Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein verheerendes Erdbeben hat gestern den Iran heimgesucht. Mit Erschütterung haben wir die ersten Berichte über die Opfer und die Zerstörungen aufgenommen. Das ganze Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht zu übersehen. Die Rede ist von 20 000 Toten oder mehr.
Unser Mitgefühl gilt vor allem den Angehörigen der Toten. Den Verletzten wünschen wir gute Genesung. Dem Volk und der Regierung des Iran spreche ich im Namen des Hauses unsere tiefempfundene Anteilnahme aus. Der Bitte des Iran um internationale Hilfe wird die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer Möglichkeiten nachkommen.
Meine Damen und Herren, das am 1. Juni 1990 in Kraft getretene Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts macht es erforderlich, daß wir heute die Mitglieder für die neuen Rundfunkräte und Verwaltungsräte der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks wählen.
Von den Fraktionen liegt folgender Wahlvorschlag vor. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Mitglieder vor: für den Rundfunkrat der Deutschen Welle Herrn Dr. Hupka, für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks die Herren Kollegen Deres und Lintner sowie für den Verwaltungsrat der Deutschen Welle Herrn Kollegen Gerster .
Die Fraktion der SPD schlägt als Mitglieder vor: für den Rundfunkrat der Deutschen Welle Herrn Kollegen Verheugen, für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks die Herren Kollegen Dr. Nöbel und Dr. Schmude sowie für den Verwaltungsrat des Deutschlandfunks Herrn Kollegen Kühbacher.
Die Fraktion der FDP schlägt für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks Herrn Kollegen Baum vor.
Meine Damen und Herren, ist das Haus mit diesen Vorschlägen einverstanden?
— Ich höre Widerspruch.
— Wenn es nur ein Zwischenruf war, lasse ich darüber abstimmen. Ich bitte um Ihr Handzeichen, wenn Sie diesem Vorschlag zustimmen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Vorschläge sind mit großer Mehrheit angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Gefahren für die Demokratie in Rumänien — Drucksache 11/7467 —
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hauchler, Bindig, Brück, Dr. Holtz, Kolbow, Luuk, Dr. Niehuis, Schanz, Schluckebier, Toetemeyer, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Entwicklungspolitik in gesamtdeutscher Verantwortung — Drucksache 11/7387 —
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Feilcke, Frau Fischer, Hedrich, Höffkes, Dr, Kronenberg, Dr. Kunz , Frau Männle, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Schreiber, Frau Augustin, Austermann, Börnsen (Bönstrup), Breuer, Carstensen (Nordstrand), Dr. Fell, Francke (Hamburg), Fuchtel, Frau Geiger, Dr, Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Hinsken, Hornung, Dr. Jobst, Dr.-Ing. Kansy, Dr. Kappes, Kossendey, Lenzer, Frau Limbach, Maaß, Magin, Marschewski, Müller (Wadern), Nelle, Oswald, Pesch, Pfeffermann, Regenspurger, Ruf, Sauter (Epfendorf), Frau Schätzle, Schartz (Trier), Schemken, Schmidbauer, von Schmude, Dr. Schroeder (Freiburg), Schulhoff, Schulze (Berlin), Schwarz, Dr. Schwörer, Spilker, Dr. Stercken, Susset, Dr. Uelhoff, Wilz, Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Bredehorn, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinacker, Dr. Hitschler,
Dr. Hoyer, Irmer, Kohn, Nolting, Richter, Ronneburger, Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Dr. Solms, Frau Walz, Zywietz und der Fraktion der FDP: Ein gemeinsamer deutscher Beitrag für eine verstärkte Entwicklungszusammenarbeit durch Entspannung zwischen Ost und West — Drucksache 11/7473 —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 166 zu Petitionen — Drucksache 11/7159 —
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17302 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Vizepräsidentin Renger
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 167 zu Petitionen— Drucksache 11/7271 —10. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses : Sammelübersicht 168 zu Petitionen— Drucksache 11/7445 —11. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses : Sammelübersicht 169 zu Petitionen — Drucksache 11/7446 —12. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN: Unterstützung einer Friedensordnung für Kambodscha, die eine Rückkehr der Roten Khmer an die Macht ausschließt — Drucksachen 11/6251, 11/7474 —Weiterhin ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 1 f und den Tagesordnungspunkt 28 von der verbundenen Tagesordnung abzusetzen. Ist das Haus damit einverstanden? — Danke. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNENGefahren für die Demokratie in Rumänien — Drucksache 11/7467 —Die Fraktionen des Hauses haben sich in Anbetracht der ernsten Lage in Rumänien auf diesen gemeinsamen Antrag verständigt und mich gebeten, ihn zu verlesen. Der Antrag hat folgenden Wortlaut:Der Deutsche Bundestag hat mit großer Besorgnis die jüngsten Ereignisse in Rumänien zur Kenntnis genommen.Europa steht am Vorabend einer Neuordnung. In diesen Monaten und Jahren entscheidet sich, wer in das demokratische Haus Europa künftig gehören wird und wer nicht. Das weist in schwieriger Zeit allen politischen Kräften in Ost- und Südosteuropa eine besondere Verantwortung zu.Die Wahlen am 20. Mai in Rumänien haben der Regierung des Präsidenten Iliescu eine große Mehrheit gebracht.Die jüngsten gewaltsamen Auseinandersetzungen, die Toten und Verletzten der letzten Tage zeigen: Die Opposition hat das Wahlergebnis und der Staatspräsident hat die rechtsstaatliche Demokratie nicht akzeptiert.Der Deutsche Bundestag mißt dem Herbeirufen nicht-staatlicher Schlägertrupps und deren ausdrücklicher Belobigung am Ende der Gewalttätigkeiten durch den Staatspräsidenten selbst außerordentliche Bedeutung bei.
Das widerspricht allen demokratischen, rechtsstaatlichen und insbesondere allen Verfassungsprinzipien: Wo der Präsident selbst Kinder, Frauen und die Politiker der Opposition zusammenschlagen läßt, wo Polizei und Soldaten bereits Verhaftete noch einmal den Knüppeln derSchlägertrupps aussetzen, sinken die Chancen für eine friedliche demokratische Entwicklung.Der Deutsche Bundestag begrüßt das Statement by the Twelve on Rumania vom 18. 6. 1990, die Erklärung der NATO zu Rumänien vom 19. 6. 1990, die Erklärung des Delegationsleiters der Bundesrepublik Deutschland bei der KSZE-Menschenrechtskonferenz in Kopenhagen zu den Vorgängen in Rumänien vom 18. 6. 1990.Der Deutsche Bundestag erklärt: Bereits in seiner Debatte am 25. April 1990 und dem am Ende dieser Debatte mit großer Mehrheit verabschiedeten Antrag ... hat der Deutsche Bundestag seine Sorge über die innere Entwicklung in Rumänien seit der Revolution im Dezember 1989 ausgedrückt. Diese Besorgnisse haben sich jetzt erhöht.Der Deutsche Bundestag erwartet, daß die rumänische Regierung den Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen sowie die Garantie der Menschen- und Bürgerrechte gewährleistet: Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit und Minderheitenschutz.Der Deutsche Bundestag fordert alle politischen Kräfte in Rumänien auf, die innenpolitischen Auseinandersetzungen so zu führen, daß sie dem Gebot des inneren Friedens und dem Erfordernis rechtsstaatlicher Garantien entsprechen.Der Deutsche Bundestag wiederholt seine Bereitschaft zu Hilfsmaßnahmen, insbesondere auch beim wirtschaftlichen Aufbau Rumäniens in Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft. Er verknüpft aber diese Bereitschaft mit der Erwartung, daß die rumänische Regierung glaubhaft und erkennbar den Prozeß der Entwicklung einer dauerhaften freiheitlichen, rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie fortsetzt und fördert. Er verurteilt jede Art gewalttätiger politischer Auseinandersetzung in Rumänien und gibt seiner Empörung darüber Ausdruck, daß Präsident Iliescu zu offener Gewalt der Staatsorgane aufgerufen und Schlägertrupps organisieren lassen hat.Die Bundesregierung wird aufgefordert, der rumänischen Regierung die Empörung, Enttäuschung und Besorgnis des Deutschen Bundestages mitzuteilen und ein gemeinsames Verhalten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gegenüber Rumänien anzustreben.Der Deutsche Bundestag stellt klar, daß öffentliche und private humanitäre Hilfsmaßnahmen ungeachtet der besorgniserregenden Ereignisse in Rumänien seit der Wahl am 20. Mai 1990 weiterhin gewährleistet werden müssen.Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über diesen interfraktionellen Antrag auf Drucksache 11/7467. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.Bitte, Herr Kollege Duve.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17303
Ich möchte eine Bemerkung zur Abstimmung nach § 31 machen.
Direkt im Anschluß daran?
Ich danke der Präsidentin für die Verlesung und wollte bitten, daß dem rumänischen Botschafter diese gemeinsame Erklärung möglichst noch heute zugestellt wird.
Danke schön. Das wird entsprechend gemacht.Meine Damen und Herren, ich rufe die Zusatztagesordnungspunkte 6 und 7 auf:ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hauchler, Bindig, Brück, Dr. Holtz, Kolbow, Luuk, Dr. Niehuis, Schanz, Schluckebier, Toetemeyer, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDEntwicklungspolitik in gesamtdeutscher Verantwortung— Drucksache 11/7387 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Feilcke, Frau Fischer, Hedrich, Höffkes, Dr. Kronenberg, Dr. Kunz , Frau Männle, Dr. Pohlmeier, Frau Rönsch (Wiesbaden), Schreiber, Frau Augustin, Austermann, Börnsen (Bönstrup), Breuer, Carstensen (Nordstrand), Dr. Fell, Francke (Hamburg), Fuchtel, Frau Geiger, Dr. Grünewald, Frau Dr. Hellwig, Herkenrath, Hinsken, Hornung, Dr. Jobst, Dr.-Ing. Kansy, Dr. Kappes, Kossendey, Lenzer, Frau Limbach, Maaß, Magin, Marschewski, Müller (Wadern), Nelle, Oswald, Pesch, Pfeffermann, Regenspurger, Ruf, Sauter (Epfendorf), Frau Schätzle, Schartz (Trier), Schemken, Schmidbauer, von Schmude, Dr. Schroeder (Freiburg), Schulhoff, Schulze (Berlin), Schwarz, Dr. Schwörer, Spilker, Dr. Stercken, Susset, Dr. Uelhoff, Wilz, Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hoppe, Bredehorn, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinacker, Dr. Hitschler, Dr. Hoyer, Irmer, Kohn, Nolting, Richter, Ronneburger, Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Dr. Solms, Frau Walz, Zywietz und der Fraktion der FDPEin gemeinsamer deutscher Beitrag für eine verstärkte Entwicklungszusammenarbeit durch Entspannung zwischen Ost und West— Drucksache 11/7473 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf den Drucksachen 11/7387 und 11/7473, letzteren mit einer vom Antragsteller nachzureichenden Berichtigung, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Alle sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen beschlossen.Ich rufe jetzt die Zusatztagesordnungspunkte 8 bis 11 auf:ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 166 zu Petitionen— Drucksache 11/7159 —ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 167 zu Petitionen— Drucksache 11/7271 —ZP10 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 168 zu Petitionen— Drucksache 11/7445 —ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 169 zu Petitionen— Drucksache 11/7446 —Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 11/7159, 11/7271, 11/3445 und 11/7446. Das sind die Sammelübersichten 166 bis 169.
— Gut, das mache ich. Ich weiß jetzt allerdings nicht, auf welcher Drucksache die Sammelübersicht 166 steht. Können Sie mir das auch noch sagen? — Drucksache 11/7159, gut.Wir stimmen zunächst über die Drucksachen 11/7271, 11/7445 und 11/7446 ab. Wer stimmt den Beschlußempfehlungen zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN mit großer Mehrheit angenommen.Wir stimmen jetzt über die Drucksache 11/7159 ab; das betrifft die Sammelübersicht 166. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen der GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNENUnterstützung einer Friedensordnung für Kambodscha, die eine Rückkehr der Roten Khmer an die Macht ausschließt— Drucksachen 11/6251, 11/7474 —
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17304 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Vizepräsidentin RengerBerichterstatter:Abgeordnete Dr. PohlmeierDuve Irmer Dr. Lippelt
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/7474.') Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der GRÜNEN mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe den Punkt 24 der Tagesordnung auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf, Frau Beer, Frau Rock, Frau Eid, Frau Flinner, Frau Garbe, Frau Hillerich, Frau Kelly, Frau Krieger, Frau Nickels, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Olms, Frau Saibold, Frau Schilling, Frau Schmidt-Bott, Frau Teubner, Frau Trenz, Frau Unruh, Frau Dr. Vollmer, Frau Wilms-Kegel, Frau Wollny, Frau Rust, Frau Schoppe, Frau Hensel, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Benachteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere in der Erwerbsarbeit
— Drucksache 11/3266 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksache 11/7449 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Männlebb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/7450 —Berichterstatter: Abgeordnete Kalb Frau Dr. Wegner ZywietzFrau Rust
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Schmidt , Dr. DäublerGmelin, Dreßler, Dr. Ehmke (Bonn), Matthäus-Maier, Dr. Penner, Roth, Schäfer (Offenburg), Adler, Bachmaier, Becker-Inglau, Blunck, Bulmahn, Catenhusen, Conrad, Egert, Faße, Fuchs (Köln), Fuchs (Verl), Ganseforth, Dr. Götte, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Kuhlwein, Luuk, Dr. Martiny, Müller (Düsseldorf), Dr. Niehuis, Odendahl, Peter (Kassel), Dr. Pick, Renger, Seuster, Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Dr. Sonntag-Wolgast, Steinhauer, Stiegler, Terborg, Dr. Timm, Traupe, Dr. Wegner, Wei-*) Erklärung nach § 31 GO siehe Anlage 2ler, Weyel, Wieczorek-Zeul, Wiefelspütz, Ibrügger, Gilges, Bernrath, Dr. Hauchler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Mann im Berufsleben
— Drucksache 11/3728 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
— Drucksache 11/7449 —Berichterstatter: Abgeordnete Frau Männle
Im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung 90 Minuten vorgesehen worden. Ist das Haus damit einverstanden? — So beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Wir hatten am Anfang dieses Plenums heute ja schon einen guten Einstieg. Wie wir hören und leider auch hinnehmen mußten, haben die Fraktionen der anderen Parteien für den Verwaltungsrat und für den Rundfunkrat des Deutschlandfunks und der Deutschen Welle wieder einmal nur Männer vorgeschlagen. Das ist ein typisches Beispiel dafür, daß wir ein Quotierungsgesetz brauchen, damit in Zukunft eben auch in solchen Gremien Frauen vertreten sein werden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der GRÜNEN wollen wir endlich die Kluft zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit schließen. Wir wollen erreichen, daß auf schöne Worte über die Gleichberechtigung von Frauen endlich sichtbare Taten folgen.Besonders die Bundesregierung redet gern und viel über die Gleichstellung von Frauen und Männern. Aber wohlklingende Reden und Hochglanzbroschüren aus dem Hause Lehr können nicht über die Realität hinwegtäuschen.Frauen ist noch immer der Zugang zu vielen Berufen und Positionen faktisch versperrt. Noch immer werden sie auf ein schmales Spektrum typischer Frauenberufe und auf die unteren Ränge der Berufsskala verwiesen. Frauen stellen fast die Hälfte der Arbeitslosen, obwohl ihr Anteil an den Erwerbstätigen nur 39 % beträgt. Frauen erhalten rund zwei Drittel von dem, was Männer für ihre Arbeit bekommen. Frauen stellen das Gros derer, die in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Junge Frauen haben trotz guter Schulabschlüsse schlechte Chancen, einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu erhalten. Frauen sind in zukunftsorientierten beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen deutlich unterrepräsentiert.Dies ist die eine Seite der strukturellen Benachteiligung von Frauen, einer Benachteilung, die auch die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17305
Frau Schmidt
Voraussetzung dafür ist, daß die Herren in diesem Hause hier überhaupt sitzen können.
