Rede von
Andrea
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jahrelang habe ich mich darüber geärgert, daß, wenn man nur irgendein kritisches Wort zum Rentensystem sagte, Norbert Blüm und Rudolf Dreßler Hand in Hand kamen und sagten: Pscht, die Renten sind sicher, hör auf, darüber zu diskutieren. Wenn ich die heutige Auseinandersetzung erlebe, wünsche ich mir fast den Zustand zurück, als die beiden noch Hand in Hand marschiert sind.
Ich finde, so darf man nicht auf den Nerven der Leute herumtrampeln, die sich fragen, was da in den letzten Wochen gewesen ist. Das richtet sich aber an beide Seiten des Hauses.
Herr Minister Blüm, Sie sind es gewesen, der dieses ganze Theater angefangen hat. Am 20. Januar dieses Jahres haben Sie undementiert von einer Zeitung schreiben und abends durch die „Tagesschau" gehen lassen, daß eine möglicherweise „dramatische Entwicklung der Rentenfinanzen" drohe. Wenn das einer sagt, der uns seit 13 Jahren erklärt „Alles ist paletti", dann müssen die Leute irritiert sein; das ist völlig klar.
Damals war das ganz einleuchtend. In der darauffolgenden Woche wollten Sie gerne darüber sprechen, daß wir uns die Frühverrentung nicht mehr leisten können. Da haben Sie sich gedacht, das kommt mir doch zupaß, wenn ich vorher sage: „Wir haben ein Problem mit den Rentenfinanzen".
Dann geht das einfach los, und alle reden mit, ob sie was davon verstehen oder nicht. Dabei werden alle möglichen Fragen vermischt: die Nettolohnanpassung, die Anpassung der Ostrenten und die Frage der Finanzen der Rentenversicherung, wobei dann noch kurz- und langfristig vermischt wird. Alles geht munter durcheinander. Ich will versuchen, das auseinanderzuhalten.
Ad eins die Anpassungsverfahren in der Rentenversicherung. Seit der 89er Reform - das ist heute gesagt worden - richtet sich die Anpassung der Renten nach den Nettolöhnen der Erwerbstätigen. Das kann zu der bitteren Entwicklung führen, daß die Renten sinken. Im Moment ist das für dieses Jahr und wahrscheinlich sogar auch für das nächste Jahr noch nicht absehbar. Grundsätzlich muß man aber sagen: Der Generationenvertrag ist keine Einbahnstraße.
Wenn sich die jüngeren Menschen, die erwerbstätig sind, einschränken müssen, dann wird sich das auch auf die Renten auswirken müssen.
Dann die Frage der Ostrentenanpassung. Es ist wirklich eine Verzweiflungstat, die hier geplant wird. Es ist hoch zweifelhaft, ob dieser Spareffekt von 700 Millionen DM, von dem die Rede ist, überhaupt eintritt. Aber munter drauflos werden solche Vorschläge gemacht und in die Debatte geworfen, und so wird den Leuten in Ostdeutschland damit zu all dem Ärger, den sie sonst noch haben, noch eines draufgesetzt. Ich bin der Auffassung, daß die Renten zwischen Ost und West angeglichen werden müssen, daß das aber in einem überschaubaren mittelfristigen Zeitraum geschehen sollte.
Damit komme ich zum eigentlichen Thema der aktuellen Finanzierungskrise, über die im Moment gesprochen wird. Nach meiner Kenntnis müssen wir noch vier Wochen warten, bis die üblichen Daten kommen, mit denen die Zahlen für die Rentenversicherung für dieses Jahr festgelegt werden. Wieso wissen die einen schon, daß alles prima ist, und
Andrea Fischer
wieso wissen die anderen schon, daß alles eine Katastrophe ist?
Ich finde, so geht es nicht. Hier wird das Rentensystem instrumentalisiert; hier kocht jeder seine eigene Suppe. Offensichtlich versprechen Sie sich in den Wahlkämpfen etwas davon. Aber trotzdem frage ich mich, ob die Rentenversicherung bei dieser Art von großer Koalition in guten Händen ist.
Ja, es ist wahr, die Finanzen der Rentenversicherung sind in arger Bedrängnis. Dafür gibt es zwei Ursachen. Bevor ich aber auf diese Ursachen komme, will ich eines klarstellen, weil mir das heute auch nicht klar genug zu sein schien: Die Zahlung der Rente derjenigen, die zur Zeit Rente beziehen, ist gesichert.
Wenn die Finanzierung schwierig wird, dann heißt das für die Erwerbstätigen, daß ihre Beiträge steigen müssen. Ich sage das nur deshalb, um diesen Unterschied klarzumachen. Trotzdem kann man das nicht einfach so hinnehmen, und deswegen lassen Sie uns über die Ursachen reden.
