst einmalein Ergebnis für sich, das man auch positiv bewertensollte.
Ich komme jetzt zu dem wesentlich schwereren Kon-flikt, der uns hier bewegt, über den wir gestern schondebattiert haben und zu dem der Bundesaußenministereben noch einmal sehr eindringlich gesprochen hat. Dasist die Frage des europäischen Krieges gegen Jugosla-wien und des Kosovo-Konflikts.Es hat mich schon bestürzt, Herr Bundesaußenmi-nister, daß Sie zur rechtlichen Grundlage dieses Krie-ges kein einziges Wort verloren haben, genausowenigwie der Bundeskanzler und genausowenig wie der Frak-tionsvorsitzende der F.D.P., Gerhardt. Der einzige, deretwas dazu gesagt hat, war der Fraktionsvorsitzende derCDU/CSU, Herr Schäuble.Er hat gesagt, daß der Beschluß vom 16. Oktober1998 auf sicherer verfassungsrechtlicher und völker-rechtlicher Grundlage gefaßt worden sei; dies hätte jetztauch das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Das ist völlig falsch. Erstens hat das Bundesverfas-sungsgericht das überhaupt nicht bestätigt, weil es sichnur mit der Zulässigkeit eines Antrages auseinanderge-setzt hat. Es hat diese Frage sogar ausdrücklich offen-gelassen und festgestellt, daß es damit kein Urteil überdie Verfassungsmäßigkeit trifft. Zweitens ist es ganzeindeutig: In der Wissenschaft, im Großteil der Medien,von der UNO – nicht nur von Rußland –, vom General-sekretär der Vereinten Nationen, wird klar darauf hin-gewiesen, dieser europäische Krieg ist ein Völker-rechtsbruch.
Nun haben Sie, Herr Gerhardt, dazu gesagt: Rechts-brechern muß man entgegentreten. Das ist wahr. Abermuß man ihnen mit Rechtsbruch entgegentreten? Ich sa-ge nein. Das ist immer der falsche Weg.
Wissen Sie, Völkerrecht dann einzuhalten, wenn es mitden eigenen Zielen, mit dem, was man ohnehin tun will,übereinstimmt, das ist ja leicht. Das ist wie beim inner-staatlichen Recht. Aber es dann einzuhalten, wenn eseinem politisch nicht paßt, das ist die eigentlicheDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
2588 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Schwierigkeit. Für genau solche Fälle schafft manRecht. Wenn man es verletzt, dann ist man nicht vielbesser als andere Rechtsverletzer. Dieser Tatsache müs-sen wir einfach ins Auge sehen.
Sie – sowohl der Bundeskanzler als auch HerrSchäuble – haben gesagt, die Bomben richten sich nichtgegen das serbische Volk, sondern gegen Milosevic.Meine Damen und Herren, das ist doch nichts weiter alseine abstrakte Phrase, die mit Realitäten nichts zu tunhat. Bomben richten sich niemals gegen einen einzelnenDiktator, sondern immer gegen das Volk.
Es sind immer die Zivilisten und die wehrpflichtigenSoldaten, die dabei sterben, nicht der Diktator. Das warim Irak so. Erklären Sie mir doch einmal: Ist denn Sad-dam Hussein durch die Bombenangriffe heute in irgend-einer Form geschwächt? Ich behaupte, auch hinter Milo-sevic standen noch nie so viele Jugoslawen wie heute.Das ist auch das Ergebnis der Bombenangriffe.
Wir liegen doch in der Beurteilung dieses Mannes garnicht so weit auseinander, Herr BundesaußenministerFischer, und auch nicht in der Beurteilung des Kosovo,obwohl man dazu noch einiges sagen muß. Ich sage nur:Ihre Antwort darauf, die Antwort Krieg, das ist genaudie falsche. Sie bringt uns keinen Schritt weiter und setztuns völkerrechtlich und nach dem eigenen Grundgesetzins Unrecht.
Krieg darf nicht wieder zum Mittel der Politik wer-den. Mir wird immer gesagt: Ja, würden Sie denn taten-los zusehen? Sie, Herr Gerhardt, haben gesagt: Pazifis-mus ist etwas Ehrenwertes, führt hier aber nicht weiter.Es gibt in meiner Partei viele Pazifisten. Ich würde michgar nicht so bezeichnen, weil ich zum Beispiel das Rechtauf Notwehr innerstaatlich durchaus akzeptiere. Ich geheauch so weit zu sagen: Man muß sich auch militärischgegen eine Aggression wehren dürfen.
Das Problem ist nur, Herr Gerhardt, Jugoslawien hatkeinen der Staaten angegriffen, die jetzt Jugoslawienbombardieren. Deshalb ist es eben kein Verteidigungs-,sondern ein Angriffskrieg. Und der ist völkerrechtlichverboten. Das ist eine Tatsache. Im Völkerrecht gibt esnichts dazwischen.
Sie können doch eines nicht leugnen, Frau Matthäus-Maier: Die Ordnung, die nach 1945 in der UN-Chartafestgelegt worden ist, ist beseitigt. Wenn Sie mir dasschon nicht glauben, vielleicht glauben Sie es dann Pro-fessor Bradeddo von der Bundeswehrakademie Ham-burg, also jemandem, der sich nun wirklich mit Bun-deswehr beschäftigt und mit Sicherheit, wenn er dortProfessor ist, eine positive Beziehung dazu hat. DieserMann hat heute im Frühstücksfernsehen gesagt: Es istein klarer Verfassungs- und Völkerrechtsbruch; 40 JahreUN-Politik sind damit zerstört.
Wenn Sie das Vetorecht Rußlands und Chinas aushe-beln, dann hat auch das von Frankreich und Großbritan-nien in anderen Situationen keinen Wert mehr. Sie ge-ben doch die UN-Charta nicht nur für die NATO frei,die Sie davon abkoppeln, sondern praktisch für alleKontinente. Das ist das Problem. Es geht doch nicht nurum kurzfristige Folgen, sondern auch um Spätfolgen, dieman mitzubedenken hat.
Ich sage noch etwas anderes. Natürlich weiß ich, daßdie Situation schwer ist. Aber wie hat denn alles ange-fangen? Alles hat nach Dayton damit angefangen, daßJugoslawien die Rechte der albanischen Minderheit inJugoslawien bzw. der albanischen Mehrheit im Kosovoverletzt hat. Das ist wahr. Aber es gab damals keineMassaker, es gab eine Verletzung der Rechte. Das ken-nen wir von der Welt. Dann passiert irgendwann folgen-des: Diese Bevölkerung fängt an, sich zu bewaffnen, umfür Unabhängigkeit und Loslösung von dem Staat ein-zutreten. Jeder Zentralstaat setzt dagegen Militär ein.Das war und ist im Baskenland so, das war und ist so inNordirland, das ist vor allem im kurdischen Gebiet derTürkei so. Das war in Tschetschenien so und im Kauka-sus. Erinnern Sie sich noch, als die russische Armee ge-gen Tschetschenien lief und wir alle – nicht wir alle,leider – protestiert und gesagt haben: Das ist kein Lö-sungsmittel? Herr Kohl, Sie haben sich damals als Bun-deskanzler hingestellt und gesagt: Man muß auch dasRecht Rußlands auf territoriale Integrität respektieren.Deshalb hätten Sie Verständnis für diesen Einsatzbefehl.Ich hatte dieses Verständnis überhaupt nicht. Ich hatte esauch nicht bei Jugoslawien, weil ich nicht glaube, daßman solche Probleme – und seien sie auch innerstaatlich– mit militärischen oder polizeilichen Mitteln lösenkann.
Insofern gibt es eine Glaubwürdigkeitslücke: Sie be-urteilen das je nach Situation anders. Die Türkei istMitglied der NATO und macht jetzt bei der Abwendungeiner humanitären Katastrophe mit, während sie seitJahrzehnten eine schlimme humanitäre Katastrophe imeigenen Land organisiert. In der letzten Woche hat eineRegierung aus SPD und Grünen neuen Waffenlieferun-gen an die Türkei zugestimmt, anstatt diese wenigstens,wie sie es vorher immer hier im Bundestag gefordert ha-ben, zu stoppen.
Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit. Das kommt garnicht in Frage; das ist ganz klar.Was ist denn passiert? Nachdem sich die Zuständeverschlimmert hatten, hat man im Oktober ein Abkom-men getroffen. Tatsächlich haben sich – das kann man jaDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2589
(C)
(D)
nicht leugnen – die jugoslawischen Streitkräfte und diePolizei zurückgezogen. Es wurde sozusagen etwas er-träglicher. Dann wurden OSZE-Beobachter hinge-schickt. 2 000 waren vereinbart. Die Höchstzahl derjeni-gen, die da waren, betrug 1 200. Warum haben wir nichtwirklich die 2 000 entsandt? Anschließend begannen dieVerhandlungen in Rambouillet. Immerhin hatte Jugo-slawien der Autonomie schon im Prinzip zugestimmt. Esist doch nicht so, daß in Rambouillet gar nichts heraus-gekommen wäre. Im übrigen gab es ja zwei Vertrags-entwürfe, Herr Bundesaußenminister. Auf dieserGrundlage hätte man zwingend weiter verhandeln müs-sen. Denn ganz schlimm wurde es im Kosovo wieder,nachdem die OSZE-Beobachter im Zuge der Vorberei-tungen der Bombardierungen abgezogen wurden, weildie jugoslawische Armee und Polizei dann nachstieß.Was Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenmi-nister, mir nicht beantwortet haben: Worin soll denn dieLösung Ihrer Alternative bestehen? Es gibt keine andereals die von Verhandlungen. Sie sagen, Milosevic müssenur zustimmen. Sie haben Ihn als schlimmen Diktator,als irrational bezeichnet.
Sie sagen, er nehme den Krieg in Kauf und handele ge-gen die Interessen seines eigenen Volkes. Können Siemir dann erklären, warum er nach vier, fünf Bombenan-griffen plötzlich rational werden, plötzlich sein Volklieben und plötzlich den Krieg als ein Mittel ausschlie-ßen soll? Er wird nicht unterschreiben.Und was machen wir dann? Diese Frage ist nicht be-antwortet. Was ist das politische Ziel, wenn er nicht un-terschreibt? Denn wenn er allein einem Waffenstillstandzustimmen würde, genügte das nicht; Sie verlangen jazudem die Unterschrift. Sie haben der deutschen Bevöl-kerung bislang keine Antwort auf die Frage gegeben,was Sie dann machen. Sollen dann Bodentruppen ein-marschieren? Wo ist das politische Lösungskonzept?Das ist hier nicht offenbar geworden. Das sind Fragen,die ganz viele Menschen bewegen – ich finde, zu Recht.Sie haben eine Antwort darauf verdient.
Man kann doch nicht einfach sagen: Wir bomben biszur Unterschrift. Wie lange soll das gehen, wenn sienicht kommt?
– Ich glaube schon, daß ich es verstanden habe.
– Stellen Sie eine Zwischenfrage! Ich kann das akustischnicht verstehen. Ich bin sehr gerne bereit, darauf zu ant-worten.Wir müssen die Bombardierungen beenden. Wirmüssen zurück zu Verhandlungen. Wir müssen Ruß-land wieder in das Boot nehmen. Rußland war bereit,den Druck zu verschärfen. Vor allem müssen wir denUN-Sicherheitsrat wieder einschalten. Ansonsten hat daskatastrophale Folgen. Das Tischtuch zu Rußland istdoch schon nahezu zerschnitten.Jetzt noch zu etwas, was mich in den letzten Tagensehr beschäftigt hat: Die Argumente sind fatal. Es wirdimmer von der militärischen Überlegenheit der NATOgegenüber Jugoslawien gesprochen, die natürlich zwei-fellos gegeben ist. Das Argument in bezug auf Rußlandist dann: Die können gar nichts machen, die brauchenneue Kredite, und zwar spätestens im Mai, wenn dieneue Charge des IWF ansteht. Wo sind wir moralischhingekommen, wenn das die entscheidenden politischenArgumente werden: Wir sind a) militärisch überlegenund b) finanziell stärker; deshalb können wir eh ent-scheiden, was die anderen machen?
Wer sagt Ihnen denn, wer in einem halben Jahr in Ruß-land die Macht hat? Wer garantiert, daß dann, wenn dasArgument mit dem Geld noch zehnmal gebraucht wird,dort nicht ganz irrationale Entscheidungen getroffenwerden? Politik ist nicht nur rational; sie ist auch irratio-nal. Das macht mir große Sorgen.
Herr Kollege
Gysi, Sie haben schon die ganze Ihrer Fraktion zuste-
henden Redezeit ausgeschöpft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ich kom-
me zum letzten Satz. – Über die historische Dimension
ist übrigens so gut wie gar nicht gesprochen worden; le-
diglich der Bundesaußenminister hat am Rande darauf
hingewiesen.
Es bleibt eine traurige Tatsache: Europa und die Welt
werden hinterher anders aussehen. Das gilt ebenso für
die SPD, aber auch für die Grünen, die ihren Pazifismus
aufgegeben haben.
Ich finde es traurig –
Herr Kollege
Gysi!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
–, daß dieser Krieg in Euro-
pa in Deutschland durch einen Kanzler der Sozialdemo-
kratie angeordnet wurde. Das hätte nie passieren dürfen.
Das wird Folgen haben – kurzfristige, mittelfristige und
auch langfristige Folgen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, nur einDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
2590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Wort zu Ihnen: Wenn Sie von Notwehr sprechen und da-für sind, dann ist auch Nothilfe erforderlich.Zu dem, was jetzt passiert ist, möchte ich das wieder-holen, was andere bereits gesagt haben: Wir tun gut dar-an, an unsere Soldaten und ihre Angehörigen zu denken.Wir tun aber auch sehr gut daran – ich würde mir wün-schen, daß das stärker geschieht –, ebenfalls der Opferdieser Politik von Milosevic zu gedenken. Die künftigenPlanungen der EU sollten eine Hilfe für diese Opfer unddiese Region vorsehen. Denn nur so kann dort eine aufdie Zukunft gerichtete Entwicklung einsetzen. Aber derKampf muß jetzt wohl ausgefochten werden.
Ich habe deshalb großen Respekt vor dem, was aufdem Gipfel in dieser Situation erreicht worden ist. Eswar schon vorher schwierig genug, auf einen Kom-promiß hinzusteuern. In dieser Situation war der Gip-fel, glaube ich, ein großer Erfolg. Es sind auch dieGrundlagen der EU deutlicher geworden; sie gehen imGerangel um Milchquoten und Milchkühe manchmalunter.Lassen Sie mich zu diesem Gerangel etwas sagen: Ichsehe in diesem Streit um kleinliche Interessen in Wirk-lichkeit einen Teil der vollzogenen Integration. Denn inder EU sind mittlerweile überall Interessen betroffen,über die verhandelt werden muß. Aber sicherlich erin-nerte man sich auch daran, was die EU für uns darstellt:In Europa – jedenfalls in Westeuropa, wir hoffen, baldauch in Mittel- und Osteuropa – ist sie ein Garant fürFrieden, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Ich glaube,der erzielte Kompromiß ist auf dieser Grundlage eingroßer Schritt in diese Richtung.
Deswegen gilt es als erstes, jetzt die Funktionsfähig-keit der EU-Institutionen zu sichern. Darum begrüße ichfür die SPD-Fraktion ausdrücklich, daß sich die Staats-und Regierungschefs auf Romano Prodi als Präsidentender EU-Kommission geeinigt haben. Ich begrüße eben-falls, daß bereits im April mit ihm über die weiteren an-stehenden Reformen geredet werden soll.
Die Entwicklungen auf dem Balkan zeigen uns über-deutlich, welche Bedeutung der Handlungsfähigkeit derEuropäischen Union für Frieden und Sicherheit in Euro-pa zukommt. Im Amsterdamer Vertrag, Herr Kohl, ist jaeiniges erreicht worden; das ist begrüßenswert. Nun istes erforderlich, daß der besondere Beauftragte – MisterGASP, oder wie immer man ihn benennt – eingesetztwird, damit wir zu einer Strategie kommen. Es gilt jetzt,diese außenpolitischen Strategien zu entwickeln und an-zuwenden, und zwar mit Blick auf mehr gemeinsameeuropäische Politik, auch wenn sie weitgehend noch in-tergouvernemental bleibt. Ich sehe das als eine Aufgabeauch auf der Basis dieses Gipfels. Ohne eine Einigungbei der Agenda 2000 würde das im luftleeren Raum ste-hen.Ich möchte noch darauf hinweisen, daß es in der EUlange eine schwierige Periode gegeben hat. Ich glaube,daß mit dieser Agenda 2000 der Reformstau aufgehobenist und daß wir wieder handlungsfähig geworden sind,
und zwar in der Kombination von Agenda 2000, Reformder Kommission und der Verwaltung und der neuenStellung des Präsidenten sowie durch die Bewältigungneuer Aufgaben, die uns zwar schon der AmsterdamerVertrag aufgegeben hat, mit deren Bewältigung wir abernoch nicht sehr weit gekommen waren, weil über dieAgenda 2000 noch nicht entschieden war.Ich glaube, daß dieser Gipfel ein großer Erfolg für dieBundesregierung war, insbesondere auch für den Bun-deskanzler.
Ich darf daran erinnern, daß bei der letzten Europade-batte in der vergangenen Woche die CDU/CSU derBundesregierung Substanzlosigkeit in der Europapolitikvorgeworfen hat. Herr Ministerpräsident Stoiber hat an-gesichts des Rücktritts der Kommission sogar die Ver-schiebung des Berliner Gipfels gefordert; dies wurdemehrfach gesagt. Herr Schäuble wollte das in der letztenDebatte zwar nicht wahrhaben; aber dummerweise fürihn kam die Meldung während der Debatte hier herein.Es wäre verantwortungslos gewesen, so zu handeln.Durch ein Verschieben des Gipfels wäre die Europäi-sche Union sehenden Auges zu einer Zeit in eine ganzernste Krise geraten, in der Europa insgesamt sich ineiner Konfliktsituation befindet. Ich sage das gerade mitBlick auf den Kosovo, aber nicht ausschließlich.