Die andere Seite dieser Benachteiligung ist ebenfalls ein gesellschaftlicher Skandal. Frauen leisten nicht nur ein gutes Drittel der Erwerbsarbeit, sondern auch fast die gesamte in Haus und Familie anfallende Arbeit. Diese sogenannte unsichtbare Arbeit macht zwei Drittel des Bruttosozialproduktes aus, würde sie in D-Mark umgerechnet. Immens viele gesellschaftlich notwendige Arbeit wird von Frauen für wenig Anerkennung und kein Geld geleistet.Wir wollen die unselige Arbeitsteilung nach Geschlecht aufheben. Wir wollen eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der Erwerbsarbeit ermöglichen und eine gleichberechtigte Teilnahme von Männern an der Haus-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit.
Es läßt sich doch auch in diesem Hause mühelos feststellen, daß den meisten von Ihnen, meine Herren, die Sie jetzt wenig vertreten sind, der Drang nach beruflichem Erfolg nicht bekommt, daß für Männer Karriereausstiegsprogramme erforderlich sind. Solche Programme werden wir in der nächsten Legislaturperiode vorlegen.Wir wollen die Arbeitsteilung nach Geschlecht ohne Wenn und Aber aufheben. Wir wollen ein Antidiskriminierungs-Gesetz ohne Hintertür und Einfallstor. Das unterscheidet uns von der SPD.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD, der sich nicht an die Privatwirtschaft herantraut,
bleibt bei der Bevorzugung von Frauen eine Hintertür offen: die vielbeschworene „Einzelfallgerechtigkeit", auch Benda-Schwänzchen genannt, unter dem Vorzeichen des „Leistungsprinzips".
So heißt es in der Begründung — ich zitiere —Ausnahmen von der leistungsbezogenen Bevorzugung sind zulässig, sofern Umstände in der Person des Mitbewerbers vorliegen, deren Berücksichtigung durch die Verfassung geboten ist.Was sozialdemokratische Einzelfallgerechtigkeit meint, hat Herr Schnoor deutlich gemacht. Er räumte bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs zur Frauenförderung im nordrhein-westfälischen Landtag ein, daß auch der Familienstand — wohlgemerkt: des männlichen Bewerbers — bei „Einzelfallgerechtigkeit" positiv gewertet werden kann. Auf diese Weise haben wir sie wieder: den guten alten Ernährer und die Ehefrau, die bloß dazuverdient und als Doppelverdienerin, im „Einzelfall" natürlich, diskriminiert und abgelehnt werden kann. Das ist die Hintertür für Männer.Das Einfallstor ist das Leistungsprinzip selbst, das die SPD ebenfalls nicht antastet — Zitat — :Frauen sind bei gleichwertiger Qualifikation bevorzugt zu berücksichtigen.Wie das mit der „gleichwertigen" Leistung ist, das kennen wir zur Genüge, zum Überdruß. Im Zweifelsfall ist — Leistung hin, Eignung her — dem Manne immer der Mann der Qualifiziertere.
Deshalb heißt es in unserem Gesetzentwurf klar und unmißverständlich:Bewerberinnen sind ... zu bevorzugen, wenn sie die formal notwendige Qualifikation ... nachweisen . . .Selbstverständlich beschränken wir das Ziel, Erwerbs- und Ausbildungsplätze, Funktionen und Am-ter mindestens zu 50 % für Frauen zur Verfügung zu stellen, nicht auf den öffentlichen Dienst. Meine Damen und der eine Herr von der SPD,
es gibt keinen plausiblen Grund, die Privatwirtschaft als Männerschutzzone zu pflegen. Da die GRÜNEN in der Privatwirtschaft kein Reservat für Männerkarrieren sehen, haben wir Sanktionen für die Unternehmen vorgesehen, die gegen das Antidiskriminierungsgesetz — insbesondere die Bevorzugungsvorschrift — verstoßen.Wir Frauen wollen das, was uns laut Verfassung zusteht.
Wir GRÜNEN wollen — im Unterschied zur SPD —, daß dieses Recht auch vor Gericht eingeklagt werden kann. Auch die öffentlichen Arbeitgeber sollen spüren, daß es nicht ohne Konsequenzen bleibt, gegen die Bevorzugungsvorschrift zu verstoßen: Frauen können die ihnen vorenthaltene Stellung und Beförderungen oder aber Schadenersatz in Höhe von mindestens zwölf Monatsvergütungen gerichtlich einklagen — selbstverständlich bei Umkehr der Beweislast.Da mag der eine oder andere Mann, ganz neutral natürlich, seine Vorherrschaft mit verfassungsrechtlichen Bedenken stützen wollen. Doch wir haben zunehmend juristischen Sachverstand auf unserer Seite. Für den öffentlichen Dienst hat Herr Benda darauf hingewiesen, daß der Staat sogar „verpflichtet" ist, Defizite in der Gleichberechtigung durch gezielte Frauenfördermaßnahmen auszugleichen, und daß dazu Quotierungsvorschriften möglich, d. h. rechtlich unbedenklich sind. Da für die GRÜNEN — wie auch für die SPD-Senatorin Heide Pfarr im Gegensatz zum vorliegenden SPD-Entwurf — der Art. 3 des Grundgesetzes auch für die Büros und Werkhallen der Privatunternehmen gilt, gibt es aus unserer Sicht keinen Grund, die Gleichberechtigung auf den öffentlichen Dienst zu beschränken.
Über 40 Jahre Männerquoten und Männerförderpläne sind genug. Immer mehr Frauen wollen Platz
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17306 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Frau Schmidt
machen für die Männer und die Küche räumen. Geben wir den Männern eine Chance zu lernen, sich um die menschlichen Belange in ihrer Umgebung zu kümmern, und Beziehungsarbeit zu leisten. Es gibt nichts Gutes, außer „mann" tut es. Unser Gesetzentwurf erhöht diese Chance. Stimmen Sie zu!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Männle.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Frauenpolitik nach Einheitsschnitt, Gleichmacherei statt Gleichberechtigung,
das sind immer nicht die Zauberformeln für Sozialdemokraten und GRÜNE. Die SPD signalisiert zwar Lernbereitschaft in der Problemanalyse, demonstriert aber weiterhin ihre Lernverweigerung in der Strategie- und Konzeptentwicklung.
Was verheißungsvoll klingt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Reformieren nach alten Rezepturen. Die gesellschaftliche Benachteiligung der Frau soll, wie gehabt, nach Schema F beseitigt werden.
Gerne präsentieren sich Sozialdemokratinnen und GRÜNE als Anwältinnen für die Befreiung der Frau aus alten Fesseln, für Aufhebung gesellschaftlicher Zwänge, für mehr Individualität und somit Pluralität von Lebensformen und Lebensstilen, für ein umfassendes Recht auf Selbstbestimmung. Frau soll entscheiden können und dürfen, wie sie leben möchte,
[SPD]: Ja, allerdings!)
und zwar ohne gesellschaftliche Benachteiligung oder Begünstigung für eheliche, eheähnliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, fürs Singledasein, für Karriere in allen Berufen und auf allen Hierarchieebenen. Also Toleranz ohne Grenzen?
Ich würde sagen: Weit gefehlt. Verpönt ist immer noch die Entscheidung derjenigen Frauen, die sich für Familientätigkeit als Beruf entscheiden möchten,
die nicht dem Motto folgen: Erwerbstätigkeit per se befreit.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Ja. Vizepräsidentin Renger: Bitte, Fau Nickels.
Frau Männle, ich möchte Sie fragen, aus welchen Passagen der vorliegenden Entwürfe Sie das ableiten, und vor allen Dingen, woraus Sie diese Stellungnahme ableiten, wenn Sie sich die Gesamtprogrammatik ansehen, die eindeutig die Erziehungstätigkeit von Vätern oder Müttern — im Gegensatz zur heutigen einseitigen Bevorzugung von bestimmten Lebensformen — bevorzugen will?
Ich habe hier speziell die SPD-Frauen angesprochen,
die in ihrem Entwurf fast ausschließlich die Berufstätigkeit der Frau ansprechen.
— Natürlich heißt es so im Gesetzentwurf. Das ist dieser eine Gesetzentwurf,
der die Gleichstellung von Mann und Frau am Arbeitsplatz fordert.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? — Bitte, Frau Schmidt.
Kollegin Männle, an und für sich haben Sie das, was Sie hier gesagt haben, nicht nötig. Aber vielleicht müssen Sie das machen, damit es irgendwann mehr als drei Frauen aus Bayern werden, die eine Chance haben, in ihre Fraktion in den Bundestag einzuziehen. Aber das nur nebenbei.
Ich hätte gerne gewußt, ob Sie im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Gleichstellung von Frau und Mann im Arbeitsleben irgendeine Vorschrift zur Vereinbarkeit von Kindern und Beruf, zur Familientätigkeit und ähnlichem haben.
Nein, das ist nicht der Fall, Frau Schmidt.
Aber Sie wissen auch, daß wir sagen: Dieser Gesetzentwurf ist ein Teil, und wir werden weitere, andere Punkte ansprechen.
Die sind auch in unserer Beschlußempfehlung enthalten. Schauen Sie sich die Beschlußempfehlung an! Darin sind die anderen Vorschläge enthalten, auf die ich noch eingehen werde.Frau Kollegin Schmidt, es ist ganz günstig, daß Sie gerade nachgefragt haben. Sie propagieren in Ihrem Grundsatzprogramm ein Regelmodell: der sechsstündige Arbeitstag in der Fünf-Tage-Woche. Im Klartext heißt das, was vollmundig als Versprechen deutlich gemacht wird, Arbeit neu zu bewerten, Erwerbsarbeit auf alle gleich zu verteilen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17307
Frau MännleDas ist unseres Erachtens eine sehr einseitige Sicht.
Hier setzt unsere grundsätzliche Kritik ein. Wir müssen aus historischen Fehlern lernen: Politische Regel- oder Einheitsmodelle beschneiden die Freiheit, ersetzen gesellschaftliche Diskriminierung durch staatliche Bevormundung. Die noch bestehende DDR liefert ein abschreckendes Beispiel. Emanzipation, verkürzt auf verordnete Integration der Frau ins Erwerbsleben, heißt: totales Verplanen der Frau, heißt: Unterordnung unter die Gesetze der Ökonomie,
heißt: Degradierung der Familie auf eine Zuliefereinrichtung fürs Humankapital. Wurde früher Frauen das Recht auf Selbstverwirklichung durch gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsprozeß versagt, wird ihnen heute das Recht auf Selbstverwirklichung durch „Nur-Familienarbeit" abgesprochen. Alte Fehler sollten aber nicht durch neue Fehler korrigiert,
alte Ausgrenzungen nicht durch neue Ausgrenzungen ersetzt werden. Statt ideologiefixierter Frauenprogramme mit dem zentralen Bezugspunkt Erwerbsarbeit brauchen wir — das ist unser Ansatz — bedürfnis- und interessenorientierte Politikangebote, ein Bündel von gesetzgeberischen Maßnahmen zur Gleichwertigkeit von Erwerbs- und Familienarbeit.CDU und CSU fragen: Was wollen Frauen? SPD und GRÜNE fragen: Was sollen und dürfen Frauen wollen?
CDU und CSU sagen: Gesetze zur Gleichwertigkeit von Arbeit, von jeglicher Arbeit. SPD und GRÜNE sagen: ein Gesetz zur Gleichstellung im Erwerbsleben.Ohne Zweifel, von der grundgesetzlich verbrieften Gleichberechtigung von Frau und Mann sind wir noch meilenweit entfernt. Für Frauen ist der Einstieg ins Erwerbsleben mit oft unüberwindbaren Barrieren verbunden. Ferner sind Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft, in gesellschaftlichen Organisationen, in Parteien und Parlamenten unterrepräsentiert. Frauen müssen sich ihr Recht auf berufliche Karriere immer noch durch Verzicht auf Familie oder durch Doppel- und Dreifachbelastung erkämpfen, eigentlich ein Armutszeugnis für eine demokratische Gesellschaft.
Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz,
der zur Zeit in der parlamentarischen Beratung ist, bietet hier wesentliche Verbesserungen. Er muß aber, u. a. in der Frage der Beweislast, noch wesentlich nachgebessert werden.Einigkeit — dies wird, glaube ich, bei unseren Reden deutlich — herrscht im Ziel: Gleichberechtigung für Frau und Mann. Strittig, sehr strittig sind die Instrumente, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll und erreicht werden kann. Die Union lehnt dirigistische Maßnahmen, wie die Einführung von starren Quoten im Berufsleben ab, und zwar aus prinzipiellen und praktischen Erwägungen.
Ich darf einmal zitieren:Die Quote ist weder ein Allheilmittel noch als solche ein Konzept emanzipativer Frauenpolitik. Gegenwärtig droht sie zu einer Ersatzhandlung zu degenerieren, die auf die Frauen negativ zurückfallen wird.Dies ist keineswegs Gedankengut eines erzreaktionären Chauvis; es sind nachdenkenswerte Worte einer sich progressiv nennenden Frauenrechtlerin, abgedruckt im ,,Juso-AG-Rundschreiben" .Die von den Oppositionsparteien, insbesondere den GRÜNEN, vorgeschlagenen Quotenregelungen sind verfassungsrechtlich mehr als bedenklich.
Die praktische Umsetzung eines hochrangigen Verfassungsgebotes, nämlich Gleichberechtigung von Frau und Mann, darf nicht dazu führen, individuelle Grundrechte, wenn auch zeitlich begrenzt, für die früher oder heute Begünstigten faktisch außer Kraft zu setzen.
Gleichberechtigungspolitik muß gegenwarts- und zukunftsorientiert sein. Die heutige Generation für die Sünden der Väter und Großväter büßen zu lassen bedeutete, Gleichheit im Unrecht zu schaffen.Aber auch die Gefahren eines Bumerang-Effektes dürfen nicht gering geachtet werden. Die Quotenfrau gerät unter Druck, ihre Führungsposition zu rechtfertigen, ihre Qualifikation — obwohl ich zugeben muß, liebe Renate Schmidt, und da brauchst du nicht zu stöhnen, daß bei Männern, auch bei Quotenmännern, die Qualifikation häufig stillschweigend vorausgesetzt wird — unter Beweis zu stellen und verbal zu bekunden.
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17308 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Frau MännleAber die Ressentiments gegenüber Frauen nehmen zu, nicht nur offene Unmutsbekundungen à la Farthmann. „Farthmänner" lassen sich leicht anprangern, aber namenlose Kanalarbeiter — aber auch andere — lassen sich nur schwer bekämpfen.Die Ablehnung von Quoten als Aufruf zur Untätigkeit zu interpretieren, wie dies sicherlich einige Vertreter im Parlament hoffen, wäre aber falsch. CDU und CSU votieren für bereichsbezogene Frauenförderrichtlinien mit klaren Zeitplänen und umfassenden Maßnahmenkatalogen.
— Lesen Sie den Entschließungsantrag.
Die Richtlinie für den öffentlichen Dienst ist, wie in unserer Beschlußempfehlung gefordert, zu effektivieren, und zwar durch eine Begründungspflicht bei Abweichungen von Bewerber- und Einstellungsquote sowie durch wesentliche Erweiterung der Rechte der Gleichstellungsbeauftragten.Frauenförderung in der Privatwirtschaft muß — dies lehren die Erfahrungen der Vergangenheit — Branchen- und betriebsspezifisch konzipiert und praktikabel sein. Eine Quotierung z. B. im gewerblich-technischen Bereich würde sich auf Grund einseitiger Berufsorientierung der vergangenen Jahrzehnte selber ad absurdum führen.
Ich meine, Nichterfüllung der Zielwerte bedeutet eineempfindliche Niederlage der Frauenpolitik. Dies wäre— wir sind jetzt in der Fußballweltmeisterschaft — ein Eigentor derer, die Quoten à la GRÜNE wollen.
— Ich bin schon ein bißchen weiter. Na, aber von mir aus.
Frau Nickels, bitte.
Frau Männle, wie kommen Sie denn dazu, zu sagen, das sei ein Eigentor? Wir haben das doch gerade bei den GRÜNEN versucht. Sind Sie denn der Meinung, daß wir mit unseren 50 % Frauen hier im Parlament und in anderen Parlamenten eine so schlechte Figur abgeben?
Meine Meinung, es sei ein Eigentor, habe ich auf den gewerblich-technischen Bereich bezogen. Wenn Sie heute 53 % Mädchen im gewerblich-technischen Bereich wollen, müssen Sie auch dafür sorgen, daß sich Mädchen zu 53 % für diesen Bereich entscheiden.
Fragen Sie einmal, ob sie dies tun
und ob künftig kein einziger Mann mehr in diesem Bereich eingestellt werden kann, weil ein derartiger Nachholbedarf besteht. Fragen Sie, ob Sie diese Quoten erfüllen können. Das ist ein Eigentor, Frau Nikkels.
Initiativen wie „Taten statt Worte", Personalentwicklungsplanung — abgekürzt PEP — in Schleswig-Holstein, Pilotprojekte zur Entwicklung maßgeschneiderter Frauenförderungskonzepte in Rheinland-Pfalz bilden wichtige Aufklärungs-, Sensibilisierungs- und Mobilisierungskampagnen, die auf Akzeptanz von Frauenförderung in Unternehmen durch den sanften Druck des besseren Arguments setzen. Für Quotenverehrer und für Sie ist das sicher ein Ablenkungsmanöver,
ein Vertagen der Gleichberechtigung auf den SanktNimmerleins-Tag. Für Idealisten mit Realitätssinn ist es eher ein praxisorientiertes, auf Kooperation statt Konfrontation setzendes Erfolgsrezept.Wir haben auf dem Essener Parteitag die Frage der Partnerschaft in den Mittelpunkt gestellt. Konfrontation ist mit Sicherheit kein Mittel der Partnerschaft.Frauenförderung in mittleren und kleineren Betrieben bedarf staatlicher Unterstützung und der Solidarität der Wirtschaft, z. B. durch Ausdehnung der Umlagepflicht — analog zu den Bestimmungen beim Mutterschutz — für den Fall von Berufsunterbrechungen und Ausfallzeiten infolge familiärer Verpflichtungen von Arbeitnehmern.Nicht nur die Arbeitgeber müssen umdenken. Auch die Gewerkschaften sind gefordert. Viel zu lange war diese Männerdomäne eine schlagkräftige Verbindung für männliche Klientel. Mehr und mehr entdekken auch die Gewerkschaften das Zukunftspotential: die Frauen, und setzen sich für tarifvertraglich geregelte Frauenförderung ein wie kürzlich die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten. Ich denke, dies ist positiv hervorzuheben.Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist das zentrale Anliegen der Frauenförderung, aber auch unverzichtbares Element einer zukunftsorientierten Männerpolitik. Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nur realisierbar, wenn ein der Nachfrage entsprechendes Angebot an qualifizierten Teilzeitarbeitsplätzen zur Verfügung steht. Prinzipiell sind alle Arbeitsplätze teilbar.
Das Argument, Führungsposition bedeute jederzeitige Verfügbarkeit der Arbeitskraft, ist ein viel zu oft gehörtes Scheinargument.
Der öffentliche Dienst muß hier durch klare Richtlinien und großzügigere Handhabung Vorbildfunktion übernehmen. Daher fordern wir die Bundesregie-
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Frau Männlerung auf, die von ihr initiierte Teilzeitoffensive im öffentlichen Dienst durch Erlaß einer Teilzeitrichtlinie zu konkretisieren und zu effektivieren.Ein heikles Thema in der öffentichen Diskussion stellt die Frage der Familienunterstützung und Familienentlastung durch öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen dar. Zu diesem Problem habe ich erst vor kurzem in der Debatte zum Kinder- und Jugendhilferecht Stellung genommen. Alte Vorurteile und finanzielle Engpässe der Bundesländer sind stärker als die Einsicht in das dringend notwendige staatliche Handeln. Eine konzertierte Aktion von Staat, Wirtschaft und Privatinitiativen ist hier notwendig. Ich sage das insbesondere auch im Hinblick auf die Situation der Frauen in der DDR, die einen Anspruch darauf haben, daß ihnen die Betreuung, die es bisher gibt, auch weiterhin gewährt wird. Ich denke, daß das auch auf uns in der Bundesrepublik ausstrahlt. Wir werden uns dafür einsetzen und haben dazu in der Beschlußempfehlung auch entsprechende Vorschläge gemacht.Leider — das ist ein weiterer Punkt, den ich in bezug auf die Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen auch erwähnen möchte; ich möchte damit die Palette anreichern — verengt sich der Blick zu sehr auf die Betreuung von Kleinkindern. Wir haben hierzu zahlreiche Maßnahmen — Erziehungsgeld, Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, die Gleichwertigkeit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit — beschlossen. In Zukunft wird die Zahl der Probleme im Zusammenhang mit der Versorgung und Pflege älterer und kranker Familienangehöriger zunehmen. Deshalb müssen analog zu den Bestimmungen über Kindererziehung Regelungen für die Pflege erarbeitet werden. Auch das ist für ein frauenpolitisches Konzept notwendig.Ich denke, meine Kolleginnen von der SPD und den GRÜNEN, ich habe durch das Aufzeigen der verschiedenen Aspekte deutlich gemacht, was unser Konzept der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist, ein Konzept, das Arbeit als solche und nicht nur Erwerbsarbeit einbezieht, aber auch Erwerbsarbeit.Daß der Einstieg in die Quote nicht den Ausstieg aus der Männergesellschaft bedeutet, ist in Nordrhein-Westfalen unter Beweis gestellt worden. Die NichtQuotenpartei CDU übertrumpfte die Quotenpartei SPD. Eine erfreuliche Bilanz.
— Der Anteil der weiblichen Mitglieder der CDU im Landtag von Nordrhein-Westfalen ist höher als der der SPD.
Ich sage, das ist eine erfreuliche Bilanz,
aber auch eine ermutigende Mahnung an die Adresse der Unions-Parteien. Nur solche Taten überzeugen. Das ein Wort an unsere Männer.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Lieber Kollege Wiefelspütz, lieber Kollege von der Wiesche, lieber Kollege Becker , lieber Kollege Such, lieber Kollege Meneses Vogl, lieber Kollege Seesing, lieber Kollege Gallus, lieber Kollege Eimer, lieber Kollege Neuhausen, guten Morgen.Liebe Kolleginnen, zu dieser Stunde sind ungefähr 2 % der männlichen Abgeordneten und gut 20 % der weiblichen Abgeordneten im Deutschen Bundestag anwesend. Ich bin auch ein bißchen müde. Ich gebe zu: Gestern hat es lange gedauert. Trotzdem wäre es schön, wenn wir diese Debatte
— lieber Kollege Kolbow — nicht wieder nach dem Motto führen müßten — frei nach F. K. Waechter —: „Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein. " Es wäre also schön, wenn Frauenpolitik nicht immer unter Ausschluß der männlichen Öffentlichkeit geführt werden müßte.
— Lieber Kollege Krey! Aber alle weiteren Herren werden jetzt nicht mehr begrüßt. Ich freue mich, daß Sie auch gekommen sind.
Liebe Ursula Männle, wir unterhalten uns immer so gut und sind uns in vielen Punkten über Fraktionsgrenzen hinweg einig. Darum war ich ein bißchen über das enttäuscht, was du gesagt hast; denn ich wehre mich dagegen, daß wir jetzt wieder eine Konfrontation aufbauen, wieder ein Entweder-Oder praktizieren.Ich gehöre zum Kuratorium der „Stiftung Taten statt Worte". Tarifvertragliche Regelungen wie die bei der NGG, wie die bei der IG Chemie und bei anderen Gewerkschaften — auch bei meiner Gewerkschaft, der HBV, die einen wegweisenden Tarifvertrag zur Teilzeitarbeit abgeschlossen hat — sind doch Bausteine. Aber dennoch muß anderes hinzukommen. Und das sind Gesetze. Wir diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben. Natürlich muß zu einem solchen Gesetz noch anderes hinzukommen. Das habe ich in diesem Plenum sicherlich schon zehnmal gesagt. Dazu haben wir Anträge eingebracht. Jetzt aber wollen wir über die Gleichstellung von Frau und Mann im Beruf diskutieren.
Vor ca. eineinhalb Jahren hatten wir die erste Lesung des Gleichstellungsgesetzes und des ADG der
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Frau Schmidt
GRÜNEN. In der Debatte damals wurde wenig über die Gesetzentwürfe und viel über Familienpolitik, über § 218 — und was sonst alles noch zur Frauenpolitik gehören mag — diskutiert.Es war für Sie, Frau Lehr, ein wichtiges Datum, denn obwohl es eine Debatte über die Gesetzentwürfe, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier eingebracht hatten, war, wurde das Ganze dann mit der Überschrift — dafür können Sie nichts, aber es war so — „Jungfernrede von Frau Lehr" versehen. In der Zwischenzeit wünschte ich, Sie wären nach dieser Jungfernrede mit Ihrem Ministerium wenigstens eine Verlobung oder eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingegangen. Mit einer Ehe rechnet ja wohl niemand mehr.
Auch heute debattieren wir wieder ausschließlich über Gesetzentwürfe der Opposition, denn bei der Regierung und bei den Koalitionsfraktionen ist diese Legislaturperiode ein frauenpolitischer Leerlauf.
