Gesamtes Protokol
Einen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung und begrüße zunächst als neues Mitglied des Bundestages und Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Rainer Haungs den Abgeordneten Franz Romer. Herzlich willkommen!
Er hat am 1. Februar die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich denke, vielen von Ihnen ist er schon aus der 12. Wahlperiode bekannt. Auf gute Zusammenarbeit!
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
ZP7 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Aktuelle Lage der Rentenversicherung
ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Aktuelle Finanzlage der Rentenversicherung - Drucksache 13/3606 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entsprechend.
Das Wort zu einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Keine Illusionen!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Regierungserklärung ist eine Vertrauenserklärung für unsere Rentenversicherung.
Unsere Rentenversicherung verdient Vertrauen. Die Rente ist Teil der Lebensplanung und Lebenssicherheit der älteren Generation. Deshalb: Spielt nicht mit den Ängsten der Rentner!
Wie die Alten und die Jungen miteinander umgehen und auskommen, das entscheidet über die Kultur und Humanität einer Gesellschaft. Deshalb: Wer Streit und Zwietracht, Neid und Unsicherheit zwischen die Generationen treibt, beschädigt unsere Sozialkultur.
Einen elementaren Teil der Generationensolidarität organisiert unsere Rentenversicherung. Sie ist das Herzstück unserer sozialen Sicherheit; sie ist Geben und Nehmen, Leistung und Gegenleistung. Die Rente eignet sich nicht als Knüppel im Wahlkampf.
Wer die Rentenversicherung als Wahlkampfwaffe mißbraucht, schürt Lebensangst und versündigt sich an der älteren Generation.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz unserer Sozialstaatstradition, das Rentensystem aus dem parteipolitischen Streit herauszuhalten. Die Rentenreform 1957 und die Rentenreform 1992, die 1989 beschlossen wurde, sind von einem großen Konsens getragen worden. An diesem Konsens waren Regierung und Opposition, Gewerkschaften und Arbeitgeber beteiligt. 1957 stimmte die überwältigende Mehrheit der Mitglieder des Bundestages der Rentenreform zu, und 1989 gab es keine Gegenstimmen, nur einige Enthaltungen. Der blinde Wahlkampfeifer verführt
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
aber offenbar die Sozialdemokratische Partei, mit dieser großen Tradition zu brechen.
Unser Rentensystem gilt unverändert.
Kein Gesetzentwurf stellt die Rentenversicherung in Frage. Nichts ist geschehen, was die augenblicklich hochgezüchtete, panische Rentendiskussion rechtfertigen könnte. An allen wichtigen Rentengesetzen war die SPD beteiligt. Diebstahl, Betrug, Rentenkürzungen - das sind die Schlagworte dieser Woche. Was rechtfertigt dieses Spektakel? - Nichts anderes als Wahlkampfaufregung.
Ich frage Sie - Sie können es ja später beantworten -: Was hätte die SPD anders gemacht? Der Nettolohnrente hat die SPD zugestimmt. Den Rentengesetzen zur deutschen Einheit hat die SPD zugestimmt. Auch der Fremdrentengesetzgebung stimmte die SPD zu.
Allen Gesetzen, mit denen der Rentenversicherung Fremdleistungen - oder was dafür gehalten wurde - übertragen wurden, allen, einschließlich des SED-
Unrechtsbereinigungsgesetzes, hat die SPD zugestimmt. Wenn das Diebstahl ist, dann haben Sie Schmiere gestanden. Wie kommen Sie eigentlich dazu, von Diebstahl zu reden?
Sie haben allem zugestimmt und rufen heute die Katastrophe aus.
Ein Blinder sieht es, daß hier Wahlkampf im Spiel ist.
Man kann vieles kritisieren, und manches muß verändert werden; aber die Grundlagen bleiben erhalten.
Meine Frage lautet - Sie können sie ja später beantworten; seien Sie nicht so aufgeregt -: Was hätte die SPD anders gemacht?
Hätte sie beispielsweise für die Vorausschätzungen der Rentenfinanzen andere Daten als die amtlichen Daten eingesetzt, andere Daten als die, die mit den wissenschaftlichen Instituten abgestimmt und eingespeist wurden, andere Daten als die, die mit den Trägern der Rentenversicherung abgestimmt wurden?
Welche Zahlen hätten Sie in Ihre Prognosen eingesetzt? - Selbstgemachte, manipulierte? Ich wiederhole meine Frage: Was hätte die SPD anders gemacht?
Es ist weit und breit kein Gesetzentwurf zu sehen, der die Grundlage unseres Rentensystems in Frage stellt. Alle unsere Gesetzespläne dienen der Rentensicherheit. Wir wollen sie mit dem Willen zur Gemeinsamkeit beraten. Der Stopp der Frühverrentung dient der Rentensicherheit. Die Eindämmung der ausufernden Kur- und Rehabilitationskosten dient der Rentensicherheit. Die Korrektur der Rechtsprechung zur Erwerbs- und Berufsunfähigkeit dient der Rentensicherheit. Die Umstellung der Rentenerhöhung in den neuen Bundesländern auf die Lohnentwicklung des Vorjahres dient der Rentensicherheit und der Rentenklarheit. Denn die Nettolohnentwicklung läßt sich bei differenzierter Lohnentwicklung nicht mehr vorausberechnen. Wo also - so frage ich - liegt der prinzipielle Konflikt, der eine Angstkampagne begründen könnte? Wo liegt er?
Gegen diese Angstkampagne der SPD setze ich eine Vertrauenswerbung für unsere Rentenversicherung. Sie ist anpassungs- und veränderungsfähig, ohne daß das System in Frage gestellt werden müßte.
Der sozialpolitische Fortschritt der Rentenreform war die Anbindung der Rentenerhöhung an die Lohnentwicklung. Das ist eine große soziale Klugheit. Alt und Jung, Rentner und Beitragszahler sitzen in einem Boot. Die Rentner nehmen so automatisch an der Lebensstandardentwicklung der Jungen teil. Es gibt kein verläßlicheres Sicherungssystem.
Was sind denn die Alternativen? - Etwa ein steuerfinanziertes Rentensystem? Es würde die Rentner in die Zwickmühle bringen, bei den jährlichen Haushaltsberatungen zu zittern, was für sie übrigbleibt, sich in den Streit zu begeben, wieviel Geld zum Beispiel für Straßenbau oder wieviel Geld für Bildung ausgegeben werden soll und wieviel Geld für die Rentner übrigbleiben soll. Das Ergebnis wäre eine Rente nach Kassenlage. Die Rentner in den neuen Bundesländern kennen dieses Verfahren aus der alten DDR. - Rentenerhöhung von Staates Gnaden, so war das da.
- So war das da! Rentenerhöhung von Staates Gnaden!
Unsere Rentenerhöhung funktioniert automatisch. Die Rentenformel schützt vor dem Eingriff in die Rentenkasse. Das ist ihr großer Vorteil. Rentner sind keine Bittsteller, Rente ist kein Staatsgeschenk, Rente ist ein selbst erarbeiteter Anspruch, und dabei bleibt es.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Die Rentenerhöhungen folgen den Löhnen. Der Staat ist nur der Notar der Rentenerhöhung. Er schlägt sie nicht vor. Sie ergibt sich aus der Rentenformel.
Weit weg von der Realisierbarkeit - das ist eine andere Alternative - ist auch der Vorschlag, für die Rentenversicherung eine Kapitaldeckung einzuführen. Dann bräuchte sie für das heutige Sicherungssystem ein Deckungskapital von 10 Billionen DM. Damit könnte die Rentenversicherung die ganze deutsche Volkswirtschaft aufkaufen und sich auch noch an Anlagestrategien in Entwicklungsländern beteiligen. Aber mehr Rentensicherheit ergäbe sich daraus nicht.
Eine weitere Alternative sind preisgebundene Renten, also Rentenentwicklung nach der Preisentwicklung. Das ist auch ein Vorschlag. Würde, wie manche vorschlagen, die Rentenerhöhung an die Preisentwicklung gekoppelt, dann veränderte sich der reale Wert der Rente nie. Die Kaufkraft bliebe immer dieselbe.
Unser System, das lohnbezogene System, hat die Kaufkraft der Rente - Preissteigerung also abgezogen - seit 1957 um 130 Prozent erhöht. Aus 100 DM Rentenkaufkraft wurden 230 DM. Mehr als das Doppelte können sich die Rentner also 1996 gegenüber 1957 leisten!
Die nominale Eckrente hat sich von 241 DM auf 1932 DM erhöht. Kennen Sie ein Alterssicherungssystem der Welt, das so zur Wohlstandsentwicklung der älteren Generation beigetragen hat wie unsere Rentenversicherung? Die verteidige ich deshalb gegen Miesmacher, auf welcher Seite sie auch auftreten!
Kein anderes Rentensystem der Welt hat die Altersarmut so erfolgreich bekämpft. Nur 240 000 ältere Mitbürger über 60 Jahre erhalten Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt von der Sozialhilfe. Der Anteil der Rentner, die Sozialhilfe beziehen, hat sich seit 1970 halbiert, und gegen den Sozialhilfeanspruch im Heim haben wir die Pflegeversicherung eingeführt, deren zweite Stufe am 1. Juli dieses Jahres in Kraft tritt. Noch einmal: Die Rentenversicherung ist das wirksamste Instrument gegen Altersarmut.
Nun zur Rentenreform 1989: Sie ist 1992 in Kraft getreten. Sie verstärkte den Zusammenhang in der Entwicklung des Lebensstandards zwischen den Jungen und den Alten, den Beitragszahlern und den Rentnern. Die Rentenanpassung wurde an die Nettolohnentwicklung der Arbeitnehmer angebunden; denn auch die Arbeitnehmer leben vom Nettolohn, von dem, was übrigbleibt, wenn Steuern und Sozialabgaben abgezogen sind. Also war es konsequent, auch die Renten an die Nettolohnentwicklung anzupassen.
Schreien Sie doch nicht dazwischen; das haben Sie doch alles mit beschlossen!
Steigen die Löhne geringer, und Steuern und Abgaben werden höher, ist der Nettolohn geringer, also auch die Rentenanpassung niedriger.
Nochmals: Alt und Jung sitzen in einem Boot. Wenn die Nettolöhne sogar sinken, dann sinken auch die Renten. Das ist eine Systemmöglichkeit, und diese Möglichkeit hat die SPD mit beschlossen. Rentenabsenkung ist in der fast 40jährigen Geschichte der lohnbezogenen Rente nicht vorgekommen, und auch in diesem Jahr wird es keine Rentenabsenkung geben. Solange die Nettolöhne steigen, steigen auch die Renten.
Wieso eine Möglichkeit, die gar nicht ins Haus steht, jetzt als Rentenkürzung bezeichnet und attakkiert wird, verstehe ich nicht. Wie kommen Sie eigentlich dazu, Gerüchte über Rentenkürzungen in die Welt zu setzen, wo wir doch eine Formel haben, die bewirkt, daß die Rentner und die Empfänger von Nettolöhnen in einem Boot sitzen und daß sich die Renten wie die Nettolöhne entwickeln? Wie kommen Sie dazu, den alten Leuten mit einer angeblich bevorstehenden Rentenkürzung Angst zu machen? Es gab 1989 keine Rentenkürzung, und es wird auch 1996 keine geben. Der einzige Unterschied ist: Der Januar 1996 ist nur zwei Monate von Landtagswahlen entfernt. Das ist der einzige Unterschied in der Bewertung!
Schämen Sie sich nicht?
Gewinner dieser Panikmache sind die Gegner des Systems unserer Rentenversicherung.
- Die SPD arbeitet den Systemgegnern in die Hände.
Einer der größten Erfolge in der über 100jährigen Geschichte der Rentenversicherung ist die Rentenentwicklung in den neuen Bundesländern. Im letzten Jahr unter Honecker wurden 16,7 Milliarden Mark - 16,7 Milliarden Mark; die Betonung liegt auf „Mark" - für die Rentner ausgegeben. Heute betragen die Rentenausgaben für den gleichen Personenkreis im gleichen Gebiet 73 Milliarden Mark.
Das ist eine Steigerung um fast 340 Prozent.
- D-Mark, ja; sehr richtig; D-Mark: von 16,7 Milliarden Mark auf 73 Milliarden DM. Den Unterschied wird selbst die PDS erkennen.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Die Eckrente Ost liegt bei 82 Prozent der westlichen Eckrente. Das ist das Ergebnis einer beispiellosen Aufholjagd.
Denn als wir mit dieser Aufholjagd anfingen, lag der Wert bei 30 Prozent. Das war der Wert am Start, 30 Prozent. Jetzt liegt er bei 82 Prozent. Die Durchschnittsrenten der Männer sind von 572 Mark in der DDR auf 1 746 DM gestiegen. Die Durchschnittsrenten der Frauen sind von 432 Mark in der ehemaligen DDR auf 1 076 DM gestiegen. Die Durchschnittsrenten in den neuen Bundesländern
liegen bei 105 Prozent der westlichen Renten, die Durchschnittsrenten der Frauen sogar bei 135,1 Prozent, die der Männer bei 97,2 Prozent. Das ist kein Ergebnis einer besonderen Privilegierung der Rentner im Osten, sondern das ist das Ergebnis von mehr Beitragsjahren.
Meine Damen und Herren, es ist ein rundum erfreuliches Ergebnis, daß die ersten Gewinner der deutschen Einheit die Rentner in den neuen Bundesländern sind, und darauf sind wir stolz.
Zu SED-Zeiten wäre so etwas gar nicht möglich gewesen. Deshalb rate ich Ihnen von der PDS, heute aus Gründen der Erinnerung und der Scham ganz den Mund zu halten, wenn über Renten gesprochen wird.
Wenn Sie ein bißchen Erinnerungsvermögen und ein bißchen Scham hätten, würden Sie sich heute nicht an der Rentendebatte beteiligen.
- Soll ich Ihnen noch einmal die Zahlen, die sich auf die DDR beziehen, vorlesen?
Es waren damals 16,7 Milliarden Ostmark, und heute sind es 73 Milliarden DM. Man kann es nicht oft genug wiederholen. Ich bleibe dabei: Die ersten Gewinner der deutschen Einheit sind die Rentner in den neuen Bundesländern, Gott sei Dank. Wir gönnen es ihnen auch.
Sie haben viel mitgemacht. Manche von ihnen haben zwei Weltkriege erlebt, einen Weltkrieg jeder; manche von ihnen haben zwei Diktaturen erlebt. Sie haben es verdient, und sie haben nicht mehr so viel Zeit, das, was ihnen das Leben an Unrecht angetan hat, wettzumachen. Sie haben weniger Zeit als die
Jungen. Deshalb müssen sie die ersten Gewinner der deutschen Einheit sein.
Wir müssen die Rentenanpassung Ost auf das westliche Anpassungsverfahren umstellen. Bis jetzt wurden die Renten im Osten entsprechend der Lohnentwicklung des laufenden Jahres angepaßt. Das bedeutet, daß die Rentenerhöhung im Osten auf vorausgeschätzten Löhnen basiert. Das geht nicht mehr; das funktioniert nicht mehr, weil die Schätzung immer ungewisser wird, je differenzierter die Lohnentwicklung im Osten wird. Deshalb muß - diese Regelung war ja sowieso nur als vorübergehende vorgesehen - umgestellt werden. Wie im Westen sollen die Renten im Osten deshalb künftig der Lohnentwicklung des Vorjahres folgen. Aber es bleibt die Lohnentwicklung des Ostens. Also bleibt auch die Anbindung der Renten in den neuen Bundesländern an die Lohnentwicklung in den neuen Bundesländern. Der Aufholprozeß im Osten wird nicht abgestoppt.
Dabei wollen wir in der aufgeregten Diskussion nicht vergessen - das Gedächtnis ist ja kurz -, daß die Rentner in den neuen Bundesländern im Unterschied zu den Rentnern im Westen am 1. Januar 1996 schon eine Rentenerhöhung von 4,38 Prozent erhalten haben.
Die Bundesregierung läßt die Rentenversicherung nicht im Stich. Die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in den neuen Bundesländern werden aus öffentlichen Kassen bezahlt. Die Beitragszahler zahlen dafür keinen Pfennig. Die Sonder- und Zusatzversorgungssysteme kosten Bund und Länder derzeit jährlich 3,1 Milliarden DM.
Unter dem Dach der Rentenversicherung werden von den alten Bundesländern in diesem Jahr 16 Milliarden DM in die neuen Bundesländer transferiert. Dem hat die SPD zugestimmt.
Dieser West-Ost-Transfer aus Beitragsmitteln kann, wie ich meine, mit guten Gründen kritisiert werden. Aber ich bitte die Kritiker, zu bedenken, daß ein regionaler Finanzausgleich der Rentenversicherung nicht fremd ist. Zwischen südlichen und nördlichen Regionen Westdeutschlands findet in der Rentenversicherung ebenfalls ein Finanzausgleich statt. Ein Solidarausgleich ist der Rentenversicherung angeboren. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zahlt zum Beispiel der Arbeiterrentenversicherung einen Liquiditätsausgleich, der 22 Milliarden DM beträgt.
Die westlichen Rentenkassen, das sei auch nicht vergessen, haben auch von der Sonderkonjunktur 1990/91 profitiert, die durch eine verstärkte Nachfrage aus dem Osten ausgelöst wurde. Da sind ihre Kassen gefüllt worden. Für den Trabi kam der Audi, der VW, Ford und Opel. Der wurde in Westdeutsch-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
land hergestellt. Insofern war die Sonderkonjunktur auch ein Plus für die Rentenkasse.
Jetzt möchte ich zum Bundeszuschuß sprechen.
- Eins nach dem anderen! Wir machen heute nicht nur Aufklärung, sondern Vertrauenswerbung durch Aufklärung.
76,6 Milliarden DM beträgt in diesem Jahr der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung. Das ist viel Geld. Wir haben das Rentensystem sicherer gemacht. Wir haben den Bundeszuschuß zur Arbeiter- und Angestellten-Rentenversicherung von 18,5 Prozent auf 20,5 Prozent erhöht. Das macht 1996 eine Erhöhung des Bundeszuschusses um 6,1 Milliarden DM aus.
In der alten Bundeszuschußregelung - zu SPD-Zeiten auch immer in Betrieb - war der Bundeszuschuß an die Lohnentwicklung angekoppelt. Stiegen die Beitragseinnahmen, stieg auch der Bundeszuschuß. Sanken die Beitragseinnahmen, sank auch der Bundeszuschuß. Das war eine sinnwidrige Regelung, jedenfalls eine Regelung gegen den Bedarf. Der Bundeszuschuß sank also prozentual bei überproportionalem Rentenausgabenanstieg. Das ist ja sozialpolitische Geisterfahrerei. Das haben wir umgestellt. Wir haben damit auch einen Regelkreis geschaffen, bei dem Bund, Beitragszahler und Rentner an niedrigen Beiträgen interessiert sind. Denn die Beiträge treiben ja die Nettolohnentwicklung nach unten.
Das Wichtigste ist aber - jetzt hören Sie gut zu, ich kann es ganz langsam zum Mitschreiben vortragen -: Diese Bundesregierung hat den Bundeszuschuß immer auf Mark und Pfennig pünktlich gezahlt. Die Regierung Kohl und diese Koalition sind zuverlässig. Das unterscheidet sie von ihren sozialdemokratischen Vorgängern.
Die sozialliberale Regierung hat in ihrer Amtszeit den Bundeszuschuß siebenmal gekürzt oder verschoben:
1969, 1970, 1971 und 1981 erfolgten jeweils Kürzungen um über 10 Prozent des gesetzlichen Bundeszuschusses. Meine Damen und Herren, können Sie sich vorstellen, was die SPD gesagt hätte und was „Bild am Sonntag" geschrieben hätte, wenn wir den Bundeszuschuß gekürzt hätten? Können Sie sich vorstellen, was in diesem Hause los gewesen wäre, wenn wir die Rentenkassen so manipuliert hätten, wie es zur sozialliberalen Zeit geschehen ist?
Bei der Regierungsübernahme habe ich die von der SPD vorgesehene Bundeszuschußkürzung von 1,5 auf 0,9 Milliarden DM herabgesetzt. 1973, 1974, 1975 wurden Zahlungen in Höhe von insgesamt 5,7 Milliarden DM verschoben. Deshalb die Kurzfassung: Bundeszuschuß kürzen und bei der Rentenkasse Geld pumpen - das war das Markenzeichen der sozialdemokratischen Rentenpolitik.
- Ja, heute schlägt die Stunde der Wahrheit.
Diebstahl und Plünderung werfen Sie der Bundesregierung jetzt vor. Die Opposition verwechselt die Adresse. Sie schließt von sich auf andere. Das ist ihr Fehler.
Wir haben den Bundeszuschuß nicht gekürzt. Die sozialliberale Regierung tat das in 13 Jahren siebenmal. Damit steht es 7:0 für diese Regierung.
Dreimal hintereinander wurde die Rentenerhöhung von der SPD-Regierung willkürlich und unter der gesetzlichen Rentenerhöhung festgelegt - einfach so, mit dem Daumen, ohne jede Rentenformel. 1979 waren es 1,83 Prozent, 1980 waren es 1,84 Prozent, und 1981 waren es 1,76 Prozent weniger Rentenerhöhung, als das Gesetz vorschrieb. Das war Manipulation.
1978 ließ Kanzler Schmidt die fällige Rentenanpassung von 8,3 Prozent einfach ausfallen. Er ließ sie einfach mal kurz durchs Loch fallen. Was bei Kanzler Schmidt gang und gäbe war, das wird bei Kanzler Kohl und auch bei mir niemals möglich sein.
- Doch, das ist das Kontrastprogramm.
Fassen wir die Schlagworte der Woche, die Rentenworte der Woche, doch mal zusammen: Diebstahl, Betrug, Rentenkürzung
- drei Vorwürfe, drei Selbsttore der SPD.
Ich mache noch weiter. Die Linie der sozialdemokratischen Rentenpolitik ist ein Zickzackkurs mit eingebauter Drehung. 1990 rief Rudolf Dreßler nach einer scharfen Begrenzung der Sonder- und Zusatzrenten. Ich zitiere:
Blüm versagt beim Abbau der Luxusrenten. Blüm läßt die früheren Bonzen der SED-Diktatur mit ihren fetten Zahlungen aus der Staatskasse Rentner spielen, als wäre nichts gewesen. Das ist ein sozialer Skandal ohne Beispiel.
Das war Originalton Dreßler. Ich kann ihn nicht so gut nachmachen; er bringt das ein bißchen schärfer. Ich habe aus der „Morgenpost" vom 16. Februar 1991 zitiert.
Jetzt, im Februar 1996, will die SPD jene Grenzen kappen, die sie 1991 forderte und mit beschlossen
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
hat. Die will sie 1996 beseitigen. Ich wiederhole: 1991 forderte die SPD die Begrenzung der Zusatz- und Sonderrenten; 1996 nennt die SPD dieselben Grenzen „Rentenstrafrecht".
Das ist eine Rentenpolitik von beachtlicher Inkonsequenz. Das ist keine rentenpolitische Wende, das ist ein rentenpolitischer Salto mortale.
Originalton Dreßler: „Das ist ein sozialer Skandal ohne Beispiel." Jetzt frage ich Sie: Wo sitzt der soziale Skandal? Auf der Regierungsbank sitzt er nicht.
- Ich will die Grenzen doch nicht aufheben, die er gefordert hat! Wenn das ein rentenpolitischer Skandal ist - Dreßler muß mit Selbstetikettierungen auch selbst fertig werden.
Jetzt zur Rentensicherheit: Die Rentenformel ist und wird von mir nicht verändert. Ich will keinen Rentengipfel; ich brauche keinen Rentengipfel. Ich will das Rentensystem ja nicht verändern. Wir haben die Rentenversicherung sicherer gemacht. Gemeinsam, was ich ausdrücklich betone, haben wir die Rentenfinanzen von der Entwicklung der Arbeitslosigkeit stärker abgeschottet. Das haben wir zusammen gemacht. Die Rentenversicherung erhält von der Bundesanstalt für Arbeit jetzt den Beitrag, der dem Rentenanspruch des Arbeitslosen entspricht.
Bis 1994 zahlte die Bundesanstalt für Arbeitslose nur einen Rentenbeitrag auf der Basis des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe, gewährte allerdings einen Anspruch auf der Basis von 100 Prozent. Diese Lücke hat die Rentenkasse bezahlt. Das war ein Verlustgeschäft.
Nun sind die Finanzverhältnisse neu geordnet. Die Höhe des Anspruchs entspricht der Höhe des Beitrages. Auf diesem Wege erhält die Rentenversicherung allein 9 Milliarden DM mehr an Beitrag aus der Bundesanstalt für Arbeit.
Jetzt zur aktuellen Lage.
- Es ist ja ganz wichtig, Ihnen das Rentensystem zu erklären. Denn das, was Sie in dieser Woche alles erzählt haben, kann entweder nur auf völliger Unkenntnis des Rentensystems oder auf bösem Willen basieren.
Jetzt können Sie sich aussuchen, ob Sie dumm sind oder falsch, eines von beiden, dumm oder falsch.
In die Vorausschau der Rentenversicherungsträger gehen die amtlichen Schätzungen ein, die sich aus den Prognosen der wissenschaftlichen Institute speisen. Das sind im übrigen, Frau Babel, auch die amtlichen Zahlen des Herrn Rexrodt, das sind keine Blüm-Zahlen. Das sind also ganz verläßliche Zahlen.
- Ich muß Herrn Rexrodt gegen den Verdacht schützen, er würde unsolide Zahlen vorlegen. Das hat er wirklich nicht verdient. Das muß ich hier ganz offen sagen, falls da Zweifel geäußert werden.
Diese amtlichen Schätzungen werden mit den Rentenversicherungsträgern abgestimmt, und daraus wird der sich ergebende Beitragssatz errechnet. Wenn die tatsächliche Entwicklung schlechter als geschätzt ist, gerät die Rentenversicherung deshalb nicht ins Defizit - es muß niemand fürchten, die Rente könne nicht gezahlt werden -, denn sie hat ja einen Sicherheitspuffer, den wir Schwankungsreserve nennen, und zwar einen Sicherheitspuffer von einer Monatsausgabe. Das sind derzeit 24 Milliarden DM. Wenn diese Monatsausgabe am Ende eines Jahres unterschritten wird, muß sie aufgefüllt und der neue Beitragssatz festgesetzt werden.
Im Herbst 1994 hat die Bundesregierung zusammen mit den Rentenversicherungsträgern vorgeschlagen, den Beitragssatz für 1995 von 19,2 Prozent auf 18,6 Prozent zu senken, denn wir hatten einen Überschuß über dem Mindestsoll von 9 Milliarden DM. Dieses Geld durften wir gar nicht in den Kassen lassen, sondern mußten es den Beitragszahlern durch niedrigere Beiträge zurückgeben.
So sieht der Regelmechanismus das vor. So haben wir gehandelt.
Aber wir haben schon damals angekündigt, daß der Beitragssatz im Jahre 1996 wieder auf das alte Niveau steigen müsse. Nun haben wir 1996 einen Beitragssatz von 19,2 Prozent. Das ist derselbe Beitragssatz, der zwölf Monate zuvor galt. Das ist auch derselbe Beitragssatz, wie er in den Jahren 1985 und 1986 galt, nur mit dem Unterschied, daß die Rentenversicherung 1985 und 1986 nicht den Finanztransfer von 16 Milliarden DM zu verkraften hatte. Dennoch ist es ein Beitragssatz wie 1985/86.
Während - das gehört auch zu der Erfahrung - die Beitragssatzsenkung 1995 um 0,6 Prozent von niemandem beachtet wurde, wurde die Anhebung des Beitragssatzes 1996, die eine Rückkehr zum vorigen Beitragssatz war, von allen beklagt. So ist das: Beim Geben hört man nichts, beim Nehmen viele Klagen. Aber lassen wir das beiseite!