Für uns stand daher immer fest: Es gibt keine Ver-schiebung der Agenda. Das gehörte nie zu unserer Stra-tegie. Unsere Standfestigkeit hat sich ausgezahlt. DieAgenda 2000 ist jetzt verabschiedet. Damit haben wirEuropa an drei strategischen Punkten in eine gute Aus-gangslage gebracht: Die notwendigen internen Refor-men sind auf den Weg gebracht; sie werden zum Abbauvon Bürokratie, zu mehr Transparenz in den Sachpoliti-ken, zum Beispiel im Agrarbereich, zu mehr Spielraumfür die Mitgliedstaaten und Regionen, zum Beispiel beider Prämiengestaltung, führen. Die Reformen sind des-halb auch ein Schritt zu mehr Subsidiarität in der Euro-päischen Union. Nur, Subsidiarität kann nicht heißen,alles wieder zu renationalisieren, so daß es dann keineGemeinsamkeiten mehr gibt. Dieser Begriff meint etwasanderes.Die zentralen Reformschritte im Hinblick auf die EU-Finanzen sind: Die Ausgaben werden wesentlich lang-samer steigen, als es die Kommission in ihren eigenenVorschlägen vorgesehen hatte; es wird mehr Beitragsge-rechtigkeit geben. Beispielhaft möchte ich auf den Ra-batt für Großbritannien eingehen. Es stimmt, daß er er-halten geblieben ist; das war auch nicht anders zu er-warten. Aber seine Berechnungsart und die Art undWeise, wie – und von wem – er finanziert wird, hat sichdeutlich geändert; dieses wird sich günstig auf die Bei-Dr. Norbert Wieczorek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2591
(C)
(D)
tragszahlungen der Bundesrepublik Deutschland aus-wirken, um es einmal deutlich zu sagen.
– Das ist so, ich könnte Ihnen die Zahlen jetzt nennen,möchte es aber mit Rücksicht auf Herrn Blair und dieDiskussionen in seinem Land nicht machen. Sie könnenjedenfalls die vorläufigen Zahlen nachher gern von mirbekommen.
– Das werden wir mit Freude tun. Sie werden sich dannfür die Fehlinformationen, die Sie gegeben haben, mit„mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ entschuldi-gen. Ich hoffe zumindest, daß Sie diese Größe haben,Herr Hirche.Ich möchte auch darauf hinweisen, daß es gelungenist, die reale Konstanz einzuhalten und insgesamt einenOberdeckel von 1,27 Prozent vom BIP für den Haushaltfestzuschreiben. Das schließt die Mittel für die Erweite-rung ein, die separiert bleiben. Herr Kollege Hauss-mann, Sie haben jetzt den Sitz von Herrn Gerhardt ein-genommen. Ist Ihnen völlig entgangen, was Herr Aznarfür die spanische Regierung gefordert hat? Er fordertedeutlich mehr als 1,27 Prozent und Deutschland mögenoch mehr Beitrag zahlen. Haben Sie das nicht wahrge-nommen? Oder wollen Sie es nicht wahrnehmen, weilSie nur noch an den Europa-Wahlkampf denken unddeshalb Scheuklappen tragen?
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mit derAgrarreform, die ich mir etwas weitgehender ge-wünscht hätte – ich sage das auch hier –, die deutscheLandwirtschaft in Europa insgesamt wieder wettbe-werbsfähiger, umweltverträglicher und marktorientierterwird. Die Strukturfondsförderung wird künftig viel stär-ker als bisher auf die strukturschwächsten und damitförderbedürftigsten Regionen konzentriert. Das ist beiuns zum Beispiel Ostdeutschland, das als Ziel-1-Fördergebiet eingestuft ist. Die Mittel werden also vieleffizienter eingesetzt. Zudem wird die Förderung verein-facht und Bürokratie abgebaut. Das ist ja ein alterWunsch, Herr Stoiber, der gerade vom Bundesrat immergeäußert wurde. In den Details wurden also Verbesse-rungen erzielt. Das ist zu begrüßen.Die Europäische Union ist auf dem Weg zur Erweite-rungsfähigkeit einen großen Schritt vorangekommen.Sie hat damit den Beitrittskandidaten in Mittel- und Ost-europa unmißverständlich signalisiert: Ihr könnt euchauf uns verlassen. Die deutsche Bundesregierung weißauch um die Verantwortung für den Beitrittsprozeß.Verantwortung tragen – das sage ich an die Adressederjenigen, die immer möglichst frühe Daten nennenwollen – heißt auch, keine leichtfertigen Versprechun-gen abzugeben.
Wir haben jedenfalls zu keinem Zeitpunkt unrealistischeVersprechungen gegenüber unseren Partnern im Ostengemacht. Wir haben vielmehr versprochen, alles zu tun,um die materiellen Voraussetzungen für die Erweite-rungsfähigkeit zu schaffen. Das ist mit dem in Berlin be-schlossenen Paket geschehen.
Der Agrarkompromiß – bei all seinen Feinheiten –hat auch die Ausgangsposition für die WTO-Runde ge-stärkt.
– Sie brauchen gar nicht so zu lachen, Herr Haussmann.
– Nein, das ist schon so, die Preise werden abgesenktusw. Das ist schon ein Einstieg.Ich sage aber ausdrücklich: Dies ist nicht ausrei-chend. Denjenigen, die ganz besonders auf ihren per-sönlichen, nationalen Interessen herumgeritten sind unddeshalb den ursprünglichen Kompromiß, den Herr Fun-ke ausgehandelt hatte, verlassen hatten, rate ich nur,noch einmal zu überlegen, ob sie nicht zuviel geforderthaben und ob sie nicht sehr bald durch die WTO-Verhandlungen zu einer Revision gezwungen werden.Ich sage das in Richtung auf einen bestimmten westli-chen Nachbarn, der sogar in diesem Zusammenhang, ineiner Situation von relativ geringer Bedeutung, das Wortder „vitalen nationalen Interessen“ ins Spiel gebrachthat. Ich halte dieses Wort für sehr gefährlich, denn daswar damals die Begründung für den Rückzug von deGaulle aus dem Brüsseler Geschehen. Ich erinnere daranfür den Fall, daß das jemand nicht mehr weiß. Ich sagedeshalb auch nicht, daß WTO und freier Welthandel füruns von vitalem nationalen Interesse sind, jedenfallsnicht in dem rechtlichen Sinne, in dem dieser Begriffverwendet wurde. Aber ich möchte doch darauf verwei-sen, daß die WTO für uns von ganz zentralem Interesseist;
denn wir leben vom freien Welthandel, und das darfnicht durch ein kleinliches Durchsetzen von Partikular-interessen in der Landwirtschaftspolitik gefährdet wer-den.
Ich wollte damit deutlich machen: Man kann mit demErgebnis nicht hundertprozentig zufrieden sein. Aber einalter Freund hat mir kurz vor den Verhandlungen gesagt:Weißt du, Norbert, wenn alle gleichermaßen unglücklichaus den Verhandlungen gehen, dann ist es eigentlich einglückliches Ergebnis. Ich glaube, das haben wir fast er-reicht. Insofern bin ich ganz zufrieden.
Auf dem Berliner Gipfel ist die Stabilisierung derAusgaben im EU-Haushalt beschlossen worden. DieDr. Norbert Wieczorek
Metadaten/Kopzeile:
2592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Ausgaben werden übrigens zwischen 2000 und 2006deutlich geringer steigen, als sie zwischen 1994 und1999 gestiegen sind. Bei den wichtigsten Ausgaben-blöcken, nämlich der Agrar- und Strukturpolitik, werdendie Haushaltsansätze künftig erheblich unter demNiveau liegen, das die Europäische Kommission imRahmen der Agenda 2000 vorgeschlagen hatte. Die In-itiative der Kommission war die ursprüngliche Ver-handlungsgrundlage; daran muß erinnert werden.Das heißt aber auch, daß unsere Beiträge stabilisiertwerden. Für die gemeinsame Agrarpolitik haben sich dieStaats- und Regierungschefs auf die reale Konstanz ver-ständigt. Auch dies wird unseren Beitrag durch geringe-re Zahlungen an den EU-Haushalt stabilisieren.Es wird auch zu einer gerechteren Verteilung derfinanziellen Lasten kommen. Das geht nicht von heuteauf morgen; aber die Reform auf der Einnahmeseite istfest vereinbart. Der Übergang vom Mehrwertsteuerre-gime zur Bemessungsgrundlage Bruttoinlandsprodukt– wobei Italien einen mutigen Schritt gemacht hat; auchdas muß man einmal erwähnen – ist ein ganz erheblicherFortschritt, der weit über das Jahr 2006 hinausgeht, ins-besondere im Hinblick darauf, daß entsprechend derErweiterung der EU im Haushalt mehr Mittel zur Verfü-gung gestellt werden müssen. Dies halte ich für einenganz entscheidenden Fortschritt.
Den Korrekturmechanismus beim britischen Beitrags-rabatt habe ich schon genannt. Wenn ich es richtig gese-hen habe, ist das sogar Teil eines Korrekturmechanis-mus, der ein Einstieg in einen künftigen allgemeinenKorrekturmechanismus sein könnte.
Dies wäre sehr positiv, wenn es im schriftlichen Ergeb-nis endgültig so geregelt wäre.Dann zur Kofinanzierung. Ich persönlich – ich glau-be, auch die SPD insgesamt – bedaure sehr, daß Ko-finanzierung nicht möglich war. Sie hätte nämlich einenviel besseren Einstieg in die Agrarreform bedeutet undmanches erleichtert. Nur, eines verstehe ich nicht, HerrSchäuble: wie Sie Kofinanzierung so fordern können,obwohl in der Kofinanzierungsvariante von Herrn Stoi-ber ausdrücklich das enthalten war, was die Franzosendauernd gegen die Kofinanzierung angeführt haben,nämlich eine Aufkündigung der gemeinsamen Agrar-politik, ein Weggehen von der obligatorischen Agrar-politik.
– Wenn Sie sagen, das sei falsch, dann müssen Sie dasHerrn Védrine, Herrn Chirac und dem französischenParlament sagen, die das in ihren Beschlüssen festge-halten haben. Ich referiere hier lediglich, was Sie gesagthaben. Die Franzosen haben gesagt, wir wollten dieseKofinanzierung, während der Vorschlag der deutschenBundesregierung anders war als der der CSU; das istrichtig. Denn wir haben gesagt: Das Ganze bleibt obli-gatorisch, und es geht lediglich darum, daß die Auszah-lungen nicht aus dem Brüsseler Haushalt, sondern natio-nal erfolgen; es soll aber keinen Spielraum mehr für dis-kretionäre nationale Maßnahmen geben. Das, was Sieals Kofinanzierung gefordert haben, war genau das, wo-gegen sich die Franzosen gewendet haben. Sie habenalso mit diesem Gerede den Franzosen überhaupt erstden Vorwand geliefert, das insgesamt abzulehnen.
Soweit zur historischen Wahrheit, wenn Sie sich schonnicht um die Details kümmern.Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich das Protokoll derBeratung im französischen Parlament anzuschauen.Dann werden Sie genau sehen, wie dort Kofinanzierunginterpretiert wurde, nämlich wie von Herrn Stoiber undnicht so wie wir es gefordert haben. Das müssen Sie ein-fach zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen nicht helfen,wenn Sie sich zuwenig in der Europapolitik tummelnund das nicht mitbekommen. Das ist Ihr Problem.Mit dem Agrarkompromiß wird übrigens die Politikder schrittweisen Anpassung an den Markt fortgesetzt.Ich halte das für positiv, wenn ich es mir auch bessergewünscht hätte. Aber eines möchte ich auch sagen: Dieunsachliche Begleitmusik, die von den Bauernverbändenkam, halte ich auf dieser Basis nicht für gerechtfertigt.Um einmal mit einer Mär aufzuräumen: Die alte Agrar-reform hat durchaus eine Verbesserung der Einkom-menssituation gebracht. Ich nehme an, daß die Bauerndas sehr viel schneller begreifen werden als ihre Funk-tionäre.Da Sie so skeptisch schauen: Vor mir liegt der Agrar-bericht des Jahres 1999 der alten Bundesregierung. DieSteigerung der Gewinne der landwirtschaftlichen Haupt-erwerbsbetriebe betrug 1995/96 7,2 Prozent, 1996/973,4 Prozent und 1997/98 3,7 Prozent. Diese Steigerungliegt weit über der Steigerung der Arbeitnehmerein-kommen insgesamt. Auf diesen Punkt wollte ich verwei-sen.
– Ihre Koalition war doch für diesen Bericht verant-wortlich. Entweder nehmen Sie den Bericht zur Kennt-nis, oder Sie sagen, daß Ihre damalige Bundesregierungeinen falschen Bericht vorgelegt hat. Ich kann mir abernicht vorstellen, daß die zuständigen Beamten so gehan-delt haben.
Ein Wort zu den Strukturfonds. In diesem Bereichfinde ich das Ergebnis besonders respektabel. DieKommission hatte 240 Milliarden Euro gefordert; her-ausgekommen sind jetzt 213 Milliarden Euro mit einergleichzeitigen Konzentration auf die Ziel-1-Gebiete, wasinsbesondere für die neuen Bundesländer wichtig ist. Eswird noch eine weitere Verbesserung des Rückflusses indie neuen Bundesländer geben. Eine Quote von 68 Pro-zent für die Ziel-1-Gebiete ist sogar höher als geplant.Dr. Norbert Wieczorek
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2593
(C)
(D)
In diesem Zusammenhang muß man darauf hinwei-sen, daß Berlin auf Grund der positiven Entwicklung inOstberlin nicht mehr ein Ziel-1-Gebiet sein kann. DieÜbergangshilfen werden aber mit der „kleinen“ Summevon 100 Millionen Euro großzügig bemessen. Dies istein sehr gutes Signal. Ich finde es ferner sehr positiv,daß die Ziel-2-Gebiete zusammengeschnitten wordensind. Aber auch hier wurden Sicherheitssätze eingebaut,die den Übergang erleichtern.Ein Wort zum Kohäsionsfonds. Es hat die Legendegegeben – leider ist sie von vielen geteilt worden –, derKohäsionsfonds sei nur zur Heranführung an die Wäh-rungsunion geschaffen worden. Ich muß daran erinnern,daß sich darüber kein einziges Wort im Vertrag findet.Ich habe aber in einem alten Ecofin-Bericht gelesen, daß1992 der damalige Staatssekretär von Theo Waigel, denich nach wie vor sehr schätze, ausdrücklich darauf hin-gewiesen hat, daß es sich beim Kohäsionsfonds nicht umMittel handeln sollte, die die Konvergenz – damit ist dieAnnäherung an die Maastricht-Kriterien gemeint – be-wirken sollten.In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,daß der Kohäsionsfonds eine andere Funktion hatte.Herr Kohl weiß vermutlich – ich will diesen Punkt abernicht weiter vertiefen oder sein Handeln gar kritisieren –,was die Folgen auf Grund seiner Zusage waren, daßnach der Aufnahme der ostdeutschen Länder in die Ziel-1-Gebiete die bisherigen Ziel-1-Gebiete nicht wenigerGeld bekommen sollten. Ich habe für diese Haltungvolles Verständnis und kritisiere sie nicht. Aber mankann nicht den Popanz aufbauen, als sei der Kohäsions-fonds nur für die Heranführung an die Währungsunioneingerichtet worden.
Ich will an dieser Stelle noch einen Punkt hinzufügen:Ich halte den Kohäsionsfonds gerade in bezug auf dieOsterweiterung für ein zielgerichtetes und daher erhal-tenswertes Instrument.
– Ich rede über den Kohäsionsfonds als Instrument; ichrede nicht über Dotierung. – Dieses Instrument hat sichin der Praxis als besonders zielgerichtet in Fragen desUmweltschutzes und der Verbesserung der Infrastrukturerwiesen. Ich bitte, über diesen Punkt einmal nachzu-denken und dann vielleicht die Debatte anders zu führen.Das heißt nicht, daß Spanien noch Geld erhalten sollte,wenn sein Bruttoinlandsprodukt 90 Prozent des Durch-schnitts der EU überschritten hat. In diesem Punkt sindwir uns doch einig.Ich möchte noch einen kurzen Ausblick auf das ge-ben, was noch vor uns liegt. Wir haben einen Gipfel er-folgreich abgeschlossen; ein anderer steht uns bevor. Beidiesem Gipfel geht es unter anderem um die Reform derEuropäischen Kommission. Mit Prodi als neuem Präsi-denten wird der Einstieg in die Reform der Kommissi-on vollzogen. Unter Reform verstehe ich insbesonderedie Schaffung neuer interner Verhaltensvorschriften. Esmuß mehr Transparenz, mehr Verantwortlichkeit undmehr Effizienz geben. Man muß sich in diesem Zusam-menhang auch überlegen, ob das Kabinetts- und Gene-raldirektorensystem in der bisherigen Art und Weisefortgeführt werden sollte.
Zu der anstehenden institutionellen Reform wird dieBundesregierung im Auftrag des Gipfels von Wien aufdem Gipfel in Köln einen Verfahrensvorschlag machen.Auch die Überprüfung der im Amsterdamer Vertragfestgelegten Stellung der Kommission gehört dazu. Ichkann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß der Präsi-dent der Europäischen Kommission künftig vom Euro-päischen Parlament gewählt wird – das wollen wir alle –,daß es aber nach wie vor keine Vorschrift gibt, die be-sagt, daß er selbst die Vertrauensfrage im Parlamentstellen kann. In diesem Bereich liegt ein Revisionsbe-darf. Man muß sich ferner fragen, welche Regelung gilt,wenn die gesamte Kommission zurücktritt. Heute tutman so, als könne sie weiterarbeiten, wenn nur einKommissar aus irgendeinem Grund ausgeschieden wäre.Dieser Punkt ist nicht in Ordnung. Er muß in das La-stenheft aufgenommen werden.Ich warne davor, die Regierungskonferenz mit ande-ren Dingen, zum Beispiel mit der WEU-Integration, zuüberfrachten. Wir müssen uns auf die institutionellenReformen beschränken, weil das der zweite Teil derBeitrittsfähigkeit der EU ist. Ich bin sehr dafür und auchsicher, daß wir das machen werden.Ein Wort noch zum europäischen Beschäftigungs-pakt. Es wird eine große Aufgabe sein, die beschäfti-gungs- und wirtschaftspolitischen Leitlinien zusammen-zuführen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit gemeinsam be-kämpfen wollen – es ist unbestritten, daß dies vor allenDingen eine nationale Aufgabe ist, aber wir können unsgegenseitig helfen –, dann gilt es, zu einer vernünftigenKombination aus makroökonomischen Strategien – dasModewort lautet: Policy-mix –, richtigen Strukturrefor-men und einem maßgeschneiderten arbeits- und be-schäftigungspolitischen Instrumentarium zu kommen;für mich sind alle drei Punkte gleichwertig. Das wirdunsere Aufgabe für den Gipfel in Köln sein. Ich erwähnedies hier, weil die Entscheidung des Ältestenrates eineDebatte im Plenum vor dem Gipfel in Köln praktischnicht möglich macht.
Ich wünsche mir, daß dieser Gipfel in diesen Fragen imErgebnis genauso erfolgreich ist wie der Gipfel in Berlin.
Gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Bemer-kung: Natürlich bedanken wir uns beim Bundeskanzlerund bei den Kabinettsmitgliedern, die mitgewirkt haben,für das erreichte Ergebnis. Ich möchte aber ausdrücklichalle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Dankeinschließen, die eine gewaltige Arbeit geleistet und die-sen Erfolg möglich gemacht haben.Vielen Dank.
Dr. Norbert Wieczorek
Metadaten/Kopzeile:
2594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Ulrich Heinrich,
F.D.P., das Wort.
Frau Präsidentin, ich habe
mich wegen der Aussagen des Herrn Kollegen Wieczo-
rek zur Agrarpolitik zu einer Kurzintervention gemeldet.
Eine Einigung ist erfolgt; das stimmt. Die Probleme
aber sind nicht gelöst. Die Einkommen der Landwirte
werden sinken. Die Landwirte werden mit bis zu 2 Mil-
liarden DM zusätzlich belastet. Im Gegensatz zu dem,
was Sie gesagt haben, Herr Wieczorek, ist nicht zu er-
warten, daß von dieser Reform positive Impulse für die
Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft ausge-
hen werden. Die Überschüsse werden nicht abgebaut.
Vor allen Dingen aber werden die Exportsubventionen
nicht geregelt. Das heißt, im Herbst, wenn wir diese
Politik in der WTO-Runde darzustellen haben, werden
wir entsprechend unter Druck geraten. Wenn die 15 Re-
gierungen nur einen solchen Kompromiß zustande brin-
gen, frage ich mich, warum wir als Parlament dies auch
noch beklatschen sollen. Dafür habe ich kein Verständ-
nis.
Meine Damen und Herren, zu der Entwicklung der
Weltmarktpreise. Die eingeschlagene Richtung ist
falsch. Es wird nämlich nicht zu einer stärkeren Wett-
bewerbsfähigkeit der Landwirtschaft kommen. Vielmehr
wird die Abhängigkeit der Landwirtschaft von der Poli-
tik erhöht, und das können wir nicht gebrauchen.
Sie werfen den Landwirten nachher wieder vor, sie
seien Subventionsempfänger. Monatelang ist von Ihnen
aufs Tapet gebracht worden, daß wir einen zu hohen
Anteil an Subventionen kassieren und daß die Landwirte
nur deshalb gegen die Agenda 2000 sind, weil sie dann
weniger an Subventionen bekommen. Dies wird natür-
lich durch die Weltmarktpreisphilosophie noch ver-
stärkt. Genau das ist der Punkt, wo wir ansetzen müssen.
Anstatt eine eigenständige europäische Preispolitik zu
betreiben, mit der wir die Überschüsse planmäßig ab-
bauen können und mit der wir die Abhängigkeit der
Landwirtschaft von dem Geld der Steuerzahler reduzie-
ren, gehen Sie in eine völlig falsche Richtung.
– Ich habe eine Redezeit von drei Minuten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zu meinem
Schlußwort. Ich sage Ihnen: So kommt es zu einer
Vernichtung von Volkswirtschaftsvermögen. Wissen-
schaftler belegen das. Wenn das so weitergeht, dann
wird das Agrarsystem bald nicht mehr finanzierbar sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Dr. Wieczorek, bitte.
Herr Kollege, wennich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie einen Bei-trag zur Landwirtschaft machen und nicht so sehr zudem, was ich gesagt habe. Ich möchte auf drei DingeIhrer Kurzintervention eingehen, die ich tatsächlich an-gesprochen habe. Mit Ihren anderen Bemerkungen ha-ben Sie Ihre Redezeit ausgenutzt. Dafür hat man ja Ver-ständnis.Erstens. Im Hinblick auf die Preisstützung und dies-bezügliche Interventionen ist, soweit ich es aus dem,was bisher veröffentlicht wurde, erkennen konnte, aus-drücklich eine Überprüfung vorgesehen. Ich schlage vor,daß man sich genauer anschaut, was festgelegt wordenist.Zweitens. Bei der letzten Reform, bei der Mc-Sharry-Reform, gab es erst eine sehr große Aufregung, bis sichherausstellte, daß eine Reihe von Landwirten besserge-stellt wurde. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen,warum wir in diese Situation – etwa bei der Milchquote –gekommen sind. Die französischen Bauern haben damalseinen Aufstand gemacht. Die Regelung der Milchquotehat sich für sie so entwickelt, daß sie dabei ausgespro-chen gut weggekommen sind. Deswegen hat Herr Chi-rac – ich muß diesen Namen jetzt doch einmal nennen –so darauf insistiert, daß dieses System bis 2006 erhaltenbleibt. So kann man sich täuschen, wenn man zu schnellsagt: Das oder jenes ist das Ergebnis. Darauf wollte ichnoch einmal hinweisen.Drittens zur WTO. Da könnte ich fast sagen, Siewollten mich unterstützen. Aber ich bin nicht sicher, obSie das wirklich wollten. Ich sehe sehr wohl die Proble-matik, daß die WTO-Konformität angesichts dessen,was jetzt im Ergebnis herausgekommen ist, bei weitemnicht in dem Maße zu erreichen ist, wie es vorgesehenwar. Auch da war sie noch nicht ganz erreicht. Etwa inder Hälfte der Periode 2000 bis 2006 wird es im Ver-handlungsablauf einen Überprüfungszwang im Rahmender EU geben.Sie sollten sich erinnern: Ich habe gesagt, daß ich denBegriff „vitale nationale Interessen“ ausdrücklich nichtverwende. Ich halte ihn in der Europapolitik für allesandere als angebracht. Ich wiederhole – zu diesem Punktgab es von Ihrer Fraktion sogar Beifall –, daß wir einsehr zentrales Interesse daran haben, daß der Welthandelnoch liberaler wird, daß der freie Welthandel erhaltenbleibt – das ist ja im Moment gar nicht so sicher, wennSie die Diskussion im amerikanischen Kongreß be-trachten –, und daß dazu eine Abwägung dahin gehend
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2595
(C)
(D)
gehört, was man im Landwirtschaftsbereich und wasman insgesamt tut.Aus diesem Grunde wird eine Diskussion über dieseDinge mit unseren französischen Freunden noch sehrnotwendig sein. Ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstüt-zen, wenn wir das tun werden, und daß Sie nicht – wiebei der Kofinanzierung – durch andere Modelle Verwir-rung stiften.Danke sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund
Stoiber.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meinesehr verehrten Herren! Die Bürgerinnen und Bürger inDeutschland, wir alle in diesem Hohen Hause stehenunter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse im Ko-sovo. Wir alle sind angesichts der Bilder, die uns abendsund in der Früh über die Fernsehschirme erreichen, be-drückt. Mitten in Europa muß mit Waffengewalt umFrieden, Freiheit und Recht gekämpft werden. DieGrundlagen des menschlichen Zusammenlebens, desfriedlichen Miteinanders der Völker und die Menschen-rechte müssen in ganz Europa gelten.Bei dem NATO-Einsatz gegen das Regime in Bel-grad geht es deshalb auch um die Zukunft Europas. Dasmenschenverachtende System von Milosevic hat derStaatengemeinschaft keine andere Wahl gelassen, alsmit militärischen Mitteln den organisierten und eskalie-renden Verletzungen der Menschenrechte im Kosovoentgegenzutreten.Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß es uns allen ge-meinsam gelingt, diese Sichtweise besonders auch denjugoslawischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern inDeutschland eindeutig darzulegen. Ich bin ein wenigbetroffen davon, wie sehr Menschen aus Jugoslawien,die bereits lange Zeit hier in Deutschland leben, an derPolitik und an der Position von Milosevic hängen. Wirsollten diese Gefahren nicht geringschätzen und unsdeswegen bemühen, daß die Menschen in Deutschland,auch die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger,unsere Position, die eine gemeinsame Position ist, rich-tig einordnen können und sie verstehen.
Die bosnische Tragödie darf sich im Kosovo nichtwiederholen. Anders als mit militärischen Mitteln waroffenbar keine Einsicht zu erzwingen, um dem Unheilfür Hunderttausende von Menschen Einhalt zu gebieten.Wir dürfen die Augen vor Unrecht, Vertreibung undMord unmittelbar vor unserer Haustüre nicht verschlie-ßen. – Ich respektiere, was der Außenminister hier ge-sagt hat, der in der Beurteilung solcher Fragen in denletzten 20 Jahren – wenn ich mir alle seine Äußerungen,die von früher und die von heute, anschaue – einen wei-ten Weg zurückgelegt hat.
Ich halte das in der Tat für bemerkenswert und positiv.– Aus dieser Mitverantwortung heraus tragen wir alledie schwierige Entscheidung der Bundesregierung mit.Mit persönlichem Einsatz und großem Risiko tretenunsere Soldaten dieser Aggression gegen die Bevölke-rung des Kosovo entgegen. Für diese Pflichterfüllunggilt allen, die den Menschenrechten dort wieder zurGeltung verhelfen und Frieden schaffen wollen, unserpersönlicher Dank. In diesen Dank beziehe ich alle An-gehörigen unserer Soldaten ausdrücklich mit ein, dienatürlich jetzt ganz schwierige Stunden erleben. Es istwichtig, daß alle in der Bundesrepublik Deutschlanddeutlich erklären, wie sehr sie mit ihnen fühlen und wiesehr sie ihnen zur Seite stehen.
Angesichts des tausendfachen Leids und der drohen-den Gefahren treten selbstverständlich alle anderenwichtigen politischen Themen etwas in den Hintergrund.Dieser Konflikt macht uns einmal mehr den historischenAuftrag deutlich, die Teilung Europas endgültig zuüberwinden. Deshalb liegt die Osterweiterung der Euro-päischen Union nicht nur im Interesse Deutschlands,sondern auch im Interesse aller europäischen Nationen.
Dafür will die Agenda 2000 die Voraussetzungen schaf-fen. Doch so klar dieses Ziel ist, so schwierig ist die Lö-sung der Einzelfragen. Es geht um den Ausgleich dernationalen Interessen und die Verteilung der Ressour-cen. Wegen der gravierenden Folgen ist hart gerungenworden. Über die Ergebnisse ist heute nur kursorisch zusprechen. Die Ereignisse im Kosovo bewegen uns na-türlich innerlich mehr.Am Tag der Beendigung des Europäischen Rates vonBerlin gilt es zu bilanzieren: Was waren die Ziele? Waswurde erreicht? Und wie geht es weiter? Ihre Ziele, HerrBundeskanzler, haben Sie in Ihrer Regierungserklärungam 10. November 1998 und natürlich auch bei anderenGelegenheiten, in besonderem Maße auf dem SPD-Parteitag in Saarbrücken, im einzelnen erläutert. ZuIhren Kernpunkten des Jahrhundertwerks der Agen-da 2000, das für die nächsten sieben Jahre immerhin einFinanzvolumen von weit über 1 000 Milliarden DM be-deutet, zählt die Neuregelung der EU-Finanzen. In IhrerRegierungserklärung am 10. November haben Sie gesagt– ich zitiere –:Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzenwollen wir … auch zu einer höheren Beitragsge-rechtigkeit kommen und die deutsche Nettobela-stung auf ein faires Maß verringern.Das haben Sie in Ihrer Erklärung als Ziel angegeben.
Dr. Norbert Wieczorek
Metadaten/Kopzeile:
2596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Durch einen Sparhaushalt sollte der finanzielle Spiel-raum für die Osterweiterung geschaffen werden. Siesprachen von – ich zitiere – „eiserner Haushaltsdiszi-plin“. In der Agrarpolitik wollten Sie „grundlegendeVeränderungen“ erreichen. Ihre Ziele waren eine Kofi-nanzierung, die Sie in vielen Interviews und auch in Re-den vor diesem Haus immer wieder gefordert haben, undeine „Agrarreform, die zu weniger Ausgaben“ führt. Siehaben sich für eine grundlegende Reform der Struktur-politik ausgesprochen. Sie sollte sparsam, effizient undzielgerichtet sein. Das waren die Vorgaben, mit denenSie Ihre Position vor diesem Hohen Hause erläuterthaben.In diesen Zielen waren sich Regierung und Opposi-tion weitgehend einig. Doch sie waren nicht neu. Schondie von Helmut Kohl und Theo Waigel geführte Bun-desregierung hatte sich dafür eindeutig eingesetzt. CDUund CSU haben am 19. Februar in einem gemeinsamenPositionspapier offengelegt, woran sie das Ergebnis derAgenda 2000 messen werden. Dabei haben wir – auchwenn das oft behauptet wird – nie Maximalforderungenaufgestellt. Wir haben die berechtigten Anliegen unsererPartner anerkannt. Wir stehen zu unserer Verpflichtungzu europäischer Solidarität. Wir haben ausdrücklich an-erkannt und in diesem Positionspapier festgestellt, daßDeutschland auch nach der Korrektur größter Nettozah-ler in der Europäischen Union bleiben wird. Wir habenausdrücklich unser Einverständnis mit der Reduzierungder EU-Förderkulisse in Deutschland signalisiert. Wirhaben die Notwendigkeit einer Reform der gemeinsa-men Agrarpolitik akzeptiert.Was wurde erreicht? Das ist die zweite Frage. Wirmüssen heute mit großer Enttäuschung zur Kenntnisnehmen: Die Bundesregierung hat ihre selbstgesetztenZiele, die hier formuliert worden sind, verfehlt. DieAgenda 2000 sollte das Regierungsprogramm für dienächsten sieben Jahre sein. Doch das, was uns heute prä-sentiert wird, ist eher eine Verfestigung des Status quoals ein Aufbruch in die Zukunft.
Das Ziel eines strikten Sparkurses wurde verfehlt.Der EU-Haushalt steigt von 164 Milliarden DM im Jah-re 1998 auf 206 Milliarden DM im Jahre 2006 und zwarohne Berücksichtigung der Inflation. Das widersprichtdem, was Sie hier als Ihr Ziel vorgegeben haben. In die-ser Summe sind die Kosten für die Osterweiterung be-reits berücksichtigt. Selbst wenn man diese Kosten her-ausrechnet, liegt der Haushalt im Jahre 2006 mit 189Milliarden DM – wiederum ohne Inflation – immer nochdeutlich über dem von 1998. Von Sparkurs kann alsoüberhaupt keine Rede sein.
Die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der Eu-ropäischen Union besteht weiter. Natürlich wußten wir,daß wir Nettozahler bleiben würden. Aber wir hättenerwartet, daß Sie eine merkliche Korrektur der unge-rechten Nettobelastung erreichen. Die Konzepte dafürlagen auf dem Tisch, zum Beispiel die nationale Ko-finanzierung in der Landwirtschaft. Hier haben Siefrühzeitig Positionen geräumt. Ich will das noch einmaldeutlich machen: Die Kofinanzierung ist – nach der lan-gen Verweigerung der Europäischen Kommission, dasThema auf die Tagesordnung zu setzen – ein Verdienstder Regierung Kohl, ein Verdienst des früheren Finanz-ministers Waigel. Die Europäische Kommission hat dieKofinanzierung Mitte der 90er Jahre als ein wichtigesMittel zu einer gerechteren Beitragsgestaltung für vieleLänder fixiert.
Ich muß ganz offen sagen: Sie haben dieses System sehrschnell aufgegeben. Ich werde versuchen, im Laufe dernächsten Wochen zu eruieren, was dahintersteckt.
Ein anderes Konzept ist die Bemessung der Beiträgenach dem Bruttosozialprodukt. Hier haben Sie, HerrBundeskanzler, allenfalls eine Teilkorrektur erreicht.Von einem allgemeinen Korrekturmechanismus in derForm eines Kappungsmodells ist leider nicht mehr dieRede.Sie haben gerade gesagt, Sie seien neugierig, wie einVergleich der Regierung Kohl/Waigel mit der Regie-rung Schröder/Fischer hinsichtlich des deutschenFinanzbeitrags aus der Sicht dieser oder jener Seiteausfallen wird. Kollege Schäuble hat schon dargestellt,daß sich der deutsche Nettobeitrag von 27 MilliardenDM im Jahre 1994 auf 22 Milliarden DM im Jahre 1998ermäßigt hat. Herr Bundeskanzler, ich betrachte jetzteinmal die Zahlen des Bruttobeitrages: 1994 betrug derBruttobeitrag Deutschlands – in den jeweiligen Ist-Zahlen, also unter Berücksichtigung der Inflation –42 Milliarden DM; vier Jahre später, 1998, betrug er44 Milliarden DM. Nach dem von Ihnen ausgehandeltenErgebnis wird der deutsche Bruttobeitrag im Jahre 2006bei 58 Milliarden DM liegen.
Diese Zahlen sagen alles!Wir werden noch darüber zu reden haben, wie Sie beidieser beachtlichen Steigerungsrate des Bruttobeitragesund bei weiteren Maßnahmen im Bereich der Rückflüsseüberhaupt zu einer weiteren Senkung des Nettobeitragskommen wollen. Das bleibt der weiteren Diskussionüberlassen. Auf Grund der mir vorliegenden Zahlen –Bruttobeitrag von 58 Milliarden DM – kann ich nichtnachvollziehen, was Sie heute früh gesagt haben, näm-lich daß Sie den Nettobeitrag in den nächsten Jahrensenken werden.
Die Korrektur bei der Bemessung der Beiträge – nachdem Bruttosozialprodukt anstatt nach der Mehrwert-steuer – ist nun in zwei Stufen verwirklicht worden. Ichsage Ihnen aber angesichts der jetzigen Berechnungenvoraus: Sie werden nicht das erreichen, was KollegeWaigel und Bundeskanzler Kohl damals in Edinburgherreicht haben, nämlich daß der Nettobeitrag dadurch,Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2597
(C)
(D)
daß man bei der Bemessung der Beiträge von derMehrwertsteuer auf das Bruttosozialprodukt übergegan-gen ist, in den letzten vier Jahren um 5 Milliarden DMgesenkt worden ist. Erst dann, wenn Sie Vergleichbareserreichen – nach dem heutigen Ergebnis werden Sie dasnicht schaffen –, können Sie ernsthaft sagen, Sie hättenbei der Senkung des Nettobeitrages mehr als die frühereRegierung erreicht. Sie stellen sich heute aber hin undsagen, die Vorgängerregierung sei schuld, Sie hätten dieWeichen erst neu stellen müssen. Die alte Regierung hatdie Weichen gestellt; und ich bezweifele, daß Sie zubesseren Weichenstellungen kommen werden, meinesehr verehrten Damen und Herren.