Das hat sich ja schon in unseren Diskussionen im Ausschuß gezeigt, als die Regierung und die Koalitionsfraktionen bei mehr als 20 Vorlagen zu frauenpolitischen Themen mit gerade zwei eilends zusammengezimmerten Anträgen angetreten sind. Frau Ministerin, der Arbeitskreis „Gleichstellung von Frau und Mann" der SPD-Bundestagsfraktion beschäftigt vier Referentinnen und Referenten; Ihr Referat Frauenpolitik beschäftigt meines Wissens auf einer vergleichbaren Ebene 18 Referentinnen und Referenten. Meinen Sie nicht auch, daß das Ergebnis ein bißchen dünn ist, noch dazu nachdem der einzige Gesetzentwurf der Regierung nicht aus Ihrem Ministerium, sondern aus dem BMA kommt?Was haben Sie und Ihre Vorgängerin uns in dem Bereich Gleichstellung von Frau und Mann im Beruf nicht alles angekündigt,
und was ist daraus geworden? Ich zitiere: „Es ist das Ziel, die Arbeitsform Teilzeit gleichberechtigt neben die Arbeitszeit Vollzeit zu stellen und Teilzeitarbeit für Frauen und Männer gleichermaßen attraktiv zu machen." — Sie, Frau Lehr, haben den Abbau der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zugunsten sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit gefordert. Mit unserem Gesetzentwurf tun wir beides: mehr Zeitsouveränität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Familienpflichten, weniger ungeschützte Teilzeitarbeit, Abschaffung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.Sie wollten folgendes — ich zitiere wieder —: „Frauen, die nach einer kürzeren oder längeren Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit zugunsten der Familie wieder in den Beruf zurückkehren wollen, soll umfassend geholfen werden. Die während der Unterbrechung in der Familie erworbenen Kompetenzen und Fähigkeiten sind neben berufsbezogenen Qualifikationen in stärkerem Umfang zu berücksichtigen." — Unser Gesetzentwurf sieht genau das vor.Sie wollten die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz nach Vorgabe der EG-Richtlinie effektiver ausgestalten. Wir haben mit unserem Gesetz einen Vorschlag zur Verschärfung des bisher sanktionslosen Verbotes der Benachteiligung durch Ausdehnung auf den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung durch Umkehr der Beweislast, durch eine Schadenersatzpflicht bei nachgewiesenen Verstößen und Ahndung der Benachteiligung als Ordnungswidrigkeit vorgelegt. Ihr Gesetzentwurf, der auch nach Ansicht der Kolleginnen der Koalitionsfraktionen unzureichend ist, befindet sich noch in den Beratungen. Wie er herauskommt, weiß kein Mensch.Sie sagten ferner: „Die Bundesregierung wird die Wirksamkeit der Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen in der Bundesverwaltung prüfen und Schritte zur Verbesserung einleiten. " — Haben Sie nun geprüft? Wie sieht das Ergebnis aus? Unser Gesetzentwurf sieht die verbindliche Frauenförderung vor.Sie haben sich so geäußert: „Eine angemessene politische und gesellschaftliche Beteiligung von Frauen kann nur erreicht werden, wenn Vorurteile abgebaut und die Rahmenbedingungen für die politische und gesellschaftliche Partizipation von Frauen verbessert werden. " — Ich frage mich: Warum tun Sie nicht endlich das, was Sie sich vornehmen?Nun weiß ich natürlich, daß Frauenpolitik nicht einfach durchzusetzen ist. Meine Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion mögen es mir verzeihen, wenn ich sage: Auch in meiner Fraktion ist es natürlich kein Honigschlecken, Frauenpolitik durchzusetzen. Von der Formulierung des Vorhabens eines Gleichstellungsgesetzes bis zu seiner Verabschiedung in der Fraktion sind bei uns immerhin eineinhalb Jahre vergangen. Nicht alle Blütenträume sind dabei gereift. Darum sage ich ganz eindeutig: Viele Vorschläge — der GRÜNEN — sind mir von ihrer Anlage her sympathisch. Ich hätte an einigen Stellen gerne mehr durchgesetzt, aber es fehlt uns auch die verfassungsmäßige Grundlage dafür, weil alle Verfassungsrechtler — auch diejenigen, die unserem Vorhaben sehr aufgeschlossen gegenüberstehen — gesagt haben: Dieses Gesetz hält keiner verfassungsrechtlichen Prüfung stand. — Nur, die Konsequenz kann doch nicht sein, daß wir dann darauf verzichten. Wir haben jetzt die Chance, im Rahmen eines zweiten Staatsvertrages, im Rahmen einer gemeinsamen neuen deutschen Verfassung auf der Grundlage unseres Grundgesetzes die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß endlich eine verbindliche Frauenförderung möglich wird, und zwar nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern auch in der Privatwirtschaft.
Aber, Frau Lehr, unser Gesetzentwurf wurde dann eben verabschiedet, und wir werden die Chance haben, ihn in einer SPD-geführten Regierung durchzusetzen. Sie, Frau Lehr, kämpfen nicht und haben da-
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Frau Schmidt
mit schon verloren. Sie formulieren Politik, aber versuchen gar nicht erst, sie durchzusetzen.Es gibt einen ganz grundsätzlichen Unterschied natürlich auch im Ziel. Wir verwenden für unsere Ziele zwar die gleichen Begriffe, aber wir verstehen an vielen Punkten unter diesen Begriffen etwas anderes. Da hast du, Ursula Männle, in deiner Kritik zwar nicht ganz recht, aber ich möchte diese Unterschiede einmal aufzeigen. Beim Durchlesen des Protokolls der ersten Lesung unserer Gesetzentwürfe ist mir das sehr klar geworden. Wenn Sie, Frau Lehr, und Sie, liebe Kolleginnen der Koalitionsfraktionen — nicht alle, aber die meisten — von Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sprechen, dann sagen Sie zwar immer, „für Mütter und Väter" , Ihre Politik richtet sich dennoch beinahe ausschließlich an die Mütter.
Wenn wir von Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sprechen, dann wollen wir, daß dieses Problem von einer Frauenfrage endlich auch zu einer Männerfrage wird.
Wenn Sie die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie wollen, dann meinen Sie Wahlfreiheit für Mütter. Wenn wir von Wahlfreiheit sprechen, dann meinen wir die Freiheit von Mutter u n d Vater, zu entscheiden, wer wann in welchem Umfang erwerbstätig sein will und wer sich wann in welchem Umfang mehr um die Familie kümmern will. Heute haben wir keine Wahlfreiheit, sondern einen Wahlzwang für Frauen.Eindrucksvoll hat das Frau Funke, die neue Sozialministerin von Rheinland-Pfalz, in unserer Anhörung zu den Gesetzentwürfen geschildert. Leider konnten weder Sie, Frau Lehr, noch die Leiterin Ihres Referats Frauenpolitik an dieser Anhörung teilnehmen. Frau Funke hat dargestellt, daß 40 % aller Frauen in Karrierefunktionen keine Kinder haben, während 97 % aller Männer in vergleichbaren Positionen überdurchschnittlich viele Kinder haben. Für Frauen heißt es also auch heute noch: Beruf oder Kinder, oder zumindest: Kinder oder Karriere.Wir wollen das mit unserem Gesetzentwurf ändern. Wir wollen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Frauen erreichen, weil die die Voraussetzung für eine so verstandene Wahlfreiheit überhaupt ist.
Sie wollen unseren Gesetzentwurf heute ablehnen. Ich prophezeie Ihnen, daß er vor dem Hintergrund der Rechtsangleichung mit der DDR notwendiger denn je ist. Sie, Frau Ministerin Lehr, waren gestern bei den Debatten zum Staatsvertrag nicht anwesend. Kolleginnen der Koalitionsfraktionen erhielten keine Gelegenheit, zum Staatsvertrag und zur Situation von Frauen in der DDR mitzudiskutieren.Damit bin ich bei dem Grund für die weitgehende Erfolglosigkeit konservativ-liberaler Frauenpolitik. Sie sind zu wenige, und Sie verzichten freiwilig darauf, mehr zu werden. Frau Professor Süssmuth hat zum Ende ihrer Amtszeit als Ministerin einmal gesagt:Ich denke, wenn eine Partei Zukunft haben will, dann entscheidet sich das mehr denn je daran, wie sie mit Männern und Frauen in der Partei umgeht und ob die Frauen erleben, daß sie ernstgenommen werden mit ihren Problemen und Bedürfnissen und — ich unterstreiche — mit ihren Fähigkeiten.Mir scheint, mit ihrer Zukunft sieht es nicht besonders rosig aus. Das sieht der Vorsitzende der CDU-Fraktion in Niedersachsen genauso. Er hat gesagt, nicht umzugehen gewußt habe die Union mit dem neuen Selbstbewußtsein von Frauen, mit neuen Wertorientierungen und neuen Lebensstilen. Er schließt: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. " Wie wahr. Wir werden deshalb diesen Gesetzentwurf im ersten gesamtdeutschen Parlament neu einbringen — als Regierungsentwurf.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf an dieser Stelle ganz besonders meinen Kollegen Herrn Gallus begrüßen, der sich in zunehmendem Maße für Frauenfragen interessiert.Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten haben wir alle fasziniert auf die gewaltlose Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, auf die Veränderung in Deutschland, in Europa, ja in der Welt geschaut. Wir haben den Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten als Parlamentarier und Parlamentarierinnen mitbegleiten können. Ich bin besonders stolz darauf, daß die Frauen in der Deutschen Demokratischen Republik maßgeblich an den tiefgreifenden Umwälzungen mitgewirkt haben und daß sie heute — wenn auch in viel zu geringer Zahl — als Politikerinnen bei der Neugestaltung der Deutschen Demokratischen Republik und eines vereinten Deutschlands mitarbeiten.Neben all diesen großen über die Grenzen Deutschlands weit hinausreichenden Ereignissen sollten wir jedoch unsere eigene gesellschaftliche Entwicklung nicht außer acht lassen.
Ich finde sogar, daß der Blick nach „drüben" in den anderen Teil Deutschlands unsere Augen für die Zustände im eigenen Land schärft und uns die Gelegenheit gibt, über unsere gesellschaftlichen Schwächen zu diskutieren und zu beraten.
Die rasante Entwicklung des politischen Vereinigungsprozesses mit den Veränderungen in der Deutschen Demokratischen Republik hat ihren guten Grund: Während jahrelanger Bevormundung der Bevölkerung und dem Festhalten an starren Reglementierungen durch den Staatsapparat und die Partei ist in dem östlichen Teil Deutschlands nichts gestaltet, nichts zum Positiven verändert worden. Eine Evolution fand nicht statt.Eine Stärke unserer bundesdeutschen politischen und wirtschaftlichen Ordnung ist die Evolution, die
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Frau WürfelFlexibilität und die Individualität, das Aufnehmen neuer Bedürfnisse und Entwicklungen, die Fähigkeit zur Innovation und zur langsamen und auch zur schnelleren Anpassung. Die gesellschaftlichen Kräfte in der Bundesrepublik beeinflussen diese Evolution und suchen — Spürhunden gleich — immer neue Fährten. Ihnen ist es in der Regel zu verdanken, daß reagiert wird. Nicht immer spektakulär, aber kontinuierlich wird in zäher Kleinarbeit an Veränderungen gearbeitet. Die Arbeit im stillen gilt in der Regel auch frauenpolitischen Belangen.Frauenpolitik ist Sozialpolitik. Hier gilt es, dicke Bretter zu bohren. Daß wir es nicht mit Weichholzbrettern zu tun haben, sondern mit abgelagertem Hartholz, das wir bearbeiten müssen, brauche ich Kennern der Frauenpolitik nicht zu verraten.
— Nun ja.
Sie von den GRÜNEN bieten mit Ihrem Antidiskriminierungsgesetz, das eine 50%ige Quote vorsieht, allerdings so eine Art Patentrezept an. Meines Erachtens nehmen Sie Hartholzbohrungen erst gar nicht vor, sondern ergänzen nach starrem Muster. So einfach, scheint es, schaffen Sie den Ein- und Aufstieg in alle gesellschaftlichen Bereiche.Nun müssen wir uns fragen: Gelingt das wirklich? Ich glaube, daß auf diese Weise langfristig wenig erreicht wird. Zwar setzen Sie ein Signal, doch ich glaube, daß der schnelle Erfolg trügt. Denn wo bleibt die Garantie, daß der Erfolg auch anhält und sich tiefgreifende Veränderungen über Jahre hin ergeben?
Die Meßlatte der sichtbaren Präsenz von Frauen kann uns liberalen Frauen nicht genügen. Im übrigen habe ich das Gefühl, daß in Ihrer Partei ein gewisses Rollback, was die Männer anbelangt, bereits im Gange ist.
Andere Länder sind, was die Akzeptanz von Frauen in gesellschaftlichen und politischen Feldern betrifft, weiter. Aber selbst dort, wo es — mehr als bei uns — Frauen in Führungspositionen gibt, mangelt es an der wünschenswerten Dichte. Dies zu erreichen ist die Aufgabe, die die Geschichte uns, der heutigen Generation, stellt.Ob wir dies nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD erreichen könnten?
Ich habe natürlich gewisse Sympathien, liebe Renate,das muß ich bekennen. Das habe ich ja auch schon beider ersten Lesung gesagt. Dieser SPD-Gesetzentwurferfordert eine genauere Überprüfung, schon allein deshalb, weil er nicht den globalen Quotenansatz des Gesetzentwurfes der GRÜNEN kennt. Richtig ist auch, daß der Gesetzentwurf der SPD auf die Beteiligung von Frauen in der Wirtschaft entscheidend Wert legt.Dank des enormen Wirtschaftsaufschwungs konnten die meisten Arbeitsplätze, die in den letzten Jahren geschaffen worden sind, erfreulicherweise von Frauen besetzt werden.