Zur Entwicklung 1995: Die Pflichtbeiträge waren 1995 2,1 Milliarden DM und die Schwankungsreserve 1,1 Milliarden DM niedriger als geschätzt. Das sind für 1996 zusammen 3,2 Milliarden DM. Fortgeschrieben bis 1997, bedeutet das eine Verschlechterung um 5,3 Milliarden DM. Um die Relationen zu verdeutlichen: Die Rentenausgaben betragen 300 Milliarden DM im Jahr.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Wenn jetzt die wirtschaftlichen Annahmen von Oktober 1995 im Januar 1996 amtlich nach unten korrigiert werden müssen, schmilzt die Reserve im Jahre 1996 voraussichtlich weiter ab, ohne daß die Rentenversicherung in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Im Jahreswirtschaftsbericht wird das Wachstum 1996 statt auf 2,4 Prozent - wie im Oktober 1995 - jetzt auf 1,5 Prozent geschätzt. Für die Zahl der Beschäftigten wird jetzt eine Abnahme um 175 000 statt einer Zunahme um 200 000, wie im Oktober 1995 geschätzt, unterstellt. Das bedeutet eine Mindereinnahme von 4,6 Milliarden DM.
Die 3,2 Milliarden DM aus 1995, die 1997 auf 5,3 Milliarden DM auflaufen, und die Mindereinnahmen aus der Korrektur der Schätzannahmen - das sind zusammen 9,9 Milliarden DM. Das entspricht einem Beitragsschub von 0,6 Prozent. Dieser Beitragsschub muß verhindert werden.
Unsere Antwort auf den drohenden Beitragsschub heißt vor allem: sparen, sparen, sparen.
Wir sparen erstens für die Arbeitnehmer, deren Beitragsbelastung die Grenze erreicht hat, zweitens für die Arbeitgeber - wir wollen die Arbeitsplätze nicht teurer machen -, drittens für die Schuldenkasse und viertens auch für die Rentner. Denn je höher die Beiträge sind - das ist die Wirkung der Nettoformel -, desto geringer ist die Rentenanpassung.
Wir sparen nicht für irgendwelche Ölscheichs, für irgendwelche Sparkassen, wir sparen für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Rentner. Das ist der Sinn des Sparens.
Wir müssen sparen, ohne das System zu verändern. Und wir können sparen, ohne das System zu verändern. Das Rentensystem hat mehr als einen Hebel, um auf die Herausforderungen zu antworten. Wir bedienen diese Hebel.
Der erste und wichtigste Hebel ist die Anhebung des tatsächlichen Rentenalters. Meine Damen und Herren, es kann nicht richtig sein, auf die gestiegene Lebenserwartung - Gott sei Dank werden wir alle, so hoffen wir jedenfalls, älter als unsere Großeltern - mit einem früheren Renteneintritt zu antworten. Das wäre sozialpolitische Geisterfahrerei.
Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt heute drei Jahre unter der gesetzlichen Altersgrenze. Wenn das durchschnittliche tatsächliche Renteneintrittsalter nur um ein Jahr angehoben wird, hat die Rentenversicherung 27 Milliarden DM mehr in der Kasse.
17 Milliarden DM weniger Ausgaben und 10 Milliarden DM mehr Einnahmen - das entspricht fast zwei Beitragspunkten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich das durchschnittliche tatsächliche Rentenalter dem gesetzlichen Renteneintrittsalter näherte.
Dann will ich Sie noch daran erinnern - auch angesichts von Schlagzeilen, die ich heute wieder gelesen habe -: Bei der Rentenreform 1989, mit Zustimmung der SPD durchgesetzt, ging man davon aus, daß das Renteneintrittsalter von Frauen und Männern mittelfristig in mehreren Schritten auf 65 angehoben wird, freilich sanft, wie das in der Sozialpolitik sein muß. Falls Sie es vergessen haben: Das haben wir 1989 in der Rentenreform beschlossen.
Die wichtigste Aufgabe ist also, diese Welle der Frühverrentung zu stoppen; denn sie schlägt in die Rentenkasse ein Loch. Das Loch muß gestopft werden, indem die Frühverrentung gestoppt wird. 100 000 Frührentner kosten die Rentenkasse - ich habe die Zahl schon oft genannt - 12,7 Milliarden DM, die Kassen der Arbeitslosenversicherung 9,2 Milliarden DM.
Die Unternehmer zahlen 1,8 Milliarden DM dazu. Das entspricht einer Lastenverteilung zwischen Betrieb und Sozialkassen von 8 zu 92 Prozent. Das ist eine Personalpolitik zu Lasten der Sozialkassen, ausgetragen auf dem Buckel der Beitragszahler, vor allen Dingen derer in kleinen Betrieben, die sich solche Sozialpläne nicht leisten können. Das ist eine Personalpolitik der Großbetriebe, die vom Mittelstand bezahlt wird. Da machen wir nicht mit.
Was früher eine Ausnahme war - pragmatische Ausnahmen sind immer möglich -, ist heute zur Routine, zur Regel geworden. 1991 gab es 54 000 Frührentner, 1995 waren es 300 000. Sie kosten allein die Rentenversicherung 38 Milliarden DM.
Diesen Zahlen müssen Sie die Belastungen durch Altersübergangsgeldbezieher hinzufügen. Das ist aber ein geschlossener Kreis, es kommen keine neuen hinzu, während die Zahl derjenigen, die die Frühverrentung in Anspruch nehmen, immer größer wird, wenn wir diese Tendenz nicht stoppen.
Zur Klarstellung will ich auch sagen - weil das oft verwechselt wird -: Die Vorruhestandsregelung, die wir 1984 haben, zeitlich befristet bis 1988, hat die Sozialkassen kein Geld gekostet.
Wir arbeiten mit den Sozialpartnern an einem gemeinsamen Vorschlag gegen die Frühverrentung. Ich will hinzufügen: je mehr Gemeinsamkeit, desto besser. Wenn wir es dabei auch noch gemeinsam schaffen, einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu finden, dann ist diese neue Regelung nicht nur finanziell besser, sondern auch human erträglicher.
Ich sage Ihnen voraus: Bis wir diese Regelung treffen, wird es genauso viele Proteste geben wie bei der Abschaffung des Schlechtwettergeldes. Wenn wir sie dann getroffen haben, werden sich die Partner ganz schnell auf die neue Lage einrichten, und sie werden wie beim Schlechtwettergeld bessere Lösungen als
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
die heute von der Staatskasse finanzierte Regelung finden.
Lösungen, die nur von anderen bezahlt werden, regen die Phantasie nicht an.
Ich möchte für die Altersteilzeit werben. Sie kommt zwei Wünschen der älteren Arbeitnehmer entgegen; denn die älteren Arbeitnehmer bleiben zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, aber sie arbeiten weniger als die jungen.
Es ist doch eigentlich selbstverständlich: Warum soll ein 60jähriger genausoviel arbeiten wie ein 20jähriger? Warum können wir nicht zu den alten Lebensmustern zurückkehren und uns von der Erwerbsarbeit Schritt für Schritt in den Ruhestand bewegen?
Ein weiterer Hebel - ich rede jetzt von den Hebeln -: Die Ausgaben der Rentenversicherung für Rehabilitation sind aus den Nähten geplatzt. Sie betrugen 1991 6,5 Milliarden DM und steigerten sich im letzten Jahr auf 9,8 Milliarden DM. Das kann nicht gesundheitlich begründet werden; 1991 war doch auch kein rehabilitationsfreies Jahr. Wenn wir auf den Stand von 1991 zurückkehren könnten, gäbe es immer noch Rehabilitationsmaßnahmen. Es wäre doch kein rehabilitationspolitischer Kahlschlag.
Ich will hinzufügen: Auch hier müssen wir Sparen mit Gestalten verbinden und nicht nur etwas zurücknehmen. Wenn die ambulante Rehabilitation stärker neben die stationäre tritt, dann kann das in vielen Fällen - nicht in allen - auch gesundheitlich besser sein.
Nächster Hebel: Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten haben sich durch die Rechtsprechung der Sozialgerichte verändert. Die Rentenversicherung tritt nach dieser Rechtsprechung ein, wenn für die Erwerbsgeminderten kein entsprechender Arbeitsplatz gefunden wird.
Aber dieses Arbeitslosenrisiko kann nicht von der Rentenversicherung getragen werden. Es ist doch der Sinn eines gegliederten Systems, daß jeder für sein Risiko zuständig ist. Dieses System ist zielgenauer als die große Gemeinschaftskasse, aus der alles bezahlt wird.
Wir werden mit diesen und anderen Maßnahmen eine Beitragssatzexplosion in der Rentenversicherung vermeiden. Ich lade Sie ein - das sind nicht bloß große Worte -, mit dazu beizutragen, das Vertrauen in unsere Rentenversicherung nicht zu ruinieren und die Beitragssätze im Interesse der Arbeitnehmer, im Interesse der Arbeitsplätze und im Interesse der Rentner stabil zu halten.
Die große Aufgabe des Sozialstaates ist Arbeit für alle. Das „Bündnis für Arbeit" ist auch eine Koalition für die Rentensicherheit, und wir brauchen mehr Arbeitsplätze, moderne, produktive Arbeitplätze. Je
höher die Ergiebigkeit der Arbeit ist, desto eher können wir auch die Folgen der demographischen Entwicklung ausgleichen.
Von 1950 bis 1990 stieg das reale Sozialprodukt um 476 Prozent, die Zahl der Erwerbstätigen aber nur um 40 Prozent. Das beweist: Die Steigerung des Sozialproduktes hängt nicht allein von der Kopfzahl der Beschäftigten, sondern stärker von der Produktivität, von der modernen, ergiebigen Arbeit ab. Deshalb gefährden alle Verweigerer des technischen Fortschritts, alle die, die aussteigen und in eine nostalgische Idylle zurückkehren wollen, die Rentensicherheit; denn diese ist in unserem Land nur mit wirtschaftlichem Fortschritt und Wachstum zu erhalten.
Die Sozialabgaben bis zum Jahre 2000 auf unter 40 Prozent zu senken ist, wie ich zugebe, ein ehrgeiziges Ziel. Aber wir werden dieses Ziel mit allen Kräften und gegen alle Widerstände erreichen. Wir werden dieses Ziel auf dieser Strecke erreichen.
Voraussetzungen sind Aufschwung durch Innovation und Entlastungen auch bei den Lohn- und Lohnzusatzkosten. Wir sparen in der Sozialpolitik für mehr Arbeit, und mehr Arbeit spart auch in der Sozialpolitik. Soziale Sicherheit wird immer aus der Arbeit bezahlt. Sie kann organisiert sein, wie sie will, von noch so intelligenten Köpfen erdacht; sie wird immer aus der Arbeit bezahlt. Eine andere Quelle gibt es nicht. Sozialpolitik für mehr Arbeitsplätze, mehr Arbeitsplätze für Sozialpolitik, das ist unser soziales Ziel.
Innovation für neue Produkte, Innovation für neue Arbeitsorganisationen, Innovation für intelligentere Arbeitszeiten, Innovation für neue Beschäftigungsfelder wie Umwelt, Haushalt und Pflege - eine Welle von Initiativen muß durch unser Land gehen. Wir brauchen eine Gegenbewegung gegen die Überschwemmung von Pessimismus, Depression, Mißmut und Jammern.
- Ja, darauf sind Sie spezialisiert. In Mißmut und Jammern sind Sie besser.
Unsere gute alte Rentenversicherung hat das glücklichste Ereignis der Deutschen in diesem Jahrhundert, die deutsche Einheit, unterstützt. Sie begleitet weiterhin den Einigungsprozeß. Unsere gute alte Rentenversicherung hat die größten Katastrophen dieses Jahrhunderts überlebt: zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform. Sie wird auch den Pulverdampf der Agitation der SPD überleben. Wer Weltkriege überlebt, überlebt auch die Agitation der SPD.
Ich lade alle ein, zur großen Rentengemeinsamkeit, zum Rentenkonsens zurückzukehren. Ein Ren-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
ten-Hickhack nützt der Sicherheit unserer Renten nichts. Angstmachen ist ein schlechtes Fundament für das Vertrauen in unsere Rentenversicherung. Unsere Rentenversicherung verdient Vertrauen.
Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt, der uns heute morgen zusammengeführt hat, lautet „Regierungserklärung zur aktuellen Lage der Rentenversicherung". Der dafür verantwortliche federführende Minister hat es fertiggebracht, in den 47 Minuten, die er für die Abgabe der Erklärung benötigt hat, diesem Parlament nicht in einem einzigen Satz diese Lage zu erläutern. Nicht in einem einzigen Satz!
Weil das so ist, meine Damen und Herren, wird die sozialdemokratische Bundestagsfraktion jetzt diese Rolle übernehmen müssen.
Möglicherweise werden Sie sich noch bei manchen Stellen, an denen Sie soeben Beifall geklatscht haben, weil es Ihnen so viel Freude gemacht hat, überlegen müssen, wie Sie sich denn in den nächsten Tagen und Wochen mit den gleichen feuilletonistischen Unterhaltsamkeiten Ihres Sozialministers auseinandersetzen, die Sie eben in diesen 47 Minuten für opportun gehalten haben.
Jeder, der sich in diesem Parlament mit Rentenpolitik zu befassen hat, kann sich an den 9. November 1989 erinnern. Damals fiel nicht nur die Mauer in Berlin, und damals begann nicht nur die deutsche Einheit. Am gleichen Tag wurde in diesem Hause die Rentenreform 1992 beschlossen.
Ich habe bei dieser Gelegenheit für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unter anderem folgendes gesagt - ich zitiere -:
Wir schaffen die gesetzlichen Grundlagen ... für einen Regelmechanismus zur sozial ausgewogenen Lastenverteilung. Ob er in der politischen Praxis funktionieren wird, hängt davon ab, inwieweit die an diesem Reformgesetz beteiligten Parteien der Versuchung widerstehen werden, das Erreichte wieder zu zerreden.
Die Reform, die jetzt beschlossen wird, hält so lange und schafft so lange Sicherheit, wie der politische Konsens in den Eckwerten bestehenbleibt.
Ich zitiere das, meine Damen und Herren, weil heute der Zustand eingetreten ist, vor dem ich
damals gewarnt habe: Die Bundesregierung hat das gemeinsame Werk der Rentenreform durch eine Kette von einseitigen direkten und indirekten Manipulationen in den Strudel einer kurzfristig taktierenden Haushalts- und Schuldenpolitik hineingezogen und den Konsens zerstört.
Wie in den Jahren vor der Rentenreform 1989 wird das von den Rentenversicherungsträgern gemeldete Finanzierungsloch auch jetzt von Tag zu Tag größer. Mit jeder neuen Modellrechnung, die einer irritierten Öffentlichkeit vorgeführt wird, steigt der für die kommenden Jahre ausgerechnete Beitragssatz. Wie in den Jahren vor der Rentenreform 1989 wird ein Loch gestopft, indem das nächste aufgerissen wird. Herr Blüm, so wird Unsicherheit erzeugt, wo Verläßlichkeit erforderlich wäre.
Wer auf die tatsächliche Situation der Rentenversicherung hinweist, wurde in den letzten Tagen, wurde jetzt in 47 Minuten vom Bundesarbeitsminister bezichtigt, Horrormeldungen zu verbreiten oder sich als Sprengmeister des Sozialsystems zu betätigen. Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus: Nicht wer die Wahrheit sagt, sondern wer wie Herr Blüm heute morgen die Öffentlichkeit über die tatsächliche Lage in der Rentenversicherung hinter das Licht führt, wer täuscht oder schwindelt, der ist auf dem Weg zur Zerstörung dieses Rentensystems, meine Damen und Herren.
Damit das zwischen Ihnen und mir, nicht zwischen Herrn Blüm und mir, klar ist: Die SPD verfügt nicht über andere Informationen als Herr Blüm selbst. Der Unterschied ist nur: Wir machen sie öffentlich, er will sie verheimlichen, weil sie seine falsche Politik offenbaren.
- Nur Ruhe!
Aus diesen Informationen ergibt sich einwandfrei, daß seine Beschwichtigungsparolen auch heute morgen nichts als Unwahrheiten und Ausflüchte sind.
Erstens. Nach den Annahmen des Jahreswirtschaftsberichts und nach geltendem Recht muß der Beitragssatz schon im kommenden Jahr auf 20 Prozent steigen. Haben Sie das hier heute morgen von Herrn Blüm gehört?
1998 kann er vorübergehend etwas zurückgenommen werden, klettert aber 1999 schon wieder auf
20 Prozent. Haben Sie das hier heute morgen gehört?
Die gesetzlich vorgeschriebene Schwankungsreserve von einer Monatsausgabe wird zum Jahres-
Rudolf Dreßler
ende 1996 mit 6,3 Milliarden DM Defizit klar unterschritten. Haben Sie das heute morgen gehört?
Wo sind denn die Deckungsvorschläge, meine Damen und Herren? Das wäre Aufgabe der Regierungserklärung heute morgen gewesen!
Zweitens. Auch die geplante Umstellung des Anpassungsverfahrens in den neuen Ländern vom sogenannten Ex-ante-Verfahren auf das Ex-post-Verfahren reicht nicht aus, die gesetzliche Mindestreserve zum Jahresende 1996 zu garantieren. Auch der Beitragsanstieg im Jahre 1997 auf 19,9 Prozent bliebe alarmierend. Haben Sie das hier heute morgen gehört?
Ich nicht.
Drittens. Selbst wenn zusätzlich zur Änderung der Anpassungsformel Ost der Beitragssatz schon zum 1. Juli 1996 per Gesetz auf 19,5 Prozent erhöht würde, was Herr Blüm gestern für die Bundesregierung ausdrücklich dementiert hat, würde die gesetzliche Mindestreserve zum Jahresende 1996 nicht eingehalten werden können. Auch am Beitragsanstieg auf 20 Prozent ab 1999 würde sich nichts ändern.
Dieses nenne ich in der Tat alarmierend. Herr Blüm, es wäre Ihre Pflicht gewesen, vor dem deutschen Parlament diese einfachen Wahrheiten, die Ihnen schriftlich seit dem 23. Januar 1996 bekannt sind, zu offenbaren. Das wäre Ihre Pflicht gewesen.
Ich habe 47 Minuten Lyrik und Angriffe gegen die Opposition gehört. Das zweite ist in Ordnung, Herr Blüm: Wenn man alle ist, muß man sich über Wasser halten und die Opposition beschimpfen. Aber statt zumindest den Mitgliedern Ihrer Regierungskoalition die Wahrheit über die Rentenversicherung zu sagen, verkaufen Sie Lyrik. Es ist unerhört, was Sie hier abgeliefert haben.
Die Konsequenz, meine Damen und Herren, ist: Niemand kann heute auf der Grundlage der uns bekannten Daten sicher sein, ob die Rentenkassen im kommenden Herbst nicht leer sein werden und Renten nur noch auf Pump gezahlt werden können, wenn sich der von der Bundesregierung politisch mit verantwortete Konjunkturabschwung fortsetzen sollte und sich die ökonomischen Rahmendaten gegenüber den Annahmen des Jahreswirtschaftsberichtes 1996 noch weiter verschlechtern. Wir stehen heute vor einem Scherbenhaufen, und der Verantwortliche ist niemand anders als der Bundesarbeitsminister.
Statt die Linie des Rentenkonsenses weiter zu verfolgen und seiner Sorgfaltspflicht für die Rentnerinnen
und Rentner, für die Beitragszahler zu genügen, hat er zugelassen, daß die Rentenversicherung zur Manövriermasse der Haushaltspolitik geworden ist, meine Damen und Herren.
Der Kollege Graf Lambsdorff erklärt offen, künftig könnten wir uns die Dynamisierung der Renten nicht mehr leisten. Geradezu dreist ist es, daß Graf Lambsdorff in diesem Zusammenhang das Wörtchen „wir" gebraucht, als ob ausgerechnet er persönlich Pflichtbeitragszahler dieses Systems wäre oder seine Altersvorsorge auf dessen Funktionieren angewiesen wäre.
Meine Damen und Herren, daß es soweit gekommen ist und der wirtschaftspolitische Sprecher der kleineren Koalitionsfraktion auf diese Weise jenes für völligen Unsinn erklärt, für das der Bundesarbeitsminister der gleichen Koalition angeblich noch wie ein Löwe kämpft, zeigt, daß die Rentenpolitik dieser Regierung bankrott ist.
Dabei geht es nicht um irgendeine Panne; es handelt sich vielmehr um den Ausdruck des generellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Konkurses dieser Bundesregierung.
In dem Zustand der Rentenversicherung, den wir heute zu beklagen haben, manifestieren sich die drei wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Kardinalfehler der Regierung Kohl: erstens das völlige Versagen in der Beschäftigungspolitik, zweitens die gezielte Umverteilung von unten nach oben und drittens der Betrugsversuch bei der Finanzierung der deutschen Einheit, der Versuch, den Deutschen im Osten goldene Berge zu versprechen und gleichzeitig die Deutschen im Westen in dem Irrtum zu wiegen, alles sei ohne eine solidarische Anstrengung und ohne einen neuen gerechten Lastenausgleich zu erzielen.
Das alles hat dazu geführt, daß der Rentenversicherung seit am 9. November 1989 die Rentenreform verabschiedet wurde, eine Kette von Aderlässen zugemutet wurde. Jetzt, im Januar 1996, erleben wir das Resultat. Die Rentenversicherung, die jahrelang als Blutspenderin für die verfehlte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Bundesregierung herhalten mußte, ist ausgeblutet und muß selbst auf die Intensivstation.
Der erste Sündenfall war der politische Rentendiebstahl noch vor Inkrafttreten der Rentenreform 1992. Ich meine, die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages von 18,7 Prozent auf erst 17,7 Prozent und später auf 17,5 Prozent bei gleichzeitiger Erhöhung des Beitrages zur Bundesanstalt für Arbeit um 2,5 Prozentpunkte. Das war die Zweckentfremdung eines Reservepolsters. Das Eigentum der Beitrags-
Rudolf Dreßler
zahler der Rentenversicherung ist damals zur Finanzierung von allgemeinen Staatsausgaben, nämlich der Stützung des Arbeitsmarktes im Osten, mißbraucht worden.
Das Rentenüberleitungsgesetz war der nächste Schritt. Falsch war - das haben wir bei der Debatte und bei der Beratung immer wieder hinterlassen -, daß der Bundeszuschuß nicht zum Ausgleich der exorbitant hohen Arbeitslosigkeit im Osten erhöht wurde, und falsch war auch, daß die Auffüllbeträge nicht aus Steuermitteln, sondern vom Beitragszahler finanziert werden mußten.
Richtig bleibt trotzdem, daß die sozialdemokratische Fraktion dem Rentenüberleitungsgesetz schließlich zugestimmt hat. Das geschah nur, und das habe ich auch zu Protokoll gegeben, weil wir es bei den gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag und im Bundesrat nicht verantworten konnten und durften, das Rentenüberleitungsgesetz an der falschen Finanzierung durch die Mehrheit dieses Hauses scheitern zu lassen.
Zu den Fehlern des Bundesarbeitsministers, die heute ausgebadet werden müssen, gehört auch die völlige Tabuisierung des Fremdrentengesetzes.
Heute morgen hat er wieder die Verdrängung hier zu Protokoll gegeben.
Ich zitiere, was ich hierzu am 21. Juni 1990 im Bundestag ausgeführt habe, Herr Blüm; ich erinnere Sie daran. Ich habe gesagt:
Schon unmittelbar nach dem Fall der Mauer hat die SPD die Auffassung vertreten, daß das Fremdrentengesetz seine Berechtigung verloren hat. Sofort nach dem Fall der Mauer
- so habe ich hier gesagt -
hätte der Bundesarbeitsminister Blüm aktiv werden müssen. Die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze hatte
- weiteres immer noch Zitat -
dem bisherigen Fremdrentengesetz buchstäblich über Nacht die Grundlage entzogen.
Damals haben Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion mir deshalb von diesem Pult aus Sozialneid vorgeworfen, und Herr Blüm selbst hat sich hier hingestellt und diese Bemerkung zum Fremdrentengesetz wörtlich als „schäbige Rede" skizziert. DaS ist die Erinnerung an das Jahr 1990.
Heute sind die Fremdrentenleistungen auf rund 11 Milliarden DM jährlich angewachsen. Die Bundesregierung hat die Aussiedlerzahlen nicht begrenzt, wie sie es im Asylkompromiß versprochen hat. Weder wurde das Fremdrentengesetz geschlossen noch dessen Finanzierung neu geregelt. Das Ergebnis sind jährlich rund 11 Milliarden Deutsche Mark, die nicht die Rentenversicherung reklamiert, sondern die Mehrheit dieses Hauses zu Lasten der
Beitragszahler, und das Dilemma heute in Richtung der Liquidität dieses wichtigen Systems.
Der nächste Sündenfall: Trotz unserer Proteste wurden die Leistungen aus dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz den Beitragszahlern der Rentenversicherung aufgebürdet.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Diese Regierung hat Mal für Mal die Rentenversicherung als Reservekasse für ihre bankrotte Haushaltspolitik mißbraucht. Sie ist objektiv überfordert worden durch Aufgaben, für die sie nicht gedacht war, und dieses heute der Rentenversicherung oder besser noch den Sozialdemokraten in die Schuhe zu schieben, das ist ja nun geradezu lächerlich.
Auch die angeblich so gigantische Mißbrauchswelle bei den Altersrenten ab dem 60. Lebensjahr für Arbeitslose ist in Wirklichkeit zum großen Teil Ausdruck von Kosten der deutschen Einheit, die aus der Rentenversicherung statt aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Die Zunahme des Zugangs an Arbeitslosenaltersrente ist nämlich im wesentlichen nur die Spätfolge des bis Ende 1992 praktizierten Altersübergangsgeldes in den neuen Bundesländern, das heißt einer Sonderregelung, die zwar wegen des Zusammenbruchs des Arbeitsmarktes Ost notwendig war, die aber weder als Mißbrauch verunglimpft noch der Finanzlast der Rentenversicherung zugeschlagen werden darf.
Im übrigen: Wenn es Mißbrauch wäre, dann gehörte ja Herr Blüm selbst zu den Missetätern.
Die Bugwelle des Altersübergangsgeldes ist seit Jahren vorhersehbar. Ich halte es für ein ausgesprochenes Armutszeugnis für den Arbeitsminister, daß er das Problem, das er mit verursacht hat, erst im Herbst vergangenen Jahres entdeckt haben will.
Noch schlimmer ist es, daß er es dann so ungeschickt gehandhabt hat, daß in den Betrieben eine regelrechte Torschlußpanik entstanden ist. Die Vorruhestandswelle, die der Minister jetzt so wacker zu bekämpfen vorgibt, hat er zum großen Teil in den letzten Jahren provoziert, meine Damen und Herren.
Vor allem aber trägt die gesetzliche Rentenversicherung die Lasten der Beschäftigungsmisere, die diese Regierung und dieser Arbeitsminister zu verantworten haben. Hier liegt des Übels Kern, denn das Finanzierungsproblem der Rentenversicherung ist in erster Linie kein Rentenproblem; es ist ein Arbeitsmarktproblem.
Die aktuelle Finanzlage der Rentenversicherung ist desolat, das ist wahr. Es gibt schon rein rechnerisch keine Möglichkeit mehr, durch kurzfristige Einsparungen zum Jahresende 1996 noch die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen liquiden Mindestschwankungsreserve von einer Monatsausgabe sicherzustellen. Dies gilt auch für den von der Bun-
Rudolf Dreßler
desregierung vorbereiteten Kahlschlag bei den Altersrenten mit 60 Jahren für Arbeitslose. Ich sage das den Koalitionsfraktionen, weil Herr Blüm diese Informationen an sie offensichtlich nicht weitergibt.
Diese Einsparungen können allenfalls mittelfristig wirksam werden, ganz abgesehen davon, daß die Zahl der Arbeitslosen und die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit zwangsläufig ansteigen müssen, wenn älteren Arbeitslosen die Möglichkeit des Rentenzugangs ab dem 60. Lebensjahr genommen wird.
Nachdem die Regierung die Finanzen der Rentenversicherung an die Wand gefahren hat, kann das Schiff mit Flickschustereien wie bisher nicht mehr flottgemacht werden, vor allem nicht, wenn sich die Bundesregierung nicht von ihrer verhängnisvollen Strategie lossagt, die Beitragszahler für die deutsche Einheit zahlen zu lassen.
