Gesamtes Protokol
Guten Morgen, die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9a sowie die Zu-
satzpunkte 6a bis 6c auf:
9 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Peter Struck, Otto Schily, Wilhelm Schmidt
, weiteren Abgeordneten der Frak-
tion der SPD, den Abgeordneten Kerstin Müller
, Rezzo Schlauch, Kristin Heyne, weite-
ren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten
Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle,
Jörg van Essen und weiteren Abgeordneten der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Staatsangehörig-
keitsrechts
– Drucksache 14/533 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP6 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter
Baumann, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Staatsangehörig-
keitsrechts
– Drucksache 14/535 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jür-
gen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Bau-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Modernes Ausländerrecht
– Drucksache 14/532 –
Überweisungsvorschlag:
gen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Bau-
mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Integration und Toleranz
– Drucksache 14/534 –
Metadaten/Kopzeile:
2282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
(C)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, ich plädiere für eine Formdes politischen Streits, die dem Ernst des Themas undseiner gesellschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt.Lassen Sie uns vom heutigen Tage an engagiert, abersachlich, Herr Rüttgers, leidenschaftlich, aber tolerantüber das Staatsangehörigkeitsrecht streiten!
So müßten im Grunde auch Sie von der CDU/CSU den-ken; denn Sie haben öffentlich erklärt und so Ihren An-trag begründet, bei der Reform des Staatsangehörigkeits-rechts handle es sich um ein höchst sensibles Thema.Wie wahr!
Nach dem Motto: Wo bleibt das Positive?, möchteich zunächst herausstellen, worüber wir uns beim ThemaStaatsangehörigkeitsrecht im Prinzip einig sind. Frakti-onsübergreifende Übereinstimmung besteht darüber, daßdas veraltete Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von1913 dringend reformbedürftig ist. Unbestritten ist auchdie Notwendigkeit, den dauerhaft in Deutschland leben-den Menschen umfassende politische Teilhabe zu er-möglichen.Schon 1984 war die damalige Bundesregierung derAuffassung: Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen,daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Be-völkerung über Generationen hinweg außer-halb der staatlichen Gemeinschaft und außer-halb der Loyalitätspflichten ihm gegenüber-steht.Schließlich kann niemand in diesem Hause und in öf-fentlichen Diskussionen ernsthaft bestreiten, daß bei ei-ner Zahl von über 7 Millionen Ausländern nur verstärkteIntegrationsbemühungen den sozialen Frieden inDeutschland sichern können.
Was sind nun die entscheidenden Fortschritte imvorgelegten Staatsangehörigkeitsrecht? InnenministerSchily wird am Ende der Debatte in seinem Beitrag nochausführlich erläutern, was Neues in dem Entwurf steht.Vor allem mit der Einführung des Territorialprinzipsund der deutlichen Verkürzung der Einbürgerungsfristenerreichen wir wichtige Verbesserungen. Auch für Ver-triebene und Aussiedler gibt es Vereinfachungen. Aufdie Einführung des Territorialprinzips oder Jus soli ha-ben wir Sozialdemokraten sehr lange gewartet, um ge-nau zu sein: 86 Jahre lang. Schon 1913 kämpften wir –damals erfolglos – für dessen Einführung. Der sozial-demokratische Abgeordnete Landsberg prophezeite da-mals:Wenn unsere Anträge jetzt nicht das Recht der Ge-genwart werden, so werden sie ganz sicherlich dasRecht der Zukunft sein, und wir sind stolz darauf,daß wir auf diesem Gebiete wieder einmal als Pio-niere tätig geworden sind.
Nun, daß es bis zur Einführung des Jus soli so langedauern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen,Herr Westerwelle. Aber wir Sozialdemokraten kennenseit über 130 Jahren den Reiz der Langsamkeit
– und der Gründlichkeit, so füge ich hinzu, Herr Mar-schewski.
Auf jeden Fall können wir am Ende dieses Jahrhun-derts nun endlich damit beginnen, unsere Vorstellungenvon einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht zu ver-wirklichen. An zwei Punkten entzündet sich die augen-blickliche Debatte besonders: am sogenannten Options-modell und an der Hinnahme doppelter Staatsangehö-rigkeit.Zum Optionsmodell. Wir sind der Meinung, daß dervorgelegte Entwurf mit der Verfassung, insbesonderemit Art. 16, vereinbar ist. Zu dieser rechtspolitischenFrage wird meine Kollegin Christine Lambrecht noch imeinzelnen Stellung nehmen. – Auch viele Mitglieder derUnionsfraktion sind offenbar – wie wir – von der Ver-fassungsmäßigkeit der Optionslösung überzeugt; dennnur so ist es zu erklären, daß über ein Drittel der Uni-onsabgeordneten auf einer Fraktionssitzung im Januarfür das Optionsmodell votiert haben. Es gibt bei derCDU sogar einen sehr prominenten Kronzeugen, dersich schon 1993 bei einem Besuch der Türkei für dasOptionsmodell ausgesprochen hat. Herr Rüttgers, HerrMarschweski, es handelt sich um Helmut Kohl, den Alt-kanzler. Er sagte damals bei einem Türkeibesuch: Die-ses Optionsmodell ist in Ordnung. Für fünf Jahre sollendie jungen Leute die Möglichkeit für die doppelteStaatsangehörigkeit haben.
– Wenn Sie Zweifel an dieser Aussage haben, lege ichIhnen gerne die Quellen dazu offen.Herr Schäuble, wenn Sie wirklich von der Überle-genheit Ihres Modells überzeugt sind, geben Sie doch indieser wichtigen Frage die Abstimmung in Ihrer Frakti-on frei!
Dr. Michael Bürsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2283
(C)
(D)
In Ihrer Fraktion gibt es ja nachhaltige Stimmen auch fürdas Optionsmodell. Geben Sie die Abstimmung frei;dann hätten wir am Ende nämlich tatsächlich die breiteparlamentarische Mehrheit, die auch Sie immer gefor-dert haben.
Zum zweiten Streitpunkt, der Frage der Doppel-staatlichkeit. Die Notwendigkeit, Doppelstaatlichkeitzumindest in bestimmten Fällen hinzunehmen, wird imGrundsatz von allen Fraktionen anerkannt. Der vorlie-gende Gesetzentwurf ergänzt nun in einigen Punkten –sehr zurückhaltend – die bereits existierenden Möglich-keiten zur Hinnahme von Mehrstaatlichkeit, unter ande-rem für junge Menschen während einer Optionszeit vonfünf Jahren.Besonders dringlich ist es, der ersten Ausländergene-ration, die wir als Arbeitskräfte ins Land geholt habenund die hier seit vielen Jahren integriert ist, volle Bür-gerrechte zu gewähren und die Einbürgerung zu er-leichtern. Darauf haben zum Beispiel die evangelischeund die katholische Kirche zu Recht hingewiesen.Emotionale Barrieren beim Verzicht auf die alteStaatsangehörigkeit sollten wir dabei nicht als Mißtrau-ensbeweis und Zeichen von Illoyalität werten. Für vielelange hier lebende Ausländer wird die Aufgabe der altenStaatsangehörigkeit als Bruch mit der eigenen Kultur,als Lösung von früheren menschlichen und familiärenBindungen empfunden. Solchen emotionalen und psy-chologischen Aspekten müssen wir bei der Gesetzge-bung Rechnung tragen.Sie alle wissen, daß die Regierungskoalition ur-sprünglich einen anderen, einen konsequenteren undauch praktikableren Gesetzentwurf vorgelegt hat. Un-ter den derzeitigen Rahmenbedingungen haben wir da-von Abstriche gemacht, mit der Absicht, unserem poli-tischen Ziel der Integration von Ausländern jedenfallsmit einem ersten Reformschritt näherzukommen. Na-mentlich bei der Frage der Hinnahme von Doppelstaat-lichkeit hätten wir uns bekanntlich eine etwas wenigerengherzige Lösung gewünscht. Aus meiner Sicht gibt esauch nach wie vor keinen durchschlagenden sachlichenGrund, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit zu diskre-ditieren:Bereits heute wird in der Bundesrepublik Deutsch-land die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, …ohne daß dies zu gravierenden praktischen, juristi-schen oder politischen Problemen geführt hätte.Diese wunderbar klarsichtige Formulierung stammtnicht aus der SPD, sondern ist Originalton F.D.P. Be-reits im April 1993 hat die F.D.P.-Fraktion einen Ge-setzentwurf befürwortet, „der die Aufgabe der bisheri-gen Staatsangehörigkeit nicht mehr verlangt“.Im übrigen waren es Union und F.D.P. selbst, die diedoppelte Staatsbürgerschaft seit 1990 in einer Weise ge-setzlich ermöglicht haben, daß bei rund einem Drittelder Eingebürgerten die Beibehaltung ihrer alten Staats-bürgerschaft zugelassen wird. Allzugern verschwiegenwird auch, daß die über 2 Millionen Doppelstaatler inDeutschland, unter ihnen honorige Lehrerinnen undLehrer, Verwaltungsbeamte und Polizisten,
tagtäglich die unproblematische Handhabung vonMehrstaatlichkeit vorleben.Wie sehr die Probleme der doppelten Staatsangehö-rigkeit in Deutschland überdramatisiert werden, HerrMarschewski, zeigen nicht zuletzt die durchweg positi-ven Erfahrungen anderer Länder. Schauen wir aufdiesem Gebiet nach Frankreich, Großbritannien und denNiederlanden. Nehmen Sie als Beispiel die überaus be-liebte niederländische Königin Beatrix. Sie besitzt nichteine, nicht zwei, nicht drei, sie besitzt vier Staatsbürger-schaften, neben der niederländischen auch die deutsche,die englische und die kanadische; man höre und staune.
Kein Niederländer, Herr Marschewski, hat jemals ernst-haft bezweifelt, daß seine Königin Beatrix eine loyale,staatstreue Holländerin sei.
Auch käme niemand auf die Idee, Herr Zeitlmann,einem Bayern vorzuhalten, er könne nicht gleichzeitigauch ein guter Deutscher und ein guter Europäer sein.
Zum jetzigen Gruppenantrag bleibt festzuhalten:Auch ohne generelle Hinnahme der doppelten Staats-bürgerschaft macht die nun gefundene Lösung vielenausländischen Mitmenschen ein ihnen lange vorenthal-tenes, faires Integrationsangebot, als politisch undrechtlich Gleiche in unserer Gesellschaft heimisch zuwerden. Das ist ein deutlicher Schritt in die richtigeRichtung.
Indem wir ausreichende Sprachkenntnisse, Unter-haltsfähigkeit und Verfassungstreue von den Einbürge-rungsbewerbern verlangen, machen wir außerdem deut-lich, daß es eine Einbürgerung zum sogenannten Nullta-rif nicht gibt. Die flexible Ausgestaltung der Vorausset-zungen gewährleistet zugleich, daß sie einer Einbürge-rung keine unüberwindbaren Hürden vorsetzen.Genauso wichtig wie rechtliche Erleichterungen –darauf sollten wir in der heutigen Debatte hinweisen –ist letztlich der Bewußtseinswandel, der durch die Mo-dernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Gang ge-bracht werden soll; denn ohne das berechtigte Vertrauender deutschen und der ausländischen Bevölkerung in diewechselseitige Bereitschaft zu Toleranz und Akzeptanzwerden weitere Reformschritte und Integrationserfolgenicht möglich sein. Integration im rechtlichen, sozialen,sprachlichen und kulturellen Bereich muß zukünftig vielDr. Michael Bürsch
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2284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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stärker als eine gesellschaftliche Daueraufgabe begriffenwerden. Bessere Rahmenbedingungen allein werdennicht zu mehr Integration führen. Vielmehr brauchen wirein langfristig angelegtes Bündnis für Integration vonBund, Ländern und Kommunen, von Kirchen und Ver-bänden und über Parteigrenzen hinweg.
Dafür brauchen wir Aufklärung, Toleranz und einenlangen Atem. Dazu müssen wir bereit sein, zum Beispielden Erwerb der deutschen Sprache stärker als bisher zufördern.
– Wir werden das vorlegen, Herr Zeitlmann.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Hinweis geben,der vielleicht zu allgemeiner Zustimmung führen kann.Ich habe dafür plädiert, daß wir die Reform des Staats-angehörigkeitsrechts von nun an sachlich und konstruk-tiv diskutieren. In diesem Sinne möchte ich mit einemZitat aus dem 3. Buch Moses schließen
– die Bibel gibt soviel her, auch für diesen Fall –, des-sen friedensstiftender Wirkung sich hoffentlich auchdie christlich orientierte Fraktion in diesem Hausenicht entziehen kann. Im 3. Buch Moses, 19. Kapitelheißt es:Wenn … ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihrihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich beieuch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gel-ten, und du sollst ihn schätzen wie dich selbst.
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Zeitlmann für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr KollegeBürsch, ich habe Ihnen relativ intensiv zugehört.
Das fällt schwer, wenn sich jemand so scheinheilig ver-hält.
Ich verzeihe Ihnen noch den Moses. Das ist Ihr Problem.Was ich Ihnen aber nicht verzeihe, ist, daß Sie hier zuAnfang sagten, wir hätten die politische Kultur verletzt
– warten Sie nur! –, als wir ein ganz normales demokra-tisches Recht in Anspruch genommen haben, nämlicheine Mobilisierung der Öffentlichkeit zu einem unsin-nigen Gesetz zu unternehmen.
Meine Damen und Herren, ich komme aus einemWahlkreis, wo wir bei 220 000 Wahlberechtigten zwi-schenzeitlich 55 000 Unterschriften haben.
Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen namhafte SPD-Leutein meinem Wahlkreis, die ganz offen in die Geschäfts-stelle kamen und gesagt haben: Diesen Unsinn macheich nicht mit. – Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen auchMitglieder Ihrer Partei, die sich bei mir telefonisch ge-meldet haben und gefragt haben: Haben die noch alleTassen im Schrank?
Sie können kritisieren. Aber Sie können sich nichthier hinstellen und jemandem vorwerfen – wie habenSie gesagt? –, ein Element der Demokratie und die poli-tische Kultur zu verletzen,
wenn Sie nicht Ihren eigenen Leuten, die ähnlich denkenwie ich, diesen Spiegel vorhalten. Daß Sie in der weite-ren Rede von emotionalen Regungen – das war IhreFormulierung – der Menschen gesprochen haben, aufdie man Rücksicht nehmen muß, weil sie nicht verzich-ten können, sprechen, paßt mir ebenfalls nicht ganz.
Sie machen Emotionen zur Grundlage Ihrer Überlegun-gen; aber auf die Emotionen Ihrer Wähler und der Bür-ger in diesem Lande nehmen Sie keine Rücksicht.
Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal auflösen.Herr Bürsch, ein bißchen Chuzpe war schon dabei,als Sie sagten: Gebt ihr Unionsleute doch die Abstim-mung frei!
Ich sitze seit 1987 im Parlament.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was ist denn bei Ihnen? Ge-ben Sie doch die Abstimmung zu unserem Modell „Ein-bürgerungszusicherung“ frei! Was ist das Problem? Siewissen ganz genau, daß Sie sie nicht freigeben – ausganz klaren Gründen.Dr. Michael Bürsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2285
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(D)
Ich habe mir einmal schriftlich geben lassen, was inden letzten Wochen von namhaften Vertretern der Bun-desregierung zum Thema Optionsmodell gesagt wordenist. Am 2. Februar zum Beispiel gab es eine Sendung
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Was nun, Herr Schröder?“
– Ich habe es nicht vergessen, Kollege Bötsch. – In die-sem Fernsehinterview sagte Herr Schröder, eine dop-pelte Staatsbürgerschaft nur bis zur Volljährigkeit, wiees die F.D.P. vorgeschlagen habe, mache eine Verfas-sungsänderung nötig. Er verwies auf die Bestimmungdes Grundgesetzes, nach der eine deutsche Staatsbürger-schaft nicht entzogen werden kann. Diese Bestimmungwolle er nicht ändern; sie sei ein Bollwerk unserer Ver-fassung. Eine Änderung des Koalitionsentwurfs entspre-chend dem F.D.P.-Vorschlag komme daher nicht in Fra-ge. – Ähnliche Kritikpunkte sind vom Kollegen Özde-mir in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ am21. Januar 1999 vorgebracht worden.Dann gibt es noch die wunderschöne Meldung vom11. Februar, daß Bundesinnenminister Schily dem Info-Radio Berlin gesagt habe, er habe verfassungsrechtlicheBedenken gegen den Vorschlag, Ausländern mit einemDoppelpaß, die sich mit 23 Jahren nicht für eine Staats-angehörigkeit entscheiden, den deutschen Paß zu entzie-hen.
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich habe Sie auchnicht gefragt, obwohl Sie manches gesagt haben, wasmich zu Fragen veranlaßt hätte.Ich sage Ihnen eines: Eher bekommen Sie einen Ele-fanten in ein Mauseloch, als daß diese Bundesregierungeinmal vier Wochen bei einer Meinung bleibt.
Das ist an Hand der vorgebrachten Zitate nachweisbar.Wenn dann jemand wie Sie, Herr Bürsch, sagt, mankönne doch ein guter Bayer und trotzdem ein Deutschersein, dann stimme ich ihm zu.
Aber eines kann man sicher nicht sein: Man kann nichtein guter Bayer und gleichzeitig ein „Saupreiß“ sein, umdas mal deutsch auszusprechen.
Das eignet sich bei uns nur noch für Witze.
– Was da alles Verleumdung ist.Sie legen heute einen Gesetzentwurf vor, aus dem icheinige Punkte aufgreifen möchte. Sie sagen ganz klar –mit vielen Ausnahmeregelungen –, die Mehrstaatlich-keit solle künftig weit ausgedehnt werden. In einem Ab-satz heißt es, älteren Bürgern solle die Entscheidung inder Frage der Doppelstaatlichkeit erleichtert werden.Definieren Sie mir einmal, was ein älterer Mensch ist.
Setzen Sie da die Grenze bei 60 Jahren? Sie verwendennur allgemeine, schwammige Begriffe.Sie schreiben weiter, vermögensrechtliche und wirt-schaftliche Nachteile
sollen zur Möglichkeit der Doppelstaatlichkeit führen.Damit ist für mich klar: Sie legen ein Gesetz vor, in dasSie zwar formal hineinschreiben, die Mehrstaatlichkeitsolle vermieden werden, aber Sie schaffen so viele Aus-nahmetatbestände,
daß Sie viele Möglichkeiten eröffnen.Es gibt schon derzeit manche Ausnahmeregelungen;das weiß auch ich. Wenn Sie hier darauf hinweisen, daßes Doppelstaatler gibt, dann ist das unbestritten; daswird durch Wiederholung nicht besser.
Sie wissen, daß es nach den statistischen Zahlen unge-fähr 580 000 sind.
Aber das ist auch egal. Ich behaupte doch nicht, daß je-der, der krank ist, auch schwerkrank sein muß, undebenso behaupte ich nicht, daß jeder Doppelstaatler ansich schon negativ ist. Das hat nie jemand behauptet.
Aber Sie sagen: Weil es positive Beispiele gibt, machenwir alle zu Doppelstaatlern. Das ist aus Ihrer Diktionhervorgegangen. Viele, unter anderem Frau Müller undHerr Struck, haben gesagt, momentan müßten sie etwasKreide fressen; aber irgendwann kämen sie auf ihre Ur-vorstellungen von genereller doppelter Staatsangehörig-keit zurück. Das können Sie doch nicht bestreiten. In Ih-rer Diktion haben Sie ähnliches zum Ausdruck gebracht.Ein weiteres Argument muß ich noch loswerden: Siewollen künftig jedem ausländischen Jugendlichen diedoppelte Staatsangehörigkeit geben. Ich habe einmaldurchgerechnet, wie viele Jugendliche das betrifft. InDeutschland werden pro Jahr in etwa 100 000 ausländi-sche Kinder geboren. Wenn ich einmal von einer gerin-geren Zahl ausgehe, dann werden davon etwa 60 000ausländische Kinder eingebürgert. Wenn Sie das jetztrückwirkend auf die letzten zehn Geburtsjahre beziehen,Wolfgang Zeitlmann
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2286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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dann heißt das, daß mit einem Federstrich 600 000 aus-ländische Jugendliche eingebürgert werden.Ich frage Sie, wie viele Ausländer nach der Krimina-litätsstatistik – –
– Wenn ich boshaft wäre, würde ich sagen – –
– Ja, natürlich, jetzt bin ich boshaft. Was stört Sie denndaran, wenn man im Zusammenhang mit dem vorlie-genden Thema auch über Kriminalität diskutiert?
Ist man in diesem Hause nicht mehr in der Lage, bei ei-nem solchen Thema auch über den Aspekt der Krimina-lität zu diskutieren?Ich will wissen, ob Sie sich Gedanken darüber ge-macht haben, daß Sie künftig alle kleinen Mehmetshierbehalten müssen.
Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung müssen Siediejenigen Menschen, die in diese Gesellschaft absolutnicht passen und alles getan haben, um sich an den Randdieser Gesellschaft zu begeben, auf Dauer behalten.
– Sie können ruhig schreien.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Krimina-lität ist auch ein Aspekt, den wir berücksichtigen müs-sen. Deswegen müssen Sie sich diesen entgegenhaltenlassen.Wenn Sie im Hinblick auf das Thema „doppelteStaatsangehörigkeit“ eine Befriedung ernstlich gewollthätten, dann hätten Sie in Ruhe auch mit uns, mit denKräften der Opposition, eine gemeinsame, vernünftigeHandlungsweise zu finden versucht.
Einen solchen Versuch haben Sie nicht einmal unter-nommen. Sie können der Öffentlichkeit nicht erklären,warum Sie von den Äußerungen Schröders und Schilysbis hin zu dem heutigen Gesetzentwurf einen derartigenBocksprung gemacht haben. Das Produkt, das Sie heutevorlegen, haben Sie noch vor vier Wochen für verfas-sungsrechtlich bedenklich gehalten.Ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Einbürgerungs-zusicherung beinhaltet im Kern das, von dem Sie be-haupten, daß es hinter Ihrem Gesetzentwurf stehe, näm-lich ein Integrationsangebot. Nach der Zusicherung kannman den ausländischen Jugendlichen sagen: „Ihr könntab sofort damit rechnen, Deutsche zu werden, also einendeutschen Paß zu bekommen, wenn ihr volljährig seid,euch entsprechend gut führt und die deutsche Sprachegelernt habt.“ Sie aber sollten einmal draußen erklären,was an Ihrem Entwurf, in dem Sie sagen: „Ich macheeuch automatisch zu Deutschen, ob ihr wollt oder nicht;– auch der fanatische Islamist bekommt per Expreß ei-nen deutschen Paß für sein Kind ins Haus geschickt, ober will oder nicht“, besser ist. Hinzu kommt, daß Sie dasEnde Ihres Unternehmens, nämlich den Zeitpunkt, zudem der ausländische Jugendliche 23 Jahre alt wird, ver-fassungsrechtlich nicht im Griff haben. Ich kann denMenschen Ihr Vorhaben nicht erklären. Weil ich diesnicht kann, kann ich Ihren Entwurf nur für falsch halten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Hans-Peter Kemper.
Herr KollegeZeitlmann, Sie haben in Ihrer Rede erstens behauptet,wir würden Kriminelle einbürgern. Ich weise Sie daraufhin, daß Sie wider besseres Wissen mehrere Dinge un-terstellt haben, die so von uns in keiner Weise angedachtworden sind. Das wissen Sie ganz genau. Denn wirschließen die Einbürgerung von Kriminellen bzw. vonExtremisten aus.Zweitens haben Sie in Ihrer Darstellung eine infameUnterstellung begangen. Denn Sie haben den Eindruckerweckt, als ob ausländische Mitbürger deutlich krimi-neller wären als vergleichbare deutsche Gruppen. Siewissen ganz genau, daß die ausländische Bevölkerung,die sich seit langem in der Bundesrepublik aufhält undarbeitet, nicht krimineller ist als vergleichbare deutscheGruppen.
Sie wissen auch ganz genau, daß die Kriminalitätsbela-stung im wesentlichen auf die einreisenden organisier-ten Kriminellen und auf die ausländerspezifischenStraftaten, die die Deutschen gar nicht begehen können,zurückzuführen ist. Ich halte es für sehr bedauerlich, daßSie in einer solchen Rede, vor einem solchen Publikumdiese unwahren Behauptungen wiederholen.
Im übrigen ist mir bis heute noch nicht klar: Wie sollman zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen unter-scheiden, wenn wir die ausländischen Kinder mit derGeburt einbürgern?
Denn auch in der Vererbungslehre geht man davon aus,daß niemand als Krimineller geboren wird, sondern daßverschiedene Faktoren daran mitwirken, ob die Men-Wolfgang Zeitlmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2287
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schen später kriminell werden oder nicht. Die Geburt hatam wenigsten damit zu tun. Von daher geht Ihre Dar-stellung völlig an der Sache vorbei.
Das Wort zur Erwi-
derung hat der Kollege Zeitlmann.
Herr Kollege
Kemper, Sie wissen ganz genau, daß Sie hier ein Modell
vorlegen – ich habe das eingehend ausgeführt –, mit
dem Sie die Konsequenz, nämlich die endgültige dop-
pelte Staatsangehörigkeit, verfassungsrechtlich nicht im
Griff haben. Diese Regelung ist nach den Worten Ihres
Bundeskanzlers, um es vorsichtig auszudrücken, verfas-
sungsrechtlich bedenklich.
Was die Einbürgerung derjenigen angeht, die krimi-
nell werden, habe ich mich nicht so falsch ausgedrückt,
wie Sie das hingestellt haben.
– Gut, dann erkläre ich es Ihnen noch einmal: Sie müs-
sen in Kauf nehmen, daß ein gewisser Anteil derjenigen,
die Sie heute einbürgern, kriminell wird. Ich habe ja
nicht gesagt, schon das Embryo sei potentiell kriminell.
Ich weise nur darauf hin: Wenn Sie die Jugendkrimina-
lität in unseren Großstädten in bezug auf ausländische
und inländische Bevölkerung vergleichen, dann stimmt
Ihre Rechnung nicht. In den Kreisen ausländischer Ju-
gendlicher ist die Kriminalität definitiv höher. Sie haben
recht – etwas anderes habe ich auch nicht behauptet –,
wenn Sie sich auf die gesamte Wohnbevölkerung bezie-
hen und dann zwischen ausländischen und inländischen
Teilen vergleichen. Unter den Jugendlichen, die Sie ein-
bürgern wollen, ist der Anteil der Kriminellen leider er-
höht.
Wenn Sie die Konsequenz der doppelten Staatsbür-
gerschaft nicht im Griff haben, dann nehmen Sie in
Kauf, daß Sie künftig „Mehmets“ nicht mehr abschieben
können. Das ist Faktum.
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Claudia
Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte dem Hohen Haus versichern, daß
der Eindruck eines einförmigen Bayerns nicht stimmt.
Es gibt auch ein anderes Bayern.
Es gibt ein Bayern, das radikaldemokratisch ist. Es gibt
ein Bayern, das tolerant, das offen, das großherzig ist. Es
gibt ein Bayern, das sich nicht nur am Sonntagmorgen
auf die Bibel besinnt.
Es gibt ein Bayern, das für gleiche Rechte für alle Men-
schen steht, das für Integration und gegen Ausgrenzung
steht. Und es gibt Menschen aus Bayern, die stolz sind,
daß sie – wie ich – irgendwo in der Verwandtschaft
noch etwas Preußisches haben.
Wenn wir schon bei der Bibel sind, dann empfehle
ich Kollegen Zeitlmann Lukas 18, 11: Da heißt es:
„Gott, ich danke dir, daß ich nicht wie die anderen Men-
schen bin …“ Herr Zeitlmann, das sagen die Pharisäer.
Das ist mein Wort zum Sonntag für Sie.
Schließlich noch
eine Kurzintervention des Abgeordneten Rüdiger Veit.
Ich stamme nicht aus Bayern,
sondern aus Hessen, bin aber trotzdem des Lesens und
des Schreibens kundig. Ich möchte den Kollegen
Zeitlmann fragen, ob er folgenden Satz wiedererkennt:
Seit Jahren rechtmäßig in Deutschland lebende
Ausländer sind nicht signifikant häufiger an Straf-
taten beteiligt als Deutsche.
Dieser Satz, der von ihm unterschrieben ist, stammt –
man höre und staune – aus der Drucksache 14/532,
„Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, … Wol-
fang Zeitlmann“ zum modernen Ausländerrecht. Das
sind Ihre Worte, Herr Zeitlmann.
Kollege Zeitlmann
zur Antwort.
Herr Kollege,ich habe doch gerade klargestellt, daß es einen Unter-schied gibt zwischen der Kriminalitätsrate der ausländi-schen Bevölkerung insgesamt und der KriminalitätsrateHans-Peter Kemper
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2288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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ausländischer Jugendlicher. Das, was Sie vorgelesenhaben, sagt überhaupt nichts zur speziellen Jugend-kriminalität in unseren Großstädten.
Ich gebe nunmehrdas Wort der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/DieGrünen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrZeitlmann, ich finde, Ihr Beitrag war dem Ernst desThemas, dem Ernst, den diese Debatte verdient, wirklichnicht angemessen.
Heute geht es um eine zentrale Frage des Zusammenle-bens aller Menschen in dieser Republik. Solche Beiträ-ge, wie Sie sie hier geleistet haben, tragen nicht zumguten Zusammenleben, sondern sie tragen zur Spaltungder Gesellschaft bei.
7 Millionen sogenannte Ausländer leben in Deutsch-land, fast zwei Drittel schon seit über 10 Jahren, mehrals 30 Prozent bereits seit über 20 Jahren. Hunderttau-send Kinder ausländischer Eltern werden jährlich hiergeboren. Aber nach dem alten Ausländergesetz sind sieFremde im eigenen Land. Wir beenden nach nunmehr86 Jahren endlich diese Ausgrenzung. Wir machen vielevon diesen sogenannten Ausländern endlich zu Inlän-dern.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das sindMenschen, die dieses Land mit aufgebaut, die unschätz-bar viel zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bei-getragen, die Freunde gefunden haben, die sich ehren-amtlich engagieren und die unsere Gesellschaft nach-drücklich geprägt und auch bereichert haben.
Diesen Menschen geben wir nun endlich die gleichenBürgerrechte, zum Beispiel das Recht, bei der Ausge-staltung des Zusammenlebens mitzuwirken, das Recht,bei der Verabschiedung von Gesetzen mitzubestimmen,und das Recht zu wählen. Diese elementaren Rechte ha-ben wir Deutschen bis zum heutigen Tage für uns reser-viert; denn nach dem Staatsangehörigkeitsrecht von1913 sind Deutsche nur diejenigen, die deutsche Elternhaben. Dieses Relikt aus der Kaiserzeit ändern wir mitdieser Reform.
Künftig ist automatisch Deutscher, wer hier geborenwird. Und nicht nur das: Auch Kinder, die hier geborenwurden und nicht älter als zehn Jahre sind, erhalteneinen deutschen Paß. Erwachsene bekommen künftigschon nach 8 Jahren statt nach 15 Jahren einen solchenAnspruch, und zwar auch dann, wenn sie unverschuldetvon Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe leben. BeideNeuerungen sind aus unserer Sicht ein großer Erfolg;denn das bietet die Chance für eine schnelle und unbü-rokratische Einbürgerung vieler hunderttausend Men-schen, denen als sogenannte Ausländer die Bürgerrechtein diesem Land heute noch verwehrt werden.
Bei all den Schwächen, die dieses Gesetz aus derSicht meiner Fraktion auch hat: Die Einführung des Ge-burtsrechts in der Bundesrepublik ist wirklich ein histo-rischer Schritt. Das ist eine Reform, mit der diese Repu-blik endlich den Anschluß an Europa findet. Deshalbwird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf einstimmigzustimmen.
Sicherlich, er bleibt an einigen Stellen hinter unserenZielen zurück. Es ist nicht das, was wir, diese Koalition,uns gewünscht haben und was weiterhin notwendigbleibt. Aber es ist ein erster Schritt. Da wir nun einmalauf die Zustimmung des Bundestages und des Bundes-rates angewiesen sind, müssen wir akzeptieren, daß dieMehrheit im Bundesrat zu einer weitergehenden Reformnicht bereit ist.Wir haben Kompromisse gemacht, die für uns undviele Menschen in unserem Land nicht einfach sind. Wirhaben – auch das will ich nicht verhehlen – nach wie vorgroße Bedenken gegen das Optionsmodell. Warumsollen sich Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeitplötzlich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden? War-um stellt man ihre Zugehörigkeit zu unserer Gesell-schaft, wenn sie 18 werden, auf einmal in Frage? MeineFraktion meint, hier geborene Kinder sollten mit derGewißheit aufwachsen, daß sie in unsere und zu unsererGesellschaft gehören.Ich möchte besonders Ihnen, meine Damen und Her-ren von der F.D.P., einmal zu bedenken geben: HabenSie sich einmal überlegt, daß Sie mit dem Optionsmo-dell, mit dieser erzwungenen Entscheidung in vielenFamilien schwere Konflikte auslösen können? Dennviele Eltern werden eine Entscheidung ihrer Kinder fürdie deutsche Staatsbürgerschaft als Abkehr von ihreneigenen Bindungen an ihr Heimatland empfinden, dasheißt als Entscheidung gegen die Eltern verstehen. Ichfrage Sie: Wollen Sie das wirklich? Das ist unsereHauptkritik an dem Optionsmodell und nicht, Herr Rütt-gers und meine Damen und Herren von der CDU, dieverfassungsrechtlichen Fragezeichen. In vielen Fällenwird dies die Integration verhindern.Bedauerlich ist auch, daß die generelle Hinnahme derdoppelten Staatsangehörigkeit jetzt nicht durchsetzbarwar. Nicht, weil sie unser eigentliches Ziel war, wie SieWolfgang Zeitlmann
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2289
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von der Opposition wider besseres Wissen immer wie-der behauptet haben; nein, die doppelte Staatsbürger-schaft ist und war immer nur als Instrument gedacht, umdie schnelle und unbürokratische Einbürgerung zu errei-chen. Wir haben jetzt zwar die Ausnahmen bei der Hin-nahme der Mehrstaatigkeit erweitert, was fehlt, ist aberder Brückenschlag zur ersten Generation. Dies, liebeKolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ist leider anIhnen gescheitert. Ausschließlich Sie tragen die Verant-wortung dafür, daß der Gesetzentwurf hier nicht weitergeht. Sie haben das blockiert.
– Ich würde nicht klatschen – Sie werden damit die Ein-bürgerung der ersten Generation verhindern.Es ist – ich möchte da auf Ihr Argument eingehen –nämlich genau umgekehrt. Sie sagen immer, mit 30 Jah-ren kann man sich doch entscheiden, denn da ist man jaschon so lange hier. Gerade bei der ersten Generationsind die Bindungen an das Heimatland aber noch sehrstark. Gerade deshalb werden sich die meisten Einwan-derer der ersten Generation ohne die Möglichkeit desDoppel-Passes nicht einbürgern lassen. Ich sage einmalfolgendes: Gerade diesen Menschen, die wir, meine El-tern, Sie, als Gastarbeiter hierhergeholt haben und diehierbleiben werden, sollte man doch den Brückenschlageröffnen und den Doppel-Paß gewähren.
Wir können das noch ändern, meine Damen und Herrenvon der F.D.P.
– ich dachte, wir machen jetzt ein parlamentarischesVerfahren – , und ich fordere Sie auf, bis zum Abschlußdes parlamentarischen Verfahrens wenigstens dieseChance zur Integration zu nutzen.Der Kompromiß ist trotz der Kritik, die wir üben, einerster wichtiger Schritt zu einer umfassenden Reform.Gerade wegen seiner Schwächen bleibt – das sage ichfür meine Fraktion ganz deutlich – dieses Thema für unsauf der politischen Tagesordnung. Unser Ziel ist undbleibt es, allen dauerhaft hier lebenden Menschen wirk-lich die gleichen Bürgerrechte zu geben. Deshalb wer-den wir in der Gesellschaft um die Mehrheiten kämpfen,um einen weiteren Schritt der Integration in ferner Zu-kunft durchzusetzen.
Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Marschewski.
Sie fordere ich auf, Ihre absolut zynische Unterschrif-tenkampagne endlich einzustellen.
Angeblich – Herr Rüttgers, Sie werden ja heute nochsprechen – soll es dabei um Integration gehen. Sie wis-sen ganz genau, daß diese Kampagne eine völlig andereWirkung hat. Sie integriert nicht, sie spaltet die Gesell-schaft.
Viele Menschen, die ihre Listen unterzeichnet haben,haben nicht für Integration, sondern, um es mit denWorten von Ignatz Bubis zu sagen, gegen Ausländerunterschrieben. Sie haben daher auf dem Rücken derhier lebenden Ausländerinnen und Ausländer Stim-mungsmache betrieben. Das finde ich unverantwortlich,
vor allen Dingen auch deshalb, weil Ihre scheinheiligeKampagne gegen den Doppel-Paß auf Behauptungen be-ruht, die schlichter Unfug sind.Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, wieSie unterstellen,
und sie hat nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpik-kerei zu tun. Das ist dummes Zeug, und noch dazu ge-fährlich.
Die Rechte und Pflichten von Doppelstaatsbürgernrichten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Diezweite Staatsangehörigkeit zu bekommen bedeutet imKern nur einen einzigen Vorteil – das muß man, glaubeich, einmal deutlich darstellen –,
nämlich den: Es gibt außer Deutschland ein weiteresLand, in dem man das Recht hat, sich jederzeit nieder-zulassen. Dieses Recht, meine Damen und Herren, HerrZeitlmann, hat jeder Deutsche – das heißt, auch Sie indiesem Hause –, und zwar nicht nur in einem anderenLand, sondern in allen 14 Ländern der EuropäischenUnion. Da sollten wir doch nicht von Privilegien reden.Der Doppelpaß bedeutet eben keine doppelten Rechte.
Deshalb fordere ich Sie auf, mit dieser gezieltenDesinformation aufzuhören. Sie schüren damit in unver-antwortlicher Weise Neidgefühle.Kerstin Müller
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2290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Wieviel das Gerede von der Integration, auf das Siewahrscheinlich noch zu sprechen kommen werden, Wertist, zeigt sich meiner Meinung nach schon wenige Wo-chen nach der Hessen-Wahl: Roland Koch, der künftigeMinisterpräsident von Hessen, hat schon kurz nach derWahl nichts Besseres zu tun, als mit einem Federstrichdie Sprachförderung des muttersprachlichen Unterrichtseinzustellen. Soviel zur Umsetzung Ihres Integrations-konzeptes! Das ist Integration à la CDU.
Sie sollten Ihr Konzept einmal Herrn Koch schicken.Die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, liegen meistens inder Kompetenz der Länder. Die rotgrün regierten Länderhaben das meiste davon schon umgesetzt.Aber nicht genug, daß Integration bei Ihnen ein reinesLippenbekenntnis ist, nicht genug, daß Sie daran den-ken, selbst noch gegen diesen Kompromiß zu klagenund damit die unsägliche Stimmungsmache gegen die inDeutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländerfortzusetzen –
der Höhepunkt ist wirklich das von Ihnen heute einge-brachte Gesetz zur Regelung der Staatsangehörigkeit.
Da feiert Herr Kanther fröhliche Urstände. Die darinenthaltenen Vorstellungen fallen weit hinter das zurück,was wir in der letzten Legislaturperiode gewollt haben.
Was, bitte schön, soll die Einbürgerungszusiche-rung? Die ist praktisch wertlos. Denn die Hürden fürdie sogenannte Zusicherung sind höher als für einen An-spruch auf Einbürgerung nach dem geltenden Auslän-dergesetz – mit dem Unterschied, daß der Anspruch aufEinbürgerung zum Paß führt, während Ihre abenteuerli-che Konstruktion nur zu einer Zusicherung auf jenenPaß führt. Ich frage mich: Was soll das, bitte?
Ich glaube, diese Konstruktion ist das Papier nicht wert,auf dem sie steht. Wir sollten uns damit nicht mehr län-ger beschäftigen.
Ich möchte zum Schluß aus einem Aufruf zitieren, indem es heißt:Die soziale und rechtliche Integration der inDeutschland lebenden ausländischen Mitbürger isteine moralische Verpflichtung gegenüber den Be-troffenen und unverzichtbar für die dauerhafte Be-wahrung des gesellschaftlichen Friedens. DerSchaffung eines zeitgemäßen Staatsangehörigkeits-rechts kommt damit eine zentrale Bedeutung zu.Frau Süssmuth, Herr Altmaier, Herr Geißler, HerrRöttgen, Herr Pflüger
und viele anderen Damen und Herren von der Union
– gleich, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen –,ich denke, Sie wissen nur zu gut, aus welchem Text die-ses Zitat stammt. 150 von Ihnen haben in der letzten Le-gislaturperiode den sogenannten Reformaufruf unter-zeichnet, aus dem diese Passage stammt.Der sogenannte Rüttgers-Entwurf hat nichts, aberauch gar nichts mit den Forderungen dieses Aufrufes zutun. Im Gegenteil: Was die Einführung des Geburts-rechts betrifft, entspricht er eher dem, was wir heutevorgelegt haben. 150 von Ihnen haben diesen Aufrufunterschrieben – Sie nicht, Herr Zeitlmann, wie maneben gemerkt hat. Sie haben jetzt – das meine ich ganzernst –
die einmalige Chance: Sie können die Forderungen ausdiesem Aufruf in die Realität umsetzen, indem Sie unse-rem Gesetzentwurf zustimmen.
Frau Kollegin, ge-statten Sie, auch wenn Sie am Ende Ihrer Rede sind,noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hohmann?Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Ich würde das gerne noch zu Ende führen.Gerade die Form des Gruppenantrags bietet dazu dieMöglichkeit. Überlegen Sie sich das gut! Ich glaube, Sietragen eine große Verantwortung. Denn damit wäre auchdieser unsäglichen Unterschriftenkampagne, die dieseGesellschaft spaltet
und die das Land keinen Schritt voranbringt, der Bodenentzogen. Dann können wir in diesem Haus endlich wiein anderen europäischen Ländern gemeinsam über dasreden, was notwendig ist, nämlich darüber, wie man dasEinwanderungsland Bundesrepublik gestaltet.Kerstin Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2291
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Ich fordere Sie daher auf: Werden Sie Ihrer Verant-wortung gerecht! Stimmen Sie der vorgelegten Reformdes Staatsangehörigkeitsrechts zu! Stimmen Sie diesemersten historischen Schritt einer Reform zu!Danke schön.
Frau Kollegin, ich
danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, eine Zwischenfrage
zuzulassen. Aber der Zwischenfrager hat mittlerweile
seine Frage zurückgezogen.
Ich gebe dem Kollegen Bosbach das Wort für eine
Kurzintervention.
Frau Kollegin
Müller, Sie haben vorhin zumindest sinngemäß dahin
gehend argumentiert, daß meine Fraktion durch ihre
politische Haltung in der hier diskutierten Frage die
Einbürgerung der ersten Einwanderungsgeneration ver-
hindere. Sie haben dann gesagt – das akzeptiere ich auch
als Argument –, daß gerade diese Generation eine be-
sonders enge emotionale Bindung zum ursprünglichen
Heimatland habe. Im Klartext bedeutet Ihre Argumenta-
tion, daß sich die Zahl derjenigen, die deutsche Staats-
bürger werden möchten, wesentlich vergrößerte, wenn
man die doppelte Staatsbürgerschaft bei Einwanderern
hinnehmen würde.
Ich darf in diesem Zusammenhang aus einer Um-
frage der früheren Ausländerbeauftragten, Cornelia
Schmalz-Jacobsen, zitieren. In der entsprechenden
Drucksache steht wörtlich:
Diejenigen Befragten, die bislang keine konkrete
Absicht haben, sich einbürgern zu lassen …,
– das ist der überwiegende Teil; über 90 Prozent derje-
nigen, die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, ma-
chen davon keinen Gebrauch –,
nennen als Hauptgrund den Wunsch, Türke/
Grieche/Italiener/Kroate/Serbe/Bosnier zu blei-
ben …
– Das sind 71 Prozent. –
Die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit
stellt hingegen für eine weitaus kleinere Gruppe ein
Hindernis dar …
Das sind 18 Prozent.
Ich akzeptiere und respektiere, wenn drei Viertel der
Betroffenen sagen: Mein größter Wunsch ist es, Türke,
Serbe, Kroate oder Bosnier bleiben zu wollen. Aber
stellt eine solche Haltung für Sie ein ernsthaftes Kriteri-
um dar, diesen Menschen die deutsche Staatsangehörig-
keit zu verleihen?
Zweiter Punkt. Sie haben vorhin gesagt – hier stimme
ich Ihnen zu –, das Optionsmodell trage Streit in die
ausländischen Familien. Neben Ihnen sitzt der Kollege
Beck, der mit mir zusammen an einer Podiumsdiskussi-
on in der Volkshochschule Köln teilgenommen und dort
gesagt hat: Das Optionsmodell ist schlecht, weil es in
dem Moment Streit innerhalb der ausländischen Famili-
en geben wird, in dem sich der junge Erwachsene zwi-
schen zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden muß und
die Eltern darauf drängen, daß die angestammte Staats-
angehörigkeit beibehalten wird. Das ist doch ein kardi-
naler Mangel des Optionsmodells. Deswegen können
Sie Ihre Auffassung nicht ernsthaft mit den Argumenten,
die Sie hier vorgetragen haben, vertreten und gleichzei-
tig für das Optionsmodell stimmen. Hier bietet unser
Modell der Einbürgerungszusicherung einen großen
Vorteil.
Dritter Punkt. Wir können in der Tat nicht verhin-
dern, daß jemand fragt, wo er gegen Ausländer unter-
schreiben könne. Auf eine solche Frage gibt es für die
Mitglieder meiner Fraktion nur eine Antwort: Bei der
Union nicht!
Wir sammeln Unterschriften für eine bessere Integration
der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Auslände-
rinnen und Ausländer, für eine erleichterte Einbürgerung
der jungen Generation und gegen die generelle doppelte
Staatsbürgerschaft. Unsere Politik hat also absolut nichts
mit Ausländerfeindlichkeit zu tun.
Frau Müller,möchten Sie darauf antworten? – Bitte.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Herr Kollege, zunächst zur Unterschriftenkam-pagne: Sie sagen jetzt, daß es nicht Ihre Absicht gewe-sen sei, mit der Kampagne eine ausländerfeindlicheStimmung in der Gesellschaft zu schüren. Das konzedie-re ich. Dennoch müssen Sie zur Kenntnis nehmen – wirhaben mit vielen Leuten an unseren Ständen in Hessengesprochen; ich war selbst an den Ständen in den Fuß-gängerzonen; auch viele bekannte Persönlichkeiten, un-ter anderem Ignatz Bubis,
haben darüber berichtet, daß bei vielen Bürgern derscheinbar harmlose Text Ihres Aufrufes „Ja zur Integra-tion“ ganz anders, als Sie ihn beabsichtigt hatten, ange-kommen ist; er hat in der Gesellschaft eine ganz andereWirkung hervorgerufen. Wenn man feststellt, daß miteinem solchen Aufruf Stimmung zu Lasten der hier le-benden Ausländerinnen und Ausländer gemacht wird,finde ich, muß man die Konsequenzen ziehen und einesolche Kampagne stoppen.
Kerstin Müller
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2292 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Zum Optionsmodell. Es ist richtig, daß meine Frak-tion hierzu Bedenken hat. Ich habe diese Bedenken ge-nannt. Vor allen Dingen befürchten wir, daß es Kon-flikte in die Familien hineintragen könnte. Die Umset-zung des Modells bedeutet wahrscheinlich auch einenziemlich hohen bürokratischen Aufwand. Aber ich undviele Mitglieder meiner Fraktion haben diesen Sachver-halt abgewogen. Ich möchte Sie, meine Damen und Her-ren von der CDU/CSU, bitten, dies auch zu tun.Für mich ist entscheidend, daß wir mit dieser Reformden Einstieg in das Geburtsrecht leisten. Es handelt sichum einen ersten, rechtspolitisch historischen Schritt. Ichbin der Meinung, daß man vor diesem Hintergrund dieHinnahme des Optionsmodells akzeptieren kann. Wirwerden – das habe ich hier angekündigt, und das meineich sehr ernst; wir können das gerne gemeinsam tun –für gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen, um das iussoli pur, ohne das Optionsmodell, zu bekommen. Ichfinde, ein Einstieg ist besser, als daß es bei der alten,schlechten Rechtslage bleibt.
Herr Kollege, die Zahlen, die Sie genannt haben,sprechen genau für das von mir genannte Argument.Dies haben viele Gespräche ergeben. Die Verbände, dienicht alle grün gefärbt sind, haben dies immer wiedergesagt. Dies sagen auch viele Migrantenverbände, mitdenen wir seit langem im Dialog stehen. Diejenigen, dieseit 30 Jahren hier sind, haben nun einmal die größtenBindungen zu ihrem Herkunftsland. Deshalb sagen indieser Umfrage 70 Prozent der Befragten: Wir möchtengerne Griechen, wir möchten gerne Türken bleiben.Aber das heißt nicht, daß sie nicht auch Deutsche wer-den würden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu ge-ben würde.Wir sind dafür, daß sich dieses Haus dazu entschließt,wenigstens diesen Menschen – wir selbst hätten auchnichts gegen die Hinnahme der generellen doppeltenStaatsbürgerschaft – den doppelten Paß zu gewähren.Wir haben sie hierhergeholt, und wir haben die Verant-wortung, ihnen endlich gleiche Rechte zu geben, endlichdiesen Brückenschlag zu machen.Danke schön.
Das Wort hat der
Kollege Westerwelle.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatteist aus Sicht der Freien Demokraten viel zu wichtig, alsdaß wir sie im parteipolitischen kleinen Karo führensollten.
Wir reden hier bewußt über einen Gruppenantrag,weil es unser Ziel ist, als diejenigen, die diesen Grup-penantrag initiiert haben, eine breite politische Mehrheitin diesem Hause zu finden. Wenn das Recht von 1913nach 86 Jahren zum erstenmal geändert wird, dann löstdas in unserem Lande natürlich große Diskussionen aus.Wir sollten uns bewußt sein, daß diese Debatte nicht nurim Inland, sondern auch im Ausland sehr genau verfolgtwird.