In Zukunft werden die Frauen von der Wirtschaft noch weiter gebraucht werden. 10 Millionen erwerbstätige Frauen werden in den nächsten Jahren überhaupt nicht ausreichen, alle Aufgaben zu bewältigen, die in einem vereinten Deutschland auf uns zukommen.Der Haupttrend der Gegenwart, der Frauen zugute kommt, ist die Entwicklung unserer Gesellschaft von der Industrie- zur Dienstleistungs- und weiter zur Kommunikationsgesellschaft. Die Fließbandarbeit wird von Überwachung, Steuerung, Wartung, Beratung, Service und Kommunikation abgelöst. Gerade das kommt den qualifzierten Frauen zugute.Auch wenn im anderen Teil Deutschlands der Strukturwandel Schwierigkeiten für die Frauen mit sich bringen wird, — da bin ich ganz sicher — , werden ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassung, was die Frauen dort ohne Zweifel haben, und die hohe Akzeptanz von Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der Frauen diese Umstellung erleichtern helfen.Es zeigt sich, daß hier wie dort in der Arbeitswelt Fähigkeiten immer mehr geschätzt werden, die Frauen bisher in der Familienrolle — in Anführungszeichen — eingeübt haben. Bisher als typisch weiblich bezeichnete Stärken, wie Vielseitigkeit, Kreativität, Flexiblität, Einfühlungsvermögen in Menschen und Kontaktfreude, werden künftig stärker gefordert.
Im Management der Unternehmen zeichnet sich seit einiger Zeit der Trend vom funktionalen Manager zum, sagen wir einmal: Menschenführer ab. Neben Schlüsselqualifikationen, wie der Fähigkeit zu vernetztem Denken und interkultureller Sensibilität, wird die soziale Kompetenz der Fach- und Führungskräfte als immer wichtiger erachtet. Soziale Kompetenz ist die Fähigkeit, mit sich selbst und anderen konstruktiv umzugehen. Voraussetzung dafür — das ist etwas, was man selbstverständlich in der Familie besonders einüben kann — ist ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen — in diesem Fall im Management — in die Situation der zu führenden Personen.Mit der sozialen Kompetenz wird eine oft als typisch weiblich bezeichnete Eigenschaft zu einer wesentlichen Managementfunktion erhoben. Sicherlich ist diese Eigenschaft bei Frauen wie bei Männern vorhanden. Jedoch kommt Frauen in diesem Bereich nach allgemeiner Ansicht ein Qualifikationsvorteil zugute, den die Führungskräfte in den Unternehmen im Einzelfall erkennen und fördern müssen. Diese soziale Kompetenz gilt es in Zukunft für die Wirtschaft ver-
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Frau Würfelmehrt zu nutzen. Wir müssen zugestehen, daß die Gesellschaft insgesamt schon sehr lange von diesen Fähigkeiten profitiert und sie entsprechend ausgenutzt hat und ausnutzt.
Hinzu kommt der Trend unserer Gesellschaft zu mehr Individualität. Die Individualität gibt dem einzelnen mehr Freiheit, mehr Unabhängigkeit und auch mehr Chancen zur Selbstverwirklichung. Andererseits birgt dieser Hang zur Isolation auch die Gefahr der sozialen Kälte, der Ausgrenzung und der Lösung von traditionellen sozialen Bindungen.Die Zahl der Ehescheidungen und die Angst vor Verpflichtungen durch Kinder sowie der Ersatz von persönlicher Zuwendung durch Wohlstand drückt dies wohl aus. Viele haben inzwischen die Befürchtung, daß unser Gemeinwesen durch den wachsenden Egoismus zerstört werden könnte. Dies finde ich zwar übertrieben, aber wir müssen uns fragen, wie wir es angesichts dieser Entwicklungen schaffen, mehr Solidarität, insbesondere mehr Solidarität für die Frauen, und die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchzusetzen.Natürlich wollen wir liberalen Frauen keine Gleichmacherei und schon gar nicht eine Art blinder Solidarität. Es muß die vorrangige Aufgabe jedes einzelnen sein, mit seinem Selbstbewußtsein, seinem Können und seiner Verantwortungsbereitschaft für den Erhalt der Gesellschaft, der Freiheit, der Natur und der Umwelt aktiv einzutreten. Selbstbestimmung und Verantwortung, jedoch nicht Bevormundung, müssen das Leitmotiv unseres Handelns sein.
Ziel liberaler Frauenpolitik ist es daher, unsere Politik freier und deshalb noch effizienter, noch sozialer zu machen. Das heißt für uns, daß zur Freiheit der Lebensgestaltung — die natürlich durch die verschiedenen Lebensentwürfe, die zur Zeit noch vorgegeben sind, stark eingeengt wird, wie es Renate Schmidt eindrucksvoll geschildert hat, und die bei uns in der Bundesrepublik eher auf dem Papier besteht — die Zeitsouveränität kommen muß. Das bedeutet vor allen Dingen, daß man immer weniger Frauen und Männern vorschreiben kann, wie wenig oder wie viel, wann und in welcher Art und Weise sie erwerbstätig sein möchten.Insofern kann ich einigen Passagen Ihres SPD-Gesetzentwurfs nicht folgen, in dem nun Arbeitszeiten fest vorgeschrieben werden und in dem Frauen, so sie es wollen, verboten wird, nachts zu arbeiten.
— Leider ist das, was Sie gesagt haben, hier nicht übergekommen, weil das nicht ins Mikrophon gesprochen wurde. Wenn dahinter das Ziel steht, ihnen die Gleichberechtigung nicht vorzuschreiben, sondern ihnen die Wahl zu lassen, dann bin ich natürlich damit einverstanden.Zurück zur Zeitsouveränität. Ich glaube, daß die Zeitsouveränität in Zukunft das Recht jedes einzelnenBürgers, jedes einzelnen Erwerbstätigen sein muß. Ein Jahresarbeitszeitkonto ist der richtige Weg, nicht die starre Reglementierung einer 35- Stunden-Woche. Den Frauen nützen flexible Arbeitszeiten viel mehr als starre Arbeitszeitverkürzungen oder Verbote. Ich denke, daß auch Sie von den Sozialdemokraten dies noch einmal überlegen sollten. Es handelt sich um völlig neue Fragestellungen, auf die wir nicht die alten Antworten geben können.
Frau Nickels möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Frau Würfel, zu der Zeitsouveränität möchte ich Sie als FDP-Politikerin fragen, was Sie darunter verstehen. Verstehen Sie darunter, daß die flexiblen Zeiten von den Unternehmen vorgegeben werden? Oder können Sie sich eine gesetzliche Regelung vorstellen, die den Frauen und Männern, die Kinder zu erziehen haben, die Möglichkeit gibt, im Betrieb geltend zu machen, wann sie diese flexiblen Zeiten in Anspruch nehmen wollen?
Ja, meine Vorstellung ist, daß es möglich sein muß — wie es schon heute in erfreulicher Weise in recht zahlreichen Fällen beim Jobsharing möglich ist — , daß sich mit den Firmen einzelne Verträge aushandeln lassen.
— Doch. Es gehört auch zur Zeitsouveränität, daß ich am Arbeitsplatz z. B. sagen kann: Wir teilen uns die Zeit so ein, daß ich jetzt für sechs Stunden da bin.
— Nein. Darüber hinaus: Wenn ich ein Jahresarbeitszeitkonto habe, dann kann ich mit meiner Firma ausmachen, daß ich die nächsten vier Monate da bin, dann drei Monate nicht und dann wieder für vier Monate arbeite. Oder aber ich arbeite volle acht Stunden am Tag, vielleicht auch zehn Stunden, wenn es mir liegt. Wir als Parlamentarierinnen arbeiten hier unter Umständen 18 Stunden am Tag. Dies sollte ich in einen Vertrag mit meinem Arbeitgeber einbringen können.
Ich glaube, daß es Aufgabe der Tarifparteien ist— insofern kann ich dies noch einmal dezidiert sagen — , frauengemäße Regelungen zu treffen. Kein Gesetzentwurf vermag in seiner Allgemeingültigkeit für alle gesellschaftlichen Bereiche sensible, auf die besonderen Bedürfnisse der Frauen in den einzelnen Unternehmen abgestellte Maßnahmen vorzusehen. Warum sollten nicht die Arbeitgeber und die Gewerkschaften direkte Lösungen vor Ort erarbeiten können, die über das hinausgehen, was bei den Job-sharingPlätzen für den einzelnen schon möglich ist? Ich gebe natürlich zu, daß es im Augenblick noch viel zu wenige tarifvertragliche und betriebliche Regelungen gibt. Hier müssen vor allen Dingen die mittelständischen Unternehmen das Ihrige tun. Auf unsere Initiative hin haben wir am Dienstag seitens der Koalitions-
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Frau Würfelfraktionen eine Große Anfrage zur Situation der Frauen im Mittelstand eingereicht. Ich denke, daß wir auf der Grundlage genauerer Daten praxisnäher diskutieren und beschließen können als in der Vergangenheit.Sicher ist jedoch heute schon, daß das Potential von Teilzeitarbeitskräften noch lange nicht ausgeschöpft ist, daß dem Wunsch nach variablen Arbeitszeiten immer noch zu wenig entsprochen wird und daß sich der Wiedereinstieg in das Erwerbsleben für viele Frauen als unüberbrückbarer Stolperstieg gestaltet.Hier sind auch die Betriebe gefordert. Bei ihnen muß umgedacht werden; denn jede Veränderung ist auch eine wirtschaftliche Veränderung. Es wäre fatal, wenn wir einen Gesetzentwurf befürworteten, der zwar auf den ersten Blick Frauen Gutes tut, der sie jedoch langfristig vom Arbeitsprozeß auszuschließen droht.Wir müssen uns auch noch einmal mit der Frage nach der Abschaffung der geringfügigen Beschäftigung befassen. Diese Forderung geht an den Wünschen vieler Frauen vorbei. Viele Frauen wollen gar keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Ich will nicht verhehlen, daß für mich persönlich solch ein Wunsch unverständlich bleibt, weil sie auf diese Weise keine eigenständige Alterssicherung erreichen.Allerdings müssen wir diese Entscheidung der Frauen respektieren. Wir haben mit der Einführung des Sozialversicherungsausweises ein Mittel geschaffen, um wenigstens den Mißbrauch dieser Beschäftigungsverhältnisse einzudämmen. Ich denke, wir sollten erst einmal die positiven Ergebnisse der Einführung dieses Sozialversicherungsausweises abwarten.In einigen Passagen nimmt Ihr Gesetzentwurf die betrieblichen Realitäten nur ungenügend zur Kenntnis. Der Vorschlag, ab einer Zahl von neun Betriebsoder Personalratsmitgliedern einen Gleichstellungsausschuß zu installieren, nimmt meines Erachtens die realen Machtverhältnisse in den Betrieben nicht zur Kenntnis und birgt vielleicht, liebe Renate Schmidt, auch die Gefahr in sich, daß wir dann eine Art Frauenclub schaffen. Ich denke, wir Frauen sollten die Beteiligung von Frauen gemäß ihrer Leistung und Qualifikation wollen; denn eine zahlenmäßige Vertretung allein genügt ja nicht. Eine Ausgrenzung von Frauen in separaten Vereinen halte ich nicht für gut.Es ließen sich noch einige andere Punkte auflisten, aber die begrenzte Zeit macht es mir nicht möglich — das Lämpchen leuchtet bereits — , auf Ihren Gesetzentwurf, der sehr komplex ist, näher einzugehen. In einigen Teilen kann ich ihn befürworten, aber in anderen Teilen ist er mir zu dirigistisch. Wir werden darüber vielleicht noch einmal zu reden haben.
Das Wort hat Frau Kollegin Nickels.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich war ich nicht als Rednerin vorgesehen. Meine Kollegin war der Meinung, wir hätten — wie das hier meistens der Fall ist — gerade einmal 5 bis 7 Minuten Redezeit. Tatsächlich waren es heute mehr, und so habe ich jetzt die Möglichkeit, ein bißchen auf das einzugehen, was gesagt worden ist.Frau Männle, Sie haben gesagt, es könne nicht angehen, daß man jetzt auch noch die Frauen unter das Diktat der Ökonomie stellt. Frau Männle, ich finde, daß in unserer Gesellschaft alle, Männer, Frauen und Kinder, unter dem Diktat der Ökonomie stehen. Das Problem, das sich daraus ergibt, löst unsere Gesellschaft zur Zeit so, daß die Frauen — um den Preis der Abhängigkeit von ihren Ehemännern, um den Preis der Aufgabe einer eigenständigen Alterssicherung und um den Preis der fehlenden Möglichkeit, in Gesellschaft und Beruf Einfluß zu nehmen — bei der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen Menschlichkeit und Humanität für die Gesamtgesellschaft noch wahren. Das ist ein Preis, den Frauen täglich bezahlen, damit Kindererziehung, Schwangerschaft, Geburt und Pflege von Alten die Ökonomie nicht stören.