Wir verlangen deshalb die Einberufung einer neuen großen Rentenrunde. Vor allem aber verlangt die SPD-Bundestagsfraktion, daß die Karten nun offen auf den Tisch gelegt werden. Das Gemauschel mit den Zahlen und der Zustand, daß die Öffentlichkeit nur gerüchteweise und das Parlament nur aus Presseveröffentlichungen über die wahre Lage der Rentenfinanzen unterrichtet werden, muß aufhören.
Ich will an dieser Stelle ein persönliches Wort an Herrn Blüm richten. Es ist wahr, Herr Blüm - dazu stehe ich, und dafür habe ich meinen Kopf immer hingehalten, manchmal gegen erhebliche Turbulenzen der Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1989 und innerhalb meiner eigenen Partei -, der Rentenkonsens ist wichtiger als wir beide, aber auch wichtiger als jede Koalition. Ich habe dazu immer gestanden. Niemand kann mir vorwerfen, daß ich Turbulenzen in der Rentenversicherung, die ich erfahren habe, auf dem Markt ausgetragen hätte.
Als ich von diesem Dilemma erfuhr, Herr Blüm, habe ich mich gefragt: Wo bleibt nun der Anruf und das Gespräch zur Bereinigung der Lage? Dann habe ich Anfang dieser Woche auf Befragen von Journalisten Zahlen mit der Stelle hinter dem Komma genannt. Herr Blüm, Sie hätten, als Sie das lesen mußten, wissen müssen, daß ich die gleichen Papiere habe wie Sie.
Was haben Sie gemacht? Anstatt Ihre Fraktion und die Regierung zu unterrichten, haben Sie in einem Pressegespräch erklärt, dies sei alles frei erfunden und stimme nicht. Daraufhin hat die SPD-Fraktion eine Aktuelle Stunde beantragt, die Sie gezwungen hat, eine Regierungserklärung abzugeben.
In dieser haben Sie, Herr Blüm, gerade gesagt, unsere Forderung nach einem Gespräch, nach einer großen Rentenrunde zur Bereinigung dieses wirklich katastrophalen Ergebnisses sei nicht nötig. Ich frage Sie allen Ernstes, ob Sie sich nicht besser bis zum Ende dieser Debatte das hier Gesagte noch einmal überlegen.
Bleibt das stehen - ich schaue dabei auch Herrn Schäuble, Herrn Solms und Herrn Glos an, die besondere Verantwortung in der Führung der Koalitionsfraktionen haben -, dann wird die SPD für das, was ab heute in der Rentenpolitik folgt, keine Verantwortung mehr zu übernehmen bereit sein.
Überlegen Sie sich genau, ob Sie den Satz, den Herr Blüm hier von sich gegeben hat, bis zum Ende dieser Debatte aufrechterhalten können.
Wir fordern in unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, daß die Bundesregierung kurzfristig eine aktualisierte Fassung des Rentenversicherungsberichts 1995 für die Jahre 1995 bis 2009 vorlegt und dabei das Endergebnis des letzten Jahres für die mittelfristige Rechnung der revidierten ökonomischen Annahmen des Jahreswirtschaftsberichtes berücksichtigt.
Im Rentenkonsens 1989 wurde vereinbart, daß die Bundesregierung im Jahre 1997 einen Bericht über die Auswirkungen der Erhöhung der Altersgrenzen auf die Arbeitsmarktlage, die Finanzlage der Rentenversicherung und andere öffentliche Haushalte vorzulegen hat. Der Sinn dieser Regelung liegt darin, daß der Gesetzgeber rechtzeitig vor Beginn der Anhebung der Altersgrenzen die Möglichkeit hat, diese Entscheidung zu überprüfen.
Das mindeste, was wir verlangen müssen, ist, daß die Bundesregierung jetzt den 97er Bericht über die Auswirkungen der Erhöhung der Altersgrenzen vorzieht und unverzüglich vorlegt, bevor sie eine Gesetzesinitiative zur Änderung der Vorruhestandsregelung einleitet. Wir halten die Situation für so ernst, daß wir als Bundestagsfraktion immer wieder daran erinnern, daß die Finanzierungsprobleme der Alterssicherungssysteme nicht nur die der gesetzlichen Rentenversicherung sind, sondern auch alle anderen Sicherungssysteme betreffen. Deshalb brauchen wir nicht zuletzt auch die Offenlegung der Verhältnisse in der Beamtenversorgung.
Nach Art. 17 des Beamtenversorgungs-Änderungsgesetzes von 1989 ist die Bundesregierung bereits seit Beginn der 13. Wahlperiode, also seit mehr als einem Jahr verpflichtet, einen Bericht über die Entwicklung der Beamtenversorgung in den nächsten 15 Jahren zu erstatten.
Diese Pflicht hat die Bundesregierung bislang verletzt. Der Bundesinnenminister mauert vor sich hin und hofft, daß es keiner merkt.
Das Ziel ist klar: Die privilegierten Versorgungssysteme sollen abermals aus der Diskussion herausgehalten werden, während die beamteten Experten und Empfänger von Ministergehältern öffentlich darin wetteifern, die Altersversorgung der kleinen Leute kaputtzureden.
Die SPD-Fraktion ist nicht mehr bereit, das gesetzwidrige Verhalten des Bundesinnenministers länger hinzunehmen, und verlangt die unverzügliche Vorlage des Versorgungsberichtes.
Rudolf Dreßler
Zusammengefaßt: Die SPD-Fraktion würde es im Interesse der Rentnerinnen und Rentner, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und des sozialen Friedens bedauern, wenn dies das Ende des Bemühens um eine einvernehmliche Rentenpolitik wäre. Es liegt an der Bundesregierung, zum Rentenkonsens zurückzukehren.
Das bedeutet: Erstens. Alle Zahlen müssen auf den Tisch.
Zweitens. Die Bundesregierung muß ernsthaft bereit sein, die falsche Finanzierung der deutschen Einheit auf dem Rücken der Beitragszahler zu korrigieren.
Drittens. Die Regierung muß ernsthaft bereit sein, die Finanzierung des Fremdrentengesetzes zu ändern.
Viertens. Beim Vorruhestand und bei der arbeitsmarktbedingten Berufs- und Erwerbsfähigkeit muß die Regierung eine Lösung anbieten, die die Zahl der Arbeitslosen nicht erhöht, den Tarifvertragsparteien ein attraktives Angebot zur Förderung der Teilzeitarbeit machen, die Arbeitgeber in angemessener Weise an den Kosten beteiligen und auch für jene älteren Arbeitnehmer sozialverträglich etwas anbieten, die arbeitslos werden, ohne in den Genuß von Sozialplänen zu kommen.
Gesundheitlich stark beeinträchtigten Arbeitslosen weiterhin den Zugang zur Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente zu ermöglichen, statt sie auf den Arbeitsmarkt zu verweisen, halten wir für selbstverständlich, und den Vertrauensschutz für bereits laufende und schon vereinbarte Sozialpläne zu gewährleisten ebenfalls.
Rentnerinnen und Rentner, aber auch Beitragszahler verlangen zu Recht die Abkehr von einer Politik der schleichenden Ausplünderung der Rentenkassen. Sie verlangen zu Recht, daß wieder Klarheit und Zuverlässigkeit in die Zukunft der Rentenversicherung gebracht wird. Sie verlangen ebenfalls zu Recht, daß wir das Sozialversicherungssystem vor den destruktiven Plänen der Partei der Besserverdienenden schützen.
Noch, meine Damen und Herren, ist es dazu nicht zu spät. Aber jetzt ist in der Tat die Bundesregierung am Zuge.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat erneut der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute morgen, 8.35 Uhr, habe ich den Text meiner Regierungserklärung der SPD übergeben.
Ausweislich der Seite 17 sind alle Zahlen zur Rentenversicherung in dieser Regierungserklärung enthalten.
Ich zitiere aus der der SPD vor dieser Debatte übergebenen Zahlenreihe die Zusammenfassung: 3,2 Milliarden aus 1995 und 1996, die 1997 auf 5,3 Milliarden aufwachsen. Mit den Mindereinnahmen aus der Korrektur der Schätzeinnahmen sind das zusammen 9,9 Milliarden. 9,9 Milliarden entsprechen einem Beitragsschub von 0,6. Dieser Beitragsschub muß verhindert werden.
Meine Damen und Herren, entweder hat der Kollege Dreßler diese Regierungserklärung nicht gelesen oder meine Rede nicht gehört.
Gespräche zum Rentenkonsens immer, Herr Kollege Dreßler; das dient der Rentensicherheit. Ein Rentengipfel schafft allerdings eine Rentendramatik, die der Sachlage nicht dienlich ist, die der Lösung der Probleme nicht dient. Gespräche und Konsens immer - Gipfeldramatik hilft nicht.
Ebenfalls zu einer Kurzintervention der Abgeordnete Dreßler.
Meine Damen und Herren, ich habe die Seite 17 gelesen. Da ich aber davon ausgehe, daß nur wenige in diesem Hause rentenpolitisch tätig sind, darf ich Ihnen jetzt die Übersetzung der Seite 17 in Zahlen nennen. Die Zahlen, die Herr Blüm hier genannt hat und die ihm wie mir vorliegen, bedeuten, daß vier gesetzgeberische Maßnahmen, die dieses Haus noch nicht erlebt hat, unberücksichtigt bleiben: die geplanten Kürzungen bei den Sozialhilfeleistungen, die noch nicht einmal im Gesetzgebungsverfahren sind, jede weitere Vorruhestandsregelung - kein einziger weiterer Fall wird mehr berücksichtigt - und die Anpassung des Rentensystems in den östlichen Bundesländern an das in den westlichen sowohl in bezug auf die Höhe der Renten als auch in bezug auf den Mechanismus, also eine Rentenerhöhung nur noch einmal pro Jahr. Wenn das umgesetzt worden ist, muß der Beitragssatz am 01. Januar 1997 auf 19,9 % steigen. Die Rentenversicherung hätte Ende Dezember immer noch ein Defizit von 5,2 Milliarden DM.
Das war die Übersetzung dessen, was Herr Blüm hier gerade vorgetragen hat. Ich sage noch einmal: Es wäre seine verdammte Pflicht gewesen, die Kolleginnen und Kollegen, die das alles nicht wissen, über diese gravierende Situation der Rentenversicherung dezidiert zu informieren.
Zu einer Entgegnung auf die Kurzintervention der Minister. Das geht nach der Geschäftsordnung.
Jetzt machen wir das bis zum bitteren Ende. - In der der Opposition um 8.35 Uhr übergebenen Regierungserklärung sind außer den Maßnahmen, die Herr Dreßler hier attackiert hat, die Kuren, die Rehabilitation, die Erwerbs- und Berufsunfähigkeit und weitere Maßnahmen genannt. Ich habe mich heute morgen keineswegs nur auf die Frühverrentung bezogen. Wir können die Exegese weitertreiben. Ich lade Sie ein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin am letzten Sonntag nach einer Feier der ChristlichDemokratischen Union in Bad Bergzabern zum 50jährigen Bestehen der CDU zu meinem Auto gegangen. Dann kam ein älterer Mann, Mitglied der CDU, den ich kannte, zu mir. Er war früher Arbeiter bei Gummi-Meyer in der Schreinerwerkstatt. Er hatte eine an diesem Sonntag erschienene Boulevardzeitung in der Hand und fragte mich wegen der Schlagzeile: Herr Geißler, jetzt habe ich 42 Jahre gearbeitet und immer ungefähr durchschnittlich verdient. Wird mir jetzt nach 42 Jahren die Rente gekürzt, und ist der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm ein Betrüger?
Daraufhin habe ich ihm gesagt: Ich bin, seit ich in der Politik tätig bin, auch in der Zeit, als ich Generalsekretär war, immer eng verbunden gewesen mit der Sozialpolitik. Die meisten im Saal wissen das. Ich war 13 Jahre Sozialminister. Ich kann es beurteilen, und ich weiß, was ich sage. Ich habe zu dem Mann gesagt: Sie brauchen keine Angst zu haben, weder davor, daß Ihre Rente gekürzt wird, noch davor, daß überhaupt an der Auszahlung der Rente gerührt wird, die Sie sich in Ihrem langen Arbeitsleben erarbeitet haben. Und dies ist die Wahrheit.
Es sitzen ja ältere Leute heute vormittag vor dem Fernseher und können Gott sei Dank an dem teilhaben, was wir miteinander bereden. Herr Dreßler, das, was Sie gesagt haben, stimmt insoweit nicht, als Sie offenbar das Zahlenwerk, das der Bundesarbeitsminister in seiner Regierungserklärung vorgelegt hat, nicht zur Kenntnis genommen haben.
Nun mag es sein, daß 25 Minuten kurz sind, wenn man sich selber auf eine Rede vorbereitet. Ich will das überhaupt nicht bestreiten. Aber er hat es hier gesagt.
Selbst wenn man das problematisiert - man kann die Schwankungsreserve, die Fremdrenten und auch versicherungsfremde Leistungen, alles, was hier in diesem Zusammenhang gesagt wird, zur Diskussion stellen, und wir müssen auch darüber reden -, wissen Sie ganz genau: Selbst wenn die Schwankungsreserve drunter oder ein bißchen drüber ist - mit der Sicherheit der Renten
der Leute, die mir an jenem Sonntag begegnet sind, und der Rentnerinnen und Rentner, die jetzt zuhören, haben Ihre Zahlenspiele nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun.
Damit die Leute jetzt wirklich wissen, was los ist, fegen wir das alles einmal weg, und ich sage das, was einer derjenigen, die es ja wissen müssen, nämlich einer der für die Rentenversicherung Verantwortlichen, der Erste Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, vor wenigen Tagen kurz und bündig auf die Frage im ZDF-„Morgenmagazin" „Sind die Renten in Ost und West sicher?" gesagt hat:
Die Renten sind sicher. Es gibt zur gesetzlichen Rentenversicherung keine Alternative. Die Gegenmodelle, die vorgetragen werden, etwa die Grundrente, sind weder in sich schlüssig noch rechtlich und sozialpolitisch machbar noch politisch mehrheitsfähig.
Die Renten sind sicher. Das beinhaltet natürlich, daß wir ständig an Reformen arbeiten müssen. Aber es ist ein Unterschied, ob ich wegen akuter Probleme, die begründbar sind und auf die wir noch zu sprechen kommen werden, eine Diskussion zum Beispiel über Schwankungsreserve, Vorruhestand, mißbräuchlich angewendete Frühverrentung habe - das ist ein Kapitel - oder ob es um die andere, zentrale Frage geht - das empfinden doch die Leute bei unserer Diskussion -: ob sie in der Tat Angst um ihre Renten haben müssen.
Ich füge noch etwas hinzu, weil das auch gestern eine Rolle gespielt hat. Wir haben in Europa unterschiedliche Rentensysteme. Wir haben zum Beispiel auch Rentensysteme wie in dem sonst gepriesenen und durchaus positiv zu bewertenden Holland, das aber eben nicht unser beitragsbezogenes, leistungsbezogenes Rentensystem hat. Das gilt auch für Schweden. Diese Länder reformieren völlig zu Recht ihr Sozialsystem. Sie ändern ihr Rentensystem, das sozusagen Versorgungscharakter hat, und steigen jetzt auf die leistungsbezogene Rente um. Deswegen sage ich noch einmal: Wir haben überhaupt keinen Grund, von diesem erfolgreichsten Alterssicherungsmodell aller Industrieländer in der Welt abzukehren, wenn andere inzwischen von ihrem falschen Modell umsteigen und unseres übernehmen.
Dr. Heiner Geißler
Kein vernünftiger Mensch würde eine erfolgreiche Alterssicherung, wie wir sie haben, in dieser Form in Frage stellen, wie es geschehen ist.
Wenn mich der Mann fünf Tage später gefragt hätte oder wenn ich ihm am nächsten Sonntag begegnet wäre, hätte er mir wahrscheinlich noch ganz andere Fragen gestellt. Denn dann hätte er nicht nur die Sache aus der Boulevardzeitung zur Kenntnis genommen. Vielmehr hätte er auch Aussagen aus diesem Industrieverband und aus jenem, von jener Großbank und einer anderen Bank gelesen, die immer in dasselbe Horn stoßen: Die Renten seien unsicher. Wenn man dann nachfragt, auch öffentlich, dann heißt es immer - ich könnte es zitieren -: So war das nicht gemeint; oder: Da bin ich mißverstanden worden. Das alles müssen wir immer wieder von diesen Leuten hören, wenn es wirklich zur sachlichen Diskussion kommt.
Aber es sind ja nicht die Leute, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse daran haben. Daß ein Rentenversicherungssystem mit einem Volumen von mehr als 300 Milliarden DM auch für internationale Finanzmärkte, für internationale Versicherungskonzerne ein interessantes Finanzpotential ist, kann ich verstehen. Die Diskussion kann man auch führen. Wenn diese Leute sie führen, muß man das akzeptieren, und dann kann man es sachlich widerlegen.
Jetzt frage ich aber einmal die Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei: Was soll man eigentlich von Ihren Äußerungen halten, die sich nahtlos an das anschließen, was wir in den letzten fünf oder sechs Monaten von der Boulevardzeitung bis zum Versicherungskonzern gehört haben? Daß das nichts mehr mit der Sorge um die Rentnerinnen und Rentner zu tun hat, sondern primitiver Wahlkampf ist,
kann ich Ihnen an einem einzigen Beispiel sagen, das mich wirklich erregt:
In Rheinland-Pfalz - das sollte jeder wissen - klebt die Sozialdemokratische Partei Plakate, auf denen steht: „Die CDU redet so lange über die Renten, bis sie kaputt sind."
Herr Dreßler, ich habe die Debatten von Mitte 1976 nachgelesen. Walter Arendt, Arbeits- und Sozialminister von 1969 bis 1976, war wirklich einer der großen Sozialpolitiker. Ich war damals lange Zeit Vorsitzender der Arbeitsministerkonferenz der Länder und habe dadurch Kontakte mit ihm gehabt. Wir haben zu der Zeit auch Debatten über die Renten geführt. Lesen Sie bitte einmal die Debatten nach, die Mitte der 70er Jahre geführt worden sind.
Damals ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Bundeskanzler Helmut Schmidt hat darunter gelitten, und Walter Arendt hat daraus nachher die Konsequenz ziehen müssen. Walter Arendt hat in
der Tat die Rentner verunsichert, indem er gesagt hat: Die Renten werden erhöht. Dann haben Sie - ich weiß nicht, wie oft - die Anpassung verschoben, und man hat die Rentenerhöhung staatlich festgesetzt und vieles andere mehr. Das wissen Sie alles ganz genau.
Ich will jetzt gar nicht von Frau Fischer reden, die auch von Rentenkürzung spricht. Ich will auch nicht von Frau Schüller reden, die die Jugend gegen das Alter ausspielt. Lassen wir das; das ist alles debattiert worden.
Ich zitiere jetzt, was Sie, Herr Dreßler, heute morgen gesagt haben, nicht in den letzten Tagen, sondern heute morgen angesichts der unbestreitbaren Situation, daß die Renten nicht gefährdet sind und daß bei allen Problemen, die Sie genannt haben und die auch Norbert Blüm genannt hat - er hat die Zahlen auf den Tisch gelegt, über die wir reden müssen -, kein Rentner auf die ihm zustehende Rente verzichten muß. Sie haben gesagt: Ausplünderung - den Begriff haben Sie heute morgen verwendet -, Scherbenhaufen, Diebstahl; die Rentenversicherung sei auf der Intensivstation. Das bedeutet ja wohl, daß sie offenbar unmittelbar vor dem Verenden ist. Lieber Herr Dreßler, was glauben Sie denn, was Sie mit solchen Ausführungen angesichts der objektiven Lage, die Sie selber bestätigen müssen, in den Köpfen und in den Herzen von Millionen von alten Leuten anrichten?
Das ist doch eine Katastrophe!
Egon Friedell, einer der großen Journalisten, hat einmal gesagt: Aus einem Waschlappen kann man keine Funken schlagen. Aber man kann es doch. „Fiction finding" statt „Fact finding" passiert hier. Es wird etwas erfunden aus parteipolitischen Gründen.
Ich halte das für eine Katastrophe, für eine absolute Katastrophe.
Als ich Generalsekretär war, ist etwas Schlimmes passiert. Tschernobyl ist in die Luft gegangen. Es gab große Diskussionen über dieses schlimme Ereignis. Eine Boulevardzeitung hat damals die Überschrift gebracht: „Auch in Deutschland: Vögel fallen tot vom Himmel" . Auf eine Anfrage von mir, wo denn welche heruntergefallen seien, antwortete der für diese Schlagzeile verantwortliche Redakteur: Herr Geißler, weisen Sie mal nach, daß keine vom Himmel gefallen sind! So läuft die Diskussion über die Renten zur Zeit ab.
Herr Dr. Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Urbaniak?
Gleich. Erst will ich noch die Conclusio ziehen.
Dr. Heiner Geißler
Der Auflagen- und Einschaltquotenjounalismus steht nämlich auch Pate für solche Schlagzeilen und Ausführungen; das muß man wissen.
Das folgende sage ich jetzt einmal allen, die heute am Fernseher dabei sind oder es in der Zeitung lesen - Herr Scharping ist gerade nicht da, aber Herr Dreßler; er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender -: Dies ist ein Parlament. Hier reden wir miteinander. Vielleicht sagen Sie einmal Ihrem Kollegen, daß er Zeitungen mit Schlagzeilen dieser Art,
damit sie über das Fernsehen verbreitet werden können, nicht von der zweiten Reihe dieses Parlamentes aus hochhalten sollte. Das ist eine Schande für unser Parlament, wenn Sie glauben, Sie könnten mit Postern Politik machen.
Außerdem ist auch diese Schlagzeile falsch.
- Jetzt melden sich schon zwei. Gleich.
Alles, was in diesem Zusammenhang von Agenturen - ich habe heute morgen auch wieder ein Beispiel dafür gesehen - und auch von Zeitungen verbreitet wird, die natürlich auf Auflagen angewiesen sind, muß unter dem Gesichtspunkt bewertet werden, daß die Medien ein Interesse daran haben, daß etwas Reißerisches in der Schlagzeile steht. Die Frage, über die der Redakteur dann zu entscheiden hat, ist ja nicht: Sind die Rentner verunsichert? Oder: Wie geht es denen? Vielmehr hat er die Auflage im Kopf. Deswegen finde ich, daß wir das kritisieren müssen. Wir dürfen allerdings auch nicht einem leider immer mehr um sich greifenden Auflagen- und Quotenjournalismus durch eine sich immer mehr steigernde Verantwortungslosigkeit im Gebrauch der politischen Sprache entsprechen.
Aristoteles hat einmal gesagt: Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten. 300 Jahre später hat ein großer griechischer Philosoph dasselbe gesagt, nur negativ ausgedrückt: Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Worte und die Ansichten über die Dinge. Diese Erkenntnis sollten wir als verantwortliche Politiker beachten und sollten nicht das nachmachen, was in Boulevardzeitungen an Schlagzeilen produziert wird, um Auflagen zu erhöhen.
Wenn Sie glauben, Sie könnten dadurch Stimmen gewinnen, dann täuschen Sie sich ganz gewaltig.
Wenn Sie wollen, können Sie vielleicht den Arbeitsminister beschädigen; Sie können auch den Versuch
unternehmen, die CDU zu beschädigen. Aber wenn Sie das auf dem Rücken der Rentnerinnen und Rentner machen, dann ziehen Sie sich selber in den Abgrund, weil Sie die Demokratie beschädigen.
Herr Dr. Geißler, dürfen die Kollegen jetzt die Fragen stellen? Ansonsten würde ich sie bitten, sich wieder zu setzen.
Ja.
Erst Herr Urbaniak.
Herr Kollege Geißler, Sie haben interessanterweise den ehemaligen Bundesarbeitsminister Walter Arendt zitiert. Wir haben damals angesichts einer schwierigen Wirtschaftslage die Situation in der Rentenversicherung gemeistert. Das war ja auch gut. Aber Sie können doch nicht behaupten, daß der Kollege Dreßler Dinge erfunden hat, wenn er die ganze Dramatik der Finanzierung und der Belastung für die Zukunft aufgezeigt hat, zumal wir ja - das ist für mich entscheidend - kurz vor einer möglichen Aufkündigung des Rentenkonsens standen. Das hat er doch nicht erfunden, sondern das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich habe verstanden, was er fragen wollte. Das ist in Ordnung.
Es geht doch gar nicht darum, daß wir die Dinge nicht so beschreiben sollten, wie sie sind. Es sind Probleme da; das will ich doch gar nicht in Frage stellen. Das hat Norbert Blüm selber gesagt. Es geht doch um etwas völlig anderes, um das, wovon ich gesprochen habe, nämlich ob sich verantwortliche Politiker wie Herr Dreßler dem Schlagzeilenstil eines Auflagenjournalismus anschließen und von „Scherbenhaufen", „Diebstahl" und „Intensivstation" reden sollen. Darum geht es.
Ich sage dazu in aller Ruhe: Diese Ausdrücke sind nicht nur in Bezug auf die Beschreibung der Rentensicherheit, um die es geht, total überzogen und übertrieben, sondern sie sind auch objektiv falsch. Warum sind sie falsch? Die Frage, um die es in der Rentenversicherung auch in Zukunft geht, ist letztlich eine Frage, die wir schon gestern miteinander beantwortet haben. Natürlich haben wir ein Mißverhältnis zwischen Beitragszahlern und Leuten, die älter werden. Das ist wahr. Wenn ich allein die demographische Entwicklung hochrechnen würde, würden wir sicher zu weiteren Beitragssteigerungen kommen. Aber das darf ich doch nicht tun, sondern ich muß vernünftigerweise auch andere Faktoren, die genauso dazugehören, einbeziehen.
Dr. Heiner Geißler
Dazu gehört die Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit. Das haben wir bereits beschlossen. Wenn wir allein das Rentenzugangsalter von derzeit 59 Jahren um zwei Jahre erhöhen würden, würde dies zu einer Beitragssenkung um zwei bis drei Prozentpunkte führen. Also kommt es doch entscheidend darauf an, daß wir im „Bündnis für Arbeit" neue, zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, wie wir es gestern miteinander beredet haben.
Wenn mehr Menschen in Arbeit sind, zahlen sie mehr Beiträge. Wir können das Rentenzugangsalter erhöhen. Dadurch verringert sich die Rentenlaufzeit; das ist sogar der größte Kostenfaktor. Das ist der richtige Weg. Das kann man den Menschen doch vernünftig klarmachen.
Man kann sagen, daß wir noch andere Möglichkeiten haben, zum Beispiel die Produktivitätssteigerung. Die Frauenerwerbsquote ist bei uns in Deutschland niedriger als in anderen Ländern. Das heißt, es kommt bei der Frage, ob die Renten sicher bleiben, ausschließlich darauf an, ob wir heute, morgen und in den kommenden Jahren genügend Arbeitsplätze haben. Wenn die Arbeitsplätze vorhanden sind, haben wir auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Rahmen des Generationenvertrages die Beiträge bezahlen.
Frau MatthäusMaier.
Herr Geißler, Sie haben vor wenigen Minuten in Ihrer Rede als besonders unfair kritisiert, daß die SPD während der Debatte hier eine Schlagzeile aufgestellt hat. Die Überschrift der Schlagzeile lautet: „Rentenstreit: Biedenkopf schießt gegen Blüm". Als Herr Blüm heute morgen geredet hat, hat er wiederholt ausgeführt, die SPD würde ihn - sinngemäß - aus wahltaktischen Gründen heftig angreifen, und das sei alles illegitim und bösartig.
Ich frage Sie: Ist es denn nicht legitim, wenn ich während dieser Rede in meinen Pressemitteilungen diesen Zeitungsausschnitt finde, diese Überschrift zu zeigen, weil sie deutlich macht, daß nicht etwa allein die SPD Herrn Blüm kritisiert, sondern daß er aus seinen eigenen Reihen, in diesem Fall von einem CDU-Ministerpräsidenten, angeschossen wird, weil man offensichtlich seinen Worten nicht mehr glaubt?
