Rede von
Ulrike
Mascher
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Rente ist sicher" - das war, zumindest bis heute morgen, einer der liebsten Sprüche unseres Arbeitsministers.
- Ich gratuliere.
Aufmerksame Zeitungsleserinnen und Zeitungsleser müssen da aber inzwischen ihre Zweifel haben; denn in den Zeitungen ist von Rentendefiziten die Rede, von unsolider Finanzierung, von der Angst um die Rente, von der Rentenwut. Die „Leipziger Volkszeitung" sieht Norbert Blüm sogar als Kapellmeister auf der Titanic, der unermüdlich seinen Lieblingsschlager - „Die Rente ist sicher! " - dirigiert.
Leider ist das, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, nicht nur ein für den Arbeitsminister unerfreuliches Medienspektakel, sondern es geht um die ganz reale Angst vieler Rentnerinnen und Rentner.
Angesichts dieser Ängste und Sorgen halte ich es für unangemessen, wenn der Arbeitsminister Norbert Blüm von Wahlkampfmanövern spricht und die verfolgte Unschuld spielt.
Wer hat denn die Vorschläge zu einer einschneidenden Veränderung der Rahmenbedingungen für die Frühverrentungen gemacht? Steht nicht auf dem Papier, das die Abschaffung der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit vorsieht, als Verfasser BMA, also Bundesminister oder Bundesministerium für Arbeit?
Ist der Vorschlag zur Veränderung bei der Rentenanpassung im Osten etwa nicht seit Herbst letzten Jahres im Arbeitsministerium geplant worden?
Wundert sich der Arbeitsminister wirklich, wenn die Angst der Sozialpläner und Frührentner um ihre Rente zu massiven Demonstrationen im Ruhrgebiet führt,
wenn sich die ostdeutschen Rentner und Rentnerinnen betrogen vorkommen und wenn jetzt angesichts der seit Jahren andauernden schiefen Finanzierung der Rente wegen der Arbeitslosigkeit und den Rentenleistungen in Ostdeutschland eine giftige Ost-West-Debatte beginnt?
Um diese vergiftete Debatte rasch zu beenden, hilft nur eines: Die Fakten müssen auf den Tisch. Da reichen Ihre Zahlen auf Seite 17 Ihrer Rede nicht ganz aus, Herr Arbeitsminister.
Wir müssen eine offene Diskussion führen, um den Rentenkonsens im Interesse der Rentnerinnen und Rentner und im Interesse der Beitragszahler wieder zu stabilisieren, damit wir alle hier im Haus glaubwürdig sagen können: Die Renten sind sicher. Das ist keine unlösbare Aufgabe.
Nach den einschneidenden Veränderungen bei der Rentenreform, der Umstellung von der Brutto- auf die Nettoanpassung, nach der vorgesehenen Heraufsetzung des Rentenalters - ich sage allerdings ausdrücklich dazu: nur wenn es die Arbeitsmarktsituation zuläßt -, nach der Einführung des regelgebundenen Bundeszuschusses waren die Weichen richtig gestellt, auch wenn der CDU-Ministerpräsident Biedenkopf immer wieder versucht hat, mit demographischen Horrorgemälden das System einer solidarischen, beitragsfinanzierten Altersrente aus den Angeln zu heben.
Derselbe CDU-Ministerpräsident Biedenkopf gibt sich jetzt plötzlich als treusorgender sächsischer Landesvater, der eine Harmonisierung der Rentenanpassung im Osten und Westen strikt ablehnt, dabei aber verschweigt, daß er das ganze System der gesetzlichen Rentenversicherung abschaffen will.
Seit einiger Zeit wird von vielen Politikern mit steigender Begeisterung ein neues Rezept für die gesetzliche Rentenversicherung in Umlauf gebracht: Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn dann noch der Umfang der sogenannten versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung mit über 80 Milliarden DM vom Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger beziffert wird, dann kennt die Begeisterung kaum noch Grenzen.
Häufig wird dabei übersehen, was diese „fremden" Leistungen sind, und gerne wird verschwiegen, ob sie nun ganz abgeschafft oder durch Steuern finanziert werden sollen.
In der ernsthaften wissenschaftlichen und politischen Debatte werden alle Leistungen, die nicht durch Rentenbeiträge gedeckt sind, als versicherungsfremd eingestuft. Das sind zum einen Kriegsfolgelasten wie die Anrechnung von Kriegsdienst, Gefangenschaft, Flucht und Vertreibung und die Leistungen nach dem Fremdrentengesetz. Dafür wurden 1993 21,7 Milliarden DM aufgewendet, also etwa ein Viertel aller versicherungsfremden Leistungen. Angesichts des Zeitablaufs mindern sich diese Leistungen aber in der Zukunft mit Ausnahme der Leistungen des Fremdrentengesetzes, die vor allen Dingen für Aussiedler erbracht werden.