Wir werden in Deutschland mit diesem Gesetz nacheiner langjährigen Diskussion jetzt ein modernes Staats-angehörigkeitsrecht bekommen.
Das neue Staatsangehörigkeitsrecht wird zu einer Ver-besserung der Integration der dauerhaft und rechtmäßigin Deutschland lebenden Menschen ausländischer Her-kunft führen. Die Verbesserung der Integration dieserMenschen ist im Interesse unserer gesamten Gesell-schaft dringend notwendig.
Was wir heute tun, dient nicht nur den hier geborenenKindern, sondern auch unserem nationalen Interesse.Was wir jetzt unterlassen, rächt sich in Zukunft als so-ziale Verwerfung.
Diese Reform – das ist aus Sicht der Freien Demo-kraten besonders wichtig – wird von einer breiten Mehr-heit in der Bevölkerung akzeptiert. Ich möchte michdeshalb – Sie werden verstehen, daß ich das zu Beginnmeiner Rede tue – ausdrücklich bei denen herzlich be-danken, die bei diesem wichtigen, ja historischen Schrittmitgewirkt haben. Zunächst möchte ich mich ganz herz-lich bei unserer früheren Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen bedanken, die als seinerzeitige Ausländerbe-auftragte der Bundesregierung maßgeblichen Anteil ander hier vorliegenden Reform hat.
Ich möchte mich ausdrücklich auch bei Bundesin-nenminister Otto Schily für eine sehr faire Verhand-lungsführung bedanken; in diesen Dank schließe ichausdrücklich auch den Kollegen Wiefelspütz als innen-politischen Sprecher seiner Fraktion ein.
Schließlich bedanke ich mich – Sie werden verstehen,daß ich das tue – sehr herzlich bei unserem KollegenBrüderle und dem Justizminister des Landes Rheinland-Kerstin Müller
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2293
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Pfalz, Caesar, die für eine klare Linie im Gesetzentwurfgesorgt haben, so daß er nun eine Chance auf eine großeMehrheit im Bundestag und Bundesrat hat.
Weil wir hier nicht unter uns sind, sondern die Öf-fentlichkeit sehr genau hinsieht, welche Unterschriftenunter einem solchen Gruppenantrag stehen und mit wel-chen Mehrheiten er beschlossen wird, will ich vorab ei-nes klarstellen: Was wir hier heute als Gruppenantragberaten, ist ein Vorschlag der Vernunft, um eine Eini-gung in der Sache zugunsten unseres Landes und zugun-sten der Kinder zu erreichen. Das Ganze hat nichts, aberauch gar nichts mit Koalitionsliebäugeleien unter politi-schen Parteien zu tun. Die Reform des Staatsangehörig-keitsrechts ist eben eine Sache von nationalem Interesseund viel zu wichtig, als daß sie mit machtpolitischenTaktierereien verbunden werden dürfte.
Die Kräfte der Vernunft haben sich zu einem Bündnisder Vernunft zusammengefunden, um für eines derwichtigsten gesellschaftspolitischen Vorhaben unsererZeit eine Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen sicher-zustellen.Wir als Freie Demokraten, verehrte Kolleginnen undKollegen, sind mit diesem Verhandlungsergebnishochzufrieden, weil es exakt der Lösung der Vernunftentspricht, die wir selbst in dem von uns vorge-legten Gesetzentwurf angemahnt haben. Deswegenhaben wir unseren eigenen Gesetzentwurf von derTagesordnung absetzen lassen; denn unser Gesetzent-wurf ist zu 100 Prozent in diesem Gruppenantragenthalten.Der Staat macht ein weitreichendes Integrationsange-bot. Er verlangt aber auch bewußt eine aktive Integra-tionsentscheidung.
Wichtig war uns – deswegen hatten wir einen eigenenGesetzentwurf eingebracht –, daß die hier geborenenKinder von dauerhaft und rechtmäßig in Deutschlandlebenden Ausländern mit Geburt die deutsche Staatsan-gehörigkeit erwerben. Wer den Eindruck erweckt, eineim achten oder neunten Monat Schwangere könne ge-wissermaßen durch Deutschland reisen und ihr hier ge-borenes Kind wäre dann automatisch Deutscher, führteine absolut unzutreffende Polemik ein. Wir reden hiervon den Kindern seit langem in Deutschland rechtmäßiglebender Ausländer. Es dient unserer Gesellschaft, wennwir diese Kinder integrieren.
Diese Kinder sollen von Anfang an wissen, daß sie da-zugehören und Teil unserer Gesellschaft sind. Sie sollennicht mit dem Bewußtsein aufwachsen, Ausländer zusein. Diese Kinder sprechen Deutsch als Heimatsprache.Sie gewinnen in den Schulklassen die Vorlesewett-bewerbe.
Sie können die Sprache ihrer Eltern allenfalls noch miteinem deutschen Akzent. Es macht keinen Sinn, dieseKinder erst künstlich von ihren Altersgenossen abzu-grenzen, um sie anschließend mit großem Aufwand undungewissen Erfolgsaussichten wieder integrieren zumüssen.
Wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, daß dasdeutsche Staatsangehörigkeitsrecht zugunsten hier gebo-rener Kinder geändert werden muß, dann haben ihn dieEreignisse vor wenigen Wochen geliefert, als wir beina-he täglich Bilder fanatisierter Jugendlicher sehen muß-ten, die sich von der Gruppengewalt der PKK mitreißenließen. Deswegen, Herr Kollege Zeitlmann, möchte ichIhnen einmal diese Sicht der Dinge nahebringen. Es istunzulässig, gewissermaßen fahrlässig, ich finde, sogargrob fahrlässig,
wenn Sie den Eindruck erwecken, die in Deutschlandgeborenen ausländischen Kinder seien lauter kleineMehmets. Als ob es darum ginge! Es sollen doch nichtHerr Öcalan eingebürgert werden oder Mehmets nichtmehr abgeschoben werden können. Das Entscheidendeist, daß wir durch eine Integrationspolitik dafür sorgenmüssen, daß sich die Kinder nicht fanatisieren lassen,nicht fundamentalistischen Strömungen anschließen undnicht in Ghettos in den Städten zusammenschließen.Wer die Ghettoisierung in den Städten verhindern will,der muß die Ghettoisierung in den Köpfen der hier gebo-renen Kinder verhindern.
Natürlich kann man bereits fanatisierte Kriminellemit einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts nichtändern. Sie müssen bestraft und auch abgeschoben wer-den. Darüber haben wir im Bundestag erst vor kurzemdiskutiert. Aber man muß verhindern, daß die nächsteGeneration für Gewalt und Fanatismus anfällig wirdund zu Mitläufern auf Grund des Gruppendrucks wird.Hier geborene Kinder dürfen nicht unter den Einflußausländischer Fanatiker geraten, und deswegen wollenwir sie durch die Vermittlung unserer Kultur und unse-rer Sprache, aber eben auch durch die Ausstellung desdeutschen Passes integrieren. Der Paß ersetzt nicht dieIntegration, er ergänzt die Integration. Diese Leitlinieliegt unserem Gesetzentwurf zugrunde.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union,wir halten nichts von Ihrem Vorschlag, den Kindern diedeutsche Staatsangehörigkeit zunächst vorzuenthaltenDr. Guido Westerwelle
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2294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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und ihnen lediglich eine Einbürgerungszusicherung zugeben, die sie bei Volljährigkeit einlösen können. Siehaben nämlich auf der einen Seite davon gesprochen,die Auseinandersetzungen würden in die Familien hin-eingetragen, wenn wir nach der Volljährigkeit eineEntscheidung verlangten. Auf der anderen Seite legenSie aber selber einen Gesetzentwurf vor, der eine Ent-scheidung nach dem Erreichen der Volljährigkeit ver-langt.Das Problem bei Ihrem Gesetzentwurf ist – um diesenGesetzentwurf haben wir in der letzten Legislaturperi-ode sehr kollegial und sehr fair miteinander gerungen –,daß Sie damit nichts gegenüber der bestehendenRechtslage ändern. Wir haben schon heute eine Einbür-gerungsgarantie bis zum 23. Lebensjahr für die Kinder,die hier geboren sind und volljährig werden. Diese Re-gelung bestätigen Sie gewissermaßen mit Ihrem Gesetz-entwurf. Wenn Sie aber die Kinder zunächst mit einemausländischen Bewußtsein aufwachsen lassen, um siespäter integrieren zu müssen, dann muß ich sagen, daßIhr Gesetzentwurf das Problem nicht löst. Es wäre bes-ser, die Kinder erst zu integrieren und ihnen das Gefühlzu geben, daß sie zu uns gehören. Man muß ihnen einAngebot machen! Diese Kinder sollen wissen, daß sie inunsere Gesellschaft gehören. Wir möchten aber auch,daß sich die Kinder später als junge Erwachsene ent-scheiden müssen, welche Staatsangehörigkeit sie an-nehmen wollen, zu welchem Land sie also gehörenwollen.
Was wir heute unterlassen, das werden wir in we-nigen Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzahlen.Deshalb ist die Reform des Staatsangehörigkeits-rechts mit dem Ziel einer besseren Integration der Kin-der ausländischer Eltern eine nationale Aufgabe erstenRanges.Der Elterngeneration macht dieser Gruppenantragdurch eine deutliche Absenkung der Einbürgerungs-frist ebenfalls ein großzügiges Integrationsangebot. Ichgehe davon aus, daß die Union diesem Teil des Gesetz-entwurfes zustimmen wird; denn über diese Regelungbestand bereits in der letzten Legislaturperiode zwischender F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion Ein-vernehmen. Dagegen muß ich offen gestehen, daß ichbei Ihrer Rede, Frau Müller, nicht ganz erkennen konnte,ob Sie nun für oder gegen den Gruppenantrag sind, denSie selbst mit unterzeichnet haben.
Wir als F.D.P. treten dafür ein, daß dem Integrati-onsangebot auch eine Integrationsentscheidung folgt.Deshalb haben wir uns eindeutig und konsequent gegendie ursprünglichen Pläne der Koalition gestellt, einedauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit für alle ein-zuführen. Wer deutscher Staatsangehöriger werdenmöchte, soll sich grundsätzlich durch die Aufgabe seinerbisherigen Staatsangehörigkeit zu unserem Land beken-nen. Der deutsche Paß ist nicht irgendein Papier, dasman gerne zusätzlich in Empfang nimmt, sondern ersetzt eine bewußte Hinwendung zum deutschen Staatvoraus.
Deshalb halten wir es für gerechtfertigt, von dem ein-bürgerungswilligen Ausländer die Aufgabe seiner bishe-rigen Staatsangehörigkeit zu verlangen.Das gilt insbesondere für diejenigen Ausländer, diebereits lange in Deutschland leben. Wer 30 Jahre inDeutschland gelebt hat, der kennt dieses Land gut ge-nug, um sich entscheiden zu können, ob er Deutschersein will oder nicht. Aber bei den hier geborenen Kin-dern nehmen wir die Mehrstaatigkeit für eine gewisseZeit in Kauf, weil sie eben als Minderjährige nicht selbstentscheiden können.
Deswegen möchten wir, daß diese Kinder sich erst alsjunge Erwachsene, nach Erreichen der Volljährigkeit,zwischen der Staatsangehörigkeit der Eltern und unsererdeutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.
Das ist unser Optionsmodell, das die Koalition nunübernommen hat. Damit wir zu nennenswerten Integra-tionsfortschritten kommen, haben wir als F.D.P. vorge-schlagen, daß dieses Modell auch auf bereits geboreneKinder übertragen wird, die noch nicht älter als zehnJahre sind. Ich bin froh darüber, daß sich in unseremGruppenantrag gerade dieses Angebot an die bereits inDeutschland geborenen Kinder findet.Wir halten an dem Grundsatz der Vermeidung vonMehrstaatsangehörigkeit klar und eindeutig fest. DerKatalog der Ausnahmetatbestände wird nicht erweitert,sondern lediglich flexibler gestaltet.Da Sie, Herr Kollege Zeitlmann, aus dem Gesetzent-wurf zitiert haben – Sie können jetzt nicht zuhören, weilSie telefonieren müssen –, möchte ich noch einmal auf§ 87 des Ausländergesetzes in unserem Gesetzentwurfhinweisen. Sie haben von älteren Bürgern gesprochen.So, wie Sie das wiedergegeben haben, stimmt es einfachnicht. Hier steht:Einbürgerung unter Hinnahme von MehrstaatigkeitSie wird hingenommen, wennder Einbürgerung älterer Personen ausschließlichdas Hindernis eintretender Mehrstaatigkeit entge-gensteht, die Entlassung auf unverhältnismäßigeSchwierigkeiten stößt und die Versagung derEinbürgerung eine besondere Härte darstellenwürde …Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das entsprichtder Rechtslage, wie sie sich schon heute herausgebildethat. Das können Sie in den einschlägigen Texten derEinbürgerungsrichtlinie nachlesen.
Dr. Guido Westerwelle
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2295
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Wer den Kopf schüttelt, dem nenne ich auch gleich dieQuelle: Es ist die Ziffer 5.3.3. der Einbürgerungsricht-linie. Da gibt es, Herr Kollege Rüttgers, diese fabelhaf-ten kleinen Beck-Ausgaben der Gesetzestexte.
Es gibt keine verfassungsrechtlich ernstzunehmendenBedenken gegen das Optionsmodell. Das Optionsmodellist von mehreren Justizministern geprüft worden. Es istdem früheren Bundesjustizminister vorgelegt und dortgeprüft worden, ebenso der derzeitigen Bundesjustizmi-nisterin, dem Innenminister, dem Landesjustizministervon Rheinland-Pfalz, und es ist übrigens natürlich auchvom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundes-tages eingehend geprüft worden. Dabei wurde klar fest-gestellt, daß das Optionsmodell vollständig verfassungs-gemäß ist und daß es selbstverständlich auch zulässigist, den jungen Erwachsenen eine Entscheidung abzu-verlangen.Weil in diesem Zusammenhang Art. 16 des Grund-gesetzes immer wieder zitiert wird, der dem angeblichentgegensteht, möchte ich einmal darauf hinweisen, wasdort steht. Natürlich heißt es in Art. 16 Abs. 1 Satz 1:Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzo-gen werden.Die Juristen wissen aber: Immer einen Satz weiterlesen.
Denn Satz 2 lautet:Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur aufGrund eines Gesetzes und gegen den Willen desBetroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffe-ne dadurch nicht staatenlos wird.Entziehung ist eben nicht Verlust. Wer sich selbst ent-scheiden kann, der bekommt die Staatsangehörigkeitnicht gegen seinen oder ohne seinen Willen entzogen.Vielmehr führt er durch seine eigene Willensentschei-dung den Verlust oder den Behalt der deutschen Staats-angehörigkeit herbei.
Falls Sie es mir nicht glauben, zitiere ich unseren Kolle-gen und Kronjuristen der CDU/CSU, Professor Scholz,wörtlich. Er hat am 16. Februar 1999 gesagt:Ja, ganz im Gegensatz zu einer generellen Vergabeder doppelten Staatsbürgerschaft, die mit der Ver-fassung nicht zu vereinbaren wäre … Das Opti-onsmodell ist verfassungskonform, weil keine ge-nerelle doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wirdund weil keine Entziehung der deutschen Staatsan-gehörigkeit vorgesehen ist.
Ich kann Sie einfach nur bitten, hier ehrlich zu argu-mentieren. Es geht Ihnen nicht um juristische Bedenken;es geht Ihnen um politische Bedenken. Ihre juristischenBedenken sind vor allen Dingen politisch motiviert.
Das wird der Seriosität der Diskussion nicht gerecht.Der Gesetzentwurf ist verfassungskonform; das ist im-mer wieder festgestellt worden.Letzte Bemerkung, meine sehr geehrten Damen undHerren: Vor einiger Zeit stritten sich vor unserem Hausin der Bonner Altstadt eine türkische Oma und ihr klei-nes Enkelkind. Die türkische Oma beschimpfte das Kindauf türkisch, das Enkelkind schimpfte auf deutsch zu-rück. Um diese Kinder geht es. Sie gehören zu uns, undsie müssen integriert werden.
Ich gebe der Kolle-
gin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Herr Zeitlmann, wer im Niveau so weitheruntergeht, wie Sie, aber auch Ihre Partei es heutewieder mit der Parole getan haben, daß der Doppelpaßdazu führe, daß Kriminelle leichter eingebürgert werdenkönnen, wer sich dazu hinreißen läßt, diese Kampagnemit der Parole zu führen, daß die Gefahren durch einmodernes Staatsangehörigkeitsrecht bzw. den Dop-pelpaß größer seien als in den siebziger Jahren die Ge-fahr durch die RAF, wer Angstmache betreibt mit derParole, daß Menschen ausländischer Herkunft dann auchdas Wahlrecht haben und das Ausland die Interessender Deutschen beeinflussen könnte, wer den Fami-liennachzug prophezeit und damit Angst erzeugen will,der arbeitet Rechtsextremisten ganz offensichtlich indie Arme, der fördert ein Bewußtsein, das Ausländer-feindlichkeit und Rassismus schürt und den rassisti-schen Mob, wie wir gesehen haben, auf die Straßebringt.
Meine Damen und Herren, die Kampagne derCDU/CSU ist in der Tat, wie wir eben auch von HerrnWesterwelle gehört haben, politisch motiviert. Mankann der CDU/CSU nicht ernsthaft abnehmen, daß siedie Integration will, wie sie es in Teilen ihrer Anträgewieder zum Ausdruck gebracht hat. Sie knüpft vielmehrganz gezielt und bewußt an der Unsicherheit, an demUnwissen der Menschen an, um demagogisch gegen einRecht der Menschen einzutreten, die hier seit Jahren le-ben und die eigentlich längst die gleichen Rechte habenmüßten wie wir Deutschen.Ich bin aber auch der Meinung, daß Frau Müller essich hier zu einfach macht, wenn sie nur auf die Bundes-Dr. Guido Westerwelle
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2296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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ratsmehrheit hinweist. Ich möchte daran erinnern, daßgerade die SPD und die Grünen es versäumt haben, derKampagne der Unionspartein massiv etwas entgegenzu-setzen. Sie sind meines Erachtens sehr schnell einge-knickt. Sie haben ihren Entwurf nach der Hessenwahlsehr schnell zurückgezogen. Das liegt meines Erachtensnicht nur an der neuen Mehrheit; denn wer sich die Um-fragen anschaut, der weiß, daß es eben keine großeMehrheit in der Bevölkerung gegen den Doppelpaß bzw.gegen ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht gibt, derweiß, daß viele Menschen der doppelten Staatsbürger-schaft nur deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil siezuwenig über diesen Paß wissen. Wenn von der Gegen-seite, einschließlich der linken Opposition, eine Kampa-gne geführt worden wäre, dann wären wir heute mit Si-cherheit einen Schritt weiter.Wir haben heute einige Redner gehört, die den jetzi-gen Entwurf, das Optionsmodell, schöngeredet haben.Ich möchte hier eine Aussage des Verbandes binationa-ler Familien und Partnerschaften zitieren: Der Bergkreißte und gebar eine Maus.
– Doch, ich möchte einiges mehr. Dazu werde ich nochkommen.Ich meine, daß diese Reform es nach diesen vielenJahren Debatten nicht wirklich verdient, Reform genanntzu werden, auch wenn sie zweifellos – darauf werde ichspäter noch kommen – einige Verbesserungen beinhal-tet. Wichtig ist mir, zunächst klarzustellen: Sie hat nichteinmal den Standard der westeuropäischen Länder er-reicht. Das finde ich mehr als bedauerlich.Wenn wir in den letzten Wochen eine Bundesregie-rung erlebt haben, die meines Erachtens kraftlos ist undden politischen Willen nicht hatte, einer ausländerfeind-lichen Kampagne entgegenzutreten, dann muß man sichdoch allen Ernstes fragen: Wie kann es eigentlich ange-hen – diese Frage werde ich besonders an die Grünenrichten –, daß Sie heute einen Entwurf eingebracht ha-ben, der eigentlich ein Kompromißentwurf an dieAdresse der CDU ist?Wer die Geschichte der Debatten über das Staatsan-gehörigkeitsrecht in diesem Hause verfolgt hat, derweiß: Herr Westwelle, Sie haben unrecht. Die F.D.P. hat1993 die Mehrstaatigkeit, den Doppelpaß, gefordert undhat schon 1994 in den Koalititionsvereinbarungen for-muliert, daß eine Schnupperstaatsbürgerschaft mögli-cherweise denkbar wäre. Das ist natürlich nicht umge-setzt worden. Sie machen jetzt im Grunde genommenein Kompromißangebot an die CDU, obwohl Sie wissen,sie wird diesem Entwurf, diesem Optionsmodell nichtzustimmen.In diesem Zusammenhang möchte ich den Vorsitzen-den der türkischen Gemeinde, Professor Keskin, zitie-ren. Er schreibt:Mit welcher Leichtfertigkeit die SPD mit der eige-nen Glaubwürdigkeit umgeht, ist kaum zu glauben.Da der Entwurf überdies für den KoalitionspartnerBündnis 90/Die Grünen inakzeptabel sein dürfte,scheut man in einigen Kreisen der SPD offenbarnicht einmal vor einer Gefährdung der Regierungs-koalition zurück.Meine Damen und Herren, ich fand es nicht wenigdemütigend, daß die SPD und die F.D.P. als erste be-kanntgeben, daß man sich über das Optionsmodell geei-nigt habe. Auch die Grünen haben meines Wissens ausden Medien erfahren müssen, was jetzt der neue Entwurfsein soll.
Es wundert mich, ehrlich gesagt nicht, wenn Herr Trittinhier das rotgrüne Modell als tot, als gescheitert erklärt.
Man muß einfach sagen: Wo er recht hat, hat er recht.Das vermisse ich hier ganz eindeutig: Die Grünen habennicht einmal mehr zu ihren Positionen gestanden. Siehaben nicht einmal das i-Tüpfelchen in diesem Entwurfbewegt. Das muß wohl in aller Deutlichkeit gesagt wer-den.
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu demEntwurf. Für viele Menschen – das habe ich schon an-gedeutet – wird es in diesem Land keinen Doppelpaßgeben. Für viele Menschen ist das eine große Enttäu-schung. Für viele Menschen ist es längst so, daßDeutschland ein Einwanderungsland ist. Die Erleich-terungen der Einbürgerung wären in der Tat wichtigerdenn je gewesen, um endlich dem Klima in diesemLand, was Rassismus und Ausländerfeindlichkeit an-geht, etwas entgegenzusetzen.Zweifellos, in diesem Entwurf gibt es einige positiveAnsätze. Ich nenne hier die Fristen, ich nenne diestückweise Abkehr vom Abstammungsrecht, also hinzum Jus soli, was meiner Meinung nach aber auch nurhalbherzig passiert. Ich nenne die Tatsache, daß es inZukunft möglich sein wird, schneller und leichter Frau-en und Kinder oder Männer und Kinder einzubürgern,die einen deutschen Partner bzw. eine deutsche Partneringeheiratet haben.Das aber kann es doch nicht gewesen sein, liebeKolleginnen und Kollegen! Daß auf der anderen SeiteVerschlechterungen zur Kenntnis genommen werdenmüssen bzw. höhere Hürden in das Gesetz eingebautwerden, das kann und darf nicht übersehen werden. Ichnenne die Tatsache, daß man jetzt die deutsche Spracheausreichend beherrschen muß. Ich frage Sie, was ist aus-reichend? Wer bestimmt, was ausreichend ist? Auch werangeblich seine Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfesituati-on selbst verschuldet hat, wird nicht eingebürgert. Eben-falls nicht ganz unwichtig ist, daß Sie einen neuen Para-graphen einbringen, in dem der Schwur auf die FDGOenthalten ist. Damit schaffen Sie meines Erachtens einEinfallstor für Gesinnungsschnüffelei in größerem Aus-maß.Ulla Jelpke
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Von Ihnen wird der Entwurf als gelungen gefeiert,obwohl hier anzumerken ist, daß er verfassungsrechtli-che Mängel hat, die mit Sicherheit Folgen haben wer-den. In vielen Passagen weist der Entwurf Ungereimt-heiten auf. Er schafft meines Erachtens auch keine Er-leichterung in bezug auf behördliche Willkür. Erst ge-stern konnte man in der Zeitung einen langen Berichtüber eine Frau lesen, die eingebürgert wurde. Aus die-sem Artikel wurde deutlich, welche bürokratischen Hür-den – es ist beinahe ein Spießrutenlaufen – ein Menschin diesem Lande überwinden muß, wenn er eingebürgertwerden will.Verfassungsrechtlich bedenklich ist beispielsweise,daß binationale Kinder, die hier geboren sind, den Dop-pelpaß behalten dürfen, während Kinder mit Eltern aus-ländischer Herkunft sich mit 18 Jahren für eine Staatsbür-gerschaft entscheiden müssen. Wie wollen Sie das mitdem Gleichheitsgrundsatz in Übereinstimmung bringen?Und was soll nach Auffassung der Bundesregierunggeschehen, wenn jemand seinen Paß nicht freiwillig ab-gibt? Ich denke zum Beispiel daran, daß eine junge Fraumit 21 Jahren für einen Landtag kandidiert und sichnoch nicht entschieden hat, welche Staatsbürgerschaftsie annehmen will. Was passiert dann? Muß sie ihrMandat abgeben? Wird sie zwangseingebürgert oderzwangsausgebürgert?
All diese Fragen sind bisher nicht beantwortet worden.Ungereimtheiten gibt es aber auch in anderen Berei-chen. Mit welcher Berechtigung soll es eine Übergangs-regelung für Kinder bis zu zehn Jahren geben? Warumnicht auch für Jugendliche im Alter von 18 Jahren?
– Ich weiß, daß es rückwirkend gemeint ist. Trotzdem istes sehr willkürlich, es erst einmal auf zehn Jahre festzu-legen. Das ist in diesem Zusammenhang doch völlig un-begründet. Sie könnten auch 14 Jahre sagen. ErklärenSie uns einmal, warum nur ein Teil der jungen Men-schen, die hier geboren sind, rückwirkend die doppelteStaatsangehörigkeit annehmen darf!Auch jetzt gibt es schon vielfach eine unerträglicheWillkür in der Behördenpraxis. In diesem Zusammen-hang haben Sie den Härtefall in Ihren Entwurf aufge-nommen. Ich erinnere hier an die Debatte um den § 19des Ausländergesetzes und frage: Was bedeutet „Härte-fall“ in Bayern, wenn eine Frau von ihrem Ehemann ge-schlagen wird und kein eigenständiges Aufenthaltsrechthat? Muß sie halbtot geprügelt sein, oder reicht eineVergewaltigung aus? All dies ist im Gesetz nicht gere-gelt worden; der Härtefall ist allgemein und nicht präzi-se formuliert. Vor allen Dingen ist er zu eng und nichtgroßzügig genug gefaßt, was wiederum dazu führenwird, daß es in den verschiedenen Ländern oder auch beieinzelnen Behörden sehr unterschiedliche Handhabun-gen geben wird.Meine Damen und Herren, besonders ärgerlich istaber die Ignoranz der Bundesregierung gegenüberFlüchtlingen und Menschen ohne festen Aufenthalts-status. Selbst der UNHCR ist der Meinung, daß es kei-nen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischenverschiedenen Flüchtlingsgruppen gibt, von denen dieeinen die Chance bekommen, sich einbürgern zu lassen,die anderen aber nicht, einmal ganz abgesehen davon,daß Sie auch hier den Versuch machen könnten, Men-schen, die seit vielen Jahren illegal in der Bundesrepu-blik Deutschland leben, aus der Illegalität herauszuho-len, indem Sie ihnen die Einbürgerung anbieten.Was den Punkt der Straffälligkeit angeht, so glaubeich – –
Frau Kollegin, ich
muß Sie darauf hinweisen: Die Uhr leuchtet schon seit
einiger Zeit. Sie müssen jetzt zum Abschluß kommen.
Okay. Dann komme ich zu mei-
nem letzten Punkt. –
Ein Punkt ist mir ganz besonders wichtig; den möchte
ich Ihnen hier heute noch sagen. Ich finde es falsch, daß
wir uns einzig und allein auf die Frage des Staatsbürger-
schaftsrechts beziehen, wenn wir die Debatte führen,
wie Menschen integriert werden können. Es besteht die
Gefahr – Sie haben selber seit 1993 heftig daran mitge-
wirkt, vor allen Dingen die rechte Seite in diesem
Haus –, daß Rechte für Menschen ausländischer Her-
kunft abgebaut werden. Wenn wirklich gleiche Rechte
für Menschen existieren würden, die hier ihren Lebens-
mittelpunkt haben, dann – Herr Bosbach, da würde ich
Ihnen recht geben – würden wahrscheinlich viele gar
nicht die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben und bei
ihrer Staatsbürgerschaft bleiben.
Diese Debatte muß geführt werden und darf nicht
vernachlässigt werden. Denn nur so ist meiner Meinung
nach ein wirklich gleichberechtigtes Leben in diesem
Land möglich, ist der Kampf gegen Rassismus und
Ausländerfeindlichkeit zu führen und tatsächlich ein
Stück Frieden in dieses Land einzubringen.
Ich danken Ihnen.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Sebastian Edathy.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Heute ist ein bedeutsames, einwichtiges Datum. Denn was heute Gegenstand der Be-ratung hier im Plenum des Deutschen Bundestages ist,was anschließend in den zuständigen Ausschüssendiskutiert wird und worüber wir und der Bundesrat vor-aussichtlich im Mai dieses Jahres abschließend befinden,ist ein Reformvorhaben, dessen Bedeutung weit jenseitsUlla Jelpke
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der Tagespolitik liegt, ja dessen volle Bedeutung erstim Abstand von vielen Jahren zum Tragen kommenwird.
Der vorliegende Gesetzentwurf von Kolleginnen undKollegen aus den Fraktionen der SPD, der Grünen undder F.D.P. wird zu einer zeitgemäßen Veränderung desStaatsbürgerschaftsrechts führen, die längst überfällig istund die zumindest auf mittlere, ganz bestimmt aber auflange Sicht auch zu einer Veränderung in den Köpfen,zu einer Veränderung im staatsbürgerlichen Selbstver-ständnis führen wird.
Nach einigen Beiträgen hier – ich denke da insbesonderean den Kollegen Zeitlmann – kann ich nur feststellen:Diese Veränderung in den Köpfen ist dringend nötig.
Ich bin mir ziemlich sicher: Es wird in einigen Jahren zueinigem Kopfschütteln führen, wenn man das Protokollvon heute noch einmal daraufhin durchliest, wie klein-kariert man war, wie man in vielen Beiträgen nicht inder Lage war, über den Tellerrand der Tagespolitik hin-auszublicken. Ich glaube, es geht wirklich um etwas Hi-storisches, was wir gemeinsam vorhaben und auch ge-meinsam tragen sollten.Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch dieHinzufügung des Grundsatzes, daß, wer hier geborenwird und aufwächst, die deutsche Staatsbürgerschaft mitder Geburt erhält, wird eine historische Entscheidungsein, die zeitgemäß ist und die wir dringend brauchen.Es ist höchste Zeit, daß wir die Grundlage für den Er-werb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit für dieErlangung demokratischer Teilhabechancen in unsererGesellschaft verbreitern.Als Demokraten sind wir alle, unabhängig vom Par-teibuch, gefordert, die gesellschaftliche Realität an-zuerkennen und aus ihr ohne jede ideologische Be-frachtung die richtigen Schlüsse für unser Handeln zuziehen. Dazu gehört festzustellen: Ja, es hat Zuwande-rung nach Deutschland in erheblichem Maße stattge-funden, und diese Zuwanderung hatte und hat Aus-wirkungen auf die Zusammensetzung der hier lebendenBevölkerung.Wir wissen: Von den rund 7 Millionen Ausländerin-nen und Ausländern in Deutschland hat die Mehrheithier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Vor diesemHintergrund müssen wir als Träger politischer Verant-wortung handeln, indem wir mit Blick zumindest auf diekommenden Jahrzehnte die Weichen dafür stellen, daßkein zu großer Teil der dauerhaft hier lebenden Bevölke-rung nicht zum Staatsvolk gehört.
Das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwe-sens hängt in einem erheblichen Maße davon ab, daß dieihm angehörenden Menschen hinsichtlich ihrer Pflichtenund hinsichtlich ihrer Rechte gleichgestellt sind. Das istkeine Frage der Parteipolitik, sondern das ist die Frage,wie ernst wir den Demokratieanspruch nehmen, undzwar im Interesse aller Menschen, die in diesem Landleben.
Es geht nämlich bei genauer Betrachtung nicht allein umdie, die von einer Gesetzesänderung unmittelbar betrof-fen sein werden, sondern es geht um die Gesamtheit derBevölkerung, deren Zusammenleben es zu verbesserngilt.Klar ist dabei – wir als Sozialdemokraten haben auchnie etwas anders behauptet –, daß Integration ein langerWeg ist und eine Gesetzesänderung nur einen Beitragdazu leisten kann, daß manche Steine, die sich auf die-sem Weg befinden, beiseite geräumt werden können.Aber wenn wir dafür sorgen, daß hier geborene und her-anwachsende Kinder von rechtmäßig hier lebendenAusländern mit der Geburt die deutsche Staatsbürger-schaft erhalten, dann räumen wir einen großen Stein aufdiesem Weg zu einer besseren Integration beiseite, unddafür ist es höchste Zeit.
Es ist völlig widersinnig, junge Menschen, deren Le-bensmittelpunkt in diesem Land liegt – ein Land, dasübrigens umgekehrt auch diese jungen Menschenbraucht –, als Ausländer zu behandeln.
Sie kamen nie aus dem Ausland; sie sind im Grunde In-länder ohne deutschen Paß. Dieser Unsinn wird – dafürwollen wir mit unserem Gesetzentwurf Sorge tragen –bald ein Ende finden.
Wir werden diesen Kindern und Jugendlichen signalisie-ren und deutlich machen, daß wir der Meinung sind, daßsie zu uns gehören und uns willkommen sind.In diese Richtung gehen auch unsere Vorschläge füreine Verkürzung der Einbürgerungsfristen für Erwach-sene. Ich will an dieser Stelle keinen Hehl aus folgendemmachen: Ich hätte mir gewünscht, wir könnten ein paarSchritte mehr machen, gewissermaßen ein paar Steinemehr aus dem Weg räumen.
Ich hätte mir gewünscht, wir könnten gerade gegenüberdenen, die vor Jahrzehnten zu uns gekommen sind unddie, wie auch ihre Kinder und ihre Enkel, zu unserer Ge-sellschaft gehören, ein noch deutlicheres Zeichen geben,daß wir sie nicht nur als Nachbarn unter uns haben wol-len, sondern auch als gleichberechtigte Mitbürger.
Sebastian Edathy
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In dieser Hinsicht – das muß man so feststellen – wardas, was wir in den Koalitionsvereinbarungen festge-schrieben haben, weitgehender und schlüssiger. Ich er-achte aber gleichwohl das, was sowohl wir nach den an-stehenden Beratungen mit voraussichtlich breiter Mehr-heit hier im Bundestag als auch der Bundesrat verab-schieden werden, als alles andere als gering. DieserGruppengesetzentwurf ist ein echter Fortschritt. Er gehtin die richtige Richtung. Wir beenden damit nicht zuletztden jahrelangen Stillstand in diesem wichtigen Politik-bereich.Ich möchte an dieser Stelle dem deutschen Innenmi-nister ausdrücklich für die Übernahme und die Meiste-rung der nicht einfachen Aufgabe danken, hier die nöti-ge Übereinkunft herbeizuführen.
Ich denke übrigens, es ist nicht entscheidend, wer vonden Initiatoren des Gesetzentwurfes im einzelnen wel-chen konkreten Anteil am Zustandekommen des Ent-wurfes hatte. Für entscheidend halte ich vielmehr, daß esgelungen ist, einen Gesetzentwurf zu formulieren, dergeeignet ist, die Gestaltung des Zusammenlebens derMenschen in diesem Land zu verbessern.Ich bin in diesen Bundestag nicht eingezogen, umGesetze zu beschließen, damit Gesetze beschlossen wer-den, sondern um Gesetze zu beschließen, damit wir diekonkrete Lebenswirklichkeit in einem positiven Sinnemitgestalten können. Das sollten wir auch tun.
Nun liegt uns heute neben dem Gesetzentwurf vonAbgeordneten aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen undF.D.P. auch ein Gesetzentwurf der Union vor, nebstzwei Anträgen. Einer davon trägt den Titel „Integrationund Toleranz“.
Meine Damen und Herren von CDU und CSU, maßgeb-liche Vertreter Ihrer beiden Parteien haben auch in denletzten Tagen erklärt, die Unterschriftenkampagnegegen die generelle Hinnahme des Entstehens vonMehrstaatigkeit solle fortgesetzt werden.
Es hätte meines Erachtens einem Mindestmaß anAnstand und Redlichkeit entsprochen, wenn Sie spä-testens zum heutigen Tag, an dem wir über den Ge-setzentwurf der Gruppe beraten, diese Kampagne be-endet hätten, weil sie schlichtweg gegenstandslos ge-worden ist.
Sie von der Union lassen nach wie vor Unterschriftenunter einen Text setzen, der folgenden Schlußsatz hat:Deshalb sind wir gegen die generelle Zulassung derdoppelten Staatsangehörigkeit.
Das steht nicht zur Debatte. Hier liegt keine Initiativevor, die so etwas fordert. Das muß man einmal zurKenntnis nehmen, auch wenn es schwerfallen mag.
– Herr Marschewski, es ist ja gut.Wenn Sie gleichwohl an einer solch offenkundiggegenstandslosen Unterschriftensammlung festhalten,dann offenbaren Sie damit, daß es Ihnen entgegen allenBeteuerungen nicht um die Sache oder sogar um Inte-gration und Toleranz geht, wie es in Ihrem Antrag heißt,sondern um wahlstrategische Interessen.
Herr Kollege Zeitlmann – Sie schreien gerade dazwi-schen –, Sie haben zu Beginn dieses Jahres ein Papiererstellt, in dem es unter anderem heißt – ich zitiere –:Die rotgrünen Pläne zum Staatsbürgerschaftsrecht be-reiten den Nährboden für Volksverhetzung.
Herr Kollege Zeitlmann, nach der Lektüre dieses Satzes– das war im Januar dieses Jahres – bin ich eigentlichnicht davon ausgegangen, daß das, was Sie hier formu-liert haben, eine Art Selbstaufforderung an die Unionsein sollte.
Ihr Beitrag von heute morgen läßt mich daran zweifeln,ob das, was Sie dort geschrieben haben, nicht doch eineinterne Signalwirkung entfaltet hat.Sie haben in den vergangenen Wochen und Monatenfür das Linsengericht eines vermeintlichen parteipoliti-schen Vorteils einen Konsens aufgekündigt, der darinbestand, zum Beispiel ein so komplexes Thema wie dieFortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts angemes-sen und mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität zu be-handeln.Ich bin immer davon ausgegangen, daß es unabhän-gig von der Parteizugehörigkeit so etwas wie
ein gemeinsames Selbstverständnis aller Demokratengibt, daß es eine unstrittige Aufgabe ist, Ängste undVorbehalte in der Bevölkerung ernst zu nehmen, zu be-rücksichtigen und dort, wo sie unbegründet sind, zu ent-kräften. Aber Sie, meine Damen und Herren von derSebastian Edathy
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Union, haben Ängste und Vorbehalte bei den Bürgerngeschürt, indem Sie das Thema unzulässig verzerrt bzw.verfälscht haben.
Dann haben Sie die Menschen, nachdem Sie derenÄngste geweckt und instrumentalisiert haben, mit ihrenÄngsten allein gelassen. Damit haben Sie dem innerenFrieden dieses Landes und dem gesellschaftlichen Klimabewußt und willentlich Schaden zugefügt.
Das ist nach meinem Dafürhalten einer demokratischenPartei völlig unwürdig.Herr Rüttgers, ich habe gesehen, daß Sie heutenoch hier sprechen werden: Beenden Sie Ihre Taktik desVerhetzens und Verletzens der Menschen in diesemLand!
Stellen Sie hier und heute klar, daß Ihre Unterschrif-tenaktion sofort beendet wird!
Der von Ihnen an diesem Tag kurzfristig vorgelegteGesetzentwurf erfüllt nicht zuletzt die Funktion einesAlibis. Sie tun so, als seien Sie in dem heute behandel-ten Feld politikfähig. Sie sind es nicht. Sie sind allenfallskampagnefähig und mehr nicht. Nach jahrelanger Untä-tigkeit bzw. Verweigerungshaltung, was die Fortent-wicklung des Staatsbürgerschaftsrechts betrifft, bleibenIhre jetzt gemachten Vorschläge hinter dem, was erfor-derlich ist, weit zurück. Die Zusicherung des Erwerbsder deutschen Staatsbürgerschaft für Kinder von Aus-ländern ist völlig ungenügend.Ich möchte Sie ermuntern, die Schlußabstimmungfreizugeben. – Mir wird signalisiert, daß ich zum Endekommen muß. Herr Präsident, ich komme zu den letztenwenigen Absätzen.
– Es sind ganz kurze Absätze.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Mona-ten nimmt das deutsche Parlament seine Arbeit in Berlinauf. Noch vorher, voraussichtlich im Mai, werden Bun-destag und Bundesrat über die Reform des Staatsbürger-schaftsrechts entscheiden. Im Mai werden wir auch aufdas 50jährige Bestehen des Grundgesetzes zurück-blicken, dessen Bedeutung für die Teilhabe der Bürge-rinnen und Bürger am demokratischen Leben völlig un-strittig ist. Das werden wir entsprechend würdigen, unddas ist gut so.Aber wir werden im Mai nicht nur die Gelegenheithaben, über das Grundgesetz zu sprechen. Wir werdenim Mai hier in diesem Haus auch Gelegenheit haben, imSinne des Grundgesetzes zu handeln, indem wir ein auf-geklärtes, ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht be-schließen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ausweislich desProtokolls hat die Kollegin Renate Rennebach nach derRede des Kollegen Zeitlmann einen Zwischenruf ge-macht, der unparlamentarisch ist und den ich rügen muß.Das gibt mir Gelegenheit, darum zu bitten, daß wiruns – das ist an alle Seiten des Hauses gerichtet – in denFormulierungen bezüglich dieses wichtigen und sensi-blen Themas ein wenig mäßigen.Ich gebe nunmehr dem Innenminister des Landes Ba-den-Württemberg, Dr. Thomas Schäuble, das Wort.
Lassen Sie mich zu Beginn feststellen: Die meistenausländischen Menschen – jedenfalls sehr viele –, vondenen bisher in dieser Debatte die Rede war, habenschon heute Anspruch darauf, die deutsche Staatsange-hörigkeit zu erwerben, wenn sie es nur wollten und da-bei die ererbte Staatsangehörigkeit aufgeben würden.
Dies muß man immer wieder sagen, damit hier nicht einkünstliches Mißverständnis aufgebaut wird.
Nun finde ich den Grundgedanken der F.D.P. imPrinzip sympathisch: Für eine gewisse Zeit wäre dieMehrstaatigkeit nicht schlecht, um die jungen Menschenemotional stärker für Deutschland einzunehmen. Aberdas Problem ist: Es kann nicht funktionieren. Deshalbmuß man schon zwischen den Motiven der F.D.P. undden Motiven von Rotgrün unterscheiden.
Bei aller Kritik an dieser Bundesregierung muß manihr eines zugeben: Sie bleibt sich – jedenfalls war das inder kurzen Zeit bisher der Fall – selbst treu; für jedeswichtige Vorhaben braucht sie etliche Anläufe. Im Janu-ar gab es den Entwurf „Schily 1“, vor wenigen Wochenkam „Schily 2“, und vor wenigen Tagen haben Sie denheute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf vorge-legt. Eine Steigerung im Sinne einer grundlegendenBesserung ist nicht zu erkennen. Der entscheidendePunkt ist: Rotgrün – ich spreche nicht von der F.D.P. –will nach wie vor die generelle doppelte Staatsangehö-rigkeit auf Dauer. Das kam expressis verbis vorhin auchim Beitrag der Abgeordneten Müller zum Ausdruck.
Der wesentliche Punkt meines Vorwurfes ist: Rotgrünwill nach wie vor die Bevölkerung täuschen, wenn Siesagen, Sie seien zu einem Kompromiß – welcher ArtSebastian Edathy
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auch immer und warum auch immer – bereit. Dasstimmt nicht. Denn daß Sie andere Absichten haben,wird daran deutlich, daß schon heute ganz unverhohlengesagt wird, der jetzige Kompromiß sei natürlich nichtder letzte Schritt.
Noch wichtiger ist für mich persönlich die Tatsache –darin kommt die von Rotgrün beabsichtigte Tarnung, dieTäuschung noch deutlicher zum Ausdruck –,
daß Sie wissen müßten: Der jetzt vorliegende Gesetz-entwurf, dieses Optionsmodell, wird eben nicht nur zueiner zeitlich beschränkten, sondern zu einer dauerhaftendoppelten Statsangehörigkeit führen. Das ist der Kernmeines Vorwurfs.
Warum ist das so? – Rotgrün hat bisher selbst immerdie verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zeitlicheBeschränkung der doppelten, sprich: gegen den Verlustder deutschen Staatsangehörigkeit herausgestellt.
Jetzt plötzlich werden die Bedenken – und die sind ebennicht ausgeräumt – verschwiegen.
Angesichts des Beitrages der Abgeordneten Müller frageich mich: Was sind die Grünen noch alles zu tun bereit,um an der Regierung bleiben zu können?
Um diese vorgetäuschte Kompromißbereitschaft letzt-lich nicht auf ihre Echtheit kritisch hinterfragen zu müs-sen, gehen Sie plötzlich auf wundersame Weise selbstvon der Verfassungsmäßigkeit des Optionsmodells aus,entgegen Ihrer bisherigen Aussage.
– Moment, Sie verwechseln eines: Ich habe damit dieFrage der verfassungsrechtlichen Problematik überhauptnicht angesprochen, sondern nur gesagt, daß Rotgrünbisher der Auffassung war, die Regelung sei verfas-sungswidrig, und jetzt aus sehr durchsichtigen Gründenplötzlich die Meinung geändert hat. Das war meine Aus-sage.
Darüber hinaus wissen Sie ganz genau – falls Sie esnicht wissen, lassen Sie es sich von einem Mann sagen,der als Landesminister für die Verwaltung Verantwor-tung trägt –: Dieses Optionsmodell muß aus verwal-tungspraktischen Gründen scheitern, wenn Sie nicht, umes verfassungsrechtlich wirklich wasserdicht zu machen,einen riesigen Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen.Sie müssen nämlich mit großem Aufwand feststellen,welche der jungen Menschen, die 18 Jahre sind, op-tionspflichtig sind. Sie müssen bei den Optionspflich-tigen nachfragen. Sie müssen die Erklärungen werten.Dann werden Anträge auf Beibehaltung der doppeltenStaatsangehörigkeit kommen, und zwar in großer Zahl.Das wird erneut Verwaltungsverfahren auslösen. AmSchluß werden wir eine Zahl von verwaltungsgericht-lichen Verfahren bekommen, die mindestens so groß istwie die vor der Grundgesetzänderung im Zusammen-hang mit dem Asylrecht.
Der Verwaltungsaufwand wird also exorbitant sein.Ich stelle mir das entsprechende Gesetzblatt vor. Dasteht dann unter Buchstabe D: Kosten: keine. – Aber dieLänder werden gezwungen sein, einen großen bürokrati-schen Apparat aufzubauen, um die mit diesem Gesetzverbundenen Folgen für die Verwaltung zu bewältigen.Ich habe mir nicht vorgestellt, die Arbeitslosigkeit da-durch zu verringern, daß wir immer noch größere Büro-kratien aufbauen.
Im übrigen: Es glaubt wohl niemand, man könneHunderttausenden von jungen Menschen nach mehr als20 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit wegnehmen,wenn sie nicht auf ihre ererbte verzichten. Es gibt zahl-lose Beispiele dafür – viele sind in der Öffentlichkeitauch schon genannt worden –, zu welchen innenpoliti-schen Verwerfungen dies zwangsläufig führen würde.Wir sollten sie uns wirklich ersparen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, wenn es wirklich so käme, daß einem die deut-sche Staatsangehörigkeit nach mehr als 20 Jahren weg-genommen werden könnte, dann muß ich sagen: Inte-grationspolitisch wäre dies wirklich die größte Absur-dität. Das muß man auch feststellen.
Ich gehe davon aus: Dies alles ist nicht nur uns be-kannt; das ist auch Ihnen bestens bekannt. Daher meinharter Vorwurf: Es geht Ihnen nicht um einen Kompro-miß; vielmehr wollen Sie die besorgte Bevölkerung miteinem Placebo beruhigen. Das ist die Wahrheit.
Dabei setzen Sie darauf, daß die Folgen, nämlich diedauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit, erst in vielenJahren – frühestens in 13 Jahren, bei denjenigen, die erstnoch geboren werden, frühestens in 23 Jahren – sichtbarwerden und daß sich nach so langer Zeit niemand mehrgegen die bekannte normative Kraft des Faktischen weh-ren kann. Bei der Art und Weise, in der Sie vorgehen,vom Entwurf Schily 1 über Schily 2 bis Schily 3 – ichweiß nicht, wie der dritte Entwurf heißt –, drängt sicheinem das bekannte Zitat von William Shakespeare aus„Hamlet“ förmlich auf: Ist es schon Wahnsinn, hat esMinister Dr. Thomas Schäuble
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doch Methode. Das ist wahr, meine sehr verehrten Da-men und Herren.
Weil das alles nicht ehrlich gemeint ist, müssen wirunsere Informations- und Unterschriftenaktion wei-terführen,
um die Bevölkerung vor solchen Roßtäuschereien zubewahren.
Uns war von Anfang an klar, daß wir mit den üblichenArgumenten der sogenannten „political correctness“usw. zu schlechten Menschen gemacht werden sollen.Ich sage Ihnen folgendes – auch nach den Beiträgen,die ich heute gehört habe –: Wir hätten unsere Pflichtnicht wahrgenommen, wenn wir der Bevölkerung ausFeigheit nicht die Wahrheit gesagt hätten. Das ist derPunkt.