Frau MatthäusMaier, wenn wir das so einführen, dann brauchen wir hier gar nicht mehr zu reden. Dann stellen wir hier Plakate auf.
Außerdem ist das genau das, was ich kritisiere. Denn die Schlagzeile hier gibt noch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit wieder. Das haben Schlagzeilen nun mal so an sich. Das kann man kritisieren oder nicht. Kurt Biedenkopf bezieht sich in seiner Kritik nämlich ausschließlich auf die Ostrenten.
Es hat doch überhaupt keinen Wert, daß Sie das so plakativ aufstellen, daß wir uns hier Schlagzeilen an den Kopf werfen und das auch noch visuell von Fernsehanstalten aufbereiten lassen. Dann können wir in diesem Hohen Hause, in diesem Parlament, das Reden vergessen.
Dann brauchen wir uns auch nicht darüber zu wundern, wenn die Leute draußen sagen: Die haben ja ihr Geld gar nicht verdient, denn das, über das die da reden, können wir besser in der Schlagzeile einer Boulevardzeitung zur Kenntnis nehmen. Ich halte für unverantwortlich, was hier gemacht wird.
Gerade ist noch der Einwand gekommen: „Nichts Neues". Sehr richtig, es ist insoweit gar nichts Neues, als das, was ich vorgetragen habe, nichts anderes beinhaltet als die Aussage, die von Ihnen doch nicht bestritten wird. Im Ernst: Stehen Sie mal auf und sagen es! Ich fordere Sie auf, hier die Aussage zu machen - ich sage es noch einmal -, daß keine Rentnerin und kein Rentner, auch nicht die heute 40jährigen - weder heute noch morgen noch in den nächsten Jahren -, Angst um ihre Renten haben müssen, wenn wir die Faktoren berücksichtigen, die ich gerade genannt habe. Diese einfache Botschaft wollte ich hier noch einmal sagen.
Das hängt auch damit zusammen, daß wir ein ökonomisch richtiges Verfahren haben; denn - Zahlenwerk hin, Zahlenwerk her - wir haben kein Kapitaldeckungsverfahren wie in der Privatversicherung - dann bräuchten wir 10 Billionen DM;
wir sind uns einig, daß das nicht funktioniert -, sondern wir haben das Umlageverfahren. Das heißt, die Renten, die im Februar ausbezahlt werden, werden durch die Beiträge erwirtschaftet, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Januar leisten. Sie tun es im Vertrauen darauf, daß, wenn sie einmal alt geworden sind, die Nachkommenden - wer auch immer das sein mag in diesem großen Europa - es genauso tun. Deswegen ist dies ein überlegenes System. Es ist ein System, das auch ökonomisch vernünftig und sicher ist, wenn wir die volkswirtschaftlichen Grundlagen beibehalten. Das ist allerdings
Dr. Heiner Geißler
wahr: Die wirtschaftlichen Voraussetzungen müssen stimmen.
Aus diesem Grund gibt es keinen Anlaß - das will ich noch einmal in aller Ruhe sagen, jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzungen -, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Rentnerinnen und Rentner zu verunsichern. Diese Rentenversicherung hat im Gegensatz zur privaten Lebensversicherung mehr als 100 Jahre, zwei, drei Inflationen, Kriege, alle Schicksalsschläge und Katastrophen unseres Jahrhunderts überstanden.
Ich bin fest davon überzeugt - allerdings nicht, wenn wir so weiterreden, sondern nur dann, wenn wir an den Grundprinzipien unserer Rentenversicherung festhalten und die volkswirtschaftlichen Voraussetzungen schaffen -, daß diese Rentenversicherung den Menschen auch für die kommenden 100 Jahre Sicherheit im Alter geben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir weitermachen, möchte ich eines klarstellen - dann brauchen wir auch in Zukunft nicht darüber zu streiten -: Plakate und Poster haben im Parlament nichts verloren. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen über Presseerklärungen finden hier im Plenum statt.
- Ich habe das nicht gesehen, sonst hätte ich interveniert. - Ich denke, damit ist dieser Streit beendet.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jahrelang habe ich mich darüber geärgert, daß, wenn man nur irgendein kritisches Wort zum Rentensystem sagte, Norbert Blüm und Rudolf Dreßler Hand in Hand kamen und sagten: Pscht, die Renten sind sicher, hör auf, darüber zu diskutieren. Wenn ich die heutige Auseinandersetzung erlebe, wünsche ich mir fast den Zustand zurück, als die beiden noch Hand in Hand marschiert sind.
Ich finde, so darf man nicht auf den Nerven der Leute herumtrampeln, die sich fragen, was da in den letzten Wochen gewesen ist. Das richtet sich aber an beide Seiten des Hauses.
Herr Minister Blüm, Sie sind es gewesen, der dieses ganze Theater angefangen hat. Am 20. Januar dieses Jahres haben Sie undementiert von einer Zeitung schreiben und abends durch die „Tagesschau" gehen lassen, daß eine möglicherweise „dramatische Entwicklung der Rentenfinanzen" drohe. Wenn das einer sagt, der uns seit 13 Jahren erklärt „Alles ist paletti", dann müssen die Leute irritiert sein; das ist völlig klar.
Damals war das ganz einleuchtend. In der darauffolgenden Woche wollten Sie gerne darüber sprechen, daß wir uns die Frühverrentung nicht mehr leisten können. Da haben Sie sich gedacht, das kommt mir doch zupaß, wenn ich vorher sage: „Wir haben ein Problem mit den Rentenfinanzen".
Dann geht das einfach los, und alle reden mit, ob sie was davon verstehen oder nicht. Dabei werden alle möglichen Fragen vermischt: die Nettolohnanpassung, die Anpassung der Ostrenten und die Frage der Finanzen der Rentenversicherung, wobei dann noch kurz- und langfristig vermischt wird. Alles geht munter durcheinander. Ich will versuchen, das auseinanderzuhalten.
Ad eins die Anpassungsverfahren in der Rentenversicherung. Seit der 89er Reform - das ist heute gesagt worden - richtet sich die Anpassung der Renten nach den Nettolöhnen der Erwerbstätigen. Das kann zu der bitteren Entwicklung führen, daß die Renten sinken. Im Moment ist das für dieses Jahr und wahrscheinlich sogar auch für das nächste Jahr noch nicht absehbar. Grundsätzlich muß man aber sagen: Der Generationenvertrag ist keine Einbahnstraße.
Wenn sich die jüngeren Menschen, die erwerbstätig sind, einschränken müssen, dann wird sich das auch auf die Renten auswirken müssen.
Dann die Frage der Ostrentenanpassung. Es ist wirklich eine Verzweiflungstat, die hier geplant wird. Es ist hoch zweifelhaft, ob dieser Spareffekt von 700 Millionen DM, von dem die Rede ist, überhaupt eintritt. Aber munter drauflos werden solche Vorschläge gemacht und in die Debatte geworfen, und so wird den Leuten in Ostdeutschland damit zu all dem Ärger, den sie sonst noch haben, noch eines draufgesetzt. Ich bin der Auffassung, daß die Renten zwischen Ost und West angeglichen werden müssen, daß das aber in einem überschaubaren mittelfristigen Zeitraum geschehen sollte.
Damit komme ich zum eigentlichen Thema der aktuellen Finanzierungskrise, über die im Moment gesprochen wird. Nach meiner Kenntnis müssen wir noch vier Wochen warten, bis die üblichen Daten kommen, mit denen die Zahlen für die Rentenversicherung für dieses Jahr festgelegt werden. Wieso wissen die einen schon, daß alles prima ist, und
Andrea Fischer
wieso wissen die anderen schon, daß alles eine Katastrophe ist?
Ich finde, so geht es nicht. Hier wird das Rentensystem instrumentalisiert; hier kocht jeder seine eigene Suppe. Offensichtlich versprechen Sie sich in den Wahlkämpfen etwas davon. Aber trotzdem frage ich mich, ob die Rentenversicherung bei dieser Art von großer Koalition in guten Händen ist.
Ja, es ist wahr, die Finanzen der Rentenversicherung sind in arger Bedrängnis. Dafür gibt es zwei Ursachen. Bevor ich aber auf diese Ursachen komme, will ich eines klarstellen, weil mir das heute auch nicht klar genug zu sein schien: Die Zahlung der Rente derjenigen, die zur Zeit Rente beziehen, ist gesichert.
Wenn die Finanzierung schwierig wird, dann heißt das für die Erwerbstätigen, daß ihre Beiträge steigen müssen. Ich sage das nur deshalb, um diesen Unterschied klarzumachen. Trotzdem kann man das nicht einfach so hinnehmen, und deswegen lassen Sie uns über die Ursachen reden.
Die erste Ursache ist die seit Jahren andauernde Erwerbslosigkeit. Das ist völlig klar. Ein Teil ihrer Folgen ist eben auch von der Rentenversicherung zu tragen. Letzte Woche sind uns 2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze versprochen worden. Ich finde, man sollte solche leichtfertigen Versprechen nicht machen.
Vor allen Dingen sollten wir, bevor wir Luftbuchungen machen und damit rechnen, daß dieses Versprechen auch Realität wird, überlegen, wie wir mit dem gegenwärtigen Zustand umgehen, statt das auf die Zukunft zu vertagen.
Herr Minister Blüm, ich habe von Ihnen immer noch keine Antwort auf die Frage, was passiert, wenn die Frühverrentungspraxis sehr schnell eingeschränkt wird und dafür andere Gruppen der Beschäftigten arbeitslos werden, sprich: die jüngeren Menschen.
Zu dieser Frage habe ich von Ihnen immer noch nichts gehört. Wenn Sie das jetzt rabiat und radikal machen, dann verschieben Sie das Problem nur zwischen den Generationen, und Sie verschieben es zwischen zwei verschiedenen Sozialversicherungskassen. Wem ist damit gedient?
Das gilt auch für die Sache mit den Abschlägen. Im Moment ändern sich da die Modelle so schnell, daß ich mich dazu eher grundsätzlich äußern will und nicht zum allerneuesten Vorschlag, der uns bislang nur aus der Zeitung bekannt ist.
Unter den gegenwärtigen Umständen weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und der derzeitigen betrieblichen Praxis habe ich große Befürchtungen, daß dann, wenn die Möglichkeit der Frühverrentung nach Arbeitslosigkeit - das Ganze mit Sozialplänen flankiert - eingeschränkt wird, gleichzeitig aber die Leute individuell die Möglichkeit haben sollen, mit 60 Jahren in den Vorruhestand zu gehen - unabhängig davon, ob sie vorher arbeitslos waren -, die Leute auch individuell unter Druck gesetzt werden. Dann müssen sie als Individuum aber Abschläge von ihrer Rente hinnehmen. Das heißt, mit diesem Verfahren lassen wir die älteren Arbeitnehmer ihre eigene Entlassung bezahlen. Das finde ich, geht nicht.
Ich glaube, daß das keine Alternative zur Strapazierung der Sozialversicherungskassen durch die Arbeitgeber ist. Ich bin der Auffassung, wir dürfen nicht bei den Erwerbstätigen ansetzen, sondern müssen auch die Politik der Arbeitgeber einbeziehen. Einer der seltenen Punkte, in denen ich mit Herrn Minister Blüm einer Meinung bin, ist, daß die Arbeitgeber tatsächlich nicht länger ihre betriebswirtschaftlichen Probleme auf Kosten der Sozialversicherung lösen dürfen, am nächsten Tag aber über den teuren Sozialstaat jammern.
Seit 15 Jahren erzählen uns die Arbeitgeber in dieser unsäglichen Standortdebatte, es würde in Deutschland an Innovation, an Kreativität, an Flexibilität mangeln. Wo sind diese Eigenschaften bei den Arbeitgebern? Wo ist die Kreativität der Arbeitgeber bei einer neuen Arbeitszeitpolitik? Wo sind die intelligenten betrieblichen Arbeitszeitmodelle, die nämlich erst die Voraussetzung dafür schaffen würden, daß es einen gleitenden Übergang in den Ruhestand mit Hilfe von Teilrenten geben kann? Das ist die Bringschuld der Arbeitgeber. Solange sie die nicht erbracht haben, dürfen sie nie wieder über diesen Sozialstaat jammern.
Die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Teilrente reicht nicht aus. Wir werden die Arbeitgeber auch noch anderweitig beteiligen, müssen zum Beispiel an den Kosten der Höherversicherung, damit diejenigen, die in Teilrente gehen, nicht später mit niedrigeren Renten zu rechnen haben.
Dies noch als ein letzter Rat an die Arbeitgeber: Wenn wir über Höherversicherungen und andere Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem gleitenden Übergang in den Ruhestand reden, dann schauen Sie nicht nur dumm auf die Zahlen! Dann werden Sie merken, daß Sie ganz viel zu gewinnen haben, nämlich die Kompetenz, die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer, derer Sie sich jetzt auf einen Schlag entledigen.
Also plädiere ich dafür, jetzt nicht hektisch den Vorruhestand abzuschaffen, sondern nach neuen Arbeitszeitmodellen als Voraussetzung für die Teilrente zu suchen. Damit richte ich mich vor allem an
Andrea Fischer
die Arbeitgeber und an die Gewerkschaften. Wenn das gelänge, könnten wir den Bundeshaushalt entlasten, weil die Arbeitgeber die Kosten für ihre Sozialpläne nicht länger steuermindernd geltend machen könnten. Wir könnten mit den eingesparten Kosten für die Frühverrentung und die Arbeitslosigkeit auch die Sozialversicherungsausgaben verringern.
Zur zweiten Ursache für die Finanzierungsengpässe, die heute so lauthals beklagt werden - ein Phänomen, mit dem wir es seit Jahren zu tun haben -: das Verschieben der Lasten der Erwerbslosigkeit zwischen den verschiedenen Sozialversicherungstöpfen. In diesem Zusammenhang könnte man ein langes Sündenregister auflegen - das hat der Kollege Dreßler zum Teil schon gemacht -, aber das hilft doch überhaupt nichts. Wir könnten höchstens feststellen, daß die Rentenversicherungsbeiträge dann heute niedriger wären.
Der entscheidende Punkt ist aber, so glaube ich, daß wir mit der Augenwischerei aufhören. Die Verschiebung zwischen den Sozialversicherungstöpfen funktioniert doch nur, wenn wir nach dem Motto verfahren: Heute reden wir nur über die Rente und gukken nicht, wie sich das auf die Arbeitslosenversicherung auswirkt. Gestern haben wir nur über die Arbeitslosenversicherung geredet und nicht auf die Rente geschaut. Am Ende, auf dem Lohnzettel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso wie in den Bilanzen der Unternehmer, ist es egal, wie sich die Sozialversicherungsbelastung auf die verschiedenen Töpfe verteilt. Es interessiert die Summe, und zwar mit Recht.
Deswegen müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt gesenkt werden können, wie sie für beide Seiten wieder erträglich werden. Das ist in der Tat ein außerordentlich großes Problem, ein außerordentlich schwierig zu lösendes und zudem langwieriges Problem. Deshalb habe ich wirklich die Faxen dicke angesichts der Tatsache, daß in jeder Presseerklärung zur Sozialversicherung irgend jemand die versicherungsfremden Leistungen beklagt, ohne einen praktikablen Vorschlag zu machen, wie man die Beiträge nennenswert senken kann.
Wir haben uns überlegt, daß das nur über eine gravierende Umverteilung der Lasten möglich ist: indem wir ein neues Steuersystem einführen und damit die finanziellen Spielräume schaffen. Aber das ist ein großes Vorhaben. Bislang habe ich von keiner Seite des Hauses gehört, wie Sie auf die über Steuermittel zu finanzierenden benötigten 14 Milliarden DM für den Bundeshaushalt kommen wollen, mit denen man den Beitragssatz wenigstens um einen Punkt senken könnte.
Ich will noch einmal sagen: Es gibt großen Reformbedarf in der Rentenversicherung. Aber man wird bei dieser Reform nicht wirklich vorankommen,
wenn man solche Inszenierungen macht, wie Sie das heute getan haben.
Das führt dann nämlich dazu, daß um die Rentenversicherung wieder große Zäune aufgebaut werden: Bloß nicht an ihr rühren, damit sich keiner aufregt!
Es ist schwierig: Wir haben die Lasten der Erwerbslosigkeit auch in der Rentenversicherung zu tragen. Wir müssen eine umfassende Politik der Arbeitsumverteilung machen, und das wird eine große Herausforderung für die Rentenversicherung werden.
Vor allen Dingen gibt es eine sehr kritische Anfrage der jungen Generation dazu, was wir dort machen und wie das in Zukunft ausschauen wird. Ich kann nicht erkennen, daß hier jemand die Zweifel, die die jungen Menschen hinsichtlich der Frage, wie es weitergeht, hegen, ernst nimmt.
Kollege Geißler, die Argumente, die Sie gerade dazu vorgebracht haben, daß das in 30 Jahren gehen wird, kenne auch ich alle. Ich habe mich schließlich viele Jahre damit beschäftigt. Ich glaube aber, der Fehler besteht darin, daß wir nicht mit der jungen Generation darüber reden. Wo ist der Ort, an dem wir uns mit den jungen Leuten darüber streiten? Warum sind sie eigentlich nie an den Rentenveranstaltungen beteiligt?
Diese Fragestellung taucht überhaupt nicht auf. Das halte ich für einen großen Fehler.
Sie haben darauf verwiesen, die Rentenversicherung gebe es schon seit 100 Jahren, sie habe Kriege und Krisen überstanden. Das ist richtig. Aber die Vergangenheitsbetrachtung sagt noch nichts darüber aus, wie es in der Zukunft sein wird. Auch eine so langgediente Institution wie die Rentenversicherung muß sich heute in der politischen Debatte legitimieren. Sie muß sich dem Streit und den kritischen Anfragen stellen. Das habe ich heute vermißt, als Sie darüber gesprochen haben.
Mein Plädoyer ist deshalb: Hören Sie mit dieser Art von schäbiger Auseinandersetzung auf, die den Leuten nicht die Wahrheit sagt, die ihnen Beruhigungspillen verpaßt, die unangemessen sind, und sie gleichzeitig bei Punkten aufregt, wo das nicht angebracht ist. Lassen Sie sich darauf ein, die schwierige und auch langwährende Debatte über die Zukunft der Renten zu führen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Geißler.
Frau Kollegin, Sie haben völlig recht. Ich stimme Ihnen zu. Ich habe vor ein paar Tagen in Trier vor 600 oder 700 Studenten geredet und neulich auch in Freiburg im Audimax.
Dr. Heiner Geißler
Man muß das Problem selber ansprechen; das kann man doch auch.
Man muß mit den jungen Leuten reden, aber man muß den jungen Leuten auch eine begründete Hoffnung geben. Man kann sie doch nicht in die totale Verunsicherung hineinbringen. Die begründete Hoffnung ist doch auch vorhanden. Ich habe ausdrücklich gesagt: Es geht um die Erweiterung des Erwerbspersonenpotentials. Wenn wir mehr Beschäftigte haben, dann sind auch die Renten der heute 40jährigen sicher.
Was muß man also machen? Man muß - das habe ich vorhin ausdrücklich gesagt - die Lebensarbeitsgrenze erhöhen. Die Frauenerwerbsquote ist ein Thema, über das Sie dauernd reden. Das ist auch völlig in Ordnung. Man muß Familie und Beruf vereinbaren.
Dafür haben wir durch die Anerkennung von Erziehungszeiten, dem Erziehungsgeld und dem Erziehungsurlaub viel getan. Die Erhöhung der Produktivität und die Technologie werden hinzukommen.
Die Altersrelation war zu Kaiser Wilhelms Zeiten ganz anders. Wenn es danach gegangen wäre, hätten die Renten damals besonders sicher sein müssen. Das Verhältnis der Jungen zu den Alten war damals viel günstiger; heute sind 20 Prozent über 60 Jahre alt. Wir müssen diese Faktoren einbeziehen.
Wir werden in 20, 30 Jahren keinen deutschen Arbeitsmarkt mehr haben, sondern einen europäischen. Das heißt, wenn Arbeitsplätze vorhanden sind - das ist der entscheidende Punkt -, dann wird es auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die diese Arbeit ausüben und ihre Beiträge bezahlen.
So kann man doch vernünftig mit den jungen Leuten reden, anstatt immer nur über die Demographie zu sprechen und alle anderen Faktoren wegzulassen.
Frau Kollegin Fischer zur Replik.
Herr Kollege Geißler, selbstverständlich begrüße ich es, wenn Sie mit den jungen Leuten im Lande darüber diskutieren. Ich habe mich auf die Art der Debatte bezogen, wie sie heute morgen geführt worden ist.
Zweitens habe ich gesagt: Es wird der Eindruck erweckt, als ob alles so weitergehend könne wie bisher. Auch Sie haben gerade wieder gesagt: Wenn dieser oder jener Faktor stimmt, wenn alles so komme, werde es auch in 30 Jahren funktionieren.
Ich glaube, wir müssen auch - das war mein Plädoyer - bereit sein, über die Rentenversicherung als System zu reden und sie nicht immer nur als Tabu zu erklären, weil man sich davor fürchtet, Ängste hervorzurufen.
Wenn man bei der Prüfung des Ganzen zu dem Ergebnis kommt, es ist gut, wie es ist, dann ist das in Ordnung. Aber Sie müssen verstehen, es geht um eine Generation - es ist die meine, die jüngere -, die mit dem Wissen aufgewachsen ist, dieses Rentensystem sei das allerbeste. Ihr wurde gesagt: Wenn ihr es kritisch hinterfragt, dann droht ihr, es kaputtzumachen. - Das war nicht meine Absicht. Ich habe gesagt: Lassen Sie uns darüber reden und stellen Sie sich der Legitimation durch Diskussion. Das war mein Plädoyer.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufregung über die deutsche Rentenversicherung wächst. Man hört widersprüchliche Zahlen, sowohl was die Einnahmen als auch was die Ausgaben betrifft. Man hört massive Vorwürfe der Opposition in nicht besonders zimperlicher Wortwahl: „politischer Diebstahl", „bewußter Betrug", „gezielte Täuschung". Und man hört die bissige Gegenwehr aus dem BMA, das Ganze sei Wahlkampfpanikmache, man koche sein Süppchen am Rentenherd.
Meine Damen und Herren, keine Einrichtung in Deutschland verträgt ein solches politisches Gezerre so wenig wie die Rentenversicherung.
Die Rentenversicherung baut auf Vertrauen. Bürger und Bürgerinnen, die dort ihre Beiträge entrichten, wollen sicher sein, daß ihr Geld gut aufgehoben ist, richtig verwendet wird und für ihr Alter finanzielle Sicherheit bietet.
Die heutige Debatte sollte zum Ziel haben, Aufgeregtheiten zu zerstreuen, die offenen Fragen zu klären und sich über notwendiges Handeln zu einigen. Die heutige Debatte sollte Rentner und Rentnerinnen beruhigen. Aber sie sollte auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber beruhigen; denn diese Rentendebatte hat ein ganz wesentliches Thema: die Beitragskosten, die Lohnzusatzkosten. Wenn ein kleiner Handwerksbetrieb hört, daß jetzt hier von 20 Prozent Rentenversicherungsbeiträgen geredet wird, wie es Herr Kollege Geißler heute morgen getan hat, dann wird dies als ein Schocksignal gewertet. Wir haben auch dies durchaus mit in die Thematik aufzunehmen. Wir wollen die Rentner und Rentnerinnen beruhigen, daß ihre Renten sicher sind. Aber wir wollen keine Politik, die dazu führt, daß die Lohnnebenkosten ansteigen, anstatt daß sie gesenkt oder wenigstens stabilisiert werden.
Dr. Gisela Babel
Insofern möchte ich auch die schonungslose Offenheit in der Diskussion über Probleme. Erst dann kann man über Therapie reden, und der gute Arzt ist ja nicht immer der gutmütige Mensch. Die Lage ist in der Tat ernst, und die Diskussion hat eine andere Tonlage und auch andere Schwerpunkte als sonst. Es geht nicht mehr um die berühmte Bevölkerungsentwicklung, die für die nächsten Jahrzehnte die Probleme in der Rentenversicherung hervorruft, also um das Verhältnis der beitragszahlenden Erwerbstätigen zu den zu versorgenden Rentnern. Diese Schwierigkeiten sehen wir deutlich vor uns; das kann man ja auch aus Zahlen einigermaßen sicher voraussagen.
Was man aber nicht voraussagen kann, nicht für die Zeitspanne bis 2030 - diese magische Zahl bezeichnet das Jahr, für das eine Beitragsentwicklung von 28 Prozent für die Rentenversicherung auf Grund der Bevölkerungsentwicklung vorausgesagt wird -, was man auch nicht für die nächsten vier Jahre und nicht einmal einigermaßen zuverlässig für die nächsten Monate voraussagen kann, ist die Zahl der Beschäftigten - die entscheidende Größe einer lohnabhängig beitragsfinanzierten Sozialversicherung. Neu ist das plötzliche Gewahrwerden von Problemen für die Rentenversicherung, die aus Arbeitslosigkeit herrühren. Das ist nicht ein langsam fressender Rost an den Eisenträgern der Rentenversicherung, wie ihn die demographische Entwicklung mit sich bringt. Hier muß man schon eher von Sturzfluten sprechen - ich kann Ihnen das an Zahlen zeigen -, die die Mauern der Rentenversicherung zu unterspülen drohen. Die Bevölkerung ist hier jetzt zu Recht beunruhigt.
Die Möglichkeit, mit 60 Jahren in Rente zu gehen, wenn man zuvor ein Jahr arbeitslos war, schien ja noch vor wenigen Jahren eine humane, sozial geradezu zwingende Problemlösung zu sein. Die Großzügigkeit, die mit 60 Jahren ausgezahlte Rente so wie eine mit 63 Jahren erworbene auszustatten, erwies sich als verhängnisvoll. 1992 machten 50 000 Menschen von dieser vorgezogenen Rente Gebrauch, im Jahre danach 112 000, im Jahre 1994 204 000, und 1995 überschreiten wir die 300 000. Das ist nun schon die Hälfte des Rentenzugangs. Das heißt: Die Frührente wird zur Norm, der Rentenbeginn mit 65 der extreme Sonderfall. Mit dieser Entwicklung muß man sich auseinandersetzen.
Selbst bei einer Reform, die die Möglichkeiten der Frühverrentung wieder eingrenzt und die Frührenten mit mathematisch berechneten Abschlägen versieht und insofern das Äquivalenzprinzip wiederherstellt, bliebe doch die Erkenntnis: Die Zahl der Arbeitslosen beeinflußt die Einnahmen der Rentenversicherung nachhaltig. Man kann das umgekehrt positiv formulieren: Die Sicherheit und Schaffung von Arbeitsplätzen sind ein Beitrag zur langfristigen Sicherung der Zukunft der Rentenversicherung. Dies müßte man positiv aus dem Beschäftigungsprogramm der Bundesregierung folgern.
Alle Experten, die behaupten, mit der letzten Rentenformel, für die wir alle einstehen, sichere Grundlagen für die Finanzen der Rentenversicherung geschaffen zu haben, müssen zugeben, daß sie die
wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigungssituation ausgeblendet und die daraus resultierenden Gefahren allenfalls für die Arbeitslosenversicherung ins Kalkül gezogen haben.
Die Rentenversicherung - das müssen wir heute sagen - funktioniert auf Dauer störungsfrei nur bei Wachstum, einem hohen Beschäftigungsstand und einem ständigen Zustrom von Beitragszahlern.
Man könnte fast sagen: Eine störungsfreie Rentenversicherung ist eine Schönwetterveranstaltung. - Wir merken, daß wir in bezug auf die Beschäftigung schlechtes Wetter haben. Deswegen müssen wir bei der Beschäftigung ansetzen. Je sicherer die Arbeitsplätze, desto sicherer die Renten.