Das Ergebnis kann auch bei der Strukturpolitiknicht befriedigen. Bei den Strukturfonds wird nicht ge-spart: Obwohl weniger Gebiete gefördert werden, wirdmehr Geld ausgegeben. Das, was sich durch die Agenda2000 ändert, geht sowohl bei den Ziel-2-Fördergebietenals auch bei den Kostensteigerungen überproportional zuLasten Deutschlands. Wenn Sie doch wenigstens das ge-schafft hätten, was Sie in den Runden mit den Minister-präsidenten zugesagt hatten! Wenn wir bei der europäi-schen Förderung schon mehrere Gebiete verlieren, dannhätten Sie uns wenigstens Spielraum beim Einsatz unse-rer eigenen Mittel zur Förderung unserer Problemge-biete verschaffen müssen! Genau das – mehr Möglich-keiten für die Nationen, wenn man schon Gebiete ausder europäischen Förderung herausnimmt – wäre Subsi-diarität gewesen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben außerdem nicht er-reicht, ein definitives Ende des Kohäsionsfonds für dieEurostaaten zu vereinbaren. Der Kohäsionsfonds wurdegeschaffen, um möglichst viele Mitgliedstaaten für dieWährungsunion fit zu machen. Das war die Intentionvon Maastricht.
– Doch, das war die Intention von Maastricht. – Nunaber werden auch solche Staaten weiter unterstützt – undzwar beinahe in alter Höhe –, denen das Attest für dieEurotauglichkeit ausgestellt wurde. Das ist der Weg indie Transferunion, die gerade nicht in unserem Interessesein kann.Weil also unklar ist, was im Jahr 2006 geschieht, mußman davon ausgehen, daß der Kohäsionsfonds wahr-scheinlich wie bisher weitergeführt wird. Dann fällt derVorwurf, den Sie – unbilligerweise – der alten Regie-rung gemacht haben, in voller Schärfe auf Sie selber zu-rück.Sie haben Bundeskanzler Kohl immer wieder kriti-siert – zuletzt noch vor einigen Wochen –, weil in Edin-burgh nicht geregelt worden sei, was nach dem Ende desEigenmittelbeschlusses 1999 geschehen solle. Sie habenbehauptet, Kohl und Waigel hätten in Edinburgh einenschweren Fehler begangen, weil die Anschlußregelun-gen nach dem Jahre 1999 nur einstimmig festgelegtwerden könnten.
Von einer Stärkung der Eigenverantwortung derRegionen, von Transparenz und Bürgernähe ist meinesErachtens nichts zu sehen. Spätestens der Rücktritt derEU-Kommission hätte Anlaß dafür sein müssen, System-änderungen einzuleiten: Abbau der Subventionen undStärkung der politisch Verantwortlichen vor Ort. Ich hof-fe, daß auf dem Sondergipfel, den Sie heute angesprochenhaben, auch dafür die Weichen gestellt werden.Auch eine wirkliche Reform der Agrarpolitik– darüber ist heute schon viel geredet worden – bleibtaus. Entscheidend wäre – trotz aller Schwierigkeiten, diees mit dem französischen Partner gibt – die Einführungder Kofinanzierung gewesen. Mit dieser Einführunghätten Sie gleich drei Ziele erreichen können: eine Si-cherung der Existenzgrundlage unserer Landwirte, eingerechteres Finanzierungssystem und vor allen Dingeneinen ausreichenden finanziellen Spielraum für dieOsterweiterung. Die Osterweiterung ist angesichts derProbleme, die im Rahmen dieser Erweiterung auf dieLandwirtschaft zukommen, ohne Kofinanzierung finan-ziell nicht zu schaffen. Deswegen ist bei den Verhand-lungen in Berlin die Durchsetzung dieses wichtigenElements für die Osterweiterung wie für die Reduzie-rung der deutschen Nettobeiträge versäumt worden. Manmuß sich nur einmal vorstellen, wie viele Bauern es inder Europäischen Union geben wird, wenn die dreiStaaten Tschechische Republik, Ungarn und Polen bei-getreten sind. Das kann gar nicht über das gegenwärtigeFinanzierungssystem aufgefangen werden. Hierfür wäreeine Kofinanzierung notwendig gewesen. Deswegenmuß man auch zu dieser Stunde an diesem Punkt deut-lich Kritik üben.
Eine wesentliche Schwachstelle bei den Verhandlun-gen war meines Erachtens – wenn es nicht so gewesenwäre, wäre ein besseres Ergebnis erzielbar gewesen –die mangelnde Koordinierung der deutschen Position.Oftmals wurde nicht klar, was die Deutschen wirklichwollten und wer für die Bundesregierung handelt.
Ein Schulterschluß mit der Opposition wurde überhauptnicht angestrebt. Darüber wurde hier noch nicht einmaldiskutiert.
– Es war so. – Forderungen der Länder im Bundesrathaben Sie ignoriert. Wir haben den nationalen Konsensin der Europapolitik nicht aufgekündigt, wie Sie es unsimmer wieder vorwerfen; vielmehr haben Sie diesenKonsens überhaupt nicht gesucht. Sie haben mit einigenflapsigen Bemerkungen Ihre Verhandlungsposition inBerlin erschwert. Und dann ist auch noch der Finanz-und Europaminister – das darf man nicht vergessen;auch das sollte zu dieser Stunde angesprochen werden –in der heißen Phase der Verhandlungen zurückgetreten.Das hat die Verhandlungen sicherlich nicht erleichtert.Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auchdafür tragen Sie Verantwortung.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Metadaten/Kopzeile:
2598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Ich stelle auf Grund des Kenntnisstandes, den wir mo-mentan haben – die Verhandlungen sind ja erst heute frühbeendet worden –, fest: Die Bundesregierung hat in Brüs-sel und in Berlin so verhandelt, wie sie in Bonn regiert.
Da hilft es auch gar nichts, wenn Sie uns immer wiederwortreich erklären, was mit wem nicht zu machen war –Sie haben das gerade getan, Herr Außenminister –: mitFrankreich die Kofinanzierung, mit Spanien der Aus-stieg aus dem Kohäsionsfonds für die WWU-Teilnehmer, mit Großbritannien die Abschaffung desBeitragsrabatts und mit Italien die volle Umstellung derFinanzbeiträge auf einen gerechten Maßstab, das Brutto-sozialprodukt. Ich frage Sie hier ganz deutlich: Was wareigentlich mit Deutschland „nicht zu machen“, HerrBundeskanzler und Herr Bundesaußenminister?
Sie sagen hier, die Aufgabenverteilung in Europasei etwa wie folgt: Die anderen vertreten nationale Inter-essen – so habe ich Sie verstanden, Herr Außenminister –,während Deutschland nur europäische Interessen zuvertreten habe, auch wenn sie nationalen Interessen wi-dersprechen. Diese Politik werden Sie den Menschendraußen nicht erläutern können. Deswegen werden wirimmer wieder auf diesen Satz zurückkommen.
Genauso wie in Deutschland Kommunalinteressennicht mit Landesinteressen und Landesinteressen nichtimmer mit deutschen Interessen identisch sein müssen,ist natürlich auch das nationale Interesse nicht immermit dem europäischen Interesse identisch. Das ist oft einschwieriger Balanceakt – das gebe ich zu –; denn wirhaben ein besonderes Interesse an der europäischen In-tegration. Deswegen sage ich auch, daß wir immer Net-tozahler bleiben werden. Aber Sie dürfen es der Bevöl-kerung nicht so erklären, daß wir auf die anderen, dienationale Interessen vertreten, Rücksicht zu nehmenhätten, während wir unsere eigenen Interessen generellzurückzustellen hätten. Damit schaffen Sie keine Ak-zeptanz Europas, meine Damen und Herren.
Sie haben meines Erachtens Ihre Versprechungen ausder Regierungserklärung und aus vielen anderen Redennicht erfüllt. Wir werden in den nächsten Wochen undMonaten die Folgen des Ergebnisses des Gipfels vonBerlin noch heftig zu diskutieren haben; denn die Pro-bleme, die nun für Teile unserer Bevölkerung entstehen,verlangen dann zumindest – dazu hätten Sie heute auchetwas sagen können – eine nationale Hilfe, um dramati-sche Strukturbrüche abzumildern. In dem Sinne erwarteich noch klare Worte von Ihnen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht nun der
Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo
Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ichmich mit dem Herrn Ministerpräsidenten aus Bayernauseinandersetze, möchte ich erst einmal meine Freudeund die Freude unserer Fraktion über das Ergebnis vonBerlin zum Ausdruck bringen. Wir beglückwünschenden Herrn Bundeskanzler, unseren Außenminister unddie übrigen Regierungsmitglieder zu ihrem Erfolg vonheute morgen.
Mit der Einigung über die Agenda 2000 und dem Er-gebnis des Gipfels von Berlin hat die Europäische Unionin einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit be-wiesen. Von dem Gipfel in Berlin geht ein klares Zei-chen an die beitrittswilligen osteuropäischen Länder aus:Die Europäische Union will die Osterweiterung. Siehat mit der Reform ihrer Finanzverfassung die Voraus-setzung für eine Vertiefung der europäischen Integrationund für ihre Erweiterung geschaffen. Die entscheidendeund unmißverständliche Botschaft des Berlin-Gipfels ist:Der Weg für die Osterweiterung ist frei. Meine Damenund Herren, das ist hundertmal mehr wert als Verspre-chungen hinsichtlich Daten, die von vornherein nicht zuhalten waren.
– Wer hat denn die Versprechungen in Richtung der ost-europäischen Länder im Hinblick auf konkrete Beitritts-daten gemacht und nicht eingehalten? Es war doch dieehemalige Regierung, die von vollkommen illusionärenDaten ausgegangen ist.
Aber auch innenpolitisch hat die Europäische UnionHandlungsfähigkeit bewiesen. Die Nominierung Ro-mano Prodis für den Vorsitz der EU-Kommission zeigtdie Entschlossenheit der Mitgliedsländer zu einer ra-schen Beendigung der Krise, die durch den Rücktritt derKommission eingetreten ist.Der Berliner Gipfel hat ein neues Kapitel in der Ge-schichte der Europäischen Union aufgeschlagen. Er hatbewiesen, daß die Staatengemeinschaft schwierige Si-tuationen meistern, sich selbst reformieren und dieOsterweiterung auf den Weg bringen kann. Insbesonderedurch die wochenlangen Bemühungen von Bundes-kanzler Schröder und Außenminister Fischer wurde die-ses Ergebnis möglich,
und dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere Aner-kennung.Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2599
(C)
(D)
Die Bedeutung dieses Berliner Gipfels ist internatio-nal unumstritten. Der österreichische BundeskanzlerKlima sagt: Wir haben Handlungsfähigkeit bewiesen.Jospin sagt: Das ist ein guter Moment für Europa. Auchinnenpolitisch findet die Leistung der Regierung Schrö-der/Fischer große Anerkennung. Sowohl der DeutscheIndustrie- und Handelstag als auch der Deutsche Bau-ernverband – Herr Kollege Heinrich, ich habe mich dar-über gewundert, aber ich habe es so gelesen – haben inersten Stellungnahmen die Ergebnisse des Berliner Gip-fels ausdrücklich begrüßt,
weil dort – trotz einer sehr schlechten Ausgangssituation– Verbesserungen ausgehandelt worden sind.Die einzigen, die den Erfolg schlechtreden, sind dieDamen und Herren von der Opposition und der bayeri-sche Ministerpräsident.
Herr Stoiber, heute sind Sie anders als noch vor wenigenWochen dahergekommen. Heute sind Sie wie das öster-liche Lamm aufgetreten.
Was allerdings das Verhandlungsergebnis angeht, warenSie gegen das, was ausgehandelt worden ist, nach wievor hart, und damit waren Sie auch hart gegen die bei-trittswilligen osteuropäischen Länder.Wenn Sie sagen, man habe oft den Eindruck gehabt,nicht zu wissen, was die deutsche Ratspräsidentschaftverhandeln wolle, dann entgegne ich Ihnen: Bei Ihnenwußte man genau, was Sie wollten. Sie wollten dieAgenda 2000 stoppen; Sie wollten den Berliner Gipfelplatzen lassen. Sie hätten damit Stagnation und Rück-schritt der europäischen Einigung in Kauf genommen.
Wo stünden wir denn heute, wenn wir Ihren funda-mentalistischen Ratschlägen gefolgt wären? Was hättees denn bedeutet, den Gipfel abzusagen? Welcher Scha-den wäre für unser Land entstanden? – Wir hätten keineAgenda 2000, wir hätten keine positive Perspektive fürdie Beitrittskandidaten, und wir hätten uns vor der ge-samten Welt lächerlich gemacht!
Wir haben Sie angesichts der Forderungen, die Sie letzteWoche erhoben haben, eines Besseren belehrt. Mit Zau-derei, Wankelmut und bayerischer Kleinkrämerei wer-den wir den historischen Dimensionen der europäischenEinigung nicht gerecht.
Es ist doch klar, daß wir uns mit unseren deutschenForderungen bei einer Kompromißlösung nicht in Rein-form – darin besteht das Wesen des Kompromisses; daswissen wir doch alle – durchsetzen konnten. AngesichtsIhrer Maximalforderungen wäre der Gipfel allerdingsvon vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. WeilSie es immer wieder gern vergessen, erinnere ich Siedaran: Die Höhe der deutschen Nettozahlungen ist dochnicht das Ergebnis unserer Politik, sondern das ErgebnisIhrer langjährigen Politik.
Es ist ein gutes Zeichen, daß wir – wenn auch noch nichtin ausreichendem Maße – die Tendenz nun umgekehrthaben und den jetzigen Stand der deutschen Nettozah-lungen reduzieren konnten. Sie aber haben die Dimen-sion der europäischen Einigung aus den Augen verloren.Wenn Sie den Erfolg von Berlin schlechtreden, dann tunSie dies oft auch aus innenpolitischen Gründen.Sie haben hier heute – jedenfalls für meine Begriffe –keine Alternative aufgezeigt. Das gilt auch für Sie, Herrbayerischer Ministerpräsident. Sie haben das europäi-sche Erbe Helmut Kohls nicht angetreten, sondern IhreRede war eigentlich von einem nationalen und regio-nalen Egoismus durchsetzt, den wir mit diesem Ergeb-nis von Berlin Gott sei Dank überwunden haben.
Wenn Sie sich selbst und Ihre Rede ernst nehmen,dann müssen Sie zugeben, daß Ihre Kritik, übertragenauf die außenpolitische Situation, insbesondere in Rich-tung der osteuropäischen Länder, bedeutet: Wir wolleneuch nicht, jedenfalls nicht so schnell wie möglich.– Wir hingegen rufen den beitrittswilligen Ländern zu:Wir wollen die Erweiterung. Wir wollen die europäi-sche Integration. Wir wollen Frieden und Stabilität inEuropa. – Deshalb freuen wir uns mit der Bundesregie-rung über die Ergebnisse dieses Gipfels.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Ver-ständnis dafür, daß Sie sich angesichts der innenpoliti-schen Lage auch über bescheidene außenpolitische Er-folge freuen. Wenn man die Gipfel verfolgt, so muß mansagen: Der Berliner Gipfel wird nicht in die europäischeGeschichte eingehen. Er war ein Gipfel auf kleinstemgemeinsamen Nenner.Herr Fischer, ich gönne es Ihnen, daß Sie Ihre ersteGipfelerfahrung gemacht haben. Bundeskanzler Kohlhat über 25 EU–Gipfel gestaltet, Außenminister Gen-scher über 30. Aber mit so kurzen Hosen, mit so be-Rezzo Schlauch
Metadaten/Kopzeile:
2600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
scheidenen Ergebnissen kam die frühere Regierung nienach Hause, Herr Fischer.
Es ist schade, Herr Schlauch, daß wir unter einer rot-grünen Regierung nur noch über das Geld reden müssen,ohne Leidenschaft und ohne Vision für Europa. Aberwenn wir schon über das Geld reden, dann muß ich sa-gen: Das große Versprechen war doch die Senkung desdeutschen Nettobeitrags.Ich zitiere jetzt aus der Regierungserklärung: Erstens.Die Obergrenze wurde auf 1,27 Prozent des EU-Bruttosozialprodukts festgeschrieben. – Das ist über-haupt nichts Neues. Das hatte die alte Regierung längsterreicht.Zweitens. Die Eigenmittel werden bis zum Jahre2004 in zwei Stufen zur Hälfte reduziert. – Das ist einedreifache Relativierung. Man kann überhaupt nichtquantifizieren, was das bringt.Drittens. Der Beitragsrabatt für Großbritannienwird modifiziert. – Heute morgen habe ich Herrn Blairim Fernsehen gesehen. Er hat sich sehr gefreut und ge-sagt, kein Penny werde hingegeben. Es ist auch ver-ständlich, daß sich Herr Blair und Herr Chirac freuen;denn so einfach haben es die anderen Länder auf Gipfelnnoch nie gehabt. Das ist der Punkt.
Man darf sich auch nicht wundern, daß andere Länderihre Interessen so massiv vertreten, wenn der Bundes-kanzler zu Beginn sagt: Ich habe zwar die Präsident-schaft, aber ich habe ein Ziel: Die deutsche Positionmuß sich verändern.
Es ist doch klar, daß die anderen dann genau das gleichemachen. Daß es Herrn Aznar sogar gelingt, eine Erhö-hung der Mittel für den Kohäsionsfonds zu erreichen,hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie gedacht, daß das nochteurer wird.Im Agrarbereich – so hörte ich heute morgen vonFachleuten – wurden die Nahrungsmittelbeihilfen nichtso stark abgesenkt. Da wurde noch etwas draufgelegt,um Herrn Chirac zufriedenzustellen. Es wird alles nurteurer. Das heißt, für die Bauern wird es bürokratischer,und für die deutschen Steuerzahler wird es teurer. Esgehört schon einiges dazu, das als großen Erfolg zu fei-ern.Daß es so gekommen ist, ist ja auch kein Wunder,wenn man bedenkt, daß der wichtigste Fachministerwährend der Verhandlungen über Bord gegangen ist.Man muß sich das einmal vorstellen: In der entschei-denden Sitzung des Ecofin-Rats muß der Ersatzmann,der arme Herr Müller, dem man vorher die Europakom-petenz weggenommen hat, auftreten und muß sich vorLeute wie Herrn Strauss-Kahn und andere hinstellen unddeutsche Interessen vertreten. Dabei kann nicht mehrherauskommen.
Insofern ist das Ergebnis äußerst bescheiden.Aber ich bin fair genug, um zu sagen, angesichts derKosovo-Krise, angesichts des Rücktritts der gesamtenEU-Kommission wäre ein völliges Scheitern eine abso-lute Katastrophe gewesen. Nur, das Ergebnis jetzt schön-zureden und zu sagen, wir haben uns durchgesetzt istnicht richtig. Die Zahlen werden ergeben – da kann ichnur dem bayerischen Ministerpräsidenten zustimmen –:Wir werden in der Strukturpolitik, in der Agrarpolitik,bei der Verrechnung, bei der Finanzarchitektur mehrzahlen müssen.Ich finde, die „Süddeutsche Zeitung“ hat recht – siesteht uns ja nicht immer so nahe –, wenn sie schreibt:Berlin war eben kein Reformgipfel; es hätten auchStaatssekretäre beurkunden können, daß Deutschland inwesentlichen Dingen einfach nachgegeben hat.