Hier handelt es sich für meine Begriffe um strukturelle, in Frauenfeindlichkeit wurzelnde Inhumanität. Erst durch den Preis, den Frauen, wie ich gerade dargelegt habe, noch immer zu zahlen genötigt sind, wird ein Stück Humanität in unserer Gesellschaft überhaupt erst möglich gemacht.Wir als GRÜNE und auch Sie von der SPD sagen, man müsse hier in allen Bereichen ansetzen. Wenn wir heute z. B. über den Bereich der Erwerbstätigkeit diskutieren, dann geht es darum, die Gleichberechtigung der Frauen herbeizuführen. Wir wollen keine Gleichstellung mit der Situation der Männer; das würde die Inhumanität in unserer Gesellschaft weiter verfestigen. Der Wunsch nach Gleichberechtigung ist ein Anliegen, das, wenn man es durchsetzt, zur Humanisierung der gesamten Gesellschaft beiträgt. Dabei müssen wir auf allen Feldern ansetzen und dürfen Männer und Frauen nicht gegeneinander ausspielen.Daraus folgt, daß Sie im Erwerbsleben die Quotierung einführen müssen, weil jeder Platz — Frau Schmidt, das haben Sie schon einmal gesagt — , vor allen Dingen jeder interessante Platz, in der Erwerbsarbeit für eine Frau einer weniger ist für den Mann. Und die Männer räumen das Feld nun einmal nicht freiwillig.Gleichzeitig muß man auch — was heute zwar nicht auf der Tagesordnung steht, aber untrennbar mit dem Thema verbunden ist, auch in anderen Bereichen ansetzen. Sie von der SPD haben das ebenfalls ein Stück weit getan, aber für meine Begriffe viel zuwenig.Dazu gehört z. B., die unsichtbare und angeblich unbezahlbare Arbeit der Frauen, die paradoxerweise aber gar nicht bezahlt wird, im Bruttosozialprodukt sichtbar zu machen. Das lehnen Sie von den Koalitionsfraktionen immer noch ab. Der Wert dieser unsichtbaren Arbeit muß aber sichtbar gemacht werden,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17315
Frau Nickelsdamit man erkennt, was hier an Ungerechtigkeiten geschieht, wie die Frauen der Früchte ihrer Arbeit beraubt werden.Wir müssen dahin kommen, daß Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit vereinbar sind; daß Männer und Frauen ausreichend Zeit für die Kinderbetreuung haben; das Minimum wären drei Jahre Erziehungsurlaub. Das Erziehungsgeld muß Lohnersatzfunktion haben; sonst können Sie doch gar nicht von Wahlfreiheit und Gleichberechtigung sprechen.
Sie müssen Menschen, die pflegebedürftig sind, Möglichkeiten, finanzielle Mittel geben, die Pflege auch selber zu organisieren.Wenn Sie in allen Sektoren dafür sorgen, daß menschliche Belange — wie z. B. Kindererziehung und Pflege von Alten und Kranken — gleichberechtigt nebeneinanderstehen, dann haben Sie eine humane Gesellschaft, in der sich alle Menschen dem Diktat der Ökonomie entziehen können und Humanität wirklich zum Durchbruch kommen kann. Der Kampf um die Befreiung der Frauen, um die Gleichberechtigung der Frauen ist auch ein Kampf gegen den Primat der Ökonomie und für den Primat der Humanität. Von daher verstehe ich gar nicht, was Sie von den Koalitionsfraktionen heute gesagt haben. Es tut mir leid, aber eigentlich wissen Sie es besser.Wir als grüne Frauen haben, wenn es um die Zuteilung von Parlamentssitzen geht, die Quote durchgesetzt. Frau Würfel, Sie haben gesagt, ein Stück weit gebe es ein Roll-back auch bei uns GRÜNEN. Das stimmt, Frau Würfel. Wir wußten, daß das so sein würde, weil wir weder die Gesellschaft noch die Art und Weise, in der Politik gemacht wird, mit einem Federstrich ändern, indem wir auf eine Quote von 50 % Frauen kommen. Aber bei uns ist Gott sei Dank die Quote davor, daß das Roll-back uns Frauen wieder hinwegfegt.
Wir werden also noch genug Gelegenheit haben, auch die Art und Weise, in der Politik gemacht wird, zu verändern. Darum ist die Quote allein schon durch die Ergebnisse, die wir GRÜNEN dort, wo sie von uns einzuführen versucht worden ist, erzielt haben, für meine Begriffe ein Stück weit gerechtfertigt.Danke schön.
Das Wort hat nun Frau Abgeordnete Seuster. — Das war nur ein kurzer Zwischenbeitrag.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Entwurf zur Gleichstellung von Frau und Mann im Berufsleben einen „runden" Gesetzentwurf vorgelegt und zeigt damit Wege auf, wie die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben abgebaut werden kann. Die Zeit ist reif für ein Gleichstellungsgesetz. Der Boden ist von uns lange vorbereitet worden durchAnfragen, Anträge, Aufforderungen an die Bundesregierung, endlich tätig zu werden. Doch kurz vor Ende der Legislaturperiode ist festzustellen, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen hier heute mit leeren Händen dastehen. Ein Gleichstellungsgesetz der Bundesregierung wird es nicht geben. Die Frauenministerin beschränkt sich darauf, in Sonntagsreden die Benachteiligung von Frauen zu beklagen und an die Unternehmen zu appellieren, Verbesserungen vorzunehmen. Lediglich die Umsetzung des arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes soll jetzt vorgenommen werden. Es geht dabei um die sogenannten Portoparagraphen. sie alle kennen dieses Stichwort. Dieser Gesetzentwurf wird jetzt in den einzelnen Ausschüssen beraten. Die Bundesregierung hat ihn unter dem hochtrabenden Titel „Gesetz zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz" eingebracht.
— Das ist wirklich Hochstapelei.Ich frage mich einfach: Wollen Sie das als Antwort auf unsere vielen Initiativen, die wir ergriffen haben, hier als einziges stehen lassen? Das ist mehr als bedauerlich. Wir jedenfalls wollen mehr.Wir wollen mit unserem Gleichstellungsgesetz nicht nur Benachteiligung von Frauen im Berufsleben abbauen, sondern wir wollen damit dem Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes nachkommen und Frauen aktiv fördern.Sicherlich kann die Gleichstellung im Berufsleben nicht alle Probleme lösen. Ihr kommt jedoch eine Schlüsselfunktion zu. Mangelnde Gleichstellung im Beruf ist das größte Hindernis auch gesellschaftlicher Gleichstellung. Wir wollen mit unserem Gesetzesentwurf zur Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben durch verschiedene Gesetzesänderungen die Chancengleichheit von Frauen verbessern und Benachteiligungen beseitigen.Wir haben deshalb eine Generalklausel vorgesehen, in der wir sagen, daß Chancenungleichheiten und Abreden zur Benachteiligung von Frauen grundsätzlich verboten sind. Das klare Verbot von Benachteiligungen wegen des Geschlechts bei der Berufswahl und bei der Berufsausübung — z. B. bei der Entlohnung und dem beruflichen Aufstieg — wird ausdrücklich ausgedehnt auf die mittelbare Benachteiligung, die z. B. durch Ehestand und Kinder vorhanden sein kann.Hinzu kommt, daß wir eine Beweislastumkehrung einführen wollen und daß wir Verstöße gegen das Verbot als Ordnungswidrigkeit ansehen und eine Ahndung bis zu 100 000 DM damit verbinden. — Soweit zur Generalklausel.Liebe Kollegen und Kolleginnen, in unserer Gesellschaftsordnung sichert Erwerbsarbeit materielle Unabhängigkeit. Das ist für mich ein ganz wichtiger Faktor. Deshalb kann die Wahlfreiheit für Männer und Frauen zwischen Familie und Beruf — und wir reden ja immer wieder davon, daß wir das alle wollen — nur
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Frau SeusterWirklichkeit werden, wenn auch die wirtschaftliche Gleichstellung erreicht wird.
Erst dann ist dies möglich.
Deshalb zeigen wir mit unserem Gesetzentwurf auf, daß die Anerkennung von Qualifikationen, die durch Familienarbeit gewonnen werden, auch im Berufsleben zu berücksichtigen ist und wie sie zur Einkommenssteigerung beitragen. Damit wird endlich der alte Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit" realistischer.Die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbsleben ist die Voraussetzung für eine Neuaufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in Beruf, Familie und im sozialen Leben. Doch wie sieht die gesellschaftliche Wirklichkeit aus? Wir haben es heute schon mehrfach gehört: Sie ist völlig anders.Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl sich die Zahl der erwerbstätigen Frauen in den letzten Jahren erheblich erhöht hat, gibt es noch keinen Grund zum Jubeln. Zum größten Teil ist dieser Zuwachs dadurch entstanden, daß das Arbeitsvolumen auf mehr Arbeitskräfte verteilt wurde. Ihr sogenanntes Beschäftigungsförderungsgesetz ermöglicht es, Normalarbeitsplätze in viele kleine, befristete und geteilte Beschäftigungsverhältnisse aufzusplittern.
Öffentliche wie private Arbeitsplatzanbieter ziehen ihren betrieblichen Nutzen aus dieser Möglichkeit, und die Frauen ziehen den kürzeren; sie zahlen drauf, sofort und auch noch im Alter. Sie sind nicht in der Lage, durch die Entlohnung für eine geringfügige Beschäftigung ihren Lebensunterhalt zu sichern. Gegen diesen gesellschaftlichen Skandal gibt es nur ein Mittel: die Abschaffung der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse. Das ist Gegenstand unseres Gesetzes.
„Erwerbstätigkeit ist grundsätzlich versicherungspflichtig" , so heißt es in unserem Gesetzentwurf. Dies ist eine unserer zentralen Forderungen. Sie reicht aber noch nicht aus, um die weitverbreitete arbeitsrechtliche Benachteiligung Teilzeitbeschäftigter gegenüber Vollzeitbeschäftigten aufzuheben. Teilzeitbeschäftigte sind zu 90 % Frauen, da Mütter mangels familienergänzender Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen große Probleme haben, Kinder, Familie und Alltagsaufgaben mit einem normalen Arbeitsplatz zu vereinbaren.Diese teilzeitbeschäftigten Frauen sind oft immer noch hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen, ihres beruflichen Aufstiegs und bei der Teilhabe an betrieblichen Leistungen benachteiligt. Wir fordern deshalb in unserem Gesetzentwurf: Eine Benachteiligung allein wegen der Teilzeitbeschäftigung ist unzulässig. Dies gilt insbesondere bei der Kündigung, der Beteiligung an sozialen Leistungen, bei der Teilnahme an Bildungsmaßnahmen und beim beruflichen Aufstieg. Der Arbeitgeber bzw. die Arbeitgeberin trägt die Beweislast.Erleichtern wollen wir auch den Umstieg von einem Teilzeitarbeitsplatz auf einen Vollzeitarbeitsplatz, indem wir einfach vorgeben, daß Benachrichtigungen erfolgen, wenn solche Arbeitsplätze frei werden oder neu eingerichtet werden. Wir wollen außerdem durch dieses Gesetz erreichen, daß familienfreundliche Arbeitszeiten im Zusammenwirken mit dem Personalrat bzw. dem Betriebsrat zur Selbstverständlichkeit werden. Nicht das Kleinkind soll sich der Maschinenlaufzeit anpassen, sondern die Arbeitszeit von Mutter und Vater paßt sich den Bedürfnissen von Kleinkindern an. Dann wären wir schon einen erheblichen Schritt weiter.
Abschaffen wollen wir auch das sogenannte Jobsharing und Arbeit auf Abruf. Arbeitsverträge müssen unserem Willen nach klare Vereinbarungen über Mindestarbeitszeit und Vergütung enthalten.In den Betriebs- und Personalvertretungen sind Frauen unterrepräsentiert. Außerdem machen die Betriebsräte zuwenig von ihrem Recht Gebrauch, Frauen in ihren beruflichen Chancen zu fördern oder der tatsächlichen Benachteiligung von Frauen entgegenzuwirken. Wir wollen den Betriebsräten nicht nur das Recht einräumen, sondern ihnen zur Pflicht machen, die Gleichbehandlung der Geschlechter im Betrieb sicherzustellen, z. B. durch Aufstellung von Frauenförderplänen und die Einführung und Ausgestaltung aller Formen von Teilzeitarbeit. All das soll alles mitbestimmungspflichtig werden.Zur Benachteiligung von Frauen am Arbeitsplatz gehört auch immer wieder die Ausgestaltung des Rechts zur Betreuung kranker Kinder. Hauptsächlich nehmen immer noch die versicherten Mütter die ihnen zustehenden Pflegetage in Anspruch und erhärten damit das Vorurteil, daß erwerbstätige Mütter von Kleinkindern unzuverlässige Arbeitnehmerinnen sind. Dadurch entstehen ihnen häufig Nachteile beim Einstieg in qualifizierte Berufe oder bei anstehenden Beförderungen.Wir fordern in unserem Gesetzentwurf, daß der Anspruch auf Krankenpflegetage den Eltern, soweit beide versichert sind, abwechselnd zusteht. Außerdem wollen wir die Betreuungsregelung auf Kinder bis zu 12 Jahren ausdehnen. Für Alleinerziehende soll die Zahl der Krankenpflegetage verdoppelt werden, da sie besondere Schwierigkeiten haben, die Betreuung ihrer Kinder sicherzustellen.Verbessern wollen wir auch die Situation der Alleinerziehenden in einem ersten Schritt durch die weitergehende Anerkennung von Kinderbetreuungskosten im Steuerrecht. Wir wollen natürlich das Dienstmädchenprivileg — das war Ihr Vorschlag — abschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier nur einige Punkte unseres Entwurfs aufzeigen können. Sicherlich wäre anderes genauso wesentlich gewesen. Hier ist heute schon gesagt worden: Wir können das nicht auf gesetzlicher Ebene allein regeln. Ich denke, daß dazu mehr gehört. Es gehört das Gesetz dazu, aber auch das Bewußtsein muß sich ändern. Ich
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Frau Seusterbin genauso sicher: Wenn sich das Bewußtsein ändert, ohne daß gesetzliche Vorgaben bestehen, werden wir wieder jahrelang und vielleicht jahrzehntelang warten, bis wir einen Schritt weiterkommen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe offen zu, daß es mir heute sehr schwerfällt, hier zu reden, weil es schon enttäuschend ist, wenn wir darüber nachdenken, wie lange viele von uns sich bemühen, wie viele Programme — wenn ich nur an meine eigene Partei denke — es gibt, wie viele Beschlüsse wir gefaßt haben, wir aber im Grunde immer wieder an Grenzen stoßen und feststellen: Von der Verwirklichung des Verfassungsgebots der Gleichberechtigung sind wir eigentlich noch recht weit entfernt.Ich glaube aber, daß sich die hier diskutierten Lösungen für dieses Problem, bei dessen Analyse wir, meine ich, mehr oder weniger Übereinstimmung erzielen, häufig von einem Idealbild leiten lassen, in das dann die Menschen eingepaßt werden sollen. Dies entspricht nicht meiner und nicht unserer Auffassung von Politik. Deshalb sage ich, auf einen Zwischenruf von Ihnen, Frau Nickels, zurückgreifend: Die Gesetzgebung und die Bewußtseinsbildung sind sehr miteinander verbunden. Denn Sie können manche Gesetze nur machen, wenn die Bewußtseinsbildung Schritt gehalten hat.