Die erste Ursache ist die seit Jahren andauernde Erwerbslosigkeit. Das ist völlig klar. Ein Teil ihrer Folgen ist eben auch von der Rentenversicherung zu tragen. Letzte Woche sind uns 2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze versprochen worden. Ich finde, man sollte solche leichtfertigen Versprechen nicht machen.
Vor allen Dingen sollten wir, bevor wir Luftbuchungen machen und damit rechnen, daß dieses Versprechen auch Realität wird, überlegen, wie wir mit dem gegenwärtigen Zustand umgehen, statt das auf die Zukunft zu vertagen.
Herr Minister Blüm, ich habe von Ihnen immer noch keine Antwort auf die Frage, was passiert, wenn die Frühverrentungspraxis sehr schnell eingeschränkt wird und dafür andere Gruppen der Beschäftigten arbeitslos werden, sprich: die jüngeren Menschen.
Zu dieser Frage habe ich von Ihnen immer noch nichts gehört. Wenn Sie das jetzt rabiat und radikal machen, dann verschieben Sie das Problem nur zwischen den Generationen, und Sie verschieben es zwischen zwei verschiedenen Sozialversicherungskassen. Wem ist damit gedient?
Das gilt auch für die Sache mit den Abschlägen. Im Moment ändern sich da die Modelle so schnell, daß ich mich dazu eher grundsätzlich äußern will und nicht zum allerneuesten Vorschlag, der uns bislang nur aus der Zeitung bekannt ist.
Unter den gegenwärtigen Umständen weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und der derzeitigen betrieblichen Praxis habe ich große Befürchtungen, daß dann, wenn die Möglichkeit der Frühverrentung nach Arbeitslosigkeit - das Ganze mit Sozialplänen flankiert - eingeschränkt wird, gleichzeitig aber die Leute individuell die Möglichkeit haben sollen, mit 60 Jahren in den Vorruhestand zu gehen - unabhängig davon, ob sie vorher arbeitslos waren -, die Leute auch individuell unter Druck gesetzt werden. Dann müssen sie als Individuum aber Abschläge von ihrer Rente hinnehmen. Das heißt, mit diesem Verfahren lassen wir die älteren Arbeitnehmer ihre eigene Entlassung bezahlen. Das finde ich, geht nicht.
Ich glaube, daß das keine Alternative zur Strapazierung der Sozialversicherungskassen durch die Arbeitgeber ist. Ich bin der Auffassung, wir dürfen nicht bei den Erwerbstätigen ansetzen, sondern müssen auch die Politik der Arbeitgeber einbeziehen. Einer der seltenen Punkte, in denen ich mit Herrn Minister Blüm einer Meinung bin, ist, daß die Arbeitgeber tatsächlich nicht länger ihre betriebswirtschaftlichen Probleme auf Kosten der Sozialversicherung lösen dürfen, am nächsten Tag aber über den teuren Sozialstaat jammern.
Seit 15 Jahren erzählen uns die Arbeitgeber in dieser unsäglichen Standortdebatte, es würde in Deutschland an Innovation, an Kreativität, an Flexibilität mangeln. Wo sind diese Eigenschaften bei den Arbeitgebern? Wo ist die Kreativität der Arbeitgeber bei einer neuen Arbeitszeitpolitik? Wo sind die intelligenten betrieblichen Arbeitszeitmodelle, die nämlich erst die Voraussetzung dafür schaffen würden, daß es einen gleitenden Übergang in den Ruhestand mit Hilfe von Teilrenten geben kann? Das ist die Bringschuld der Arbeitgeber. Solange sie die nicht erbracht haben, dürfen sie nie wieder über diesen Sozialstaat jammern.
Die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Teilrente reicht nicht aus. Wir werden die Arbeitgeber auch noch anderweitig beteiligen, müssen zum Beispiel an den Kosten der Höherversicherung, damit diejenigen, die in Teilrente gehen, nicht später mit niedrigeren Renten zu rechnen haben.
Dies noch als ein letzter Rat an die Arbeitgeber: Wenn wir über Höherversicherungen und andere Möglichkeiten im Zusammenhang mit dem gleitenden Übergang in den Ruhestand reden, dann schauen Sie nicht nur dumm auf die Zahlen! Dann werden Sie merken, daß Sie ganz viel zu gewinnen haben, nämlich die Kompetenz, die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer, derer Sie sich jetzt auf einen Schlag entledigen.
Also plädiere ich dafür, jetzt nicht hektisch den Vorruhestand abzuschaffen, sondern nach neuen Arbeitszeitmodellen als Voraussetzung für die Teilrente zu suchen. Damit richte ich mich vor allem an
Andrea Fischer
die Arbeitgeber und an die Gewerkschaften. Wenn das gelänge, könnten wir den Bundeshaushalt entlasten, weil die Arbeitgeber die Kosten für ihre Sozialpläne nicht länger steuermindernd geltend machen könnten. Wir könnten mit den eingesparten Kosten für die Frühverrentung und die Arbeitslosigkeit auch die Sozialversicherungsausgaben verringern.