Wenn Sie uns wegen der Unterschriftenaktion angrei-fen, dann zeigen Sie zum einen, daß Sie Angst davorhaben, und zum anderen verwechseln Sie Ursache mitWirkung, denn Sie mit Ihren Vorschlägen, die auf einenIrrweg führen, sind die Ursache für diese Situation.
Ich muß, weil das Thema Straftäter die Diskussionetwas geprägt hat, einige Sätze dazu sagen. Eines mußdabei ganz deutlich gesagt werden: Wenn die deutscheStaatsangehörigkeit durch Geburt erworben wird, dannkönnen junge Menschen oder auch Erwachsene, die diedeutsche Staatsangehörigkeit auf diesem Weg erworbenhaben, nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben wer-den. Man kann es so wollen, aber man darf diesen Um-stand nicht verschweigen.
Sie haben vorhin die Statistik ein bißchen hin- undhergewendet. Ich kann es Ihnen ganz genau sagen,denn ich bin permanent damit befaßt. Zu Recht ist ge-sagt worden – auch Kollege Zeitlmann hat es mehr-fach betont –, die ausländische Mitbevölkerung, die seitvielen Jahren da ist, die sogenannten Gastarbeiter sindnicht in höherem Maße kriminalitätsbelastet als dieübrige Bevölkerung. Das ist schlicht und ergreifendrichtig.
Ich glaube, sie sind sogar etwas geringfügiger krimina-litätsbelastet.
Richtig ist aber auch, daß die jungen Ausländer in er-heblich stärkerem Maße kriminalitätsbelastet sind als diejungen Deutschen. Es geht nicht nur darum, daß jemandvielleicht auch auf Grund Integrationsschwierigkeiteneinmal zum Sünder wird und daß sich dann dies wiederirgendwo auslebt.Wir haben in Baden-Württemberg – ich empfehle,das in allen Bundesländern zu tun – vor wenigen Wo-chen kreisweit einmal die jugendlichen Intensivstraftä-ter erfaßt, also diejenigen, die mehr als 20 Straftaten be-gangen haben. Da beträgt – das muß man schon deutlichsagen – der Ausländeranteil allerdings über 40 Prozent.
Sie haben vorhin die jungen Leute bei der PKK ange-sprochen. Ich sehe es für richtig an, daß man sich be-müht, sie aus diesem Getto herauszuholen. Aber mankann mir nicht erzählen, daß diese jungen fanatisiertenMenschen bei den gewalttätigen Demonstrationen derPKK nicht mitgemacht hätten, wenn sie die deutscheStaatsangehörigkeit gehabt hätten. Das zu glauben istnun völlig naiv.
Bei jungen Menschen ist die Ausweisung und erst rechtdie Abschiebung die Ultima ratio, die auch nur in weni-gen Ausnahmefällen überhaupt Platz greifen kann. Abereines muß klar sein: Ausweisung und Abschiebung wä-ren bei dieser Gruppe dann kein Thema mehr.Beim Thema „Erwerb der Staatsangehörigkeit durchGeburt“ möchte ich noch einen anderen Punkt anspre-chen. Wenn ich es richtig sehe – ich habe den Entwurferst vor wenigen Tagen bekommen; diese kurze Zeitmacht es nicht gerade einfach –, können die jungenLeute, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ge-burt erwerben, ins Ausland oder zum Beispiel in dieHeimat ihrer Eltern gehen und ohne deutsche Sprach-und Schulkenntnisse usw. irgendwann jedenfalls biszum 18. oder 23. Lebensjahr wieder nach Deutschlandzurückkehren und die deutsche Staatsangehörigkeit,wenn sie sich für sie entscheiden und dies erfolgreichist, behalten. Integrationspolitisch halte ich dies füreinen völligen Irrweg.
– Vielleicht habe ich Ihren Gesetzentwurf gründlichergelesen als Sie.
Das alles ist nicht die Art Integration, die wir uns vor-stellen.Demgegenüber – das müssen Sie sich einfach deut-lich sagen lassen – vermeidet die von uns vorgeschlage-ne Einbürgerungszusicherung alle diese Nachteile desOptionsmodells, ohne daß sie für die jungen Leute ihrer-seits mit irgendeinem Nachteil verbunden wäre, mitAusnahme des Wahlrechts, aber das haben sie vor demMinister Dr. Thomas Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2303
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18. Lebensjahr sowieso nicht. Insofern gibt es keinenvernünftigen Grund, gegen diese Einbürgerungszusiche-rung zu sein.Abgesehen von dem Irrglauben an das Optionsmodellenthält der Gesetzentwurf von Rotgrün und der F.D.P.überhaupt nichts zum Thema der tatsächlichen Integrati-on. Demgegenüber gehen wir hinsichtlich der Integrati-on der jungen ausländischen Mitbürgerinnen und Mit-bürger von einem klaren Leitsatz aus. Eines muß klarge-stellt sein: Sie müssen gefördert werden; aber wir dürfennicht nur fördern, wir müssen auch fordern.
Vielleicht wäre es gar keine schlechte Überlegung fürdieses Hohe Haus, einmal die Integrationsarbeit der16 Bundesländer zu vergleichen.
Soweit ich es übersehen kann, geschieht bei dem ThemaIntegration schon viel. Zugegebenermaßen kann mandas alles – Bildungsangebot, Sprachkenntnisse, Schule,Ausbildung, gesellschaftliche Integration – noch stei-gern.
Bevor Sie einfach hineinschreien, bitte ich Sie, sich einklein wenig sachkundig zu machen. Baden-Württemberghat zum Beispiel die Mittel für die Sprachförderung inganz erheblichem Umfang verstärkt, weil wir der Mei-nung sind, daß die deutsche Sprache das A und O für dieIntegration der jungen Menschen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Herr Minister, darf ich Sie fra-gen, ob Ihnen bekannt ist, daß in Baden-Württemberggerade in dem Bereich der Integration von Ausländerndie Mittel überproportional gekürzt worden sind, so daßdie Verbände – zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt – imMoment gezwungen sind, Sozialarbeiter, die in Baden-Württemberg bisher die Ausländerbetreuung gemachthaben, zu entlassen, und daß die Integrationsbemühun-gen in vielen Bereichen auf Null geführt worden sind?Darf ich Sie zu mir nach Karlsruhe-Land einladen, umdiese Situation einmal vor Ort zu besichtigen?
machen, daß das Kabinett erst vor wenigen Monaten ei-ne Vorlage meines Hauses beschlossen hat. Mit dieserVorlage wurden die Mittel zur Sprachförderung erheb-lich erhöht. Das ist für Baden-Württemberg die Wahr-heit.
Wenn ich sage, wir müssen die jungen Menschenfördern, dann verbinde ich damit, daß wir sie gleichzei-tig fordern müssen. Das hat eine praktische Konsequenzfür die Integrationsarbeit, die nach meiner Überzeugungin der Zukunft dringend verstärkt werden muß. In con-creto bedeutet das: Wenn wir Angebote zur Integrationmachen und wenn diese Angebote nicht angenommenwerden, dann kann das nicht einfach folgenlos bleiben,sondern muß gewisse Konsequenzen haben. Wenn diejungen Ausländer zum Beispiel finanzielle Leistungenbeziehen, aber Integrationsangebote wie Sprachkurseusw. nicht annehmen, dann muß man darüber nachden-ken – und auch entsprechend handeln –, die finanziellenLeistungen einzuschränken.Ich bin der Auffassung, daß auch bei dem Thema Er-teilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bis hinzur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung die Erfor-dernisse einer nachweisbar geleisteten Integration nochwesentlich stärker betont werden müssen, als das heuteim Ausländergesetz verankert ist. Allerdings darf einesnicht eintreten, nämlich daß es künftig leichter wird, diedeutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, als eine un-befristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsbe-rechtigung zu erhalten. Das wäre ein völlig fataler Irr-weg.
Man muß, weil unsere Bevölkerung das erwartet, mitunseren Bürgerinnen und Bürgern ganz deutlich darübersprechen, daß es natürlich Grenzen der Integrationsfä-higkeit gibt, zum Beispiel was die Zahl der Menschenangeht, die bei uns integriert werden können. Wenn dieZahl zu groß wird, muß die Integration scheitern. Des-halb müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wiewir eine verantwortbare Zuzugsbegrenzung erhalten.Der nächste Punkt ist für die Integration von heraus-ragender praktischer Bedeutung. Ich bin hundertprozen-tig dafür, daß wir das Nachzugsalter der jungen Men-schen – also den Zeitpunkt, bis zu dem sie nachDeutschland kommen müssen – absenken müssen. DasAlter von 16 Jahren ist schlicht und ergreifend zu hoch.Wer erst mit 16 Jahren nach Deutschland kommt, wirddas deutsche Bildungssystem in der Regel nicht mehrmit Erfolg durchlaufen können. Damit ist der ganze fa-tale Weg vorgegeben: Er wird auch keinen Ausbil-dungsplatz erhalten. Er wird zum Schluß in der Ar-beitslosigkeit und in der Sozialhilfe enden. Deshalb mußdas Nachzugsalter auf zehn Jahre gesenkt werden.
Wir brauchen bessere Möglichkeiten, um ausländi-sche Straftäter leichter auszuweisen und abzuschieben.Das ist ein Grundanliegen der überwältigenden Mehrheitunserer Bevölkerung. Das liegt auch im Interesse derüberragenden Mehrheit der anständigen Ausländer.
Minister Dr. Thomas Schäuble
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2304 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Es ist doch auch ein Anliegen vieler von Ihnen, daß dieschwarzen Schafe stärker als bisher ausgewiesen undabgeschoben werden.Ich stelle fest: Sie haben aus den Fehlern der Hessen-Wahl nichts gelernt. Mit Ihrer Mehrheit laufen Sie jetztGefahr, den Boden für eine Entwicklung zu bereiten, dieunabsehbare Folgen haben wird und für die Sie die Ver-antwortung tragen. Für unsere Republik wäre es besser,wenn Sie sich sachlich und nicht polemisch mit unserenArgumenten auseinandersetzten.
Unsere Argumente – das wissen Sie ganz genau; deshalbhaben Sie Angst – werden von einer großen Mehrheitder Bevölkerung mitgetragen. Noch ist es nicht zu spätfür Sie, dies zu erkennen. Nutzen Sie die Zeit, die Sienoch haben!Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido
Westerwelle, F.D.P.
Herr Minister, daSie in Ihrer Rede mehrfach auf mich, die F.D.P. und vorallen Dingen auch auf die Unterschriftenaktion Bezuggenommen haben, habe ich mir erlaubt, mich zu einerKurzintervention zu melden.Wenn Sie als Landesminister von „unserer Unter-schriftenaktion“ sprechen, dann gehe ich fest davon aus,daß Sie damit die Unterschriftenaktion der CDU/CSUmeinen; denn daß die baden-württembergische Landes-regierung, der auch die F.D.P. angehört, dieser Unter-schriftenaktion zugestimmt hat bzw. sie gegen unserenGruppenantrag fortsetzen will, ist mir bis heute verbor-gen geblieben.
Man muß das noch einmal klarstellen, liebe Kolleginnenund Kollegen.Herr Minister, da wir uns heute auf einem hohen lite-rarischen Niveau bewegen, möchte auch ich ein Zitatdazu beitragen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende,was ihm an Wahrheit … fehlt!“
Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen,was Sie über den Verwaltungsmehraufwand gesagthaben. Sie haben hier starke Argumente angeführt, dieich aufgreifen möchte. Sie haben gesagt, der Verwal-tungsaufwand werde sehr viel größer werden. Ich schät-ze das nicht so ein, weil der ausländische Bürger genau-so wie jeder andere Bürger für die Verlängerung seinesPasses selber sorgen muß, wenn er nicht ungültig wer-den soll. Der hier vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zurReform des Staatsangehörigkeitsrechts umfaßt auch dasPaßgesetz. Aber Sie haben gesagt, daß es hier eine ähn-liche Vergrößerung des Verwaltungsaufwandes wieschon nach der Änderung des Art. 16 a des Grundgeset-zes geben wird.
– Entschuldigung, „vorher“. Dann nehme ich das zu-rück. – Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß dieletzte Änderung unter dem Strich sehr sinnvoll gewesenist und zu guten Ergebnissen geführt hat.Des weiteren haben Sie ausgeführt, daß das vorlie-gende Gesetz nur der erste Schritt sei. Ich möchte daraufhinweisen, daß es auch für die F.D.P. eine wichtige Ge-schäftsgrundlage gewesen ist, daß der Bundesinnenmi-nister in dieser Woche noch einmal öffentlich erklärthat, mit dem vorliegenden Gruppenantrag sei die Ände-rung der Staatsangehörigkeit für diese Legislaturperiodevom Tisch. – Daß er nur für diese Legislaturperiodesprechen kann, halte ich für normal; denn es ist auch un-ser Ziel, daß Rotgrün nach dieser Legislaturperiodenicht mehr regiert.
Ferner haben Sie von einem Placebo gesprochen, dasin unserem Gruppenantrag enthalten sei.
– Sie haben wörtlich das Wort „Placebo“ verwendet. –Herr Staatsminister, darf ich Sie darauf aufmerksam ma-chen, daß die Einbürgerungszusicherung, die jetzt vonder Union beantragt wird, das eigentliche Placebo ist;denn die Einbürgerungszusicherung ändert gegenüberder bisherigen Rechtslage nichts.Sie als Prädikatsjurist wissen, daß in § 85 Ausländer-gesetz bereits das enthalten ist, was auch im Antrag derUnion gefordert wird, und zwar Punkt für Punkt. DieEinbürgerungszusicherung ist das eigentliche Placebo,weil sie nicht nur die Aufgabe, die hier geborenen Kin-der zu integrieren, nicht löst, sondern auch nichts ande-res tut, als die bisherige Rechtslage fortzuschreiben.
Schließlich bitte ich Sie um eines: Den von mir gege-benen Hinweis auf die PKK können Sie gar nicht somißverstanden haben, wie es Ihre Äußerung vermittelthat. Ich habe doch nicht davon gesprochen, daß irgend-einer der fanatisierten, fundamentalisierten Jugend-lichen, die heute Krawall machen, das mit einem deut-schen Paß nicht täten. Ich habe nur gesagt: Wer möchte,daß die in Deutschland geborenen Kinder nicht fanati-siert, nicht fundamentalisiert und nicht gettoisiert wer-den, der sollte alles dafür tun, daß sie integriert in unse-rer Gesellschaft groß werden.
Minister Dr. Thomas Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2305
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer zweiten
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr.
Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.
nete aus Heidelberg, die mit den Verhältnissen in Ba-
den-Württemberg recht gut vertraut ist, frage ich Sie, ob
Sie das Buch von George Orwell „1984“ gelesen haben.
Wenn nicht, dann lesen Sie es! Wenn Sie es schon gele-
sen haben, dann lesen Sie es noch einmal! Bei Ihrem
„newspeak“ heißt „Verhetzung“ „Aufklärung“, und
„Ausgrenzung“ heißt „Integration“. Ich glaube, daß das,
was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben, wirklich ein
schreckliches Beispiel für das ist, was Orwell in seinem
Buch beschrieben hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Innenminister,möchten Sie darauf etwas erwidern? – Nein, er machtdavon keinen Gebrauch.Ich erteile das Wort für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen der Abgeordneten Marieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Die erste zentrale Frage, die hinter der Debatte überdas Staatsbürgerschaftsrecht und das Ausländergesetzsteht, ist, ob wir Kinder, die in diesem Land geborenwerden, mit ihrer Geburt tatsächlich zu deutschen Bür-gern dieses Landes machen wollen.
Die zweite zentrale Frage ist, ob wir diejenigen Men-schen, die schon seit Jahren hier leben, die zum Wohl-stand des Volkes mit beitragen, die oft sogar dieDrecksarbeit erledigen – auch das muß deutlich gesagtwerden –, einbürgern wollen, ob wir ein Interesse daranhaben, sie zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bür-gern zu machen oder ob wir unsere Gesetze lieber sostricken, daß diese Menschen den Weg in die Ein-bürgerung auf Grund zu hoher Hürden nicht gehenkönnen oder nicht gehen wollen. Um diese beiden Fra-gen geht es.Wie soll unsere Gesellschaft also aussehen, was fürein Gesicht soll sie haben? Nehmen wir die Herausfor-derung an, daß Deutschland – ob wir es gewollt habenoder nicht – im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu ei-nem Einwanderungsland geworden ist? Die Einwande-rung hat das Gesicht dieses Landes verändert. Einwan-derung führt auch zu Verunsicherungen in der Bevölke-rung. Es ist eine Herausforderung an die Politik, dieseVeränderungen und Verunsicherungen so zu bündeln,daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit Ruheund mit Frieden den Neuerungen entgegensehen kann.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir dieses sensibleThema heute morgen in dieses Haus zurückgeholt ha-ben. Das Thema Ausländereinbürgerung gehört nicht aufdie Straße. Auch wenn Sie hier heute noch einmal betonthaben, die Unterschriftenaktion weiterführen zu wol-len, möchte ich an Sie appellieren, ja ich möchte Sie so-gar wegen des Friedens im Lande bitten: Stellen Sie die-se Unterschriftenaktion ein!
Ich sage das nicht deswegen, weil uns die Unter-schriftenaktion parteipolitisch geschadet hätte, sondernweil wir wissen, daß auf dem Boden von Verunsiche-rung, von Verängstigung, auch von Ablehnung gegen-über den Fremden und dem Fremden Stimmungen ent-stehen und Geister aus der Flasche geraten, die wiedereinzufangen wir alle uns gemeinsam bemühen müssen.Man kann so keine Politik machen. Wir haben die Ver-antwortung dafür, daß diese Stimmungen in der Bevöl-kerung, die, wie wir alle wissen, rudimentär vorhandensind, nicht durch Stichworte, die aus der Politik gegebenwerden, weitere Nahrung bekommen.
Aus den Reihen der CDU ist eine sehr kluge und be-sonnene Kollegin als Ausländerbeauftragte in Berlintätig. Sie schildert genau wie ich, daß ihr aus den Mi-granten- und Ausländerverbänden nahegelegt wird, allesdaranzusetzen, daß diese Unterschriftenaktion aufhört,
weil die Ausländer diejenigen sind, die den Stim-mungswechsel zu spüren bekommen, und nicht die rot-grüne Koalition. Wir können damit leben, wenn esschlechte Stimmung gegen uns gibt. Das auszuhaltengehört bei Parteien dazu. Es geht um Menschen, die die-se Stimmungen zu spüren bekommen. Das können Sienicht wollen. Ich bitte Sie noch einmal: Gehen Sie her-unter von der Straße, kehren Sie zurück ins Parlament!Hierhin gehört die Auseinandersetzung.
Sonst müssen Sie die Verantwortung dafür überneh-men, daß ein gesellschaftliches Klima entsteht, in demnicht Integration und Toleranz, wie Sie in Ihrem Antragsagen, vorangetrieben werden. Wir haben viel Fremden-feindlichkeit in diesem Land. In den östlichen Bundes-ländern bemühen sich viele Menschen im Sinne vonWeltoffenheit und Toleranz, etwas den sich radikalisie-renden Stimmungen gegen Fremde und Andersausse-hende entgegenzusetzen. Es darf von seiten der Politiknichts dazu getan werden, diese sich radikalisierendenStimmungen von oben her noch zu schüren. Sie dürfenkeine Tische in den Städten aufstellen, an denen denMenschen das Gefühl vermittelt wird, sie könnten allihren Frust, all ihre Ängste gegen die Türken, gegen denIslam und gegen die anderen dort mit einer Unterschriftabladen. Das darf in diesem Land nicht sein, wenn
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wir an demokratischen und zivilen Verhältnissen inter-essiert sind.
Es liegt in der Natur von Kompromissen, daß jedeSeite Zugeständnisse machen muß und sich jede Seite ineinem Kompromiß wiederfinden muß. Das ist mit demhier vorgelegten Gesetzentwurf zur Einbürgerung derFall. Es ist bekannt, daß wir uns weitergehende Schrittehätten vorstellen können und daß wir den Erwartungenan dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht, die bei den Mi-granten in diesem Land sehr groß geworden sind, nichtvoll nachkommen konnten.Eines sollten wir aber nicht kleinreden: Wir habenendlich die Zäsur bei dem bisher ausschließlichen Ab-stammungsrecht in unserem Staatsbürgerschaftsrecht.Die Kinder, die ab jetzt in deutschen Kreißsälen zurWelt kommen – egal, ob sie bosnische, polnische oderdeutsch-türkische Eltern haben – werden hier als deut-sche Kinder aufwachsen, wenn die Eltern die Vorausset-zungen erfüllen.
Das ist gut so und ist ein großer Schritt in Richtung In-tegration. Damit wird ihnen von vornherein die Mög-lichkeit eröffnet dazuzugehören. Darum geht es eigent-lich. Es geht nicht um das Papier, den Paß. Es geht umdie Botschaft: Ihr gehört dazu; ihr seid nicht etwas ande-res und nicht andere.
Kinder kommen nicht mit einem Gefühl für Staatsange-hörigkeit zur Welt. Kinder fühlen, in welcher Umweltsie leben und wozu sie gehören. Wie gesagt, sie sollendazugehören.
Das zweite Angebot richtet sich an die schon hier le-benden Migranten. Wir werden darum werben, daß die-jenigen, die schon jetzt die rechtlichen Bedingungen er-füllen, um sich einbürgern zu lassen, aber diesen Schrittnicht tun mochten, ihn vollziehen. Wir werben darum,weil diese neue Regierung – damit bricht sie mit der Po-litik der alten Regierung –
möchte, daß die Migranten dazugehören und gleichbe-rechtigt sind. Sie sollen als gleichberechtigter Teil unse-rer Bevölkerung anerkannt werden. Wir wollen sie dazueinladen. Diese Einladung können wir nicht oft genugaussprechen.
Das Dazugehören zu betonen ist ein Teil von Integra-tion. Zur Integration gehören ferner die Bildungs- undSchulpolitik, die – wie auch Experimente und Modell-vorhaben – extrem wichtig sind. In diesem Bereich pas-siert in den Ländern sehr viel. Auch die Sprachförderungist wichtig, weil die Sprache die Brücke in eine Gesell-schaft ist. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeitund auch der Jugendsport, in dem es unendlich vieleBegegnungen zwischen ausländischen, deutschen oderschon eingebürgerten Kindern gibt, sind wichtig. Alldiese Punkte gehörten zur Integrationspolitik.Ich finde es gut, daß die Union zu diesem Themaeinen Antrag vorlegt. Allerdings müssen Sie sich schonfragen lassen, weshalb es 16 Jahre gedauert hat, bis Siemit diesem Thema in der politischen Arena erscheinen.
Die eigentliche Differenz zwischen der alten und derneuen Regierung besteht in der Tatsache, daß sich dieneue Regierung der Realität stellt und sagt: Deutschlandist zu einem Einwanderungsland geworden; dementspre-chend werden wir die Gesetze gestalten.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich das kultu-relle Gesicht dieses Landes tatsächlich verändert hat: Esist unser Land, in dem Sabrina Setlur als „Beste natio-nale Künstlerin“ geehrt wird; es ist unser Land, in demdie Top-Nachrichten von Yasemin Kalkan im „Berichtaus Bonn“ präsentiert werden; es ist unser Land, in demein junger Mann mit dem urdeutschen Namen YueshiLai beim Landeswettbewerb „Jugend forscht in NRW“einen ersten Preis erringt; es ist unser Land, in demdie deutsche Goldhoffnung bei den Taekwondo-Welt-meisterschaften Fadime Karatas heißt.In unserem Land steht die Karriere einer Nilgün Özelmit ihrer Agentur für „Marketing-Service/Design“ undihren 14 Mitarbeitern beispielhaft für Existenzgründun-gen von Frauen.
In unserem Land hat der „Kicker“ eine Elf zur „Mann-schaft der Woche“ erklärt, in dem die Fußballer ausFrankfurt – wohlgemerkt: aus Frankfurt – die NamenArslan, Karagiannidis, Bakyrtzis und Zeran tragen. Dasist Deutschland. Unser Land besitzt inzwischen dieseVielfalt.
Es wird Ihnen nicht gelingen, meine Damen und Herrenvon der Union, dieses Land in die Abgeschlossenheitund Spießigkeit der 50er Jahre zurückzukatapultieren.
Marieluise Beck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2307
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Wir wollen ein modernes und zukunftsfähigesDeutschland gestalten. Weil diese Menschen zu uns ge-hören, ändern wir das Staatsangehörigkeitsrecht, wonachdie Kinder, die hier geboren werden, sofort vom erstenTag an zu unserer Gesellschaft gehören. Mit diesem Ge-setzentwurf werden die Hürden für die Einbürgerungnicht so hoch gelegt, daß die Annahme der deutschenStaatsangehörigkeit nicht möglich wird.Es ist richtig, daß noch einige Punkte dieses Gesetz-entwurfs zu diskutieren sind.
Dazu gibt es die parlamentarische Beratung. Wir wer-den diese Diskussionen im Rahmen der Anhörung mitFachleuten führen. In diesem Zusammenhang will ichim Namen meiner Fraktion dem Bundesinnenministernoch einmal für die oft mühseligen Verhandlungen dan-ken, die er geführt hat.
Herr Rüttgers, wir führen den Doppelpaß nicht durchdie Hintertür ein, wie Sie behaupten. Wir sprechen füralle Jugendlichen und für alle, die hier dauerhaft leben,endlich die Einladung aus, durch die Vordertür in dieseGesellschaft zu kommen. Sie sollen sich nicht längerdurch den Lieferanteneingang drücken müssen. Kom-men Sie aus Ihrer Nörgelecke, meine Damen und Herrenvon der CDU/CSU!
Es liegt ein Kompromiß auf dem Tisch, der diebreite Mehrheit in der Gesellschaft widerspiegelt. Ichmöchte gerne wissen, wie Sie angesichts der Europa-wahlen, die ein Schritt auf dem Weg zu einem weltoffe-nen Europa sind, Ihre Campingtische in die Fußgänger-zonen stellen können, wo Sie gegen Mobilität, gegenOffenheit und gegen eine tolerante Gesellschaft agieren.Das darf nicht passieren!
Sie können die Tür zu einer weltoffenen Gesellschaftnicht mehr zunageln. Diesen Weg wird auch die Gesell-schaft nicht gehen.Denn bei allen Schwierigkeiten, die eine multikultu-relle Gesellschaft macht, bringt sie letztlich doch einenGewinn an Lebensqualität, an Buntheit, an Offenheitund an Vielfalt mit sich. Und Vielfalt ist immer nochbesser als Einfalt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die
Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Heute beginnt einhistorischer Abschnitt in der Rechtsgeschichte unseresLandes. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird nach86 Jahren das alte wilhelminische Staatsbürgerschafts-recht mit seiner völkischen Philosophie des deutschenBlutes durchbrochen.
Zum erstenmal tritt das in den meisten Staaten der Euro-päischen Union und in den meisten demokratischenLändern der Welt gültige Ius soli, das Territorialprinzip,an seine Seite. Künftig erwerben in Deutschland gebo-rene Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt diedeutsche Staatsangehörigkeit. Es ist ein Fortschritt fürunser Land und ein Schritt hin zu einem vereinten Euro-pa.Genauso wie Innenminister Schily halte ich den ur-sprünglichen Gesetzentwurf für den konsequenteren undfür den, der die Ziele dieser Gesetzesinitiative besser er-reichen würde, nämlich Integration und sozialen Friedendurch gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben mitdem nun eingebrachten Gesetzentwurf einen Kom-promiß erreicht, einen Kompromiß, der sich an denpolitischen Mehrheiten im Bundesrat orientiert, einenKompromiß, der zu diesem Zeitpunkt das umsetzt, waszu erreichen ist. Ich sehe darin ebenso wie Peter Struckeinen Einstieg, einen ersten Schritt zu einer grundlegen-deren Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die in Zu-kunft unumgänglich sein wird. Wir werden weiterhinum eine gesellschaftliche Mehrheit für eine grundlegen-dere Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtswerben.Der hier vorliegende Entwurf ist das Ergebnis einersachlichen Diskussion von den politischen Kräften, diean einer solchen Diskussion und an einer Lösung der be-stehenden Probleme interessiert sind. Die Zustimmunggeht über die Fraktionen der Regierungskoalition hin-aus; sie umfaßt die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktionund, wie zu hören ist, auch Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion. Ich will Ihnen dazu eine kleine Szene vonheute morgen schildern. Mir hat ein Kollege aus derFraktion der CDU/CSU erklärt, daß er heute lieber garnicht erst ins Plenum kommt, weil er sonst womöglichder Situation ausgesetzt würde, daß er klatschen möchte– wenn nämlich heute das eingebracht wird, wofür er inden letzten vier Jahren gekämpft hat – und deswegenSchwierigkeiten bekäme, oder weil er der Situation aus-gesetzt würde, daß er Schwierigkeiten von Ihrer Seitebekäme, wenn er bei den Redebeiträgen von Ihnen nichtklatschen würde.
Ich denke, das ist eindeutig. Deswegen freue ich michganz besonders darüber, daß es auch noch andere Kolle-gen aus Ihrer Fraktion gibt, die ihre Zustimmung zu demvorliegenden Gesetzentwurf deutlich ausgedrückt haben,die also nicht den einfacheren Weg gehen, zu Hause zubleiben, sondern die klar Stellung beziehen.
Marieluise Beck
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Daß es weder dem Kollegen Schäuble noch HerrnStoiber, noch der Mehrheit in Ihrer Partei um eine sach-liche Diskussion geht, das liegt auf der Hand. Die Uniongeht nach rechts. Die CDU/CSU hat beschlossen, dieumstrittene Unterschriftenaktion fortzuführen. Ich fandes bezeichnend, wie Sie, Herr Schäuble, als Innenmini-ster von Baden-Württemberg erklärt haben: Wir führendie Unterschriftenaktion fort. – Ich gehe davon aus, Siehaben das als Sprachrohr der CDU gesagt und nicht inder Funktion als Innenminister, in der Sie hier sind.
Meine Damen und Herren, Sie polemisieren mit die-ser Unterschriftenaktion weiterhin gegen eine generelleHinnahme der sogenannten doppelten Staatsbürger-schaft, und das, obwohl das in dem vorliegenden Ge-setzentwurf überhaupt nicht mehr enthalten ist.
In diesem Entwurf ist das schon einmal gar nicht derFall. Ihnen geht es gar nicht darum, ein Gesetz zu ver-hindern. Ihnen geht es einzig und allein darum, weiter-hin mit gezielter Desinformation unterschwellige Ängsteund Fremdenfeindlichkeit zu schüren.
Sie stehen damit in der übelsten und unseligsten Traditi-on der deutschen Rechten in diesem Jahrhundert. Sofortnach dem Start der Unterschriftenaktion haben die Re-publikaner, die DVU und die NPD lauthals Beifall ge-klatscht und angekündigt, Ihnen inhaltlich und organi-satorisch unter die Arme zu greifen. Ich würde mich fürdiesen Zuspruch und solche politischen Bündnispartnerschämen.
Die Union geht nach rechts!Während die katholische und die evangelische Kir-che, während alle wichtigen gesellschaftlichen Institu-tionen Sie kritisiert haben und noch immer kritisieren,setzen Sie diese Kampagne fort. Da stellt sich Herr Stoi-ber hin und erklärt unseren Ansatz zum „gefährlichstenAnschlag auf den Rechtsstaat seit der RAF“.
Da verbreitet die CSU die Auffassung, daß bei einererleichterten Einbürgerung die PKK in unserem Parla-ment sitzen wird.Sie haben in der Debatte zur Festnahme von AbdullahÖcalan mehrmals einen Zusammenhang zwischen denAusschreitungen von PKK-Anhängern und der Diskus-sion um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechtshergestellt. Das ist eine infame und wissentlich unrichti-ge Darstellung.
Sie wissen ganz genau, daß es sich bei den an den Kra-wallen beteiligten Personen mit großer Mehrheit umMenschen gehandelt hat, die in gar keiner Weise dieVoraussetzungen des Gesetzentwurfs erfüllt hätten. Daich Ihnen unterstelle, daß Sie des Lesens und des geisti-gen Erfassens eines Gesetzentwurfes mächtig sind,bleibt nur die Schlußfolgerung, daß Sie hier wissentlichund kalkuliert die Unwahrheit gesagt haben, um auchhier eine fremdenfeindliche Stimmung zu schüren unddie Regierungsfraktionen zu verunglimpfen. Die Uniongeht nach rechts!Die Väter und Mütter der Rechtsordnung der Bundes-republik Deutschland haben eine demokratische undfreiheitliche Gesetzgebung geschaffen, in der Tatenwie Volksverhetzung unter Strafe gestellt wurden. Ichkann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß maßgeb-liche Teile der CDU/CSU im Begriff sind, diesenKonsens zu verlassen. Man ist heutzutage in der CSUstolz darauf, wenn DVU-Chef Frey erklärt, seine Parteiwerde nicht zu den bayerischen Landtagswahlen an-treten, weil die CSU alle Voraussetzungen einerRechtspartei in seinem Sinne erfülle. Die CDU/CSU hatdie Orientierung an der Mitte aufgegeben. Die Uniongeht nach rechts!
Wenn Sie es mit solchen Kampagnen schaffen, beiLandtagswahlen zu punkten, ist das noch hinnehmbar.Sie befördern damit aber in unserem Land ein Klima, indem es dann möglich wird, daß Menschen zu Tode ge-hetzt und wegen ihrer Herkunft angezündet werden. Da-für tragen Sie Ihren Teil der Verantwortung. Und dies istunlösbar mit der Diskussion verbunden, die wir hierheute führen.
Zur Unterschriftenaktion nur ein kurzes Zitat IhresParteifreundes Michel Friedman, der im Berliner „Ta-gesspiegel“ erklärt hat:Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn dieCDU behauptet, diese Unterschriftensammlung imInteresse der Ausländer zu machen.Dem kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen.
Sie mögen ja den Ausgang der Wahl in Hessen alsgroßen Sieg Ihrer Unterschriftenaktion feiern. Es gibtaber auch Siege, die schlimmer sein können als Nieder-lagen. Und dieser Sieg wird Sie entzweien.
Die Union geht nach rechts! Wir Sozialdemokratin-nen und Sozialdemokraten werden dem entschlossenentgegentreten. Gemeinsam mit den Kollegen desBündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. haben wir an-gesichts der veränderten Verhältnisse im Bundesrateinen tragfähigen Kompromiß gesucht und gefunden. Erbeinhaltet einige Veränderungen, die wirklich nach vor-ne weisen.Christine Lambrecht
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2309
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Natürlich ist das Optionsmodell stark in der Kritik.Ich kann diese Kritik beispielsweise vom Geschäftsfüh-rer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, HerrnKenan Kollat – stellvertretend für viele Betroffene –,verstehen. Aber ich kann nur sagen: Dieses Gesetz istgegenüber der bestehenden Regelung eine Reform, dienach vorne weist. Ich kann alle Kritikerinnen und Kriti-ker nur auffordern: Arbeiten Sie mit! Führen Sie mit unseine gesellschaftliche Diskussion, damit dies nur ein er-ster Schritt ist!
An dieser Stelle möchte ich noch etwas zum KollegenGerhardt von der F.D.P. sagen, der erklärte, die Grünenmüßten begreifen, daß sie die Schlacht in dieser Angele-genheit verloren hätten. Ich finde, schon die Diktion läßttief blicken; hier wird von einer Schlacht, sozusagen voneinem Krieg gesprochen. Es ist aber auch sachlichfalsch; denn die Verlierer in dieser Angelegenheit sindnicht die Grünen. Die Verlierer sind vielmehr die Men-schen, die seit Jahrzehnten in diesem Land leben, diehierhergeholt wurden, um zu arbeiten, und die unsereWirtschaft, unseren Wohlstand mit aufgebaut haben.
Von seiten der CDU kommt natürlich wieder der Ruf:Wir gehen vors Bundesverfassungsgericht. Das sindwir mittlerweile gewohnt. Es war in den letzten 16 Jah-ren auch kaum eine politische Entscheidung möglich,ohne daß sie Ihnen aus Karlsruhe diktiert wurde. Sieselbst waren ja nicht mehr für Politik zuständig. Das hatsich jetzt geändert. Wir haben eine Regierung, die Poli-tik macht. Wir brauchen auch die verfassungsrechtlicheUntersuchung nicht zu fürchten.
Ich brauche hier, glaube ich, kein juristisches Semi-nar zur Verfassungsmäßigkeit eines Optionsmodells ab-zuhalten. Sie alle wissen, daß nach Art. 16 des Grundge-setzes ein Entzug der Staatsbürgerschaft verboten,aber ein Verlust durchaus möglich ist. Hierzu wird eseine ausführliche juristische Diskussion und auch eineAnhörung geben. Wir werden dann zu einem verfas-sungsmäßigen Entwurf kommen, der dem Urteil desBundesverfassungsgerichts standhalten wird.Allerdings finde ich es schon etwas witzig, wenn Siesich hier hinstellen und sagen: Das Optionsmodell istwegen des Verlustes per se verfassungswidrig. LesenSie sich einmal Ihren Gesetzentwurf durch; darin steheneinige Verlustgründe. Dann wären diese ja genauso we-nig möglich, dann wären diese ja genauso verfassungs-widrig. Ich erspare es mir, auf einige einzugehen. Diesind schon hanebüchen. Als Juristin stellen sich mir dadie Haare zu Berge.Ich möchte nur noch auf einen Punkt Ihres Antrageseingehen, nämlich auf § 6, die Erwerbszusicherung.Sie haben uns immer vorgeworfen, wenn wir auch nur inAusnahmefällen zulassen würden, daß Menschen in die-sem Land mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen,dann würden wir eine Zweiklassengesellschaft schaffen:Doppeldeutsche und Nur-Deutsche. Was machen Siejetzt? – Sie wollen für in Deutschland geborene Kinderausländischer Eltern eine Einbürgerungszusicherungeinführen, eine Art Gutschein, der den jungen Menschendann sagt: Ihr gehört nicht zu uns, aber wenn ihr hübschbrav seid, dann dürft ihr vielleicht einmal zu einem vonuns werden.Vorhin ist mir fast einmal die Luft weggeblieben –das kommt bei mir selten vor –,
als Ihr Kollege gesagt hat, sie müßten sich gut führen.Wissen Sie, woher ich den Begriff kenne? – Aus meinerTätigkeit als Anwältin. Da haben mich Mandaten immergefragt, wenn sie zu einer Haftstrafe verurteilt wurden,wann sie denn herauskommen, wenn sie sich gut führen.Wenn Sie so eine Assoziation mit einer Einbürgerungs-möglichkeit für Kinder und Jugendliche verbinden, dannsträuben sich mir wirklich die Haare. Das läßt tief blik-ken.
Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten die-ses Gesetzes, wenn wir es durchsetzen, beginnt eineneue Entwicklung. Wir wollen nämlich keine ethnischeSauberkeit, sondern kreative, leistungsfähige und zu-kunftsorientierte Vielfalt. Wir wollen für die Menschen,die in dieser Gesellschaft leben und arbeiten, die glei-chen Rechte und Pflichten, unabhängig von ihrer ethni-schen Abstammung.Das heute eingebrachte Gesetz, der Gruppenantrag,ist ein erster Schritt im Rahmen dieser Entwicklung. Esist nicht das Ende des Weges, sondern der Anfang. DieUnion geht nach rechts; wir gehen nach vorn!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, zu Ih-rer Rede: Von Gift und Häme geprägt, würde es sichnormalerweise nicht besonders lohnen, darauf einzuge-hen.
Sie sollten nur an einer Stelle etwas vorsichtig sein:wenn Sie über rechtsradikale Parteien diskutieren. Sonstfällt mir ein, daß die von Ihnen zitierte DVU anläßlichder Niedersachsenwahl im vergangenen Jahr aufgerufenhat, Gerhard Schröder zu wählen. Ich wäre an IhrerStelle viel vorsichtiger bei dem, was ich hier vorn sage,oder ich würde wenigstens ordentlich lesen.
Christine Lambrecht
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2310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausländer-beauftragte der Bundesregierung hat eben in ihrerRede einige Menschen vorgestellt, die in Deutschlandleben, mit dem emotionalen Anfang der Sätze: Das istunser Land. – Sie hat recht: Es ist schön, daß es in die-sem Land viele Menschen gibt mit sehr unterschied-lichen Begabungen und auch mit unterschiedlicherHerkunft.
– Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe Ihnen schonmehrfach gesagt: Gewöhnen Sie sich doch einmal an,das Gehirn einzuschalten, bevor Sie den Mund aufma-chen! Es ist doch wirklich unerträglich.
Halten Sie doch einfach einmal den Mund und hören Siezu. Vielleicht lernen Sie etwas. Das täte Ihnen gut.
Frau Kollegin Beck, es ist schön, daß dieses Land sovielfältig ist. Aber man muß auch darauf achten, daß einsolches Land zusammenbleibt, daß es ausländerfreund-lich bleibt. Da haben Sie nun wirklich einen Fehler ge-macht. Nicht wir haben das Thema Doppelpaß auf dieTagesordnung gesetzt, sondern Sie glaubten vor derHessen-Wahl, Sie könnten Stimmen gewinnen, wennSie das Thema ansprechen. Aber Sie haben sich geirrt,und es wird Zeit, daß Sie zur Kenntnis nehmen, was indieser Frage die Mehrheit in diesem Land will.
Sie versuchen jetzt vor der Bremen-Wahl und vor derEuropa-Wahl schon wieder, dieses Gesetz mit Sonder-sitzungen durch das Parlament zu peitschen. Sie werdensich noch einmal irren. Ich beschwöre Sie: Lassen Sievon diesem Vorhaben ab, lassen Sie uns über die Fragereden, wie man das Land versöhnen kann, statt es zuspalten, wie Sie es machen.
Wo sind denn Ihre konkreten Vorschläge für die In-tegration? Der Glaube, man gebe einem Menschen ei-nen Paß und dann sei er integriert, ist ein Irrglaube, wiewir aus Frankreich, England und den Niederlanden wis-sen. Wo sind denn Ihre Vorschläge, wie es mit demSprachunterricht weitergeht,
wie es am Arbeitsplatz und bei den Lehrstellen sein soll?Da ist bei Ihnen Sendepause, Frau Kollegin Müller. Siehaben keinen Antrag hinbekommen. Deshalb meinenSie, Sie müßten Ihre Ideologie durchsetzen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat heute zwei Anträge undeinen Gesetzentwurf vorgelegt.
In einem Antrag legen wir ein Konzept für die Integrati-on mit vielen konkreten Punkten vor.
Der Antrag für ein modernes Ausländerrecht enthältVorschläge für die Novellierung des Ausländergesetzes.Unser Gesetzentwurf schließlich beinhaltet die Neure-gelung des Staatsangehörigkeitrechtes.
Diese Vorlagen sind eine klare Alternative zu dem aus-länderpolitischen Scherbenhaufen, den Rotgrün hier inden letzten Wochen angerichtet hat.
Es ist das bessere Konzept für die Integration der recht-mäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer.
Heute hat Herr Schily den dritten Entwurf vorgelegt.
Man höre und staune: den dritten Entwurf in zwei Mo-naten. Mitte Januar hat man noch von historischen Di-mensionen geredet. Im Februar mußte der Bundesin-nenminister diesen Entwurf zurückziehen, und zwar we-gen inhaltlicher Mängel, wegen politischer Unausgego-renheit, weil er nicht mehrheitsfähig war und weil dieBevölkerung in Hessen diesen Entwurf klar abgelehnthat.Dann kam Schily II aus der Abteilung Tricksen undTäuschen. Man wollte so tun, als verzichte man auf dieEinführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehö-rigkeit. Aber es gab für fast jeden Fall eine Ausnahme-vorschrift, was bedeutet hätte, der Doppelpaß wäre dochgekommen. Auch dieser Entwurf wurde wenige Tagespäter kassiert.Heute haben wir nun Schily III. Dieser Entwurf hatmit seinen Vorgängern eines gemeinsam: Auch er wurdemit heißer Nadel gestrickt. Er ist wiederum nur einStückwerk und keine Gesamtreform des deutschenStaatsangehörigkeitsrechts. Noch nicht einmal Verfah-rensregeln sind in diesem Entwurf enthalten. Vor allemfehlt jede inhaltliche Abstimmung mit dem Ausländer-recht.Ein Beispiel: Man kann künftig als Ausländer leichterdie deutsche Staatsangehörigkeit als ein Daueraufent-haltsrecht in Deutschland erwerben. Das erkläre einem,wer will; ich verstehe das nicht.
Es bleibt völlig offen, wie viele der hier lebendenAusländer die Einbürgerungsvoraussetzungen erfül-Dr. Jürgen Rüttgers
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len, ob es 100 000, 500 000 oder 1 Million sind. Aberangeblich soll der Doppelpaß nur noch die Ausnahmesein. Das haben wir jedenfalls gehört. Lassen Sie micheinmal versuchen, abzuschätzen, um wie viele Men-schen es geht. Politisch Verfolgte sollen in jedem Falldie doppelte Staatsangehörigkeit bekommen. Nach denZahlen des Ausländerzentralregisters sind es knapp300 000 Menschen.
EU-Bürger sollen das Recht auf den Doppelpaß haben.Das sind rund 1,6 Millionen Menschen.
Mehrstaatlichkeit soll für ältere Ausländer zugelassenwerden.
Wenn wir eine Grenze von 60 Jahren annehmen, sinddas 450 000 Personen.
Mehrstaatlichkeit soll nach Schily III aber vor allemdann hingenommen werden, und zwar zwingend, wenndie Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit zuwirtschaftlichen oder vermögensrechtlichen Problemenführt.
Das trifft aber in jedem Land für jeden zu, der nichtmehr Inländer, sondern Ausländer ist. Das heißt, manbraucht nur vorzutragen, man werde von der Familieenterbt, und schon kann man die doppelte Staatsangehö-rigkeit behalten.
Zudem läge es in den Händen anderer Staaten, jedem ih-rer hier lebenden Staatsbürger die doppelte Staatsange-hörigkeit zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, wollen wir wirklich, daß andere Staaten über dieZahl von doppelten Staatsangehörigkeiten in Deutsch-land bestimmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Herr Kol-
lege Westerwelle hat heute schon mehrfach geredet.
Jetzt muß er sich das auch einmal ein bißchen anhören.
Heißt dies nicht auch, je strenger der ausländische
Staat ist, desto leichter kann er die doppelte Staatsange-
hörigkeit in Deutschland für seine Bürger durchsetzen,
falls er das politisch als vorteilhaft ansieht?
Es bleiben die jährlich etwa 80 000 in Deutschland
geborenen Kinder ausländischer Eltern, die nach Schily
III zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit bekom-
men, also jährlich etwa 80 000 neue Doppelstaatler.
Hinzu kommen noch diejenigen, die bereits zehn Jahre
hier sind und die jetzt auch den Doppelpaß erhalten. Das
sind auf einen Schlag noch einmal zwischen 600 000
und 700 000 Personen.
Diese Zahlen, werte Kolleginnen und Kollegen, zei-
gen: Auch Schily III führt die doppelte Staatsangehörig-
keit ein, wenn auch nur durch die Hintertür. Diejenigen,
die dann den Doppelpaß immer noch nicht haben, sollen
ihn – das haben wir heute gehört, etwa bei der Rede von
Frau Kollegin Müller oder bei den Äußerungen des
SPD-Fraktionsvorsitzenden – in einem zweiten Schritt
bekommen. Für Sie ist das Gesetz ein erster Schritt. Ich
sage Ihnen: Sie mißachten mit diesem Gesetz nicht nur
den Willen der Bevölkerung; Sie werden mit diesem
Vorhaben auch ein zweites Mal scheitern.
Das Optionsmodell ist „weder von der Verfassung
her unproblematisch noch in Hinsicht auf die verwal-
tungspraktische Umsetzung“.
Es führt zu einem „gigantischen Verwaltungsaufwand“,
der „überhaupt nicht zu bewältigen“ ist, wenn jeweils
geprüft werden muß, ob die zweite Staatsangehörigkeit
bei der Option für die deutsche tatsächlich aufgegeben
wird. – Das waren Zitate von Herrn Bundesinnenmini-
ster Schily vom 24. Januar 1999.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Frage?
Ich frage Sie,
Herr Bundesinnenminister: Ist es nicht so, daß Sie fürdie Verfassung in diesem Land zuständig sind? Wiekann es sein, daß ein Bundesinnenminister hier einenGesetzentwurf vorlegt und vertritt, der nicht zweifelsfreiverfassungsgemäß ist?
Ich frage Sie: Wie kann es sein, daß notwendige Abklä-rungen, die gerade auch im Hinblick auf den Rechtsfrie-den von zentraler Bedeutung sind, unterbleiben, bloßweil man aus politischer Not glaubt, man müsse jetzt indieser Frage handeln? Ich verstehe das nicht.
Dr. Jürgen Rüttgers
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2312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Ich weiß auch nicht, wie Sie, Herr Schily, das mit IhremAmtseid in Übereinstimmung bringen können. In dieserWoche haben Sie gesagt, eventuelle verfassungsrecht-liche Bedenken könnten im Laufe des parlamentari-schen Verfahrens beseitigt werden. Herr Schily, was istdas für ein Verständnis von Ihrem Amt, wenn Sie Ge-setze vorlegen und begründen und zugeben, daß es ver-fassungsrechtliche Bedenken gibt, die man nicht ausge-räumt hat? Herr Schily, ziehen Sie Ihre Zustimmung zudiesem Entwurf zurück, solange nicht klar ist, ob dieserGesetzentwurf verfassungsgemäß ist oder nicht!
Ich persönlich glaube, daß dieses Gesetz verfassungs-rechtlich mehr als bedenklich ist.
Der Sache nach handelt es sich um eine befristeteStaatsangehörigkeit, die vom Grundgesetz nicht vorge-sehen ist. Aber unabhängig von dieser Frage ist diesesGesetz auch integrationspolitisch unausgegoren. Es wirftnur Fragen auf, löst aber die praktischen Probleme derIntegration nicht. Zur Rechtssicherheit gerade in Status-fragen gehört eben auch Rechtsklarheit; die wird durchdieses Gesetz nicht erreicht.