Umgekehrt beeinflußt aber auch Gesetzgebung Bewußtseinsbildung. Da, denke ich, haben wir eigentlich in der Diskussion das Problem, daß wir sehen, daß man an den Stellen, an denen das Bewußtsein und die Gesetzgebung noch nicht so zueinander passen, dieses oder jenes jetzt tun muß und Sie dann vielleicht etwas vorstürmen und, wie ich meine, deshalb etwas unrealistisch sind.Hier ist eben — ich glaube, von Ihnen, Frau Seuster — gesagt worden, Erwerbsarbeit sichere Unabhängigkeit. Ich gebe zu, auch ich habe lange darüber nachgedacht und habe sogar gelegentlich ähnlich gedacht. Aber ich bin zu dem Ergebnis gekommen, das ist nicht wahr. Es ist deshalb nicht wahr, weil Erwerbsarbeit vielfach noch viel abhängiger macht.Wenn Sie einmal die hohe Erwerbsquote von Frauen in der DDR betrachten — diese ist ja fast doppelt so hoch wie bei uns; bei uns sind ca. 50 Prozent der Frauen erwerbstätig und dort über 90 % —,
dann muß man sich doch einmal fragen: Hat denn Erwerbstätigkeit wirklich zu Unabhängigkeit, auch zu materieller Unabhängigkeit geführt? Das wage ich sehr zu bezweifeln. Deshalb mißtraue ich all diesen Rezepten, die sozusagen vorschreiben, wie etwas gemacht werden soll, und deshalb bin ich ein Anhängerdes Prinzips „Wahlfreiheit und Partnerschaft". Das Problem bei der Partnerschaft ist — das erkennen auch wir — , daß Partnerschaft natürlich nur funktioniert, wenn beide, die an dieser Partnerschaft mitwirken müssen, auch bereit sind, sich partnerschaftlich zu verhalten und partnerschaftlich zu arbeiten. Auch da kann man nachhelfen.Ich denke, bei der Wahlfreiheit in Richtung Familie haben gerade diese Bundesregierung, diese Koalition und unsere Fraktion wesentliche Schritte getan.
— Doch. Ich nenne Erziehungsurlaub und Anerkennung der Kindererziehung bei der Rentenberechnung. Auch die Begründung von Rentenansprüchen mit Hilfe von Erziehungszeiten ist ein solcher Schritt.
Ich denke, im Bereich der Wahlfreiheit für Erwerbstätigkeit außerhalb der Familie haben wir noch weitere Schritte zu tun; da gibt es noch Nachholbedarf. Nur glaube ich, daß Sie bei dem, was Sie vorschlagen, zu sehr von einem Menschenbild ausgehen, das man stärker formen kann, als dies nach meiner Meinung geht.
— Ja, ich weiß, daß viele Frauen arbeiten wollen. Das muß ihnen auch ermöglicht und erleichtert werden.Aber ich bin auch der Auffassung, daß wir das nicht vorschreiben können. Ich habe etwas Sorge, daß Ihre Gesetzentwürfe, die wir hier heute zu beraten haben, ein bißchen in die Richtung gehen: Weil wir besser wissen, was für Menschen gut ist, und weil wir besser wissen, was für Frauen gut ist, machen wir das jetzt einmal so, wie wir es für richtig halten. Ich scheue mich davor. Ich selber habe mich beispielsweise für ein Modell entschieden, das auch viele Jahre der Hausfrauentätigkeit und der Erziehung der Kinder vorsah, übrigens nicht im Luxus, sondern durchaus mit damit verbundenen Einschränkungen. Es ist nicht so, daß man sich nicht manchmal gefragt hätte, ob das eine richtige Entscheidung war. Aber ich hätte mich immer dagegen gewehrt, wenn jemand von außen gekommen wäre — der Gesetzgeber, der Arbeitgeber oder wer auch immer — und mir und meinem Mann hätte hereinreden wollen, wie wir unser Leben organisieren sollen.
— Diese Tendenz scheint mir bei Ihnen eben doch vorhanden zu sein, wenn ich höre, nur Erwerbsarbeit sichere Unabhängigkeit, und wenn ich höre — das haben Sie eben gesagt, liebe Frau Kollegin —: „Wir wollen das jetzt alle. " Sie und noch viele andere mögen das so wollen. Aber es gibt auch Frauen, die sich anders entscheiden wollen. Vor diesen habe ich ebenfalls Respekt, und auch diesen muß ich ihre Chance geben. Denn als Gesetzgeber setze ich Rahmenbedingungen und erlasse nicht Vorschriften, wie etwas zu machen ist, es sei denn, es handelt sich um Vorschrif-
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Frau Limbachten in einem Bereich, wo Rechte, z. B. Menschenrechte, und Freiheiten anderer verletzt werden. Dort muß die Grenze sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Nickels?
Ja.
Frau Limbach, wenn es so wäre, wie Sie sagen, würde ich Ihnen recht geben. Aber woraus wollen Sie in den vorliegenden Entwürfen und dem, was Ihnen sonst aus der Frauenpolitik der SPD und vor allen Dingen auch der GRÜNEN bekannt ist, ableiten, daß wir den Frauen etwas vorgeben wollen? Denn wir sagen doch: Einerseits wollen wir über ein Instrument wie Quotierung, solange die Gleichberechtigung nicht gegeben ist, die Möglichkeit schaffen, Gleichberechtigung zu erreichen, und parallel dazu wollen wir auch ein Erziehungsgeld, das eine Lohnersatzfunktion hat. Dann hat man doch die Wahl. Dann können Sie sich — wohlgemerkt: als Frau oder Mann — doch entscheiden, ob Sie das Kind betreuen oder ob Sie erwerbstätig sein wollen. Es ist doch kein Zwang gegeben. Woraus leiten Sie das denn ab? Das verstehe ich nicht.
Ich leite es nicht unmittelbar aus dem Gesetzestext ab, aber aus Ihrer Argumentation bei der Vorlage dieser Gesetzestexte und aus der Diskussion, aber z. B. auch aus dem, was Sie jetzt gesagt haben. Es ist gut, daß Sie mir das Stichwort noch einmal geliefert haben: Erziehungsgeld mit Lohnsatzfunktion.Ich glaube, ein Anteil an Erziehung und an Arbeit für Familie und Kinder ist ein so individuelles Recht, daß ich es nicht in die Ökonomie einbezogen haben möchte. Ich glaube, das war auch das, was die Kollegin Ursula Männle vorhin gemeint hat,
als sie das kritisiert hat. Deshalb glaube ich nicht, daß das so stimmt. —Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht; ich möchte keine Zwischenfragen mehr zulassen — mit Rücksicht darauf, daß ich weiß, daß viele Kollegen auf die Uhr gucken. Ich will darauf etwas Rücksicht nehmen.
— Auch das ist wahr. Ich glaube, Frau Nickels, Sie dürfen mir nicht unterstellen, daß ich den Anteil der Arbeit, die Frauen im humanitären, im gesellschaftlichen Bereich, in der Familie, im Erwebsleben und bei noch vielen anderen leider unbezahlten Arbeiten leisten — wenn es ein Ehrenamt ist, geschieht das leider meist in den weniger hoch angesehenen Ehrenämtern — , nicht sähe.
Dies sehe ich durchaus.Aber wenn ich z. B. das Argument höre, daß es frauenpolitisch Leerlauf gebe, weil nicht genügend Gesetzentwürfe kämen, dann muß ich sagen, daß Sie — so klingt es wenigstens — Frauenpolitik und frauenpolitische Erfolge an den Mengen des bedruckten Papiers messen.
Das finde ich auch nicht zutreffend. — Gut, aber auf einer Seite können Sie unter Umständen ganz viel Qualität bringen und auf 25 Seiten ziemlich viele Dummheiten. — Das war eine sehr allgemeine, auf kein vorhandenes Papier bezogene Bemerkung.Ich will noch etwas zur Quote sagen, weil ich damit auch ein Problem habe. Ich war 15 Jahre lang Vorsitzende des Personalausschusses der Stadt Bonn. Was meinen Sie, wie oft ich mich geärgert habe, wenn mir dann, wenn wir dachten, es könne jetzt eine Frau gefördert werden, wortreich nachgewiesen wurde, auf Grund welcher ganz besonderen und persönlichen und speziellen Eigenschaften nun doch der Kollege und nicht die Kollegin auf diesen Platz müsse.
Aber das kriegen Sie doch durch eine Quote nicht weg; es sei denn, Sie machen die Quote so starr,
daß sie wiederum gegenüber den Männern ungerecht wird.
Ich muß Ihnen ehrlich sagen — das ist auch mein Verständnis von Partnerschaft — : Ich will nicht erfahrenes Unrecht und erfahrene Benachteiligung dadurch wettmachen, daß ich jetzt umgekehrt ungerecht bin und benachteilige. Das möchte ich nicht.
Das ist nicht das Ziel meiner Politik.Ich will Ihnen bezüglich der Quote ein Negativbeispiel aus Nordrhein-Westfalen bringen. Ich will das Beispiel aus einem Sektor wählen, in dem dieser Fall zwar nicht sehr oft, aber doch gelegentlich vorkommt. Die Vorschlagslisten der Fakultäten an den Hochschulen umfassen in der Regel drei Namen. Der erste Name ist der Name dessen, den man auf jeden Fall will. Der zweite Name und der dritte Name signalisieren: Wenn der unter a) nicht kann oder nicht kommt, dann soll b) oder c) kommen. Bis jetzt war unter den Namen von a) bis c) in der Regel oder häufig — „in der Regel" ist übertrieben — auch der Name einer Dozentin oder einer Hochschullehrerin. Sie kamen in der Tat manchmal nur deshalb zum Zuge, weil der erste, den man auf jeden Fall wollte, absagte. Weil man aber jetzt jeweils die Frauen nehmen muß — so ist es mir aus einer großen nordrhein-westfälischen Universität berichtet worden — , macht man es so: Man setzt einfach keine Frau mehr auf die Vorschlagsliste. Man sagt: Wenn wir die Frau mit auf die
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Frau LimbachListe setzen, bekommen wir unseren Erstvorschlag a) auf keinen Fall durch. Das heißt, das Ganze kann sich auch umkehren. Auch das ist ein Problem, über das man jedenfalls in dem Zusammenhang diskutieren muß. Ich habe Sorge, daß Sie glauben, mit einfachen vorgegebenen Lösungen könne das alles geregelt werden. Ich befürchte, daß das nicht geht. Ich glaube auch nicht daran, weil ich denke: Menschliches Handeln läßt sich nicht in solche eindeutigen Schemata packen.Ich will noch ein Letztes sagen: Auch wir haben natürlich unsere Utopie, die Utopie von einem gleichberechtigten Leben von Männern und Frauen, von Vätern, die mehr Freude und Zeit in der Familie und für die Familie haben, von Frauen, die mehr Chancen im Erwerbsleben haben. Aber ich denke, an der Realisierung einer solchen Utopie — man weiß, daß man sie nie völlig erreichen wird — muß man Schritt für Schritt arbeiten. Wir sind mit dem, was wir erreicht haben, keineswegs zufrieden.
Wir bedauern, daß das Bewußtsein auch unserer Männer noch einiger Nachhilfe bedarf. Aber wir sind zuversichtlich, daß wir auf dem Wege vorankommen. Wir werden dies auch in weiteren Anträgen und weiteren Maßnahmen, die wir in der Zukunft und auch in einem gesamtdeutschen Parlament wesentlich mitbestimmen werden, weiterbringen.Vielen Dank.
Das Wort hat Frau Dr. Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Leiterin des Frauenbüros in Hattingen beschrieb uns vor ein paar Monaten ihre tägliche Praxis. Sie sagte: In vielen Verwaltungen herrscht die Ansicht, daß eine Frauenbeauftragte keine besondere Fachkompetenz brauche, da über dieses Thema ja eigentlich alle im Bilde seien. Jeder Mitarbeiter in der Verwaltung habe schließlich eine Mutter, Ehefrau, Freundin oder Schwester. — Nun liegt es mir fern, solche Ahnungslosigkeit zu verallgemeinern und damit den öffentlichen Dienst samt und sonders als Bastion der Chauvis abzustempeln, nur beweist diese authentische Schilderung, wie weit wir noch vom Ziel entfernt sind.Eigentlich — das sagen ja alle hier — soll der öffentliche Dienst als Speerspitze des Fortschritts Gerechtigkeit, soziale Fürsorge und humane Arbeitsbedingungen verwirklichen. Das können alle hier im Saal unterschreiben. Nur, während Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, es im allgemeinen mit salbungsvollen Bekundungen zu diesem Grundsatz bewenden lassen — wir haben das auch hier wieder gehört — , haben wir uns — Zuversicht mag gut sein, Handeln scheint uns besser —
zum Handeln entschlossen.Diskriminierungsverbote und Sanktionen gegen Arbeitgeber, die Frauen benachteiligen, sind ja nur ein Teil unseres Konzepts, Frau Männle. Wir wollen auch positive Anstöße geben. Das tun wir bei den Arbeitgebern besonders, auf die die Parlamentarier am ehesten einwirken können, nämlich bei den Behörden im öffentlichen Dienst.Die Zeit der freundlichen und vornehmen Appelle ist vorbei. Absichtserklärungen, Anzeigenkampagnen und die Hoffnungen auf den Sieg der Vernunft haben herzlich wenig gefruchtet. Wir brauchen auch nicht länger Modellprogramme, in denen punktuell erprobt wird, wie Frauen der Zugang zu allen Abteilungen und der Aufstieg bis in die höchsten Etagen und Besoldungsgruppen geebnet werden kann. Frau Männle, wir peitschen die Frauen ja nicht in die Karriere hinein, wie Sie es dargestellt haben, sondern wir räumen ihnen die Hürden weg, weil eben der Weg nicht freiwillig geöffnet wurde. Darum geht es hier.