Meine Damen und Herren, nicht nur durch die Frühverrentung, sondern auch im Bereich der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit hat die Rentenversicherung zusätzliche Lasten zu schultern. Hier gibt es übrigens wieder so einen typischen Prozeß, diesmal durch die Rechtsprechung, der zeigt, daß das gute Herz - durch die Vergabe sozialer Leistungen - im Grunde ganze Systeme unterminieren kann. Das heißt: Die gute Absicht führt zu einem schlechten Ergebnis. Man hat nämlich denjenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht an ihrem Arbeitsplatz bleiben können, denen man aber zumutbar einen anderen Arbeitsplatz hätte anbieten können, so daß sie durchaus im Arbeitsleben hätten verbleiben können, durch Rechtsprechung eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen - mit der Begründung, daß sie keinen Arbeitsplatz mehr finden. Diese Rechtsprechung hat wiederum das Risiko der Arbeitslosigkeit in die Rentenversicherung verlagert. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung, die unbedingt der Korrektur bedarf.
Die Diagnose der Rentenversicherung muß aber noch andere vermeidbare Belastungen anprangern: Immer wieder ist die Rentenversicherung für die Finanzierung von Leistungen mißbraucht worden, für die der Finanzminister kein Geld im Haushalt hatte. Man kann dies sicherlich vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung nicht in diesem Sinne ansprechen. Aber das Thema Fremdrenten ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Die versicherungsfremden Leistungen waren das letzte Mal Thema, als wir über die Renten von NS-Verfolgten, die Auffüllbeträge in Ostdeutschland und die Renten für Opfer des DDR-Regimes gesprochen haben. Das alles sind im Grunde wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die richtigerweise vom Steuerzahler zu finanzieren sind, die man aber in ein Versicherungssystem eingebracht hat, ohne sich über die Folgen für die Rentenversicherung völlig klar zu sein.
- Wir haben hier immer breit zusammengearbeitet; wenn Sie sich daran erinnern.
Meine Damen und Herren, Rezepte zur Sanierung: Trotz des breiten politischen Podestes, auf dem die
Dr. Gisela Babel
Rentenversicherung nun einmal steht, gibt es bei den Heilmethoden große politische Unterschiede. Ich möchte einige kurze Bemerkungen zu den in meinen Augen falschen Rezepten machen:
Falsch, Frau Fischer, ist die Vorstellung einer Grundsicherung, bei der zwar an der Lohnbezogenheit der Beiträge festgehalten wird, bei der aber bei den erhobenen Ansprüchen die gleichmacherische Sense ansetzt. Man kann nicht sagen: Wir betreiben Kapitalismus bei den Einzahlungen, aber Sozialismus bei den Auszahlungen.
Das ist meiner Ansicht nach nicht angängig und für die F.D.P. unannehmbar.
Genauso unannehmbar ist es, wenn gesagt wird: Beziehen wir doch das ganze deutsche Volk in die Rentenversicherung ein, auch die Selbständigen und die Beamten! Dann haben wir eine Menge Beiträge und brauchen über versicherungsfremde Leistungen gar nicht mehr zu reden; denn dann ist es sowieso wie eine Steuer. Wir machen einfach eine ausgedehnte „Volksversicherung". - Auch dieser Vorstellung erteilen wir eine Absage.
Ich sage Ihnen: Das ist übrigens auch ein Thema, bei dem, wie ich glaube, die Grünen ihr Vertrauen aufs Spiel setzen. Es ist für die heutige Generation schon wichtig, zu wissen, ob das Äquivalenzprinzip, wonach man für einen hohen Beitrag auch eine hohe Rente bekommt, auch für ihre Beiträge gilt oder ob es so sein wird, daß dies nicht mehr möglich ist. Das ist ein Vertrauenstatbestand, den man beachten müßte, wenn man diese Vorstellung äußert.
Schließlich haben Sie den herrlichen Wasserhahn entdeckt, aus dem sich nun alle Sozialversicherungen langfristig tränken lassen: die Öko-Steuer. Damit kommt so viel Geld ins Haus, daß man damit alle Probleme in sozialen Sicherungssystemen lösen kann.
- Ja. - Aber die Verknüpfung von Öko-Steuern mit Sozialbeiträgen hat im Grunde nur zur Folge, uns notwendige Korrekturen in den Systemen zu ersparen, meine Damen und Herren. Das kann nicht angehen. Wir müssen die Korrekturen in den Systemen selber anbringen.
Ein falsches Rezept ist es auch, auf die Vermehrung der Beiträge aus geringfügigen Beschäftigungen zu setzen. Heutige Beitragszahler sind spätere Leistungsempfänger. Eine Beitragspflicht ohne Leistungsanspruch ist staatlicher Betrug. Damit lassen sich die Probleme nicht lösen.
Sicher brauchen wir eine umfassende Reform der Alterssicherung. Ich könnte mir schon denken, daß
man die Frage aufwirft, ob eine Rente die Funktion der Lebensstandardsicherung in Zukunft noch erfüllen wird und ob die Rente die gesamten Ansprüche, die wir heute an sie stellen, später noch abdecken kann. Eine solche Frage könnten wir heute richtigerweise stellen; denn es ist wichtig, sowohl die betriebliche Altersrente zu reformieren als auch private Vorsorge zu betreiben.
Meine Damen und Herren, ich selbst setze bei der Rentenreform auf folgendes: Unser Augenmerk muß sich vor allem auf arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen richten. Wir brauchen die Rückführung der Rentenversicherung auf den Zweck der Alterssicherung und die Verankerung der Risikoarbeitslosigkeit in der Arbeitslosenversicherung. Nur damit wird der Rentenanspruch wieder zu dem, was er ist: ein im Äquivalenzprinzip gesicherter Beitrag.
Wir brauchen die Stärkung des Beitragsprinzips, das heißt, gesamtgesellschaftliche Leistungen sind in die Steuerfinanzierung zu übernehmen. Ich glaube, daß die Empfindsamkeit für diesen Punkt gewachsen ist. Es mehren sich jedenfalls in den Sonntagsreden und sonstigen Reden die Stimmen, daß die Steuerfinanzierung hier mehr übernehmen sollte. Ich glaube, in der Diskussion haben die Sozialpolitiker in Zukunft gegenüber den Haushältern etwas bessere Karten; das war ja nicht immer so.
Meine Damen und Herren, der letzte Punkt ist die Eigenverantwortung der Versicherten, Stichwort Kuren: Hier glaube ich schon, daß Einvernehmen darüber besteht, daß sich in diesem Bereich einiges an Kosteneinsparungen erzielen läßt.
Trotz allen Getöses höre ich von der SPD, daß ihr am Rentenkonsens liegt. In diesem Bereich hat die politische Einsicht immer vorgeherrscht, daß man zwar gemeinsam Fehler begehen kann, aber Siege für die eigene Partei nie erringen wird. Eine Beitragssatzsteigerung auf 20 Prozent kann zur jetzigen Zeit niemand wollen; die exotischen Zahlen, die darüber hinaus genannt werden, auch nicht. Die Wirtschaft setzt hier auf Signale, auch aus dieser Debatte, daß man diese Prozesse nicht nur tatenlos beobachtet, sondern daß wir entschlossen sind, mit Reformen einzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die heutige Debatte und das Gewahrwerden der Problemlage haben vielleicht auch ein Gutes, nämlich daß die Bereitschaft zu einer Reform der Rentenversicherung bei allen Parteien vorhanden sein muß, um sie für die Beitragszahler tragbar zu machen. Diesen Konsens können wir heute ansatzweise erreichen.
Ich bedanke mich.
Frau Kollegin Petra Bläss, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, eines kann ich Ihnen versichern: Den Mund lassen wir PDS-Abgeordnete uns nicht verbieten.
Ihr Rat, wir sollten bei der Rentendebatte lieber gleich den Mund halten, steht allen Appellen für eine sachliche Diskussion um die Zukunft der Renten entgegen.
Die heutige Debatte zur Sicherung der Renten ist überfällig. Bedauerlich ist, daß sie erst nach Horrorszenarien über die Rentenkassen und fast täglich neuen Meldungen über Einschnitte in die Renten zustande gekommen ist. Diese Situation haben Sie, Herr Minister Blüm, provoziert. Da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen.
Stereotyp predigten Sie: Die Renten sind sicher. Doch immer unübersehbarer wird, daß eben diese Sicherheit in Frage gestellt ist - durch den Griff des Staates in die Rentenkassen, durch die anhaltende Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit und auch die demographische Entwicklung. In solcher Situation nur zu beschwichtigen ist politisch fatal.
Hektisch schieben Sie derzeit eine Maßnahme nach der anderen zur Sanierung der Rentenkassen an und warnen vor einer „Verunsicherung" der Rentnerinnen und Rentner. Herr Blüm, Sie verwechseln hier Ursache und Wirkung!
Die vorgezogene Rentenmöglichkeit mit 60 diskreditierten Sie als Mißbrauch - nicht etwa, um Lösungen zu suchen, sondern um sie kurzerhand abzuschaffen und den früheren Rentenbeginn mit Abschlägen, also finanziellen Einbußen für die Betroffenen, zu belegen.
Nur um Geld zu sparen, brechen Sie ein weiteres Versprechen gegenüber den Ostdeutschen und Sie streben eine Umstellung der Rentenanpassung Ost an die Rentenanpassung West an. Im „Übergangsjahr" sollen die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern 700 Millionen DM weniger als bisher vorgesehen bekommen. Das sollen also die von Ihnen vielbeschworenen ersten Gewinner der deutschen Einheit sein?
In Ihr großes „Sparpaket" wollen Sie eine Novellierung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente pakken. Unschwer ist zu ahnen, zu wessen Lasten das wieder gehen soll - Sozialabbau auf jeder Linie, und Ihr Slogan, Herr Blüm, das alles diene der Rentensicherheit, soll das verdecken.
Mit aktuellen Zahlen konnten die Vertreter Ihres Ministeriums uns vorgestern im Ausschuß bei der Behandlung des inzwischen veralteten Rentenversicherungsberichtes 1995 nicht dienen, wohl aber mit der Ankündigung, daß ein Bündel von Maßnahmen ergriffen werden müsse, um den angepeilten Beitragssatz nicht ins Wanken zu bringen.
Die PDS fordert: Hören Sie auf mit diesem Flickwerk! Stellen wir uns alle der notwendigen Reform der Rentenversicherung!
Ausreichen wird nicht, wie es die SPD mit ihrem „Rentengipfel" fordert, daß alle Zahlen auf den Tisch kommen, auch wenn das natürlich nötig ist. Die Schwierigkeiten sind absehbar und müssen prinzipiell angepackt werden.
Die PDS fordert daher für das Jahr 1996 ein Rentenmoratorium, das übereilte Änderungen in der Rentengesetzgebung ausschließt und Raum für einen wirklich seriösen Diskussionsprozeß schafft.
Unter das Moratorium darf allerdings nicht die längst überfällige Korrektur der Rentenüberleitung Ost fallen. Die Abschaffung des Strafrechts und anderer Diskriminierungen wäre aber ohnehin nur die volle Anwendung des jetzt geltenden Sozialgesetzbuches VI.
Probleme bei der Rentenversicherung gibt es bekanntlich an allen Ecken und Enden: akute und längerfristige, finanzielle und strukturelle. Schnellstens behoben werden muß, daß sich der Staat mehr und mehr aus seiner Verantwortung zurückzieht und immer tiefer in die Sozialkassen greift. Die sogenannten versicherungsfremden Leistungen müssen beleuchtet werden.
Das Fremdrentenrecht, das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und Sozialabkommen mit anderen Ländern sind nicht schlechthin „versicherungsfremd". Bedenklich ist, daß diese eigentlich gesamtgesellschaftlichen Aufgaben den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern allein aufgebürdet werden. Diese dem Bund zu übertragen stößt sofort an das leidige Thema Steuern. Die zweistelligen Milliardenbeträge werden nicht im bestehenden Haushaltsrahmen zu realisieren sein, sondern bedürfen neuer Einnahmen. Wir fordern eine Beseitigung der Schieflage der steuerlichen Belastung und eine Umverteilung von oben nach unten.
Angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt wird die Finanzierung der Rentenversicherung generell auf den Prüfstand gestellt. Höchst fraglich ist es dabei, ob es weiterhin tragbar ist, daß etliche Statusgruppen nicht versicherungspflichtig sind. Wir fordern deshalb, Beamte, Selbständige, Abgeordnete als zumeist Einkommensstarke in die solidarische Versicherung einzubeziehen. Mit einer allgemeinen Versicherungspflicht könnte auch die neue Kategorie der Scheinselbständigen vor Altersarmut bewahrt werden.
Ebenso sollte die Beitragsbemessungsgrenze deutlich angehoben werden, ohne die Ansprüche adäquat zu steigern. Zusätzliche Versorgungen geben unseres Erachtens einen weiten Spielraum für „angemessene" Altersbezüge.
Wir sollten darüber nachdenken, ob es länger richtig ist, die Arbeitgeberanteile für die soziale Sicherung an die Bruttolohnsumme zu binden, oder ob sie nicht besser nach dem Gewinn in einem bestimmten Verhältnis zum Umsatz berechnet werden sollten. Das brächte eine Umverteilung zwischen den Unter-
Petra Bläss
nehmen. Solche mit hohen Gewinnen und geringeren Beschäftigtenzahlen würden stärker belastet als jene mit geringen Gewinnen, aber vielen Beschäftigten.
Dieser Ansatz könnte künftig auch dem demographischen Wandel Paroli bieten. Zweifellos müssen weniger Junge mehr Alte versorgen. Wenn aber weniger Erwerbstätige immer mehr produzieren, gibt es keinen hinreichenden Grund, daß mehr Ältere weniger bekommen sollen. Der Erhalt und der Ausbau des Sozialsystems verlangen eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sonst werden wir uns beim Thema Finanzen immer wieder im Kreise drehen.
Beim Leistungsspektrum der Rentenversicherung sehen wir nicht nur bei den gegenwärtig diskutierten Problemen Handlungsbedarf.
Für den flexiblen Übergang von der Erwerbstätigkeit in die Rente muß eine Lösung gefunden werden. Aber wir halten es für unzulässig, jetzt die 60erRegelung zu streichen. Die Realitäten des Jahres 1995 bei der Frühverrentung von 300 000 Betroffenen lassen die „komfortablen Lösungen" von Großbetrieben zu einem Bruchteil zusammenschmelzen. Über die Hälfte resultiert aus „zwangsverrenteten" Altersübergangsgeldempfängerinnen und -empfängern aus den neuen Bundesländern.
Verzeihung, Frau Kollegin. Ich glaube, der Kollege Rühe möchte eine Zwischenfrage stellen.
- Entschuldigung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich hätte sie gerne beantwortet.
Eingestanden wird mittlerweile, daß nur zirka 50 Prozent der anderen Hälfte mit irgendwie gearteten Sozialplänen ausscheidet. Ein Großteil der Betroffenen sind also chancenlose ältere Arbeitslose, für die die vorgezogene Rente tatsächlich der letzte soziale Rettungsanker ist. Für sie muß diese Möglichkeit erhalten bleiben.
Zugleich sollte über eine Vorruhestandsregelung nachgedacht werden, die verhindert, daß Betriebe ihre Arbeitsplatzbereinigungen vorrangig zu Lasten Alterer betreiben und auf die Rentenkassen abschieben können.
Meine Damen und Herren, dringliche Reformen fordert die PDS für eine bessere Alterssicherung von Frauen ein.
Ich möchte Sie daran erinnern, daß der Bundestag am 21. Juni 1991 einstimmig die Bundesregierung beauftragt hat, die Voraussetzungen für eine Verbesserung bis 1997 auszuarbeiten. Herr Bundesminister Blüm, das Problem der Altersarmut ist hierzulande
nicht gelöst. Die gegenwärtige Situation ist absolut kein Anlaß zu Selbstzufriedenheit.
Die meisten derer, die damals dafür stimmten, sitzen heute hier. Doch wo bleibt die Einforderung der praktischen Umsetzung dieser Entschließung?
Wir fordern, eine Grundsicherung in der Rente einzuführen. Den sofort ertönenden Vorwurf des Systembruchs wehren wir ab. Wir meinen, hier muß eine Strukturfrage der Rentenversicherung entschieden werden. Wenn Frauen überwiegend allein die Erziehungsarbeit und Pflegetätigkeit in der Familie zugewiesen wird, wenn sie, wenn überhaupt, nur lückenhaft einer Berufstätigkeit nachgehen können, dann kann nicht allein die Erwerbsbiographie Maßstab für die Renten sein, sondern die Lebensleistung insgesamt muß anerkannt werden. Hier, Herr Minister Blüm, würde ich sehr gerne Ihren Slogan „Leistung und Gegenleistung" produktiv aufnehmen.
Wir fordern die versicherungsrechtliche Gleichstellung solcher Tätigkeiten wie Kindererziehung und Pflege mit herkömmlicher Erwerbsarbeit.
Diese Vorschläge haben wir diese Woche in unserem Antrag für eine „Soziale Grundsicherung gegen Armut und Abhängigkeit, für mehr soziale Gerechtigkeit und ein selbstbestimmtes Leben" dem Bundestag zur Kenntnis gegeben. Wir sehen das dringende Erfordernis, daß Veränderungen in der Rentenversicherung so weit getrieben werden müssen.
Meine Damen und Herren, die Sicherheit im Alter ist so gefährdet, daß derzeit keine Schnellschüsse helfen, um mit Leistungskürzungen die Beitragsstabilität einigermaßen zu halten. Wir brauchen unseres Erachtens eine parteiübergreifende Debatte für die Weiterentwicklung der Rentenversicherung. Dazu gehören alle unterschiedlichen Lösungsansätze erst einmal vorurteilsfrei auf den Tisch und seriös, in Ruhe diskutiert. Wir könnten uns vorstellen, daß das von uns vorgeschlagene Rentenmoratorium für 1996 in eine umfassende Rentenreform 1997 mündet.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Paul Krüger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Dreßler, Ihre Rede, die Sie hier heute gehalten haben, hat mich sehr befremdet. Das war nicht nur Angstmache, das war Wahlkampf. Sie haben die Rentner verunsichert und über Konkurs und Chaos gesprochen.
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dabei haben Sie ganz vergessen, zu erwähnen, daß wir - ich glaube, das ist bei recht vielen in diesem Hause Konsens - das wohl beste Rentensystem der Welt haben, und nicht nur das: Wir haben auch die höchsten Renten in der Welt. Auch das darf man an dieser Stelle einmal sagen.
Sie haben auch vergessen, zu erwähnen, daß wir seit der Erlangung der Wiedervereinigung in Deutschland im Bereich der Renten Großes geleistet haben. Niemand von unseren älteren Mitbürgern in den neuen Ländern hätte Anfang 1990 erwartet, daß die Masse der Rentenempfänger nicht - wie zu DDR-Zeiten - nur eine Rente am Rande des sozialen Minimums erhalten würde, sondern einen gesetzlich abgesicherten, dynamischen Rentenanspruch zur Bestreitung eines würdigen Lebensabends.
Da wir in diesen Tagen so viel über Solidarität und Geld reden, möchte ich an dieser Stelle erwähnen, daß das für mich die größte Solidaritätsleistung von Menschen in Westdeutschland für Menschen in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren gewesen ist -
und das trotz vieler anderer Belastungen, die ebenfalls Solidarität erforderten.
Aus vielen Gesprächen weiß ich, daß das auch von den Rentnern in den neuen Bundesländern so gesehen wird. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Menschen in den alten Bundesländern, die hierzu Beiträge geleistet haben, meinen Dank auch namens der Rentner in den neuen Bundesländern aussprechen.
Ich möchte der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen danken, weil sie dieses System unterstützt und eingeführt haben.
Der Bundesarbeitsminister hat heute ein paar Zahlen genannt: Er sprach von einer Steigerung bei den Rentenaufwendungen von über 300 Prozent. Ich will ihn korrigieren: Wir haben bei den absoluten Rentenaufwendungen in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren eine Steigerung von 437 Prozent gehabt. Zu DDR-Zeiten waren es 16,7 Milliarden Ost-Mark.
Ich frage mich angesichts der leeren Kassen in der damaligen DDR und - das frage ich die PDS - der riesigen Schuldenlast, die Sie uns aufgebürdet haben, wie Sie das, was Sie heute fordern, durchsetzen wollten. Das ist ein Witz. Blicken Sie nach Osteuropa! Da sehen wir exemplarisch, was auch hier passiert wäre, wenn wir nicht das getan hätten, was wir getan haben. Ich glaube, das waren die richtigen Schritte. - Sie von der PDS haben hier den Anspruch verwirkt, über dieses Thema überhaupt jemals zu reden, weil Sie Ihre Inkompetenz bewiesen haben.
Denn 95 Prozent derer, die das zu verantworten haben, befinden sich in Ihren Reihen. -
Wir haben auf diesem Wege eine Anpassung von 82 Prozent an westdeutsches Niveau erreicht, und wir werden diesen Weg konsequent weitergehen.
Herr Kollege Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Nein, nicht der PDS. -
Die im Vergleich zu den alten Ländern höheren Rentensteigerungen werden auch in den nächsten Jahren noch fortgesetzt werden müssen.
Ich will aber an dieser Stelle erwähnen, daß die Sozialversicherungsrente in den neuen Bundesländern die wesentliche, ja fast die einzige Säule der Altersvorsorge ist. Wir hatten in der ehemaligen DDR keine betriebliche und keine berufsständische Altersversorgung, zumindest nicht im echten Sinne. Wir hatten keine beamtenrechtlichen Pensionen. Wir hatten keine staatlich geförderte private Altersvorsorge.
Das betrifft fast alle derzeitigen Rentenempfänger, von denen wir heute reden.
Auch ist es eine Tatsache, daß es in den neuen Ländern einerseits eine höhere Frauenbeschäftigung gab und andererseits längere Lebensarbeitszeiten, aber auch relativ niedrige Beitragsbemessungsgrenzen. Aus diesem Konglomerat ergibt sich, daß wir in den neuen Ländern im Vergleich zu den alten Ländern sehr unterschiedliche Rentenbiographien haben. Das führt zum Teil bereits zu sehr hohen realen Rentenansprüchen in den neuen Bundesländern in der gesetzlichen Rentenversicherung. Dabei ergibt sich ein sehr differenziertes Bild. Das heißt, wir haben in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Rentenhöhen.
Zunächst sollte man bei einer höheren Anpassung der Renten in den neuen Bundesländern berücksichtigen, daß dort auch höhere Teuerungsraten zu verkraften sind, die im Prozeß der Anpassung in den nächsten Jahren unvermeidbar sind. Und wir müssen beachten, daß den höheren Ansprüchen eine ganz andere Vermögenssituation in den neuen Bundesländern gegenübersteht.
Meine Damen und Herren, die Vermögensbildung ist die bedeutendste Säule der Altersvorsorge in den alten Bundesländern. Es gibt hier ein Vermögen von insgesamt 12,5 Billionen DM. Dieses konzentriert sich zu einem ganz wesentlichen Teil auf die Senioren, auf die Menschen, die Rentenempfänger sind. In den neuen Bundesländern haben die Menschen pro Kopf der Bevölkerung derzeit erst ein Drittel des Geldvermögens und ein Viertel des Immobilienver-
Dr.-Ing. Paul Krüger
mögens der Menschen in den alten Bundesländern. Es gibt also Riesendefizite, die wir in den kommenden Jahren aufarbeiten müssen. All das müssen wir berücksichtigen, wenn wir von der Rente sprechen.
Wir sind der Meinung, daß es unbedingt erforderlich ist, bei den künftigen Rentensteigerungen in den neuen Ländern die Nettorenten exakt der Nettolohnentwicklung folgen zu lassen, wie das in den alten Ländern selbstverständlich ist. Das muß natürlich auch in der Phase der Umstellung gewährleistet sein. Ein zeitweises Abkoppeln der Rentenanpassung von der Lohnentwicklung oder die Zugrundelegung eines fiktiven Steigerungssatzes ist angesichts der gerade geschilderten besonderen Umstände in den neuen Bundesländern nicht hinnehmbar.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen die geplante Umstellung von einer zweimaligen auf eine einmalige Anpassung in jedem Jahr. Wir unterstützen auch die geplante Umstellung von der bisherigen prognostizierten und damit geschätzten Lohnsteigerung auf die Nettolohnentwicklung.
- Das haben wir überhaupt nie anders gesagt; das haben wir von Anfang an unterstützt. Eine Prognose der Nettolohnentwicklung, wie sie nach der bisherigen gesetzlichen Regelung im letzten Jahr vorgesehen war, ist in den neuen Bundesländern immer schwieriger geworden. Deshalb müssen wir die Renten in den neuen Ländern jetzt auf eine verläßliche Basis stellen.
Wir brauchen Rechtssicherheit für die Menschen in den neuen Bundesländern.
Aber ausschlaggebend bleibt dabei die ununterbrochene Kopplung der Renten in den neuen Ländern an die dortige Lohnentwicklung. Das bedeutet, wir wollen kein „Rentenschaltjahr" mit einer willkürlichen Rentenanpassung, sondern wir halten daran fest, daß in diesem Jahr die Rentenanpassung auf der Basis der Nettolohnentwicklung in der Vergangenheit vorgenommen wird, genauso wie das in den alten Ländern gemacht wird. Damit geben wir den Menschen in den neuen Ländern Rechtssicherheit.
Meine Damen und Herren, wir sind bei der Angleichung der Renten in Ost und West ein gutes Stück des Weges vorangekommen. Im Interesse des sozialen Friedens und der Berechenbarkeit der Rentenentwicklung werden wir diesen Weg ohne Unterbrechung zu Ende gehen, und zwar mit dieser Bundesregierung.
Herr Kollege Krüger, die Kollegin Dr. Barbara Höll würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich habe schon gesagt, daß ich keine Zwischenfragen von dieser Seite beantworten möchte.
Wir werden die Rentenanpassung in den neuen Bundesländern in diesem Jahr erstmalig auf der Basis des Systems der alten Bundesländer durchführen. Die Steigerungsraten werden sich an der Nettolohnentwicklung in den vergangenen Jahren orientieren; davon gehe ich aus. Das werden wir mit dieser Bundesregierung tun, und weil wir das mit dieser Bundesregierung tun, können auch die Rentner in den neuen Bundesländern mit Gelassenheit in eine sichere Zukunft blicken.
Vielen Dank.
Das Instrument der Kurzintervention hat sich inzwischen zu einem Instrument entwickelt, das jemand, dem eine Zwischenfrage verweigert wird, einsetzt.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Professor Dr. Luft.
Danke schön. - Sehr geehrter Herr Kollege Krüger, wenn ich mich richtig erinnere, kommen Sie aus Neubrandenburg und kamen schon immer aus Neubrandenburg. Neubrandenburg liegt in der früheren DDR. Ich kann mich nicht erinnern, zu DDR-Zeiten von Ihnen je ein Wort zur Rentenmisere gehört zu haben, wie Sie sie jetzt eben hier dargestellt haben. - Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Sie haben hier erklärt, wie die Renten nominal gestiegen seien. Das ist ja ein Faktum, das niemand bestreiten kann. Sie sollten fairerweise die Ziffern nennen, die angeben, wie die Lebenshaltungskosten gestiegen sind. Die Mieten sind um das Vier- bis Fünffache gestiegen. Die Tarife zum Beispiel der Berliner S-Bahn - die meisten Abgeordneten fahren ja nicht mehr mit der S-Bahn - belaufen sich pro Fahrt auf 3,90 DM. Das ist das 20fache von dem, was es früher kostete.
Die Telekom hat sich jüngst ebenfalls Preiserhöhungen geleistet. Das wissen Sie.
Daß dies gerade die Rentnerinnen und Rentner trifft, ist auch klar. Hinzu kommen weiterhin die Rundfunkgebühren; ich brauche diese Dinge nicht weiter aufzuzählen. Das wäre fairerweise zu sagen.
Ich mache eine ganz rege Wahlkreisarbeit. Wer aus meinem Wahlkreis eben zugehört hat, der würde mich dafür tadeln, wenn ich die Rede von Herrn Krü-
7404 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 84, Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Februar 1996
Dr. Christa Luft
ger aus Neubrandenburg angehört hätte, ohne Protest angemeldet zu haben.
Dritter Punkt. Ich persönlich habe einen großen Respekt vor den vielen Transferleistungen, die von West nach Ost geflossen sind und fließen. Ich hoffe, daß die F.D.P. sich in diesem Punkte nicht durchsetzen kann und daß ohne eine solide Gegenfinanzierung der Solidaritätszuschlag nicht reduziert wird.