Das beste Ergebnis war die schnelle Nominierungvon Herrn Prodi. Da konnte man auch nicht viel falschmachen. Es ist interessant, daß Herr Prodi jetzt vonHerrn Schröder gerühmt wird. Mich freut es; denn HerrProdi ist ein absolut liberaler Reformer. Er hat interna-tionale Erfahrung. Er hat im übrigen in Harvard, in Stan-ford auf der London School of Economics studiert. Dassind alles liberale Kaderschmieden.
Das sind die „schlimmen“ Kaderschmieden, wo dieMarktwirtschaft so hart vertreten wird. Daß dieser Mannjetzt so gerühmt wird, läßt hoffen. Er hat ja in einer Re-de in Frankfurt darauf hingewiesen, was er für wichtighält, nämlich radikale Privatisierung, Staatsverschlan-kung, offene und flexible Arbeitsmärkte das heißt, genaudas Gegenteil von dem, was Rotgrün hier in Deutsch-land macht, meine Damen und Herren.
Deshalb hoffen wir auf Herrn Prodi. Wir können nursagen, Herr Prodi hat auch eine gute Kommission ver-dient. Deshalb kann es nicht sein, daß Kommissarinnen,die belastet wurden, erneut antreten wollen.
Deutschland hat das Anrecht, daß ein frischer Start er-folgt. Es kann auch nicht so sein, daß in Kürze im soge-nannten Parteirat der Grünen ausgeklüngelt wird, wer– ohne jede Europaerfahrung – die Quote für die Frauenerfüllt. So können wir in Zukunft die EuropäischeKommission nicht mehr besetzen. Das neue ParlamentDr. Helmut Haussmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2601
(C)
(D)
wird solchen Nominierungen auch nicht mehr zustim-men; denn da gilt bereits der Vertrag von Amsterdam.
Meine Damen und Herren, wir müssen die Krise derKommission für einen echten Neubeginn mit wirklichguten Leuten nutzen. Ich hoffe, daß Deutschland guteVorschläge macht, nicht nach dem Parteienproporz. Wirbrauchen eine Stärkung des Europäischen Parla-ments, das seine Feuertaufe, wenn auch erst im zweitenAnlauf, bestanden hat. Wir hätten das gleich damals imJanuar machen können. Langfristiges Ziel muß eineeuropäische Verfassung sein, für die wir seit langer Zeiteintreten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gerald Thalheim.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieEinigung über das Gesamtpaket der Agenda 2000 stelltauch aus der Perspektive der Agrarpolitik einen großenErfolg dar. Zumindest kommt man zu der Bewertung,wenn man sich erstens die Ausgangssituation vergegen-wärtigt und zweitens an die Tatsachen hält.Was die Ausgangsposition anbelangt, so ist erstensfestzustellen, daß nach vielen Jahren der Untätigkeiteine Reform durchgeführt werden mußte, ohne daß mehrGeld, sondern eher weniger Geld zur Verfügung steht.Zweitens hat es die alte Bundesregierung versäumt, ge-rade im Landwirtschaftsbereich strategische Partner fürviele Positionen zu suchen. Im Gegenteil hatten die Mit-gliedstaaten eher sehr unterschiedliche Positionen.Das zu der Ausgangssituation. Nun zu den Ergebnis-sen. Zunächst ist als Erfolg festzuhalten: Die Agraraus-gaben werden auf 40,5 Milliarden DM beschränkt. Daserlaubt es, die Nettozahlungen zurückzuführen und dieOsterweiterung voranzutreiben. Daß das nur durch dieZusage harter Sparmaßnahmen erreicht werden konnte,steht auf einem anderen Blatt. Eine Möglichkeit standjedoch nicht offen, nämlich die der Kofinanzierung derAgrarausgaben – ein Punkt, der auch heute wiedermehrfach gefordert wurde.Die Antwort, die man auf diese Forderung gebensollte, ist in der „Süddeutschen Zeitung“ vom vergange-nen Freitag nachzulesen. Dort schreibt Udo Bergdoll:Wer behauptet, … Frankreich könne zur Akzeptanzder Kofinanzierung in der Landwirtschaft gezwun-gen werden, nimmt sich selbst nicht mehr ernst.Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Wenn man es dennoch tun wollte, dann das: In der Op-position ist in der Tat die Gefahr groß, populäre Forde-rungen zu erheben und sich selbst nicht mehr ernst zunehmen.Wenn für die Landwirtschaft etwas erreicht wurde,dann die Gewißheit, daß man mit den zugesagten Zahlenrechnen kann. Die Ausgleichszahlungen bis zum Jahre2006 sind eine verläßliche Basis für die Landwirtschaft.Künftig wird von den Brüsseler Geldern mehr bei denBauern ankommen und weniger für Lagerhaltung undExporterstattungen draufgehen – ein wichtiger Erfolgder Agenda 2000. Aber die Landwirtschaft muß sichkünftig viel stärker am Markt orientieren. Damit wirdein Versäumnis der Vergangenheit offengelegt.Tatsache ist, daß die zunehmende Verflechtung derMärkte zu einer stärkeren Liberalisierung der Agrar-märkte führt. Das GATT-Abkommen von 1994 hatnicht diese Bundesregierung, sondern die Vorgängerre-gierung beschlossen. Es grenzt an Realitätsverweige-rung, wenn man so tut, als hätten die Beschlüsse vondamals für die Landwirtschaft heute keine Konsequen-zen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den letztenWochen in Versammlungen von vielen Bauern gehört,daß sie die Notwendigkeit einer Reform einräumen. Daswird von Ihnen und den Vertretern der Bauernverbändenatürlich geleugnet.Tatsache ist auch, daß die Intervention als Instru-ment der Agrarpolitik ausgedient hat. Gegenwärtig be-laufen sich die Interventionsbestände bei Rindfleisch aufmehr als 500 000 Tonnen, bei Getreide auf 19 MillionenTonnen, mit der Aussicht, daß letztere bis Ende desWirtschaftsjahres auf 20 Millionen Tonnen oder darübersteigen werden.
Wer leugnet, daß es hier Handlungsbedarf gibt, der gehtan der Realität vorbei.
Angesichts dieser Entwicklung brauchen wir eine Men-genbegrenzung bei der Produktion. Hier ist oft gefragtworden, welche Erfolge denn unter deutscher Präsident-schaft erreicht worden sind.
Bis zum Jahr 2006 werden 10 Prozent stillgelegt – eineForderung, die ich von Dir, Siegfried Hornung, in denletzten Wochen mehrfach gehört habe. Dies ist ein ein-deutiger Erfolg der Bundesregierung.
Auch die Milchquotenregelung wird fortgeführt.Diesbezüglich fällt meine Freude aber schon viel ge-dämpfter aus. Denn wir wissen, daß sich die Intentionder Milchquotenregelung längst in ihr Gegenteil ver-kehrt hat: hohe Kostenbelastungen für die aktivenMilcherzeuger und niedrige Preise. Wenn jetzt erneutgefordert wird – so zum Beispiel vom bayerischenLandwirtschaftsminister Miller –, endlich das Altpacht-Dr. Helmut Haussmann
Metadaten/Kopzeile:
2602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
problem zu klären, kann ich nur fragen: Was hat die alteBundesregierung, was hat die Bayerische Staatsregie-rung in den letzten Jahren getan, um dieses Problem zuklären?
Wir werden das angehen. Allerdings: Die Erblast derVerrechtlichung – mit 34 Änderungsverordnungen alleinfür den Milchbereich – stellt gerade auf diesem Gebieteine schwere Hypothek für Veränderungen dar.
– Sie können sicher sein, das werden wir tun. Dafür sindwir auch gewählt worden.
Zu den Tatsachen der Agenda 2000 gehört auch, daßes im Landwirtschaftsbereich mehr Chancen gibt, alsimmer wieder behauptet wird, und die Einkommens-verluste bei weitem nicht in der Höhe eintreten, wie Siehier immer wieder behaupten, wobei Sie Horrorszena-rien an die Wand malen.Unter der deutschen Präsidentschaft ist erreicht wor-den, daß es eine Degression, also die Verringerung derAusgleichszahlungen, für größere Betriebe nicht gebenwird.Ich verstehe die Welt nicht mehr, daß hier gerade vonder PDS die Agrarpolitik kritisiert wurde. Bei der Agen-da 2000 sind alle die Positionen erfüllt worden, die vorallen Dingen von Ostdeutschland gefordert wurden, obdas die betriebsbezogene Degression, der Abbau der150 000 Hektar prämienberechtigten Flächen oder die90-Tier-Grenze ist. Ich kann nur sagen, Herr Gysi: MehrUnfug zu diesem Thema habe ich von Ihnen in der letz-ten Zeit hier nicht gehört.
Ein Erfolg bei der Agenda 2000 – nach Erfolgen istvon Ihnen immer gefragt worden – sind die Ergebnisseim Rindfleischbereich und beim Getreide. Das Ergeb-nis der Kiechle-Reform von 1992 ist, daß Deutschlandin erheblichem Umfang Prämienrechte beim Rindfleischverloren hat. In den Verhandlungen ist es der Bundesre-gierung gelungen, die Prämienrechte für Deutschlandvon 9 auf 14 Prozent zu steigern. Das wird vor allenDingen den bayerischen Bauern zugute kommen. Auchinsofern ist nicht zu verstehen, daß die Ergebnisse im-mer wieder kleingeredet werden.Das gleiche gilt für die Preisabsenkung um 15 Pro-zent beim Getreide. Auch hier ist es gelungen, eine Ab-senkung um 20 Prozent zu verhindern.Weniger zufrieden sind wir mit dem Ergebnis bei derMilch, auch wenn es den Forderungen der CDU und desBauernverbandes eher entspricht. Wir befürchten, daß eszu Preisabsenkungen am Markt ohne Ausgleich kommt.
Mancher Bauernverbandsfunktionär hat uns hinterder vorgehaltenen Hand gesagt: Wir nehmen die Erwei-terung der Quote ganz gerne hin, wenn ihr euch bei denAusgleichszahlungen bei der Milch durchsetzt.Die Bundesregierung wird also in den nächsten Jah-ren dafür sorgen, daß sich die Belastungen in Grenzenhalten.Mit Ihrer Kritik bleiben Sie eher Ihrer Entwicklung inder Vergangenheit treu; denn die Einkommenssicherungfür die Zukunft kann nicht durch Intervention und staat-lich vorgegebene Preise geschehen, sondern nur durchein erfolgreiches Bemühen am Markt. Vor allen Dingendort liegen die Versäumnisse der alten Bundesregierung.Die Vermarktungsstrukturen in Deutschland sind inEuropa, zumindest im Vergleich zu anderen wichtigenAgrarstaaten, kaum wettbewerbsfähig. Insofern gehtIhre Kritik an den Beschlüssen der Agenda 2000 insLeere.Wir gehen davon aus, daß die Landwirtschaft in dennächsten Jahren die Vorteile und Chancen einsehenwird, die die Beschlüsse der Agenda gebracht haben.Wir als Bundesregierung werden auch künftig dieLandwirtschaft weiter unterstützen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollge Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Erfolg oder nichtErfolg, das ist die Frage in dieser Debatte. Ich glaube,der bisherige Diskussionsstand hat deutlich gemacht:Das Ergebnis von Berlin hat bei kritischer und auch beivorsichtiger Würdigung schwere Mängel.
Nun ist in dieser Debatte vom Herrn Außenminister– der nicht mehr auf der Regierungsbank sitzt –, die Frageaufgeworfen worden, was denn eine Regierung – –
Es wurde die Frage aufgeworfen, was denn eine Regie-rung Helmut Kohl in einer solchen Situation erreichthätte. Ich stehe hier nicht an zu sagen: Ich weiß nicht,welches Ergebnis wir in einer solchen Situation erreichthätten. Ich weiß aber, daß eine Regierung Helmut Kohlam Anfang einer deutschen Präsidentschaft Frankreichund Großbritannien in der Frage der Einhaltung vonVerträgen zur Entsorgung von Brennelementen nichtverprellt hätte. Ich weiß, daß ein Bundeskanzler HelmutKohl in Paris den französischen Staatspräsidenten nichtdadurch angegangen hätte, daß er ihm sagte, ich willnicht französischer Bauernpräsident werden. Ich weißauch, daß in einer Regierung Helmut Kohl der Finanz-minister Theo Waigel nicht durch vorzeitige Selbstpen-Dr. Gerald Thalheim
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2603
(C)
(D)
sionierung den Ecofin-Rat und die deutsche Präsident-schaft ins Schleudern gebracht hätte. Soviel weiß ich,meine Damen und Herren.
Nun hat der Herr Bundeskanzler in seiner ersten Ein-schätzung im Fernsehen – ich berücksichtige, daß sienach einer Nachtsitzung erfolgte und er erschöpft war –gesagt, dies und jenes sei erreicht worden und man seifroh, daß man überhaupt etwas geschafft habe. So eineGrundbewertung muß ja auch zulässig sein. Dann hat ergesagt, für Deutschland sei aber „kein Lottogewinn“ da-bei herausgesprungen. Das ist eine lockere Formulie-rung, die aber vielleicht doch einiges verrät.
– Ja eben, den haben wir nicht erreicht. Der Begriff„Lottogewinn“ ist das Interessante; das möchte ich demZwischenrufer von der Regierungsbank sagen.Eine solche Präsidentschaft ist eben kein Lotterie-spiel, bei dem man abwartet, was herauskommt, undhinterher enttäuscht feststellen muß, daß nichts heraus-gekommen ist,
sondern eine solche Präsidentschaft hat die Aufgabe, dieReformen, die nötig sind, um die Erweiterung derEuropäischen Union zu ermöglichen und im Prozeß derGlobalisierung klarzukommen, anzupacken.Unser Urteil, Herr Verheugen, wäre vielleicht nichtso kritisch ausgefallen, wenn es nur um Mark und Pfen-nig ginge. Wir haben in diesem Hause schon oft darübergesprochen, daß man große und überragende Ziele nichtimmer nur in kleine Münze umrechnen kann. UnserVorwurf ist aber – Wolfgang Schäuble hat das in seinemDebattenbeitrag deutlich gemacht; ich will das hier amEnde der Debatte noch einmal sagen –, daß die grund-sätzliche Reform und die mit ihr verbundenen großenZiele, also mehr Subsidiarität, mehr Bürgernähe inEuropa, mehr Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung,nicht so von Ihnen angegangen wurde, daß sie in ihrerStruktur die nächsten Jahre über trägt. Das haben Sienicht geschafft. Deshalb sind die kläglichen finanziellenErgebnisse auch Ausdruck der Konzeptionslosigkeit inder Gesamtanlage.
Die anderen fahren strahlend nach Hause. RobinCook, der englische Außenminister: Wir haben keinenPenny unseres Rabattes abgegeben. Die Spanier sagen:Das Ergebnis ist prima für Spanien. Der Bundeskanzlerhat hier gesagt: Wir wollen doch einmal würdigen, daßBerlin erfreulicherweise weiterhin in der Phasing-out-Förderung verbleibt. Ich habe eben in dem englischenBericht nachgeschaut. Es ist ja auch eine neue Mode inEuropa, daß selbst dann, wenn wir Deutschen die Präsi-dentschaft innehaben, die Schlußfolgerungen zuerst inenglischer Sprache erscheinen. Sei es, wie es sei.Es ist erfreulich, daß Berlin durch die Phasing-out-Förderung 100 Millionen bekommt; aber Lissabon erhältdurch das Phasing-out 500 Millionen. Es sei den Portu-giesen und auch Lissabon gegönnt. Aber man muß es insVerhältnis setzen.Besonders interessant in diesem Bericht ist – das istin den vorab herausgekommenen Pressemeldungen nichtdeutlich geworden –, daß das ursprüngliche Verspre-chen, den Kohäsionsfonds wenigstens abzuschmelzenund ihn auslaufen zu lassen, glatt gebrochen wurde. DerKohäsionsfonds wird eher noch aufgebläht. Von einemAuslaufen ist nicht die Rede. Diese Grundsatzentschei-dung geht in die völlig falsche Richtung.
Wenn wir ihn nicht auslaufen lassen, dann werden wirdie zusätzlichen Mittel, die wir für die Osterweiterungbrauchen, nicht schultern können.Nun hat hier eben der Vertreter des Herrn Landwirt-schaftsministers zur Landwirtschaft gesprochen. Ichmöchte darauf nur ganz kurz eingehen, weil Gerd Mülleres gleich für unsere Fraktion noch auf den Punkt bringenwird.
– Jawohl.Was hier mit der Landwirtschaft geschieht, ist mehrals bedenklich. Schauen wir uns nur einmal die Situationeines normalen Hofes, eines kleinen Betriebes mit40 Milchkühen und 47 Hektar landwirtschaftlicher Flä-che an. Gewinn im Wirtschaftsjahr 1997/98: 45 000DM. Gewinn am Ende der Reform im Jahr 2006: ab-züglich der Agenda-Lasten 35 000 DM, abzüglich wei-terer 2 000 DM wegen der Senkung der Vorsteuerpau-schalierung und abzüglich 1 500 DM Ökosteuer – diemögliche Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhungder Unfallversicherung lassen wir einmal weg –: etwa31 000 DM. Und da sagen Sie, Sie hätten für die Land-wirtschaft etwas herausgeholt! Diese Aussage liegt aufder Grenze zwischen Zynismus und Unkenntnis.
Das ist es, was uns so beschwert. Wenn es im Bereichder Landwirtschaft gelungen wäre, den zentralen Pro-blemen, etwa daß wir eine Überproduktion haben, so zubegegnen, daß sie gelöst und gleichzeitig die Einkom-men der Landwirtschaft gesichert werden können,könnte man darüber reden. Aber was macht man? Mansenkt den Preis, schafft einen Teilausgleich, zwingt dieLandwirtschaft, die Produktivität eher noch zu erhöhenund dafür zu sorgen, daß die Einkommensverluste hierausgeglichen werden, und drückt kleine und mittlereBetriebe langsam, aber sicher über die Kante. Der Bun-deskanzler nannte den Agrarkompromiß heute morgeneine „auskömmliche Lösung“. Ich finde diesen Begrifffehl am Platze, wenn man sich die Zahlen ganz genauanschaut.
