Rede von
Dr.
Gisela
Babel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufregung über die deutsche Rentenversicherung wächst. Man hört widersprüchliche Zahlen, sowohl was die Einnahmen als auch was die Ausgaben betrifft. Man hört massive Vorwürfe der Opposition in nicht besonders zimperlicher Wortwahl: „politischer Diebstahl", „bewußter Betrug", „gezielte Täuschung". Und man hört die bissige Gegenwehr aus dem BMA, das Ganze sei Wahlkampfpanikmache, man koche sein Süppchen am Rentenherd.
Meine Damen und Herren, keine Einrichtung in Deutschland verträgt ein solches politisches Gezerre so wenig wie die Rentenversicherung.
Die Rentenversicherung baut auf Vertrauen. Bürger und Bürgerinnen, die dort ihre Beiträge entrichten, wollen sicher sein, daß ihr Geld gut aufgehoben ist, richtig verwendet wird und für ihr Alter finanzielle Sicherheit bietet.
Die heutige Debatte sollte zum Ziel haben, Aufgeregtheiten zu zerstreuen, die offenen Fragen zu klären und sich über notwendiges Handeln zu einigen. Die heutige Debatte sollte Rentner und Rentnerinnen beruhigen. Aber sie sollte auch Arbeitnehmer und Arbeitgeber beruhigen; denn diese Rentendebatte hat ein ganz wesentliches Thema: die Beitragskosten, die Lohnzusatzkosten. Wenn ein kleiner Handwerksbetrieb hört, daß jetzt hier von 20 Prozent Rentenversicherungsbeiträgen geredet wird, wie es Herr Kollege Geißler heute morgen getan hat, dann wird dies als ein Schocksignal gewertet. Wir haben auch dies durchaus mit in die Thematik aufzunehmen. Wir wollen die Rentner und Rentnerinnen beruhigen, daß ihre Renten sicher sind. Aber wir wollen keine Politik, die dazu führt, daß die Lohnnebenkosten ansteigen, anstatt daß sie gesenkt oder wenigstens stabilisiert werden.
Dr. Gisela Babel
Insofern möchte ich auch die schonungslose Offenheit in der Diskussion über Probleme. Erst dann kann man über Therapie reden, und der gute Arzt ist ja nicht immer der gutmütige Mensch. Die Lage ist in der Tat ernst, und die Diskussion hat eine andere Tonlage und auch andere Schwerpunkte als sonst. Es geht nicht mehr um die berühmte Bevölkerungsentwicklung, die für die nächsten Jahrzehnte die Probleme in der Rentenversicherung hervorruft, also um das Verhältnis der beitragszahlenden Erwerbstätigen zu den zu versorgenden Rentnern. Diese Schwierigkeiten sehen wir deutlich vor uns; das kann man ja auch aus Zahlen einigermaßen sicher voraussagen.
Was man aber nicht voraussagen kann, nicht für die Zeitspanne bis 2030 - diese magische Zahl bezeichnet das Jahr, für das eine Beitragsentwicklung von 28 Prozent für die Rentenversicherung auf Grund der Bevölkerungsentwicklung vorausgesagt wird -, was man auch nicht für die nächsten vier Jahre und nicht einmal einigermaßen zuverlässig für die nächsten Monate voraussagen kann, ist die Zahl der Beschäftigten - die entscheidende Größe einer lohnabhängig beitragsfinanzierten Sozialversicherung. Neu ist das plötzliche Gewahrwerden von Problemen für die Rentenversicherung, die aus Arbeitslosigkeit herrühren. Das ist nicht ein langsam fressender Rost an den Eisenträgern der Rentenversicherung, wie ihn die demographische Entwicklung mit sich bringt. Hier muß man schon eher von Sturzfluten sprechen - ich kann Ihnen das an Zahlen zeigen -, die die Mauern der Rentenversicherung zu unterspülen drohen. Die Bevölkerung ist hier jetzt zu Recht beunruhigt.
Die Möglichkeit, mit 60 Jahren in Rente zu gehen, wenn man zuvor ein Jahr arbeitslos war, schien ja noch vor wenigen Jahren eine humane, sozial geradezu zwingende Problemlösung zu sein. Die Großzügigkeit, die mit 60 Jahren ausgezahlte Rente so wie eine mit 63 Jahren erworbene auszustatten, erwies sich als verhängnisvoll. 1992 machten 50 000 Menschen von dieser vorgezogenen Rente Gebrauch, im Jahre danach 112 000, im Jahre 1994 204 000, und 1995 überschreiten wir die 300 000. Das ist nun schon die Hälfte des Rentenzugangs. Das heißt: Die Frührente wird zur Norm, der Rentenbeginn mit 65 der extreme Sonderfall. Mit dieser Entwicklung muß man sich auseinandersetzen.