Zur zweiten Ursache für die Finanzierungsengpässe, die heute so lauthals beklagt werden - ein Phänomen, mit dem wir es seit Jahren zu tun haben -: das Verschieben der Lasten der Erwerbslosigkeit zwischen den verschiedenen Sozialversicherungstöpfen. In diesem Zusammenhang könnte man ein langes Sündenregister auflegen - das hat der Kollege Dreßler zum Teil schon gemacht -, aber das hilft doch überhaupt nichts. Wir könnten höchstens feststellen, daß die Rentenversicherungsbeiträge dann heute niedriger wären.
Der entscheidende Punkt ist aber, so glaube ich, daß wir mit der Augenwischerei aufhören. Die Verschiebung zwischen den Sozialversicherungstöpfen funktioniert doch nur, wenn wir nach dem Motto verfahren: Heute reden wir nur über die Rente und gukken nicht, wie sich das auf die Arbeitslosenversicherung auswirkt. Gestern haben wir nur über die Arbeitslosenversicherung geredet und nicht auf die Rente geschaut. Am Ende, auf dem Lohnzettel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso wie in den Bilanzen der Unternehmer, ist es egal, wie sich die Sozialversicherungsbelastung auf die verschiedenen Töpfe verteilt. Es interessiert die Summe, und zwar mit Recht.
Deswegen müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt gesenkt werden können, wie sie für beide Seiten wieder erträglich werden. Das ist in der Tat ein außerordentlich großes Problem, ein außerordentlich schwierig zu lösendes und zudem langwieriges Problem. Deshalb habe ich wirklich die Faxen dicke angesichts der Tatsache, daß in jeder Presseerklärung zur Sozialversicherung irgend jemand die versicherungsfremden Leistungen beklagt, ohne einen praktikablen Vorschlag zu machen, wie man die Beiträge nennenswert senken kann.
Wir haben uns überlegt, daß das nur über eine gravierende Umverteilung der Lasten möglich ist: indem wir ein neues Steuersystem einführen und damit die finanziellen Spielräume schaffen. Aber das ist ein großes Vorhaben. Bislang habe ich von keiner Seite des Hauses gehört, wie Sie auf die über Steuermittel zu finanzierenden benötigten 14 Milliarden DM für den Bundeshaushalt kommen wollen, mit denen man den Beitragssatz wenigstens um einen Punkt senken könnte.
Ich will noch einmal sagen: Es gibt großen Reformbedarf in der Rentenversicherung. Aber man wird bei dieser Reform nicht wirklich vorankommen,
wenn man solche Inszenierungen macht, wie Sie das heute getan haben.
Das führt dann nämlich dazu, daß um die Rentenversicherung wieder große Zäune aufgebaut werden: Bloß nicht an ihr rühren, damit sich keiner aufregt!
Es ist schwierig: Wir haben die Lasten der Erwerbslosigkeit auch in der Rentenversicherung zu tragen. Wir müssen eine umfassende Politik der Arbeitsumverteilung machen, und das wird eine große Herausforderung für die Rentenversicherung werden.
Vor allen Dingen gibt es eine sehr kritische Anfrage der jungen Generation dazu, was wir dort machen und wie das in Zukunft ausschauen wird. Ich kann nicht erkennen, daß hier jemand die Zweifel, die die jungen Menschen hinsichtlich der Frage, wie es weitergeht, hegen, ernst nimmt.
Kollege Geißler, die Argumente, die Sie gerade dazu vorgebracht haben, daß das in 30 Jahren gehen wird, kenne auch ich alle. Ich habe mich schließlich viele Jahre damit beschäftigt. Ich glaube aber, der Fehler besteht darin, daß wir nicht mit der jungen Generation darüber reden. Wo ist der Ort, an dem wir uns mit den jungen Leuten darüber streiten? Warum sind sie eigentlich nie an den Rentenveranstaltungen beteiligt?
Diese Fragestellung taucht überhaupt nicht auf. Das halte ich für einen großen Fehler.
Sie haben darauf verwiesen, die Rentenversicherung gebe es schon seit 100 Jahren, sie habe Kriege und Krisen überstanden. Das ist richtig. Aber die Vergangenheitsbetrachtung sagt noch nichts darüber aus, wie es in der Zukunft sein wird. Auch eine so langgediente Institution wie die Rentenversicherung muß sich heute in der politischen Debatte legitimieren. Sie muß sich dem Streit und den kritischen Anfragen stellen. Das habe ich heute vermißt, als Sie darüber gesprochen haben.
Mein Plädoyer ist deshalb: Hören Sie mit dieser Art von schäbiger Auseinandersetzung auf, die den Leuten nicht die Wahrheit sagt, die ihnen Beruhigungspillen verpaßt, die unangemessen sind, und sie gleichzeitig bei Punkten aufregt, wo das nicht angebracht ist. Lassen Sie sich darauf ein, die schwierige und auch langwährende Debatte über die Zukunft der Renten zu führen.