Wir haben für die heutige Debatte einen Entschlie-ßungsantrag eingebracht, über den wir auch gerne ab-stimmen würden. Aber die Mehrheit im Hause verwei-Peter Hintze
Metadaten/Kopzeile:
2604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
gert uns die Abstimmung. Deswegen wird er an denAusschuß überwiesen. Ich schlage aber hier vor, daß wiruns, wenn die Dokumente dieses Gipfels und die Ein-zelheiten vorliegen – einige Details habe ich Ihnen ebenaus der englischen Fassung vorgetragen –, im Plenumdes Deutschen Bundestages noch einmal Zeit nehmen
– Sie von der SPD nicken, das freut mich –, die Dingeganz gründlich zu besprechen und bei dieser Debatteauch zu überlegen, wie wir in Deutschland durch mög-liche innerstaatliche Maßnahmen, etwa im Bereich derLandwirtschaft, die gröbsten Härten für die Menschenabwenden können, die nach dem jetzigen politischenStand der Dinge die Agenda 2000 durch massive Ein-kommensverluste bezahlen sollen. Die Agenda 2000 istweiß Gott kein großer Wurf. Sie greift wesentlich zukurz. Es kommt darauf an, daß wir mit unseren inner-staatlichen Möglichkeiten das zum Besseren korrigieren,was dieser Regierung auf europäischer Ebene nichtgelungen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen.
G
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damenund Herren! Ich mache einmal einen Vorschlag zurGüte: Ich glaube, daß die etwas aufgeregten Reaktionendes bayerischen Ministerpräsidenten – der hier, wie auchbei der letzten Unterrichtung der Ministerpräsidentendurch den Bundeskanzler, nicht mehr anwesend ist –und der Kollegen Haussmann und Hintze zurückgestelltwerden sollten, bis wir die tatsächlichen Zahlen haben.Es hat doch gar keinen Zweck, jetzt ein Ergebnis zu be-urteilen, dessen Einzelheiten niemand hier bewertenkann, weil sie nicht vorliegen. Herr Hintze, machen Siebitte den Übersetzern keinen Vorwurf dafür, daß Sie,wenn morgens um viertel nach sechs die Verhandlun-gen abgeschlossen sind, mittags keine deutsche Fassunghaben können. Wir sind froh, daß wir um sieben Uhreine englische Fassung hatten. Das sollten Sie bitte ver-stehen.
Hier einen billigen Punkt zu Lasten von Mitarbeitern zumachen, die 58 Stunden ununterbrochen zu arbeitenhatten, finde ich schäbig, Herr Hintze.
– Das ist so; das müssen Sie sich schon gefallen lassen.Zum anderen müssen Sie sich endlich einmal ent-scheiden, was Sie nun eigentlich für Ihre Argumentationals Maßstab nehmen wollen. Beim letzten Mal hat unsHerr Schäuble hier vorgetragen, was für eine grauen-hafte Vorlage diese Agenda 2000 – eine Vorlage derKommission, was Sie nicht vergessen dürfen – eigent-lich sei. Da stimme ich zu; sie war wirklich grauenhaft.Wenn Sie aber nun anfangen zu vergleichen, dann müs-sen Sie das Ergebnis des heutigen Tages mit derursprünglichen Vorlage vergleichen. Sie, Herr Hintze,der Sie nun, glaube ich, der europapolitische SprecherIhrer Fraktion sind, sollten inzwischen wissen, daß wireine Agenda, die auf einem Vorschlag der Kommissionberuht, nicht einfach mit neuen Vorschlägen und neuenThemen befrachten können. Sie haben hier eine Reihevon Forderungen aufgestellt, was wir hätten tun sollen.Das war aber nicht das Thema dieser Agenda.
Das war nicht der Vorschlag der Kommission. Das istdas Thema für den nächsten Gipfel. Dazu sage ichgleich noch etwas.Nun will ich einmal etwas zu den Zahlen sagen. Dassind jetzt bereits verbindliche Zahlen; ich kann Ihnensagen, daß sie stimmen. Die Kommission hatte vorge-schlagen, für Struktur- und Kohäsionsfonds in dervollen Periode 239 Milliarden Euro auszugeben. Wirsind bei 213 Milliarden Euro gelandet. Ich finde,26 Milliarden Euro weniger als vorgeschlagen sind einschönes Ergebnis.
Wenn wir das hätten bezahlen müssen, was in der finan-ziellen Vorausschau vorgesehen war, dann würden unse-re Nettobeiträge ganz anders aussehen.Dasselbe ist bei der Landwirtschaftspolitik der Fall.Nach dem Vorschlag der Kommission waren alsGrundlage der Agenda 2000 – Herr Schäuble hat uns dasletztes Mal vorgehalten, als sei es unsere Grundlage ge-wesen – 313 Milliarden Euro für die Agrarpolitik in derganzen Periode vorgesehen. Aus den Verhandlungenherausgekommen sind wir mit 283,5 Milliarden Euro.Das ist wiederum eine Ersparnis von knapp 30 Milliar-den Euro. Damit sind wir zusammen bereits bei fast60 Milliarden Euro. Wenn das für Sie Peanuts sind –bitte schön. Bei einem Volumen von 1,3 Billionen Euromögen 60 Milliarden Euro keine große Rolle spielen.Für mich spielt es aber eine große Rolle, ob wir in dennächsten sieben Jahren 60 Milliarden Euro zusätzlichfinanzieren müssen oder nicht.
Ich denke, Sie sollten einmal abwarten, wie das tat-sächliche Ergebnis aussieht. Warten Sie bitte auch ein-mal ab, wie die Verordnungen aussehen, die bekanntlichnoch durch das Parlament müssen. Die Agenda 2000 inder Berliner Fassung ist eine politische Einigung. Hierwerden zum Teil bereits Details verlangt, oder es wirdschon über Details geredet, die überhaupt noch nicht inVerordnungstexten formuliert sind.Ich möchte noch einmal auf ein sehr ernstes Themazurückkommen, das in mehreren Reden angesprochenwurde, damit das wirklich einmal aus der Welt ist. Esgeht um die angeblich aus der Hand gegebenen Ver-Peter Hintze
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2605
(C)
(D)
handlungsinstrumente; als Beispiel wurde immer dieKofinanzierung genannt. Das ist wirklich ein sehr ern-stes Thema. Ich habe gar keinen Zweifel daran, daß dieKofinanzierung genau die positiven Elemente hat, dieSie alle beschrieben haben. Sie ist das für uns genaumaßgeschneiderte Instrument; daran besteht gar keinZweifel. Darum haben wir es, zusammen mit einer Rei-he von anderen Instrumenten, auch in die Verhandlun-gen eingeführt. Aber fragen Sie, Herr Kollege Hintze,doch einmal die Kolleginnen und Kollegen aus IhrerFraktion, die schon Mitglied einer Regierung waren– Herr Schäuble, der einmal Chef des Kanzleramtes war,weiß es ganz genau –: An einem bestimmten Punkt wis-sen Sie, was mit einem wichtigen Partner – in diesemFall dem wichtigsten, nämlich Frankreich – geht undwas mit ihm nicht geht. Es gab, wie Sie wissen, einewirkliche Störung im deutsch-französischen Verhältnis.
– Ich werde Ihnen sagen, wodurch sie ausgelöst wordenwar.
– Schreien Sie doch nicht dazwischen. Hier geht eswirklich um ein sehr ernstes Thema. – Sie war dadurchausgelöst worden, daß unsere französischen Partnernicht verstanden haben, warum wir das Thema Kofinan-zierung auf der Tagesordnung der Agendaverhandlun-gen gelassen haben, obwohl Frankreich ganz klar gesagthatte: Wir machen das unter keinen Umständen mit. –Ich muß Ihnen wirklich sagen: Das war der spätesteZeitpunkt, das Thema fallenzulassen. Frankreich hatselbstverständlich erwartet, daß der engste Partner indem Augenblick, in dem er weiß, daß Frankreich etwasals eine Zumutung betrachtet, die es nicht akzeptierenwird, dieses Thema nicht weiter verfolgt. Wenn wirIhrem Rat gefolgt wären, wäre das deutsch-französische Verhältnis jetzt in Trümmern. Das müs-sen Sie ganz deutlich sehen. Das konnte man nichtriskieren.
Wenn Sie also Kritik üben wollen, daß ein ganz be-stimmtes Instrument nicht angewandt werden kann,melden Sie diese Kritik bitte in Paris bei Herrn PräsidentChirac an, der ja seine Gründe hat, warum er das nichtwollte.Bei den anderen Punkten ist es genauso. Sie tun gera-dezu so, als lägen hier die Elemente auf dem Tisch, undDeutschland bräuchte nur noch zuzugreifen: Wir neh-men dieses Element, wir nehmen jenes Element; dannsetzen wir das zusammen, und alle anderen haben danngefälligst zu parieren – als ginge es in Europa immer nurnach der Mütze eines einzigen Landes! Sie müssen eineLösung finden, der 15 Staaten zustimmen können, nichtnur einer. All diese wunderschönen Elemente – wirkennen sie und hatten sie immer im Blick – haben leidereinen schwerwiegenden Nachteil: Über kein einzigesdieser Instrumente konnte mit allen 15 EU-Staaten eineEinigung erreicht werden.Was macht man in einem solchen Fall, angesichtseiner Lage, die wir in Europa noch nie hatten: einezurückgetretene EU-Kommission,
eine Kosovo-Krise auf dem Höhepunkt
und das schwierigste und umfangreichste Finanzpaket inder Geschichte der Europäischen Union auf der Tages-ordnung? Gemäß Ihrem Rat hätten wir den Gipfel nacheinigen Stunden abbrechen und sagen sollen: Leiderkönnen die deutschen Vorstellungen hier nicht durch-gesetzt werden, lassen wir es also sein! –
Herr Hintze, das ist doch eine lächerliche Vorstellung.
In einer solchen Situation steht man immer vor derFrage: Ist es dieses eine Element wert, daß in Europa einvöllig falsches Signal gesetzt wird, daß der Einigungs-prozeß zum Stehen kommt, daß vielleicht sogar einRückschritt erfolgt? Sie würden dann genau wie ich im-mer sagen: Nein, der Prozeß der europäischen Einigungist wichtiger als ein einzelnes Element. So haben wir unsverhalten; das war auch richtig so.Ich will Ihnen noch etwas sagen: Eine Reihe vonAußenministern und Regierungschefs in Europa habenim vergangenen Jahr, vor der Bundestagswahl, wissenlassen, warum sie wollen, daß die Agenda 2000 unterdeutscher Präsidentschaft behandelt wird. Die Agendawar alt genug; man hätte sie bereits im vergangenen Jahrabschließen können. Es war aber gewollt, daß dies unterdeutscher Präsidentschaft geschieht. Was glauben Sie,warum? Dafür gibt es einen sehr einfachen Grund; dar-auf kann jeder leicht kommen. Der Grund war der Ge-danke, daß Deutschland im Rahmen seiner Präsident-schaft in dem Zwang, einen Kompromiß anzubieten, amEnde auch bereit sein würde, diesen Kompromiß zubezahlen.Darum war es notwendig, zu Beginn der Präsident-schaft deutlich zu machen, daß es für uns eine Grenzegibt. Diese Grenze wurde klar beschrieben: Neben derStabilisierung und der Beachtung der Haushaltsdisziplinmußte erreicht werden, daß bezüglich der Lastenvertei-lung innerhalb der EU Gerechtigkeit eintritt.Was ist in dieser Hinsicht gelungen? Italien konntedurch die Umstellung der Mehrwertsteuer-Eigenmittelauf Bruttosozialprodukt-Eigenmittel 50 Prozent abge-nommen werden, wenn auch in einer etwas verklausu-lierten Form.
– Es war eine diplomatische Veranstaltung. Sie müssenschon erlauben, daß man Formulierungen wählt, die eseinem befreundeten Regierungschef erlauben, damit inseinem Land vor das Parlament zu treten.Staatsminister Günter Verheugen
Metadaten/Kopzeile:
2606 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Zur Frage des Rabatts für Großbritannien hat derBundeskanzler gesagt, daß Modifikationen vereinbartwurden. Das heißt auf deutsch: Der Rabatt wird andersaufgebracht und nach anderen Maßstäben berechnet, undzwar nicht zugunsten Großbritanniens, sondern zu unse-ren Gunsten.Das ist ein Einstieg in die Veränderung diesesSystems; dies hat es bisher nicht gegeben. – Herr Hintze,das ist eine ganze Menge, viel mehr, als man erwartenkonnte, auf diesem Gipfel zu erreichen.Wenn ich unter all das einen Strich ziehe, dannkomme ich zu dem Ergebnis:
Dieser Gipfel ist, verglichen mit vielen anderen in denzurückliegenden Jahren, der wahrscheinlich erfolgreich-ste Gipfel in der Geschichte deutscher EU-Präsi-dentschaften gewesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht der
Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Staatsminister
Verheugen, nach einem solchen Gipfel leidet man offen-
sichtlich ein wenig an Wahrnehmungsstörungen. Man
erkennt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht.
Ich habe mir schon lange Zeit, in den letzten Monaten
im Ausschuß und auch heute, da wir die Ergebnisse die-
ses Gipfels diskutieren, immer wieder die Frage gestellt:
Warum ist das Ergebnis so schlecht, so katastrophal?
Herr Staatsminister Verheugen, Sie haben mit Ihrer
Rede gerade ein Beispiel für Arroganz, Selbstgefällig-
keit und Überheblichkeit in bezug auf das Auftreten der
Regierung zu Hause und im Ausland gegeben.
Wenn ich an Herrn Trittin denke, dann möchte ich hin-
zufügen, daß das Auftreten der Regierung ein Beispiel
für Unverschämtheit war. Im Stil, wie Sie Politik betrei-
ben, liegen die Ursachen und die wahren Gründe, für das
vorliegende Ergebnis. Diplomatie ist das nicht. Minister
Fischer würde sagen: Avanti, dilettanti!
Ich habe eine Redezeit von nur wenigen Minuten.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Was mir
bei dieser Zahlenspielerei von heute gefehlt hat, ist die
Gestaltungsidee. Unser Fraktionsvorsitzender hat danach
gefragt. Sie reduzieren Europa auf Prämien. Sie machen
aus Europa einen Kuhhandel. Sie haben keine Idee zur
Gestaltung Europas.
Ich komme zu einem weiteren Aspekt. Diese Reform
hat verheerende Auswirkungen auf die deutsche Land-
wirtschaft. Gerhard Schröder und Minister Funke haben
die deutschen Bauern betrogen.
Sie ruinieren das Land. Dies ist ein Generalangriff auf
die deutsche Landwirtschaft und auf den ländlichen
Raum.
Die Ergebnisse dieser Reform möchte ich Ihnen ver-
deutlichen. Es ist der pure Zynismus! Wissen Sie über-
haupt, was 1 Doppelzentner Weizen heute noch kostet?
Ganze 14 DM.
A
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist ein großer Erfolg, wenn wir die-se 14 DM für 1 Doppelzentner Weizen – das ist eingeringerer Preis als der, den man heute für Müll bezah-len muß – noch einmal um 20 Prozent reduzieren. – Dasist die Perspektive, die Sie unseren Bauern eröffnen.Deshalb sagen wir zum Agrarteil der Agenda 2000 ganzklar nein.
Ich komme zu meinem letzten Gedanken. Sie spre-chen immer wieder von der Kofinanzierung. MinisterFischer sagte: Das ist eine Kriegserklärung an Frank-reich. Ich sehe Theo Waigel hier sitzen. Was waren dieMilchquote und die Kofinanzierung für historischeThemen! All dies konnten Sie nicht durchsetzen, weildas in Frankreich, wie Sie sagten, historische Themenvon national-dramatischem Rang sind. Ich frage Sie:Warum hat Theo Waigel es geschafft,
den europäischen Stabilitätspakt durchzusetzen und dieEinführung des Euro zu verwirklichen, die EuropäischeZentralbank nach Frankfurt zu holen und Wim Duisen-berg zum Präsidenten zu machen? Weil er besser ver-handelt hat und weil wir eine bessere Regierung hatten.Herzlichen Dank.
Staatsminister Günter Verheugen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2607
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme
zu dem ernsteren Thema zurück. Wir haben hier gestern
und heute Worte leidenschaftlicher Empörung und der
Anklage von Herrn Gysi für seine Fraktion
und von meinem Freund Ströbele für einige unserer
Fraktionskolleginnen gehört. Wir haben aber auch eine
Rhetorik gehört, die manche Zusammenhänge auf den
Kopf gestellt hat.
Ich glaube, niemand hier in diesem Hause ist sich
nicht der Tragweite bewußt, die die erste deutsche
Beteiligung an Kampfeinsätzen der NATO hat. Wir
haben den Rubikon überschritten. Auch ich habe meine
Hand bei der Zustimmung zu diesem Einsatz gehoben.
Deshalb darf ich darauf hinweisen, was mich am
Morgen des 24. März dieses Jahres – wissend, daß die
Flugzeuge und die Raketen geflogen waren – bewegt
hat: Ich habe – Historiker, der ich nun einmal bin – an
den August 1914 gedacht, an patriotisch begeisterte
Menschen, die ihre soldatischen Angehörigen zu den
Zügen an die Front begleiteten, an eine patriotische Be-
geisterung, die später in den Schützengräben von Ver-
dun erstarb. Ich denke, jeder hier hat Remarque gelesen,
und jeder teilt das Gelöbnis: Nie wieder Krieg!
Ich habe aber auch an den August 1939 gedacht, als
Hitler eine Panzereinheit durch Berlin rollen ließ, um die
Stimmung der Bevölkerung zu testen. Diese stand
stumm und erschrocken am Straßenrand, so wie heute in
Belgrad Menschen am Straßenrand stehen und nicht be-
greifen können, was da mit ihnen geschieht. Und sie
wurden doch – ich spreche jetzt von der Berliner Bevöl-
kerung – in die Verbrechen verwickelt, die Namen tra-
gen wie Auschwitz, Treblinka, aber auch Oradour,
Lidice, Marzobotto und Kragujevac – eben jenes Kra-
gujevac in jenem Serbien, dessen Bevölkerung jetzt von
dem Regime Milosevic in seine Verbrechen verwickelt
wird. Deshalb muß man den nach Europa zurückge-
kehrten ethnischen Mord auch so benennen.
Herr Kollege Gysi hat uns gestern den Vorwurf
gemacht, daß wir vieles ausblenden, aber er selber hat
auch Namen wie Omarska, wie Srebrenica, wie Racak
ausgeblendet. Man darf auch nicht die Reihe der gebro-
chenen Verträge ausblenden. Es handelt sich allein um
17 oder 18 Waffenstillstandsverträge, mit denen die in-
ternationale Gemeinschaft in Bosnien das Morden zu
stoppen versuchte. Auf das Kosovo bezogen: Man darf
nicht vergessen, daß die Jelzin/Milosevic-Vereinbarung
schon nach einer Woche gebrochen wurde. Man darf
nicht verschweigen, daß das Holbrooke/Milosevic-
Abkommen vom Oktober nach kurzer Zeit ebenfalls ge-
brochen wurde, und man darf nicht diesen letzten euro-
päischen Versuch einer politischen Lösung vergessen,
die mit den Stichworten Rambouillet und Paris bezeich-
net wird. Man darf auch nicht das kühle Kalkül eines
Regimes vergessen, mit dem das Ende der Pariser Ge-
spräche als Beginn eines erneuten Angriffs auf die
Kosovo-albanische Bevölkerung angesetzt wurde. Die-
ses Regime hat natürlich mit dem russisch-ameri-
kanischen Gipfel in der folgenden Woche und mit dem
europäischen Gipfel kalkuliert, weil man meinte, eine
Woche Zeit zu haben, in der man dann die Situation zu
„bereinigen“ dachte.