Integration durch einen Paß – das ist der ideologi-sche Glaube an die Macht bürokratischer Entscheidun-gen. Zur wahren Integration gehört aber, wie jeder weiß,viel mehr.
Integration, Frau Müller, findet im Kindergarten und inder Schule statt. Sie findet in der Wohnumgebung statt.Sie findet im Sportverein statt. Sie findet bei Freund-schaften zwischen jungen Ausländern und Deutschenstatt. Da entscheidet sich die Integration.Deshalb verstehe ich Ihre Bemerkung zu RolandKoch im Hinblick auf den muttersprachlichen Unterrichtnicht. Wer die Integration in die deutsche Gesellschaftwill, der muß den Deutschunterricht fördern und nichteine ausländische Sprache, um die Rückkehr zu ermög-lichen.
Das ist genau das, was Sie anscheinend nicht verstehenkönnen oder nicht verstehen wollen.
Bisher hat niemand plausibel erklären können, worineigentlich der integrationspolitische Zugewinn des Dop-pelpasses für Jugendliche liegen soll. Es ist vor kurzemvom Kollegen Kanther gefragt worden, wie es mit derintegrativen Logik des Modells auf Zeit, wie es im Ge-setzentwurf von Rotgrün steht, dem Herr Westerwellezugestimmt hat, zu vereinbaren sei, wenn das kleineKind über zwei Pässe verfügt, aber der 23jährige diedeutsche Staatsangehörigkeit wieder verlieren soll, weiler die elterliche nicht aufgeben will. Für wen ist denneigentlich die Integration – der Paß, wie Sie meinen –wichtiger: für den Zweijährigen oder für den23jährigen?
Das zeigt, Herr Westerwelle, daß schon der Ansatz desOptionsmodells völlig unausgegoren ist. Er führt zu in-tegrationspolitisch völlig unmöglichen Situationen.Nehmen wir einmal den Fall der jungen Frau, die18jährig, das heißt als Doppelstaatlerin, ein deutschesKind zur Welt bringt, mit 23 Jahren aber die deutscheStaatsangehörigkeit verliert, weil sie zur Aufgabe ihrerausländischen Staatsangehörigkeit nicht bereit ist. DasKind bleibt dann deutsch, im übrigen ohne spätere Opti-onspflicht, da es die deutsche Staatsangehörigkeit nachdem Abstammungsprinzip erhalten hat – was beweist,daß Ihre ganze Rhetorik gegen das Abstammungsprinzipvöllig an der Sache vorbeigeht, denn Sie behalten es sel-ber bei, wie dieser Fall zeigt. Insofern sollten Sie dieseArgumentation einstellen.Nehmen Sie den zweiten Fall des 22jährigen Auslän-ders, der als Doppelstaatler zum Bundestag wählen darf,mit 24 Jahren aber nicht mehr an der Landtagswahl teil-nehmen darf, weil er zwischenzeitlich seine deutscheStaatsangehörigkeit verloren hat, und zwar nur deshalb,weil er seine elterliche Staatsangehörigkeit nicht aus-drücklich aufgeben will.Oder nehmen Sie den dritten Fall des 19jährigenDoppelstaatlers, der Wehrdienst leistet, dann aber plötz-lich wieder zum Ausländer in Deutschland wird, obwohlsich an seinen persönlichen Lebensumständen überhauptnichts geändert hat.Und wie steht denn derjenige da, der seit seiner Ge-burt als Deutscher in Deutschland lebt, jetzt aber gegendie deutsche Staatsangehörigkeit optiert: Muß er dann,nach einem Vierteljahrhundert als Deutscher, Deutsch-land verlassen? – Keine Antwort im Schily-Entwurf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rütt-
gers, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Dagmar Schmidt?
Frau Präsidentin,ich glaube, ich hatte mehrfach deutlich gemacht, daß ichkeine Zwischenfrage zulasse. Ich sage das gerne nocheinmal.Oder was ist mit jugendlichen Kriminellen, die dannnicht mehr ausgewiesen bzw. abgeschoben werden kön-nen? Wir alle kennen den Fall Mehmet; er ist ebenschon diskutiert worden. Man kann jungen KriminellenDr. Jürgen Rüttgers
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dann eigentlich nur raten, nach Erreichen der Volljäh-rigkeit so schnell wie möglich für die deutsche Staatsan-gehörigkeit zu optieren, damit sie vor Abschiebung oderAusweisung sicher sein können.
Wie man das auch dreht und wendet: Das Options-modell – nun hören Sie einmal zu; jetzt zitiere ich näm-lich den „Spiegel“– ist „der größte anzunehmende Unfugin der Nachkriegsgeschichte des Staatsangehörigkeits-rechts“. Auch darin hat der „Spiegel“ recht. Weiter:„Kinder, die – ohne daß ihre Eltern gefragt werden– zunächst von Amts wegen Deutsche werden sol-len, bekommen eine familiäre Zeitbombe untersBett gelegt“.
Diese völlig verfehlte Konzeption des Schily-Entwurfs und seine zahlreichen Ungereimtheiten undInkonsequenzen vermeidet der Entwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er hat ein klares System. Er wirftdie Grundprinzipien des bisherigen Staatsangehörig-keitsrechts nicht einfach über Bord, sondern entwickeltsie fort.
Wir wollen das Einbürgerungsrecht erleichtern. Wirwollen Rechtsansprüche und nicht bloßes behördlichesErmessen. Wir verkürzen die Mindestaufenthaltszeitenim Bundesgebiet, bei Erwachsenen von derzeit 15 Jah-ren auf künftig 10 Jahre, bei jungen Ausländern vonderzeit 8 Jahren auf künftig 6 Jahre. Wir hätten dann ei-nes der großzügigsten Einbürgerungsrechte der Welt.Unverzichtbar ist aber die nachweisbare Integrationund Sozialisation des Einbürgerungsbewerbers. Wirverlangen deshalb den Nachweis ausreichender Kennt-nisse der deutschen Sprache und Grundkenntnisse derverfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes.
Wir halten am Grundsatz der Vermeidung vonMehrstaatlichkeit fest. Wer sich einbürgern lassen will,muß sich für die Bundesrepublik Deutschland entschei-den. Wer Deutscher werden will, muß also seine alteStaatsangehörigkeit aufgeben.
Natürlich muß es auch weiter Ausnahmen davon ge-ben. Manche Staaten lassen das Ausscheiden aus ihrerStaatsangehörigkeit überhaupt nicht zu, andere verwei-gern es regelmäßig oder willkürhaft oder machen es vonunzumutbaren Bedingungen abhängig. Deshalb enthältunser Entwurf Ausnahmen, die es auch jetzt schon gibt.Aber es gibt in unserem Entwurf keine Generalklausel,sondern eine abschließende Aufzählung aller Fälle, indenen von diesem Erfordernis Abstand genommen wird.Für die hier geborenen Kinder von Ausländern, die seitlangem in Deutschland leben, wollen wir eine Zusiche-rung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit ein-führen.
Diese Einbürgerungszusicherung löst alle praktischenFälle, die im Zusammenhang mit der Frage „Wie kön-nen Kinder hier aufwachsen?“ denkbar sind. Sie könnenso aufwachsen wie ihre Spielkameraden und wie ihreSchulkameraden. Sie können mit ihrer Schulklasse insAusland reisen. Sie können sogar eine Lehre im öffentli-chen Dienst aufnehmen.
Sie können bei der Polizei eine Ausbildung absolvieren.Es gibt also praktisch überhaupt nichts, was sie beiihrem Aufwachsen von deutschen Kindern und Jugend-lichen unterscheidet. Die Einbürgerungszusicherungvermeidet alle Probleme, die ich soeben aufgezählt habe.Das macht den Unterschied aus: Statt Ideologie zu be-treiben, sollten praktische Lösungen für die jungenMenschen hier in diesem Lande gefunden werden. Daszu erreichen wäre wichtig. Statt unser Land zu spalten,sollte es zu einer Versöhnung kommen.
Deshalb sage ich Ihnen – obwohl das nach manchenBeiträgen in dieser Debatte unglaublich schwerfällt –:
Aus Verantwortung für die jungen Menschen und geradeauch für die jungen Ausländer in diesem Land sind wirbereit, in Gespräche einzutreten, um zu einer vernünfti-gen und praktikablen Lösung zu kommen.
Das setzt allerdings voraus, daß Sie aufhören, den vor-liegenden Gruppenantrag bzw. Gesetzentwurf durch dieparlamentarischen Verfahren zu peitschen, und daß wirin vernünftige Gespräche eintreten. Ich fordere Sie des-halb auf: Lassen Sie davon ab, dieses Land zu spalten,bevor es zu spät ist! Wir brauchen eine vernünftige Lö-sung im Interesse der Menschen und vor allen Dingender Kinder in diesem Land.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido
Westerwelle, F.D.P.
Frau Präsidentin!Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Ver-ständnis dafür, daß ich Ihre Geduld noch einmal ganzDr. Jürgen Rüttgers
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kurz strapazieren muß. Aber als einer der Autoren desvorliegenden Gesetzentwurfes liegt mir an drei kurzenBemerkungen.Erstens. Wir sind – so wie Sie – Angehörige der Op-position. Deswegen würden wir es schon aus Prinzipnicht zulassen, daß die Rechte der Opposition imRahmen der Beratung dieses Gesetzentwurfes beschnit-ten werden.
Wir könnten es nicht akzeptieren, daß jemand berech-tigterweise den Vorwurf erheben müßte, der vorliegendeGesetzentwurf werde durchgepeitscht.
Das ist doch nicht erfolgt.
Deswegen ist das parlamentarische Verfahren, insbe-sondere die Anberaumung einer diesbezüglichen Anhö-rung für den 13. April dieses Jahres, im Innenausschußeinstimmig, also unter Zustimmung der Vertreter derCDU/CSU-Bundestagsfraktion, festgelegt worden.
Sie haben dem zugestimmt. Sie können hier nicht von„Durchpeitschen“ sprechen.Zweitens. Ich möchte Sie alle darauf aufmerksammachen, daß wir in der letzten Periode einen Reformauf-ruf vorgelegt bekommen haben, dem 30 Abgeordneteder CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt und densie unterschrieben haben.
Hier heißt es wörtlich:Die in Deutschland geborenen Kinder ausländi-scher Eltern erhalten mit der Geburt die deutscheStaatsangehörigkeit. Voraussetzung ist, daß ein El-ternteil dauerhaft und rechtmäßig in Deutschlandlebt, da zu erwarten ist, daß diese Kinder in unse-rem Land aufwachsen und bleiben werden. NachErreichen der Volljährigkeit sollen sie sich für eineder beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden.Punktum. Das wollen wir jetzt mit dem vorliegendenGesetzentwurf umsetzen.Ich appelliere an die CDU/CSU: Heben Sie denFraktionszwang auf! Lassen Sie die Abgeordneten derCDU/CSU-Fraktion, so wie dies alle anderen Fraktionenauch tun, über den vorliegenden Gruppenantrag frei ent-scheiden, wie wir das auch in bezug auf § 218 des Straf-gesetzbuches getan haben. Dann wird hier im DeutschenBundestag für die vorgelegte Reform mehr als eineZweidrittelmehrheit erzielt.
Drittens. Ich nehme, was den vorliegenden Gesetz-entwurf angeht, eine Vielzahl der von Ihnen vorgetrage-nen Argumente sehr ernst. Das ist für mich überhauptkeine Frage. Aber eine Sache kann ich nicht akzeptieren,und zwar, daß Sie den Eindruck erwecken, durch denvorliegenden Gruppenantrag werde der Doppelpaßdurch die Hintertür eingeführt. Das geschieht nicht.Verschiedene Redner der Grünen und der SPD habenausdrücklich bedauert, daß ihr ursprüngliches Modellvom Tisch ist – ich kann das verstehen –, weil wir die-sem Modell nicht zugestimmt haben. Es gibt also keinenDoppelpaß – nicht offen, nicht verdeckt, nicht durch dieHintertür und nicht von vornherein. Er ist ausdrücklichausgeschlossen worden.Diejenigen Regelungen in unserem Gesetzentwurf,die eine Mehrstaatlichkeit vorsehen, entsprechen derbisherigen Rechtslage. § 87 des Ausländergesetzes ent-hält genau diese Gründe, warum man eine Mehrstaat-lichkeit hinnehmen kann: zum Beispiel, wenn ein jungerMensch, der hier geboren wurde, aus seiner alten Staats-angehörigkeit nicht entlassen wird, so wie wir das ausdem Iran und manchmal bei jungen wehrfähigen Män-nern aus Serbien kennen. Wenn das so ist, können wirdoch nicht allen Ernstes sagen: Du darfst nicht Deut-scher werden.In meine Kanzlei – dies war einer meiner ersten Pro-zesse, lange bevor ich in die Politik ging – kam ein jun-ger Serbe, der pfälzischen Dialekt sprach und eingebür-gert werden wollte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Entschuldigen Sie,
eine letzte Bemerkung. – Dieser serbische Kfz-Lehrling,
der hier groß geworden ist und nur einmal in seinem Le-
ben auf Besuch zu Hause in Jugoslawien war, konnte
nicht aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen werden,
weil man für die Annahme des Ausbürgerungsantrages
fast 10 000 DM Gebühren verlangt hat. Das kann ein
Kfz-Lehrling nicht bezahlen. Für solche Fälle, in denen
jemand nicht aus der alten Staatsangehörigkeit entlassen
werden kann, muß es die Möglichkeit der Mehrstaat-
lichkeit geben. Das ist Recht heute, und das ist Recht in
Zukunft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Werter Kollege Rüttgers! Ich hatte Ihnen eigentlich eineZwischenfrage stellen wollen. Denn ich möchte etwasüber Ihren Gesetzentwurf, der ja erst seit drei Tagenvorliegt, lernen, weil er meines Erachtens Fragen auf-wirft. Sie haben sehr wenig über Ihren Gesetzentwurf,aber viel über den Gesetzentwurf der „Koalition derDr. Guido Westerwelle
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Vernunft“ gesprochen. Sie haben dafür wahrscheinlichgute Gründe. Denn ich glaube, Ihr Gesetzentwurf ist imwesentlichen „Blindtext“.In diesem Land werden jährlich etwa 100 000 Kinderausländischer Eltern geboren. Die heutige Rechtslageist, sie sozusagen im Kreißsaal auszubürgern. DiesenZustand wollen wir beenden, das wollen wir mit die-sem Optionenmodell zumindest erreichen. Ich habe jetztdie ganz konkrete Frage: Was ändert sich für dieseKinder nach Ihrem Gesetzesvorschlag gegenüber derheutigen Rechtslage? Wenn die Kinder hier geborensind, sind sie mit 18 – das ist das Alter, bei dem Sie dieZusicherung der Einbürgerung geben wollen – länger als15 Jahre in diesem Land und haben deshalb nach gelten-dem Ausländerrecht einen Rechtsanspruch auf Ein-bürgerung.Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen, füreine Verwirrung der Öffentlichkeit mit neuen Begrif-fen. In der Substanz ändern Sie nichts. Aus Sicht derhier geborenen Kinder muß man sagen: Der Berg – dieUnion – kreißte und gebar nicht einmal eine Maus.Die Union war schlicht scheinschwanger. Ich wür-de mich freuen, wenn Sie mich jetzt belehren, daßSie doch schwanger sind. Erläutern Sie mir einmalIhren Vorschlag: Was ändert sich gegenüber dem Ist-Zustand?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Mi-
chael Bürsch, SPD-Fraktion.
Herr Rüttgers, ich hattezu Beginn der Debatte dafür plädiert, die Diskussiondurchaus leidenschaftlich, aber tolerant und sachbezo-gen zu führen. Das haben Sie auch für sich reklamiert.Bloß, Ihre Rede war insofern ein Widerspruch in sich. –Drei Bemerkungen.Erstens. Zu der Unterschriftenaktion, auf die auchandere CDU/CSU-Redner verwiesen haben – für Siewar sie eine Frage der Aufklärung –, sagt jemand wieRichard von Weizsäcker:Die Materie ist für plebiszitär eingesammelte Un-terschriften viel zu komplex. Eine solche Ak-tion könnte es auch beim besten Willen nichtvermeiden, „Ausländer raus!“-Instinkte zu schü-ren. Sie paßt nicht zu einer Partei, die sich mitgroßem Recht zum Zusammenschluß Europasbekennt.Das ist eine Stimme aus Ihren Reihen.Zweitens. Seien Sie doch so ehrlich, zuzugeben, daßes auch bei Ihnen keine Einheitsmeinung gibt, HerrRüttgers. Es handelt sich um eine schwierige Materie,bei der unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen.In Ihrer Fraktionssitzung am 19. Januar ist das ebenfallspassiert. Die „FAZ“, wirklich kein SPD-Blatt, hat langund breit berichtet, was da passiert ist: Ein Drittel hatsich für das Optionsmodell ausgesprochen. – Das kön-nen doch nicht Idioten oder verfassungsmäßig Blindegewesen sein;
auch diese Menschen haben sich doch dabei etwas ge-dacht. Frau Merkel, Herr Rühe, Herr von Klaeden undandere wirklich honorige Mitglieder Ihrer Fraktion –man kann noch mehr Namen nennen: Geißler, Blüm,Schwarz-Schilling und Frau Süssmuth – haben sich ausihrer Überzeugung heraus, weil sie Art. 38 GG ernstnehmen, für dieses Optionsmodell ausgesprochen. Die„FAZ“ berichtet über die Fraktionssitzung, daß darauf-hin von CSU-Abgeordneten Schmährufe wie „IhrWeichlinge!“ kamen, ebenso laut wie die Aufforderung:„Macht doch gleich eine Große Koalition!“
Diese Art der Diskussion entspricht nicht der Toleranz,die dieses Thema verlangt.
Dann gab es noch einen weiteren Zwischenruf in Ih-rer Fraktion, der sehr interessant ist; er ist in der „FAZ“nachzulesen:Was hier passiert, ist das gleiche wie in den ande-ren europäischen Staaten, der Zerfall des bürgerli-chen Lagers.So wird das bei Ihnen diskutiert. Ich glaube, da müssenSie sich an Ihre eigene Nase fassen und prüfen, ob dastolerant ist, ob das dem entspricht, was Sie hier einfor-dern.Drittens. Bundeskanzler a. D. Kohl, den ich vorhinzitiert habe, hat im Mai 1993 bei seinem Besuch in derTürkei gesagt, er wolle zustimmen, in Deutschland ge-borenen Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaftbefristet zuzugestehen. Nach einer Spanne von fünf Jah-ren müßten sich diese dann zwischen dem deutschenund dem ausländischen Staatsbürgerschaftsrecht ent-scheiden. Er hat bei seinem dortigen Aufenthalt auch si-gnalisiert, die Interessen der 1,8 Millionen Türken inDeutschland bei der Novellierung des Staatsangehörig-keitsrechts zu berücksichtigen. – Bravo, Herr Kohl! Dassind Dinge, die bei Ihnen völlig zu Recht strittig und lei-denschaftlich diskutiert werden.Aber ich plädiere dafür: Lassen Sie uns bei aller Lei-denschaft in der Debatte darauf achten, daß das Themasensibel ist – wie Sie selber geschrieben haben – unddaß wir zu einer Lösung kommen, die der Integrationdient.Ein letzter Hinweis – auch Herr Westerwelle hat dasangesprochen –: Wir peitschen das nicht durch. Ich habedarauf verwiesen: Das Thema Jus soli steht seit 86 Jah-ren auf der Tagesordnung, nämlich seit 1913. Das ist al-Volker Beck
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2316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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so wirklich nicht neu. Sie können nicht sagen, daß wirhier etwas völlig Neues erfinden und Sie das nicht schonlange gewußt haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Herr
Kollege Rüttgers, bitte.
Herr Kollege
Bürsch, ich habe all das, was Sie hier aus Zeitungen
vorgelesen haben, mit Interesse gehört; ich hatte es auch
gelesen.
– Ich habe auch an der Debatte teilgenommen. – Ich
weiß nur, daß wir in unserer Fraktion mit großem Enga-
gement um die richtige Lösung gerungen haben. Bitte
nehmen Sie zur Kenntnis: Als wir in unserer Fraktion
ganz offen und freundschaftlich um den richtigen Weg
gerungen haben, etwas für die hier geborenen Kinder
ausländischer Familien zu tun, haben Herr Bundesin-
nenminister Schily und Herr Özdemir in den Zeitungen
bekanntgegeben, daß das Optionsmodell verfassungs-
widrig ist. Damit sollten Sie sich einmal auseinanderset-
zen. Insofern finde ich das, was Sie hier sagen, nicht be-
sonders erhellend.
Wir haben uns klar für das entschieden, was nach un-
serer Meinung richtig ist. Nehmen Sie bitte zur Kennt-
nis, daß niemand aus der Fraktion der CDU/CSU – auch
nicht diejenigen, die bei den ausländischen Kindern ger-
ne einen Schritt weiter gegangen wären – Ihren Grup-
penantrag unterschrieben hat. Niemand aus der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihn unterschrieben,
weil wir der Auffassung sind – das habe ich darzulegen
versucht –, daß dieser Entwurf nicht nur von der juristi-
schen, sondern vor allen Dingen auch von der prak-
tischen Seite her für diejenigen, die hier leben, schädlich
ist, daß er nicht integrationsfördernd, sondern integra-
tionshemmend ist. Deshalb bleiben wir bei einem Nein
zu Ihrem Entwurf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Ge-setzentwurf, der Ihnen heute vorliegt, ist das Ergebniszahlreicher Gespräche mit Vertretern der Landesregie-rungen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages.Ich danke allen, die sich an diesen konstruktiven Ge-sprächen beteiligt und zu einer Versachlichung der Dis-kussion jenseits der Schlagwortrhetorik beigetragen ha-ben. Insbesondere habe ich Anlaß, den Koalitionsfrak-tionen und der Fraktion der F.D.P. sowie der rheinland-pfälzischen Landesregierung unter Führung von Mi-nisterpräsident Kurt Beck zu danken.
Mein Dank gilt aber auch der Mehrzahl der übrigenBundesländer, die sich in den Diskussionen sehr kon-struktiv verhalten haben.Ich bin überzeugt, daß der Gesetzentwurf, der imRahmen der Ausschußberatungen in einzelnen Formu-lierungen möglicherweise noch der Überarbeitung be-darf, in der Schlußabstimmung eine breite Mehrheit imBundestag und im Bundesrat finden wird. Wir bilden ein„Bündnis der Vernunft“, das auch die Zustimmung derüberwiegenden Mehrheit unseres Volkes finden wird.Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß sich die-sem Bündnis der Vernunft auch diejenigen aus derCDU/CSU-Fraktion hinzugesellen, die in der Vergan-genheit haargenau denselben Standpunkt vertreten habenwie wir.
Herr Rüttgers, die Aufregung, die Sie heute mit IhremRedebeitrag dargestellt haben, kann ich mir nur so erklä-ren, daß ein tiefer Riß durch Ihre Fraktion geht, den Sieübertünchen wollen.
Daß Modernisierungsbedarf hinsichtlich des Staats-angehörigkeitsrechtes besteht, wird von allen Seiten desHauses anerkannt. Die frühere Bundesregierung hat sichjeweils zu Beginn der zurückliegenden Legislaturperi-oden die als dringlich erkannte Reform des Staatsbür-gerschaftsrechtes vorgenommen. Sie ist jedoch mit die-sem Vorhaben mangels Einigungsbereitschaft unter denfrüheren Koalitionspartnern immer wieder gescheitert.Wenn jetzt von seiten der CDU/CSU-Fraktion versuchtwird, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes wiederauf die lange Bank zu schieben, ist das nicht seriös.
Leider muß ich auch aus der heutigen Debatte denEindruck gewinnen, daß die CDU/CSU in dieser Fragezu großen Teilen nicht dialogfähig ist. Ich muß das sosagen im Hinblick auf einige Äußerungen, mit denen Siezum Beispiel immer wieder versucht haben, das ThemaStaatsangehörigkeitsrecht mit der Frage der Verfas-sungstreue und mit Kriminalitätserscheinungen zu ver-binden. Sie wissen ganz genau, daß Sie da an bestimmteEmotionen rühren, die diese Debatte verdunkeln kön-nen. Lassen Sie sich einmal von kirchlichen Kreisen sa-gen, daß man mit diesem Thema so nicht umgehen darf.
Jeder Mensch kommt unschuldig auf die Welt, nichtals Fanatiker, nicht als Verbrecher. Deshalb kann es ei-nem deutschen Kind deutscher Eltern geschehen, daß esleider zu einem Verbrecher wird. Es kann einem deut-Dr. Michael Bürsch
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2317
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schen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es leider zueinem Fanatiker wird, wie wir zum Beispiel an denSkinheads erkennen. Wollen wir darauf so reagieren,daß wir die Jugendlichen, die diese Fehlentwicklung er-fahren haben, ausbürgern? Ist das Ihre Vorstellung vonDemokratie und Verfassung?
Oder wollen Sie ungleiches Recht für die Jugendlichenschaffen, die von ausländischen Eltern geboren wurdenund hier in gleicher Weise aufgewachsen sind? WollenSie für die ein Extrarecht einführen? Vergewissern Siesich erst einmal über das, was Sie sagen, ehe Sie mitdieser Polemik fortfahren.Gewiß ist der Entwurf, den wir heute beraten, einKompromiß. Er ist übrigens ein Kompromiß, der inder Tat für diese Legislaturperiode dann auch als ab-schließender betrachtet werden sollte. Das ist meineÜberzeugung; damit wir uns da nicht etwas vor-machen. Allerdings sage ich zugleich: Eine umfassendeReform des Staatsbürgerschaftsrechts, auch wegeneiniger wichtiger Fragen aus der Vergangenheit, stehtuns noch bevor. Deshalb werden wir daran weiterar-beiten. Ich hoffe, daß wir mit einer noch breiterenMehrheit wieder in den nächsten Bundestag einziehen,und dann wird dieses Thema wieder auf der Tagesord-nung stehen.
Der Kompromiß bleibt hinter dem, wie ich finde,konsequenteren Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion ausdem Jahre 1993 und dem ebenfalls konsequenteren Ar-beitsentwurf auf der Grundlage der Koalitionsvereinba-rung vom Januar dieses Jahres zurück. Jedoch sollte derReformschritt, der mit dem jetzt eingebrachten Gesetz-entwurf vollzogen wird, deshalb nicht unterschätzt wer-den. Es ist eine Reform von großer Tragweite, wenn imdeutschen Staatsangehörigkeitsrecht festgelegt wird, daßdie Kinder der sogenannten zweiten Ausländergenera-tion – das sind die in Deutschland geborenen Kinderausländischer Eltern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus– künftig mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeiterwerben. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Op-tionspflicht entspricht der Beibehaltung des Grund-satzes, daß Mehrstaatlichkeit nach Möglichkeit vermie-den werden soll. Die verfassungsrechtlichen Probleme,die sich in diesem Zusammenhang stellen, erscheinenmir auf Grund der gutachterlichen Stellungnahmen, diewir eingeholt haben, lösbar.Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie sichdas Optionsmodell auf die Verwaltungspraxis aus-wirken wird. Leider – das sage ich ganz offen – müs-sen wir damit rechnen, daß bei seiner verwaltungsmä-ßigen Umsetzung einige Schwierigkeiten auftreten wer-den. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, dieSchwierigkeiten so gering wie möglich zu halten. Im-merhin – das sollte nicht übersehen werden – schaffenwir mit diesem Gesetzentwurf für die Einbürgerungs-behörden auch erhebliche Erleichterungen. Dazu ge-hört folgendes:Erstens. Die generelle Verpflichtung der Einbürge-rungsbehörden, vor einer beabsichtigten Einbürgerungdie Zustimmung des Bundesministeriums des Innerneinzuholen, wird aufgehoben. Zugleich wird dem Bun-desministerium des Innern das Recht übertragen, zurAusführung des Staatsangehörigkeitsrechts allgemeineVerwaltungsvorschriften zu erlassen. In der Praxis istfür die weitaus meisten Fälle ohnehin die Zustimmungim Wege der Vorabzustimmung allgemein erteilt wor-den, so daß mit dieser Rechtsänderung im Ergebnis eineAnpassung an die Einbürgerungspraxis erfolgt.Zweitens. Ferner wird die Zuständigkeit für Staatsan-gehörigkeitsangelegenheiten von im Ausland lebendenAntragstellern beim Bundesverwaltungsamt konzen-triert. Diese Fälle mit Auslandsberührung, in denen beibeabsichtigten Einbürgerungen derzeit noch relativ häu-fig eine Einzelfallbeteiligung des Bundesministeriumsdes Innern erfolgt, können dadurch leichter nach ein-heitlichen Kriterien behandelt werden.Drittens. Schließlich werden die Gebühren der Ein-wanderungsbehörden für die Anspruchseinbürgerungnach dem Ausländergesetz auf ein kostendeckendesNiveau angehoben, und zwar von bisher 100 DM aufgrundsätzlich 500 DM; für die Einbürgerung Minderjäh-riger ohne eigenes Einkommen bleibt es bei einer Ge-bühr von 100 DM. Das sage ich an die Adresse vonHerrn Minister Schäuble, der diese Verwaltungsangele-genheiten in seiner Rede angesprochen hat.Viertens. Die wichtigste Verwaltungsvereinfachungbesteht darin, daß die Einwanderungsbehörden von denVerfahren zur Einbürgerung von Deutschen ohne deut-sche Staatsangehörigkeit – gemeint sind die sogenanntenStatusdeutschen im Sinne des Art. 116 des Grundgeset-zes; das sind Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedlersowie ihre Familienangehörigen – entlastet werden. Diegenannten Personengruppen erwerben die deutscheStaatsangehörigkeit künftig automatisch kraft Gesetzes.Das Verfahren einer Anspruchseinbürgerung in jedemEinzelfall – 1997 mußten immerhin zirka 195 000 Fällebearbeitet werden – wird abgeschafft.Der Gesetzentwurf enthält auch für die erste Auslän-dergeneration im Rahmen der Anspruchseinbürgerungdeutliche Verbesserungen. Die Frist für die Anspruchs-einbürgerung wird von 15 auf 8 Jahre verkürzt, und dieAusnahmeregelungen in § 87 Ausländergesetz werdengegenüber dem geltenden Recht flexibler gestaltet. –Herr Dr. Rüttgers, das ist nicht Mehrstaatlichkeit durchdie Hintertür – Herr Kollege Westerwelle hat das schonrichtig angesprochen –; im wesentlichen ist das gelten-des Recht. Zum Teil haben wir aus den Einbürgerungs-richtlinien einiges in den Gesetzestext überführt. WissenSie, Herr Kollege Rüttgers, wir sind für Anregungenimmer dankbar. Nun nehme ich Ihren Gesetzestext undfinde darin auf Seite 13 eine Passage, in der es unter Zif-fer 3 heißt, daß vom Ausscheiden aus der bisherigenStaatsangehörigkeit abgesehen werden kann,
Bundesminister Otto Schily
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2318 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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wenn eine mindestens 35 Jahre alte antragstellende Per-son zwar die Verweigerung der Entlassung zu vertretenhat, sich aber seit 15 Jahren nicht mehr im Heimatstaataufgehalten hat, sofern sie während dieser Zeit minde-stens 5 Jahre rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthaltim Bundesgebiet hatte.Wissen Sie, das ist ein gute Anregung; die werdenwir übernehmen, darüber kann man reden.
– Herr Westerwelle hat Bedenken. – Aber es ist immer-hin interessant, daß Sie mit der Hinnahme derMehrstaatlichkeit eine so weit gehende Regelung ein-führen wollen. Ich bedanke mich ausdrücklich für dieseAnregung, Herr Dr. Rüttgers.
Auch die in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Ein-bürgerungserleichterungen sollten im Sinne einer umfas-senden Integrationspolitik als Angebot zur gleichbe-rechtigten Teilhabe an die erste Generation der bei unslebenden Bürgerinnen und Bürger ausländischer Her-kunft verstanden werden. Sicherlich kann ein umfassen-des Integrationskonzept nicht allein auf die Reform desStaatsangehörigkeitsrechts beschränkt werden. Aber dieStaatsangehörigkeitsreform ist ein wesentliches Elementeiner umfassenden Integrationspolitik. Die Reform desStaatsangehörigkeitsrechts ist sogar mehr als das: Sie istder Kern eines umfassenden Integrationskonzeptes, weilIntegration – davon bin ich fest überzeugt – nur gelingenkann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischerHerkunft über den Erwerb der deutschen Staatsange-hörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird.
Alles andere ist fauler Zauber, mit dem man davon ab-lenken will, daß diese gleichberechtigte Teilhabe nichtgewollt ist.Wer im übrigen beständig den vermeintlichen Inte-grationswillen beteuert, aber zugleich durch fragwürdigeAktionen Ausländerfeindlichkeit schürt und damit dieSpaltung der Gesellschaft vertieft sowie seinen eigenenWorten zuwiderhandelt, sie quasi dementiert, kann indieser Debatte nicht als glaubwürdig gelten.
Wer sich dem gesellschaftlichen Frieden verpflich-tet weiß, muß daher die Reform des Staatsangehörig-keitsrechtes unterstützen. Wer die Bedeutung des gesell-schaftlichen Friedens erkannt hat, muß sich um Ver-ständnis und Ausgleich bemühen sowie von den altenHorrorbildern verabschieden. Ich habe noch die Wortedes bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber imOhr, als er – leider – von der „homogenen, nicht durch-raßten Gesellschaft“ gesprochen hat. Manches, washeute geäußert wurde, ist ein böser Widerhall dieserschlimmen Worte.
Wer nach Wegen sucht, den gesellschaftlichen Frie-den zu festigen, muß sein Selbstverständnis überprüfenund den Gegebenheiten einer globalisierten Welt anglei-chen. Es ist seltsam, daß die CDU/CSU keine Problememit der Mehrstaatlichkeit eines Otto von Habsburg hat,jedoch einem Bürger türkischer Herkunft, der seit Jahr-zehnten bei uns lebt, gute Arbeit leistet, Steuern und So-zialversicherungsbeiträge zahlt, ein rechtschaffenes Le-ben führt und unsere Gesellschaft auch in kulturellerHinsicht bereichert, die Beibehaltung seiner früherenStaatsangehörigkeit verweigert.
Mehrstaatlichkeit als Adelsprivileg scheint mir eine ziem-lich veraltete und verquere Anschauungsweise zu sein.
Daß eine solche rückwärtsgewandte Politik so weit geht,daß ein CSU-Bewerber um ein bayerisches Oberbür-germeisteramt – ich zitiere wörtlich – „bis zum letztenBlutstropfen“ gegen ein modernes Staatsangehörigkeits-recht kämpfen will, hat dabei eine unfreiwillige Komik,die kaum noch zu überbieten ist.
Aber die Sache, um die es geht, ist überhaupt nichtkomisch, sondern sehr ernst. Wenn es uns nicht gelingt,durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht und einumfassendes Integrationskonzept die Ligaturen der Ge-sellschaft zu festigen, dann müssen wir damit rechnen,daß sich Konfliktpotentiale vergrößern, von denen wir inden zurückliegenden Jahren allenfalls eine Vorahnunghatten.Wir müssen uns auf die grundsätzlichen Fragen be-sinnen. In einem lesenswerten Aufsatz in der „Süddeut-schen Zeitung“ hat Reinhard Kreissl diesen Gedankenvor wenigen Tagen so auf den Punkt gebracht:Die Auseinandersetzung um das neue Staatsange-hörigkeitsrecht hat uns eine Debatte beschert, ander man vor allen Dingen eines lernen kann: Wirwissen nicht, wer zu uns gehört, oder, anders for-muliert, wir wissen nicht, wer wir sind.Ich für meinen Teil habe auf beide Fragen eine einfa-che Antwort: Zu uns gehört, wer die Verfassung und de-ren Grundwerte achtet und unsere Gesetze einhält. Zuuns gehört, wer sprachfähig ist. Zu uns gehört, wer sichmit dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland aufseine eigene Weise ohne Leitkultur verbinden will. Werwir sind, erkennen wir an der Würde jedes einzelnenMenschen, die zu achten und zu schützen uns durchArt. 1 des Grundgesetzes aufgegeben ist.
Bundesminister Otto Schily
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2319
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/533, 14/535, 14/532 und 14/534 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung des politischen Extremismus
– Drucksache 14/295 –
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2320 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbezum Thema Extremismus noch vieles hinzuzufügen,insbesondere was die unterschiedliche Wahrnehmungvon Extremismus in den neuen Bundesländern betrifft
oder was die Frage betrifft, wie gewaltbereite Jugendli-che wieder in die Gesellschaft integriert werden können.Doch hierfür fehlt mir heute die Redezeit.Es bleibt festzuhalten: Die Bekämpfung des Extre-mismus hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn derStaat bereit ist, Extremisten und Gewalttätern von linksund rechts gleichermaßen entschlossen entgegenzutre-ten. Unsere Mitglieder dürfen sich nicht auf die Rängeeiner „Zuschauerdemokratie“ zurückziehen. Der mündi-ge Bürger und die aktive Bürgergesellschaft müssenExtreme und Extremisten in die Schranken weisen. Da-zu wollen wir von der CDU/CSU mit diesem Antrageinen Beitrag leisten.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
SPD spricht jetzt die Kollegin Ute Vogt.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden, lie-ber Herr Kollege Grund, fällt es mir ziemlich schwer,Manfred Grund
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2321
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auf der Grundlage Ihres vorgelegten Antrags eine Dis-kussion über dieses sehr wichtige und grundlegendeThema zu führen. Beim ersten Durchlesen Ihres Antragshabe ich mir gedacht, er hilft nicht und er schadet nicht,weil er nicht besonders viel enthält. Beim näheren Hin-schauen bin ich aber ziemlich zornig geworden.Die Überschrift Ihres Antrags lautet zwar „Bekämp-fung des politischen Extremismus“, aber Sie haben keineinziges Wort darüber verloren, wie man politischenExtremismus bekämpfen kann. Sie haben nur die Gele-genheit genutzt, sich über allgemeine Strömungen aus-zulassen, die Ihnen nicht passen. Sie haben keinen Tonzu dem gesagt, was wir uns zueigen machen müssen,
nämlich eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie ge-hen wir damit um, daß extremistische Strömungen unse-re Demokratie bedrohen?Jetzt zitiere ich einmal aus Ihrem Antrag. Sie schrei-ben, es geht darum, daß wir auch künftig in der Infor-mation über das parlamentarische Regierungssystemeine wichtige Aufgabe sehen. Wollen Sie mit solchenPlattheiten dem Extremismus den Boden entziehen? –Das kann ich mir nun wirklich kaum vorstellen.Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger ferner einla-den, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzuneh-men. Dafür sind auch wir. Aber wie wollen Sie das ma-chen? – Diese Anwort sind Sie schuldig geblieben. Eskönnte etwa darum gehen: Wollen Sie mehr Fernseh-übertragungen? Dafür sind wir tatsächlich auch. Abereinmal ganz ehrlich gesagt: So, wie es hier zuweilen,auch in der Auseinandersetzung, zugeht, weiß ich nicht,ob mehr Fernsehübertragungen und die Erhöhung derZahl der Besuchergruppen dem Zweck dienen könnten,die Akzeptanz des Parlaments zu erhöhen.
Was ich mir in diesem Zusammenhang durchaus wün-schen würde, ist, daß wir einmal eine Auseinanderset-zung – ich meine das jetzt wirklich ernsthaft – über dieFrage führen, wie hier debattiert wird, in welcher Weiseman miteinander umgeht, ob Argumente zum Tragenkommen. Denn ich habe den Eindruck, in vielen unsererDebatten – das gilt nicht für alle – beschränken wir unsauf das Austauschen von Schlagworten. Das machteinen häufig ziemlich unzufrieden, und das ist sichernicht nur auf eine Partei, sondern auf alle zu beziehen.Ich würde mich freuen, wenn wir das zum Anlaß näh-men, zu sagen: Wir überprüfen einmal, wie die Diskus-sionskultur bei uns ist, und überlegen, wie wir in dieserBeziehung etwas tun können. Damit wäre vielleicht eineerhöhte Akzeptanz zu erreichen.Aber wenn die Frage angesprochen wird, wie wir dieLeute beteiligen können, wie wir die Arbeit des Parla-ments so gestalten können, daß die Menschen mehr teil-haben können, wäre aus meiner Sicht etwas ganz ande-res notwendig, zum Beispiel zu sagen: Wir eröffnen denMenschen auch die Möglichkeit zur direkten Beteili-gung. Dabei hat sich die Fraktion der CDU/CSU bisherganz massiv zurückgehalten. Sie sammeln Unterschrif-ten; aber Sie sind nicht bereit, die Menschen wirklichabstimmen zu lassen. Wenn man eine Grundgesetzände-rung in Richtung auf die Möglichkeit eines Volksent-scheides oder der direkten Mitbestimmung durchführenwürde, wäre das ein Beitrag, mit dem man die Absichtumsetzen könnte: Wir wollen wirklich, daß die Men-schen Demokratie mitgestalten. Jedenfalls wäre das eingrößerer Beitrag, als wenn man nur davon spricht, daßdie Menschen verstärkt an der Arbeit des Parlamentsteilnehmen sollen, weil sie das nach der jetzigen Verfas-sungslage, zumindest was die direkte Parlamentsarbeitangeht, nur als Zuschauer tun können.Sie schreiben weiter:Populistische Parolen extremistischer Gruppierun-gen und Parteien tragen nicht zur Lösung gegen-wärtiger Probleme bei …Dazu muß ich Ihnen sagen: Das gilt nicht nur für Paro-len extremistischer Parteien, sondern das gilt auch fürParolen der CDU/CSU, wie sie zum Beispiel in der vor-angegangenen Debatte ausführlich zu hören waren.
Man kann Ihnen vielleicht unterstellen, daß Ihre Be-weggründe für die Unterschriftenaktion nicht waren,solche Parolen loszutreten.
Sie hätten aber dann wenigstens im Laufe dieser Aktio-nen auf Grund der Reaktionen an den Infoständen, aufGrund dessen, was hochkam, auf Grund der Leserbriefe,die an die Zeitungen geschickt wurden – Dinge, dieselbst konservative Zeitungen nicht mehr veröffentlich-ten, weil man gesagt hat, daß eine solche Hetze in einemsolchen Maße nicht mehr zulässig ist –, Verantwortungübernehmen müssen und hätten sagen müssen: Wir un-terbrechen unsere Aktion.
– Ich war in Städten an Infoständen, wo man mich nichtgekannt hat, und ich kann Ihnen sagen: Vielleicht ist esbei Ihnen im Land ganz gesittet abgelaufen, aber diebaden-württembergische CDU hat dabei Reaktionenprovoziert,
die genau dem entsprechen, was Sie hier verurteilen,nämlich populistische Parolen und einem brutalen„Ausländer raus“-Stimmungsgefühl.
Ute Vogt
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2322 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Weiterhin formulieren Sie, daß nicht nur die PolitikVerantwortung hat, sondern auch andere gesellschaftli-che Gruppen. Sie sprechen davon, daß diese Verant-wortung auch die Kraft zur Differenzierung umfaßt. Da-zu muß ich Ihnen sagen: Ich kann nicht verstehen, wieSie zum einen so etwas Läppisches – jetzt sage ich eseinmal – zu diesem Thema einbringen können und wieSie zum anderen auch noch die Stirn haben – nach dem,was heute morgen hier geäußert wurde –, über so etwasauch noch debattieren zu lassen. Sie sprechen von derKraft zur Differenzierung und haben bewiesen, daß Sieselber nicht in der Lage sind, zu vielen wichtigen The-men, in denen sich das Problematische im Umgang mitder Öffentlichkeit widerspiegelt, die erforderlich ma-chen, daß wir sehr differenziert argumentieren, und dieden Extremismus in unserem Land geschürt haben, dif-ferenziert Stellung zu nehmen.
Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Wenn Sie wol-len, daß Politik Verantwortung übernimmt, vor allenDingen aber, daß sich andere verantwortlich verhalten,dann müssen Sie diese Verantwortlichkeit vorleben. Dagenügt nicht ein Satz in einem Antrag. Es muß praktischagiert werden. Es ist nämlich viel entscheidender, wieman sich verhält. Jede Mutter und jeder Vater wissen,daß das eigene Vorbild wesentlich mehr bewirkt als das,was man den Leuten erzählt.
Daher bitte ich Sie, diese Dinge nicht nur in einemSatz einzufordern, sondern zu sagen: Mein eigenes Ver-halten wird dazu beitragen, daß es differenzierte Diskus-sionen gibt. Das wäre die eigentliche Lösung für dasProblem, um zu verhindern, daß extremistische Stim-mungen populistisch verschärft werden. – Weil Sie amSchluß Ihres Antrags an jeden einzelnen appellieren,sich zu prüfen, möchte ich Sie bitten: Prüfen Sie sich indieser Frage zuallererst selbst!Ich möchte Ihnen sagen, wie wir mit diesem Themaweiter verfahren sollten. Dieses Thema ist uns wichtig.Deswegen möchten wir es nicht – wie Sie – dabei belas-sen, lapidare Sätze niederzuschreiben. Wir würden gerneeine intensive Diskussion führen mit denen, die sich da-für interessieren und die zuhören. Wir möchten auch ei-ne ausführliche Debatte im Bundestag vorbereiten. Wirkönnten uns gut vorstellen, den Zeitpunkt des Umzugsnach Berlin zu nutzen, um zu Beginn unserer Arbeitdort, im September oder Oktober, ein entsprechendesSignal zu setzen. Wir werden seitens unserer Fraktioneinen ausführlichen Antrag dazu vorlegen. Darin werdennicht nur Appelle enthalten sein, sondern vor allem ganzkonkrete Maßnahmen benannt werden.Wir sollten uns darüber unterhalten: Aus welchemsozialen Umfeld kommen die Leute? Wie sollen wir dassoziale Umfeld gestalten? Gelingt es uns, die Arbeits-plätze zu schaffen, die wir brauchen? Gelingt es uns,über Bildungspolitik Einfluß zu nehmen? Gelingt es unsüber die Jugendarbeit? Wir sollten uns aber auch fragen:Gibt es rechtliche Maßnahmen, mit denen man zum Bei-spiel die organisierten Extremisten belegen kann? Gibtes auch für uns eine Möglichkeit, ein Bewußtsein fürmehr Zivilcourage zu schaffen?Es gibt eine ganze Reihe von konkreten Themen, dieman in diesem Zusammenhang in Angriff nehmen muß.Ich denke, wir sollten uns Zeit nehmen und nicht nur ei-ne kleine Willenserklärung abgeben, sondern uns wirk-lich ernsthaft mit den Ursachen von Extremismus aus-einandersetzen. Wir sollten eine tiefgehende Auseinan-dersetzung führen mit dem Ziel, gemeinsam ein starkesSignal zu setzen, mit dem Ziel, daß es der gesamte Bun-destag nicht dabei beläßt, Links- und Rechtsextremis-mus gegeneinander auszuspielen, wie es Teile von Ihnenversucht haben, sondern deutlich macht: Wir stehen fürdie parlamentarische Demokratie. Wir stehen für einelebendige Demokratie. Wir wollen, daß sich Bürgerin-nen und Bürger einbringen; wir wollen sie einbeziehen.Wir setzen ein Signal, um gemeinsam gegen den Extre-mismus vorzugehen.Dazu müssen Sie allerdings diesen zusammenge-schriebenen Antrag beiseite legen, sich einmal tieferge-hende Gedanken machen und sich dann mit uns ausein-andersetzen, um eine gemeinsame, starke Willenserklä-rung zustande zu bringen. Das hätte eine entsprechendeöffentliche Wirkung; denn das wäre ein deutlichesSignal. Im übrigen wäre dies dem Thema wesentlichangemessener als dieses kleinkarierte Hickhack, wie esmeinem Eindruck nach in Teilen Ihrer Beiträge zumAusdruck gekommen ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Der liberale Rechtsstaat des Grund-gesetzes ist eine wehrhafte Demokratie, wie das Bun-desverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat.Deshalb zählt die Bekämpfung des politischen Extre-mismus zu den wichtigen Daueraufgaben der Innen- undGesellschaftspolitik. Die Bedeutung des Themas ließesich auch durch zahlreiche aktuelle Vorgänge belegen.So ist es schon ein bedenkliches Zeichen, wenn politi-sche Veranstaltungen aus Angst vor extremistischerGewalt nicht mehr durchgeführt werden können.
Genau dies ist zum Beispiel dem Landesverband Bran-denburg der Jungen Liberalen am 6. März mit einer be-absichtigten Podiumsdiskussion zur Reform des Staats-angehörigkeitsrechts passiert.Ein so ernstes und bedeutsames Thema muß dannaber im Deutschen Bundestag auch auf angemessenerGrundlage behandelt werden. Der vorliegende Antragder CDU/CSU genügt diesem Anspruch leider nicht.
Ute Vogt
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2323
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Er läßt jede klare Gedankenführung vermissen. Dieschwierige Thematik wird allenfalls an der Oberflächeberührt. Einzelne richtige und weiterführende Gedankenmischen sich in bunter Reihe mit Binsenweisheiten. Ins-gesamt wirkt der Antrag so, als sei er rasch und liebloszusammengeschustert worden.
Kurz gesagt – ich kann es Ihnen nicht ersparen –: Miteinem solch dürftigen Antragstext wird ein wichtigesThema geradezu verschenkt.
Deshalb hat man sich natürlich gefragt – auch bei derAbfassung dieses Redemanuskriptes habe ich mich ge-fragt –, worin denn die Zielsetzung eines so formuliertenAntrags liegen könnte. Ich habe schon befürchtet, daß erhauptsächlich den Zweck hat, die üblichen Diskussions-rituale in Gang zu bringen, die auf bestimmte Reizwör-ter wie Pawlowsche Reflexe folgen.
Es war vorherzusehen, daß Sie der SPD die PDS vor-halten. Es war vorherzusehen, daß mit der Unterschrif-tenaktion gekontert wird.Meine Damen und Herren, ich finde, all dies führtnicht sonderlich weiter. Dabei gäbe es vieles, was drin-gend aufgearbeitet werden müßte.