Selbst bei einer Reform, die die Möglichkeiten der Frühverrentung wieder eingrenzt und die Frührenten mit mathematisch berechneten Abschlägen versieht und insofern das Äquivalenzprinzip wiederherstellt, bliebe doch die Erkenntnis: Die Zahl der Arbeitslosen beeinflußt die Einnahmen der Rentenversicherung nachhaltig. Man kann das umgekehrt positiv formulieren: Die Sicherheit und Schaffung von Arbeitsplätzen sind ein Beitrag zur langfristigen Sicherung der Zukunft der Rentenversicherung. Dies müßte man positiv aus dem Beschäftigungsprogramm der Bundesregierung folgern.
Alle Experten, die behaupten, mit der letzten Rentenformel, für die wir alle einstehen, sichere Grundlagen für die Finanzen der Rentenversicherung geschaffen zu haben, müssen zugeben, daß sie die
wirtschaftliche Entwicklung und die Beschäftigungssituation ausgeblendet und die daraus resultierenden Gefahren allenfalls für die Arbeitslosenversicherung ins Kalkül gezogen haben.
Die Rentenversicherung - das müssen wir heute sagen - funktioniert auf Dauer störungsfrei nur bei Wachstum, einem hohen Beschäftigungsstand und einem ständigen Zustrom von Beitragszahlern.
Man könnte fast sagen: Eine störungsfreie Rentenversicherung ist eine Schönwetterveranstaltung. - Wir merken, daß wir in bezug auf die Beschäftigung schlechtes Wetter haben. Deswegen müssen wir bei der Beschäftigung ansetzen. Je sicherer die Arbeitsplätze, desto sicherer die Renten.
Meine Damen und Herren, nicht nur durch die Frühverrentung, sondern auch im Bereich der Erwerbs- und Berufsunfähigkeit hat die Rentenversicherung zusätzliche Lasten zu schultern. Hier gibt es übrigens wieder so einen typischen Prozeß, diesmal durch die Rechtsprechung, der zeigt, daß das gute Herz - durch die Vergabe sozialer Leistungen - im Grunde ganze Systeme unterminieren kann. Das heißt: Die gute Absicht führt zu einem schlechten Ergebnis. Man hat nämlich denjenigen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht an ihrem Arbeitsplatz bleiben können, denen man aber zumutbar einen anderen Arbeitsplatz hätte anbieten können, so daß sie durchaus im Arbeitsleben hätten verbleiben können, durch Rechtsprechung eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen - mit der Begründung, daß sie keinen Arbeitsplatz mehr finden. Diese Rechtsprechung hat wiederum das Risiko der Arbeitslosigkeit in die Rentenversicherung verlagert. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung, die unbedingt der Korrektur bedarf.
Die Diagnose der Rentenversicherung muß aber noch andere vermeidbare Belastungen anprangern: Immer wieder ist die Rentenversicherung für die Finanzierung von Leistungen mißbraucht worden, für die der Finanzminister kein Geld im Haushalt hatte. Man kann dies sicherlich vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung nicht in diesem Sinne ansprechen. Aber das Thema Fremdrenten ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Die versicherungsfremden Leistungen waren das letzte Mal Thema, als wir über die Renten von NS-Verfolgten, die Auffüllbeträge in Ostdeutschland und die Renten für Opfer des DDR-Regimes gesprochen haben. Das alles sind im Grunde wichtige gesellschaftliche Aufgaben, die richtigerweise vom Steuerzahler zu finanzieren sind, die man aber in ein Versicherungssystem eingebracht hat, ohne sich über die Folgen für die Rentenversicherung völlig klar zu sein.
- Wir haben hier immer breit zusammengearbeitet; wenn Sie sich daran erinnern.
Meine Damen und Herren, Rezepte zur Sanierung: Trotz des breiten politischen Podestes, auf dem die
Dr. Gisela Babel
Rentenversicherung nun einmal steht, gibt es bei den Heilmethoden große politische Unterschiede. Ich möchte einige kurze Bemerkungen zu den in meinen Augen falschen Rezepten machen:
Falsch, Frau Fischer, ist die Vorstellung einer Grundsicherung, bei der zwar an der Lohnbezogenheit der Beiträge festgehalten wird, bei der aber bei den erhobenen Ansprüchen die gleichmacherische Sense ansetzt. Man kann nicht sagen: Wir betreiben Kapitalismus bei den Einzahlungen, aber Sozialismus bei den Auszahlungen.
Das ist meiner Ansicht nach nicht angängig und für die F.D.P. unannehmbar.