Wenn der Kollege Gysi gestern – das hat er heute
wieder getan – die Zerstörung einer mühsam errichteten
Weltfriedensordnung beklagt, möchte ich ihm entgeg-
nen: Ja, auch wir beklagen das. Aber es gilt doch: Mord
zerstört jede Friedensordnung, ob im kleinen oder im
großen. Massenmord beschädigt jeden Versuch einer
Weltfriedensordnung. Wir stimmen mit dem Kollegin
Gysi darin überein, daß wir nicht die Rolle eines Welt-
polizisten, weder für uns noch für die NATO, anstreben.
Aber sollte man, wenn man das Morden überall in der
Welt nicht verhindern kann, es nicht dort zu verhindern
versuchen, wo man es kann, nämlich in der Mitte Euro-
pas?
Ich habe sehr genau zugehört, als der Kollege Gysi,
der ja ein vorzüglicher Jurist ist,
auf internationale Rechtsexperten Bezug genommen hat,
und mir ist klar geworden: Diese Definitionen erfolgten
immer auf der Grundlage zwischenstaatlichen Rechts.
Was aber geschieht bei innerstaatlichen „ethnischen
Säuberungen“?
Das Regime begeht ja Morde am ethnisch andersartigen,
aber staatsrechtlich eigenen Volk. Das ist das Problem.
Ich möchte den Kollegen Gysi gern fragen, ob er denn
glaubt, daß eine wirkliche Weltfriedensordnung, die wir
ja alle erst entwickeln müssen, innerstaatlichen Völ-
kermord übersehen kann. Ich glaube, sie kann es nicht,
meine Freunde glauben es auch nicht. Deshalb trägt die
Mehrheit meiner Fraktion diesen Einsatz mit, auch wenn
wir beschimpft werden mit den Worten, daß das ein
erstmaliger deutscher Kriegseinsatz sei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es spricht jetzt derBundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-gung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
Metadaten/Kopzeile:
2608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
ist richtig, daß wir im Zusammenhang mit Europa auchüber das Kosovo reden. Denn was wir in Europa, zu-nächst in seinem westlichen Teil, als ein einzigartigesModell an Zivilisation und Friedenssicherung durch In-tegration zu schätzen gelernt haben, ist ja Ergebnisschwerer Prüfungen. Manches für die Zukunft erwächstoffenbar nur aus solchen schweren Prüfungen.Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß wirden Idealen der europäischen Aufklärung, des europäi-schen Humanismus ins Gesicht schlagen würden, wennwir nach der Methode verfahren würden, die uns gesternanempfohlen wurde. Diese Methode lautet: Wenn zehnMenschen zu ertrinken drohen und ich nur einen rettenkann, lasse ich es lieber ganz bleiben; dann sind jeden-falls alle gleichbehandelt. – Diese zynische Argumenta-tion nimmt nicht zur Kenntnis, daß man einerseits fürMenschenrechte, für Freiheit und für Demokratie miteinem durchaus weltweiten, nämlich universellen An-spruch eintritt und andererseits weiß, welche begrenztenHandlungsmöglichkeiten man hat, gerade militärisch.Wer aus diesem Dilemma den Schluß zieht, seine Ver-antwortung überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, seineHandlungsmöglichkeiten überhaupt nicht mehr einzu-setzen, der handelt, Herr Kollege Gysi, in meinen Augenvöllig verantwortungslos.
Ich weiß nicht, wie es anderen Mitgliedern in diesemHause geht, aber ich erinnere mich sehr gut an Erfah-rungen, die im Jahre 1968 begonnen haben. Das ist übri-gens ein Umstand, den Sie gestern wohlweislich ver-schwiegen haben: diese eigenartige Form des sozialisti-schen Internationalismus, die es da gegeben hat.
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wenn man sichan das Gefühl der Ohnmacht bei der Besetzung derTschechoslowakei, an das Gefühl der Ohnmacht bei derUnterdrückung der Charta 77, an das Gefühl der Ohn-macht bei der Verhängung des Kriegsrechtes in Polenerinnert und das mit seinen ganz persönlichen Erinne-rungen verknüpft – ich jedenfalls tue das –, muß mansagen: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation istfür meine Begriffe das Gefühl des Skrupels und der Be-sorgnis angesichts der Handlungszwänge, in denen wirstehen, wesentlich besser zu tragen als dieses Gefühl dervöllig hilflosen und wirklich verfluchten Ohnmacht, denMenschen nicht helfen zu können, denen die ganzeSympathie und die ganze politische Unterstützung galt.Daß wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts inEuropa in der Lage sind, unsere Werte und unsere Idealenicht nur zu reklamieren, sondern mehr für sie zu tun alsin den Zeiten davor, finde ich, ist auch ein Teil der Ver-antwortung, die mit dem Kosovo verbunden ist. Deshalbsage ich, daß angesichts der Realitäten, die sich dortentwickelt haben, angesichts des monatelangen Bemü-hens um eine politisch vereinbarte Verhandlungslösungund angesichts der grauenhaften Umstände, die dortmittlerweile herrschen, auch das problembeladene Tunimmer noch besser ist als jedes Nichtstun. DiesesNichtstun, daß ist der Winkel, in den sich nur die Men-schen zurückziehen können, die am Ende aus ihrem Ge-fühl für Menschen keine praktischen Konsequenzenmehr zu ziehen bereit sind.
Da droht das humane Ideal zur Phrase zu verkommen.Die jugoslawische Armee hat im Kosovo – entge-gen allen internationalen Vereinbarungen – mittler-weile 40 000 Soldaten zusammengezogen. Sie hat über300 Panzer, über 700 Gefechtsfahrzeuge und über700 Artilleriegeschütze im Kosovo zusammengezogen.Warum?
Wenn es wirklich darum ginge, im Kosovo Terrorismuszu bekämpfen – wie das reklamiert wird –, wenn eswirklich darum ginge, nur die staatliche Integrität Jugo-slawiens zu sichern, dann hätte die Regierung Milosevicin allen europäischen Staaten einen Partner. Es geht ihraber um etwas anderes.
Sollten wir das alles – die großserbische Obsession,die gegen Slowenien, in der Krajina und in Bosnien-Herzegowina vorging, die immer wieder Menschen dasLeben gekostet hat und unschuldige, nur nach Unabhän-gigkeit oder wenigstens Autonomie strebende Bevölke-rungsgruppen mit Mord und mit Krieg überzogen hat –vergessen? Sollen wir wirklich alle diese Erfahrungenvergessen? Sollen wir die hilflose Situation der Solda-ten, die im Auftrag der Vereinten Nationen vor Ort wa-ren, angekettet waren und am Ende bei dem Massaker inSrebrenica zuschauen mußten, vergessen? Sollen wir dasalles vergessen?Wir müssen heute mit einem Völkerrecht umgehen,das ich nicht gering schätzen will. Ich weiß, welchenMißverständnissen man sich aussetzt, wenn man das indiesem Zusammenhang diskutiert. Diesen Punkt habeich schon am 16. Oktober des letzten Jahres im Deut-schen Bundestag einmal angeschnitten. Aber ist eswirklich zu rechtfertigen, an den Weltsicherheitsratgebunden zu sein, wenn sich dort drei von fünfzehn Na-tionen – Rußland, China und Namibia – gegen das Vor-gehen der NATO und der westlichen Staatengemein-schaft ausgesprochen haben und von den zwölf anderenzwei mindestens Verständnis und die übrigen Unterstüt-zung bekundet haben? Können wir es uns auf Dauer lei-sten, daß die Weltgemeinschaft mit dem aus der Rolleder Atommächte begründeten Vetorecht lebt und daßdamit die Durchsetzung von Recht aus Gründen, wie siezum Beispiel die Volksrepublik China hatte, verhindertwird – die Souveränität Mazedoniens und seine Politikmißachtend, das UNPREDEP-Mandat beendend, denStaat einem großen Risiko aussetzend usw.? Ist es zurechtfertigen, daß eine solch große Macht wie ChinaBundesminister Rudolf Scharping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2609
(C)
(D)
wegen ihrer Belange – oder was sie dafür hält – in Tibetglaubt, sie müsse auf der ganzen Welt ethnisch begrün-deten Völkermord einfach deshalb akzeptieren, weil erin innerstaatlichen Grenzen stattfindet?Was im Kosovo geschieht, ist eine Prüfung. Zunächstist es für die Menschen eine fürchterliche, eine schreck-liche, eine unmenschliche Prüfung. Es ist aber auch einePrüfung für uns, für unser politisches Gewissen, für un-sere Fähigkeit, aus beanspruchter Moral praktische Kon-sequenzen zu ziehen, und auch für unsere Fähigkeit, dieGrenzen militärischer Handlungsmöglichkeiten sehr ge-nau zu kennen. Es wäre auch gegenüber den eingesetz-ten Soldaten ganz und gar unverantwortlich, zu glauben,daß Frieden schon aus der Beendigung von Mord undGewalt entstünde. Das ist der erste Schritt auf einemlangen Weg. Europa hat aber neben dem, was wir allegemeinsam tun, um das Morden zu beenden, noch eineandere Verpflichtung, nämlich die ökonomischen, diesozialen und die kulturellen Grundlagen für einen Frie-densprozeß auf dem Balkan zu schaffen – genau so,wie wir es im Westen Europas nach den verheerendenErfahrungen von Faschismus und Zweitem Weltkriegbegonnen haben.
Ich füge hinzu: Man muß in der Geschichte Deutsch-lands schon sehr weit zurückdenken, um einen Punkt zufinden, an dem Deutschland in den Jahrhunderten vordem Entstehen der Bundesrepublik einmal in Einklangmit der westlichen Zivilisation und in Einklang mit denhumanistischen und demokratischen Idealen gehandelthätte. Das tun wir seit 1949, seit der Verabschiedung desGrundgesetzes, das bald 50 Jahre alt sein wird. Was füreinen Sinn sollte es machen, diese freiheitliche Ver-fassung als stabiles Fundament von Demokratie undRechtsstaatlichkeit zu preisen, wenn wir den Anspruchaus dem ersten Artikel des Grundgesetzes, die Würdedes Menschen zu schützen, auf uns selbst – und hier beiuns möglicherweise auf die Inhaber eines deutschenPasses – beschränken wollten? Das war nicht das Idealder Mütter und Väter unserer Verfassung.Deshalb sage ich: Es darf unbeschadet aller militäri-scher Maßnahmen und der notwendigen Diskussion überdie damit zusammenhängenden Einzelheiten sowie derSkrupel, die hoffentlich immer mit militärischen Maß-nahmen verbunden sind, auch kein Zweifel daran be-stehen, daß wir aus unseren eigenen Erfahrungen Kon-sequenzen ziehen, zwar mit Standfestigkeit und mitKlarheit, und uns nicht von dem Weg abbringen lassen,der für Deutschland in Europa Aussöhnung, Freund-schaft, Frieden und Wohlstand gebracht hat. Wenn mandas alles genießen will, dann hat man auch die ver-dammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen seinerHandlungsmöglichkeiten wenigstens denen in der un-mittelbaren Nachbarschaft zu helfen, wenn man esschon weltweit nicht kann.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zu denDetaildiskussionen der letzten Tage sagen, die mich er-staunt haben. Die Menschen, die jetzt als Soldaten imKosovo eingesetzt werden, brauchen zweierlei: Siebrauchen eine eigene innere Überzeugung, um dem, wassie dort tun, Sinn zu geben. Das ist Gott sei Dank so. Esist ein großes Glück für die Bundesrepublik Deutsch-land, daß sie zum erstenmal eine Armee hat, die demo-kratisch und gesellschaftlich fest verankert ist.
Aber unsere Soldaten und ihre Familien brauchen nochetwas anderes, nämlich Rückhalt im Parlament und inder Öffentlichkeit. Dieser Rückhalt könnte durch De-batten geschmälert werden, die dafür nicht gut sind, dieallenfalls gut für die eine oder andere Schlagzeile oderdie eine oder andere kurzatmige Nachricht sind.Ich muß den Kollegen von der CDU/CSU sagen: Ichwar erschrocken, als mein Vorgänger
am vergangenen Freitag ein Interview gab,
das am darauffolgenden Samstag, Herr Kollege Breuer,erschien, genau an dem Tag, als der Abzug der OSZE-Beobachter aus dem Kosovo begann – der Abzugwurde wegen der Gefahren notwendig; die Menschenschwebten in einer immer größer werdenden Gefahr; siewurden beispielsweise beschossen –, und darin über denAbzug der Soldaten redete, die zum Schutz der OSZE-Beobachter dort sind
– ich beziehe mich auf das Interview in den „LübeckerNachrichten“; ich habe es bei mir –, also zu einem Zeit-punkt, als der Abzug der Beobachter noch nicht einmalbegonnen hatte, geschweige denn abgeschlossen war.
Das kann man nicht machen. Das ist nicht verantwort-bar.
Wir müssen auch keine Diskussionen über Themenführen, die wirklich keine Themen sind. Wenn jemandbeginnt, Befürchtungen auszuräumen, die er selbst in dieWelt gesetzt hat, dann ist das sein höchst privates Anlie-gen. Das soll er dann auch tun. Aber die Wirkung sol-cher geäußerten Befürchtungen auf die Öffentlichkeitund auf die eingesetzten Soldaten und ihre Familiensollten doch vorher sorgfältig bedacht werden.Ich habe in diesem Hause einige Male dafür gewor-ben, daß es einen außen- und sicherheitspolitischenKonsens in Deutschland gibt. Ich halte ihn aus vielenGründen für wertvoll. Er bewährt sich unter anderem inder jetzigen Situation. Für Deutschland ist dies eine Prü-fung und zugleich mit Blick auf seine Geschichte einegute Erfahrung, daß es sich zum erstenmal in einer soschwierigen Situation in völliger Übereinstimmung mitBundesminister Rudolf Scharping
Metadaten/Kopzeile:
2610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Europa und mit den westlichen Demokratien befindet.Es sollte uns allen bewußt bleiben: Wenn diese schwie-rige Zeit vorbei ist – hoffentlich bald; es liegt an Milo-sevic –, dann müssen Voraussetzungen für eine andereZeit geschaffen werden, die den Menschen eine größereHoffnung vermittelt und die anknüpft an die Erfahrun-gen, die wir in den letzten Jahrzehnten Gott sei Danksammeln konnten.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das
Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesverteidigungs-
minister, Sie haben mich unter anderem dafür kritisiert,
daß ich gestern nicht auf den Einmarsch in die CSSR
und auch nicht auf das Kriegsrecht in Polen eingegangen
bin. Es gab für mich zumindest gestern dafür auch kei-
nen Grund. Aber ich will das gerne tun.
Der Einmarsch der damaligen Sowjetunion und der
anderen Länder des Warschauer Pakts mit Ausnahme
von Rumänien in die CSSR war ein klarer Verstoß
gegen das Völkerrecht. Er war nach meiner tiefsten
Überzeugung übrigens auch völlig antisozialistisch und
deshalb scharf zu verurteilen.
– Ich will Ihnen das gerne erläutern: Ich war damals
Student an der Humboldt-Universität und habe wegen
meiner Äußerungen zu diesem Einmarsch mein einziges
Parteiverfahren bekommen. Interessant an der Begrün-
dung der Strafe war, daß es hieß, ich stellte das formale
Völkerrecht über die notwendige Sicherung der soziali-
stischen Errungenschaften in der CSSR. Aus dieser Er-
fahrung heraus – das ist mir danach noch ganz häufig in
der DDR begegnet – bin ich gegen das Argument be-
sonders empfindlich, in Situationen, in denen es um
andere Zwecke geht, Recht als formal zu bezeichnen.
Als Sie die Beispiele CSSR und Polen nannten, hät-
ten Sie auch noch auf Afghanistan hinweisen können,
wo der Einmarsch der Sowjetunion genauso völker-
rechtswidrig und indiskutabel war und Folgen gezeitigt
hat, mit denen wir noch heute in Afghanistan zu tun
haben.
Sie haben gesagt, Sie hätten darunter gelitten, daß der
Westen damals ohnmächtig war und nicht helfen konnte.
Meine Kritik ist – lassen Sie mich das deutlich sagen,
denn es geht mir nahe –: Das Gegenteil von Ohnmacht,
Herr Bundesverteidigungsminister, können doch nicht
Bomben sein. Morden beendet man doch nicht, indem
man selbst mit Bomben völlig ungezielt tötet. Ich emp-
finde also die Antwort als falsch, nicht die Analyse der
Situation. Bei ihr mag es auch gewisse Differenzen
geben, die aber nicht sehr dramatisch sind. Ich sehe bei
Ihnen keine politische Lösung. Das kritisiere ich, und
darum streite ich.
Sie haben gesagt, daß im Weltsicherheitsrat nur drei
Länder, nämlich China, Rußland und Namibia, dagegen
gestimmt hätten, und hinzugefügt, es könne nicht ange-
hen, daß diese drei Länder eine bestimmte Entscheidung
verhinderten, auch wenn das Völkerrecht – das Veto-
recht von Rußland und China – dies ausdrücklich er-
laubt. Sie wissen ganz genau, daß es Hunderte von Be-
schlüssen im Sicherheitsrat gegeben hat, die mehrheits-
fähig waren und daran gescheitert sind, daß die USA
von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben. Aus ver-
schiedensten Gründen ist das nun einmal so in der
UN-Charta festgelegt worden.
Wenn man das überwinden und demokratischer ge-
stalten will, wenn man dadurch auch zu einer anderen
Friedensordnung kommen will, dann ist dagegen nichts
zu sagen. Nur, wir haben es nicht wirklich überwunden,
wir haben keine neue Friedensordnung. Wir schaffen die
alte Ordnung ab und setzen keine neue Ordnung an die
Stelle, sondern nur das Recht der militärischen Macht
und des Geldes. Das werden sich noch ganz andere in
ganz anderen Situationen herausnehmen. Davor wird
man doch wenigstens warnen dürfen. Darum ging es
mir, weil ich glaube, daß hinterher diese Welt eine ande-
re sein wird, als sie es vorher war. Ich glaube nicht an
den Krieg als Mittel der Politik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Paul Breuer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ohne jeden Zweifel und ohne jedenVorbehalt können wir dem Sinn dessen, was Bundes-verteidigungsminister Scharping gesagt hat, zustimmen.