Damit die ostdeutschen Menschen nicht das Gefühl haben, sie lebten nur von Transfers und hätten ansonsten gar nichts einzubringen, muß auch einmal gesagt werden, daß es natürlich erhebliche Vermögensflüsse von Ost nach West gegeben hat und nach wie vor gibt. 85 Prozent des früheren Anlagevermögens aus den Betrieben, die ja alle - wie es hieß - marode waren, befinden sich heute in westdeutschen Händen. Darauf muß hingewiesen werden, Das hat die Vermögensbilanz völlig verschoben. Die meisten Wohnungen, die inzwischen privatisiert sind, sind von Selbständigen, von Freiberuflern aus den alten Bundesländern gekauft worden.
Das heißt, die Mieten, die gezahlt werden, fließen aus dem Osten in den Westen und bewirken hier Kaufkraft.
Das Prinzip von Rückgabe vor Entschädigung, das die F.D.P. in den Einigungsvertrag hat hineinschreiben lassen, hat dazu geführt und führt laufend dazu, daß inzwischen über 2 Millionen Rückgabeansprüche auf Immobilien und Grundstücke angemeldet worden sind.
Das trifft vornehmlich auch die älteren Menschen, die verunsichert sind.
Letzter Punkt, Herr Krüger. Wenn Sie hier schon als Ost-CDU-Abgeordneter an das Mikrophon treten, dann hätte ich ein Wort dazu erwartet, warum Sie inzwischen mit der Faust, die Sie einmal kurzfristig geballt haben, um das Renten-Überleitungsgesetz zu korrigieren, -
Frau Kollegin, die drei Minuten Ihrer Kurzintervention sind überschritten.
- nicht auf den Tisch geschlagen haben.
Frau Luft, die Zeit ist um.
Im Haushaltsausschuß ist Ihr Antrag vor 14 Tagen zurückgezogen worden, weil es in Ihrer Fraktion weiteren Beratungsbedarf gibt.
Danke.
Wenn Sie einen längeren Redebeitrag leisten wollen, dann müssen Sie Ihre Gruppe bitten, sich auf die Rednerliste setzen zu lassen.
Zur Replik, Herr Krüger.
Herr Präsident! Liebe Frau Luft, auch ich mache meines Erachtens eine gute Wahlkreisarbeit. Das wissen auch meine Leute, die in Neubrandenburg wohnen.
Zu Ihrem Vorwurf, daß ich mich in früheren Zeiten nicht geäußert habe, möchte ich folgendes sagen: Ich habe erst dann begonnen, mich zu politischen Fragen zu äußern, als ich es für möglich und für opportun hielt, mich zu äußern, ohne daß ich und meine Familie durch die Äußerung meiner Meinung, die ich damals kundgetan hätte, Schaden an Leib und Leben genommen hätten.
Ich bin an einigen Stellen knapp daran vorbeigegangen. Das ist eine persönliche Lebenserfahrung, die Sie natürlich ignorieren. Wir wissen alle, warum Sie das ignorieren.
Was die Renten anbelangt, darf ich Ihnen sagen, warum ich seinerzeit - das ist symptomatisch - nicht in die Freiwillige Zusatzrentenversicherung eingetreten bin, die im übrigen sozusagen eine Art Pflichtversicherung für ehemalige Kader war, sofern sie nicht schon in anderen Zusatz- und Sonderversorgungssystemen besondere Privilegien genossen. Das trifft im übrigen nicht auf alle zu; das wissen wir auch. Deshalb haben wir einen Antrag zur Rentenüberleitung in dieses Haus eingebracht. Dieser Antrag befindet sich in der parlamentarischen Beratung, und in absehbarer Zeit wird - ich bin darüber gut informiert - ein Gesetzentwurf, der diesem Antrag folgt, in diesem Haus verabschiedet werden.
Ich bin damals nicht in die Freiwillige Zusatzrentenversicherung eingetreten, weil ich wie viele meiner Kollegen und meiner Freunde einfach kein Vertrauen in das Rentenversicherungssystem der damaligen DDR hatte. Ich wollte nicht, daß der Staat mit dem ohnehin knappen Einkommen, das ich hatte und für meine Familie brauchte, noch zusätzlich finanziert wird, ohne daß ich auch nur das geringste Maß an Sicherheit erwarten konnte, daß dieses Geld, wenn ich einmal alt sein würde, zurückfließen würde. Ich habe damals schon befürchtet - ich habe in der Wirtschaft gearbeitet -, daß dieser Staat irgendwann vor dem Bankrott stehen würde. Meine
Dr.-Ing. Paul Krüger
Befürchtung hat sich dann auch entgegen Ihren Aussagen, liebe Frau Luft, die Sie damals an maßgeblicher Stelle an diesem Bankrott mitgewirkt haben, bestätigt.
Jetzt können Sie, glaube ich, nachvollziehen, weshalb ich Ihnen keine Kompetenz bei der Behandlung und Beantwortung solcher Fragen in diesem Hause zubillige und Ihnen für gewöhnlich auch keine Antwort gebe. Nur wenn Sie mich in einer solchen Weise persönlich angreifen, dann werde ich mich auch rechtfertigen. Das habe ich hiermit getan.
Herr Kollege Rolf Schwanitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will alles das, was in den beiden Kurzinterventionen gesagt worden ist, jetzt nicht kommentieren. Ich habe nur die herzliche Bitte, daß wir in einer solchen Debatte nicht zu einem Stil kommen, uns Larmoyanz und wechselseitig Biographien abzunötigen und um die Ohren zu schlagen. Das kann nicht der Sinn der ganzen Angelegenheit sein.
Einen Kommentar, Herr Krüger, will ich mir dennoch nicht ersparen. Aus dem, was Sie hier angekündigt haben, entnehme ich zumindest, daß Sie das, was Bundesarbeitsminister Blüm für das Jahr 1997 und die folgenden Jahre vorgeschlagen hat, akzeptieren. Dazu sage ich: Das ist wieder einmal hochinteressant, allerdings keine neue Botschaft, kein neues Erlebnis: Muskeln spannen, öffentlich äußern, zum Kanzler rennen, gebückt wiederkommen und die bitteren Botschaften verkünden. Das ist die alte Strategie; das kennen wir.
Meine Damen und Herren, die Ereignisse der letzten Wochen haben in hohem Maße zur Verunsicherung der Rentner in Deutschland geführt. In besonderer Art und Weise betroffen waren die Rentner in Ostdeutschland, und wer will es mir verdenken, daß ich hier besonders auf dieses Problem eingehe.
Herr Kollege Schwanitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Das trifft sich ganz gut, bevor ich inhaltlich einsteige.
Bitte!
Bevor Sie richtig anfangen, Herr Schwanitz, möchte ich gern eine Frage an Sie stellen. Ich habe in meiner Rede davon gesprochen, daß wir nicht der Lösung der relativ willkürlichen Festlegung einer Jahresfrist, einem sogenannten Rentenschaltjahr, wie ich es bezeichnet habe, zustimmen werden, sondern daß wir - das
habe ich in meiner Rede ausdrücklich gesagt - sofort in das System der alten Bundesländer einsteigen und sofort der entsprechenden Nettolohnentwicklung in den neuen Bundesländern folgen. Das heißt, wir steigen nicht aus, sondern wir steigen nur um von der bisherigen Lösung der Schätzung auf ganz reale, exakte Daten. Diese Lösung erscheint uns gerade angesichts der vielen Veränderungen, die wir in der Bundesrepublik haben, als notwendig, um den Rentnern in Zukunft mehr Sicherheit zu geben. Deshalb kann ich Ihnen heute auch noch gar nichts über eine Steigerungsrate sagen, weil das Statistische Bundesamt die Zahlen erst im März vorlegt. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Krüger, ich bin sehr gespannt darauf, an Hand Ihres Gesetzentwurfs zu sehen, ob Sie an dem bisherigen, Ostdeutschland besonders günstig stellenden System festhalten oder ob Sie es verändern wollen. Das wird interessant.
Zunächst einige Bemerkungen zum Ablauf der Ereignisse; bereits das wirft ein bezeichnendes Licht auf den Umgang der Bundesregierung mit diesen sensiblen Fragen.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte die Koalition ursprünglich einen unscheinbaren Gesetzentwurf zur Rentenberechnung Ost für diese Woche auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt. Der Gesetzentwurf lag bei der Gestaltung der Tagesordnung noch nicht vor; der Inhalt war also unbekannt. Geplant war die erste Beratung für diesen Donnerstag mit einer kurzen Debatte von 30 Minuten gegen 21 Uhr, also quasi unter Ausschluß der Öffentlichkeit.
Am Wochenende erfuhr die deutsche Öffentlichkeit und erfuhren mit ihr die ostdeutschen Rentner, daß es nicht nur um irgendeine belanglose Gesetzesänderung geht, sondern um eine prinzipielle Veränderung der Dynamisierungsregelungen für die ostdeutschen Renten überhaupt. Statt der bisher geplanten Rentenerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres um 3,9 Prozent sollen die ostdeutschen Renten nur noch um 0,9 Prozent erhöht werden. Den Rentnern im Osten fehlen damit allein in diesem Jahr 700 Millionen DM. Als diese Meldung bekannt wurde, schlug sie im Osten ein wie eine Bombe. Selbst die ostdeutschen Kollegen aus der CDU zeigten sich von dieser Absicht der Bundesregierung überrascht. Entweder kannten sie noch nicht einmal den Inhalt der Vorlage ihrer eigenen Fraktion, oder sie hatten nicht genügend Rückgrat, um in der Öffentlichkeit zu dem zu stehen, was sie bereits intern abgenickt hatten.
Dieses Vorgehen ist symptomatisch dafür, wie die CDU/CSU und die F.D.P. mit den Menschen in den neuen Bundesländern umgehen.
Egal, ob es sich um die Kappung der Investitionsförderung beim Jahressteuergesetz 1996 handelt, ob es um das Absenken der Transfers für Ostdeutschland im Bundeshaushalt 1996 geht, ob wir über die Frage der Altschulden ostdeutscher Kommunen reden, über den Solidaritätszuschlag oder, wie hier, über die
Rolf Schwanitz
ostdeutschen Renten - immer stellt die Bundesregierung berechtigte ostdeutsche Interessen hintenan; die ostdeutschen Abgeordneten der CDU und F.D.P. stehen dabei entweder als treibende Kraft oder als Helfershelfer diensteifrig zur Seite. Das ist die Situation.
Aber jenseits dieser prinzipiellen und nicht neuen Fragen will ich doch auch ein paar Bemerkungen dazu machen, was die Bundesregierung und die Koalition zur weiteren Rentenberechnung Ost auf den Tisch gelegt haben.
Meine Damen und Herren, die Rentner in Ostdeutschland haben ein schweres, entbehrungsreiches Leben hinter sich. Sie erlebten die Turbulenzen der Weimarer Republik, den Terror der Nazidiktatur, die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und über 40 Jahre realen Sozialismus. Die beiden Volksparteien waren sich nach der Wiedervereinigung einig: Der Rentnergeneration in Ostdeutschland von heute sind wir es schuldig, daß sie einen Lebensabend ohne Sorgen und Not verbringen kann, in anständigen Lebensumständen, auf einem Niveau, das dem Rentenniveau des Westens nicht nachstehen darf.
Vergessen wir nicht, wie der SED-Staat die alten Menschen nach mehr als 40 Arbeitsjahren mit einer Niedrigstrente abgespeist hat. Bei allen Maßnahmen, die ab 1990 getroffen wurden, ging es darum, die geringen DDR-Renten auf ein menschenwürdiges Niveau anzuheben; es ging also um den Ausgleich einer extremen und vorhandenen Unterprivilegierung.
Das war die Geschäftsgrundlage für alle Fraktionen dieses Hauses. Das ist der Gradmesser für Ihren heutigen Umgang mit den ostdeutschen Renten.
Die Solidarität gebietet es, daß es zwischen Ost und West keine unterschiedlichen Rentenniveaus gibt, sondern ... ein Rentenniveau. Diese Aufholjagd haben wir jetzt begonnen.
Diese Aufholjagd, Herr Minister, wollen Sie jetzt vorzeitig abbrechen. Der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion ging damals sogar noch weiter. Um die in den nächsten Jahren höheren Steigerungssätze bei den ostdeutschen Renten vertreten zu können, erläuterte er, daß dieser Zustand zeitlich begrenzt sei und daß bis etwa Mitte der 90er Jahre die Unterschiede zwischen der West- und der Ostrente unter vergleichbaren Bedingungen im wesentlichen überwunden sein werden. Die Instrumente hierfür waren neben den bestandsgeschützten Auffüllbeträgen vor allem die besonderen Dynamisierungsregelungen für Ostdeutschland. Kollege Louven, CDU, führte aus - ich zitiere -:
Dieses Zusammenspiel bei der umgewerteten Rente von anpassungsfähigem Bestandteil und Auffüllbetrag sorgt dafür, daß zunächst der Aufholprozeß für die Rentner in den neuen Ländern stattfinden kann. Erst Auffüllprozeß, dann Abschmelzprozeß, so lautet hier die Formel.
Weiter heißt es - ich zitiere -:
Der vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, daß die Aufholphase 1995 abgeschlossen ist... . Wenn der Aufholprozeß schon vor 1996 abgeschlossen sein sollte - es ist ja ein Markenzeichen unserer Politik, daß die erreichten Ergebnisse regelmäßig besser sind als unsere stets vorsichtigen Annahmen bei der Planung -,
- das Protokoll verzeichnet hier Beifall bei der CDU/ CSU -
muß ein Instrumentarium gefunden werden, um schon früher abschmelzen zu können.
Zur Selbstgefälligkeit dieser Sätze will ich hier nichts sagen. Entgegen diesen Ankündigungen steht nun jedoch fest: Die Versprechungen haben sich in Luft aufgelöst. Die Rente im Osten hinkt bei einem vergleichbaren Arbeitsleben gegenüber der Rente im Westen noch um fast 20 Prozent hinterher, und Sie, Herr Blüm, brechen jetzt die versprochene Aufholjagd ab.
Sie verabschieden sich von der versprochenen Angleichung der Ostrenten. Die Rentenangleichung zwischen Ost und West soll nunmehr ausschließlich von der tatsächlichen Entwicklung der Nettolöhne abhängig sein.
Die Angleichung ist keine Frage mehr von zusätzlichen gesetzlich geregelten Auffüll- und Zusatzbeträgen. Der Staat verabschiedet sich von seinem Angleichungsversprechen
und schiebt das Problem ausschließlich auf den Tisch
der Tarifpartner. Das ist die Rentenlüge der Jahre
Rolf Schwanitz
1990 und 1991, die Sie von der CDU/CSU und F.D.P. nun fünf Jahre später hier einholt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Blüm?
Nein.
Herr Kollege Heinz Schemken, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schwanitz, es ist schon ein starkes Stück,
daß es am Ende hier zu solchen Bewertungen führt, wenn wir die menschliche und humane Pflicht wahrnehmen, die Menschen im ehemaligen anderen Teil des Vaterlandes mit einer Rente in einen Solidarvertrag aufzunehmen. Diese Menschen wären sonst Betrogene des sozialen Unrechtsstaates der DDR geblieben. Wir haben sie herausgeholt.
Das ist eine Pflicht und ein humaner Vorgang. Man sollte ihn hier respektieren und nicht so abwerten.
Nun hat sich dieser Staat ja Gott sei Dank in Luft aufgelöst.
Ich möchte aber auch noch ein Wort an Herrn Dreßler richten. 1992 haben Sie - ich sage das mit großem Respekt gerade vor Ihrer Person - stets in der ersten Reihe mitgewirkt, wenn es um entscheidende Fragen und den Konsens ging. Hier ging es ja um den Konsens in der Sache zwischen dem Beitragszahler, dem Rentner und dem Bund. Es ging auch um den Konsens über die gesellschaftliche Tragfähigkeit dieses Systems, das auch für die Zukunft sicher ist, weil das System stimmt. Daran haben Sie mitgewirkt.
Wenn Sie aber heute morgen dem Minister Täuschen, Schwindeln, Hinters-Licht-Führen und Unwahrheit vorwerfen, stellen Sie sich nach meiner Meinung in die zweite Reihe. Dann stellen Sie Ihr eigenes Licht ein wenig unter den Scheffel.
Herr Kollege Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Schemken, können Sie verstehen, daß jemand, der sich so wie ich bei diesem Konsens 1989 engagiert hat, der ihn mit herbeigeführt und verteidigt hat, also in einer besonderen Verantwortung steht, ziemlich verständnislos davorsteht, daß die Basis dieses Konsenses wegen des Verschweigens von gravierenden defizitären Verhältnissen der Rentenversicherung durch den federführenden Minister, der diese Verhältnisse jetzt offenbaren muß, nun nicht mehr gegeben ist?
Herr Dreßler, ich werbe, wenn ich das sage, um einen weiteren Konsens. Darum geht es. Wir dürfen in der Bevölkerung nicht den Eindruck aufkommen lassen, daß mit diesen abwertenden Formulierungen das System selbst in Frage gestellt wird. Die Zahlen sind zwischen Ihnen und Minister Blüm ausgetauscht worden.
Ich muß Ihnen sagen: Wir brauchen diesen Generationenvertrag, das heißt, wir brauchen nicht nur die Sicherheit für die Rentner, die ihren Lebensertrag selbst erarbeitet haben und fest mit ihrer Rente rechnen können müssen, sondern auch für die Arbeitnehmer, die täglich ihrer Arbeit nachgehen und den Beitrag an die Rentenkasse zu leisten haben.
Es geht um diesen Konsens, Herr Dreßler: daß jeder, der Rentenbeiträge einzahlt, auch zu Recht darauf hoffen darf, diesen Lebensertrag später mit Sicherheit in Anspruch nehmen zu können. Ich meine, heute morgen ist es in der Auseinandersetzung, so wie Sie sie geführt haben, zu einer Schieflage gekommen.
- Ich kann darauf nur mit den Worten
- nein, nein, nein - des DAG-Vorstandsmitgliedes reagieren, der zugleich Vorstandsvorsitzender der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist. Er sagt: „Die anhaltenden Spekulationen über die Rentenfinanzen entwickeln eine gefährliche politische Eigendynamik." - Das ist das Problem, das mich in dieser Stunde bewegt. Der Kollege Geißler hat das soeben auch zum Ausdruck gebracht. Das ist meine Antwort. Ich möchte Sie wirklich bitten, diese Beschreibung des Vorgangs nicht aufrechtzuerhalten; auch Sie fordern im Konsens Fairneß ein.
Ich möchte noch auf zwei, drei Punkte eingehen, die sich seit 1992 geändert haben. Nur so kann man beantworten, was hier hinterfragt wird, um es einmal mit den Worten von Herrn Dreßler zu sagen. Man soll ja hinterfragen. Was hat sich verändert? Natürlich hat sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt verändert.
Heinz Schemken
Frau Dr. Babel, Sie haben es schon angesprochen: Wiederum fehlen die letzten Daten, die uns Sicherheit darüber geben, wie der Beitrag 1997 letztlich aussehen wird - darüber werden wir schon bald reden müssen - und welche Veränderungen wir im System herbeiführen müssen.
Ein ganz wichtiges Thema in diesem Zusammenhang ist - ich habe dabei durchaus das Schicksal der Arbeitnehmer vor Augen, die frühzeitig ihren Arbeitsplatz verlassen müssen - die Frage, wie das Problem der Frühverrentung angegangen wird. Pro Frührentner entfallen auf die Rentenversicherung im Schnitt 300 000 DM, auf die Arbeitslosenversicherung 280 000 DM, auf das Unternehmen 20 000 DM. Dies kann so nicht weitergehen. Das ist das Problem.
Das Entscheidende ist: Es sind die Großunternehmen, es sind die Konzerne, die nach diesem Modell verfahren. Es ist nicht der Handwerksmeister mit seinen 10 oder 20 Beschäftigten; im Gegenteil: Die in mittelständischen Betrieben Tätigen zahlen die Zeche. Ich finde, wenn die Großunternehmen so handeln, bedeutet dies bis zu einem gewissen Grade eine Ausbeutung unseres Generationenvertrags, in diesem Fall der Rentensysteme. Dies kann so nicht weitergehen. Das ist ein Grund.
Ein weiterer Grund ist die Arbeitslosigkeit.
Ein weiterer Grund ist sicherlich - ich darf das als Sozialpolitiker hier im Sinne einer Mahnung ansprechen -, daß viele geringfügige Arbeitsverhältnisse eingehen und dann keine Beiträge zur Sozialversicherung zahlen, was im übrigen bei der Bemessung der späteren Rente zum eigenen Schaden führt.
Ein weiterer Punkt ist der, daß 500 000 Menschen in der Schattenwirtschaft auf den Baustellen arbeiten. Wir haben darauf eine Antwort geben müssen.
Herr Kollege Schemken, der Herr Kollege Hans Büttner möchte Ihnen gern eine Frage stellen.
Oh, Entschuldigung, bitte schön.
Kollege Schemken, da ich Ihr Engagement sehr schätze, möchte ich Sie bitten, auch in der Frage der Frühverrentung präzise zu argumentieren. Würden Sie bestätigen, daß es nach den Aussagen, die Herr Staatssekretär Kraus im Ausschuß gemacht hat, eine Tatsache ist, daß von denen, die mit 60 Jahren nach § 105 c des Arbeitsförderungsgesetzes in Rente gehen müssen, über die Hälfte zuvor ihren Arbeitsplatz nicht im Zusammenhang mit Sozialplänen verloren hat, sondern weil Unternehmer auf Grund von Arbeitsmangel und von Betriebsschließungen gekündigt haben? Würden Sie auch dies als „mißbräuchlich" bezeichnen?
Es geht nicht um den Übergang. Sie beschreiben das Problem der 60jährigen. Hier liegt ja schon ein großer Ertrag des Arbeitslebens vor. Es geht aber darum, daß nachweislich Großbetriebe dies schon mit 55jährigen machen - so war es nicht gedacht, ich sage das ausdrücklich -, um nachher nicht wieder in die Arbeitslosenversicherung einzahlen zu müssen. Das ist ein weiterer Weg, den man geht, um sich seinen sozialen Verpflichtungen zu entziehen. Das kann nicht so weitergehen. Ich habe ja nur die Gründe genannt, warum es so ist.
Letztendlich ist die Summe der Bürger der Staat. Der Minister allein kann die Rente nicht retten. Wir müssen auf die Zusammenhänge hinweisen, aus denen sich die Problematik ergibt, die wir augenblicklich zu bewältigen haben. Es verschweigt doch niemand, daß es Probleme mit der Finanzierung gibt. Aber das System ist so angelegt, daß wir mit diesem System eine Antwort geben können.
Ich betone noch einmal ausdrücklich, daß der Arbeitsplatz in einem existentiellen Zusammenhang mit den Abgaben steht. Es ist nicht nur so, daß dann, wenn wir mehr in Arbeit haben, die Systeme sicherer werden, sondern dann, wenn wir mehr in Arbeit haben, können wir über Beitragsstabilität, vielleicht sogar über Beitragssenkungen bei Erhalt der bisherigen Leistungen sprechen. Diesen Zusammenhang sollten wir beachten. Es geht darum, daß wir hier das Zueinander und Miteinander in den Generationen deutlich machen.
Ich sage ausdrücklich: Wer Renten in Zukunft sichern will, darf sich nicht auf das kaprizieren, was augenblicklich an Lebensertrag zu Recht in der Rente eingefordert wird, sondern er muß den Starken, der den Beitrag zahlt, auch stark halten oder sogar stärker machen, damit er den Schwachen trägt.
Das ist ganz entscheidend. Das ist die Philosophie unserer Generationenverträge. Davon leben sie.
Ich darf deshalb herzlich bitten, die Diskussion so zu führen, daß wir auch den jüngeren Menschen, die diese Leistungen zu erbringen haben, eine Antwort geben und ihnen sagen, daß dieses System - und es sind nicht nur die 100 Jahre, die ein Beleg dafür sind - auch in der Gegenwart sicher ist, wenn Konsens in der Gesellschaft vorhanden ist, wenn sich Beitragszahler, Rentner und der Bund sowie alle Verantwortlichen einig sind. Wir stehen nun einmal in der Verantwortung. Wir stehen auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit in der Verantwortung. Natürlich ist das Ganze eine schwierige Angelegenheit, wenn ich dem, der in Arbeit ist, sagen muß, daß er den Beitrag erbringen muß, daß er möglicherweise in dem einen oder anderen System stärker eintreten muß, damit der andere, der seinen Lebensertrag erarbeitet hat, diesen Lebensertrag zu Recht erhält und die Rente auch in Zukunft sicher bleibt. In diesem Sinne bitte ich noch einmal um Konsens.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Pfeiffer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der DDR hatte man ein Sprichwort: Ein Staat wird daran gemessen, wie er mit den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft, mit den Kranken und Alten, umgeht.
Ich komme aus der DDR, ich bin dort geboren und aufgewachsen. Ich bin also bis zum Übergang in die Bundesrepublik, für den ich sehr dankbar bin, ein DDR-Kind gewesen. Für die DDR war dieser Spruch ein Hohn; denn ich als Heimleiterin eines Altenheimes und auch als Sozialarbeiterin habe gewußt, wie man mit alten Menschen umgeht.
Es gab eine Mindestrente von 230 Mark. Die wurde erhöht auf 270 Mark; dann bekamen die alten Leute 350 Mark. Das sind zwar alles alte Kamellen, aber Frau Dr. Höll hat laufend dazwischengerufen: „Es gab in der DDR eine Mindestrente! " - Ja, die gab es; sie hat mit 230 Mark angefangen. Wenn man keiner Partei zugehörte, wenn man kein Kader war, war man, auf deutsch gesagt, ein armes, altes Würstchen.
Der Parteitag hat Beschlüsse gefaßt, hat Renten erhöht - mal gab es 10 Mark mehr, mal 20 Mark mehr -, und die alten Leute haben sich über diesen Parteitagsbeschluß gefreut, weil sie dann ja ein wenig mehr Geld bekamen.
Frau Kollegin - -
Nein, danke. Das hat keinen Zweck mit der PDS.
Frau Bläss hat hier gesagt, sie lasse sich nicht den Mund verbieten; ihre Partei könne hier durchaus über Renten diskutieren. Eigentlich müßte es der Anstand verbieten, daß die PDS zu diesem Thema das Wort nimmt.
Wer das Rentensystem der DDR kennt, spricht der PDS die Kompetenzen ab, für die Interessen der alten Leute im Osten zu debattieren. Das wird nicht besser, wenn Sie hier hineinschreien, Frau Höll.
Der Bundesarbeitsminister hat heute früh hier eine vorzügliche Rede gehalten. Er ist für mich der größte kleine Arbeitsminister, den ich je kennengelernt habe.
Die SPD hat bei dieser guten Rede anfangs gestöhnt. Trotzdem wiederhole ich die Worte des Arbeitsministers: Die Rentner im Osten sind die ersten Sieger der deutschen Einheit. Auch die Rentner sehen das so und bleiben dabei.
Zum Thema Auffüllbeträge. Älteren Menschen mit Kleinstrenten - wieder ein Verdienst der PDS - wurden bei Umstellung der Renten, damit sie nicht in Sozialhilfe fallen, Auffüllbeträge zugesprochen. Sie wußten von Anfang an, daß sie wieder abgeschmolzen werden. Es gab - im Gegensatz zu dem, was Sie uns weismachen wollen - keine Massenproteste. Es gab Anfragen und Verunsicherungen, aber jeder wußte: Er bekommt nicht weniger als das, was er jetzt schon hat.
- Er bekommt immer noch mehr, als er bei Ihren Genossen bekommen hat, Frau Höll.