Ich nehme allein den Posteingang der letzten beidenTage, um nur einige Beispiele auszuwählen. Darunterbefindet sich etwa der Jahresbericht der Wehrbeauf-tragten mit einer wirklich lesenswerten Darstellung zurechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Fällen inder Bundeswehr im Jahre 1998.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat den Abgeord-neten in dieser Woche seine Mitteilungen zur Migra-tionspolitik vom 1. März 1999 zukommen lassen. Dortlesen wir bedrückende Hinweise auf die Zunahme soge-nannter national befreiter Zonen. Über die Verbreitungvon Extremismus im Internet wäre zu reden ebenso wieselbstverständlich darüber, wie verhindert werden kann,daß sich politische Konflikte aus dem Ausland in derBundesrepublik Deutschland gewaltsam entladen.Schließlich wäre Bilanz zu ziehen, welche Folgerungendenn die Politik aus den Erkenntnissen der von unsselbst eingesetzten Kommission zur Verhinderung undBekämpfung von Gewalt gezogen hat. Was hat eigent-lich das Europäische Jahr gegen Rassismus wirklich ge-bracht?Zu all dem findet sich in dem Antrag kein Wort.Auch die Lösungsansätze sind äußerst dünn skizziert.Richtig ist dabei, daß alle gesellschaftlichen Gruppenund jeder einzelne Verantwortung trägt. Die Rolle derpolitischen Institutionen bei der Bekämpfung der Ursa-chen von Extremismus kommt aber in dem Antrag nurunzureichend zum Ausdruck. Die Einladung an die Bür-ger, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzuneh-men, ist zwar in Ordnung, kann aber doch wohl nichtgenügen. Wie steht es denn statt dessen mit verstärktenMitwirkungsbefugnissen der Bürgerinnen und Bürgeretwa durch eine vorsichtige Ausweitung plebiszitärerElemente?
Auch das Thema des kommunalen Ausländerwahlrechtsgehört in diesen Zusammenhang.Meine Damen und Herren, mir scheint ein Gedankeentscheidend. Der frühere BundesverfassungsrichterDieter Grimm
hat kürzlich in einem Aufsatz dargelegt, daß die Ach-tung der Grundrechte den Verfassungspatriotismusausmacht, der eine liberale und offene Gesellschaftzusammenhält. Dies bedeutet für die Politik, einegeistige Führung im Kampf gegen Extremismuswahrzunehmen, und zwar eine geistige Führung, diesich dadurch auszeichnet, daß sie sich auch nicht dengeringsten Anschein von Anpassung an extreme Posi-tionen leistet, nach dem bekannten Motto: Neben unsdarf es keine extreme Partei geben. Dies ist ein sehrgefährliches Motto. Es birgt nämlich die Gefahr insich, daß man politische Führung dahingehend versteht,durch Adaption oder Teiladaption extremistischerPositionen dafür zu sorgen, daß extremistische Par-teien bei Wahlen den Einzug in das Parlament nichtschaffen.Aber die Aufgabe besteht gerade darin, den Werte-katalog der Grundrechte ohne jeden Abstrich offensiv zuvertreten, und zwar auch dann, wenn dies nicht allge-meinen Beifall erheischen kann. Gelegenheiten, bei derVerteidigung von Grundwerten Rückgrat zu beweisen,gibt es nur allzuoft. Wir werden zum Beispiel heute amspäteren Nachmittag noch die Frage diskutieren, wieernst wir es mit der Geltung der Europäischen Men-schenrechtskonvention in einer bestimmten aktuellenpolitischen Frage nehmen, nämlich in bezug auf die Ab-schiebung von Kurden.Deswegen noch einmal mein Appell, meine Damenund Herren: Es ist leicht, sich auf die Grundwerte desGrundgesetzes zu berufen, wenn dies allgemeinen Bei-fall findet. Aber es wird schwierig, wenn man zu denGrundrechten und Grundwerten auch dann steht,wenn es dem Mainstream gerade nicht entspricht. Dasaber ist die entscheidende Aufgabe im Kampf gegen denExtremismus.
Ein letzter Punkt. Ich meine, Radikalität bei der Be-wahrung der Grundrechte zeichnet die Demokraten aus.Deswegen möchte ich an die Adresse der Union zu ih-Dr. Max Stadler
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2324 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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rem Antrag noch eines anmerken: Von der Wurzel her,also radikal im Sinne des Wortes, zu denken ist oft ge-nug geboten. Daß dies aber, wie in dem Antrag gesche-hen, in begrifflicher Ungenauigkeit mit Extremismusvermischt wird, der in der Tat zu bekämpfen ist, zeigtein weiteres Mal, daß mit wesentlich größerer Präzisionund Gedankentiefe an diese Problematik herangegangenwerden muß,
als es die Verfasser des Unionsantrags getan haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Anne-lie Buntenbach.
ren! Dem Zorn der Kollegin Vogt und auch dem Unver-ständnis, das der Kollege Stadler in bezug auf den vor-liegenden Antrag gerade geäußert hat, kann ich michnur anschließen. Herr Grund, Sie muten uns hier schoneiniges im Namen Ihrer Fraktion zu, wenn Sie ein sozentrales Thema – das ist es ohne Zweifel; wir hattenschon in der letzten Legislaturperiode versucht, darübereine vernünftige Debatte zu führen, was uns von derdamaligen Mehrheit jedoch verweigert worden ist – indieser Form zur Debatte stellen. Sie legen einen einseiti-gen Antrag vor und halten zugleich eine Rede, bei derIhnen genau an dem Punkt, an dem Sie zum Themaetwas hätten sagen können, die Redezeit ausgeht. Das istwirklich sehr bedauerlich, und darum werden wir hierüber dieses Thema noch einmal vertiefter diskutierenmüssen.Die Debatte, um die es hier eigentlich gehen müßte,hat nach Drucklegung Ihres Antrags eine traurigeAktualität erhalten. Am 13. Februar wurde in Guben deralgerische Flüchtling Ben Noui von rechtsextremenJugendlichen zu Tode gehetzt. Am 9. März wurde inSaarbrücken ein Sprengstoffanschlag auf die Ausstel-lung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht1941–1944“ verübt.Gerade deshalb ist es sehr schade, daß die Vorlage,die Sie hier abgeliefert haben, ein Paradebeispiel fürSubstanzlosigkeit darstellt. Ich kann mich des Eindrucksnicht erwehren, als wollten Sie mit der Vorlage diesesAntrags die Verantwortungslosigkeit Ihrer Unterschrif-tenkampagne und den Schaden, den Sie damit in der Ge-sellschaft angerichtet haben, in einem Wasserfall vonFloskeln ertränken. Das wird Ihnen aber nicht gelingen;vielmehr können Sie sich die praktischen Konsequenzennicht ersparen. Eine erste praktische Konsequenz aus derheutigen Diskussion wäre, daß diese Unterschriften-kampagne sofort definitiv eingestellt wird.
Ich zitiere ein Beispiel für die Substanzlosigkeit desAntrags, den Sie hier vorgelegt haben:Pauschalverurteilungen helfen nicht bei der Pro-blemlösung, können sie gar behindern. Dort, woProbleme existieren, muß politisch gehandelt wer-den.Wie wahr!
Wollen Sie einen solchen Text ernsthaft in diesem Par-lament zur Abstimmung stellen? Damit werden wir dasAnsehen des Parlaments und der repräsentativen Demo-kratie nicht gerade erhöhen; denn dieser Text zeigt le-diglich, wie man mit mehr oder minder gefälligen For-mulierungen gar nichts oder zumindest doch nur sehrwenig sagt. Denn wenn Sie das Thema wirklich ernstnehmen würden – das hätte es verdient –, dann hättenSie wenigstens einen konkreten Vorschlag gemacht undes nicht bei allgemeinen Appellen bewenden lassen.Aber wenn wir heute über dieses Thema diskutieren –ich muß sagen, wir diskutieren viel zu selten überRechtsextremismus –, dann will ich die Gelegenheitnutzen, zum Thema und nicht nur zu Ihren Anträgen ei-nige inhaltliche Bemerkungen zu machen.Ich möchte als erstes bei der Betrachtung des Extre-mismus differenzieren. Das, was Sie Extremismus vonlinks und rechts nennen, sind zwei ganz unterschiedlichePhänomene. Ich will hier keineswegs die Begehung vonStraftaten beschönigen; jede Straftat muß mit der not-wendigen Konsequenz verfolgt werden. Aber es bestehtschon ein Unterschied, Kollege Grund, ob sich Gewaltin erster Linie gegen Menschen richtet und sich aufIdeologien stützt, die geradezu zu Gewalt und Vernich-tung herausfordern, wie es im rechtsextremen Bereichder Fall ist, oder ob es sich weitgehend um Sachbeschä-digungen oder Verstöße gegen das Versammlungsrechthandelt. Wenn zum Beispiel eine friedliche Demonstra-tion gegen die Abschiebehaftanstalt in Büren in denletzten Verfassungsschutzberichten unter Linksextre-mismus aufgeführt wird, dann stellt sich schon die Fra-ge, was da eigentlich unter Linksextremismus verstan-den wird. Denn Kritik an der Ausländer- und Asylpolitikeiner Regierung muß doch wohl erlaubt sein, ohnegleich als Extremismus diskriminiert zu werden.
Ich gehe davon aus, daß es in diesem Haus unbestrit-ten ist, daß der Rechtsextremismus derzeit das gravie-rende Problem darstellt. Die rechtsextremen Gewalttatensind keine Einzelfälle. Sie haben in weiten Teilen unse-res Landes dazu geführt, daß sich diejenigen, die zu denGruppen der Opfer des Rechtsextremismus gehören,nicht mehr angstfrei im öffentlichen Raum bewegenkönnen. Es ist inzwischen so weit, daß Berliner Schulenkeine Ausflüge mehr ins Brandenburger Umland ma-chen können. Neonazis haben „ausländerfreie“ oder„national befreite Zonen“ ausgerufen und leider teilwei-se auch mit Gewalt durchgesetzt, so daß sich dort zumBeispiel in Stadtteilen oder Jugendzentren Menschenmit der falschen Hautfarbe zu bestimmten Zeiten,Dr. Max Stadler
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2325
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abends oder am Wochenende, nicht mehr frei bewegenkönnen, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Diese mehrals bedrückende Tendenz wird zum Beispiel durch dieNPD logistisch unterstützt. Andere wie die DVU flankie-ren diese Strategie durch gigantische Propagandafeld-züge mit ausländerfeindlichen und rassistischen Parolen.
Da reicht es dann nicht aus, in einem solchen Antragmit gesetzten Worten niederzulegen, man wolle – ichzitiere erneut – „die Akzeptanz der repräsentativen De-mokratie erhöhen“. Da ist auch von Ihnen, meine Da-men und Herren von der CDU/CSU, ein Bekenntnis zumFaktum der multikulturellen Gesellschaft notwendig undnicht die Fortsetzung einer diskriminierenden Unter-schriftenkampagne.
Wir stehen als Politiker und Politikerinnen in einerbesonderen Verantwortung, weil wir die öffentlichenDebatten sehr stark beeinflussen. Führen Sie sich docheinmal all die Energie vor Augen, die Sie in den letztenJahren für die Heraufbeschwörung einer Kurdengefahroder einer islamischen Gefahr verwandt haben, die Siein die Durchsetzung von Kinderabschiebungen gesteckthaben! Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten dieseEnergie statt dessen darauf verwandt, die tatsächlichenFluchtursachen von Menschen, die hier Schutz suchen,in die Gesellschaft hinein zu vermitteln!
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten all die Energie,die Sie jetzt in Ihre diskriminierende Unterschriften-kampagne investiert haben und investieren, tatsächlichin die Vermittlung demokratischer Werte, von Toleranzund Solidarität gesteckt! Ich bin sicher, dann hätten wirjetzt ein öffentliches Klima, in dem Rechtsextremistenweit mehr Probleme hätten, so offen zu agieren.
Neben dieser politischen Verantwortung, die wir mitSorgfalt wahrnehmen müssen, sind wir auch gefordert,Maßnahmen zu ergreifen, um die gesellschaftlichen Wi-derstandskräfte gegen Rechtsextremismus zu stärken.Wir haben als grüne Bundestagsfraktion schon in derletzten Wahlperiode eine Reihe von konkreten Vor-schlägen gemacht, die wir jetzt mit der neuen Bundesre-gierung auch praktisch umsetzen wollen. Ich will nur ei-nige Beispiele nennen.Wir brauchen eine Verbesserung des Schutzes undeine Unterstützung der Opfer rechtsextremer Gewalt.Die meisten dieser Menschen werden auch von der Ge-sellschaft ausgegrenzt. Sie trauen sich häufig nicht, zurPolizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Da ist esdringend nötig, durch Beratungs- und Unterstützungsan-gebote die Konfliktfähigkeit zu stärken. Wo Minderhei-ten an den Rand gedrängt werden, müssen wir sie offen-siv in die Mitte der Gesellschaft zurückholen.Wir brauchen eine bessere Förderung demokratischorientierter Jugendszenen und präventiver Jugend-arbeit. Es geht nicht an, daß die knappen Mittel inimmer höherem Maße rechtsextremen Problemgruppenzur Verfügung gestellt werden. Es gibt zahlreicheBeispiele dafür, daß Angebote der Jugendhilfe vonorganisierten Neonazis zur Stärkung ihrer Logistik ge-nutzt werden. Damit muß Schluß gemacht werden. Ge-rade in Regionen, in denen rechtsextreme Szenen eineDominanz erreicht haben, müssen die demokratischorientierten Jugendszenen gefördert werden, um über-haupt eine Vielfalt des kulturellen Angebots sicherzu-stellen.Wir brauchen außerdem ein Verweigerungsrecht fürArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit diese nichtweiter gezwungen werden können, sich an der Produk-tion und Verbreitung von rechtsextremer Propaganda zubeteiligen.Diese Maßnahmen sollen vor allem die gesellschaftli-chen Widerstandskräfte stärken. Die Maßnahmen sind inder vorigen Legislaturperiode an der CDU/CSU ge-scheitert, ohne daß Sie andere Vorschläge gemacht hät-ten. Auf diese anderen Vorschläge von Ihnen warte ichbis heute.Wir halten im Kampf gegen Rechtsextremismus we-nig von Strafverschärfung und Einschränkungen derRechte der Bürgerinnen und Bürger, die letztlich immereinen Schritt in den autoritären Staat bedeuten. UnserePolitik zielt vielmehr darauf ab, die gesellschaftlicheAuseinandersetzung zu stärken und den demokratischeingestellten Menschen Handlungsmöglichkeiten zu er-öffnen, Zivilcourage und selbstverantwortliches Handelnzu stärken und zu unterstützen.Nicht weniger, sondern mehr Demokratie ist derrichtige Weg zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Liebe Kollegen Antragsteller, im Blick aufSie von der CDU/CSU-Fraktion stelle ich zunächst ein-mal fest, daß Ihre antiextremistische Aktionsgruppe hierim Plenarsaal etwas klein ausfällt. Ihr Appell an deneinzelnen, sich zu beteiligen – Sie haben ihn in IhremText verankert –, hat im Moment zirka 5 Prozent Ihrereigenen Fraktion erreicht. Da sehen Sie, wieviel Sienoch zu tun haben.
Ich stehe wie auch die anderen Rednerinnen undRedner natürlich vor der schwierigen Frage, worüberjetzt hier zu debattieren ist: über den uns vorgelegtenText,
Annelie Buntenbach
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darüber, was uns die geschätzten Kollegen mit dem Textmöglicherweise sagen wollten, oder darüber, was siemeinen, hier schon gesagt zu haben oder noch sagenzu müssen? Dann stelle ich mir natürlich die Frage:Worüber hast du als Abgeordneter abzustimmen?Antwort: über den Text. So halte ich mich also an denText.Ich will nur eines sagen: Das Thema, um das es hiergeht, wäre in der Tat für eine sehr ernsthafte Debatte ge-eignet, und es wird bitter notwendig sein – da teile ichdie Auffassungen, wie sie die Kollegin Vogt und derKollege Stadler hier geäußert haben –, über diesesThema ernsthaft zu reden. Das aber, meine Damen undHerren von der CDU/CSU, gibt Ihr Text nicht her.
Deshalb muß ich diesen Text hinterfragen.Offenbar hat Sie bei der Abfassung des Antrages einstarkes Harmoniebedürfnis getrieben. Ich weiß zwarnicht, woher bei Ihnen dieser Hang kommt; bei uns kannich mir das immer erklären, bei Ihnen nicht. Dennochmeine ich, die Unionsfraktion war wohl darum bemüht,partout einen Text vorzulegen, dem alle, aber auchwirklich alle im Bundestag zustimmen können. Dazukann ich Ihnen sagen: Das ist Ihnen nur bedingt gelun-gen. Allerdings würden wir gern zustimmen, aber nur,sofern uns die Koalitionsfraktionen in dieser Frage nichtmit der CDU/CSU allein lassen. Diesen Eindruck habeich im Moment allerdings.Trotzdem bleibt natürlich eine tiefe Nachdenklichkeitbei mir, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß dieCDU/CSU wirklich nur eine Feindbildverzichtserklä-rung innerhalb des Bundestages im Sinn hätte. Auch daswäre nicht schlecht. So stellt sich die Frage: Hatten dieAutorinnen und Autoren tatsächlich ein Ziel für ihreKritik vor Augen? An welche Adresse geht denn dieBotschaft? Da habe ich mich einmal durchgefragt. In derRegel kritisiert die Union hier die Regierung. Aber ichmag nicht glauben, daß die CDU/CSU in der Koalitionoder in der Nähe der Koalition Extremisten ausgemachthätte, es sei denn, man geht nach dem Prinzip vor: Manschlägt den Sack und meint den Kanzler. Hier kommenwir also nicht weiter.Irgendwann war ich kurz davor, bei den CDU/CSU-Kollegen vorstellig zu werden, um aus erster Hand undaus berufenem Munde zu erfahren, was denn der tiefeSinne ihres Vorhabens sei. Doch kurz davor hielt ich in-ne. Was, wenn die geschätzten Kollegen den Antrag alsernstgemeinten Fingerzeig nach innen, an die eigeneAdresse gemeint hätten? Da hätte meine Frage natürlichsehr gestört.Aber auch das ist natürlich nicht des Pudels Kern.Kein Mensch käme auf die Verdächtigung, dem CDU-Fraktionsvorsitzenden im Magdeburger Landtag eineNähe zu Extremisten zu unterstellen, nur weil die DVU-Abgeordneten nach Christoph Bergners Reden Land-tagssitzung für Landtagssitzung Standing ovations ab-halten. Oder kam der CDU womöglich in den Sinn, daßbei ihrem Straßenkampf um Unterschriften etwas ausdem Ruder gelaufen sein könnte?Erst ganz zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, kam mir der Gedanke, die CDU/CSU könnte uns,die PDS, gemeint haben. Darüber habe ich lange nach-gedacht. Aber auch nach längerem Grübeln fiel mir hier-für kein Anhaltspunkt ein. Auch die Rede des KollegenGrund betrachte ich eher als Werbung für uns und nichtals einen ernsthaften Anhaltspunkt für meine letzteVermutung.
So kam ich zu dem Schluß – dabei habe ich all meineRedlichkeit zusammengenommen –, daß die CDU/CSUdiesen Antrag völlig frei von Hintergedanken und Ver-dächtigungen, also redlich vom Scheitel bis zur Sohle,stellt. Wenn man so will, ist dies ein Antrag wie dasSchwert Karls des Großen: lang, breit, aber auch un-heimlich flach.Deshalb schlage ich vor, diesen Antrag nicht erst zuüberweisen, sondern sofort über ihn abzustimmen. Beiso viel Einigkeit könnten wir uns das Recht und dieFreiheit nehmen, dem Antrag zuzustimmen oder ihn ab-zulehnen. Das Ergebnis wäre dasselbe.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion gebe ich Herrn Dr. Hans-Peter Uhl
das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Ich glaube, es erübrigt sich,den Antrag vorzulesen. Ich nehme an, daß die Kollegenvon der Fraktion der Grünen des Lesens fähig sind.
Ich möchte zu dem Antrag im Detail Stellung nehmen,und zwar in der Weise, in der wir es für richtig halten.
Wer den politischen Extremismus wirklich bekämp-fen will, muß dies in beiden Richtungen tun. Das wurdemit Recht bereits betont. Die rechtsextremen Parteiensind in Deutschland derzeit – glücklicherweise – voneifersüchtigem Konkurrenzdenken geprägt. Deswegenist es ihnen bisher nicht gelungen, eine einheitlicheSammlungsbewegung herzustellen, obwohl knapp50 000 Personen dieses rechtsextremistische Potentialbilden.Bei der vergangenen Bundestagswahl ist es den dreirechtsextremen Parteien, der DVU, den Republikanernund der NPD, trotz millionenschwerer Wahlkampfkon-Roland Claus
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zepte, Postwurfsendungen und Plakataktionen mit ex-tremistischen Parolen nur gelungen, 3,3 Prozent derZweitstimmen zu erreichen. In absoluten Zahlen sinddas 1,6 Millionen Stimmen.
Das ist noch keine ernsthafte Bedrohung für die politi-sche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Den-noch – um hier einen falschen Zungenschlag zu vermei-den – werden die Verfassungsschutzbehörden dieserechtsextremen Splitterparteien auch weiterhin sehrsorgfältig zu beobachten haben.Wir müssen diese schrecklichen Simplifikateure vonrechts ebenso bekämpfen wie jene von links.
Wir müssen den demokratischen Grundkonsens derGründerväter unseres Grundgesetzes wieder wachrufen.Ihnen war klar, daß es zwischen demokratischen Partei-en einerseits und Extremisten andererseits Trennungsli-nien gibt. Der Rechtsextremist braucht den Linksextre-misten und umgekehrt. Sie brauchen sich gegenseitigwie die Luft zum Atmen.Ich möchte das an einem konkreten Beispiel aus mei-ner Erfahrung aus München deutlich machen: Als dieumstrittene Wehrmachtsausstellung in München statt-fand – wie anschließend auch in anderen großen deut-schen Städten –, kam es, wie Sie wissen, zu sehr kontro-versen Debatten. Diese Situation nutzten die beiden ex-tremen Lager, um ihre jeweiligen Anhänger bundesweitzu mobilisieren. Aus ganz Deutschland kamen sie mitBussen angereist: die Neonazis, die Skinheads in Sprin-gerstiefeln, die Anarchisten und Chaoten.
– Jetzt meldet sich eine Abgeordnete der Grünen zueiner Zwischenfrage, die hinsichtlich dieses Themasoffensichtlich ein anderes Wahrnehmungsvermögenhat.
Herr Kollege Uhl,
gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Abgeord-
neten Dr. Ströbele?
Im Anschluß an
meine Ausführungen gerne, Herr Präsident. Ich möchte
erst das Beispiel zu Ende führen. Anschließend können
wir über Einzelheiten debattieren.
Bei dieser Demonstration zeigte sich sehr deut-
lich, daß es dem gewaltbereiten Teil der linksextremen
Szene darum ging, eine direkte körperliche Auseinan-
dersetzung mit dem nicht minder gewaltbereiten Teil
der rechtsextremen Szene zu suchen. Jeder Versuch
der örtlichen Verlagerung der Rechtsextremen führte
dazu, daß ihnen die Linksextremen auf dem Fuße
folgten.
Es war mehreren tausend Polizisten zu verdanken,
daß es über Sachbeschädigungen und Körperverletzun-
gen hinaus nicht zu weiteren Ausschreitungen und zu
Straßenschlachten in München anläßlich dieser Aus-
stellung gekommen ist. Diese Erfahrung mit gewaltbe-
reiten Demonstranten, die wir in anderen deutschen
Großstädten noch sehr viel deutlicher gemacht haben,
zeigt zumindest zweierlei – –
Herr Kollege Uhl,
gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Bitte, Herr Ströbele.
zu denen aus Gewerkschaftskreisen oder kirchlichen
Kreisen, die im Zusammenhang mit der Wehrmachts-
ausstellung zu einer Gegendemonstration zur angekün-
digten Demonstration von Rechtsextremisten aufgerufen
haben? Oder ist das für Sie das gleiche, wenn Mitglieder
von Gewerkschaften, Mitglieder von kirchlichen Orga-
nisationen, Antifagruppen dazu aufrufen, gegen eine
solche Meinungskundgabe von Rechtsextremisten auf
die Straße zu gehen?
Ich bedanke michfür die Frage, Herr Ströbele. Sie gibt mir Gelegenheit,darauf hinzuweisen, daß wir natürlich zwischen der Per-sonengruppe, die Sie gerade geschildert haben, einer-seits und den Links- und Rechtsextremisten andererseitsdifferenzieren müssen.
Es gab – das können Sie nicht wissen, weil Sie, so neh-me ich an, zu dem Zeitpunkt nicht in München zugegenwaren; zumindest waren Sie nicht wie ich Leiter derVersammlungsbehörde – drei Versammlungen. Diedritte, von der Sie jetzt geredet haben, habe ich natürlichnicht gemeint. Dort waren die Gewerkschaften, die SPD,Teile der Grünen anwesend. Andere Teile der Grünenwaren bei den Linksextremen. Das ist der Punkt, vondem ich rede, Herr Ströbele, nicht aber Sie.
Der Staat muß diesen Chaoten, von denen ich rede, mitmassivem Polizeiaufgebot Grenzen aufzeigen. Es darfkein Zurückweichen der Staatsgewalt geben; es darf keinerechtsfreien Räume geben, weil sich diese Chaoten genauso stark fühlen, wie sie den Staat als schwach erleben.
Vieles deutet darauf hin, daß das Demonstrationsge-schehen in Deutschland leider radikaler und gewaltbe-reiter wird,
Dr. Hans-Peter Uhl
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ausgelöst auch durch die importierten Konflikte desAusländerextremismus. Wenn diese Prognose zutreffendist, werden die Grenzen der Demonstrationsfreiheitklar zu ziehen sein. Es geht um die ganz praktische Fra-ge – dieses Thema ist Ihnen, Herr Ströbele, als demon-strationserprobtem Parlamentarier bekannt –: Wie vieletausend Polizeibeamte müssen ihren Kopf hinhalten, umgewaltbereite Chaoten von links oder rechts daran zuhindern, aufeinander einzuschlagen?
Wenn Sie es, wie ich, erlebt haben, was es heißt, mitden Polizisten zwischen 4 000 Linksextremisten auf dereinen Seite und einer gleich großen Zahl von Rechtsex-tremisten auf der anderen Seite – die nichts anderes vor-haben, als aufeinander einzuschlagen – zu stehen, wennFlaschen, Steine und sonstige Gegenstände über ihrenKopf hinweg fliegen, dann kommt man sehr schnell zuder Auffassung, daß das mit dem Grundgedanken derDemonstrationsfreiheit, wie sie im Grundgesetz veran-kert ist, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat.
Es geht um den Mut zu einem konsequenten Ver-sammlungsverbot. Wenn zu einer öffentlich aufgeheiz-ten Stimmung sowohl links- wie rechtsextreme gewalt-bereite Berufsdemonstranten
bundesweit angereist kommen, muß es rechtlich möglichsein, örtlich, zeitlich und thematisch begrenzt ein De-monstrationsverbot für Extremisten beider Lager auszu-sprechen.
Dies kann man derzeit nur, wie Sie wissen, wenn diePolizei zuvor kapituliert hat, wenn sie den „polizeilichenNotstand“ erklärt hat. Über dieses Thema wird in näch-ster Zeit zu reden sein; ich möchte das nicht weiter aus-führen.Das linksextremistische Potential besteht derzeit aus34 000 Personen. Davon sind 6 000 genauer zu beach-ten, weil sie zum anarchistischen Spektrum, zur soge-nannten autonomen Szene gehören. Dieser Kreis hatdurch Gewaltbereitschaft, Brandanschläge, Sachbeschä-digungen bundesweit auf sich aufmerksam gemacht. Inihren Wahnvorstellungen kämpfen diese Anarchistengegen das kapitalistische System, für eine herrschafts-freie Gesellschaft, gegen die von ihnen so genannteAtommafia. Der Antifaschismus, den sie bekämpfen –wobei sie mit den Begriffen sehr locker umgehen; auchich selber bin aus deren Sicht ein Anhänger des Fa-schismus –, drückt sich in Parolen aus wie: „dem staatli-chen Terror entgegentreten“, dem „Polizeistaat verhin-dern“ – als wären wir auf dem Weg zu einem Polizei-staat –, „Feuer und Flamme für den Staat“, „DeutschePolizisten schützen die Faschisten“ – wirre Gedanken,die wir eigentlich bekämpfen müssen; da müßten wiruns einig sein. Deswegen, Herr Ströbele, bin ich beson-ders empört darüber, daß auf allen drei Ebenen – Bun-desebene, Landesebene und kommunale Ebene – Parla-mentarier der Grünen ebenso wie der PDS klammheim-lich Sympathie für diese autonome Szene haben.
Unter dem Oberbegriff des antiimperialistischen Wi-derstandes steht der deutsche Linksextremismus aufvielfältige Weise mit der kurdischen PKK und der bas-kischen ETA in Verbindung. Heute weiß jeder, daß esrichtig war, die PKK in Deutschland zu verbieten. Heuteweiß fast jeder – bis auf einige Unverbesserliche –,
daß es unverantwortlich war, daß diese verbotene PKKdennoch in einigen Bundesländern unter den Augen derPolizei Massenveranstaltungen durchführen durfte. Indiesen Ländern ist versäumt worden, eine klare Trennli-nie zwischen den militanten Anhängern der PKK undden vielen hier friedlich lebenden kurdischen Mitbür-gern zu ziehen.Wir alle kennen den vielzitierten Ausspruch vonBundeskanzler Schröder: „Wer unser Gastrecht miß-braucht, fliegt raus, und zwar schnell“. So hat er getönt.Aber wer sich das Verhalten in Nordrhein-Westfalenund in anderen Bundesländern gegenüber der verbote-nen PKK und ihren Massenveranstaltungen anschaut,muß doch zugeben, daß die bewußt geduldeten politi-schen Rechtsbrüche diesen Ausspruch von Schröder zueinem leeren Getöse machen.
Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu denKonsulatsbesetzungen und wie damit umgegangen wur-de, zu sagen. Ich will mir das hier ersparen und zumSchluß kommen.Es gibt Bundesländer, die nach dem Motto handeln:Deeskalation durch Wegschauen. Nein: Hinschauen istdas Gebot der Stunde.
Das heißt, auch Bundesinnenminister Schily wird aufseine Kollegen Landesminister zugehen und sie anhaltenmüssen: PKK-Veranstaltungen, auch unter kulturellemTarnmantel, müssen verboten werden. PKK-Veranstaltungen, auch wenn sie mit Hilfe von Stroh-männern angemeldet werden, müssen verboten werden.
Die Verwendung von PKK-Symbolen, die ich in Mün-chen elf Jahre lang verboten habe, die in anderen Bun-desländern elf Jahre lang permanent erlaubt war, mußendlich untersagt werden.
31 000 Personen gehören zum islamischen Funda-mentalistenkreis; über den wäre auch noch zu sprechen.Hier haben der Verfassungsschutz und der Bundesnach-Dr. Hans-Peter Uhl
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richtendienst eine schwierige Aufgabe. Deswegen ver-dienen sie die Unterstützung aller Parteien, von links bisrechts.Die Bekämpfung des politischen Extremismus ist dieAufgabe des Staates, der demokratischen Parteien undjedes einzelnen. Die politische Ordnung in diesem Landist vom Grundgesetz bewußt und aus bitterer Erfahrungals wehrhafte Demokratie angelegt.Es ist die Aufgabe des Staates, im Kampf gegenRechtsextremismus und Linksextremismus das Rechtdurchzusetzen sowie Sicherheit und Ordnung zu ge-währleisten. In dem Maße, wie dem Staat diese Aufgabegelingt, wird er die Anerkennung seiner Bürger finden.Danke schön.
Das war die erste
Rede des Kollegen Hans-Peter Uhl. Ich darf ihm im
Namen des Hauses dazu gratulieren.
Ich gebe nunmehr dem Kollegen Hans-Werner Bertl
von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Prä-sident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heutemorgen in der ersten Lesung einen Gesetzentwurf be-handelt, der in den letzten Wochen viel in unserem Landverändert hat. Ich rede jetzt nicht von dem, was er fürhier lebende Ausländer bewirkt, sondern davon, was sichin unserem Land getan hat und was in unmittelbaremZusammenhang mit Ihrem Antrag gesehen werden muß.Ich gebe zu, ich war von diesem Antrag im erstenMoment angetan, weil ich dachte, es kommen noch einpaar Seiten. Sie haben wichtige Funktionen unseresParlaments angesprochen, zum Beispiel, unsere Arbeitden Bürgern transparent zu machen. Natürlich ist es einrichtiges Anliegen und ein richtiger Auftrag, die „Ak-zeptanz der repräsentativen Demokratie zu erhöhen“.Das schließt natürlich den Kampf gegen Extremismusjeder Richtung ein. Auch der richtige Hinweis, daßpopulistische Parolen extremistischer Gruppierungenund Parteien nicht zur Lösung unserer Probleme bei-tragen, sondern sie erhöhen, ist richtig.Dann folgt der Appell an alle gesellschaftlichenGruppen und an jeden einzelnen, aber auch an die Poli-tik, Verantwortung wahrzunehmen. Ich hoffe, Sie habensich bei diesem Appell nicht ausgenommen. Sie habensogar festgestellt: „Pauschalverurteilungen helfen nicht“,und Sie appellieren an jeden einzelnen, zu prüfen, „woein Beitrag für Demokratie und die Sicherung der Frei-heit geleistet werden kann“.Meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelleist mir insbesondere im Zusammenhang mit der Diskus-sion heute morgen ein böser Verdacht gekommen. Die-ser Antrag zu diesem Zeitpunkt mit dieser Diktion istwie der Versuch einer schlechten Beichte und die Ab-sicht, sich die Absolution billig zu erschleichen. Ist Ih-nen eigentlich klar, was in unserem Land los ist? Ist Ih-nen allen wirklich klar – ich sage Ihnen, meine Herrenvon der CDU/CSU, das jetzt sehr ernsthaft – in welchschlechte Gesellschaft Sie in den letzten Wochen undMonaten geraten sind? Sie haben ohne Wenn und Aberum der reinen Machtsicherung willen eine unselige Dis-kussion in diesem Land vom Zaun gebrochen und dabeientweder nicht gemerkt – was übrigens genausoschlimm ist –, zu welcher Polarisierung Sie beigetragenhaben, oder Sie haben es bewußt in Kauf genommen. Eswar Ihnen auch egal, wer Sie vereinnahmt hat.
Herr Uhl hat eben von Wahrnehmung gesprochen.Haben Sie wirklich wahrgenommen, was los ist? In un-serem Land werden Fremde zu Tode gehetzt? Haben Sieregistriert, daß laut BKA-Bericht in den ersten fünf Mo-naten des Jahres 1998 3029 rechtsextrem motivierteStraftaten begangen wurden, im zweiten Quartal 1998164 Straftaten mit antisemitischer Motivation verübtwurden? Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß Innen-senator Werthebach am 18. Februar dieses Jahres gesagthat, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten imJahr 1998 deutlich gestiegen ist? Haben Sie registriert,daß das BKA uns mitgeteilt hat, daß das gewaltbereiterechte Personenpotential – das linke gibt es auch – von1996 mit 6400 auf jetzt 8000 gestiegen ist?Für uns im Parlament ist wichtig: Die Täter werdenimmer jünger. 60 Prozent von ihnen werden der Gruppeunter 21 Jahren zugerechnet. Ich erinnere an diesemPunkt nur daran, was Ihr Fraktionsvorsitzender Schäublezu unserem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig-keit gesagt hat: Wir würden sie ruhigstellen.
Hier gibt es vieles aufzuarbeiten, wenn wir diese Dis-kussion entsprechend Ihrem Antrag führen wollen.Haben Sie – es ist eben angesprochen worden – denBericht der Wehrbeauftragten gelesen, der erst wenigeTage alt ist? Sie hat von 320 Vorfällen in der Bundes-wehr im Jahr 1998 berichtet. Ich will jetzt gar nichtmehr auf die Ergebnisse des Untersuchungsausschusseseingehen, der uns in der letzten Legislaturperiode wich-tige Erkenntnisse über Tendenzen in unserer Gesell-schaft und Bundeswehr vermittelt hat.Ich will vor allem denen in Ihrer Fraktion, die denAntrag – der sehr kurz greift – gestellt haben und ihnvielleicht ernst meinen, die sich in den letzten Wochenund möglicherweise auch heute morgen bei der Debattesogar heimlich geschämt haben – viele waren gar nichtmehr hier –, deutlich machen, in welch schlechte Gesell-schaft sie in der letzten Zeit geraten sind. Da bejammertSchönhuber in „Nation und Europa“, Ausgabe 2/99– eine eindeutig rechtsextreme Publikation –, „daßCDU/CSU mit ihrer Kampagne gegen die doppelteStaatsbürgerschaft ein weiteres Mal das Bröckeln desrechten Randes anstreben“.In der „Jungen Freiheit“ verbreitet sich in diesem JahrHerr von Stetten, und in der Ausgabe 7/99 dieser rechts-extremen Zeitung gibt Ihr Fraktionskollege MartinHohmann ein Interview und bekräftigt – jetzt Origi-Dr. Hans-Peter Uhl
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nalton –, daß die nationale Karte bei der Hessen-Wahlgestochen und den Sieg gebracht habe. Und weiter Ori-ginalton – es wird jetzt ganz spannend –: „Die Moral-keule sauste nieder, aber siehe, sie tat gar nicht weh.“Wie recht er übrigens hat, denn er beschreibt Ihre Resi-stenz gegen diejenigen, die Sie gebeten haben, eine sol-che Aktion zu unterlassen. Das waren die Kirchen, dieWohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, Sportvereine,Arbeitgeberverbände, Unternehmensverbände und vieleIhrer eigenen Kreisverbände.In der Ausgabe 4/99 der gleichen Publikation läßtsich Ihr Kollege Wolfgang Zeitlmann – wir haben ihnheute morgen hier erlebt – über „regierungsamtlichenUnsinn im Ausländerrecht“ aus.Ich habe noch viel mehr Fundstellen; ich nenne sieIhnen alle. In der Ausgabe 45 vom letzten Jahr ist sogarder Justizminister aus Sachsen zu lesen, der sich – esging um die Diskussion von Walser und Bubis – darüberverbreitet, daß Ignatz Bubis nicht nur sich selbst, son-dern auch dem Ansehen der Juden in Deutschland ge-schadet habe.
Ich frage mich ganz ernsthaft: Wie können Sie, wennSie hier einen solchen Antrag einbringen, in solchen Pu-blikationen, die gleichzeitig in wüsten Angriffen überdie ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages,unsere Kollegin Frau Süssmuth, herfallen, Äußerungenverbreiten oder verbreiten lassen? Merken Sie das allesnicht? Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis? Schauen Sienur noch in eine Richtung?
Haben Sie einmal ins Internet gesehen, wie die Republi-kaner ihre Anhänger zur bedingungslosen UnterstützungIhrer Unterschriftenaktion auffordern? Oder haben Sieeinmal das „Nationale Infotelefon“ von Andre Goertz,einem bekannten Neonazi, abgehört? Ich zitiere einmalein paar Originaltöne: „Nationale Parteien unterstützendie Unterschriftenaktion.“ – „Sowohl die Republikanerals auch NPD wollen die Aktion tatkräftig unterstützenund bieten Mitarbeit an.“ Der Republikaner-Chef RolfSchlierer meint: „Das ist ein Schritt in die richtigeRichtung.“ Der NPD-Bundessprecher Beier sagt: „Wenndie Hauptzielrichtung gegen die doppelte Staatsbürger-schaft bleibt, dann machen unsere Mitglieder bei derCSU/CDU-Aktion an vorderster Front mit.“ Das „Na-tionale und soziale Aktionsbündnis Norddeutschland“verkündet: Wir „nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis,daß auch CDU-Politiker den wirklichen politischenKampf aufgenommen haben.“Meine Damen und Herren, wir haben alle Internetan-schluß; schauen Sie doch einmal in das Thule-Netz! Inder Nacht der Bundestagswahl erschien dort der Aufrufzu Gewalt und Bürgerkrieg. Ich zitiere den Originaltext:Unter der SPD-Regie muß es schnell gehen – bevordie gewalttätigen Ausländer der 3. und 4. Genera-tion ins Kampfalter kommen … Die Zeit für demo-kratische Spielregeln ist vorbei … Die politischeSäuberung der Bunzwehr– das ist die Bundeswehr –zeigt, wohin der Weg weist …Der Verfassungsschutz weist uns klar auf deutlicheRadikalisierungstendenzen sowie auf die Zunahme vonvolksverhetzenden, antisemitischen und den Natio-nalsozialismus verherrlichenden Texten hin. Die Zahlder extremistischen Homepages hat sich in weniger alszwei Jahren verfünffacht: 1996 waren es in Deutschland32, jetzt sind es 156; weltweit ist die Zahl von 5 im Jah-re 1995 auf heute 448 angestiegen.Das ist der Grund, warum Ihr Antrag zu kurz greift.Er ist vordergründig; er ist nicht ehrlich. Ich muß Ihnenganz offen sagen: Natürlich muß aus unserem ParlamentWiderspruch gegen jede Form von Extremismus kom-men. Dabei brauchen wir keine Rechts-Links-Diskus-sion.
Wir brauchen von dieser Stelle aus den Widerspruch ge-gen Ausgrenzung und Gewalt gegen jeden Menschenund gegen jede Minderheit. Unsere Aufgabe ist es, einestabile und an den Menschenrechten orientierte Repu-blik für die Menschen in unserem Land als Wert erfahr-bar zu machen. Es ist dabei notwendig, auch im Parla-ment Klartext zu reden – vielleicht auch einmal scho-nungslos. Denn es geht um unsere politische Hygiene.Kompromisse dürfen sich die politisch Verantwortli-chen, also auch die Parlamentarier im Deutschen Bun-destag, da nicht mehr erlauben.Meine Damen und Herren von der Union, Sie müssensich darüber klar sein, daß Sie eine schlimme Spur durchunser Land gelegt haben. Ich bin sicher, Sie werden ausdieser Sache nicht mit sauberen Füßen herauskommen.Ihren Antrag kann man wirklich nur ablehnen. Aber ichmöchte Ihnen ein sehr ehrliches Angebot machen: Wirsollten uns fraktionsübergreifend zusammensetzen undgemeinsam an dieser Problematik arbeiten, um dann einglaubwürdigeres Signal als Ihren Antrag aus diesemParlament heraus an die Bürgerinnen und Bürger in un-serem Land zu senden.Danke schön.
Das Wort zu einer
Erklärung zur Aussprache nach § 30 der Geschäfts-
ordnung gebe ich dem PDS-Abgeordneten Carsten
Hübner.
Sehr geehrter Herr KollegeGrund, da Sie mich vorhin so freundlich angesprochenhaben, erlauben Sie mir eine Erwiderung.Ich möchte Ihnen zuerst einmal mitteilen, in welchemZusammenhang der von Ihnen erwähnte Artikel in der„Südthüringer Zeitung“ erschienen ist. Die Demonstra-tion ist meines Wissens an einem Montagnachmittag an-gemeldet worden. Bereits am darauffolgenden DienstagHans-Werner Bertl
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2331
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erschien darüber ein Artikel in dieser Zeitung, der wieein Interview aufgemacht ist, das angeblich ein Journa-list der „Südthüringer Zeitung“ mit dem Landesverfas-sungsschutzpräsidenten Roewer geführt hat. WelcheRückschlüsse man daraus ziehen kann, überlasse ich Ih-nen selbst. Ich jedenfalls gehe davon aus, daß sowohldie Polemik als auch der Zeitpunkt des Erscheinens die-ses Artikels kein Zufall sind; vielmehr sollten damit be-stimmte Stimmungen forciert und geschürt werden.Zum zweiten möchte ich Ihnen gerne mitteilen, daßdie Koordinierungsgespräche zur Vorbereitung der De-monstration nach meinem Wissen sowohl mit dem In-nenministerium als auch mit der Polizei, also mit den fürden Ablauf der Veranstaltung zuständigen Behörden,völlig problemfrei verlaufen sind. Das hat unter anderemdazu geführt, daß die Demonstration – abgesehen voneinem relativ großen Polizeiaufgebot – in keiner Weisemit Auflagen, die verlesen werden, belegt worden ist,zum Beispiel ähnlich den Auflagen für Gewerkschafts-demonstrationen oder anderen Veranstaltungen. Ich bit-te, auch das zur Kenntnis zu nehmen.Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist,daß die Demonstration völlig gewaltfrei und friedlichverlaufen ist. Es gab weder Gewalttaten gegen Personennoch solche gegen Sachen. Der Einsatzleiter der Polizeivor Ort hat nach der Demonstration „dpa“ mitgeteilt, eshabe ein „volksfestähnlicher Zustand“ auf der Veran-staltung geherrscht. – Soviel zu Ihrer Aussage, die De-monstration sei nur deshalb gewaltfrei verlaufen, weilein massives Polizeiaufgebot am Rande der Demonstra-tion dafür gesorgt habe. Die Veranstaltung selber istfriedlich gewesen. Deswegen möchte ich Ihnen wieHerrn Köckert, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion imThüringer Landtag, der in ähnlich ungehobelter Weisewie Sie sowohl gegen meine Person als auch gegen denThüringer Landtagsabgeordneten Steffen Dittes Vorwür-fe erhoben hat, mit einem Satz antworten: Kommen Siewieder herunter!Danke.
Das Wort zu einer
Erwiderung hat der Kollege Manfred Grund.
Herr Präsident, ich
möchte zuerst kurz auf die Rede des Kollegen Bertl ein-
gehen und feststellen, daß in der Aneinanderreihung von
Zitaten auch ein hoher Desinformationsgehalt liegen
kann. Während der gesamten Debatte ist die Unter-
schriftenaktion angesprochen worden. Nach meinem
Dafürhalten – diese Einschätzung muß niemand teilen –
hat die Unterschriftenaktion in Hessen bewirkt, daß bei
den dortigen Wahlen keine extremistische Partei in den
Hessischen Landtag eingezogen ist. Wenn das allein
durch die Unterschriftenaktion erreicht worden ist, ist
das ein großer Erfolg.
Des weiteren möchte ich auf das eingehen, was der
Kollege von der PDS gesagt hat. Den „volksfestähnli-
chen Zustand“ kann es durchaus gegeben haben. Nur,
bei der Demonstration sind Kinder aufgetreten, die
Schilder umhängen hatten, auf denen stand: In uns allen
stecken kleine Öcalans. Ob das zu einem Volksfest mit
dazugehört, wage ich zu bezweifeln. Insoweit habe ich
nach wie vor Bedenken gegen eine Veranstaltung, wie
sie im thüringischen Erfurt durchgeführt worden ist.
Ich schließe dieAussprache. Interfraktionell wird die Überweisung derVorlage auf Drucksache 14/295 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatz-punkte 7a und 7b auf: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.Werner Schuster, Joachim Tappe, Adelheid Trö-scher, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPD sowie der Abgeordneten Dr. AngelikaKöster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, KerstinMüller , Rezzo Schlauch und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENReform der europäischen Entwicklungspolitikdurch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft– Drucksache 14/538 –
Brauksiepe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. ChristianRuck, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUEuropäische Entwicklungszusammenarbeit re-formieren– Drucksache 14/537 –
Günther, Gerhard Schüßler, Dr. Helmut Hauss-mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder F.D.P.Eigenverantwortlichkeit der AKP-Staaten för-dern– Drucksache 14/531 –
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2332 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Kollegen! Es freut mich, daß in den vorgelegten Anträ-gen zur Reform der europäischen Entwicklungspolitikein Konsens darüber besteht, die deutsche Ratsprä-sidentschaft und die Neuverhandlungen des Lomé-Abkommens für wirkliche Reformschritte zu nutzen. Inder Frage, wie diese Reform erreicht werden kann, seheich jedoch in den von den Oppositionsfraktionen vorge-legten Anträgen einige Ungereimtheiten, auf die ichnoch eingehen werde. Wir haben gemeinsam mit unse-rem Koalitionspartner einen Antrag vorgelegt, mit demdie wichtigsten Schritte für eine zukunftsfähige Ent-wicklungspolitik dargestellt werden.Lassen Sie mich zu Beginn festhalten: Wir wünschenkeine Renationalisierung der Entwicklungspolitik.Hierzu geben auch die jüngsten Entwicklungen in Brüs-sel keinen Anlaß. Den Rücktritt der Kommission seheich als Ausdruck eines demokratischen Prozesses in denInstitutionen der EU. Wir sollten hierin auf keinen Falleinen neuen Anlaß sehen, die Entwicklungspolitik stär-ker in die Verantwortung der Mitgliedstaaten zurückzu-führen. Das würde gerade die dringend benötigte bessereAbstimmung der europäischen Entwicklungspolitikenverhindern.Mir ist leider auch nicht deutlich geworden, woraufdie Unionsfraktion in ihrem Antrag hinaus will, wenneinerseits ein Zuviel an Zentralisierung und an starremRegelwerk beklagt wird und wenn andererseits im näch-sten Satz die Zersplitterung der administrativen Zustän-digkeiten angesprochen wird. Auch unter dem Deck-mantel des Stichwortes „Subsidiarität“ halten wir eineRenationalisierung für nicht geeignet, den immensenentwicklungspolitischen Herausforderungen zu begeg-nen, insbesondere bei der Aufgabe der Krisenpräventi-on.Was wir allerdings brauchen, ist eine bessere Koor-dination und eine bessere Komplementarität zwischenden Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten und derGemeinschaft. Es gibt einen Konsens darüber, daß dieVerteilung der Entwicklungspolitik auf vier verschiede-ne Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHOdringend reformbedürftig ist. Wir wollen, daß die Zu-ständigkeit für die europäische Entwicklungspolitik inder Hand einer Kommissarin oder eines Kommissarsgebündelt wird.