Sie wissen, Herr Minister, daß Sie der Zustimmung derübergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages ein-schließlich der gesamten CDU/CSU-Fraktion sicher seinkönnen. Das ist wichtig für Sie, für die Soldaten derBundeswehr und für Deutschland.
Sie haben in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht, daßman in einer solchen Situation ein hohes Maß an Solida-rität benötigt. Dem stimme ich zu. Ich stimme auch zu,daß man in einer öffentlichen Diskussion sehr genauabwägen muß, was man sagt. Aber wenn Sie die Solida-rität, die Sie fordern und bekommen, so betonen, dannfrage ich mich auch, warum es notwendig ist, den Kol-legen Rühe hier in dieser Art und Weise anzusprechen.
Bundesminister Rudolf Scharping
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2611
(C)
(D)
– Der Kollege Rühe hat heute nachmittag eine Ver-pflichtung. Wenn ich auf Ihre Bänke schaue, dann stelleich fest, daß es auch dort Kollegen gibt, die eine Ver-pflichtung haben. Versuchen wir doch, in einer vernünf-tigen Art und Weise miteinander zu sprechen!
Herr Minister, daß Sie heute so handeln können, wieSie es tun, und daß eine Grundsolidarität, ein Grundkon-sens vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere demKollegen Volker Rühe.
Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
Daß die Bundeswehr heute – ich sage das ohne Vorwurf –trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten die notwendigeStruktur für einen solchen Einsatz aufweist und daßnicht nur in der Bundeswehr, sondern in unserer Bevöl-kerung das notwendige Bewußtsein für einen solchenEinsatz vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere demKollegen Volker Rühe. Er hat in den vergangenen Jah-ren mit der CDU/CSU, mit der F.D.P. und mit Teilender SPD in einer hohen Verantwortung diese Auseinan-dersetzung gegen zum Teil erhebliche Widerstände ge-führt. Diese Feststellung müssen wir heute treffen, wennes um Solidarität geht.Lassen Sie mich eine zweite Feststellung machen.
Herr Minister Scharping, es kann nicht sein, daß unter-halb der Ebene einer grundsätzlichen Solidarität ein der-artiger Konsensdruck erzeugt wird, daß eine freie öf-fentliche Äußerung nicht mehr möglich ist.
Volker Rühe hat aus der Sorge heraus gesprochen – ichteile diese Sorge –, daß deutsche Soldaten in etwas ver-wickelt werden können, was wir alle – auch Sie – nichtwollen. Ich weiß, daß Sie Ihrer Aufgabe mit hoher Ver-antwortung nachgehen.Wir sollten uns hier gegenseitig versichern, daß wirauch dann, wenn etwas schiefgeht und deutsche Solda-ten zu Schaden kommen, dazu bereit sind, grundsätzli-che Solidarität zu üben und nicht in etwas zu verfallen,was nicht nur unseren Soldaten, sondern uns alle in er-heblicher Weise belasten könnte. Das ist das eigentlichWichtige.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu Erwiderung Herr
Bundesminister Scharping, bitte.
Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-
gung: Herr Kollege Breuer, damit wir uns nicht falsch
verstehen: Ich kann gut nachvollziehen, daß es andere
Verpflichtungen gibt. Gestatten Sie mir – bei allem Re-
spekt und bei aller Wertschätzung einer Grundsolidarität
– eine offene Bemerkung: Wenn die Fülle der Inter-
views mit der Fülle der Abwesenheit stark korreliert,
dann ist es etwas schwierig, noch miteinander zu reden.
Ansonsten geht es mir um einen einzigen Punkt, der
mit Konsensdruck überhaupt nichts zu tun hat: Man
sollte sehr vorsichtig damit umgehen, Fragen aufzuwer-
fen, in denen alle beteiligten Staaten – die Bundesrepu-
blik Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die
USA – einig sind. Auch die amerikanische Außenmini-
sterin Madeleine Albright hat es gerade noch einmal öf-
fentlich gesagt: Wir haben nicht die Absicht, über die
vorhandenen Mandate hinauszugehen.
Es wäre ganz gut, keine Befürchtung in die Welt zu
setzen, um am Ende als derjenige auftreten zu können,
der die Grenze gegen diese Befürchtung gezogen hat.
Denn damit wird unterstellt – das macht, wohlgemerkt,
nur in dieser Frage den Konsens etwas schwierig –, an-
dere hätten möglicherweise die Absicht, die hinter dieser
Befürchtung steht. Wie Sie vielleicht verstehen, lasse ich
mir das nicht so gerne gefallen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächster Rednerhat das Wort der Kollege Christian Ströbele, Bünd-nis 90/Die Grünen.
gen! Verehrte Damen und Herren! Ich spreche jetzt für dieFrauen – vor allen Dingen – und Männer meiner Fraktion,die sich schon in der letzten und auch in dieser Legislatur-periode immer konsequent gegen den Einsatz deutscherSoldaten out of area eingesetzt haben und dies auch beiihrem Stimmverhalten hier im Hause gezeigt haben.Herr Bundesminister, auch ich bin geprägt von einerjahrelangen Ohnmacht. Ich kann Ihre Gefühle nachvoll-ziehen. Meine Ohnmacht bestand darin, daß ich Jahrevor dem Fernseher saß und mit ansehen mußte, wie inVietnam ein Krieg geführt wurde, der – ich will versu-chen, das neutral zu formulieren –
Hunderttausende von Menschen das Leben kostete, wäh-rend wir hier in Europa saßen und daran nichts ändernkonnten. Ich habe die Forderung der Friedensbewegung„Nie wieder Krieg!“ immer so verstanden – das will ichklarstellend zu dem sagen, was ich gestern geäußert ha-be und was zum Teil kritisiert worden ist –, daß ichmich mit meinem politischen Handeln, mit meinem gan-zen politischen Engagement dafür einsetze, daß sichdeutsche Soldaten an keinem Krieg mehr beteiligen.
Das ist meine Grundüberzeugung.Paul Breuer
Metadaten/Kopzeile:
2612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Nun stelle ich fest, daß eine Regierung, die ich mitgewählt habe, mit dafür verantwortlich ist, daß deutscheSoldaten vorgestern abend und gestern abend – das wer-den Sie heute abend wahrscheinlich wieder tun – Bom-ben und Raketen auf Belgrad, auf Pristina, im Kosovound in Montenegro – keiner weiß genau, wo; ich jeden-falls nicht – abgeworfen haben.Ich gebe Ihnen recht, sich danebenzustellen und zusagen, ich tue nichts, ist das Schlechteste. Auch ich willetwas tun. Aber heißt das, daß man Bomben und Rake-ten wirft?
Ich will jetzt versuchen – das wollte ich gestern auchschon –, die Diskussion ohne viel Polemik zu führen.Etwas tun, was heißt das im Hinblick darauf, daß dieseZustände im Kosovo, die unerträglich sind, wirklich be-endet werden – daß ich dies erreichen will, können Siemir abnehmen; das nehme ich auch Ihnen ab; das nehmeich allen ab, die sich hierzu engagiert geäußert haben –,die Zustände, wie sie vor Wochen und Monaten undauch in der letzten Woche gewesen sind? Daß da etwasgeschehen muß, darin sind wir uns ja einig. Die Frageaber ist das Wie.Ich und meine politischen Freunde und Freundinnenverstehen oder versuchen zu verstehen, daß Sie andereSchlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte ziehen.Wir sagen: Wir wollen das nie wieder zulassen. AuchSie sagen, daß Sie das nie wieder zulassen wollen. Daskann für Sie jedoch auch heißen, daß mit kriegerischenMitteln, mit Bomben und Raketen und möglicherweiseauch noch mit mehr eingegriffen wird.Dazu sage ich: Das ist kurzsichtig. Sehen Sie sichdoch jetzt einmal die Situation im Kosovo an, und ver-gleichen Sie sie mit der Situation von vor einer Woche.Heute sind dort zehnmal mehr Menschen auf der Flucht.Es werden Menschen getötet, wahrscheinlich mehr, alsbekannt wird. Vorhin wurde hier ein Beispiel genannt,das so grausam ist, daß ich es nicht glauben kann, ob-wohl es durchaus möglich ist. Durch einen solchenKrieg, dadurch, daß da jede Nacht Bomben und Raketenabgeworfen werden, daß Menschen umgebracht werdenund Zerstörungen angerichtet werden, werden doch dieGrausamkeit und der Haß gefördert. Es wird doch in dennächsten Tagen und Wochen noch mehr an Menschen-rechtsverletzungen, an Tötungen, an Zerstörung ange-richtet werden, wenn das so weitergeht.
Das heißt, Krieg ist doch gerade in dieser Situationein ganz schlechtes und gefährliches Mittel, weil er dieSituation der Menschen im Kosovo nicht verbessert,sondern erheblich verschlechtert. Es gibt dort auch keineMenschenrechtsorganisationen mehr. Es gibt keine OS-ZE-Beobachter mehr. Mit dem Abbruch der Verhand-lungen, mit dem Rückzug der OSZE-Beobachter hatsich die Situation, die Hilflosigkeit der Menschen dra-matisch verschlechtert. Das müssen wir zur Kenntnisnehmen.
Die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheitkonnten und mußten von Anfang an wissen: Wenn mansich in diese Logik des Krieges begibt, wird eine solcheSituation eintreten und ist eine Eskalation nicht auszu-schließen. Wir alle hoffen, daß sie nicht eintritt.Auch wir überlegen uns natürlich, was man machenkann. Von unserem Minister ist vorhin darauf hingewie-sen worden: Wenn Milosevic und die Serben erklären,auch sie wollen die Autonomie hinnehmen, akzeptierenund garantieren, dann kann man sofort telefonieren unddas Ganze abbrechen.Ich sage Ihnen aber – das kann man jeden Tag in derZeitung lesen –: Die Sache scheitert doch für den Koso-vo im Augenblick nicht an der Frage der Autonomie,wenigstens nicht verbal. Vielmehr gibt es keinen ande-ren Weg, als NATO-Truppen im Kosovo zu implantie-ren oder einrücken zu lassen und dort zu stationieren.Das ist doch das Entscheidende. Da frage ich mich:Mußte man sich den Forderungen der UCK und denender USA so weit unterwerfen, daß man über andereMöglichkeiten wie etwa über die Stationierung einerFriedenstruppe unter UNO-Mandat überhaupt nichtmehr diskutiert hat?
Muß man sich auch heute noch so weit unterwerfen,daß man von Milosevic fordert: Wenn du die sofortigeImplantierung von UNO-Truppen im Kosovo nicht so-fort akzeptierst, dann bomben wir weiter? Heißt daswirklich, daß Sie sagen, die Entscheidung liegt allein beiMilosevic? Müssen er und die serbische Regierung sichin dieser Weise unterwerfen? Oder können wir nichteine sofortige Beendigung des Bombardements, natür-lich eine sofortige Beendigung der Gewalttätigkeiten derSerben im Kosovo, einen Wiederbeginn von Verhand-lungen fordern mit dem Ziel, eine abgesicherte Autono-mie für den Kosovo zu garantieren? Wir können dochnicht nur mit diesem Prestigedenken sagen: Es gehtnicht anders als mit den Truppen der NATO.
Würde man diesen Vorschlag heute machen, hätten wireine Chance, daß dieses Töten, daß der Krieg dort been-det werden könnte.Ich bitte Sie, ich fordere die Bundesregierung auf:Stellen Sie diesen Krieg und unsere deutsche Beteili-gung ein! Beenden Sie das Ganze! Versuchen Sie, aufdem Verhandlungsweg weiterzukommen. Die Situationder Menschen im Kosovo würde sich dadurch sofortverbessern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Gernot Erler das Wort.
Herr Kollege Ströbele, ich binIhnen dankbar, daß Sie heute im Deutschen Bundestagetwas leisere Töne angeschlagen haben als gestern. Wirwissen ja auch, daß Sie hier nicht die MehrheitsmeinungHans-Christian Ströbele
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999 2613
(C)
(D)
Ihrer Fraktion vertreten. Aber Ihre Äußerungen könnennicht ohne Hinterfragung im Raum stehenbleiben.Sie haben im Grunde genommen noch einmal be-hauptet, daß es eine Alternative dazu gegeben hätte,
in dem Augenblick etwas zu tun, wo mitten in Europaim Jahre 1999 ganze Dörfer und Landstriche durch dieAnwendung von militärischer Gewalt gegen wehrloseMenschen entvölkert werden.
– Dazu gibt es keine andere Alternative, als etwas zutun.Oder, Herr Kollege Ströbele, wollten Sie ernsthaftvorschlagen, daß wir in der Situation, als die Serbennein zum dem Ergebnis von Rambouillet gesagt haben –was nicht der entscheidende Punkt war; vielmehr sinddie Serbein parallel den Verhandlungen mit Panzern undArtillerie gegen die Dörfer im Kosovo verstärkt vorge-gangen und haben damit den Krieg eröffnet – folgendeszu den Albanern sagen: Prima, ihr habt Rambouillet un-terzeichnet, ihr ward sogar zur Entwaffnung der UCKbereit, aber es tut uns leid, dagegen, daß die Gewalt ge-gen eure Familien fortgesetzt wird, können wir nichtsmachen; wir sind bestenfalls bereit, die Flüchtlinge auf-zunehmen.Herr Ströbele, Sie können hier im Bundestag nichternsthaft die Meinung vertreten, das sei eine Alternativegewesen.
Jetzt noch etwas dazu, wie man da wieder heraus-kommt. Ich glaube, der Ernst dieser Diskussion hat ge-zeigt: Wir alle wollen die erstbeste Gelegenheit nutzen,um aus dieser Tragödie wieder herauszukommen. AberSie haben ja den Spieß umgedreht. Zuerst muß der Be-fehl von Milosevic kommen, die Kampfhandlungen imKosovo einzustellen.
Zunächst muß er bereit sein zu verhandeln. Das ist er janicht. Auch Herr Draskovic, der Vizepräsident Jugosla-wiens, hat heute morgen gesagt, die NATO solle mit denLuftangriffen aufhören; dann seien auch sie bereit auf-zuhören. Das aber war die Situation bei den Verhand-lungen von Rambouillet. Da ist der Krieg begonnenworden. Nicht die NATO hat doch den Krieg begonnen,sondern die Truppen von Milosevic.Einen letzten Gedanken. Ich finde, am Ende einersolchen Debatte muß man auch Ihnen, Herr Ströbele,sagen: Wir haben großen Respekt vor dem serbischenBeitrag zur europäischen Kultur. Wir leben mit 500 000Serben, die in der Bundesrepublik leben, gut zusammen.Von dieser Debatte sollte auch das Signal ausgehen: Wirwollen, daß die Serben so schnell wie möglich wieder indie europäische Integration einbiegen. Wir wollen siehier in Europa haben.
Eine Voraussetzung dafür ist, daß dieser furchtbareKrieg, der von serbischer Seite und leider in serbischemNamen geführt wird, aufhört. Dieses Signal muß vondort kommen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung HerrKollege Ströbele, bitte.
von Argumenten kommen und nicht bei Polemik hän-genbleiben.Herr Kollege, ich sehe das anders. Sie haben die Si-tuation so geschildert, wie auch ich sie nie gewollt habe.Ich würde nie sagen: Lassen wir das alles! Nur, wir be-finden uns im Augenblick im Krieg. Wenn man einenKrieg beenden will – das ist immer so gewesen undsollte auch jetzt so sein –, sollte man als erstes sagen:Wir lassen die Waffen auf beiden Seiten schweigen. Wirtreffen eine Übereinkunft; ab dieser Stunde gibt es kei-nen Waffengang mehr.
– Schicken Sie ein Telegramm nach Belgrad mit demInhalt: Wir lassen die Waffen schweigen; ab heute wirdnicht mehr bombardiert,
im Kosovo darf nicht mehr geschossen werden. Dannkann man sich an den Verhandlungstisch setzen.Sie haben völlig recht – ich will gar nicht polemisie-ren –: Die Albaner haben noch ein bißchen gewartet, bissie den Vertrag unterschrieben haben. Aber entschei-dend war, daß die Verhandlungen abgebrochen wurdenund die NATO, die Vertreter der USA und der Bundes-republik Deutschland gesagt haben: Jetzt gibt es Luftan-griffe. Sie haben ja nicht gesagt: Wir müssen mal sehen,warten wir mal noch bis übermorgen!, sondern: DieVerhandlungen haben nicht zu dem gewünschten Er-gebnis geführt – ihr habt nicht unterschrieben –, jetztgibt es Luftangriffe. In dem Augenblick war der Kriegerklärt. Das ist eine Kriegserklärung, wenn man sagt: Esist nur noch eine Frage der Zeit, wann unsere Flugzeugeaufsteigen können.Deshalb stimmt Ihre Argumentation einfach nicht.Sie hätten recht, wenn man hätte weiter verhandelnwollen, wenn man sich in dem einen oder anderenPunkt, zum Beispiel bei der Frage der Stationierung derSicherungskräfte, flexibel gezeigt hätte und bereit gewe-sen wäre, noch das eine oder andere zu erörtern, und dieGernot Erler
Metadaten/Kopzeile:
2614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 31. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. März 1999
(C)
Serben sich dennoch so verhalten hätten, wie es der Fallwar. Aber so war es nicht. Die Verhandlungen wurdenabgebrochen, und man hat gesagt: Jetzt wird bombar-diert; es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Daraufhin haben die Serben das gemacht, was ihnenheute auch der Minister vorwirft: Sie sind mit erheblichenzusätzlichen Kräften militärisch im Kosovo eingerückt.
Sie standen an der Grenze von Mazedonien der NATO-Macht in fünf Kilometer Entfernung gegenüber und sagenheute: Wir müssen uns gegen diese NATO-Macht schüt-zen, die übermorgen möglicherweise einmarschiert. Siekönnen doch nicht das eine vom anderen trennen.
– Nein.Deshalb nochmals mein Appell: Stellen Sie die Luft-angriffe ein, setzen Sie sich in der NATO dafür ein, daßdas auch die anderen tun, und beginnen Sie morgenwieder mit Verhandlungen! Jeder Tag Verhandlungen– selbst wenn er noch so mühselig ist – ist besser als das,was im Augenblick im Kosovo passiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf der Drucksache 14/675 soll zur federführenden Be-
ratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuß, den Finanzausschuß, den Haus-
haltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und Tech-
nologie sowie an den Ausschuß für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf der Druck-
sache 14/669. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
bei einer Enthaltung aus der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich
berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein. Diese Sit-
zung wird in Berlin durchgeführt.
Die Sitzung ist geschlossen.