Zum Thema Umstellung der Renten. Ich habe mir dafür ein Manuskript gemacht, das ich Herrn Schwanitz vorlesen möchte, damit ich es nicht falsch sage. Vielleicht hätte auch Herr Schwanitz vorlesen müssen. - Für das bisherige Verfahren bei der Rentenanpassung in den neuen Bundesländern wird auf die voraussichtliche Lohnentwicklung in den neuen und alten Bundesländern sowie die voraussichtliche Nettostandardrente in den alten Ländern abgestellt. Es handelt sich hierbei um geschätzte Werte mit der entsprechenden Gefahr einer Fehlkalkulation. Wir unterstützen deshalb eine Umstellung auf die rückschauende Lohnentwicklung des vergangenen Jahres, so daß man dann auf feststehendes Material des Statistischen Bundesamtes zurückgreifen kann.
Herr Schwanitz, da Sie mit geballter Faust unserem Paul Krüger Vorhaltungen gemacht haben: Die Ost-Abgeordneten in unserer Fraktion haben sich wenigstens gefunden.
Wir arbeiten, um etwas zu verändern. Ich habe noch nicht gehört, daß es auch in Ihrer Fraktion eine Gruppe der Ost-Abgeordneten gibt.
Im Gegensatz zur SPD haben wir - Gott sei Dank - Regierungsverantwortung, und das soll ewig so bleiben.
Wir werden in der Regierungsverantwortung bleiben. Wir schreien nicht nur herum, wir tun etwas.
Noch kurz zum Rentenstrafrecht, was nur so heißt, aber keines ist: Wir sind stolz darauf, daß wir die Renten der alten Kader, der Stasi-Leute auch heute noch begrenzen wollen und werden in nächster Zeit einen eigenen Entwurf zur Rentennovellierung einbringen, der tausendmal besser ist als Ihrer.
Danke.
Ulrike Mascher
Herr Kollege Schwalbe, ich bitte um Verständnis dafür, daß ich Ihre Kurzintervention nicht zulasse. Ich habe schon eine Kurzintervention der anderen Seite abgelehnt - im Blick auf die Kollegen, die noch Flugzeuge erreichen wollen und so kalkuliert haben, daß wir mit der Debattenzeit hinkommen.
Als nächster erteile ich der Kollegin Ulrike Mascher das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Rente ist sicher" - das war, zumindest bis heute morgen, einer der liebsten Sprüche unseres Arbeitsministers.
- Ich gratuliere.
Aufmerksame Zeitungsleserinnen und Zeitungsleser müssen da aber inzwischen ihre Zweifel haben; denn in den Zeitungen ist von Rentendefiziten die Rede, von unsolider Finanzierung, von der Angst um die Rente, von der Rentenwut. Die „Leipziger Volkszeitung" sieht Norbert Blüm sogar als Kapellmeister auf der Titanic, der unermüdlich seinen Lieblingsschlager - „Die Rente ist sicher! " - dirigiert.
Leider ist das, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, nicht nur ein für den Arbeitsminister unerfreuliches Medienspektakel, sondern es geht um die ganz reale Angst vieler Rentnerinnen und Rentner.
Angesichts dieser Ängste und Sorgen halte ich es für unangemessen, wenn der Arbeitsminister Norbert Blüm von Wahlkampfmanövern spricht und die verfolgte Unschuld spielt.
Wer hat denn die Vorschläge zu einer einschneidenden Veränderung der Rahmenbedingungen für die Frühverrentungen gemacht? Steht nicht auf dem Papier, das die Abschaffung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit vorsieht, als Verfasser BMA, also Bundesminister oder Bundesministerium für Arbeit?
Ist der Vorschlag zur Veränderung bei der Rentenanpassung im Osten etwa nicht seit Herbst letzten Jahres im Arbeitsministerium geplant worden?
Wundert sich der Arbeitsminister wirklich, wenn die Angst der Sozialpläner und Frührentner um ihre Rente zu massiven Demonstrationen im Ruhrgebiet führt,
wenn sich die ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen betrogen vorkommen und wenn jetzt angesichts der seit Jahren andauernden schiefen Finanzierung der Rente wegen der Arbeitslosigkeit und den Rentenleistungen in Ostdeutschland eine giftige Ost-West-Debatte beginnt?
Um diese vergiftete Debatte rasch zu beenden, hilft nur eines: Die Fakten müssen auf den Tisch. Da reichen Ihre Zahlen auf Seite 17 Ihrer Rede nicht ganz aus, Herr Arbeitsminister.
Wir müssen eine offene Diskussion führen, um den Rentenkonsens im Interesse der Rentnerinnen und Rentner und im Interesse der Beitragszahler wieder zu stabilisieren, damit wir alle hier im Haus glaubwürdig sagen können: Die Renten sind sicher. Das ist keine unlösbare Aufgabe.
Nach den einschneidenden Veränderungen bei der Rentenreform, der Umstellung von der Brutto- auf die Nettoanpassung, nach der vorgesehenen Heraufsetzung des Rentenalters - ich sage allerdings ausdrücklich dazu: nur wenn es die Arbeitsmarktsituation zuläßt -, nach der Einführung des regelgebundenen Bundeszuschusses waren die Weichen richtig gestellt, auch wenn der CDU-Ministerpräsident Biedenkopf immer wieder versucht hat, mit demographischen Horrorgemälden das System einer solidarischen, beitragsfinanzierten Altersrente aus den Angeln zu heben.
Derselbe CDU-Ministerpräsident Biedenkopf gibt sich jetzt plötzlich als treusorgender sächsischer Landesvater, der eine Harmonisierung der Rentenanpassung im Osten und Westen strikt ablehnt, dabei aber verschweigt, daß er das ganze System der gesetzlichen Rentenversicherung abschaffen will.
Seit einiger Zeit wird von vielen Politikern mit steigender Begeisterung ein neues Rezept für die gesetzliche Rentenversicherung in Umlauf gebracht: Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn dann noch der Umfang der sogenannten versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung mit über 80 Milliarden DM vom Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger beziffert wird, dann kennt die Begeisterung kaum noch Grenzen.
Häufig wird dabei übersehen, was diese „fremden" Leistungen sind, und gerne wird verschwiegen, ob sie nun ganz abgeschafft oder durch Steuern finanziert werden sollen.
In der ernsthaften wissenschaftlichen und politischen Debatte werden alle Leistungen, die nicht durch Rentenbeiträge gedeckt sind, als versicherungsfremd eingestuft. Das sind zum einen Kriegsfolgelasten wie die Anrechnung von Kriegsdienst, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung und die Leistungen nach dem Fremdrentengesetz. Dafür wurden 1993 21,7 Milliarden DM aufgewendet, also etwa ein Viertel aller versicherungsfremden Leistungen. Angesichts des Zeitablaufs mindern sich diese Leistungen aber in der Zukunft mit Ausnahme der Leistungen des Fremdrentengesetzes, die vor allen Dingen für Aussiedler erbracht werden.
Ulrike Mascher
Ein weiterer Komplex sind die Leistungen nach dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und der Bestandsschutz für die Renten in den neuen Bundesländern, also zum Beispiel die Auffüllbeträge. Die Leistungen für die Auffüllbeträge betrugen 1994 zirka 6 Milliarden DM. Das sind etwa 7 Prozent der sogenannten versicherungsfremden Leistungen.
Es gibt eine Reihe weiterer Leistungen, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstehen, die aber unbestritten - bisher jedenfalls - als Leistungen des sozialen Ausgleichs dem Aufgabenbereich der Rentenversicherung zugeordnet wurden: Anrechnungszeiten für Krankheit und Arbeitslosigkeit, Kindererziehungszeiten als eine wichtige Leistung des Familienlastenausgleichs und die Rente nach Mindesteinkommen, eines der wenigen wirksamen Instrumente, das die Altersarmut von Frauen mit niedrigen Erwerbseinkommen mindert.
Bisher wurden nur vom Vorsitzenden des Sozialbeirates, Herrn Professor Schmähl, Hinterbliebenenrenten, also Witwen- und Witwerrenten, als versicherungsfremd eingestuft. Ich erwähne diese Position, um zu zeigen, auf welch dünnes Eis die Debatte um die versicherungsfremden Leistungen geraten kann.
Für nachdenkenswert halte ich die Überlegungen zur Anrechnung von Ausbildungszeiten, wenn man dabei berücksichtigt, daß längere Ausbildungszeiten, zum Beispiel ein Hochschulstudium, zumindest in der Vergangenheit in der Regel ein höheres Einkommen und damit später auch höhere Renten als im Durchschnitt erbracht haben. Sie sehen, ich versuche, hier sehr vorsichtig zu formulieren, Frau Fischer. Aber immerhin machen die Anrechnungen von Ausbildungszeiten mit rund 7,5 Milliarden DM 9 Prozent der Leistungen aus, die nicht durch Beiträge abgedeckt werden. Das sind beachtliche Leistungen für Mitglieder einer Generation, von denen einige sich, durch Brandreden des Chefökonomen der Deutschen Bank veranlaßt, zu dem pathetischen Spruch hinreißen ließen: „Ich kündige den Generationenvertrag. " Sie sollten einmal begreifen, worum es bei diesem Generationenvertrag auch in Ihrem Interesse geht.
Ein großer Brocken, über den wir heute schon mehrfach gesprochen haben, sind die Frühverrentungen. Hier sind zwar jahrelang Beiträge gezahlt worden; aber der Grund der Frühverrentung ist Arbeitslosigkeit. Dieses soziale Risiko ist durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert, und hier findet innerhalb der sozialen Sicherungssysteme eine riesige Verschiebung von Lasten statt. Mit etwa 18 Milliarden DM werden die Rentenkassen durch diese Übernahme von Kosten der Arbeitslosigkeit belastet.
Betrachtet man die ganz unterschiedlichen versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherungen, wird deutlich, daß wir hier eine gründliche sozialpolitische Debatte brauchen. Es geht um die
politische Bewertung, welche Leistungen dem notwendigen sozialen Ausgleich innerhalb der Rentenversicherung dienen, zum Beispiel die Rente nach Mindesteinkommen, von welchen Leistungen, zum Beispiel als Folgen des Vereinigungsprozesses, wir die Rentenversicherung entlasten müssen, zum Beispiel durch eine Erhöhung des Bundeszuschusses, und für welche Leistungen, zum Beispiel bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit, die Unternehmen zu einer Finanzierungsbeteiligung herangezogen werden müssen, da sie ja auch von der Verjüngung ihres Personals und von der Erneuerung der beruflichen Qualifikation Nutzen haben. Darüber lohnt es sich auf der Grundlage seriöser Zahlen zu streiten und zu diskutieren.
Das Prognos-Gutachten, das ich allen zur Lektüre empfehle, die über dieses Thema in Talkshows plaudern oder sich in Zeitungsbeiträgen äußern wollen, zeigt ganz deutlich, wie flexibel und anpassungsfähig das soziale Sicherungssystem unserer gesetzlichen Rentenversicherung ist, wenn Beschäftigung und Erwerbstätigkeit stimmen und die Arbeitslosigkeit reduziert wird.
Mehrfach ist hier gesagt worden, unser Rentensystem habe zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform überstanden und den deutschen Einigungsprozeß sehr erfolgreich bewältigt. Keines der Systeme, die von Herrn Professor Biedenkopf und Herrn Professor Miegel stets so gerne angepriesen werden, hat diese Stabilität und Flexibilität gezeigt.
Ich kann nur alle auffordern, sich an der Entwicklung von Modellen zu beteiligen, die aufzeigen, wie eine Reduzierung der Kostenbelastung durch die Frühverrentung erreicht werden kann und wie wir eine Erhöhung des Bundeszuschusses zur Finanzierung der Leistungen aus dem Einigungsprozeß erreichen können. Ich rate uns auch zu einer behutsamen - ich sage ausdrücklich: behutsamen - Diskussion darüber, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt das Fremdrentenrecht geschlossen wird.
Frau Kollegin, jetzt haben Sie Ihre Redezeit schon um zwei Minuten überschritten.
Ja, ich komme zum Schluß.
Wenn wir uns alle an einer solchen Debatte mit sachgerechten Argumenten beteiligen, dann erreichen wir eine Weiterentwicklung unserer Rentenversicherung, die auch weit in das nächste Jahrtausend hinein trägt.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Tagen werden wir von älteren Menschen gefragt, ob die Rente noch sicher sei, ob ihre Lebensleistung, die sie vollbracht haben - harte Arbeit, Entbehrungen auch nach dem Zweiten Weltkrieg -, nun zu einer sicheren Rente oder etwa zur Kürzung ihrer Rente führt. Das, was Sie, Frau Mascher, eben gesagt haben, unterscheidet sich von dem, was Dreßler und andere an Aufgeregtheiten in den letzten Tagen in die Welt posaunt haben.
Angst machen darf kein Mittel der Politik sein. Sie aber haben zumindest billigend in Kauf genommen, daß die alten Menschen Angst um ihre Rente haben. Sie sind nach dem Werbemotto eines großen Magazins verfahren, das ich einmal anders interpretiere: Panik, Panik, Panik, und nur noch an den Wahlkampf denken! Das war in den letzten Tagen Ihr Motto.
Genau so darf man mit den alten Menschen nicht umgehen.
Sie, alle Rednerinnen und Redner der SPD, haben heute in dieser Debatte kein einziges Argument vorgetragen, das Ihre Aussagen der letzten Tage stützen könnte. Sie haben eine Panikdiskussion geführt. Jetzt haben Sie erklären müssen, daß die Rente sicher ist - wörtliches Zitat von Ihnen, Frau Mascher.
Unsere Meinung ist: Wer zwei Weltkriege überstanden hat, wird auch weiteres überstehen. Ich als jemand aus der jüngeren Generation spreche ausdrücklich die ältere Generation in diesem Lande an: Wir sind für das, was Sie nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet, was Sie in diesem Land aufgebaut haben, zu Dank verpflichtet. Das werden wir durch eine sichere Rente danken. Da ändert sich bei uns überhaupt nichts.
Dies können Sie von uns als Zusage werten.
Herr Kollege Kauder, die Kollegin Mascher würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Kauder, Sie sind wie ich Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Wir hatten am Mittwoch den Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung auf der Tagesordnung. Stimmen Sie mir zu, daß das der Ort gewesen wäre, den zuständigen Abgeordneten Auskunft über die aktuelle Entwicklung der Rentenversicherung zu geben? Diese Auskunft haben wir trotz
dringender Fragen nicht bekommen. Wir wurden auf irgendwelche zukünftigen Zahlen verwiesen.
Das wäre der Ort gewesen, um die von Ihnen beklagte Panik oder Verunsicherung durch Fakten, durch Zahlen, durch rückhaltlose Informationen abzubauen.
Frau Kollegin Mascher, wir haben beide an dieser Sitzung teilgenommen. Sie haben eine Fülle von Fragen gestellt. Die Bundesregierung hat diese Fragen beantwortet. Sie hat nur eine einzige Frage nicht beantwortet. Diese Frage lautete: Wie wird der Beitragssatz im nächsten Jahr aussehen? Da kann ich nur den Vorsitzenden des VDR, Herrn Ruland, und den Präsidenten der Bundesversicherungsanstalt, Herrn Rische, zitieren, die ausdrücklich gesagt haben: Es besteht kein Grund zur Panik. Der Beitragssatz für das nächste Jahr wird dann festgelegt, wenn die Fakten dafür vorliegen. Dies wird Mitte des Jahres sein; vorher brauchen wir darüber nicht zu diskutieren.
Nein, ich lasse nicht zu, daß hier eine Diskussion nach dem Motto „Die Rente ist nicht sicher" geführt wird. Dies erscheint tagelang in der Zeitung, obwohl Sie hier überhaupt keinen Beleg dafür vorweisen können. Das Wahlkampfgetöse, das Sie hier veranstalten, wird sich nicht zu Ihren Gunsten auswirken. Wer mit Sorgen und Ängsten der Menschen Wahlkampf machen will, bekommt dafür keine Stimmen, sondern die Quittung. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
Die Rentnerinnen und Rentner brauchen keine Sorge um ihre Rente zu haben. Aber - das ist hier schon gesagt worden -: Diese Rentenversicherung muß natürlich immer den Entwicklungen angepaßt werden. Das System steckt nicht in der Krise. Wir müssen aber einen Beitrag dazu leisten, daß die Renten auch in Zukunft sicher sind. Darüber wird diskutiert. Dies kann man aber in aller Ruhe machen, nicht in dieser Aufgeregtheit, wie es die SPD getan hat.
Wir haben gestern eine Debatte zum Arbeitsmarkt erlebt, heute erleben wir eine Debatte zur Rente. Beide Debatten haben gezeigt, daß die SPD in zwei für unsere Nation und die Menschen wichtigen Fragen keine Perspektive hat. Es handelte sich nur um Herumgerede und Angriffe, die aber zu keiner Änderung in der Sache führen können. - Dies zur SPD.
Herr Fischer, ich kann mich eigentlich nur darüber wundern, daß die Grünen ihr Zukunftsschicksal mit einer so langweiligen und uninteressanten Partei wie
Volker Kauder
der SPD verbinden. Sie werden mit hinabgezogen in den Sog dieser Partei.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, außer Wahlkampfgetöse einer Partei, die in Baden-Württemberg über 29 Prozent nicht hinauskommt, ist nichts geblieben. Die Rentnerinnen und Rentner können aus dieser Debatte mitnehmen: Die Union steht zu ihrer Zusage. Die Renten sind sicher. Die ältere Generation muß keine Angst um ihre Rente haben.
Ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3630 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Die Überweisung ist beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3606 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht auch damit Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler
- Drucksache 13/3102 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/3637 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartmut Koschyk Jochen Welt
Cern Özdemir
Dr. Max Stadler
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Aussiedlerpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist auf einen Konsens aller hier im Deutschen Bundestag angewiesen, aber auch auf einen Konsens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und auch auf einen notwendigen gesellschaftlichen Konsens, was den weiteren Zugang von deutschen Aussiedlern nach Deutschland anbelangt.
Wir haben dafür gemeinsam 1992 nach dem Asylkompromiß die Grundlage in dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz gelegt, nach dem jährlich ca. 220 000 Aussiedler nach Deutschland kommen können. Wir haben es gemeinsam in den letzten Jahren durch eine Politik geschafft, die für den Zugang nach Deutschland sagt, das Tor bleibt offen, die aber auf der anderen Seite in den Herkunftsgebieten neue Perspektiven für das Bleiben schafft, so daß sich der Zuzug nach Deutschland verstetigt hat und so daß bei denen, die noch in ihren Heimatgebieten leben, das Vertrauen bleibt, daß kein Grund zur Panik einer übereilten Entscheidung über Gehen oder Bleiben zustande kommt.
Das beweisen auch, meine Damen und Herren, die Zahlen. Über 100 000 Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion haben einen Ausnahmebescheid für die Bundesrepublik Deutschland in der Tasche. Sie machen aber keinen Gebrauch davon. Sie suchen nach Perspektiven in ihrer Heimat und vertrauen darauf, daß wir ihnen die Option des Gehens oder Bleibens offenhalten.
Aber, meine Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, daß es an einigen Punkten der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Wochen und Monaten zu Problemen gekommen ist und das geregelte Aufnahmesystem zwischen Bund und Ländern Verzerrungen erfahren hat. Dies liegt daran, daß vor allem Aussiedler, die auf die neuen Bundesländern verteilt worden sind, aus den neuen Bundesländer in die alten Bundesländer abwandern. Dies führt dazu, daß Strukturen, die in den neuen Bundesländern mühsam aufgebaut worden sind, nicht ganz in Anspruch genommen werden, zum Beispiel Sprachkurse mangels Masse - wenn ich das einmal so sagen darf - nicht ausgefüllt sind, wir aber bei den Aufnahmekapazitäten in den alten Bundesländern wegen einiger Probleme der Bundesrepublik Deutschland Schwierigkeiten bekommen haben.
Das hat dazu geführt, daß wir ein Instrumentarium, das vorliegt, nämlich das Wohnortzuweisungsgesetz für Aussiedler aus dem Jahre 1989, im letzten Jahr um fünf Jahre verlängert haben, daß wir bei diesem Gesetz aber auf Bitten der betroffenen Länder zusätzliche Instrumentarien einbauen sollen, um den Zuzug von Aussiedlern auf die Bundesrepublik, vor allem zwischen den alten und den neuen Bundesländern, besser zu verteilen.
Ich will aber sehr deutlich sagen: Das Gesetz, daß wir heute beschließen, muß in einen gesamten Maßnahmenkatalog eingepaßt sein, und zu diesem Maßnahmenkatalog muß an erster Stelle gehören, daß
Hartmut Koschyk
wir die Information für Aussiedler in ihren Herkunftsgebieten dahin gehend verbessern, ihnen zu sagen: Überlegt euch bereits beim Stellen eures Antrages und bei Genehmigung eures Antrages, wohin ihr in der Bundesrepublik Deutschland geht!
Dazu gehört auch, daß wir sie über die Chancen beraten, die in den neuen Ländern auf Grund teilweise besserer und noch nicht so überlasteter Strukturen der Aufnahme bestehen, daß wir sie darauf vorbereiten und ihnen vor allem eines sagen: Ihr habt jetzt einen längeren Zeitraum, um euch auf eure Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland vorzubereiten. Nutzt diese Zeit, um eure Sprachkenntnisse in den Herkunftsgebieten zu verbessern,
denn Sprache ist der Schlüssel der Integration! Vor diesem Hintergrund begrüßen wir es, daß die Bundesregierung die Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachvermittlung der Aussiedler in den Herkunftsgebieten verstärkt. Aber auch hier sage ich: - -
- Das wäre gar nicht schlecht, Herr Fischer;
die würden sie gut vorbereiten auf ihr Leben in der Bundesrepublik Deutschland.
Aber ich sage sehr deutlich: Noch so viele Sprachfibeln, noch so viele Sprachkurse, noch so viele Wörterbücher in den Begegnungszentren für die Rußlanddeutschen helfen nichts, wenn nicht auch der eigene Antrieb hinzukommt, die Zeit bis zur Ausreise zur Verbesserung der Sprachkompetenz zu nutzen.
Zu diesem Paket gehört auch, daß wir hier in der Bundesrepublik - und da gibt es ja neue Initiativen der Bundesregierung - in den Erstaufnahmeeinrichtungen die Aussiedler auch zum Ja zu den neuen Bundesländern beraten. Es ist richtig, wenn die Bundesregierung hier selbst Betroffene einsetzt; denn ich glaube schon, daß Rußlanddeutsche, die vor Jahren hierhergekommen sind und unsere Struktur kennen, die jetzt zu uns kommenden Landsleute am besten beraten können und sie auch überzeugen können, daß es nicht sinnvoll ist und der Eingliederung und neuen Chancen nicht dient, wenn man dorthin geht, wo schon viele sind, wo die Struktur nicht mehr in der Lage ist, weitere zu verkraften.
Durch das heute vorgelegte Gesetz wollen wir den Ländern die Möglichkeit geben, daß sie Aussiedlern dann einen vorläufigen Wohnort auf zwei Jahre befristet zuweisen können, wenn diese über keinen Arbeitsplatz verfügen.
Allein das Kriterium des Nachweises der Wohnung - das müssen wir hier ganz offen einräumen - hat nicht mehr gegriffen; denn wir haben in der Tat in einigen Regionen der alten Bundesländer auf einmal sehr viel Wohnraum durch Auflassung militärischer Liegenschaften, aber wir haben keine zur Verfügung stehende Arbeit, die vielleicht hier und da in den neuen Bundesländern besser gegeben ist, und wir haben auch nicht die Strukturen, daß zum Beispiel dann auch die Sozialhilfeträger zur unbegrenzten Hilfe in der Lage wären.
Wenn ich zum Beispiel aus einem Kreis in Niedersachsen höre, daß ihm bei 5 000 Aussiedlern im Kreis insgesamt 256 weitere zugewiesen werden, dann halte ich das für Zahlen, die deutlich machen, daß wir hier eine bessere Verteilung ermöglichen müssen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns natürlich der Diskussion stellen, wir schränkten die Freizügigkeit der Aussiedler zu stark ein. Das tun wir nicht, aber Freizügigkeit in Deutschland heißt nicht, daß ich überall in Deutschland die Leistungen bekommen kann, für die wir oftmals kommunale Strukturen brauchen. Wir können unsere Kommunen, die dann zum Beispiel Sozialhilfeträger sind, nicht überfordern, wenn wir in einem Teil Deutschlands zu wenige Aussiedler und in einem anderen Teil zu viele haben.
Deshalb ist es sicher im Interesse einer guten Eingliederung der Aussiedler, auch im Interesse der Akzeptanz bei der einheimischen Bevölkerung, wenn wir sagen: In den ersten zwei Jahren muß es möglich sein, die Verteilung besser zu steuern, und wer sich nicht daran hält und an einen anderen Ort geht, der hat dann dort auch keinen Anspruch auf Leistungen aus dem Arbeitsförderungsgesetz, der hat dann dort auch keinen Anspruch auf volle Sozialhilfe, sondern nur auf einen Notbedarf der Sozialhilfe. Wenn Aussiedler allerdings Arbeitsplatz, Wohnung, Ausbildungsplatz vorweisen können, sind sie von diesen Regelungen nicht betroffen.
Das Ganze ist auf zwei Jahre befristet. Es liegt jetzt an den Ländern, das Instrumentarium, das ihnen der Bund gibt, zu nutzen. Wir bitten die Bundesregierung, daß sie uns immer wieder berichtet, wie dieses neue Instrumentarium angenommen wird.
Ich appelliere allerdings auch an die Länder, jetzt solidarisch zu sein.
Denn es geht nicht, dem Bund laufend die Tür einzurennen und zu sagen: „Macht da was" und dann, wenn der Bund das, was die betroffenen Länder wollen, macht, in eine akademische Diskussion einzutreten, ob nicht die Freizügigkeit für Aussiedler zu sehr tangiert ist. Jetzt müssen die Länder untereinander solidarisch sein. Wir sind uns im Bundestag einig. Ich bedanke mich bei der SPD für die Zustimmung im Innenausschuß. Ich nehme an, Sie werden auch
Hartmut Koschyk
heute zustimmen. Jetzt müssen aber auch die Länder gemeinsam dieses Instrumentarium annehmen und nutzen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jochen Welt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung betont bei allen möglichen Gelegenheiten, daß die Türen für die Spätaussiedler weit geöffnet bleiben. Wer das will, trägt auch die Verantwortung dafür, daß das Haus, in das die Spätaussiedler durch die weit geöffneten Türen hineinkommen, bewohnbar ist.
Dieser Verantwortung wird die Bundesregierung schon seit langer Zeit nicht mehr gerecht.
Wir haben im Rahmen der Asylgespräche zwischen Koalition und SPD im Jahre 1992 Vereinbarungen zum Zuzug der Spätaussiedler getroffen. Wir haben schon damals deutlich gemacht, daß eine Quotierung bei der Zuwanderung von Spätaussiedlern vorhanden sein muß, um eine wirksame Integration überhaupt erst möglich zu machen. Die damals vereinbarte Zahl von rund 200 000 Spätaussiedlern je Jahr konnte eingehalten werden.
Nicht erfüllt hat die Bundesregierung die Basis dieser vereinbarten Zahlen.
Es fehlt eine verläßliche und gleichbleibende Eingliederungshilfe. Hier ist seit Jahren systematisch gekürzt und gestrichen worden, ob bei der Sprachförderung, den Einrichtungshilfen oder den AFG-Mitteln.
Wir haben 1992 mit Ihnen die Quote von 200 000 Aussiedlern auf der Basis der damaligen Eingliederungshilfe vereinbart. Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und der Koalition, haben diese Vereinbarung gebrochen. Diese Koalition ist ein unzuverlässiger Vertragspartner.
Doch damit nicht genug: Seit drei Jahren kommen immer mehr Menschen nach Deutschland, die sehr geringe oder gar keine Deutschkenntnisse haben. Immer mehr Menschen kommen aus sogenannten binationalen Ehen. Immer mehr Jugendliche kommen nicht aus eigenem Antrieb, sondern unter dem Druck ihrer Eltern. In ihrem Gepäck haben sie Vorbehalte gegen das Leben hier. Die Hoffnung, die für viele der Antrieb zum Kommen war, ist schnell enttäuscht.
Statt sich den größeren Problemen zu stellen, statt Hilfen auszubauen, wird bei den Eingliederungsleistungen gekürzt. Statt der Verantwortung zu entsprechen, überläßt man die Aussiedler ihrem Schicksal und den finanziell und sozial überlasteten Gemeinden.