Der Europäische Entwicklungsfonds sollte darüberhinaus einer starken Kontrolle durch das EuropäischeParlament unterworfen werden. Wie sinnvoll und wiewirksam das Europäische Parlament seine Kontroll-funktionen ausüben kann, haben wir gerade erlebt.Für uns ist die Agrarpolitik der EU ein zentralesThema, insbesondere die Frage der Exportsubventio-nen. Wir denken, daß die europäischen Exportsubven-tionen nicht allein aus Gründen der WTO-Konformitätabgebaut werden müssen, sondern vor allem wegen derErnährungssituation in den Entwicklungsländern und derAuswirkungen auf die dortigen Märkte. Wir kennen alledie Beispiele, daß durch die Subventionierung der euro-päischen Agrarprodukte lokale Märkte im Süden schwergeschädigt worden sind und weiterhin geschädigt werden.
Der Abbau der Agrarsubventionen wird nicht einfachdurchzusetzen sein. Wir sind in diesen Tagen – nicht nurin Deutschland – Zeugen massiver Bauernproteste gegendie Agenda 2000 geworden. Aus entwicklungspolitischerSicht kann es jedoch keine Rechtfertigung einer unver-änderten Weiterführung von Exportsubventionen geben.Wir müssen mit einem schrittweisen Abbau beginnen.Damit die Entwicklungspolitik wirklich zur Verbes-serung der Situation in den Ländern des Südens beitra-gen kann, müssen auch in den anderen Politikbereichen,die hier eine Rolle spielen, andere Prioritäten gesetztwerden. Ich denke vor allem an die Rüstungspolitik,nicht nur an die in Deutschland, sondern auch an die inden anderen Staaten der Europäischen Union.
Wir sehen nämlich die Krisenprävention als die zentraleAufgabe der Entwicklungszusammenarbeit an.
Deshalb ist es wichtig, im Politikdialog nicht nur in Eu-ropa, sondern auch mit den Ländern des Südens ihre inRelation zu den Ausgaben für menschliche Entwicklungviel zu hohen Rüstungsausgaben zu thematisieren.
Damit ist auch eine Mahnung an unsere eigene Rü-stungspolitik verbunden, insbesondere an unsere Rü-stungsexportpolitik.
In Zukunft müssen deutlichere Anstrengungen auf euro-päischer Ebene gemacht werden. Der Code of Conductfür Rüstungsexporte, wie er innerhalb der EU verab-schiedet worden ist, ist lange nicht ausreichend und fällthinter unseren eigenen Standard zurück.Zur Verhandlungsrunde in Dakar ist zu sagen, daßdort in wesentlichen Bereichen sehr gute Ansätze for-muliert worden sind. Jetzt kommt es auf die konkreteUmsetzung an. Ich möchte an dieser Stelle die Verant-wortlichen in der Bundesregierung ganz herzlich darumbitten, dafür zu sorgen, daß angesichts der Krise, diesich jetzt in Brüssel ergeben hat, die Verhandlungennicht ins Stocken geraten, sondern termingerecht weiter-geführt werden.
Vizepräsident Rudolf Seiters
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2333
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Ich begrüße sehr, daß in Dakar dem politischen Dialoginsbesondere über Menschenrechte und Demokratisie-rung sowie über das Einbinden der Zivilgesellschaft eingrößeres Gewicht als bisher eingeräumt worden ist.Es ist auch ein wichtiger Schritt, daß das Kriteriumder verantwortlichen Regierungsführung zukünftig derZusammenarbeit zwischen der EU und den AKP-Ländern zugrunde gelegt werden soll. Ich denke, hier istaus den Fehlschlägen der Vergangenheit wirklich dergute Schluß gezogen worden, daß man nicht mehr ausnormalen diplomatischen Gepflogenheiten heraus überdiese Fragen hinweggehen kann. Wenn es Defizite beiGood Governance gibt, muß das auch Folgen haben.Weiter ist besonders hervorzuheben, daß als allge-meine Zielsetzungen Armutsbekämpfung, nachhaltigeund umweltschonende Entwicklung sowie die schritt-weise Integration in die Weltwirtschaft klar formuliertworden sind. In unserem Antrag fordern wir außerdemdie Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationennicht nur bei der konkreten Arbeit und bei der Umset-zung, sondern auch in den politischen Dialog. Auch dieVereinfachung und bessere Transparenz bei der Projekt-abwicklung im Rahmen der europäischen NRO-Ko-finanzierung ist nicht zu unterschätzen; da werden nochviele Abstimmungen nötig sein. Im Rahmen der Lomé-Folgeverhandlungen müssen wir zu differenzierten Mo-dellen für die EU-AKP-Zusammenarbeit kommen, dadie Bedingungen in den verschiedenen Regionen imRahmen dieses Abkommens sehr unterschiedlich sind.Die Weltmarktintegration dieser Staaten muß sehrbehutsam vorgenommen werden, denn viele dieser Län-der verfügen nicht über die entsprechenden Lieferpoten-tiale, um von einer Weltmarktintegration wirklich zuprofitieren. Ihnen muß es durch eine angemessene Ent-wicklungszusammenarbeit erst ermöglicht werden, dienotwendigen Strukturen und Produktangebote aufzu-bauen.
Erst dann wird die Liberalisierung in vielen Fällennicht zu einer Belastung der jeweiligen Inlandsmärkteführen, sondern den Ländern helfen, ihre eigene Aus-gangslage für eine nachhaltige Entwicklung zu verbes-sern. Den im Antrag der F.D.P. vorgeschlagenen Weg,ausschließlich auf die Liberalisierung des Weltmarkteszu setzen, halte ich für nicht ausreichend und mit Blickauf eine gewisse Übergangszeit sogar für falsch.
Ich halte es für wichtig, daß wir von europäischerSeite aus besonders die ärmsten Entwicklungsländerstärker als bisher darin unterstützen, Verhandlungen inder WTO überhaupt angemessen führen zu können.
Diesen Ländern fehlen bisher meist die personellen undauch die finanziellen Ressourcen, um gleichrangig Ein-fluß auf die Verhandlungen in der WTO nehmen zukönnen. Hier schlagen wir die Einrichtung eines ge-meinsamen EU-AKP-Verbindungsbüros bei der WTO inGenf vor.Die positiven Ansätze der bisherigen Partnerschaftmüssen in Zukunft verstärkt werden. Die aus der kolo-nialen Hypothek herrührenden Prioritätensetzungen inder EU-AKP-Partnerschaft müssen überwunden werden.Auch anderen Ländern muß eine engere Partnerschaftmit der EU ermöglicht werden. Das ist aber eine mittel-bis langfristige Aufgabe und läßt sich nicht von heuteauf morgen verwirklichen. Dazu gehört auch, dengleichberechtigten Dialog mit den Partnerländern insti-tutionell so abzusichern und weiter auszubauen, daß esläuft.Die vielversprechendste politische Rahmenbedingungfür diesen Dialog bildet die Umsetzung der Agenda 21,wie sie in Rio verabschiedet worden ist. Hier sind zu-nächst die Industrieländer aufgefordert, ihre Produkti-ons- und Lebensweise zu verändern, um im Gesprächmit den Ländern des Südens glaubwürdig zu sein. Dasgilt im übrigen auch für den Abbau der Korruption. Wirfordern von den Ländern des Südens Transparenz dar-über, wie sie ihre finanziellen Ressourcen einsetzen;auch wir müssen in diesem Zusammenhang Transparenzbeweisen. Das ist deswegen eine gemeinsame Aufgabe.
Vielen Dank.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Ralf Brauk-
siepe.
Herr Präsident!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäi-sche Entwicklungszusammenarbeit ist reformbedürftig.Diese Feststellung wurde nicht nur in der Rede der Kol-legin Köster-Loßack getroffen, sondern darüber hat– wie auch hinsichtlich der Grundzüge der europäischenEntwicklungszusammenarbeit selbst – in diesem Haus,soweit ich das beurteilen kann, weitgehend Konsensbestanden. Dieser Konsens hat sich im letzten Jahr ineinem gemeinsamen Beschluß der Fraktionen nieder-geschlagen.Uns war die Hoffnung gemeinsam, daß unter derdeutschen Ratspräsidentschaft diese Reformen vorange-trieben werden. Nun ist uns allen aber – mindestens ins-geheim – auch die Befürchtung gemeinsam, daß dienotwendigen Reformen unter die Räder kommen, nach-dem der Bundeskanzler viel zu lange und letztlich docherfolglos an der jetzt zurückgetretenen EuropäischenKommission festgehalten hat. Damit hat er den Zeitraumfür die Beschlüsse über die notwendigen Reformen un-nötig verkürzt.
Dr. Angelika Köster-Loßack
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2334 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Wenn man über Reformen der Entwicklungszusam-menarbeit redet, dann darf man natürlich nicht nur überFormalien, sondern muß auch über die Richtung, diesolche Reformen auf europäischer wie nationaler Ebeneeinschlagen sollen, diskutieren. Die rotgrüne Bundesre-gierung hat bei vielen Organisationen und bei mit ihrsympathisierenden Gruppen zweifellos hohe Erwartun-gen im Hinblick auf eine Neuorientierung der Entwick-lungspolitik geweckt. Sie, meine Damen und Herren,haben aber zur Erfüllung dieser Erwartungen bishervorwiegend nur Überschriften produziert.Ich will Ihnen einige dieser Überschriften in Erinne-rung rufen. So postulieren Sie unter anderem einen hö-heren Stellenwert der Entwicklungszusammenarbeit ins-gesamt. Wir können aber bisher nur feststellen, daß dieFrau Ministerin nun ein paar zusätzliche Sitzungstermi-ne, beispielsweise im Bundessicherheitsrat, hat. Ob sichdaraus wirklich konkrete Verbesserungen für die Men-schen in den Entwicklungsländern ergeben, bleibt ersteinmal abzuwarten. Es darf nicht bei der Lieferung vonU-Booten nach Südafrika bleiben, sondern in diesemBereich muß schon ein bißchen mehr geschehen.
Eine weitere Überschrift – ich will darauf eingehen,obwohl sie schon einige Zeit zurückliegt – war die ge-forderte Steigerung des BMZ-Haushaltes. Auch in die-sem Punkt hat längst Ernüchterung um sich gegriffen.Selbst die Regierungsfraktionen im Ausschuß für wirt-schaftliche Zusammenarbeit haben vor zwei Tagen ihreEnttäuschung über die Entwicklung des BMZ-Haushaltes deutlich zum Ausdruck gebracht. Dabei wa-ren Kürzungen, die wir auf Grund der Erfahrungen derletzten Jahre beim Europäischen Entwicklungsfondsgemeinsam beschlossen haben, noch gar nicht einge-rechnet. Man kann also nicht mehr – wir haben zu dieserThematik in den Haushaltsberatungen ausführlich Stel-lung genommen – von einer Steigerung des BMZ-Haushaltes reden. Mehr als eine Überschrift ist nicht üb-riggeblieben.
Sie, Frau Ministerin, haben eine weitere, für uns nichtganz überraschende Überschrift produziert, als Sie sichheute vor einer Woche in der „Süddeutschen Zeitung“mit den Worten vernehmen ließen: „Wir überprüfen un-sere Politik gegenüber Kuba.“ Nun ist Nachdenken undÜberprüfen an sich niemals schlecht. Aber aus unsererSicht wäre es besser, wenn Herr Castro selber seine ei-gene Kuba-Politik überprüfen würde. Ich glaube, dieswird in weiten Teilen der Europäischen Union nicht an-ders gesehen.
Ich will noch zwei weitere Überschriften nennen. Siesprechen von einem qualitativen Schuldenerlaß undvon einer globalen Strukturpolitik. All dies hört sichsehr schön an, ist aber entweder nichts Neues odernichts Greifbares. So hatte bereits die CDU/CSU-geführte Bundesregierung zahlreiche Initiativen zumSchuldenerlaß auf den Weg gebracht, natürlich nicht inForm eines pauschalen Schuldenerlasses. Was Sie nun„qualitativen Schuldenerlaß“ nennen, bedeutet letztlichdoch nichts anderes als eine einzelfallgerechte Entschul-dungsstrategie, für die auch wir uns aussprechen. DerKollege Hedrich hat dieses Konzept vor Wochen also zuRecht als Mogelpackung bezeichnet.
Eine Erklärung darüber, was Sie unter globaler Struk-turpolitik verstehen, sind Sie uns bisher schuldig ge-blieben. Für CDU und CSU geht es bei der Wirtschafts-ordnung in den Entwicklungsländern um die Einführungund Festigung der sozialen Marktwirtschaft, einge-bettet in andere entwicklungsfördernde Rahmenbedin-gungen wie Rechtssicherheit, Beachtung der Menschen-rechte und Beteiligung der Bevölkerung an politischenEntscheidungen. Diese bekannten, von uns schon vorJahren aufgestellten Kriterien haben nach unserer Über-zeugung nichts an Aktualität verloren und können auchnicht durch eine – wie auch immer geartete – globaleStrukturpolitik ersetzt werden. Ich denke, es ist an derZeit, daß Sie einmal erklären, ob Sie unser Ordnungs-modell der sozialen Marktwirtschaft weiterhin als ent-wicklungsförderlich ansehen oder ob Sie es unter derÜberschrift „globale Strukturpolitik“ durch etwas ande-res ersetzen wollen. Mir ist das bisher nicht klarge-worden.
Das Kernstück der europäischen Entwicklungszu-sammenarbeit ist ja zweifellos das Lomé-Abkommen,über dessen Weiterentwicklung zur Zeit diskutiert wird.Die Lomé-Kooperation war in der Vergangenheit durchStärken wie auch durch Schwächen gekennzeichnet.Deshalb sind wir grundsätzlich für ein Festhalten an die-ser Kooperation, aber als Konsequenz aus den erkennba-ren Schwächen eben auch für eine Weiterentwicklung inkonzeptioneller Hinsicht. Wenn ich mir diese in derVergangenheit im Konsens festgestellte Position vorAugen führe, dann muß ich sagen, daß der Antrag derRegierungsfraktionen, den Sie heute vorlegen, schonsehr enttäuschend ist.Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak-tionen, was Sie hier vorlegen – es tut mir persönlich leidfür Leute wie Sie, Herr Schuster, die ja den Sachver-stand besitzen, auch etwas anderes zu formulieren –, ist,positiv ausgedrückt, sehr staatstragend. Man könnteauch sagen: Es ist eigentlich nichtssagend, was in IhremAntrag steht. Denn trotz Ihres verbalen Bekenntnisseszum früheren Beschluß von CDU/CSU, F.D.P., SPDund Bündnis 90/Die Grünen, der in diesem Hause voreinem Jahr gefaßt wurde, gehen Sie deutlich hinter ihnzurück. Enttäuschend ist vor allem das, was in IhremAntrag nicht steht. Ich komme darauf gleich zurück. Siesagen zum Beispiel:Alle Beteiligten sind sich grundsätzlich über dieReformbedürftigkeit des Vertragswerks einig …Das ist sehr staatstragend. Ich lasse es einmal dahinge-stellt sein, ob Sie uns das als wesentliche Aussage zumLomé-Vertrag so hätten durchgehen lassen. Ich glaube,eher nicht. Ein bißchen konkreter hätten wir es dannschon gern.Dr. Ralf Brauksiepe
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Sie werden immer da deutlich – jetzt komme ich aufden eben von Frau Kollegin Köster-Loßack angespro-chenen Punkt –, wo es um formale Fragen geht, dieweitgehend unstrittig sind. Deswegen kann ich Ihnensagen: Wenn es um die Straffung der Kompetenzender europäischen Entwicklungszusammenarbeit geht, al-so darum, wegzukommen von einer Struktur, in der dieEntwicklungszusammenarbeit auf vier Kommissare, dreiGeneraldirektionen etc. verteilt ist, dann haben Sie unsbei dieser Forderung auf Ihrer Seite.
– Ja. – Aber für uns gilt eben auch das Prinzip der Sub-sidiarität. Das heißt, wir wollen keine eigenen Durch-führungsorganisationen auf europäischer Ebene, sondernwir sagen ganz deutlich – nicht nur vor dem Hintergrundder Erfahrungen und Berichte der letzten Tage –: Daskönnen die nationalen Durchführungsorganisationenbesser; dazu brauchen wir keinen zusätzlichen bürokra-tischen Apparat in Europa.
Nun müssen wir neben diesen formalen Fragen ebenauch über die Inhalte der Entwicklungszusammenarbeitauch und gerade mit den AKP-Staaten reden. Unseregemeinsame Feststellung vor einem Jahr lautete unteranderem – ich zitiere –:Die strukturkonservierend wirkenden STABEX-und SYSMIN-Instrumente müssen zugunsten flexi-bler Elemente, die … die Förderung kleiner undmittlerer Unternehmen einschließen, umgewandeltwerden.Davon findet sich in Ihrem Antrag leider nicht mehr sehrviel, außer der sehr wolkigen Überschrift eines Unter-punktes: „Politikkohärenz im Bereich der Außenhan-delspolitik“.Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti-on, da ist ja sogar Ihre Ministerin noch vor zwei Tagenim Ausschuß weiter gegangen mit ihren Vorstellungenim Sinne dieses gemeinsamen Beschlusses zu Stabexund Sysmin, an dem wir festhalten.Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das unse-re Enttäuschung über das verdeutlicht, was nicht in Ih-rem Antrag steht. In dem gemeinsamen Beschluß ist voreinem Jahr formuliert worden – ich zitiere wiederumwörtlich –:Darüber hinaus sollte das Abkommen– gemeint ist das Lomé-Abkommen –weiteren Least Developed Countries offenstehen.Ich halte dies für ein ganz zentrales Anliegen und fragemich: Wo ist das eigentlich in Ihrem Antrag konkret ge-blieben? Es kann doch wohl nicht sein, daß die frühereinmal bestehenden kolonialen Strukturen weiterhin be-stimmen, wer im Rahmen der EU-AKP-Zusammen-arbeit eigentlich unser Vertragspartner ist. Nun ist esnatürlich nicht ganz einfach, an dieser Struktur etwas zuändern. Es handelt sich ja um Strukturen, die im Grund-satz schon seit den 70er Jahren bestehen. Auch damalsgab es eine SPD-geführte Bundesregierung. Diejenigen,die heute regieren, waren damals noch nicht dabei; vielevon ihnen waren damals noch auf den Barrikaden. Vondaher kann ich noch einmal feststellen: Sie sind sehrstaatstragend geworden. – Man ändert solche Strukturenja nicht dadurch, daß man großspurig von der Vertretungdeutscher Interessen redet, sondern indem man das kon-kret an einem Punkt festmacht oder indem man zumin-dest an diesem Ziel festhält.Deswegen sage ich: Statt – wie Sie es in Ihrem Papierfordern – ein neues EU-AKP-Verbindungsbüro und da-mit eine neue Bürokratie zu schaffen, sollten Sie diesesGeld lieber für die Entwicklungszusammenarbeit mitanderen, den ärmsten Ländern zur Verfügung stellen, beidenen es nur sachgerecht wäre, sie in dieses Programmaufzunehmen, und die Sie nicht dafür bestrafen sollten,daß sie nicht in die bisherigen, kolonial geprägtenStrukturen der EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeitpassen. Jedenfalls für uns ist das bei der Reform einSchwerpunkt, auf den wir Wert legen.
Meine Damen und Herren, CDU und CSU wollenunter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität –darauf legen wir Wert; dies haben wir auch in unseremAntrag zum Ausdruck gebracht – eine offene Diskussionüber Ziele, Instrumente, Schwerpunkte und auch Ver-tragspartner der europäischen Entwicklungszusammen-arbeit führen. Soweit wir dies im Konsens tun können,haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir werden Sie nicht anIhren Überschriften, sondern an Ihren Taten messen –im Interesse der Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfebrauchen.Vielen Dank.
Ich darf dem Kolle-
gen Brauksiepe zu seiner ersten Rede in diesem Hause
im Namen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen
gratulieren.
Nunmehr gebe ich für die SPD-Fraktion dem Kolle-
gen Werner Schuster das Wort.
Herr Präsident!Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will miteinem Kompliment an die ganz linke Seite dieses Hau-ses beginnen. Es war Ihr Antrag vom Dezember 1998,der eine Art Initialzündung ausgelöst und die großenFraktionen angeregt hat, selber aktiv zu werden. Ich fin-de auch den Inhalt sehr bemerkenswert. Deshalb bedau-re ich immer wieder, daß in diesem Hause nicht ent-scheidend ist, was jemand sagt, sondern wer es sagt.
Das ist sicher ein großer Nachteil.Allerdings muß ich nach Vergleich der vier Anträgedeutlich sagen, daß sich Ihr Antrag und auch der Antragder F.D.P. vom Ansatz her ausschließlich auf Lomé be-Dr. Ralf Brauksiepe
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2336 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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ziehen, während wir, die Regierungsfraktionen, und dieCDU/CSU, wie ich glaube, zu Recht den Gesamtrahmengesehen haben.Ich hoffe sehr – das wird es Herrn Kollegen Brauk-siepe vielleicht verständlich machen, warum ich sostaatstragend formuliere –, daß wir, zumindest die Re-gierungskoalition gemeinsam mit der großen Opposi-tionsfraktion, nach den Beratungen im Ausschuß zu ei-ner gemeinsamen Beschlußempfehlung kommen. Wirhaben uns nämlich in den letzten Jahren immer wiedergewünscht, wenigstens in der Entwicklungszusammen-arbeit gegenüber Brüssel mit einer Stimme zu reden.Hier, Herr Hedrich, sollten wir uns davon unterscheiden,wie wir gestern die Diskussion zum Thema Agenda2000 geführt haben.
Unserem Anliegen nützt es sehr, für Brüssel einen Kon-sens zu finden, aufeinander zuzugehen. Ich denke, wirwerden in den Beratungen das eine oder andere von Ih-nen übernehmen.Zweitens möchte ich mich im Gegensatz zu Ihnenausdrücklich bei der Frau Ministerin bedanken und siean dieser Stelle loben.
Frau Tröscher, Herr Dzembritzki und ich waren vor14 Tagen in der berühmten DG VIII in Brüssel, beiHerrn Lowe. Wir waren überrascht, als er ungefragtzwei Dinge sagte. Er sagte, ihm habe imponiert, daß dieneue deutsche Bundesregierung erklärt habe, die Ent-wicklungszusammenarbeit sei ein wesentlicher Teil derFriedenssicherung. Das hätten wir auch in den letztenvier Jahren gern einmal so deutlich gehört.
Zudem hat er gesagt, es habe Eindruck gemacht, daßnicht irgend jemand, sondern die Ministerin selbst imEuropäischen Parlament gesprochen hat. Das hätten wirfrüher auch gern so gehabt.
Insofern ist verständlich, daß die DG VIII – da habenSie recht, Herr Kollege Brauksiepe – große Erwartungenan die EU-Präsidentschaft hat.Ich will nur vorbeugen: Frau Ministerin, wir warenuns der Beschränkung auf diese sechs Monate bewußt.Wir wissen, daß Sie dies alles nicht in sechs Monatenlösen können. Wir hoffen aber, daß Sie entscheidendeImpulse geben können bzw., wie ich immer flapsig sage,den Zug auf das richtige Gleis bringen. Das wäre schonein Fortschritt gegenüber dem, Herr Hedrich, was wir inden letzten acht Jahren erlebt haben.
Wir wünschen Ihnen – da bin ich mit Ihnen, Herr Brauk-siepe, und der CDU offensichtlich einer Meinung – beidiesem Unternehmen viel Erfolg.
Damit bin ich bei der Kritik an Brüssel. Sehr geehrterHerr Hedrich, ich habe manche Dinge nicht vergessen.Sie haben immer dafür votiert – im Detail waren wirbeide uns immer einig –: Wer Kritik an Brüssel übt, mußsich zuerst an die eigene Nase fassen.Das fängt damit an, daß man bei den Entscheidungenpersönlich anwesend ist. Zweitens muß man zum Bei-spiel dafür sorgen, daß in Brüssel deutsches Personalvorhanden ist. Wir zahlen ungefähr 25 Prozent. DerAnteil des deutschen Personals in den entsprechendenGeneraldirektionen liegt unter 10 Prozent. Hier müssenwir unsere Haushälter überzeugen, daß wir jungen Be-amten eine Karriere eröffnen, wenn sie unsere wohlver-standenen deutschen Interessen in Brüssel – übrigensauch bei der UNO – vertreten.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole den Vor-schlag, den ich schon in der letzten Wahlperiode ge-macht habe – hier spreche ich auch unseren Ausschuß-vorsitzenden, Herrn Kraus, an –: Wir müssen dafür sor-gen, daß wichtige Beschlüsse des Bundestages vor allemdann, wenn sie einstimmig gefaßt worden sind, auch inBrüssel gelesen werden. Das heißt, sie müssen hinge-schickt und vorher, Frau Ministerin, möglichst ins Eng-lische übersetzt werden. Dort wird eben nur Englischoder Französisch gelesen. Wenn wir wollen, daß unsereBeschlüsse das Europäische Parlament und die Kom-mission beeinflussen, müssen wir unsere Ergebnisse ent-sprechend vorlegen. Das sollte doch wirklich möglichsein.Es ist ganz bezeichnend und im Vergleich zu denletzten acht Jahren ungewöhnlich, Herr Hedrich, daß dieFrau Ministerin gemeinsam mit ihrer Kollegin ClareShort und mit Charles Josselin ein Positionspapier veröf-fentlicht hat. Das ist doch auch schon ein Schritt: Mandarf nicht nur kritisieren, sondern muß zusehen, wieman in Brüssel Verbündete findet, um dann gemeinsametwas zu bewirken.
Insofern bitte ich um Verständnis, Herr KollegeBrauksiepe, daß wir bewußt nicht wiederholt haben, waswir schon vor einem Jahr formuliert haben. Das habenwir inkorporiert. Wir sind uns da in vielen Grundsatzfor-derungen, wenn auch nicht in der Frage der Liberalisie-rung, einig. Das haben wir aber bewußt nicht wiederholt.
Uns hat die Kommission einen Gefallen getan, indemsie komplett zurückgetreten ist. Nach einem solchenRücktritt gibt es ein neues Spiel. Diese Chance, meineDamen und Herren, sollten wir nutzen.
Dr. R. Werner Schuster
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2337
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Das ist ein Neuanfang. Dabei geht es auch um institutio-nelle Reformen. Wir sind uns doch darin einig, daß esschwachsinnig ist, daß vier Kommissare, drei Generaldi-rektionen und ECHO unabhängig voneinander arbeiten.
Wir müssen endlich mit dem Unsinn aufräumen, dieTöpfe nur deshalb, weil sie woanders herkommen, in derDurchführung getrennt zu sehen. Nothilfe ist nur dannsinnvoll, wenn sie einen kontinuierlichen Übergang zurEntwicklungszusammenarbeit zuläßt. Mein KollegeTappe und ich haben im Sudan erlebt, daß aus ECHO-Mitteln wunderschöne Brunnenbohrungen im Rahmender Nothilfe vorgenommen worden sind. Nachdem dieExperten den Sudan verlassen hatten, ist alles kaputtge-gangen, weil die Einrichtung eines Wasserkomiteesnicht vorgesehen war; das ist nämlich Entwicklungshil-fe. Das kann doch nicht wahr sein.Ein weiterer Punkt ist die Koordination innerhalb derMitgliedstaaten. Rechnet man sämtliche Leistungenhoch, dann geht es um mehr als 35 Milliarden DM proJahr. Wir wollen nicht die Subsidiarität in Frage stellen;aber es wäre doch klug, wenn die 25 Milliarden DM der15 Länder und die EU- und Lomé-Mittel in Höhe von 10Milliarden DM in ein Gesamtkonzept eingebracht wür-den. Das geht aber nur mit gemeinsamen Länderkon-zepten. In diesem Zusammenhang haben wir wieder ge-hört, Herr Hedrich, daß Brüssel Länderkonzepte liefert.Bloß wir liefern unsere nicht. Warum eigentlich? Daskann man ändern. Man kann auch die Kooperationsbe-reitschaft der anderen Mitgliedstaaten testen; dafürbraucht man keine Gesetze. Ich bin davon überzeugt,daß wir auf diese Weise viele Synergieeffekte bekämenund dies auch die Koordination, die Kohärenz und dieEinstimmigkeit gegenüber unseren Partnern erhöhte.Des weiteren müssen wir Kriterien für eine nachhal-tige und menschenwürdige Entwicklung, unterschiedlichfür das jeweilige Entwicklungsland, entwerfen. Dabeiwürde auch die Heuchelei deutlich. Aber dazu wirdnachher mein Kollege Dzembritzki etwas sagen, wasnachhaltige Entwicklung ohne Kohärenz bedeutet.Schließlich erleichterte es die Evaluation, wenn mansich auf solche Kriterien verständigte. Da hätte man eingemeinsames Grundsystem und würde nicht mehr mitunterschiedlichen Maßstäben herangehen. Wir brauchenbilateral und multilateral dieselben Maßstäbe.Frau Köster-Loßack ist auf die Förderung der zivilge-sellschaftlichen Strukturen eingegangen. Das möchte ichjetzt nicht alles wiederholen. Aber wichtig scheint mir,Frau Ministerin, der politische Dialog vor Ort. Ich sagees einmal ganz negativ: Es kann nicht angehen, daß dieGTZ oder die politischen Stiftungen den Job tun, den ei-gentlich unsere Botschaften oder das BMZ tun müßten.
Das ist kein politischer Dialog. Er muß bitte schön vonden Ministerien wahrgenommen werden.Auch das Thema Krisenprävention hatte die Kolle-gin Köster-Loßack schon angesprochen. Dazu möchteich nur noch eines sagen: Für mich ist gerade in Afrikadas zentrale Thema die Rüstungsexportkontrolle. Esist schlicht Heuchelei, wenn wir über die Bürgerkriegejammern und zugleich zur Kenntnis nehmen, daß in sounverdächtigen Zeitungen wie „Observer“ oder „HeraldTribune“ nachgewiesen wird, wie Länder aus dem We-sten an dem Waffengeschäft beteiligt sind, und zwar inder Regel nicht in Unkenntnis der Regierungen. Ich darfdie Länder nennen: Ruanda, Burundi, Angola, Kongo –Kabila –, Äthiopien, Eritrea und Sudan. Diese Heucheleimuß aufhören. Sonst brauchen wir unsere ganze Ent-wicklungszusammenarbeit nicht. Die Gelder können wirsonst einsparen.
Schließen möchte ich, bevor Sie mich mahnen, HerrPräsident, mit dem Hinweis auf ein kleines Buch, ge-schrieben von einer sehr engagierten Journalistin, Bri-gitte Kols von der „Frankfurter Rundschau“: „TatortAfrika. Ein Kontinent zwischen Gewalt und Hoffnung“.Sie sagt am Schluß – ich stimme ihr zu –: Der TatortAfrika ist vor allem ein Ort für die Taten der Afrikaner.– Richtig. Aber es liegt auch sehr an uns Europäern, obdieser Kontinent in Zukunft ein Kontinent der Gewaltbleibt oder ein Kontinent der Hoffnung wird.In diesem Sinne bitte ich Sie alle gemeinsam, Afrika-ner und Europäer, die Chance eines Neuanfanges der eu-ropäischen Entwicklungszusammenarbeit wirklich zubegreifen und in Taten umzusetzen.Danke schön.
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gerhard Schüßler, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die vor-liegenden Anträge sorgfältig liest, dann kann man trotzaller Widersprüche und Unzulänglichkeiten feststellen,daß wir in vielen Punkten gemeinsame Meinungen ver-treten. Wenn die Beratung dieser Anträge zu einemKonsens führt, kann das der Sache nur dienlich sein.Ich sage das deshalb, weil unsere Partner in Europaund in den Entwicklungsländern von uns erwarten, daßvon der deutschen EU-Präsidentschaft entscheidendeImpulse für die Erneuerung der europäischen Entwick-lungszusammenarbeit ausgehen. Nun muß man sagen:Bislang hat die Bundesregierung bei den laufenden Ver-handlungen über die Erneuerung der Zusammenarbeitzwischen der Europäischen Union und den AKP-Staatenweder klare Schwerpunkte benannt noch ein Konzept zuder Gestaltung vorgelegt. Wie anders ist es möglich, daßdie Koalitionsfraktionen mit einem Antrag vom 16.März die Bundesregierung auffordern, im Rahmen ihrerEU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen? Dasist schon ein Armutszeugnis für eine Bundesregierung:Sie muß von den Koalitionsfraktionen knapp ein halbesJahr nach Verhandlungsbeginn und fast zur Halbzeit ih-Dr. R. Werner Schuster
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2338 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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rer Präsidentschaft in einem Antrag aufgefordert wer-den, eine Initiative zu ergreifen. Das ist schon sehr un-gewöhnlich.Meine Damen und Herren, die bisherige EU-AKP-Zusammenarbeit gilt zwar als erfolgreiches Modellinterregionaler Entwicklungspartnerschaft; sie ist in ih-rer gegenwärtigen Form jedoch nicht den Herausforde-rungen der Globalisierung gewachsen und muß dahervollständig überarbeitet werden. Strukturelle Defizitemüssen beseitigt, neue Prioritäten gesetzt werden.Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden, diedurch schlechte Rahmenbedingungen für Selbsthilfe undunzureichende Eigenanstrengungen der Entwicklungs-länder gekennzeichnet waren, lehren, daß ein reiner Fi-nanztransfer und neue Verteilungsmechanismen das Zieleiner nachhaltigen Entwicklung eher behindern. Nur einneues Konzept, das Eigenanstrengungen als unerläßlicheVoraussetzung für wohlverstandene Solidarität undPartnerschaft definiert, kann langfristig erfolgreich sein.Dem von der Bundesregierung bei der EU-AKP-Ministerkonferenz am 8. Februar in Dakar angekündig-ten neuen Schub für die Verhandlungen müssen nundringend Taten folgen. Darum hat die F.D.P.-Bundestagsfraktion einen Antrag, ein eigenes Neun-Punkte-Konzept zur zukünftigen Gestaltung der EU-AKP-Zusammenarbeit vorgelegt. – Frau KolleginKöster-Loßack, es behandelt sicherlich nicht nur denmarktwirtschaftlichen Teil; ich möchte Sie bitten, dassorgfältig zu lesen. – Dabei soll neben der Armutsbe-kämpfung die Stärkung der Eigeninitiative der AKP-Partner absolute Priorität haben.Voraussetzung dafür sind rechtsstaatliche Rahmenbe-dingungen, entwicklungsorientiertes staatliches Han-deln, Wettbewerb, Privatisierungen, Dezentralisierung,die wirksame Bekämpfung von Korruption, freie undfaire Handelsbedingungen und regionale Zusammenar-beit. Verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiativeund freier Handel sind die besten Voraussetzungen fürnachhaltige Entwicklung. Dies alles finden Sie in denneun Punkten ausformuliert wieder.Eine Reform der europäischen Entwicklungszusam-menarbeit, die diesen Namen verdient, muß auch auf ei-ne verbesserte Kohärenz der verschiedenen europäi-schen und nationalen Instrumente und Geberinstitutio-nen abzielen.
Zu viele Köche verderben, wie Sie wissen, den Brei,auch in der Entwicklungspolitik.
Die Europäische Union braucht eine Entwicklungs-politik aus einem Guß. Um bessere Kohärenz zu errei-chen, müssen die sich teilweise überlappenden Zustän-digkeiten verschiedener Generaldirektionen der Kom-mission klar abgegrenzt und die Aufgabenteilung zwi-schen Kommission und Mitgliedstaaten transparentergestaltet werden. Das wissen Sie auch alle.Die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Mit-gliedstaaten und der Kommission müssen gemäß dem inMaastricht festgelegten Subsidiaritätsprinzip zu einerkohärent vernetzten europäischen Entwicklungspolitikumgestaltet werden. Hierzu ist eine zwischen allen Be-teiligten, einschließlich der Bundesländer und derKommunen, abgestimmte Schwerpunktsetzung erfor-derlich. Die EU-Kommission sollte nur für solche Auf-gaben zuständig sein, die besser und wirksamer auf eu-ropäischer Ebene durchgeführt werden können. Hierfüreignen sich insbesondere Handelsfragen, Strukturanpas-sungsmaßnahmen und die interregionale Zusammenar-beit.
Aus liberaler Sicht sollten insbesondere solche ent-wicklungspolitischen Maßnahmen unterstützt werden,die auf eine Stärkung des Privatsektors abzielen. Der Er-richtung marktwirtschaftlicher Strukturen, der Unter-stützung unternehmerischer Eigeninitiative und der För-derung eines günstigen Investitionsklimas in den Part-nerländern sollte Vorrang eingeräumt werden. Eine be-sondere Rolle sollten in diesem Zusammenhang die be-reits in der Praxis bewährten Modelle der sogenannten„private public partnerships“ übernehmen, in denen öf-fentliche Entwicklungsinstitutionen mit privaten Trägernbei der Verwirklichung von Entwicklungsprojekten in-tensiv zusammenarbeiten.Zu einer erfolgreichen Neustrukturierung der euro-päischen Entwicklungszusammenarbeit gehört auch eineabgestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung, wobeisich die Bemühungen der Kommission in erster Linieauf die Integration der Entwicklungsländer in den freienWelthandel und auf Strukturanpassungsmaßnahmensowie auf interregionale Zusammenarbeit beziehensollten.
Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten muß spä-testens nach Inkrafttreten des Vertrages von Amster-dam mit der gemeinsamen Außenpolitik der Europäi-schen Union zusammengeführt werden. Die Vorberei-tungen dafür müssen jetzt beginnen. Zur politischenKomponente einer gemeinsamen Entwicklungspolitikgehört auch eine gemeinsame Politik der Konfliktver-meidung und Konfliktlösung. Dabei müßte es Aufgabeder Kommission sein, das Umfeld von Konfliktzonen,insbesondere in Afrika, durch Entwicklungspole abzu-sichern, landwirtschaftliche und handwerkliche Subsi-stenzwirtschaft zu ermöglichen und sich für ein Mi-nimum an öffentlicher Sicherheit und Ordnung einzu-setzen.All dies kann nur gelingen, wenn die europäischeEntwicklungszusammenarbeit nicht mehr neben den15 bilateralen Gebern als 16. Geber steht, sondern untergrößtmöglicher Einbeziehung ihrer Mitglieder zusammenmit den jeweiligen AKP-Partnern ein Gesamtkonzept derReformen erarbeitet. Nur abgestimmte länder- und regio-nalspezifische Konzepte werden es ermöglichen, dieSchwierigkeiten der Konfliktregionen anzugehen.Die gegenwärtige Praxis, daß die Entwicklungshilfenur reihum die Löcher zu stopfen versucht, welche sie inder Vergangenheit selbst gerissen hat, ist nicht mehr zuverantworten. Es wird nicht möglich sein, alle AKP-Länder auf den Pfad politischer Tugenden zurückzufüh-Gerhard Schüßler
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ren. Es wird Länder geben, die sich den Reformen ver-weigern, deren staatliche Ordnung insgesamt zusam-menbricht oder in denen bewaffnete Konflikte für langeZeit andauern werden. Deshalb gehört ein langfristigespolitisches Konzept der Konfliktprävention und -lösung zur europäischen Entwicklungspolitik.Deutsche und europäische Entwicklungspolitik istnoch längst nicht erfolgreich, wenn jedes einzelne Ent-wicklungshilfeprojekt erfolgreich ist. Sie ist erfolgreich,wenn ein Beitrag zu einer dauerhaften, positiven Ge-samtentwicklung in den Nehmerländern geleistet wird.Ein solcher dauerhafter Erfolg ist nur möglich, wenn da-zu beigetragen wird, daß die Nehmerländer eine ent-sprechende kohärente Gesamtpolitik konzipieren undrealisieren.Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesre-gierung auf, die derzeitige EU-Präsidentschaft zu nut-zen, die Entwicklungspolitik zu einem Bereich gemein-samer EU-Politik zu entwickeln. Nur dann können aus-scherende nationale Interessen auch anderer EU-Staatenhinreichend unter Kontrolle gebracht werden.In diesem Sinne bitten wir im Hinblick auf die Bera-tungen unseres Antrags in den Ausschüssen um Ihre Zu-stimmung.
Ich möchte etwas
Ungewöhnliches tun: Ich möchte einmal, da wir am
heutigen Freitag um 14.20 Uhr noch voll besetzte Zuhö-
rertribünen haben, unsere Gäste hier im Parlament recht
herzlich begrüßen.
Gleichzeitig bitte ich unsere Besucher, keine falschen
Rückschlüsse daraus zu ziehen, daß das Parlament nicht
so stark besetzt ist wie bei anderen Debatten. Wir hatten
eine lange Sitzungswoche mit vielen namentlichen Ab-
stimmungen. Jetzt geht es hier um sogenannte erste Le-
sungen. Der Inhalt dieser Debatten ist allerdings nicht
weniger wichtig. Ich hoffe, Sie haben trotzdem Interesse
daran.
Nun gebe ich das Wort an den Kollegen Carsten
Hübner von der PDS.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Nach den zum Teil äußersterhitzten Kontroversen des heutigen Tages empfinde iches als ausgesprochen angenehm, daß wir in der jetzigenDebatte wieder zum sachlichen Diskurs zurückgekehrtsind und daß parteipolitische Motive in den Hintergrundgetreten sind.
Ich hoffe, daß das die Grundlage dafür ist, daß wir inden Ausschüssen die Gemeinsamkeiten in den Vorder-grund stellen und einen interfraktionellen Konsens zu er-reichen versuchen. Dabei möchte ich ausdrücklich dar-auf hinweisen, daß diese Beratungen möglichst bald er-folgen müssen, wenn unsere parlamentarische Initiativedie Bundesregierung noch rechtzeitig erreichen undwährend des besonderen Rahmens der deutschen Rats-präsidentschaft wirksam werden soll.Nun komme ich zu den Anträgen selbst. Dabei be-schränke ich mich auf die derzeit strittigen Fragen desLomé-Nachfolgeprozesses. Zunächst – das ist wohl dieKernfrage – zur Handelspolitik: In diesem Bereich ge-hen die Positionen erheblich auseinander. Die Anträgeder F.D.P. und der PDS bilden die jeweiligen Pole. Dashat Herr Schüßler in seinem Beitrag soeben schon ver-deutlicht.Während die F.D.P. auf eine verstärkte Liberalisie-rung der Handelsbeziehungen im wirtschaftlichen Sinne,also auf mehr deregulierten Markt und damit auf denweiteren Ausbau des Rechts des Stärkeren setzt, erklärtdie PDS in ihrem Antrag einer völlig verfrühten und vonden entwicklungspolitischen Folgen her unüberschauba-ren Transformation des bisherigen Lomé-Vertragswer-kes in Freihandelsabkommen eine deutliche Absage.Statt dessen sind Konzepte für eine zeitlich und öko-nomisch angemessene und vertretbare Integration derAKP-Staaten gefragt – Konzepte, die dem Ansatz einerinternationalen Strukturpolitik und einer gerechtenWeltwirtschaftsordnung verpflichtet sein müssen, Kon-zepte, die nicht auch noch die ärmsten und am wenig-sten entwickelten Länder – um diese geht es nämlich –völlig schutzlos der turbokapitalistischen Megamaschineaussetzen
– das sind schöne Worte; wenn man sieht, was dies indiesen Regionen anrichtet, dann kann man auch einmalsolche schönen Formulierungen wählen –,
die bekanntlich national wie international immer dannam reibungslosesten läuft, wenn soziale, bildungs- undkulturpolitische Standards abgebaut werden. Aus Sichtmeiner Fraktion ist dies ein verheerender Trend, dernicht fortgeschrieben, sondern umgekehrt werden muß.Dies setzt voraus, daß sich die Bundesregierung, die EUund die AKP-Staaten gemeinsam in der WTO gegendiesen Trend stemmen und eine verantwortliche Politikerzwingen.Ein zweiter wesentlicher Punkt, meine Damen undHerren, ist der Aspekt der „good governance“. Sosehrich den Ansatz teile, daß die Zusammenarbeit zwischender EU und den AKP-Staaten und die Entwicklungszu-sammenarbeit allgemein an verbindliche rechtsstaatli-che, menschenrechtliche, ökologische und demokrati-sche Standards angebunden wird, so wichtig ist es aberauch, dafür zu sorgen, daß bei den AKP-Partnern nichtder Eindruck entsteht, diese Standards seien nur einweiterer und ganz perfider Trick, um den weiterenRückzug der Geberländer aus einer internationalenStrukturpolitik zu legitimieren und eigene strategischeund ökonomische Interessen zu verschleiern.Gerhard Schüßler
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Diesen Eindruck kann man eben nur dadurch aus-räumen, daß man mit gutem Beispiel vorangeht. Abergenau da gibt es, wie Sie wissen, auf EU-Ebene erheb-liche Defizite – Defizite, die durch die mangelhaftedemokratische Verfaßtheit der EU zumindest befördertwerden und die auf strukturelle, nicht allein personelleMängel schließen lassen.Gleichzeitig müssen wir uns aber dafür einsetzen, daßder entwicklungspolitische Etat – möglichst erhöht – inden regulären Haushalt der EU-Kommission eingestelltwird, was zumindest ein erster Schritt in Richtung eineshöheren Stellenwerts der Entwicklungspolitik in derGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EUsein könnte. Leider wurde dieser Schritt auch in derBundesrepublik längst noch nicht vollzogen, wie diebisherigen Haushaltsberatungen gezeigt haben. Ich be-fürchte, das dicke Ende kommt erst noch.Meine Damen und Herren, ich denke, wir sinduns einig, daß Lomé keine reine Erfolgsgeschichte war,daß – dies ist mehrfach angesprochen worden – Re-formen und Strukturveränderungen notwendig sind,wenn wir im europäischen Zusammenhang angemessenauf die Herausforderungen der nächsten Jahre reagierenwollen. Stabex und Sysmin müssen transformiertwerden; den Frauen muß als einem wesentlichen Trag-pfeiler von Entwicklungsprozessen vor Ort noch weitausmehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch einebessere, eine strukturell effektivere und zielgenauereKoordinierung der multilateralen und bilateralen Ent-wicklungszusammenarbeit steht dringend auf der Tages-ordnung.Ich bin mir sicher: In den Ausschußberatungen wer-den wir auf ebendiese Fragen zu sprechen kommen. Ichhoffe, daß wir uns nicht nur kritisch und sachorientiertauseinandersetzen werden, sondern daß wir auch zueinem gemeinsamen, einem interfraktionellen Ergebniskommen. Dem Thema wäre es angemessen. Aber sicherbin ich mir, was das anbetrifft, natürlich nicht. Ich hoffe.Danke.
Das Wort hat der
Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Prä-sident! Meine Damen und Herren! Die neue Bundesre-gierung will in der Entwicklungspolitik mehr auf Europaund die internationalen Organisationen setzen. HerrSchuster hat noch einmal betont, daß Europa in derEntwicklungspolitik sozusagen erst jetzt richtig entdecktwerde, und auch die Frau Ministerin hat in der Presseerklärt, das sei der große Unterschied zu ihrem Vorgän-ger, Carl-Dieter Spranger.
Angesichts der Entwicklung in dieser Woche mußman auf dieses Thema antworten. Der durch die nichtmehr zu bestreitenden Skandale erzwungene Rücktrittder Kommission der Europäischen Union hat über-deutlich gezeigt, daß die Skepsis gegenüber der Lei-stungsfähigkeit und der Kompetenz der europäischenEntwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jah-ren voll und ganz berechtigt war.
Die Kritik, wie sie zum Beispiel im Urteil des Rech-nungshofes über die Arbeit des Europäischen Amtes fürhumanitäre Hilfe zum Ausdruck kommt, war schließlichmit ein Anlaß dafür, daß der Kommission im Parlamentdie Entlastung verweigert wurde und daß sie nach Be-stätigung dieser Kritik durch den Rat der Weisen jetztzurücktreten mußte.Auch wenn Frau Köster-Loßack das höflich als „Aktder Demokratie“ beschrieben hat, muß man doch sagen:Dieser lange, schmerzhafte Prozeß bis zum Rücktritt istzunächst für all die eine Blamage, die sich bis zumSchluß hinter diese Kommission gestellt haben. Es wardringend notwendig, daß sie diesen Schritt endlich un-ternommen hat, nachdem im Parlament dafür leider kei-ne Mehrheit zustande gekommen war.
Nun will ich bei aller berechtigten Kritik nicht be-streiten: Die Europäische Union hat eine Reihe kompa-rativer Vorteile gegenüber rein nationalen Entwick-lungspolitiken. Nur, die Bürgerinnen und Bürger in un-serem Land sind zu Recht äußerst sensibel, ob die vonihnen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfü-gung gestellten Gelder tatsächlich den Menschen in denärmsten Ländern der Welt zugute kommen.Man muß heute feststellen, daß diese Kommission,die jetzt endlich zurückgetreten ist, einen riesigen Ver-trauensverlust verursacht hat. Ich will es einfach nocheinmal erwähnen: Da wurden Gelder, die für die huma-nitäre Hilfe oder die Entwicklungszusammenarbeit vor-gesehen waren, zur Finanzierung von „U-Booten“ um-geleitet. Das sind in diesem Fall nicht die U-Boote, vondenen Frau Köster-Loßack sprach, sondern damit sindMitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeint, die außerhalbdes Stellenplans eingesetzt wurden. Da läßt es sich nichtmehr feststellen, ob Nahrungsmittel und medizinischeHilfsgüter tatsächlich die vorgesehenen Empfänger er-reicht haben, weil Überwachung und Kontrolle ungenü-gend waren. Da wursteln mehrere Organisationen undInstitutionen im gleichen Entwicklungsland mit dengleichen EU-Mitteln nebeneinander her, ohne daß koor-diniert und kooperiert wird.Deshalb hat das Europäische Parlament bekanntlichbereits im vergangenen Jahr Konsequenzen gefordert.Die Kommission hat diese rigoros abgelehnt.
Diese Arroganz der Kommission ist letztlich der Auslö-ser für ihren Sturz. Ich finde zu Recht: Hochmut kommtvor dem Fall.
Carsten Hübner
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Oftmals wird davon gesprochen – auch heute ein biß-chen –, eine verbesserte europäische Entwicklungszu-sammenarbeit sei vor allem eine Frage von mehr Geld.