Genauso unannehmbar ist es, wenn gesagt wird: Beziehen wir doch das ganze deutsche Volk in die Rentenversicherung ein, auch die Selbständigen und die Beamten! Dann haben wir eine Menge Beiträge und brauchen über versicherungsfremde Leistungen gar nicht mehr zu reden; denn dann ist es sowieso wie eine Steuer. Wir machen einfach eine ausgedehnte „Volksversicherung". - Auch dieser Vorstellung erteilen wir eine Absage.
Ich sage Ihnen: Das ist übrigens auch ein Thema, bei dem, wie ich glaube, die Grünen ihr Vertrauen aufs Spiel setzen. Es ist für die heutige Generation schon wichtig, zu wissen, ob das Äquivalenzprinzip, wonach man für einen hohen Beitrag auch eine hohe Rente bekommt, auch für ihre Beiträge gilt oder ob es so sein wird, daß dies nicht mehr möglich ist. Das ist ein Vertrauenstatbestand, den man beachten müßte, wenn man diese Vorstellung äußert.
Schließlich haben Sie den herrlichen Wasserhahn entdeckt, aus dem sich nun alle Sozialversicherungen langfristig tränken lassen: die Öko-Steuer. Damit kommt so viel Geld ins Haus, daß man damit alle Probleme in sozialen Sicherungssystemen lösen kann.
- Ja. - Aber die Verknüpfung von Öko-Steuern mit Sozialbeiträgen hat im Grunde nur zur Folge, uns notwendige Korrekturen in den Systemen zu ersparen, meine Damen und Herren. Das kann nicht angehen. Wir müssen die Korrekturen in den Systemen selber anbringen.
Ein falsches Rezept ist es auch, auf die Vermehrung der Beiträge aus geringfügigen Beschäftigungen zu setzen. Heutige Beitragszahler sind spätere Leistungsempfänger. Eine Beitragspflicht ohne Leistungsanspruch ist staatlicher Betrug. Damit lassen sich die Probleme nicht lösen.
Sicher brauchen wir eine umfassende Reform der Alterssicherung. Ich könnte mir schon denken, daß
man die Frage aufwirft, ob eine Rente die Funktion der Lebensstandardsicherung in Zukunft noch erfüllen wird und ob die Rente die gesamten Ansprüche, die wir heute an sie stellen, später noch abdecken kann. Eine solche Frage könnten wir heute richtigerweise stellen; denn es ist wichtig, sowohl die betriebliche Altersrente zu reformieren als auch private Vorsorge zu betreiben.
Meine Damen und Herren, ich selbst setze bei der Rentenreform auf folgendes: Unser Augenmerk muß sich vor allem auf arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen richten. Wir brauchen die Rückführung der Rentenversicherung auf den Zweck der Alterssicherung und die Verankerung der Risikoarbeitslosigkeit in der Arbeitslosenversicherung. Nur damit wird der Rentenanspruch wieder zu dem, was er ist: ein im Äquivalenzprinzip gesicherter Beitrag.
Wir brauchen die Stärkung des Beitragsprinzips, das heißt, gesamtgesellschaftliche Leistungen sind in die Steuerfinanzierung zu übernehmen. Ich glaube, daß die Empfindsamkeit für diesen Punkt gewachsen ist. Es mehren sich jedenfalls in den Sonntagsreden und sonstigen Reden die Stimmen, daß die Steuerfinanzierung hier mehr übernehmen sollte. Ich glaube, in der Diskussion haben die Sozialpolitiker in Zukunft gegenüber den Haushältern etwas bessere Karten; das war ja nicht immer so.
Meine Damen und Herren, der letzte Punkt ist die Eigenverantwortung der Versicherten, Stichwort Kuren: Hier glaube ich schon, daß Einvernehmen darüber besteht, daß sich in diesem Bereich einiges an Kosteneinsparungen erzielen läßt.
Trotz allen Getöses höre ich von der SPD, daß ihr am Rentenkonsens liegt. In diesem Bereich hat die politische Einsicht immer vorgeherrscht, daß man zwar gemeinsam Fehler begehen kann, aber Siege für die eigene Partei nie erringen wird. Eine Beitragssatzsteigerung auf 20 Prozent kann zur jetzigen Zeit niemand wollen; die exotischen Zahlen, die darüber hinaus genannt werden, auch nicht. Die Wirtschaft setzt hier auf Signale, auch aus dieser Debatte, daß man diese Prozesse nicht nur tatenlos beobachtet, sondern daß wir entschlossen sind, mit Reformen einzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die heutige Debatte und das Gewahrwerden der Problemlage haben vielleicht auch ein Gutes, nämlich daß die Bereitschaft zu einer Reform der Rentenversicherung bei allen Parteien vorhanden sein muß, um sie für die Beitragszahler tragbar zu machen. Diesen Konsens können wir heute ansatzweise erreichen.
Ich bedanke mich.