Diese Koalition ist nicht nur ein unzuverlässiger Vertragspartner, sie treibt auch ein gefährliches Spiel mit den Spätaussiedlern. Diese Regierung ist verantwortlich für die zunehmenden sozialen Spannungen im Umfeld der Aussiedlerunterkünfte.
Es sind doch keine Hirngespinste, sondern Berichte aus unserer Republik, wenn sich der Kollege Günter Graf in einem Notbrief an die Regierung wendet und von den sozialen Spannungen im Zusammenhang mit der hohen Aussiedlerkonzentration in seinem Wahlkreis Cloppenburg/Vechta berichtet, von Spannungen, die den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllen. „Vierzig junge Aussiedler stürmten das Lokal - Verletzte und Festnahmen", so berichtet die lokale Presse. Sie wissen doch, welche verheerenden Wirkungen solche Schlagzeilen in unseren Zeitungen für den inneren Frieden haben können.
Zu einer solchen Spätaussiedlerpolitik haben wir 1992 nicht unsere Zustimmung gegeben. Wir wollen keinen neuen sozialen Sprengstoff. Wir wollen keine neuen sozialen Randgruppen. Wir wollen keine Bandenkriege zwischen deutschen und deutsch-russischen Jugendlichen. Wir wollen keine neue „Das Boot ist voll"-Diskussion. Wir wollen nicht, daß der Begriff „Aussiedler" zum Schimpfwort des Jahres 1996 wird.
Hinzu kommen seit einigen Jahren die besonderen Belastungen für einzelne Städte und Regionen in Deutschland, die von einem über die Zuweisung hinausgehenden Zuzug von Aussiedlern betroffen sind. Die Zuweisungsquotierung für die Länder und von dort auf die Gemeinden ist, denke ich, ein richtiger Ansatz. Doch stellen wir fest, daß es gerade in einigen Teilen von Niedersachsen, Baden-Württemberg und auch Rheinland-Pfalz Gemeinden gibt, die einen Spätaussiedleranteil von über 20 Prozent haben. Der Grund liegt auf der Hand: Viele gehen nicht in die ihnen zugewiesenen Orte, sondern fahren lieber dorthin, wo bereits Freunde und Bekannte wohnen, da sie dort eine persönliche Aufnahme haben.
Die Folgen sind klar: Überlastung nicht nur im Bereich der Sozialhilfe in den bevorzugten Orten, Leerstände und nicht genutzte Maßnahmen und Einrichtungen in den abgelehnten Zuweisungsgebieten.
Die Probleme sind nicht neu. Schon seit Jahren gibt es Hilferufe der betroffenen Gemeinden an die Regierungen. Sozialorganisationen, Kollegen aus den Landtagen und aus dem Bundestag machen auf die zunehmende Eskalation in den Ballungsgebieten aufmerksam.
Jochen Welt
Es darf dem Kollegen Waffenschmidt nicht nur in den Ohren klingeln, wenn der Caritas-Verband in seinem Wahlkreis sogar den Bundespräsidenten um Hilfe bittet.
Allein der dramatische Anstieg der erwachsenen Aussiedler,
so der Caritas-Verband für den Oberbergischen Kreis,
die nach einem Alibideutschkurs von sechs Monaten wegen ihrer Sprachdefizite nicht einmal mehr in der Arbeitslosenstatistik auftreten, sondern in die Sozialhilfe abgleiten und kaum noch wieder herausfinden, spricht eine deutliche Sprache.
Weiter heißt es in dem Brief an den Bundespräsidenten:
Bitte setzen Sie sich für diese Menschen ein! Die Jugendlichen werden unsere Zukunft gestalten. Wenn ihnen jetzt nicht geholfen wird, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren, werden diese jungen Leute als Erwachsene die Gesellschaft zerstören. Bitte helfen Sie!
Diese düsteren Prognosen gibt es seit mehr als einem Jahr. Wir haben im Innenausschuß immer wieder auf die Probleme aufmerksam gemacht.
Die Lagebilder aus der Praxis hören sich anders an als die schönfärberischen Erklärungen des Innenministeriums. Dort heißt es zum Beispiel in einer Erklärung vom Kollegen Waffenschmidt:
Das Aussiedleraufnahmegesetz und das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz haben sich inzwischen bewährt.
Weiter heißt es:
Die rund 200 000 Aussiedler, die wir jetzt jährlich in der Bundesrepublik aufnehmen, sind mit ihren großen Familien und zahlreichen Kindern ein Gewinn für unser Land.
Meine Damen und Herren, die Spätaussiedler und die betroffenen Gemeinden brauchen keine ständigen Liebeserklärungen dieser Regierung, sondern sie brauchen endlich einmal eine praktische Hilfe. Nicht Worte, sondern Taten sind gefragt.
Die Länder Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt haben Gesetzgebungsinitiativen ergriffen. Die Regierung kam erst im September auf den Plan. Sie legte einen Gesetzentwurf vor, der lediglich einen Ausgleich von Sozialhilfeleistungen zwischen den Sozialhilfeträgern mit einem mörderischen Verwaltungsaufwand zum Inhalt hatte. Als wenn es nur um das Geld ginge!
Wir brauchen keine weiteren Arbeitsbeschaffungsprogramme für unsere Sozialverwaltungen. Die haben ohnehin genug zu tun. Wir brauchen Hilfen für die Aussiedlerballungsräume und eine wirksame Zuwanderungssteuerung.
Es mag ja Politiker geben, denen dies genügt. Ich aber denke, dies war nicht ausreichend.
Dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, der vor allem unter Druck der betroffenen Länder zustande kam, können wir zustimmen, auch wenn er noch nicht alle unsere Wünsche erfüllt.
Ziel dieses Gesetzes ist es, daß nur für diejenigen eine Zuweisung wirksam wird, die ihre eigene Existenzsicherung nicht nachweisen können. Ziel ist es weiter, daß die Gewährung von AFG-Mitteln und der volle Sozialhilfeanspruch an den Zuweisungsort gebunden sind. Eine Existenzsicherung nach BSHG bleibt auf jeden Fall gewährleistet. Ausgleichsleistungen zwischen den Zuweisungsgemeinden und den Aufenthaltsgemeinden sollen die Ausnahme bleiben.
Darüber hinaus muß aber jenseits dieses Gesetzes erreicht werden, daß den besonders gebeutelten Gemeinden für die Vergangenheit ein finanzieller Ausgleich in Aussicht gestellt wird. Diese Überlegung fehlt bislang ganz in den Diskussionen der Koalition. Die Gemeinden haben jetzt die Probleme der Aussiedlerkonzentration. Ihnen muß zumindest durch finanzielle Ausgleichsmaßnahmen geholfen werden.
Hier ist es zwingend notwendig, im Gespräch zu bleiben und eine einvernehmliche Lösung zu finden. Dies gilt insbesondere für das Mißverhältnis zwischen der Quotierung und den zur Verfügung gestellten Integrationsmitteln. Dieser eklatante Verstoß gegen das gemeinsame Verhandlungsergebnis von 1992 kann nicht weiter hingenommen werden, Kolleginnen und Kollegen.
Im Interesse der betroffenen Gemeinden und aus Sorge um die Menschen, die zu uns kommen, werden wir diesem ersten kleinen Schritt zur Lösung eines größer werdenden Problems unsere Zustimmung erteilen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Cem Özdemir.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jahrelang waren die Aussiedler die Lieblings-
Cem Özdemir
einwanderer und -migranten der von der Union geführten Bundesregierung.
Dagegen wäre eigentlich auch nichts einzuwenden gewesen, wenn Sie die anderen Zuwanderer und Einwanderer in dieser Republik ähnlich geschätzt hätten. Aber dies war nicht der Fall.
Jetzt müssen die Aussiedler ebenfalls bluten. Die Leistungen für Aussiedler wurden in den letzten Jahren - dies wurde bereits gesagt - massiv gekürzt. Die Konsequenz daraus sind gescheiterte Karrieren, die vorprogrammiert sind; wir haben eine massive Dauerarbeitslosigkeit bei Zuwanderern, eine Ausgrenzung und eine Gettoisierung.
Es hat auch ein Wandel bei den Menschen stattgefunden, die als deutschstämmige Aussiedler in unser Land kommen. Während es sich früher um Menschen gehandelt hat, die zum großen Teil Deutsch gesprochen haben, sind es heute Menschen, die zunehmend Probleme mit der deutschen Sprache haben und keine Deutschkenntnisse besitzen. Insofern sind Förderungs- und Integrationsangebote nicht weniger angesagt, sondern dringender denn je.
Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es unverantwortlich, wenn wir diesen Menschen wichtige Leistungen vorenthalten. Die Folgen sind ein sozialer Sprengsatz in dieser Gesellschaft. Aber auch volkswirtschaftlich macht eine solche Politik keinen Sinn. Denn wenn die jugendlichen Spätaussiedler aus dem Arbeitsmarkt herausfallen und ihnen eine sozialpädagogische Betreuung und Integrationsleistungen vorenthalten werden, werden diese Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wir gehen hier sehenden Auges in eine soziale Katastrophe.
Diese Regierung empfindet die Aussiedler, ihre einstmalige Klientel, mittlerweile nur noch als eine Last. Ich habe das Gefühl, daß Sie sich dem Stimmungswandel in der Gesellschaft, die sich ein Stück weit gegen Aussiedler wendet, mehr oder weniger zu eigen gemacht haben und jetzt Ihre Politik dementsprechend ausgerichtet haben.
Ich bestreite keineswegs, daß der Zuzug von Spätaussiedlern regional zum Teil zu sehr massiven Problemen führt. Aber ich denke, jetzt geht es darum, daß wir eine verantwortungsvolle Politik machen und nicht Menschen gegeneinander ausspielen.
Die Vorlage des Innenausschusses hat zwei Teile. Der erste Teil, nämlich der, daß es einen Ausgleich zwischen den zuständigen Trägern der Sozialhilfe geben soll, ist zu begrüßen. Es ist sinnvoll, hier eine vernünftige Lösung zu finden, die das Recht auf Freizügigkeit auch für Aussiedler nicht einschränkt.
Allerdings ist der zweite Teil für uns nicht akzeptabel, obwohl sich die Bundesregierung hier Gott sei Dank wegbewegt hat von der Lösung, die der Bundesrat vorgesehen hat, nämlich der, daß die Sozialhilfe für zwei Jahre gekürzt werden soll, Trotzdem lehnen wir auch dieses Konzept ab, nach dem Leistungen gemäß dem Arbeitsförderungsgesetz gestrichen werden sollen. Gerade die Eingliederungs- und Sprachfördermaßnahmen sind dringend notwendig.
Ich befürchte, daß dies auf dem Rücken der Kommunen stattfindet. Es wird, was die Belastungen durch die Zuwanderung angeht, keinen Ausgleich der Lasten geben, sondern die Lasten werden ausschließlich auf die Kommunen abgeladen werden.
- Ich komme gleich dazu; hören Sie mir zu.
Wir brauchen eine Politik, die mehr Phantasie anwendet. Aussiedler sind Zuwanderer. Wir brauchen keinen Wettbewerb auf dem niedrigsten Niveau, sondern Aussiedler dürfen langfristig gesehen nicht mehr auf Grund des Bundesvertriebenengesetzes behandelt werden. Wir brauchen vielmehr ein für alle Zuwanderungswilligen geltendes Einwanderungsgesetz für die Zuwanderung in diese Gesellschaft.
Auch Aussiedler werden mittel- und langfristig gesehen auf Grund humanitärer Kriterien Zugang finden müssen.
Herr Waffenschmidt hat im Innenausschuß einiges über das gesagt, was heute bereits getan werden müßte. Ich denke, wir sind uns darin einig, daß Sprachfördermaßnahmen im Herkunftsland, also in Rußland beispielsweise, sinnvoller sind als hier. Ich glaube, dies sollte dringend geschehen. Hieran wird niemand die Bundesregierung hindern.
Genauso sinnvoll ist es sicherlich, daß Ex-Aussiedler eingesetzt werden, wenn es um die Beratung von Aussiedlern in den Erstaufnahmeeinrichtungen geht. Auch dieses Konzept wäre sinnvoll. Ich denke, daß solche Lösungen uns weiterbringen.
Ich möchte zum Abschluß meiner Rede Dr. Fritz Wittmann, den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, zitieren. Er hat davor gewarnt, daß wir dann, wenn die innerstaatliche Freizügigkeit eingeschränkt wird, einen so massiven Druck auf Aussiedler ausüben, daß sich diese Menschen nicht mehr als Bestandteil unserer Gesellschaft empfinden.
Deshalb lehnen wir diese Vorlage ab. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätaussiedler brauchen unsere Hilfe. Ihre Aufnahme und Eingliederung ist und bleibt eine nationale Aufgabe. Die bewährte Integrationspolitik des Bundes muß fortgesetzt werden.
Dr. Max Stadler
Die Kommunen haben einen Anspruch darauf, vom Bund und den Ländern bei der praktischen Erfüllung der Integrationsaufgabe unterstützt zu werden. Es hat sich gezeigt, daß seit einiger Zeit die Integration von Spätaussiedlern dadurch erschwert worden ist, daß ein gewisser Teil von ihnen entgegen der Verteilungsentscheidung des Bundesverwaltungsamtes in ein anderes als das zu ihrer Aufnahme verpflichtete Land gezogen ist, Dadurch ist es zu einer Konzentration des Zuzugs von Aussiedlern auf einzelne Regionen gekommen. Einzelne Kommunen werden überproportional mit Sozialhilfeansprüchen belastet.
Aus diesen Gründen war anzuerkennen. daß mit dem vorliegenden Gesetz sowohl eine Erstattungsregelung bei der Sozialhilfe vorgesehen wird als auch Maßnahmen zur gleichmäßigeren Verteilung der Spätaussiedler innerhalb des Bundesgebiets getroffen werden. Auf dringenden Wunsch der Kommunen und der Länder ist der Innenausschuß in seiner Sitzung vom 31. Januar 1996 dabei über die ursprüngliche Beschlußfassung vom Dezember 1995 hinausgegangen. Nunmehr erhalten Spätaussiedler, die ihren ständigen Aufenthalt an einem anderen als dem zugewiesenen Wohnort nehmen, nicht nur, wie ursprünglich beschlossen, keine Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz mehr, sondern in der Regel auch nur noch die nach den Umständen unabweisbar gebotene Sozialhilfe.
Damit soll ein finanzieller Anreiz gegeben werden, sich tatsächlich an den Ort der Zuweisung zu begeben, wo - Herr Özdemir, das haben Sie verschwiegen - finanzielle Förderungen zur Eingliederung bzw. Sozialhilfe in vollem Umfang weiterhin geleistet werden. Es ist nicht so, wie Sie in Ihrer Rede den Eindruck erweckt haben, daß diese Eingliederungshilfen und die volle Sozialhilfe nicht mehr gewährt würden. Sie werden aber nur an dem Ort der Zuweisung gewährt. Das ist der entscheidende Unterschied.
Gleichwohl, meine Damen und Herren, fällt es nicht leicht, der Absenkung der Sozialhilfe zuzustimmen, steht doch den Spätaussiedlern unzweifelhaft das Grundrecht auf Freizügigkeit zu. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Neuregelung greifen jedoch nicht durch. Freizügigkeit bedeutet nicht, daß ein Anspruch darauf besteht, an jedem Ort in der Bundesrepublik Deutschland in gleicher Weise Sozialleistungen zu erhalten. Dem Gesetzgeber muß es erlaubt sein, wie im vorliegenden Gesetz Differenzierungen zur Sicherung einer besseren Integration von Spätaussiedlern vorzunehmen, wobei die Einschränkung der Sozialleistungen überdies auf einen Zeitraum von zwei Jahren beschränkt ist.
Verfassungsrechtlich geboten - das will ich hier in aller Deutlichkeit noch einmal sagen - ist dagegen selbstverständlich, daß stets und überall das Existenzminimum gewährleistet sein muß. Im Gesetzgebungsverfahren entstand daher das Problem, ob im § 3 a des Gesetzentwurfes konkret festgelegt werden
sollte, daß die Sozialhilfe nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz vom Regelsatz abweichen darf.
Die F.D.P.-Fraktion hat schließlich aber davon abgesehen, auf einer derartigen Fixierung zu bestehen; denn auch die jetzt in § 3 a enthaltene offenere Formulierung stellt die Gewährung des Existenzminimums sicher. Sie ermöglicht überdies, den Grundsätzen der Sozialhilfe entsprechend, eine individuellere Reaktion und beläßt den zuständigen Behörden den notwendigen Spielraum für eine gerechte und angemessene Einzelfallentscheidung bei der Leistungsgewährung. Wir vertrauen darauf, daß davon sachgerecht und dem persönlichen Schicksal der Betroffenen angemessen Gebrauch gemacht wird.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Praxis des Gesetzesvollzugs sowie insgesamt die Frage, ob die Novellierung die eingangs beschriebenen Ziele überhaupt zu erreichen hilft, nach einem Jahr zu überprüfen und dem Parlament Bericht zu erstatten.
Mit diesen Maßgaben können wir dem Gesetz zustimmen.
Es spricht jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Partei des Demokratischen Sozialismus lehnt die Beschränkung der Freizügigkeit für Aussiedlerinnen und Aussiedler grundsätzlich ab. Wir fordern gleiche Rechte für alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Nicht nur aus dem Aussiedlergesetz, sondern auch aus dem Ausländer- und dem Asylverfahrensgesetz muß die Einschränkung der Freizügigkeit gestrichen werden.
Aus Gründen des Antikommunismus, aber auch aus völkischen Gesichtspunkten hat die Bundesregierung ihre Verbundenheit mit den deutschen Minderheiten in den osteuropäischen Ländern stets betont. Diese Menschen fungierten für die Bundesregierung stets als Brückenkopf, damit sie sich im Rahmen einer aggressiven Ostpolitik in die inneren Verhältnisse osteuropäischer Länder einmischen konnte.
Diese politischen Ansprüche hat die Bundesregierung heute immer noch. Aber die Menschen sind der Bundesregierung zunehmend gleichgültig geworden, spätestens von dem Zeitpunkt an, als die Angehörigen der deutschen Minderheiten ihre neugewonnene Freiheit in Anspruch nahmen, um nach Deutschland zu kommen.
Nun plötzlich setzt die Bundesregierung ihre ganze Phantasie dafür ein, den Zuzug dieser Menschen zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Man setzt auf anderweitig bewährte Abschreckungseffekte. Grundlegende demokratische Rechte werden für diese Menschen außer Kraft gesetzt, und der
Eva Bulling-Schröter
Staat, der sich so lange rührend um die „Träger deutscher Kultur" sorgte, als sie noch schützenswerte Objekte großdeutscher Politik waren, entzieht ihnen plötzlich die Fürsorge.
Ihr Gesetzentwurf spricht denn auch verschämt von „Akzeptanzproblemen" innerhalb der Bevölkerung. Sichtlich erleichtert registrierte ein nervöser Staatssekretär Dr. Waffenschmidt in den vergangenen Monaten eine „Beruhigung des Aussiedlerzugangs".
Nach dem Willen derjenigen, die sich sonst gern als Sachwalter deutscher Interessen feiern lassen, sollen Aussiedlerinnen und Aussiedler, die sich über die Wohnortzuweisung hinwegsetzen, ihre Ansprüche nach dem Arbeitsförderungsgesetz verlieren. Die Kosten werden also erneut auf die Kommunen abgewälzt. Aussiedlerinnen und Aussiedler sollen mit dem nach dem Bundessozialhilfegesetz unabweisbar Gebotenen auskommen.
Diese bei Asylbewerberinnen und Asylbewerbern bereits erprobte Ausgrenzungspolitik ist in unseren Augen verfassungswidrig.
Der Wille zur Integration endet für die Koalitionsparteien nicht erst bei der beruflichen, sondern - wörtlich - schon bei der „Lage des sozialen und kulturellen Lebens in der Bundesrepublik" . Was darunter zu verstehen ist, sollte die Koalition den „Trägern des 800jährigen deutschen kulturellen Erbes" einmal erklären.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer jahrelang eine Art Heim-ins-Reich-Politik gegenüber diesen Menschen betrieben hat, braucht sich wahrlich nicht zu wundern, wenn diese Menschen ihre Verbundenheit mit ihrem Vaterland durch Einwanderung herzustellen versuchen. Es zeigt, wie zynisch und kalt kalkulierend die Politik der Bundesregierung ist, wenn sie diese Menschen am Zuzug hindern will und wenn sie die Menschen, die die Einreise dennoch geschafft haben, wie Bürger zweiter Klasse behandelt.
Liebe Frau Kollegin, ich würde sehr vorsichtig sein, stark geprägte Begriffe wie „völkisch" und „Heim ins Reich" in bezug auf Gegenstände zu erwähnen, die wir hier behandeln.
Es spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Horst Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich zu Beginn meiner Rede feststellen: Dies ist ein
Gesetz für die bessere Integration der deutschen Spätaussiedler. Es ist - das sage ich gerade nach den letzten Bemerkungen, die hier gefallen sind - keinesfalls ein Gesetz gegen die deutschen Aussiedler. Es soll ihnen im Gegenteil helfen, hier besser heimisch zu werden.
Meine Damen und Herren, es ist eine gute Erkenntnis, die wir inzwischen weithin teilen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, daß es nicht der Akzeptanz dient, wenn in einigen Städten und Gemeinden in Deutschland 30 bis 40 Prozent der Einwohner Aussiedler sind und in anderen Kreisen - Herr Kollege Graf, Sie haben uns das geschildert - überhaupt keine Aussiedler sind. Das dient nicht der Integration. Wir wollen hier helfen; wir wollen Ländern und Gemeinden eine Struktur zur Verfügung stellen, um die Aussiedler besser verteilen zu können.
Ich sage noch einmal: Das ist ein Angebot an Hilfe. Denn wir sagen: Diese Deutschen, die mit ihren großen, jungen Familien zu uns kommen wollen, sind nach wie vor in unserem Land willkommen. Aber wir müssen sie auch gut betreuen.
Deshalb bin ich sehr dankbar, daß wir für dieses Gesetz eine breite Mehrheit finden werden, wie das ja im Innenausschuß und auch heute hier in den Voten zum Ausdruck kam.
Ich will die Gelegenheit nutzen, noch einmal deutlich zu sagen: In diesem Gesetz und auch in der Novelle steht ausdrücklich, daß man auf die Zusammengehörigkeit von Familien Rücksicht nehmen soll. Ich sage das, weil mich heute morgen ein paar beunruhigte Anrufer fragten: Werden jetzt Familien getrennt? - Das hat keiner im Sinn, und es ist auch weiterhin möglich, daß Familien zusammen in einem Land und in einer Gemeinde wohnen.
Ich möchte für die Bundesregierung darauf hinweisen, daß das Gesetz Teil eines umfangreichen Integrationsprogrammes ist. Dazu will ich noch zwei Schwerpunkte nennen.
Wir werden alles daransetzen - ich bin darüber in einem sehr guten Gespräch auch mit der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts und vielen anderen Beteiligten -, das Angebot an Kursen zur Erlernung der deutschen Sprache in Rußland, in Kasachstan, in den Herkunftsgebieten generell nachdrücklich zu verstärken.
Das muß in großem Umfang geschehen.
Wir sind in Rußland auch dabei - wir müssen das alles mit den dortigen Behörden absprechen - und haben damit im letzten Jahr schon begonnen, Rußlanddeutsche als Lehrer auszubilden. Denn wir können nicht alle benötigten Lehrer dorthin schicken; das wird aus vielerlei Gründen gar nicht möglich sein. Es bewährt sich, in der GUS Rußlanddeutsche auszubilden. Wir werden das Angebot in diesem Jahr verstärken.
Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt
Ich sage aber auch von dieser Stelle aus: Alle, die auf Aussiedler, auf Deutsche in den osteuropäischen Gebieten, die zu uns kommen wollen, Einfluß haben, sollten doch bitte dafür werben, daß diese Angebote auch angenommen werden. Das ist ganz wichtig. Wir müssen überall sagen: Das dient der Integration.
Ich lasse ebenfalls prüfen - ich habe das im Innenausschuß dargelegt -, ob solche Aussiedler, die schon in den Herkunftsgebieten gut Deutsch gelernt haben und das durch entsprechende Zeugnisse nachweisen können, bei der Einreise nach Deutschland für diese Vorarbeit im Hinblick auf die Integration durch eine schnellere Bescheiderteilung quasi eine Belohnung erhalten können. Ich glaube, auch das ist für die Integration in Deutschland sinnvoll.
Meine Damen und Herren, damit die Aussiedler mit alledem nicht überfallen werden, ist die Beratungstätigkeit ausgeweitet worden. Ich will an dieser Stelle dem Verband der Rußland-Deutschen danken, der schon die ersten zehn Berater aus seiner Mitte ausgebildet hat und in den Erstaufnahmeeinrichtungen einsetzt. Es ist ganz wichtig, daß sie mit uns gemeinsam arbeiten, daß sie auch das neue Gesetz erläutern. Denn in ihnen stoßen ja die Aussiedler, die zu uns kommen, auf Schicksalsgefährten, die das gleiche Lebensschicksal hatten und die ihnen jetzt erklären: Bitte, das geschieht zu eurem Nutzen. Sie stoßen also auf die bewährten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Einrichtungen und ebenfalls auf diese Schicksalsgefährten, die auch für sie arbeiten.
Noch ein weiterer Gedanke, auch nach den Ausführungen meines lieben Kollegen Jochen Welt. Der Bund hat sich nicht aus der Betreuung verabschiedet. Vielmehr will ich hier feststellen: Wenn der Bund Jahr für Jahr allein im Aussiedlerbereich weit über 3 Milliarden DM zur Verfügung stellt, macht er das, was er im Augenblick in diesem Bereich tun kann.
Das muß man auch einmal sagen.
Ich möchte noch einmal ins Gedächtnis rufen: 1994 sind sogar viele Millionen Mark, die im Garantiefonds bereitgestellt worden sind, von den Ländern gar nicht abgerufen worden. Wir haben sie am Schluß Herrn Waigel zurückgegeben.
- Gerade bei diesem Land war das der Fall, auch bei anderen Ländern.
Ich bin der Meinung: Wir sollten uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen, sondern wir sollten uns alle darin einig sein, lieber Kollege Welt, daß wir jetzt die Länder bitten - sie haben das ja am 9. Februar auf der Tagesordnung -,
Herr Parlamentarischer Staatssekretär - -
- daß sie das genehmigen.
Zweitens sollten wir dabei bleiben, daß wir in Bund, Ländern und Gemeinden das als eine gemeinsame Aufgabe empfinden.
Ich schließe mit dem Satz: Die großen, jungen Familien, die nach einem oft schwerem Lebensschicksal in Kasachstan und Asien zu uns kommen, sind nach wie vor ein Gewinn für unser Land.
Herzlichen Dank.
Herr Graf, wünschen Sie das Wort zu einer Kurzintervention? - Bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache es ganz kurz. Als das Stichwort Garantiefonds fiel, erfolgten Zwischenrufe mit dem Hinweis auf Niedersachsen. Dazu will ich ganz deutlich sagen: Sie müssen eine berechenbare Politik betreiben. Das bedeutet auch, daß Sie die entsprechenden Haushaltsmittel so rechtzeitig zur Verfügung stellen müssen, daß die betreffenden Länder - und das ist nicht nur ein niedersächsisches Problem - zeitgerecht planen können.
Sie haben vorhin selbst - ich glaube, es war Herr Koschyk - den Hinweis gegeben, daß Gelder aus dem Garantiefonds für Sprachlehrgänge in den ostdeutschen Ländern zur Verfügung gestellt werden. Diese Gelder würden zwar in Anspruch genommen, aber die Kurse seien nicht belegt, weil keine Leute da sind. Die Leute, die dort fehlen, sind hier. Dafür gibt es das Geld immer verspätet, und deswegen kann man nicht planen. Da ist ein bißchen mehr Flexibilität gefragt.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler. Das sind die Drucksachen 13/3102 und 13/3637.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit denselben Stimmenverhältnissen angenommen worden.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 7. Februar 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.