– Ich komme darauf. – Erst am 5. März dieses Jahres hatdie neue Leitung des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Kol-legen Hedrich aus der CDU/CSU-Fraktion als – ichzitiere – „hochgradig unseriös“ bezeichnet,
weil er – so die Begründung in der Erklärung desMinisteriums – die geplante Erhöhung der deutschenMittel für den europäischen Entwicklungsfonds kritisierthabe. Nun muß ich feststellen: Der Schock des Kommis-sionsrücktritts hat offensichtlich auch bei Sozialdemo-kraten und Grünen eine andere Politik ausgelöst; dennwir haben uns in dieser Woche gemeinsam daraufverständigt, die Mittel im Haushaltsansatz etwas zusenken.Eine Reform der europäischen Entwicklungszusam-menarbeit muß bei Strukturen wie bei Inhalten erfolgen;ansonsten ist möglicherweise jeder zusätzliche Euro ver-schwendet. Für die Reform der Strukturen brauchenwir, wenn wir eine neue Kommission bilden – wir for-dern den Bundeskanzler auf, dafür zu sorgen, daß dasrasch erfolgt –, eine Zusammenführung der für die Ent-wicklungszusammenarbeit zuständigen Stellen; wirbrauchen humanitäre Hilfe in einer Hand; wir müssenSchluß machen mit der Zersplitterung in eine Vielzahlvon Kommissaren, Generaldirektionen und unterschied-lichen Dienststellen.
Herr Dr. Schuster hat es als eine großartige Sache er-wähnt, die in Europa auf Beifall stoße, daß die Ministe-rin so gerne ihren politischen Lehrmeister zitiert undvon Entwicklungspolitik als Friedenspolitik spricht.
Verehrte Frau Ministerin, ich denke, die entscheidendeFrage wird sein, wie sich die Entwicklungszusammenar-beit dem neuen Instrument der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik des Amsterdamer Vertrages zu-ordnet.
Ich meine, daß die entwicklungspolitische Zusammen-arbeit ein wesentlicher Bestandteil und gleichberechtig-tes Element der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik der Union sein muß.
Ich sehe dabei weniger die Gefahr, daß die Entwick-lungszusammenarbeit, insbesondere die humanitäre Hil-fe, instrumentalisiert werden könnte, als – auf Grund derErfahrung der letzten Jahre – vielmehr die Gefahr, daßsich Eitelkeiten und Rivalitäten zwischen den Akteurenzum Schaden der Betroffenen auswirken.
Jetzt möchte ich die Zusammenarbeit mit den Kir-chen und Nichtregierungsorganisationen ansprechen.Frau Ministerin, ich gehe davon aus, daß Sie uns amSchluß der Debatte noch einen Bericht über das Treffenmit den Nichtregierungsorganisationen in Berlin geben.Ich will schon vorher folgendes feststellen: SchöneWorte sind zuwenig. Für die Zusammenarbeit der Euro-päischen Kommission mit den Nichtregierungsorganisa-tionen gibt es eigentlich nur ein Wort: Chaos. Sie brau-chen nicht zu erschrecken: Ich meine jetzt nicht dasChaos in der rotgrünen Koalition, sondern ich meine dasChaos in Brüssel.Seit Jahren wird den Nichtregierungsorganisationenseitens der EU-Kommission das Leben eher schwerge-macht: viel zu lange Wartezeiten für die Genehmigungwichtiger Projekte; man richtet Consulting-Büros in deneinzelnen Mitgliedstaaten ein; man löst sie zum 30. Junidieses Jahres vorzeitig auf; man will in Brüssel ein neu-es großes Büro einrichten, laut Ausschreibung doppeltso teuer wie das bisherige; zum 1. Januar 2000 sollen dieVerträge im Rahmen der Kofinanzierung auf eine neueBasis gestellt werden. – Also: Rein in die Kartoffeln,raus aus den Kartoffeln. Das ist keine verläßliche Poli-tik, erst recht keine Partnerschaft mit Nichtregierungsor-ganisationen, wie wir sie verstehen.Im Bereich der humanitären Hilfe wird von der EU-Kommission über Jahre eine französische Hilfsorgani-sation einseitig bevorzugt. Der Direktor des Amtes kannunwidersprochen behaupten, humanitäre Hilfe im Rah-men der Europäischen Union sei grundsätzlich franzö-sisch. Verfolgt wird zudem ein rein interventionistischerAnsatz. Herr Dr. Schuster hat ein schönes Beispiel mitdem Brunnen aus dem Sudan genannt. Jede Nachhaltig-keit und Entwicklungsorientierung fehlt.Meine Damen und Herren, Nichtregierungsorganisa-tionen müssen echte Partner in der Entwicklungszu-sammenarbeit und bei der humanitären Hilfe werden.Die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen selbstsollte sich meines Erachtens europäisieren. Da hätteauch die EU-Kommission eine Aufgabe, nämlich dazubeizutragen, daß transnationale Zusammenarbeit vonNichtregierungsorganisationen gefördert wird.Wir brauchen – auch das ist schon angesprochenworden – ein neues und besseres System der Evaluie-rung. Prüfberichte, in denen nur die eigenen Wunsch-vorstellungen bestätigt werden und keine kritischeBewertung stattfindet, sind wertlos. Auch das hat derEU-Rechnungshof zu Recht kritisiert. Notwendig sindmehr unabhängige Evaluierungen und keine Gefällig-keitsgutachten. Es gibt den schönen Spruch, eine Aller-weltsweisheit: Jede Krise birgt in sich auch eine Chance.So ist der Rücktritt der Kommission in der Tat einePeter Weiß
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Chance für einen Neuanfang auch in der europäischenEntwicklungszusammenarbeit, die wir gemeinsam nut-zen sollten. Mein Wunsch ist: Von Europa sollte manzielgerichtetes entwicklungs- und partnerorientiertesHandeln und nicht Bürokratismus und Interventionismuslernen können.Vielen Dank.
Auch dem Kollegen
Peter Weiß darf ich zu seiner ersten Rede hier im Hause
gratulieren.
Nun gebe ich dem Kollegen Detlef Dzembritzki für
die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Weiß, ich habeaufmerksam zugehört und bei Ihrer Rede an den vonHerrn Dr. Schuster schon angesprochenen Besuch inBrüssel gedacht. Ich will Ihnen offen sagen: Ich war beidem Besuch in Brüssel überrascht, daß, jedenfalls fürmich, nachvollziehbare strategische Konzepte über Ent-wicklungspolitik nicht erkennbar waren. Eine Konse-quenz daraus ist für mich, daß wir unseren Einfluß inRichtung Brüssel mit Sicherheit intensiv wahrnehmenmüssen, wenn wir dort weiterhin eigene Vorstellungenrealisieren wollen und wenn wir erreichen wollen, daßdort tatsächlich eine sinnvolle, vernünftige, nachvoll-ziehbare Entwicklungspolitik gemacht wird.Nachdem Sie aber die Kommission und das Verhal-ten der jetzigen Bundesregierung in dieser Massivitätkritisiert haben, kann ich eigentlich nur den Rückschlußziehen, daß in den zurückliegenden Jahren von IhrerSeite aus offensichtlich verhältnismäßig wenig Einflußauf die Institutionen in Brüssel genommen wurde, umbestimmte Entwicklungen nicht in der Weise eintretenzu lassen, wie es geschehen ist.
Angesichts der zu bewältigenden Situation ist festzu-halten, daß trotz der knappen finanziellen Ressourcennach wie vor Möglichkeiten vorhanden sind und – dastimme ich dem Kollegen der F.D.P.-Fraktion zu – daßder Einsatz lediglich von Finanzen die notwendigenVeränderungen nicht bringen wird. Kreativität, Enga-gement und gemeinsame Konzepte sind gefragt. Dasgroße Verdienst der Bundesministerin Wieczorek-Zeulliegt gerade darin, daß sie sich dieser Herausforderunggestellt und diese Aufgabe angepackt hat.
Nach den Verhandlungen in Dakar sind wir auf demrichtigen Weg. Die für das Post-Lomé-Abkommen fest-gelegten Eckpunkte sind wirklich eine Chance, hierweiterzukommen, weil sie die Europäer zu mehr Zu-sammenarbeit mahnen. Es geht um die grundlegendeReform der Beziehungen zwischen EU und AKP-Staaten. Ich finde es gut, daß hier im Hause Einigkeitdarüber herrscht, daß die EU nicht quasi der 16. Staat inEuropa sein und nicht als solcher agieren darf, sonderndaß die EU vielmehr für die Bündelung und Koordina-tion der EU-Entwicklungspolitik verantwortlich sein muß.
Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen einekohärente Gesamtpolitik. Dem Europäischen Parlament,der Kommission und allen 15 nationalen Parlamentenmuß künftig eine Übersicht über die Gesamtmittel dereuropäischen Entwicklungszusammenarbeit vorgelegtwerden. Eine effizientere Entwicklungszusammenarbeitsetzt Transparenz voraus. Die Kommission wurde schonhäufig genug gescholten; ich denke, daß wir alle ein In-teresse daran haben, daß gerade auch die Betrugsvor-würfe im ECHO-Kommissariat bzw. in der Generaldi-rektion restlos aufgeklärt werden. Andererseits darf manwiederum nicht übersehen, wie wichtig es ist, die ideellund über Soforthilfen tätige ECHO-Generaldirektion alsInstrument in diesen weltweiten Krisen- und Katastro-phenbereichen zu haben.Die Ziele der Reform der europäischen Entwick-lungspolitik unter unserer Ratspräsidentschaft sind Kri-senprävention und Konfliktmanagement sowie Förde-rung der Handelsbeziehungen. Beides setzt Demokrati-sierung voraus. Was heißt das im einzelnen?Nach unserer Meinung muß Krisenprävention einoperativer Bestandteil der europäischen Entwicklungs-zusammenarbeit werden. Die EU-Mitgliedstaaten müs-sen sich auf ein gemeinsames Konzept einigen. HerrKollege Weiß, ich muß das noch einmal sagen: In IhremAntrag fehlt diese Friedenspolitik als Hinweis und alswichtiges Moment; Sie können das noch einmal nachle-sen. Wir hingegen fordern diese Friedenspolitik geradeangesichts der Bürgerkriege und Konflikte, wie wir siezum Beispiel in Afrika oder jetzt in Indonesien erlebenmüssen. Solche Konflikte zerstören die Ergebnisse einerjahrelangen Förderung. Deshalb wollen wir die Ursa-chen der Krisen an der Wurzel bekämpfen. Da ich höre,daß in dieser Woche in Osttimor keine Chirurgen undkeine ärztliche Versorgung zur Verfügung stehen, bitteich die Bundesregierung – möglicherweise mit EU-Hilfe–, gute Dienste anzubieten. Denn wir wollen die Wurzelder Gewalt bekämpfen, und Hoffnungslosigkeit ist häu-fig eine dieser Wurzeln.Die Entwicklungs- und Wirtschaftspartnerschaft mußaber um die politische Dimension erweitert werden.Deshalb ist die Demokratisierung in den Entwicklungs-ländern der Dreh- und Angelpunkt. Der politische Dia-log ist das Schlüsselwort und die Grundlage für einepartnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU undAKP-Staaten. Es geht uns nicht darum, dort ein Spiegel-bild Europas zu schaffen. Vielmehr müssen traditionelleund demokratische Strukturen verzahnt werden. DieEntwicklungsländer sollen sich in der Zusammenarbeitwiederfinden. Unsere Forderungen nach Demokratisie-rung, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschen-Peter Weiß
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rechte sollen einen internationalen Mindeststandard ga-rantieren. Bei Verletzung dieser Standards muß einegemeinsam mit den AKP-Staaten vereinbarte Suspendie-rungsklausel greifen. Gelder können dann ausgesetztoder gestoppt werden.Ein zweiter wesentlicher Punkt bei der Reform dereuropäischen Entwicklungszusammenarbeit sind dieHandlungsbeziehungen. Die Armutsbekämpfung ist füruns zentral. Die Sicherung der Ernährung in den Ent-wicklungsländern selbst muß – auch als Wirtschafts-und Arbeitsmarktfaktor – Vorrang haben. Die Wirt-schaftsinteressen der EU müssen das berücksichtigen.Übrigens fehlt auch dieser Aspekt in den Oppositions-anträgen. Wichtigstes Instrument ist für uns die Agrar-und Fischereipolitik. Das bedeutet Abbau von Sub-ventionen und Öffnung unserer Märkte. Es kann dochnicht sein, daß in Entwicklungsländern Viehwirte ihrRindfleisch nicht verkaufen können, weil billigeressubventioniertes Fleisch aus den EU-Ländern importiertwird. Solange das so ist, leisten wir keine Hilfe.
Es sind Handelsregeln notwendig, die an das Ent-wicklungsniveau der einzelnen Länder flexibel anpaßbarsind. Wir wollen den Entwicklungsländern den Zugangzum Weltmarkt erleichtern. Unsere soziale Marktwirt-schaft wird sich daran messen lassen, ob wir dazu bereitund in der Lage sind. Insofern können wir über Kriteriender sozialen Marktwirtschaft diskutieren.
Ich denke, daß es richtig ist, daß wir die kulturellen undsozialen, aber auch die technischen Besonderheiten imjeweiligen Land bei der Unterstützung berücksichtigen.Denn nur so werden wir Akzeptanz bekommen, und nurso werden wir erreichen, daß die Entwicklungsprojektein den betroffenen Ländern auch tatsächlich nachhaltigsind.Außerdem ist zu überlegen, ob ein EU/AKP-Ver-bindungsbüro bei der WTO angesiedelt werden sollteund ob es nicht Sinn macht, Europa auch in der Welt-bank eine eigene Stimme zu geben. Wir müssen auchdarauf achten, daß in diesen Bereichen nicht nur Finanz-gewaltige, sondern auch Entwicklungsexperten sitzen.Demokratie und wirtschaftliche Prosperität müssenHand in Hand gehen. Deshalb wollen wir die demokrati-sche Entwicklung und Wirtschaftskraft in den Entwick-lungsländern gleichzeitig stärken und Planungssicherheitschaffen. Unter diesem Aspekt muß die Mittelvergabean einen längeren Zeitraum gebunden sein. Gleichzeitigmuß eine Fortschrittsevaluierung gesichert werden.Es geht nicht nur um die EU. Auch die Beziehungender Entwicklungsländer untereinander müssen verbes-sert werden. Das Europa der Regionen ist ein Beispieldafür, wie wichtig regionale Zusammenarbeit ist.Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben von„good governance“ gesprochen. Mit der Politik der„good governance“ können wir die Zivilgesellschaftstärken. Aber „good governance“ gilt für alle beteiligtenSeiten. Insbesondere sind die Entwicklungsländer vorKorruption von dritter Seite zu schützen. Es treibt einemdie Schamröte ins Gesicht, wenn eine afrikanische Mi-nisterin, die übrigens in ihrem Land für die Ölförderungzuständig ist, nach nur drei Wochen Amtszeit ein Ange-bot von europäischen Gönnern bekommt, sich in Genfein Konto einrichten zu lassen.
Dazu fällt mir nur noch eine Aussage von Gustav Hei-nemann ein:Wer mit einem Finger auf andere zeigt, weist mitdrei Fingern auf sich selbst zurück.Die Interessen beider Seiten müssen in einem gleich-berechtigten Dialog berücksichtigt werden. Die Atmo-sphäre, die ich bei der Lomé-Konferenz in Dakar erlebthabe, stimmt mich optimistisch, daß dies möglich ist.Das ist auch ein Verdienst unserer Ministerin Heidema-rie Wieczorek-Zeul. Kompliment und Anerkennung!
Wir wollen aber auch lokale und regionale Gruppenin die politische Vorbereitung unserer Entwicklungshil-femaßnahmen stärker einbeziehen. Machen wir auchMut für kommunale Partnerschaften zwischen Städtender EU und AKP-Staaten! Meine eigenen Erfahrungenaus meinem Wahlkreis, der zusammen mit einer franzö-sischen Partnerstadt und mit einer Region in BurkinaFaso Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sind über-zeugend. Wer gesehen hat, wie junge Leute nach vierWochen Aufenthalt in dieser afrikanischen Region ver-ändert zurückkommen, nachdem sie in einem armenLand Gastfreundschaft, Herzlichkeit und eine andereKultur erlebt haben, der stellt fest, daß es sich bei derEntwicklungszusammenarbeit auch um ein Geben undNehmen handelt, nicht nur um ein Geben. Das muß aucheine der Grundlagen unserer Entwicklungspolitik sein.
Die europäischen Länder müssen ihre Konzepte aus-tauschen. Sie müssen gemeinsam vor Ort zu einer abge-stimmten Zusammenarbeit gelangen. Nicht die Addition,sondern die Vernetzung und Verzahnung von Entwick-lungshilfe führt zu nachhaltigem Erfolg. Wichtig ist, daßwir dies in einer Partnerschaft betreiben.Lassen Sie mich zum Schluß meine zentralen Forde-rungen wiederholen: erstens Bündelung der europäi-schen Entwicklungszusammenarbeit, zweitens Reformder europäischen Entwicklungszusammenarbeit durchEinführung von Krisenprävention und Förderung derHandelsbeziehungen, drittens Förderung der Kohärenzder europäischen Entwicklungszusammenarbeit, viertensSteigerung der Effektivität durch flexiblere Instrumente.Wenn wir hierbei Erfolg haben, arbeiten wir erfolgreichfür die Demokratisierung, die wir alle wollen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Detlef Dzembritzki
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Auch dem KollegenDzembritzki möchte ich zu seiner ersten Rede gratulie-ren.
Nun gebe ich der Bundesministerin für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau HeidemarieWieczorek-Zeul, das Wort.Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: HerrPräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine EU-Ratspräsidentschaft dauert sechs Monate. Für eine EU-Entwicklungspolitik – das wissen Sie alle, Herr Hedrich,und auch die, die vorher in diesem Bereich tätig waren –braucht man jedoch lange Entwicklungslinien und aucheinen langen Atem sowie Visionen, Perspektiven, aberauch Hartnäckigkeit und Zähigkeit gegenüber allen Wi-derständen und Widerwärtigkeiten, um die eigene Liniedurchhalten zu können.Wir haben die deutsche Ratspräsidentschaft vorbe-reitet. Wir haben im November letzten Jahres beim er-sten Ministerrat der Europäischen Union nach dem Bon-ner Regierungswechsel sozusagen im Vorfeld der Troikamitgearbeitet. Wir werden auch die finnische Ratspräsi-dentschaft begleiten, die ab Juli die Arbeit übernimmt.Wir haben selbstverständlich auch im Vorfeld der For-mulierung der Anträge diese Positionen während unsererRatspräsidentschaft seit Januar vertreten. Da ich imAwZ dazu immer Berichte abgebe, verzichte ich jetztauf die Details in diesem Bereich. Sie wissen, daß wir inDakar – das ist wichtig; ich bitte darum, das positiv zurKenntnis zu nehmen – sehr viel weitergekommen sind,als man auf Grund des Ausgangsmandats der EU undauch der AKP-Staaten befürchten mußte.Ich möchte Sie, Herr Brauksiepe und alle Kollegin-nen und Kollegen, die zu diesem Thema gesprochen ha-ben, bitten, keine künstlichen Differenzen aufzubauen.Wir können uns über wirklich notwendige Sachen strei-ten. Aber zur Entschuldung der ärmsten Entwick-lungsländer könnte ich auch sagen, daß das, was dievorherige Bundesregierung gemacht hat – ein Schulden-erlaß von 9 Milliarden DM –, noch aus dem UNCTAD-Beschluß von 1978 stammt, der in die Regierungszeitder sozialliberalen Koalition fällt. Meine Güte, was fürdiejenigen Kinder, die verhungern, oder für diejenigenMenschen, die in Armut leben, wichtig ist, ist, daß wirschnell einen Schuldendiensterlaß von 30 MilliardenDM auf den Weg bringen und die frei werdende Geld-summe in das Gesundheitswesen der entsprechendenLänder umorientieren. Das würde sieben Millionen Kin-dern das Leben retten.
Es ist in Ordnung, wenn Sie uns in der Entschuldungs-strategie gegenüber armen Entwicklungsländern unter-stützen. Diesen Plan wollen wir auf dem G-7-Gipfelverwirklichen.In diesem Bereich gibt es interessante Unterstützung,zum Beispiel die von James Wolfensohn, dem Präsi-denten der Weltbank, von vor wenigen Tagen in Berlin.Und der amerikanische Präsident hat gesagt, es bedürfeeines Schuldenerlasses im Umfang von 70 MilliardenDM. Wenn der G-7-Gipfel nur diesen einen Beschlußwirklich in Politik umsetzen würde, dann hätten wir inunserer Entwicklungspolitik etwas erreicht. Das wäregut so. Darauf könnten alle stolz sein.
Werner Schuster hat vom Tatort Afrika gesprochen.Es geht auch hier um lange Linien, liebe Kolleginnenund Kollegen. Der Konvention gegen die Antiperso-nenminen, gegen Landminen ging ein ganz langerKampf voraus. Wir haben es aber jetzt durchgesetzt, daßLandminen geächtet werden, daß kein Transfer, keineProduktion und keine Verlagerung in die entsprechen-den Länder mehr stattfinden darf. Wir fordern alle Län-der, die diese Konvention noch nicht unterschrieben ha-ben – die USA, China und Rußland –, auf, sich dieserKonvention anzuschließen, damit wir in diesem Bereichvorankommen.
Ein weiterer Punkt ist mit dem vorherigen vergleich-bar, wenn auch nicht identisch. Es geht darum, dafür zusorgen, erst einmal in der EU und dann hoffentlich auchUN-weit eine Konvention zustande zu bringen, daß demmillionenfachen Transfer von Kleinwaffen – so werdensie verniedlichend genannt; es geht um Gewehre, Hand-feuerwaffen und Pistolen – ein Ende gemacht wird. Dasist die Voraussetzung dafür, daß sich afrikanische Län-der nicht länger gegenseitig niedermetzeln und Kinder-soldaten nicht mehr mit Gewehren und Pistolen in Krie-ge gegeneinander gehetzt werden.Lassen Sie uns alle gemeinsam dazu beitragen, die-sem Skandal und diesen Verbrechen ein Ende zu setzen.Wenn das geschieht, dann haben wir doch etwas er-reicht!
Dieses Problem beschäftigt doch jeden von uns undkann doch niemanden gleichgültig lassen. Wir haben eshier mit europäischer Entwicklungspolitik zu tun; dennkein Land kann dabei allein vorangehen.Zu dem, was in der Ratspräsidentschaft unmittelbaransteht, möchte ich sagen: Wir werden unsere Pläne um-setzen. Es geht vor allen Dingen darum, die Wirksam-keit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zuverstärken. Es liegen mittlerweile die Berichte zurEvaluierung der EU-Entwicklungspolitik vor. Ichmöchte Ihnen drei wichtige Elemente nennen, die wirumsetzen werden.Das erste ist, daß die europäische Entwicklungszu-sammenarbeit im Vergleich zu anderen Gebern nichtausreichend strategisch konzipiert ist.Das zweite ist – das wundert uns nicht, es ist aberwichtig, daß das jetzt gesagt wird –, daß die fehlende
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Abstimmung zwischen Kommission und Mitgliedstaatenden Wettbewerb zwischen den Gebern erhöht und damitdie Verwaltungen der Entwicklungsländer belastet. Dasist eine absurde Situation.Das dritte ist, daß eine Entwicklungszusammenarbeitaus einem Guß geschaffen werden muß. Sie muß zwi-schen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten so abgestimmtwerden, daß sie zu mehr entwicklungspolitischem Ein-fluß auf die jeweiligen Länderkonzepte führt.
– Darauf wollte ich gerade kommen, Herr Kollege. –Das Ministerium hat vor, während der deutschen Rats-präsidentschaft diese Ergebnisse aus der Evaluierungder europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf dieTagesordnung des nächsten Ministerrates am 21. Mai zusetzen und daraus entsprechende Schlußfolgerungen fürdie Politik der Europäischen Union zu ziehen.Vor zwei Tagen hatten wir – einer der Kollegen hatdarauf hingewiesen – ein informelles Treffen der EU-Entwicklungsminister in Berlin, die auf meine Einla-dung hin dort waren. Es bestand Einvernehmen zwi-schen uns allen darüber, daß es jetzt, nachdem die EU-Kommission selber die Konsequenzen gezogen hat, ander Zeit ist, daß nur eine Person, Mann oder Frau, in derEuropäischen Kommission für den Bereich der Ent-wicklungspolitik zuständig ist. Dafür sollten die Regie-rungen sorgen, damit es nicht durch die Zuständigkeitunterschiedlicher Stellen für diesen Bereich zu Verzet-telungen kommt. Wir alle waren der Meinung, daß die-ses notwendig ist.
Weiter haben alle EU-Entwicklungsminister gesagt, daßkeine Zeitverzögerungen bei den Verhandlungen mitden AKP-Staaten eintreten dürfen. Das sage ich hierausdrücklich noch einmal zu. Es bleibt bei dem entspre-chenden Zeitplan.Zur Ratspräsidentschaft. Liebe Kolleginnen undKollegen, Sie sind wahrscheinlich alle gleichermaßendarüber empört: Wir reden alle über Kohärenz und da istes doch ein Skandal, daß die Unterzeichnung des Han-delsabkommens mit Südafrika vor dem Ende derAmtszeit Mandelas daran zu scheitern droht, daß man-che Mitgliedstaaten die Begriffe „Port“ und „Sherry“ fürsich reserviert sehen wollen. Da ist ein Mann jahrzehn-telang im Gefängnis und schafft es dann, die Demokratiein Südafrika voranzubringen und die Apartheid zu be-seitigen, Präsident Mandela, und die Europäische Unionsoll nicht imstande sein, dieses Handelsabkommenmit Südafrika so rechtzeitig abzuschließen, daß diesesEreignis noch in die Amtszeit von Präsident Mandelafällt? Ich fordere alle Regierungen auf, dazu beizutra-gen, daß dieses Handelsabkommen endlich beschlossenwird.
Vorhin wurde ich von Herrn Kollegen Weiß undanderen nach dem informellen Treffen gefragt: Allewaren davon begeistert, daß wir zum erstenmal auf derEbene der EU – das wurde noch während keinerRatspräsidentschaft praktiziert – ein Seminar mit denEU-Entwicklungsministern, von denen fast alle dawaren, und Nicht-Regierungsorganisationen hatten. Zumeinen wurden die bürokratischen Hemmnisse innerhalbder EU angesprochen. Wir werden dieses Problemanpacken und versuchen, sie auszuräumen. Zum anderenhaben wir festgestellt, daß wir viele gemeinsame Zielehaben: Zum Beispiel ist unser gemeinsames Ziel imVerhältnis zu den AKP-Ländern, dort die Zivilge-sellschaft auszubauen und in den Partnerländern dazubeizutragen, daß Menschenrechte gesichert werden,daß Demokratie und gute Regierungsführung verwirk-licht werden und daß die Menschen in diesen Ländernan den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligtwerden.
Eines ist doch sicher, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Es wird keinen Frieden und keine Entwicklunggeben, wenn nicht die breite Bevölkerung in dieseEntwicklungen einbezogen wird. Deshalb muß dieEU-Entwicklungspolitik die Beteiligung der Mitglieds-länder, der Entwicklungsländer und der Nicht-Regierungsorganisationen an diesen Prozessen voran-bringen. Von unserer Seite aus werden wir das tun. Wirhaben mit dem Seminar deutlich gemacht, daß wir unsein gemeinsames Herangehen aller Beteiligten wün-schen.Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen.
Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich etwaslänger gesprochen habe. Aber in dieser Debatte ging esum Probleme, die uns allen am Herzen liegen. Ich bitteum Nachsicht, daß meine Rede etwas länger als geplantwar. Eine ausreichende Behandlung dieses Themas sindwir aber den Menschen, die ihre Hoffnung in uns setzen,schuldig.
Herr VizepräsidentSeiters hat Ihnen die verlängerte Redezeit zu Recht ein-geräumt, Frau Ministerin, weil es eine wichtige Redewar. Ich schließe mich seiner Auffassung an.Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionellwird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen14/538, 14/537 und 14/531 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag derKoalitionsfraktionen auf Drucksache 14/538 soll zu-nächst dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDSSofortiger unbefristeter Abschiebestop fürFlüchtlinge in die Türkei– Drucksache 14/331 –Überweisungsvorschlag:
Lippmann-Kasten, Dr. Dietmar Bartsch, EvaBulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und derFraktion der PDSEinleitung eines internationalen Friedenspro-zesses zur Situation der Kurdinnen und Kur-den in der Türkei– Drucksache 14/470 –Überweisungsvorschlag:
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Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Während Frau Zapfzum außenpolitischen Teil des heutigen Themas redenwird, will ich mich dem innenpolitischen Teil zu-wenden.Ich sage das Ergebnis vorweg: Die SPD-Fraktionschlägt Ihnen vor, den Antrag der PDS an die zuständi-gen Ausschüsse zu überweisen. Ich tue das, obwohl ichIhnen den auf etwas Unmögliches gerichteten Antragsehr leicht sofort zur Ablehnung empfehlen könnte;denn die Bundesregierung und ihr Innenminister sind fürdie Anordnung eines wie auch immer gearteten Ab-schiebestopps im Sinne des § 54 des Ausländergesetzesschlicht nicht zuständig.Die Initiative liegt bei den obersten Landesbehör-den, das heißt, bei den Innenministern der Länder. Diesebedürfen der Zustimmung des Bundesministers des In-nern nur dann und insoweit, als sie einen von ihnen an-geordneten Abschiebestopp über sechs Monate hinausverlängern wollen. Unter welchen Voraussetzungen,nämlich einstimmiges Wollen der Länderinnenminister– wie Herr Kanther meinte –, Zweidrittelmehrheit Län-derinnenminister – wie die Innenministerkonferenz po-litisch festgelegt hat – oder lediglich ein entsprechenderVorstoß von einigen Bundesländern oder sogar nur ei-nem Bundesland, dies dann zu geschehen hat, will ichheute mit Ihnen nicht juristisch ausdiskutieren. Das kön-nen wir hier und heute auch nicht.Eine politische Bewertung dieses Hauses und ein dar-auf gestütztes Signal des Bundesinnenministers aberwürde zumindest dazu führen, daß sich die Länderin-nenminister in ihrer humanitären Verantwortung nichtmehr voreinander und auch nicht mehr hinter dem Bun-desinnenminister verstecken können. Deswegen will ichdas in Ihrem Antrag sich verbergende Anliegen nichtmit einem formalen Hinweis abbügeln, zumal der politi-sche Schutt von Unglaubwürdigkeiten und Widersprü-chen im außen- wie innenpolitischen Handeln den Tür-ken und den Flüchtlingen gegenüber, den uns die Vor-gängerregierung und die sie tragende Mehrheit hinter-lassen hat, endlich abgeräumt und eine neue, glaubwür-dige Position erst wieder aufgebaut werden muß.
Schließlich muß man es schon fast zynisch nennen,daß einige Innenminister, insbesondere von B-Ländern,kurdische Flüchtlinge unter zum Teil heftigem Zuspruchdes früheren Bundesinnenministers nach Kräften in dieTürkei abgeschoben haben, die sich tragischerweise ge-rade in ihrer alten Heimat mit ebenfalls aus Deutschlandstammenden Waffen, zum Beispiel aus ehemaligenNVA-Beständen, konfrontiert sahen.
– Eben. – Die frühere Bundestagsmehrheit und die Re-gierung folgten eher der Einschätzung des NATO-Partners, Europa- und OSZE-Mitglieds und EU-Aspiranten Türkei, die Problematik der Unterdrückungdes kurdischen Volkes reduziere sich auf bloße Terro-rismusbekämpfung. Dies hat allerdings mittlerweilemehr als 40 000 Menschenleben gekostet.In diesem Kontext unterscheidet sich auch der letzteLagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Septem-ber 1998 praktisch durch nichts von früheren. Die darinfast inflationär gebrauchten Beruhigungsformeln stan-Ulla Jelpke
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den nicht selten im krassen Gegensatz zu dem, was Be-troffene, Menschenrechtsorganisationen oder Reisendeaus der Türkei an Einschätzungen berichtet haben.
Wohl aber – das ist richtig, Frau Jelpke – enthält der Ad-hoc-Lagebericht vom 25. Februar 1999 in Kurzfassung –er umfaßt eine Seite – neue Gesichtspunkte. Daher istjetzt eine differenzierte Betrachtung des durch den An-trag der PDS angesprochenen Problems angesagt.Dazu gehört vorab der Hinweis, daß es sich natürlichnicht um einen sofortigen und unbefristeten Abschie-bestopp für sämtliche Flüchtlinge aus der Türkei han-deln kann. Es geht vielmehr um die friedlich bei uns le-benden Türken, die keinen rechtlich gesicherten Aufent-haltsstatus haben, genauer gesagt: um die zirka 70 bis 80Prozent aller in die Türkei abgeschobenen bzw. nochabzuschiebenden Flüchtlinge kurdischer Volkszugehö-rigkeit. Für sie ist im Lichte einer aktuellen Einschät-zung des Auswärtigen Amtes die Frage nach der Recht-fertigung eines Abschiebestopps – wohlgemerkt: zu in-itiieren durch die Länder – genauestens zu prüfen. Ichhoffe im übrigen sehr, daß die herrschende Verwal-tungsrechtsprechung ihre Auffassung von der angeb-lich sicheren Fluchtalternative in der Westtürkei alsGrund für die Nichtgewährung des Asylrechtes ebenfallsneu bewertet.
Die SPD-Bundestagsfraktion geht zum einen davonaus, daß diese Koalition und ihr Bundesinnenminister zudem Thema Abschiebestopp zweifelsfrei andere Vor-stellungen haben als die Vorgängerregierung. Alleindeswegen bedarf es einer inhaltlichen Befassung.Zum anderen erwarten wir von einem grünen Au-ßenminister einer rotgrünen Koalition, daß die von ihmweiterzugebende Lageeinschätzung des AuswärtigenAmtes ohne Rücksicht auf die Interessen der Rüstungs-industrie und ohne Rücksicht auf außenpolitische Inter-essen Dritter die Menschenrechtslage in der Türkei un-geschminkt und so realitätsnah wie möglich darlegt.Zum dritten und letzten ist seit der Festsetzung desPKK-Führers Abdullah Öcalan, wie wir alle fast täglichden Nachrichten entnehmen können, eine beklagens-werte, von allen Seiten zu verantwortende Verschärfungder Menschenrechts- und Sicherheitslage eingetreten.Mit diesen gebotenen Differenzierungen sollten wirnach der Bewertung eines neuen Lageberichtes aus demAuswärtigen Amt, der dem Vernehmen nach zur Zeitauf der Leitungsebene behandelt wird und womöglichschon unterschrieben ist, in den Ausschüssen beraten.Die Koalitionsfraktionen behalten sich vor, alsdann eineeigene parlamentarische Initiative zu diesem Thema ein-zubringen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das war Ihre erste
Rede, Herr Kollege Veit. Ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses.
Ich erteile der Kollegin Sylvia Bonitz, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die PDSschlägt vor, einen sofortigen, unbefristeten und bedin-gungslosen Abschiebestopp für Flüchtlinge in die Türkeizu erlassen. Sie fordert daneben die Einleitung eines in-ternationalen Friedensprozesses zur Kurdensituation inder Türkei. Doch die Lösung dieses außenpolitischenProblemes ist längst zu einem innenpolitischen Brand-herd in Deutschland geworden.Die PDS ignoriert diese Brisanz.
Sie ignoriert diese Brisanz in einer Zeit, in der die Bilderder gewaltsamen Kurdenproteste und ihrer Opfer nochallgegenwärtig sind, in der die Anhänger der verbotenenPKK die Demonstrationsfreiheit für ihre Angriffe ge-gen Menschen, Einrichtungen und die freiheitlicheGrundordnung unseres Landes mißbrauchen
und in der unsere volle Solidarität unseren Polizeibe-amten gilt, die in diesem schwierigen Einsatzfeld Diensttun.
Kein normaler Bürger auf der Straße kann mehr verste-hen, warum die Gewalttäter weiterhin in Deutschlandbleiben und unser Gastrecht mißbrauchen dürfen.Schlimmer noch: Wir sehen mittlerweile hilflos zu,wie sich einige kurdische Fanatiker, die sich durch einebesonders hohe kriminelle Energie auszeichnen, erstdurch ihre Gewalttaten überhaupt das Recht verschaffen,trotz Ausweisung in Deutschland bleiben zu dürfen, unddies mit der abenteuerlichen Begründung, ihre Gewalt-taten seien als besonderes Engagement für die PKK nunauch dem türkischen Geheimdienst aufgefallen, so daßdiese „armen Menschen“ bei ihrer Rückkehr in die Tür-kei nicht mehr vor Folter oder Tod sicher sein könnten.
Weil das so ist, wird selbst der Bundeskanzler un-schwer erkennen können, daß markige Sprüche, wie siezum Teil auch von Ihnen hier gekommen sind, alleinnoch zu keiner Ausweisung und anschließenden Ab-schiebung geführt haben.
Rüdiger Veit
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Weil das so ist, hätte die rotgrüne Bundesregierung we-sentlich wirkungsvoller für eine menschenwürdige Be-handlung der Kurden in der Türkei auftreten müssen, alssie noch das Druckmittel des Auslieferungsersuchens imFall Öcalan in der Hand hatte.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Beseitigungvon Abschiebungshindernissen. Aber vermutlich fällt esHerrn Minister Schily schwer, das Konsultationsverfah-ren als erfolgversprechenden Ansatz, den noch der frü-here Innenminister Manfred Kanther geliefert hat, auf-zunehmen und gerichtsfest fortzuentwickeln.
Angesichts der mit äußerster Brutalität ausgeführtengewalttätigen Aktionen fanatischer Anhänger der kurdi-schen Arbeiterpartei PKK ist ein genereller Abschie-bestopp von Kurden in die Türkei ein Signal in die fal-sche Richtung. Es könnte fatale Folgen haben, zumal imFalle einer Verurteilung Öcalans mit weiteren massivenProtesten zu rechnen ist.
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ich möchte im Zusam-
menhang vortragen.
Danke schön.
Die in § 53 Ausländer-
gesetz festgelegten Abschiebungshindernisse verlangen
zudem, daß für einen zur Abschiebung anstehenden
Ausländer die konkrete Gefahr – ich wiederhole: die
konkrete Gefahr – der Folter oder Todesstrafe besteht.
Für die Verhängung eines sofortigen generellen Ab-
schiebestopps bleibt daher schon aus diesem Grunde
kein Raum.
Die PDS mißachtet nicht nur den Anspruch unserer
Bevölkerung, vor solchen Gewalttätern geschützt zu
werden. Nein, sie schlägt mit ihren Anträgen vielmehr
all denjenigen Flüchtlingen ins Gesicht, die vor dem
Hintergrund teilweise erschütternder Einzelschicksale
Zuflucht in unserem Land gesucht haben, um sich hier
in unsere Ordnung einzufügen und die Spielregeln unse-
res Landes zu respektieren. Diese Menschen wie auch
wir von der CDU/CSU-Fraktion blicken mit Unver-
ständnis, Sorge und Entsetzen auf die wenig friedlichen
Gäste in unserem Land; denn wir gewähren ihnen
Schutz vor politischer Verfolgung und Flüchtlingselend
und lassen sie an den Wohltaten unserer umfassenden
staatlichen Sozialfürsorge teilhaben.
Aber wir können und wir wollen nicht hinnehmen, daß
diejenigen, die durch besondere Gewalttätigkeit aufge-
fallen sind, nun auch noch mit einem generellen Ab-
schiebungsstopp belohnt werden sollen.
Frau Kollegin Bo-
nitz, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich gratulie-
re Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
Jetzt liegen mir zwei Bitten um Zwischenbemerkun-
gen vor. Ich will sie gerne zulassen. Ich gucke nur alle
an, die zu ihrem Zug wollen, und frage mich, ob wir uns
dadurch Sympathie einhandeln.
Zur ersten Zwischenbemerkung der Kollege Veit,
bitte.
Frau Kollegin, ich möchte es
kurz machen.
Ich habe dies nicht in die Form einer Zwischenfrage
gekleidet, weil Sie heute ebenso wie ich Ihre erste Rede
gehalten haben; aber ich will Ihnen schon noch einmal
sagen: Von denjenigen, die auf Grund ihrer zum Teil
kriminellen PKK-Aktivitäten hier in Deutschland aufge-
fallen sind, kann nach Flüchtlingskonvention und Euro-
päischer Menschenrechtskonvention sowieso niemand
abgeschoben werden. Das sollten Sie bitte wissen. Um
sie geht es nicht in dem Antrag, und um sie ging es auch
nicht in meinem Redebeitrag.
Ich will Sie davon in Kenntnis setzen, daß das Ver-
fahren, das der frühere Bundesinnenminister mit seinem
früheren türkischen Kollegen verabredet hat, seit andert-
halb Jahren, nicht erst seit September, deswegen nicht
mehr funktioniert, weil die türkische Regierung den
deutschen Abschiebebehörden überwiegend nicht mehr
antwortet. Schon deswegen geht das ins Leere. Das ist
keine Möglichkeit für die Zukunft.
Ich bitte um Nachsicht dafür, das hier noch einmal
sagen zu müssen.
Frau Kollegin, Siekönnen nachher auf alle drei Zwischenbemerkungenantworten.Jetzt hat der Kollege Ströbele das Wort zu einer Zwi-schenbemerkung.
hier vortragen, doch einmal klar und deutlich dem deut-schen Volk und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen,daß jemand, der in Deutschland beispielsweise an einerverbotenen Demonstration teilgenommen hat oder auchandere Delikte begangen hat, nach Ihrer und der CDUAuffassung in die Türkei abgeschoben werden soll,auch wenn er dort gefoltert wird, indem ihm Elektro-schocks versetzt werden, indem ihm die Hoden ge-klemmt werden, indem er in anderer Weise malträtiertwird.Sylvia Bonitz
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Das möchte ich dann auch einmal so hören und nichtimmer nur ein Drumherumgerede. Jeder soll sich vor-stellen können, was Sie für richtig halten und was nicht.
Nun hat die Kollegin
Heidi Lippmann das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, Sie sind
noch sehr jung. Deswegen möchte ich sagen: Sie haben
vielleicht die Gnade der späten Geburt in Anspruch ge-
nommen.
16 Jahre lang ist von seiten der Bundesregierung –
Sie gehören einer der sie damals tragenden Parteien an –
eine ganz massive freundschaftliche Politik betrieben
worden. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens zwi-
schen der Bundesregierung und der türkischen Republik
und seit 1995 auch im Rahmen der NATO sind massiv
Waffen geliefert worden; das ist hier zum Teil schon
ausgeführt worden. Es hat eine massive finanzielle Un-
terstützung der türkischen Regierung gegeben, egal wel-
che Partei dort an der Regierung war, womit diese in
dem Krieg in Kurdistan, der in den östlichen Provinzen
herrscht, einseitig unterstützt wurde. Das bedeutet: Die
CDU/CSU hat einseitig eine der Kriegsparteien unter-
stützt und jahrelang nicht die Verantwortung dafür über-
nommen. Sie ist anscheinend bis heute nicht bereit –
Ihre Ausführungen haben das gezeigt –, die Verantwor-
tung hierfür zu übernehmen.
Von den Ausschreitungen, die es in den vergangenen
Wochen nach der Verschleppung Abdullah Öcalans in
die Türkei gegeben hat, hat sich die PKK häufig distan-
ziert. Es sind einzelne fanatische Leute gewesen, die zu
Unfrieden beigetragen haben.
Aber Sie müssen das als Reaktion auf die Politik des
Schweigens und des Verharrens der Bundesrepublik
Deutschland sehen.
Sagen Sie doch hier und heute einmal ganz klar, was
die PKK von der UCK unterscheidet,
die im Moment als Verhandlungspartner in Rambouillet
mit am Tisch sitzt. Im Kosovo wird mit allen politischen
und militärischen Mitteln versucht zu intervenieren.
Weshalb gibt es keinerlei Bemühungen, Friedensmaß-
nahmen in der Türkei einzuleiten und den dringend er-
forderlichen Abschiebestopp damit in Verbindung zu
bringen? Ich möchte Sie bitten, einmal in die Türkei zu
fahren und sich vor Ort zu informieren, gerade ange-
sichts der aktuellen Situation. Dann sprechen Sie viel-
leicht in ein, zwei Jahren anders, als Sie es hier heute
getan haben.
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? – Bitte sehr.
Ich möchte gerne auf ei-niges eingehen, weil ich meine, daß das nicht so imRaum stehenbleiben kann.Ich habe sehr deutlich ausgeführt, daß eine Abschie-bung nur als Konsequenz einer Ausweisungsverfügungerfolgen kann, und zwar unter den Voraussetzungen, diein § 53 Abs. 1 des Ausländergesetzes dargelegt sind.Dort steht, daß eine ganz konkrete Gefahr, wie mögli-cherweise bevorstehende Folter oder Tod, bestehenmuß. Das heißt, es geht nicht um ein generelles Ab-schiebungsverbot. Was Sie von der PDS heute verlan-gen, ist ein Abschiebestopp, der generellen Charakterhaben soll, der den Einzelfall nicht mehr berücksichtigtund auch, wie Herr Kollege Ströbele es hier ausgeführthat, bei Ausländern anzuwenden wäre, die hier inDeutschland Delikte begangen haben.
– Liebe Kollegin, ich habe Sie aussprechen lassen. SeienSie bitte so freundlich, auch mich aussprechen zulassen.In den Fällen, in denen als Voraussetzung der Ab-schiebung eine Ausweisungsverfügung erlassen wird,muß ein ganzes Register von Straftaten zugrunde liegen,das unter Umständen zu einer Freiheitsstrafe von dreiJahren führt. Das sind wirklich keine Delikte, sondernschwere Straftaten.Es geht nicht um Folter. Ich habe Ihnen gesagt, daß esum die Einzelfallprüfung geht und nicht um einen gene-rellen Abschiebestopp, der den Einzelfall nicht mehrsieht.Ich möchte auch noch kurz auf den Kollegen Veiteingehen. Es wird deutlich, daß Herr Schily als neuerInnenminister hier im Grunde genommen eine Chancevertan hat, zusammen mit seinem Kollegen im Bereichdes Auswärtigen. Denn die Bundesregierung hatte imFall Öcalan das Druckmittel des Auslieferungsersu-chens in der Hand. Wir hatten einen internationalenHaftbefehl. In dem Moment, als wir ihn noch hattenund damit die Chance, diesen Auslieferungsantrag zustellen – das war bis zum Dezember letzten Jahres derFall –, hätten wir sehr wohl ein Druckmittel gehabt– wenn Sie nicht fahrlässigerweise darauf verzichtethätten –, um die Türkei zu Verhandlungen zu bringen.Die Verhandlungsbereitschaft jetzt, da Öcalan in denHänden der Türkei ist, geht natürlich tendenziell gegennull.Insofern kann ich durchaus verstehen, daß HerrSchily überhaupt keine Notwendigkeit sieht, wie er dasauch über die Medien verkündet hat, mit der Türkei inneue Verhandlungen einzutreten. Das ist das Jämmer-liche: daß alles unterbleibt, was getan werden könnte,um die Abschiebungshindernisse, nämlich die Gefahrvon Folter und Tod, im entsprechenden Land zu ver-meiden.
Hans-Christian Ströbele
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Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In dieser Debatte geht es um Menschenrechte,
um verantwortliche Politik, um Mitverantwortung und
um Glaubwürdigkeit, aber auch um Doppelbödigkeit
von Politik. Diese wichtige Debatte, die wir heute be-
ginnen, aber keinesfalls heute abschließen, richtet sich
an die Türkei, aber auch an uns selber, an die Bundesre-
publik Deutschland.
Ich glaube, daß die zentrale Frage, die wir uns ge-
meinsam stellen müssen, ist: Wie kann deutsche Politik
und wie kann die Politik der Europäischen Union zum
Schutz der Menschenrechte in der Türkei und damit
auch zur Demokratisierung der Türkei beitragen? Die
Debatte ist notwendig und richtig, weil wir vor einer
neuen Situation stehen. Erstens gibt es eine neue Bun-
desregierung, die sich vorgenommen hat, Menschen-
rechte zum Leitmotiv ihrer Politik zu machen.
Daran wird sich auch eine neue Türkeipolitik orientie-
ren müssen.
Zweitens stehen wir deshalb vor einer neuen Situa-
tion – darauf haben einige Vorrednerinnen und Vorred-
ner schon hingewiesen –, weil es im Zusammenhang mit
der Verhaftung von Abdullah Öcalan eine dramatische
Verschlechterung und Zuspitzung der Menschenrechts-
lage in der Türkei gibt. Türkische Medien und Regie-
rende haben einen Chauvinismus geschürt, der zu einer
Pogromstimmung gegen kurdische Organisationen,
wie zum Beispiel gegenüber der HADEP, geführt hat
und der sich gegen Personen richtet, die sich für eine
friedliche, für eine politische Lösung der Kurdenfrage
einsetzen.
Die türkische Regierung diffamiert in diesen Wochen
die gesamte kurdische Bewegung als terroristisch. Büros
der HADEP sind gestürmt worden, Hunderte, Tausende
von Mitgliedern sind verhaftet worden. Jetzt wird auch
mit dem Parteiverbot gedroht. Anwälte und Anwältinnen
werden bedroht; Maßnahmen zu ihrem Schutz werden
abgelehnt. Ich erinnere daran: Unmittelbar nach der
Verhaftung von Abdullah Öcalan ist das türkische Mili-
tär völkerrechtswidrig in den Nordirak einmarschiert.
Voraussetzung für die Demokratisierung der Türkei
und untrennbar damit verbunden sind die politische Lö-
sung der kurdischen Frage und das Ende des schmut-
zigen Krieges, in dem über 3 000 Dörfer zerstört worden
sind, 30 000 Menschen getötet worden sind und Hun-
derttausende von Menschen auf der Flucht sind. Dieser
schmutzige Krieg muß aufhören. Denn die militärische
Lösung ist keine Lösung. Niemand kann bei einer mili-
tärischen Lösung gewinnen. Die Zivilbevölkerung hat
schon lange verloren.