Ulrike Mascher
Ein weiterer Komplex sind die Leistungen nach dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und der Bestandsschutz für die Renten in den neuen Bundesländern, also zum Beispiel die Auffüllbeträge. Die Leistungen für die Auffüllbeträge betrugen 1994 zirka 6 Milliarden DM. Das sind etwa 7 Prozent der sogenannten versicherungsfremden Leistungen.
Es gibt eine Reihe weiterer Leistungen, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstehen, die aber unbestritten - bisher jedenfalls - als Leistungen des sozialen Ausgleichs dem Aufgabenbereich der Rentenversicherung zugeordnet wurden: Anrechnungszeiten für Krankheit und Arbeitslosigkeit, Kindererziehungszeiten als eine wichtige Leistung des Familienlastenausgleichs und die Rente nach Mindesteinkommen, eines der wenigen wirksamen Instrumente, das die Altersarmut von Frauen mit niedrigen Erwerbseinkommen mindert.
Bisher wurden nur vom Vorsitzenden des Sozialbeirates, Herrn Professor Schmähl, Hinterbliebenenrenten, also Witwen- und Witwerrenten, als versicherungsfremd eingestuft. Ich erwähne diese Position, um zu zeigen, auf welch dünnes Eis die Debatte um die versicherungsfremden Leistungen geraten kann.
Für nachdenkenswert halte ich die Überlegungen zur Anrechnung von Ausbildungszeiten, wenn man dabei berücksichtigt, daß längere Ausbildungszeiten, zum Beispiel ein Hochschulstudium, zumindest in der Vergangenheit in der Regel ein höheres Einkommen und damit später auch höhere Renten als im Durchschnitt erbracht haben. Sie sehen, ich versuche, hier sehr vorsichtig zu formulieren, Frau Fischer. Aber immerhin machen die Anrechnungen von Ausbildungszeiten mit rund 7,5 Milliarden DM 9 Prozent der Leistungen aus, die nicht durch Beiträge abgedeckt werden. Das sind beachtliche Leistungen für Mitglieder einer Generation, von denen einige sich, durch Brandreden des Chefökonomen der Deutschen Bank veranlaßt, zu dem pathetischen Spruch hinreißen ließen: „Ich kündige den Generationenvertrag. " Sie sollten einmal begreifen, worum es bei diesem Generationenvertrag auch in Ihrem Interesse geht.
Ein großer Brocken, über den wir heute schon mehrfach gesprochen haben, sind die Frühverrentungen. Hier sind zwar jahrelang Beiträge gezahlt worden; aber der Grund der Frühverrentung ist Arbeitslosigkeit. Dieses soziale Risiko ist durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert, und hier findet innerhalb der sozialen Sicherungssysteme eine riesige Verschiebung von Lasten statt. Mit etwa 18 Milliarden DM werden die Rentenkassen durch diese Übernahme von Kosten der Arbeitslosigkeit belastet.
Betrachtet man die ganz unterschiedlichen versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherungen, wird deutlich, daß wir hier eine gründliche sozialpolitische Debatte brauchen. Es geht um die
politische Bewertung, welche Leistungen dem notwendigen sozialen Ausgleich innerhalb der Rentenversicherung dienen, zum Beispiel die Rente nach Mindesteinkommen, von welchen Leistungen, zum Beispiel als Folgen des Vereinigungsprozesses, wir die Rentenversicherung entlasten müssen, zum Beispiel durch eine Erhöhung des Bundeszuschusses, und für welche Leistungen, zum Beispiel bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit, die Unternehmen zu einer Finanzierungsbeteiligung herangezogen werden müssen, da sie ja auch von der Verjüngung ihres Personals und von der Erneuerung der beruflichen Qualifikation Nutzen haben. Darüber lohnt es sich auf der Grundlage seriöser Zahlen zu streiten und zu diskutieren.
Das Prognos-Gutachten, das ich allen zur Lektüre empfehle, die über dieses Thema in Talkshows plaudern oder sich in Zeitungsbeiträgen äußern wollen, zeigt ganz deutlich, wie flexibel und anpassungsfähig das soziale Sicherungssystem unserer gesetzlichen Rentenversicherung ist, wenn Beschäftigung und Erwerbstätigkeit stimmen und die Arbeitslosigkeit reduziert wird.
Mehrfach ist hier gesagt worden, unser Rentensystem habe zwei Weltkriege, Inflation und Währungsreform überstanden und den deutschen Einigungsprozeß sehr erfolgreich bewältigt. Keines der Systeme, die von Herrn Professor Biedenkopf und Herrn Professor Miegel stets so gerne angepriesen werden, hat diese Stabilität und Flexibilität gezeigt.
Ich kann nur alle auffordern, sich an der Entwicklung von Modellen zu beteiligen, die aufzeigen, wie eine Reduzierung der Kostenbelastung durch die Frühverrentung erreicht werden kann und wie wir eine Erhöhung des Bundeszuschusses zur Finanzierung der Leistungen aus dem Einigungsprozeß erreichen können. Ich rate uns auch zu einer behutsamen - ich sage ausdrücklich: behutsamen - Diskussion darüber, in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt das Fremdrentenrecht geschlossen wird.