Wir Grünen haben uns schon immer gegen die Be-
hauptung gewehrt, daß dieser Konflikt eine rein inner-
staatliche Auseinandersetzung sei. Mein Vorredner von
der SPD hat schon darauf hingewiesen: Dieser Krieg
wurde und wird noch immer auch mit deutschen Waffen
geführt. Die Rüstungsexportpolitik der früheren Regie-
rung war in hohem Maße doppelbödig.
Sie war heuchlerisch. Denn es ist doppelbödig – Herr
Lamers, das wissen Sie ganz genau –, wenn auf der ei-
nen Seite die Einhaltung der Menschenrechte eingefor-
dert wird, auf der anderen Seite aber Waffen geliefert
oder sogar verschenkt werden, die genau diese Men-
schenrechtsverletzungen möglich machen.
Ich war sehr oft in kurdischen Gebieten. Ich habe
mich dabei geschämt. Denn ich kam mir bisweilen vor,
als sei ich auf einem deutschen Truppenübungsplatz.
Die neue Regierung muß ihre Rüstungsexportpolitik
auch im Hinblick auf die Türkei an den Folgen ausrich-
ten, die diese Politik für die Einhaltung der Menschen-
rechte hat.
Frau Kollegin, ge-statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmannvon der PDS?Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Nein, ich möchte meine Rede zunächst be-enden; vielleicht hinterher.War es denn wirklich – Herr Lamers, Sie wissen, wo-von wir jetzt sprechen – ein Freundschaftsdienst der frü-heren Regierung gegenüber der Türkei, Frau Çiller alsRepräsentantin für Demokratie und Rechtsstaatlich-keit zu präsentieren? Wäre es nicht richtiger und not-wendiger gewesen, diejenigen Organisationen zu unter-stützen, die für Demokratie und Menschenrechte eintre-ten, oder laut und deutlich die Freilassung der kurdi-schen Abgeordneten Leyla Zana zu fordern, die nichtsanderes getan hat als das, wozu sie gewählt wurde,nämlich für die Rechte der Kurden in der Türkei einzu-treten? War denn das bereits angesprochene Konsulta-tionsverfahren, der Kanther-Mentese-Briefwechsel, wirk-lich ein Freundschaftsdienst im Sinne der Demokratisie-rung der Türkei, in dessen Folge es zu Abschiebungengekommen ist und in dessen Folge Menschen gefoltertworden sind, verschwunden sind und verhaftet wordensind?Die neue Bundesregierung wird sich auch in diesemPunkt an der Unteilbarkeit der Menschenrechte ori-
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entieren. Sie wird sich an diesbezüglichen Erfolgen prü-fen lassen müssen. Deswegen appelliere ich mit Nach-druck an die verantwortlichen Innenminister der Länder,ihre Flüchtlingspolitik am Prinzip der Schutzgewährungauszurichten, wie es zum Beispiel in der Genfer Flücht-lingskonvention und der Europäischen Menschenrechts-konvention vorgeschrieben wird, und gerade angesichtsder aktuellen Situation, die vom Auswärtigen Amt alsSituation mit einem erhöhten Risiko vor allem für abzu-schiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit ein-geschätzt wird, nicht abzuschieben.Wir haben uns im Rahmen der EU immer für eineglaubwürdige Türkeipolitik ausgesprochen. Daran än-dert sich nichts dadurch, daß wir jetzt in der Regie-rungsverantwortung stehen. Daran darf sich nichts än-dern, wenn wir selber glaubwürdig bleiben wollen.Deswegen gehe ich davon aus, daß die jetzige Regierungbald eine neue Initiative hinsichtlich einer internationa-len Konferenz zur Lösung dieser Problematik in dieWege leiten wird, daß sie im Rahmen der UNO, imRahmen der OSZE und in bezug auf die USA eine akti-ve Demokratisierungsinitiative unterstützen wird unddaß sie sich für eine wirkliche Perspektive der Türkei, indie Europäische Union integriert zu werden, einsetzenwird. – Herr Lamers, warum schlagen Sie eigentlich dieAugen so auf, wenn Sie mich anschauen? Das ist schön,Herr Lamers. –
Dies muß eine Initiative sein, die die Demokratisierungder Türkei mobilisiert. Man sollte aber nicht darübernachdenken, ob die Türkei in der Europäischen Uniontatsächlich Platz hat. Dies geschieht ohnehin nicht ausZweifeln an der Einhaltung von Menschenrechten undDemokratie, sondern deshalb, weil die Menschen in derTürkei Moslems und nicht Christen sind.
Frau Kollegin, bitte
kommen Sie zum Schluß.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mein letzter Satz. – In den nächsten Tagen
wird das kurdische Newroz-Fest gefeiert. Ich hoffe aus
ganzem Herzen, daß es ein wirkliches Fest wird und die
Gewalt nicht weiter eskaliert, nicht in der Türkei und
nicht bei uns. Ich hoffe, daß diese Aufforderung zur
Deeskalation bei allen ankommt: auf seiten der Türkei,
aber auch auf seiten der PKK.
Für eine Zwischen-
frage ist jetzt kein Raum mehr. Ich lasse, wenn Sie das
gestatten, meine Damen und Herren, keine Kurzinter-
ventionen mehr zu, weil wir sehr in zeitliche Bedrängnis
gekommen sind.
Jetzt hat das Wort der Kollege Max Stadler, F.D.P.-
Fraktion. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Frau Kollegin Roth, ich glau-be, es zeichnet einen lebendigen Parlamentarismus aus,wenn aus den Fraktionen, die die Regierung tragen,durchaus andere Forderungen formuliert werden, als wirsie im Regierungshandeln erkennen können.
Wir sind auf Grund Ihres Redebeitrages neugierig, wanndas, was Sie heute gesagt haben, und das, was die Regie-rung in diesem Bereich bisher tut, in Einklang stehenwird.Meine Damen und Herren, der Antrag, die Bundesre-gierung solle einen Abschiebestopp erlassen, ist schonaus Rechtsgründen abzulehnen. Das hat Herr KollegeVeit ausführlich dargelegt, so daß ich mich darauf be-ziehen kann. Die Länder wären dafür zuständig; sie ha-ben aber von ihrer Möglichkeit nach § 54 Ausländerge-setz bisher keinen Gebrauch gemacht.Unabhängig von dieser Kompetenzregelung gibt derAntrag von Frau Kollegin Jelpke Gelegenheit, geradenach den Vorfällen der letzten Wochen noch einmal ei-nige grundsätzliche Bemerkungen zu Abschiebungenvon Kurden zu machen.Nach der Verhaftung Öcalans hat es in Deutschlandschwere Ausschreitungen gegeben. Dies können wirnicht dulden, egal, welche politischen Motive zu diesenTaten geführt haben.
Der Staat hat selbstverständlich das Recht und diePflicht, alle strafrechtlichen und ausländerrechtlichenBestimmungen anzuwenden, zu denen auch Ausweisungund Abschiebung gehören. Aber es gilt dabei wiedereinmal die Devise Herbert Wehners, die er seinerzeit imZusammenhang mit den Ostverträgen formuliert hat:„Voll anwenden, strikt einhalten!“ Dazu gehört der Ab-schiebeschutz gemäß § 51 Ausländergesetz, wonach einAusländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf,in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner po-litischen Überzeugung bedroht ist. Ein Abschiebungs-hindernis gemäß § 53 Ausländergesetz besteht, wenndem Ausländer in dem Staat der Abschiebung konkretdie Folter oder die Todesstrafe droht oder wenn dort fürihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Lebenoder Freiheit besteht. Diese Vorschriften müssen nichtnur voll angewendet, sondern, wie ich zitiert habe, strikteingehalten werden.Dazu finden sich deutliche Worte in der „FrankfurterAllgemeinen Sonntagszeitung“ – ich zitiere –:Wer will, daß wir uns über diese äußerste Grenzehinwegsetzen und trotzdem abschieben, soll esdeutlich und ohne Beschönigung sagen.
Wer diese Grenze überschreitet, ist schamlos. Erpaktiert mit den Häschern. Er beschädigt uns undden Rechtsstaat, den wir auf den Trümmern einerTyrannei aufgebaut haben.
Claudia Roth
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2353
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Dies sagte zu Recht der ehemalige Vizepräsident diesesHohen Hauses, Burkhard Hirsch.Was heißt dies praktisch? Es ist nicht zu bestreiten,daß Türken kurdischer Herkunft, die aktiv für die Rechteder kurdischen Bevölkerung in der Türkei eintreten, dortRepressalien ausgesetzt sind.
Eine Abschiebung ist daher keinesfalls zulässig, solangekeine verbindlichen und nachprüfbaren Vereinbarungenmit der Türkei über die rechtsstaatliche Behandlung Ab-geschobener vorliegen und die Einhaltung solcher Ver-einbarungen nicht gesichert ist. Wenn sie denn zustandekommen, müssen sie noch im Lichte damit in der Ver-gangenheit gemachter Erfahrungen bewertet werden.
Ob die Bundesregierung Vereinbarungen, die diesenKriterien genügen, zustande bringt, bleibt mit Skepsisabzuwarten, zumal das US State Department in seinemMenschenrechtsbericht vom 26. Februar dieses Jahresder Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen vor-wirft.Meine Damen und Herren, zum außenpolitischenAspekt der Debatte kann ich aus Zeitgründen nur nocheinige wenige Punkte anführen.Erstens. Allgemein besteht Einigkeit darüber, daß dasKurdenproblem nicht mit militärischen, sondern nur mitpolitischen Mitteln gelöst werden kann.Zweitens. Wir beobachten mit großer Sorge eine zu-nehmende Verhärtung der Haltung der türkischen Regie-rung in der Kurdenfrage, insbesondere zunehmendeDiskriminierungen der HADEP.Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, imRahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die türkischeRegierung einzuwirken, gemeinsam mit den Vertreternder weit überwiegenden Mehrheit der Kurden, die sichfür eine friedliche Beilegung des Konfliktes einsetzen,in einen konstruktiven Dialog mit dem Ziel einer weit-gehenden kulturellen Autonomie für die Kurden einzu-treten.Viertens. Die friedliche Beilegung des Konflikts unddie uneingeschränkte Gewährleistung von Menschen-und Minderheitsrechten in der Türkei sind entscheiden-de Voraussetzungen für die erstrebte Annäherung derTürkei an die Europäische Union.Fünftens. Ebenso unmißverständlich muß der kurdi-schen Seite verdeutlicht werden, daß nur ein gewaltfrei-er Weg zum Ziel führt. Dies betrifft auch die jüngstenAndrohungen von Terroranschlägen gegen Urlaubsziele.Gewalttaten führen nur dazu, die bei weiten Teilen derdeutschen Bevölkerung durchaus vorhandene Sympathiefür die kurdische Sache zu zerstören.Vielen Dank.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen! Der Schlagabtausch in denInterventionen hat gezeigt, daß wir dringend lernenmüssen, wie man mit Konflikten umgeht. Ich glaube,daß der richtige Ansatz von der einen wie der anderenSeite noch nicht gefunden worden ist. Insbesondere diejunge Kollegin von der CDU/CSU sollte sich mit derNatur des Konfliktes einmal etwas vertrauter machen.
Meine Damen und Herren, der Friedensprozeß, derin dem Antrag der PDS eingeklagt wird, ist in der Tatdringend erforderlich. Nach der Verhaftung von Öcalanhat es in der Türkei eine Eskalation von Gewalt und Re-pression – im übrigen von beiden Seiten – gegeben. DieÄngste, daß eine solche Eskalation außer Kontrolle ge-rät, sind, glaube ich, durchaus begründet. Es gab Bom-benanschläge; es gab Feuer in einem Einkaufszentrum.Da waren viele Tote und Verletzte zu beklagen.Auf der anderen Seite steht der türkische Generalstab,der die völlige Vernichtung der PKK ankündigt und kei-nerlei Bereitschaft zur Deeskalation zeigt. Festzustellenist auch die Weigerung der Regierung und des General-stabes, überhaupt ein Kurdenproblem anzuerkennen undden Kurden kulturelle Rechte zuzugestehen. Es gibt alsoeine zunehmende Verhärtung in dieser Frage.Das Verbot der HADEP ist hier schon erwähnt wor-den. Das Verfassungsgericht hat noch eine andere Parteiverboten, die DKP, die Demokratische Volkspartei, undzwar mit einer bemerkenswerten Begründung: Weil siesich für die kurdische Sprache und Identität einsetze, seidie Einheit der türkischen Nation und die territorialeEinheit der Türkei gefährdet. Auch das hat in diesemKonflikt zu Verhärtungen geführt. Ich denke, wir müs-sen hier ganz deutlich sagen: Wir wollen die territorialeEinheit der Türkei in keiner Weise gefährden. Wir wol-len vielmehr zu einer friedlichen politischen Lösung die-ses Konfliktes beitragen. Wir müssen uns in der Tatüberlegen, mit welchen Instrumenten wir das schaffen.
Wir haben in diesem Hohen Hause schon einmal denBeschluß gefaßt, den Sie jetzt wieder aufgreifen, eineinternationale Konferenz einzufordern. Aber, ich denke,man kann auch klüger werden. Wir haben in den letztenJahren eine Menge gelernt, unter anderem auch, daß ei-ne solche internationale Konferenz möglicherweise dazudient, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen, abernicht zu einer Konfliktlösung führt, für die sich beideTeile näherkommen müssen. Wir müssen die Spirale derGewalt durchbrechen.Wir fordern, daß die Türkei das Verfahren gegenÖcalan wirklich transparent und menschenwürdigdurchführt, daß sie Beobachter zuläßt – wir unterstüt-zen die Initiative des Europarates an dieser Stelle aus-drücklich: Es muß eine internationale Beobachtung ge-ben – und daß die Türkei keine Todesstrafe verhängt.Dr. Max Stadler
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2354 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, zumal die Türkeischon zugesichert hat, die Todesstrafe ganz aufzuhe-ben. Auch ich weiß von dem Moratorium. Nur kannman in der Kürze der Zeit nicht alles ausführlich dar-stellen.Ich habe im übrigen noch ein paar Vorschläge zu ma-chen: Wir müssen durch bilaterale Politik und durch ei-ne gemeinsame europäische Politik dazu beitragen,daß eine politische Lösung gefunden wird. Da werdenwir im Zusammenhang mit den Menschenrechten eineganze Menge an Einwirkung auf die türkische Regie-rung zu besorgen haben. Wir müssen gleichzeitig diePKK auffordern, die Gewaltanwendung einzustellen.Auch die PKK hat einen totalen Krieg gegenüber derTürkei erklärt und gesagt, sie werde die militärischenAktionen auf die gesamte Türkei, insbesondere auf dietouristischen Gebiete, ausweiten. Dort liegt eine ganzeMenge an Aufgaben vor uns.Ich weiß, daß diese Bundesregierung, auch wenn esnicht spektakulär nach außen dringt, sehr bemüht ist, In-itiativen zu befördern, die einer solchen Konfliktlösungnäherkommen. Aber es wird wahrscheinlich erst nachden Wahlen in der Türkei überhaupt möglich sein, wie-der miteinander sprachfähig zu werden. Dieses Parla-ment ist sich darin einig, daß es einen solchen Befrie-dungsprozeß geben muß. Warum muß es ihn geben?Weil die Türkei zu Europa gehört, das wissen wir alle.Es liegt innen- wie außenpolitisch in unserem eigenendeutschen Interesse, daß die Türkei stabil ist. Es liegt inunserem Interesse, daß die Kurden und die Türken in derBundesrepublik mit uns friedlich zusammenleben kön-nen. Die Krawalle auf unseren Straßen sind doch Aus-fluß des Problems in der Türkei. Dieses Problem muß inder Türkei mit Kurden und mit Türken gemeinsam ge-löst werden. Lassen Sie uns mit einer deutschen Initiati-ve, mit bilateralen Initiativen und europäischen Initiati-ven gemeinsam dazu beitragen, daß der Friedensprozeßin der Türkei in Gang gebracht wird. Dies ist nicht nureine humanitäre Forderung, sondern dies ist auch eineForderung in unser aller Interesse.Ich danke Ihnen.
Als letzter in dieser
Aussprache hat nun der Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wir haben uns in dieser Wo-che im Auswärtigen Ausschuß mit der Türkei-Politik derBundesregierung befaßt. Es war, glaube ich, nicht nurmein Eindruck, Herr Staatsminister, daß das eigentlicheine enttäuschende Beratung war. Wenn Frau KolleginZapf gerade davon sprach, die Regierung sei mit ihrenInitiativen sehr bemüht, so wissen auch Sie, was das inder Zeugnissprache bedeutet. Ich stelle das deshalb fest,weil ich mir schon darüber im klaren bin, wie schwieriges ist, gerade im Bereich der Türkei-Politik Fortschrittezu erzielen. Aber das wußten Sie auch, als Sie die voll-mundigen Ankündigungen einer neuen Türkei-Politik indie Welt gesetzt haben. Sie haben bewußt gesagt: Das istdas Politikfeld, auf dem wir es mit der außenpolitischenKontinuität anders sehen, da wollen wir neue Wege ge-hen, da wollen wir besonders erfolgreich sein. Sie ha-ben, als der italienische Ministerpräsident D’Alema beiSchröder war, eine deutsch-italienische Initiative in Sa-chen Türkeipolitik angekündigt. Ich habe Sie schoneinmal gefragt: Was ist daraus geworden?
Sie haben bei der Festnahme Öcalans wichtige Chan-cen für politische Initiativen verpaßt, die seinerzeitauch Außenminister Fischer gesehen hat. Aber es sindkeine ergriffen worden. Auch haben Sie die deutscheRatspräsidentschaft, gemeinsame EU-Initiativen ange-kündigt. Bis heute ist davon nichts erkennbar, wenn-gleich es aber wahrscheinlich redliches Bemühen gibt,Frau Kollegin. Wir werden sehen, was bis zum Ab-schlußgipfel unserer Präsidentschaft noch passiert. Bis-her aber – außer der üblichen Kritik an der Vorgänger-regierung –: weitgehend Fehlanzeige. Seit Anfang No-vember – das müssen wir feststellen – ist hier nichtspassiert.
Die PDS fordert nun in ihrem Antrag, zu dem ichmich äußern möchte, die Einleitung eines internationa-len Friedensprozesses. Seite 3 Ihrer Begründung machtallerdings deutlich, daß Sie als PDS jegliche kritischeDistanz zur PKK vermissen lassen. Ich möchte Ihnensagen: Mit diesem Ansatz wird man dem Kurdenpro-blem nicht gerecht. Denn die PKK und ihre Methodentragen dazu bei, daß die Lösung dieses Konfliktes soschwierig ist. Die PKK ist Teil des Problems und nichtTeil der Lösung. Wenn wir überhaupt weiterkommenwollen, ist es erforderlich, daß alle, die Einfluß nehmenwollen, eine klare Distanzierung von Gewaltanwendungund damit eine klare Distanzierung von der PKK zumAusdruck bringen.
– Weil Sie jetzt gerade diesen Zwischenruf machen undweil Sie auch vorhin schon gewollt haben, daß man Ih-nen den Unterschied zwischen UCK und PKK erklärt,sage ich folgendes: Mir ist nicht bekannt, daß die UCKin belebten Einkaufsstraßen oder Einkaufszentren Bom-ben geworfen hätte. Mir ist nicht bekannt, daß die UCKin Touristenzentren Gewalt anwenden will und dabeiden Tod von Touristen in Kauf nimmt. Mir ist nicht be-kannt, daß die UCK ihre Organisationsstrukturen ineiner stalinistischen Weise aufbaut, wie die PKK das tut.Mir ist nicht bekannt, daß die UCK gegen ihre Mitglie-der mit den Methoden des Terrorrismus bis hin zumMord – auch das war ja Hintergrund des Haftbefehls ge-gen Öcalan – vorgeht. Bitte tun Sie der UCK nicht da-durch Unrecht, daß Sie sie mit der PKK in einen Topfwerden!
Uta Zapf
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2355
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Meine Damen und Herren, die PKK fordert die um-gehende Einberufung einer internationalen Friedens-konferenz. – Aus Zeitgründen kann ich nur noch zu die-sem Punkt etwas sagen. – Wir halten das nicht für dasgeeignete Mittel, denn die Ausgangsbasis eines jegli-chen Lösungsansatzes muß die Erkenntnis sein, daß eineLösung des Kurdenproblems nicht gegen die Türkeimöglich ist. Wir müssen erst einmal zur Kenntnis neh-men, daß es bei den türkischen Eliten – insbesonderebei der Justiz, beim Militär und bei der staatlichenBürokratie – die Überzeugung gibt, daß die Türkei einEinheitsstaat mit einer einheitlichen nationalen Identitätist. Das kommt in der Anklageschrift der General-staatsanwaltschaft in dem Verbotsverfahren gegen dieHADEP jetzt noch einmal wie in einem Brennglas zumAusdruck. Ich zitiere aus dem Briefing Nr. 1228 vom1. Februar 1999:Es gibt nur eine Identität in der Türkei, und das istdie türkische Identität. Forderungen nach Anerken-nung einer kurdischen Identität sind nur ein ersterSchritt in einem hinterhältigen Versuch, das Landzu teilen.Das ist die Position der kemalistischen Hardliner. Abernicht nur von denen: Diese Position wird bis hin zumStaatspräsidenten Demirel offiziell von der Türkei ver-treten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wirhalten diese Position nicht für richtig. Wenn wir dieTürkei aber bewegen wollen, eine andere Sicht des Pro-blems zu gewinnen, dann müssen wir dort anknüpfen,wo die Türkei jetzt steht, und nicht dort, wo wir sie unsgerne hinmalen würden. Eine internationale Friedens-konferenz, wie sie jetzt gefordert wird, würde ausSichtweise der Türkei als Vorwand der Europäer gese-hen, nun das zu erreichen, was man 1920 im Vertragvon Sèvres nicht geschafft hat, nämlich die Türkei zuzerschlagen.Aus Zeitgründen – weil ich für die Anmerkungen zuPKK und UCK etwas mehr Zeit gebraucht habe – nurnoch ein Hinweis, in welche Richtung man nach Lösun-gen suchen muß. Herr Staatsminister, Deutschland allei-ne wird das nicht können; auch die EU wird das nichtalleine können. Im Zweifel wird die EU wegen der grie-chisch-türkischen Spannungen sogar paralysiert sein, alsGemeinschaft zu handeln. Es wird deshalb vor allemdarauf ankommen, daß es uns gelingt, die USA in einekoordinierte Türkeipolitik einzubeziehen, gemeinsamauf die Türkei einzuwirken und dort die zivilgesell-schaftlichen Kräfte zu stärken. Diese Kräfte gibt es vorallen Dingen in der Wirtschaft der Türkei. Daran mußman anknüpfen. Dann kann man – hoffentlich – Schrittfür Schritt weiterkommen. Ich will nicht so weit gehen,daß man von der Bundesregierung die Lösung des Kur-denproblems erwarten sollte. Das ist Sache der Türkeiselbst. Aber dann nehmen Sie, Herr Staatsminister, indieser Frage bitte den Mund in Zukunft nicht mehr sovoll!
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/331 und 14/470 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf.
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu den u. a.
durch die ökologische Steuerreform bedingten
Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG un-
ter besonderer Berücksichtigung der zusätzli-
chen Belastungen in den neuen Bundesländern
Ich eröffne die Aussprache. Sind Sie damit einver-
standen, daß wir die Reden der Kollegen Norbert Otto,
Peter Letzgus und Dr. Michael Meister zu Protokoll
nehmen? – Das ist der Fall.
Dann gebe ich jetzt dem Kollegen Gerhard Jüt-
temann, PDS, das Wort.
Sehr geehrte Frau Prä-sidentin! Meine Damen und Herren! Es ist natürlichtraurig, wenn man zu einem solchen aktuellen Thema,das eigentlich alle Bürger in Deutschland betrifft und zudem eine Aktuelle Stunde einberufen worden ist, vor ei-nem so leeren Haus sprechen muß. Vielleicht sollte sichdie Bundesregierung einmal überlegen, solche AktuellenStunden zu anderen Zeiten als Freitag nachmittags, zumBeispiel zu guten Fernsehzeiten, auf die Tagesordnungzu setzen.Wir wollen hier heute über die angekündigten Fahr-preiserhöhungen bei der Deutschen Bahn AG reden. AbApril kostet der Fernverkehr bundesweit 1,5 Prozentmehr, der Nahverkehr in den alten Bundesländern eben-falls 1,5 Prozent mehr, in Ostdeutschland durchschnitt-lich 5,2 Prozent mehr. Die Preise für Schülermonats-karten im Osten steigen sogar – das muß ich so deut-lich sagen – um unanständige 9,9 Prozent. Ansonstenkommt es nicht so oft vor, daß die höheren Zahlen fürden Osten gelten. Aber wenn es um Preise geht, spieltdas offenbar keine Rolle. Angleichung der Fahrpreisenennt man das bei der Deutschen Bahn AG. Die An-gleichung der Löhne und der Arbeitslosenquote ist un-terdessen noch einmal auf unbestimmte Zeit verschobenworden.Die Deutsche Bahn AG geht mit ihrer Preispolitikkonsequent weiter auf dem seit der Privatisierung einge-schlagenen Weg. Sie entfernt sich damit immer weitervon ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Befrie-digung des gesellschaftlichen Interesses an Mobilität.Schnell, sicher, bequem, preiswert und umweltfreund-lich – an diesen fünf Kriterien muß sich die Bahn mes-sen lassen. Die ersten vier Kriterien werden seit Jahrenimmer mehr vernachlässigt, und zwar in einem Tempo,daß den Bahnfahrern Hören und Sehen vergeht und im-mer mehr von ihnen auf die eigenen vier Räder auswei-chen müssen.Ruprecht Polenz
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2356 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Die Deutsche Bahn AG reduziert ihr Personal jährlichin unverantwortlicher Weise um 15 000 bis 20 000 Be-schäftigte. Auch in den kommenden vier Jahren sollenmindestens 60 000 Stellen bei der Bahn verschwinden.Viele Experten und Eisenbahngewerkschafter führen dieUnfallserie bei der Deutschen Bahn AG in den vergan-genen Wochen und Monaten auch auf den immer größerwerdenden Personalmangel und die damit verbundeneDemotivation des verbleibenden Personals zurück. Beider Bahn scheinen in allen Bereichen statt Fachleutenzunehmend die Kaufleute zu bestimmen. Deswegen gibtes massive Streckenstillegungen im Nahverkehr. Auchder Interregio-Bereich schrumpft immer mehr. Von denheute noch täglich verkehrenden 434 Interregio-Zügensollen in diesem Frühjahr weitere 30 gestrichen werden.Gleichzeitig sinken die Erlöse im Fernverkehr. In die-sem Bereich fehlen 1998 370 Millionen DM an erwar-teten Einnahmen. Damit werden die Gesamterlöse imFernverkehr um 100 Millionen DM unter denen desVorjahres liegen.Die kundenfeindliche Entwicklung bei der Bahn istnatürlich nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis der von derPolitik im Interesse mächtiger Wirtschaftsgruppen imLaufe der vergangenen Jahrzehnte geschaffenen Rah-menbedingungen, inklusive der Privatisierung der Bahn.Von Rotgrün durfte man erwarten, daß dieser verhee-renden Entwicklung endlich einmal entgegengesteuertwird. Wenigstens verbal geschah das tatsächlich. ZumBeispiel wurde eine Ökosteuer verabschiedet, was sozialund erst recht ökologisch klingt. Aber in Wirklichkeitwird die umweltfreundliche Bahn durch die Ökosteuermit 172 Millionen DM zusätzlich belastet. Diese Mehr-belastung reicht sie natürlich an ihre Kunden weiter. Dasheißt, auf all die genannten Preiserhöhungen werdennoch einmal 1,5 Prozent Ökosteuer aufgeschlagen.
Was bedeutet das anderes, als daß die neue Regierungdie autofreundliche und bahnfeindliche Politik der altenRegierung nahtlos fortsetzt? Die Wirkung der Ökosteuerist unökologisch, unsozial und verkehrspolitisch sowiesounsinnig. Sie belastet wegen der ohnehin stärkerenPreissteigerungen im Osten die neuen Bundesländer inbesonderem Maße. Die Spirale dreht sich immerschneller und immer weiter: Höhere Bahnpreise führenzu weniger Bahnkunden; weitere Streckenstillegungenbedeuten zunehmenden Autoverkehr; das führt wieder-um zu weniger Bahnkunden und damit zu höherenBahnpreisen. Wenn Sie diesen Kreislauf nicht durchbre-chen oder wenn Sie ihn noch nicht einmal durchbrechenwollen, dann heißt das, daß Ihre Ansprüche weder sozialnoch ökologisch sind. Das wird, auf längere Zeiträumebezogen, eine unvergleichlich höhere Rechnung als die-jenige ergeben, die uns schon jetzt als Ergebnis IhrerPolitik von der Deutschen Bahn AG präsentiert wird.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb wenigerWochen beschäftigt uns die PDS mit einem Thema zurBahn. Ich kann nur sagen: Sie liefern hier eine richtig„gute“ Performance ab. Sie beklagen, daß so wenigLeute im Plenum anwesend sind. Ich habe einmal ge-schaut: Ihre Fraktion hat 36 Mitglieder, von denen jetztwohl sechs anwesend sind. Ich beschreibe das einmal so:Dr. Wolf und die sechs Geißlein sitzen hier.
Wie beim letztenmal ist auch diese Aktuelle Stundeziemlich sinnlos.Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch dieökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhun-gen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Be-rücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in denneuen Bundesländern.So lautet das genaue Thema dieser Aktuellen Stunde.Mir ist jedenfalls nicht bekannt, daß es derzeit eine ein-zige durch die ökologische Steuerreform bedingte Tarif-erhöhung bei der Deutschen Bahn AG gibt.Die Deutsche Bahn AG beabsichtigt, ihre Tarife zum1. April um 1,5 Prozent zu erhöhen. Soweit diese Tarif-erhöhungen den Schienenpersonennahverkehr betreffen,liegt eine Genehmigung der Länder vor. Ein darüberhinausgehender Antrag, eventuelle Kostenerhöhungenwegen der Ökosteuer auf die Nahverkehrstarife umzule-gen, ist bisher bei den Ländern nicht gestellt worden.Wenn Sie dazu etwas wissen wollen, dann sollten Sienicht nur die richtige Frage stellen; vielmehr sollten Siesich auch an den richtigen Adressaten wenden. Das sinddie jeweiligen Landesregierungen. Wenn Sie etwas zurökologischen Steuerreform wissen wollen, dann muß ichIhnen sagen, daß Sie dazu in den letzten Wochen wirk-lich genügend Gelegenheiten hatten. Wir haben zu fastallen Tageszeiten dazu etwas geboten. Aber ich kann esgerne wiederholen: Die Regierung und die sie tragendenFraktionen halten die Ökosteuer für richtig und fürwichtig, weil sie erstens den Faktor Arbeit entlastet undzweitens dazu auffordern soll, mit Energie bewußterund damit auch sparsamer umzugehen.Außerdem ist es uns angesichts der Bedeutung desSchienenverkehrs gelungen, für den Stromverbrauch derDeutschen Bahn AG den halben Regelsteuersatz durch-zusetzen. Genauer gesagt, der Regelsteuersatz derStromsteuer von 2 Pfennig pro Kilowattstunde ist fürden Fahrbetrieb der Schienenbahn sowie der Oberlei-tungsbusse um 50 Prozent auf 1 Pfennig pro Kilowatt-stunde ermäßigt worden.Damit diese ganze Veranstaltung hier noch einenNutzen hat, will ich zumindest den Versuch machen, diePDS ein bißchen schlauer zu machen. Vielleicht erspartdas uns in Zukunft Zeitverschwendung.Erstens. Nach der Bahnreform bestimmt die DeutscheBahn AG die Preise ihrer Dienstleistungen grundsätzlicheigenverantwortlich.Zweitens. Die Deutsche Bahn AG ist deshalb gegen-über der Bundesregierung nicht zur Information bei Ta-riferhöhungen verpflichtet.Gerhard Jüttemann
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Daraus resultiert drittens, daß sie auch nicht zur Ein-holung einer Genehmigung bei der Bundesregierungverpflichtet ist.Zum Schluß möchte ich zwei Bemerkungen machen.Erstens. Wir können getrost davon ausgehen, daß dieLänder konkrete Anträge auf Tariferhöhungen imSPNV, mit welcher Begründung auch immer, spitznachrechnen werden, zumal die Energiepreise – meinKollege Schmidt wird noch darauf eingehen – in denletzten Jahren trotz massiver Steuererhöhungen durchdie alte Bundesregierung insgesamt gesunken sind.Zweitens. Die Attraktivität, besonders die des SPNVund die des ÖPNV, macht sich nicht nur am Preis fest;vielmehr hat sie sehr viel damit zu tun, wie attraktiv die-se Verkehrsmittel sind: Pünktlichkeit, Vernetzung, ob-jektive und subjektive Sicherheit, Bequemlichkeit undSchnelligkeit sind einige Kriterien, die über Erfolg undMißerfolg entscheiden.In diesem Sinne wünsche ich der Deutschen BahnAG sehr ernsthaft und sehr ehrlich viel Erfolg beimweiteren Nachdenken über die Steigerung ihrer Attrakti-vität.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsiden-tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Hin-blick auf die generelle Betrachtung der Bahn kann ichmich den Worten der Kollegin Mertens anschließen. Ichwill nur noch hinzufügen: Diejenige Partei, die uns dieDeutsche Reichsbahn im schrottreifen Zustand überge-ben hat, sollte vielleicht einmal nachdenken, an wel-chem Punkt sie den Zeigefinger hebt.
Ich möchte mich auf den Punkt Preiserhöhungen we-gen der ökologischen Steuerreform bei der Bahn konzen-trieren. Da läuft ja tatsächlich das Stück ab: Haltet denDieb! Erst legt Rotgrün in einem chaotischen Gesetzge-bungsverfahren ein Gesetz zu einer sogenannten ökologi-schen Steuerreform vor, von dem überraschenderweiseauch der bisher von den Grünen fast als heilige Kuh be-handelte öffentliche Personennahverkehr betroffen ist.Dann gibt es Proteststürme. Verkehrsminister FranzMüntefering erklärt: Es gibt keine Ausnahme für den öf-fentlichen Personennahverkehr; alle müssen zahlen.Dann gibt es offensichtlich doch genügend Druck.Nachdem die Gesetzesberatungen im Finanzausschußbereits abgeschlossen sind, erreicht die mitberatendenAusschüsse ein staunenswerter Brief der Vorsitzenden,Kollegin Scheel, in dem steht:Ich darf Sie darüber informieren, daß das vom Fi-nanzausschuß bereits abgeschlossene Gesetz zumEinstieg in die ökologische Steuerreform noch ein-mal geändert werden soll. Die Änderungsanträgewerden voraussichtlich am … frühen Vormittagvorliegen. Sie werden Ihnen zum frühestmöglichenZeitpunkt per Fax zugeleitet werden.Weiter heißt es sinngemäß: Ich will Sie nur darüber in-formieren, daß davon der Personennahverkehr sowie dieDeutsche Bahn AG betroffen sein werden.
Das ist dann also das geordnete Gesetzgebungsverfah-ren!Die F.D.P. hat im Vorfeld darauf hingewiesen, daßnach dem von Kollegin Mertens richtigerweise festge-stellten Prinzip Preiserhöhungen, egal aus welchemGrund, im Nahverkehr folgende Konsequenzen haben:Entweder muß eingespart werden, oder der Fahrpreismuß erhöht werden, oder die im Nahverkehr tätigenAufgabenträger müssen die Erhöhung des Defizitaus-gleiches zugestehen. Nun kann man ja verniedlichendsagen: Das ist alles nur halb so schlimm, der Strompreisist ja statt um 2 Pfennig nur um 1 Pfennig erhöht wor-den. Gegenüber dem Zeitraum vor Inkrafttreten derÖkosteuerreform ist es eine Kostenerhöhung, die offen-sichtlich durch die gleichzeitig eingeführte Senkung derLohnnebenkosten nicht in vollem Umfang ausgeglichenwird. Das heißt, es bleibt auch für die Bahn eine Ko-stenerhöhung übrig.Nun beginnt der zweite Akt der Komödie. Ausge-rechnet die, die für die Kostenerhöhungen verantwort-lich sind, heben moralisierend den Zeigefinger und sa-gen: Das gilt aber nicht, Bahn, was du da machst; das istunfair; das darfst du nicht. – An vorderster Front stehtleider auch der Kollege Schmidt,
der ja nun – das ist eine seiner Nebentätigkeiten – imAufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzt. Es wärevielleicht an der Zeit, Herr Kollege Schmidt, daß Sieeinmal Ihre Rolle klären: Entweder sprechen Sie alsAufsichtsrat der Bahn in der Öffentlichkeit – dann sindSie dafür verantwortlich, daß die Bahn ein positivesWirtschaftsergebnis erzielt –, oder Sie melden sich alsverkehrspolitischer Sprecher.
Dann sollten Sie zu den Erhöhungen auf Grund der Ko-stensituation stehen und sollten die Bahn nicht mit demZeigefinger darauf hinweisen, daß sie gefälligst Tarifer-höhungen unterlassen soll.
Angelika Mertens
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Nein, meine Damen und Herren, der Versuch, dieBahn hier als Sündenbock abzustempeln, ist ein ganzbilliger Versuch von Rotgrün, sich aus der mißlungenenÖkosteuerreform zu verabschieden, die, um mit denWorten meines Kollegen Thiele zu sprechen, weder ökonoch logisch ist,
sondern schlicht und ergreifend ein weiteres Konzeptzum Geldkassieren. Leider Gottes ist sie wahrscheinlichheute durch den Bundesrat gegangen. Dieser Freitagwird als schwarzer Freitag der Steuergesetzgebung indie Geschichte eingehen.
Wir lehnen dieses Verfahren und auch dieses Gesetzstrikt ab.Ich will nicht verschweigen, daß es mit Sicherheitviele Gründe gibt, um die Bahn zu kritisieren. Es gibtauch viele Anlässe dazu. Aber man sollte als Vertreterderjenigen, die dafür gesorgt haben, daß die Bahn überPreiserhöhungen nachdenken muß, nicht mit dem Fingerauf die zeigen, die das tatsächlich umsetzen müssen,weil die Wirtschaft bestimmten Gesetzmäßigkeitenunterliegt.In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk-samkeit, Frau Präsidentin, und wäre dankbar, wenn Siedem nächsten Redner erst dann das Wort erteilen, wennich mich hingesetzt habe, damit im Protokoll steht: Bei-fall bei der F.D.P.Ich danke Ihnen.
Der Beifall ist mei-stens so brausend, daß die Zeit für Sie reicht, um Platzzu nehmen, Herr Kollege. – Nun ist das im Protokollverzeichnet.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ent-hält eine falsche Behauptung. Dort ist die Rede vonFahrpreiserhöhungen bei der Bahn, die unter anderemdurch die Ökosteuer bedingt seien. Da wird seitens derPDS und mit Unterstützung der F.D.P., wie ich geradefestgestellt habe, an einer Legende gestrickt, die dadurchnicht wahrer wird, daß man sie als Thema einer Aktuel-len Stunde in die Tagesordnung setzt.In Wahrheit kann die ökologisch-soziale Steuerre-form in gar keiner Weise als Begründung dafür herhal-ten, daß wieder an der Fahrpreisschraube gedreht wer-den muß. Im Gegenteil: Die öffentlichen Verkehrsbe-triebe insgesamt sind die Nettoprofiteure auf dem Ver-kehrsmarkt.
– Hören Sie einmal zu! Ich habe Ihnen auch in aller Ru-he zugehört. – Die Ökosteuer verbessert nämlich die re-lativen Marktchancen der umweltfreundlichen öffentli-chen Verkehrssysteme, insbesondere die Chancen derSchiene gegenüber dem Straßenverkehr.Dies zeigt eine einfache Rechnung, die jeder Viert-klässler durchführen kann: Eine Autofahrt über 100 Ki-lometer verteuert sich durch die Ökosteuer im Durch-schnitt um etwa 50 Pfennige. Eine Zugfahrt über die-selbe Strecke würde sich durch die Einführung der Öko-steuer um etwa 10 Pfennige verteuern, wenn die Öko-steuer voll auf den Fahrpreis umgelegt werden würde.Also selbst unter dieser Annahme kann man sagen, daßsich die relative Marktchance der öffentlichen Verkehrs-träger verbessert.Herr Kollege Friedrich, meine Haltung zu dieser Fra-ge hat mit meiner Funktion überhaupt nichts zu tun.Meinem Vorgänger im Aufsichtsrat, dem KollegenKohn von der F.D.P., haben Sie nie vorgehalten, daß ergleichzeitig Abgeordneter und Aufsichtsratsmitgliedwar. Das ist sehr komisch.
– Das stimmt. Ich habe nie etwas von ihm gelesen odergehört.Der entscheidende Punkt ist aber, daß es zu einerFahrpreiserhöhung, insbesondere zu der im Schienen-nahverkehr, überhaupt keinen Grund gibt. Warum istdies so? Ich will Ihnen drei Gründe nennen.Erstens. Die Strompreise weisen eine sinkende Ten-denz auf. Im Wege des europäischen Strombinnen-marktes wird sich diese Tendenz verstärken. Das heißt,man kann heute gerade als Großkunde günstiger Stromeinkaufen. Davon wird auch die Bahn verstärkt profitie-ren.Zweitens. Der Mineralölpreis, der im Hinblick auf dieDiesellokomotiven durchaus von Bedeutung ist, ist inden letzten Monaten in einer Größenordnung gefallen,was durch die Einführung der Ökosteuer nicht annä-hernd ausgeglichen wird. Der Dieselpreis pro Liter liegtheute um mehr als 10 Pfennige unter dem Vorjahres-preis. Wenn man die Energiekosten immer gleich aufden Fahrpreis umrechnen würde, müßte logischerweisedie Frage aufkommen: Wo bleibt die Fahrpreissenkung?
Horst Friedrich
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Drittens. Darüber hinaus haben wir Bündnisgrüne inder Koalition durchgesetzt, daß für die Eisenbahnen, dieU-Bahnen, die Straßenbahnen und die S-Bahnen nur derhalbe Stromsteuersatz gilt, weil wir den ökologischenLenkungseffekt, der im ersten Schritt dieser Energie-kostenbelastung nach unserer Meinung sehr bescheidenausfällt, verstärken wollen.
Eine derart maßvolle Einbeziehung in die Ökosteuerschadet den öffentlichen Verkehrsbetrieben nicht nurnicht, im Gegenteil – ich wiederhole diesen Punkt –: Sieliefert den notwendigen Anreiz, auch im Bereich derSchiene und im Bereich des öffentlichen Nahverkehrsfür einen sparsamen und effizienten Energieeinsatz zusorgen. Dies steht in Übereinstimmung mit dem von derDeutschen Bahn AG selbst aufgelegten „Energieein-sparprogramm 2005“, das vorsieht, bis zum Jahr 2005den Stromverbrauch um satte 25 Prozent zu reduzieren.Ich habe mir einmal die bisherige Entwicklung ange-schaut. Seit 1990 hat sich der Stromverbrauch bei derDeutschen Bahn um 16 Prozent, von 52 Gigawattstun-den auf 44 Gigawattstunden, reduziert. Das heißt, dieseTendenz zur Energieeinsparung durch höhere Effizienzund durch bessere Logistik wird durch die Ökosteuernicht nur beschleunigt und verbessert, sondern sie sorgtdafür, daß der Energieeinkaufspreis für die Bahn trotzÖkosteuer summa summarum sinken wird. Die Legendevon einer Fahrpreiserhöhung, die durch die Ökosteuernotwendig würde, ist durch die Sachlage überhaupt nichtgerechtfertigt. Diese Auffassung werde ich auch in Zu-kunft vertreten.Sie, Herr Kollege Friedrich, als Vertreter einer Partei,die viel mit Wirtschaftspolitik zu tun hatte, sollten wis-sen, daß es ein einfaches kaufmännisches Gesetz gibt:Wenn es in einem Betrieb an einer Stelle Kostenerhö-hungen und an einer anderen Stelle Kostensenkungengibt, dann wird man diese Kosten zunächst gegeneinan-der aufrechnen, bevor man auf den Markt geht, auf demman eigentlich erfolgreich sein will, und sagt: man müs-se den Verkaufspreis seiner Ware erhöhen. Das ist mei-ne Auffassung vom unternehmerischen Handeln. Infol-gedessen sehen wir das sehr gelassen.Auch der zweite und dritte Schritt der Ökosteuerre-form werden die Wettbewerbsposition der öffentlichenVerkehrssysteme weiter verbessern. Das ist von unsdurchaus so gewollt.
Zum Abschluß er-
teile ich das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf,
PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsi-dentin! Da es der Wahrheitsfindung dient, habe ich einLederjackett angezogen. Ich möchte zunächst auf FrauMertens eingehen: Nicht die PDS beschäftigt uns hiermit dem Thema Bahn. Vielmehr beschäftigt die Bahndie Öffentlichkeit mit Preiserhöhungen, mit schlechterQualität und mit neuen Unfällen. Mich wundert, wo derKollege Schmidt und wo die Kollegin Mertens real le-ben. Ich lese – wie Sie auch – Zeitung, und habe vor mireinige Schlagzeilen. „Stern“: Ärger auf Rädern; „Süd-deutsche Zeitung“: Die Bahn droht endgültig, aufs Ab-stellgleis zu fahren;
„Express“: Spart sich die Bahn in die Katastrophe?;
„Berliner Tagesspiegel“: Das Gespenst der Schrumpf-bahn kehrt zurück; „Express“: Der tägliche Bahnhorror;„FAZ“ – Lieblingslektüre von Abgeordneten einiger an-derer Parteien –: Bei der Bahn nehmen die schlechtenNachrichten kein Ende; „Frankfurter Rundschau“: Auchdie Treuesten verzweifeln jetzt an der Bahn. Last, notleast noch eine Zeitschrift für junge Frauen, „Lisa“, dieschreibt: Verspätungen, überhöhte Preise, mangelndeSicherheit – das Chaosunternehmen „Deutsche Bahn“steht im Kreuzfeuer der Kritik.
Wenn Sie völlig an der Öffentlichkeit vorbeireden wol-len, Herr Schmidt, dann reden Sie weiter so, wie Sie ge-redet haben. Das gilt auch für Sie, Frau Mertens. Aberwenn Sie sich ein bißchen in Ihrem Wahlkreis umschau-en, ein bißchen Zeitung lesen und ein bißchen mit Kol-leginnen und Kollegen reden,
– Ich rede genau zum Thema, Herr Schmidt –,
dann wissen Sie, daß Sie darauf eingehen müssen.
Zur Ökosteuer hat der Kollege Friedrich das Richtigegesagt. Es ist einfach Tatsache, daß, wenn Sie das öko-logischste Verkehrsunternehmen mit einer zusätzlichenSteuer belasten und es ankündigt,
deswegen die Tarife zu erhöhen, Herr AufsichtsratSchmidt, man das zur Kenntnis nehmen und darüberdiskutieren muß.Ich bin der Meinung, daß es nicht nur zu einer direk-ten Tariferhöhung kommt, sondern – das hat HerrAlbert Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
2360 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999
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Schmidt in der Presse gesagt, ob als Aufsichtsrat oderverkehrspolitischer Sprecher, ist egal – zu einer doppel-ten Preiserhöhung. Dazu ein Zitat aus der „Süddeut-schen Zeitung“: Zu der normalen Tariferhöhung kommtnoch – das ist jetzt ein Zitat von Herrn Schmidt – diePreiserhöhung auf kaltem Wege dadurch, daß weitere200 Fernverkehrsverbindungen eingestellt werden unddie Leute gezwungen werden, von bisherigen Interregio-zügen und D-Zügen auf IC- oder sogar ICE-Züge umzu-steigen und noch einmal höhere Preise zu zahlen.
Es kommt hinzu, daß in besonderem Maße die neuenBundesländer betroffen sind, und zwar auf verschiedeneArt und Weise: zum Beispiel durch die schlechte Quali-tät, die bei der Bahn im Osten angeboten wird, unddurch das Streckensterben, das es in den neuen Bundes-ländern viel stärker gibt als anderswo.Zur PDS und ihrer Verantwortung möchte ich nur so-viel sagen: Ich halte es für einen schweren verkehrspoli-tischen Fehler, daß die SED in ihrer 40jährigen Regie-rungszeit versucht hat, beides, sowohl Straßen als auchSchienenwege, zu bauen. Beides hat sie halb schlechtoder halb gut gemacht. Sie hat 40 Jahre die Chance ge-habt, eine Wende im Bereich des Verkehrs herbeizufüh-ren – sie hat es nicht geschafft.Das rechtfertigt aber in keiner Weise, daß im Jahre 10nach der deutschen Einheit dieser Zustand im Ostenweiterhin anhält. Man findet solch absurde Zustände,daß man mit dem ICE von Berlin nach Münchenschneller über Magdeburg und Hannover kommt als aufdem direkten Weg über Leipzig. So fallen entsprechendmehr Tarifkilometer bei der Bahn an.
Zum Schluß möchte ich Sie darauf hinweisen, daß dieBahn momentan eine Philosophie verfolgt – gerade Siemüssen das zur Kenntnis nehmen –, die dem absolutentgegengesetzt ist, was sie behauptet. Ich zitiere aus der„Deutschen Verkehrs-Zeitung“, in der sich Herr Sinnek-ker aus dem Frachtbereich so äußert: Das Warten aufden Kunden bei der Bahn gehört jetzt endgültig der Ver-gangenheit an. – Das ist die Philosophie der heutigenBahn, nämlich keine Rücksicht auf die Kunden und aufdie Belange eines ökologischen Verkehrs zu nehmen.Sie macht im Grunde Politik gegen den Markt und ge-gen die Kunden und hat so die absurde Teufelsspirale inGang gesetzt: neue Tariferhöhungen, ein höherer Fahr-gastverlust, neue Tariferhöhungen usw. Damit fährt sieauf das Abstellgleis.Danke schön.
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich
berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
auf Mittwoch, den 24. März 1999, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.