Das System ist ganz einfach und einleuchtend: Bei Stellenbesetzungen werden Frauen — bei gleicher Qualifikation, wohlgemerkt — männlichen Bewerbern so lange vorgezogen, bis in der jeweiligen Abteilung beide Geschlechter angemessen vertreten sind. Für die berufliche Ausbildung fordern wir Quoten, ebenso im Vorbereitungsdienst für Laufbahnen bzw. Funktionsgruppen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Kurz: Wir proklamieren das Ende der Bescheidenheit im öffentlichen Dienst.
Wir wissen, Frauenmangel in gehobenen und führenden Positionen der Ämter und Ministerien ist leider demjenigen in der sogenannten freien Wirtschaft beklagenswert ähnlich. Zum Beispiel belegt eine Untersuchung in schleswig-holsteinischen Landesbehörden: je verantwortlicher die Position, je besser die Besoldung, desto geringer der weibliche Anteil. Frauen finden sich zumeist in zuarbeitender Funktion, selten aber da, wo Entscheidungen fallen.
Also — ganz simple Folgerung — : Schaffen wir hier ein Stück Ausgleich, dann ist uns schon geholfen.Auch den, der jetzt mangels politischer Argumente juristische Bedenken ins Feld führt, muß ich enttäuschen. Schon die Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" hat uns fachlich solide bestätigt, daß es rechtlich zulässig ist, bei gleicher Qualifikation von Bewerbern und Bewerberinnen eine Zeitlang die Kandidatinnen vorzuziehen.
Wir haben natürlich am ehesten die Bundesbehörden im Visier. Aber unser Handlungsspielraum betrifft alle wichtigen Institutionen im Einflußbereich der Bundespolitik. Damit Frauenförderung nach unseren Vorstellungen greifen kann, wollen wir z. B. das Beamtenrechts- und das Hochschulrahmengesetz ändern und auch die Männerhierarchien in den Bundesrundfunkanstalten zum Bröckeln bringen.
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Frau Dr. Sonntag-WolgastWir haben eben wieder Anschauungsunterricht gekriegt, wie das mit den Gremien und der Wahl ist. Es wird sich nichts ändern.Um das zu illustrieren: Unter den elf Mitgliedern des vor einem halben Jahr gewählten Rundfunkrates der „Deutschen Welle" ist nur eine einzige Frau; beim „Deutschlandfunk" sieht es nicht viel besser aus. Über die Zehn-Prozent-Marke kommen Frauen übrigens auch in den Gremien der öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten nicht hinaus, ganz zu schweigen von den Spitzenpositionen in den Sendern selbst, Programmdirektion, Chefdirektion, Intendanz, wo wie Sie wohl wissen, Frauen überhaupt nur noch als Spurenelemente nachweisbar sind. Denn eines muß man sagen: So eifrig alle Parteien bei Personalentscheidungen über die Jahre hinweg auf die Wahrung des Proporzes links/rechts bedacht waren, so wenig hat sie der Gedanke beflügelt, die Vorherrschaft der Männer auch nur einzugrenzen.
Unsere Forderung, in den Gremien der Bundesrundfunkanstalten die Frauen angemessen zu beteiligen, ist, finde ich, ein höchst behutsamer Vorstoß.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, es geht nicht allein um Quoten, Förderpläne und Berichtspflichten, es geht auch um Personen, nämlich um leibhaftige Garantinnen dafür, daß der Verwaltung auf die Sprünge geholfen wird. Ich meine jetzt die Gleichstellungsstellen in Ländern und Gemeinden. Ich erinnere mich noch an die spöttischen Kommentare vorwiegend aus Kreisen der CDU, als vor gut zehn Jahren Sozialdemokratinnen solche Einrichtungen verlangten. Von unnötiger Bürokratie war da die Rede, von amtlich beglaubigtem Emanzentum. Heute riskiert kaum noch jemand solche Polemik. Fast 500 Gleichstellungsstellen und Frauenbüros gibt es mittlerweile im Bundesgebiet. Sie sind sozusagen salonfähig geworden. Mit Forderungen nach Frauenbeauftragten schmücken sich heute auch Christdemokraten und Liberale ganz gern,
klingt es doch nach Fortschritt. Nur, Frau Limbach, bewegen sich Ihre Vorstellungen im allgemeinen leider im Dunstkreis der Unverbindlichkeit. Die SPD dagegen fordert, das Amt der Gleichstellungsbeauftragten auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, und zwar mit hauptamtlichen Kräften besetzt und ausgestattet mit Kompetenz und der Möglichkeit, frühzeitig auf Entscheidungen der Verwaltung einzuwirken.
Wir wissen, was sie leisten. Gleichstellungsbeauftragte setzen wichtige Akzente, drängen auf kommunale Förderpläne, familiengerechte Stadtplanung und Kinderbetreuungseinrichtungen. Sie durchforsten — auch ein wichtiger Punkt — unsere Verwaltungssprache. Deswegen brauchen wir sie als Aktivposten, als Anlaufstelle für Frauen und nicht zuletzt als Frühwarnsystem gegen das Zurückfallen in den altenTrott. Mir reicht allmählich die Erfahrung mit Landräten, die so tun, als sei die Gleichstellungsarbeit in ein paar gnädig eingeräumten Stunden gewissermaßen als Nebenjob zu erledigen.Wir behaupten nicht, daß diese Stellen alle Probleme aus der Welt räumen. Aber allein ihre Existenz wirkt als heilsames Druckmittel. Da spannt sich der Bogen von den kommunalen Frauenbüros über die Gleichstellungsstellen in den Ländern bis hin zu den Frauenministerien, wie wir sie seit zwei Jahren in echter Form in Schleswig-Holstein und seit gestern dank der SPD-Regierung auch in Niedersachsen haben.
— Ja, unter grüner Leitung.Richtlinien zur Frauenförderung im öffentlichen Dienst sind mittlerweile in mehreren Ländern in Kraft. Etwa hat der Hamburger Senat eben einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung verabschiedet. In Schleswig-Holstein sorgt die neue Gemeindeverfassung dafür, daß in Orten ab 10 000 Einwohner hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte zu ernennen sind.Ich finde, das alles sind begrüßenswerte Beschlüsse, aber beileibe keine Gnadenakte einsichtiger Regierungschefs, die wir dankbar bestaunen müssen. Denn im Grunde handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit. Das Grundgesetz enthält den Verfassungsauftrag zur aktiven Frauenförderung. Staat, Verwaltung und Behörden sind aufgerufen, Maßstäbe zu setzen. Wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen tun nichts weiter, als dem guten Willen per Gesetz ein bißchen nachzuhelfen. So ist das nun einmal: Wenn den öffentlichen Arbeitgebern zum Thema Gleichstellung zuwenig einfällt, dann muß gesetzlicher Zwang seine Phantasie beflügeln. Wer jetzt in der Frauenfrage noch auf die Selbstheilungskräfte des Marktes setzt, wie man es hier heute wieder schön hören konnte, der verschiebt wohl die Lösung des Problems ins nächste Jahrtausend. Das wollen wir nicht.
Schlußbemerkung, liebe Kollegen und Kolleginnen. Noch heute kann sich ein Bundeskanzler Kohl die Behauptung leisten, die Arbeitslosenstatistik sei verzerrt, weil sie Hunderttausende von Frauen aufführe, die „nur" Teilzeitjobs suchen.
Ich glaube, wenn bei solchen Sätzen endlich aus jedem Arbeitsamt lauter Protest schallt, dann sind wir einen Schritt weiter.Danke schön.
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Dr. Lehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussion hier hat trotz aller Differenzen gezeigt: Wir alle treten für eine Politik der Gleichberechtigung ein. Ich hoffe, das gilt auch für
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Bundesminister Frau Dr. Lehrdie Herren Abgeordneten, die heute hier nicht anwesend sein konnten. Ich finde es gut, daß wir trotz aller Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Fragen heute feststellen können: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages wollen mehr tun, um die im Grundsatz verbriefte Gleichberechtigung in die soziale Wirklichkeit umzusetzen.Doch die Bundesregierung geht hier einen anderen Weg, als ihn die Sozialdemokraten und die GRÜNEN mit den vorliegenden Gesetzentwürfen vorschlagen. Einige Maßnahmen werden von uns unterschiedlich bewertet. Lassen Sie mich die wesentlichen Kritikpunkte zusammenfassen.Beide Gesetzentwürfe der Opposition verbessern in Wirklichkeit nicht die Lebenschancen der Frauen. Sie gehen zum Teil an den tatsächlichen Problemen vorbei und führen nicht weiter. Das beginnt schon bei der Quotenregelung für den öffentlichen Dienst und im Entwurf der GRÜNEN sogar auch noch für die freie Wirtschaft. Jede Form von Quotierung für Einstellung und Beförderung ist eine viel zu starre und schwerfällige Regelung,
um den vielfältigen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung gerecht zu werden und mit einer flexiblen Personalpolitik vereinbar zu sein. Das Beispiel von Ihnen, Frau Limbach, könnte ich aus eigener Erfahrung an Hand vieler Fälle verstärken, Parallelen dazu aufzeigen.Auch die in den Entwürfen vorgesehenen Schadensersatz- und Bußgeldregelungen bei Diskriminierungsfällen sind überzogen und könnten sich somit auf die Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt eher negativ auswirken.In Beantwortung einer Kleinen Anfrage der SPD hat die Bundesregierung schon 1987 auf ihre verstärkten Anstrengungen zur Erhöhung des Frauenanteils in der Bundesverwaltung hingewiesen. Nach dem damaligen Stand wurden von den Bundesministerien zu über 50 % Frauen eingestellt.
— Es waren knapp 50 % im gehobenen Dienst, allerdings nur etwa ein Drittel der Neueinstellungen im höheren Dienst.
Hier gab es noch ein Defizit. Da aber der Frauenanteil in diesem Bereich bis dahin überhaupt nur 8,5 % betrug, durfte man jedoch eine Neueinstellungsquote von 30 % im höheren Dienst schon als Fortschritt ansehen. In Kürze wird zu diesen Fragen und neueren Entwicklungen noch ein Bericht der Bundesregierung vorgelegt werden.Schon jetzt aber zeigt sich: Die Frauenförderungsrichtlinie der Bundesregierung von 1986 hat eine positive Entwicklung in Gang gesetzt. Um die Frauenförderung im öffentlichen Dienst jedoch noch weiter zu beschleunigen, wird die Bundesregierung in den nächsten Monaten die Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen in der Bundesverwaltung neu fassen. Eine wichtige Verbesserung wäre hier auch die Bestellung von Frauenbeauftragten oder — besser — Gleichstellungsbeauftragten in den Bundesministerien und in den nachgeordneten Behörden. Im BMJFFG gibt es seit einem halben Jahr eine Frauenbeauftragte.
Wir setzen den Gesetzentwürfen der SPD und der GRÜNEN, wie schon gesagt wurde, ein Gesamtkonzept für Frauen in Beruf und Familie entgegen, das erstens die Chancen der berufstätigen Frauen erweitert, zweitens die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf wesentlich verbessert, drittens den Begriff der Arbeit neu bewertet und hier Familienarbeit einbezieht und viertens sich ausdrücklich nicht nur an Frauen, sondern auch an Männer richtet, die für die Durchsetzung der Gleichberechtigung mitverantwortlich sind.Zu erstens: Noch nie waren so viele Frauen in qualifizierten Berufen beschäftigt wie heute. Zur Zeit stehen 10,8 Millionen Frauen im Beruf, 27 % mehr als 1970. Von den in den letzten Jahren geschaffenen sozialversicherungspflichtigen Stellen wurden 65 % von Frauen besetzt.Der Anteil der Frauen an Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung, Umschulung und betrieblichen Einarbeitung hat sich erhöht. Die Beschäftigungschancen für qualifizierte Frauen im mittleren und oberen Management nehmen zu; der zukünftige Bedarf von 500 000 Führungskräften kann aus dem Potential der Männer gar nicht gedeckt werden. Daß Frauen hierfür besondere Fähigkeiten mitbringen, hat Frau Würfel bereits deutlich dargelegt.Die Bundesregierung — auch das sei hier erwähnt — legt ein Milliardenprogramm zur Förderung von Wissenschaftlern auf, von dem 800 Millionen DM für Wissenschaftlerinnen vorgesehen sind.Zum zweiten Punkt. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Basis für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Über 80 % junger Männer und Frauen wollen beide Bereiche miteinander verbinden.Die bedeutendsten staatlichen Leistungen des letzten Jahrzehnts in diesem Bereich sind zweifellos die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub
und die Erweiterung des Erziehungsurlaubs seit 1987 von 10 auf 15 Monate und in wenigen Tagen, ab dem 1. Juli, auf 18 Monate.
Diesen Weg werden wir in der nächsten Legislaturperiode weitergehen.Ein großes Problem auf dem Arbeitsmarkt — auch darüber ist gesprochen worden — ist nach wie vor das zu geringe Angebot an Teilzeitarbeit. Positiv ist we-
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17322 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Bundesminister Frau Dr. Lehrnigstens der Entwicklungstrend. Der Teilzeitarbeitsmarkt hat sich ausgeweitet. 1989 waren 2 Millionen Frauen sozialversicherungspflichtig teilzeitbeschäftigt, 8,4 % mehr als 1987. Gut ein Drittel der neu geschaffenen Arbeitsplätze für Frauen sind Teilzeitarbeitsplätze.
Ich strebe baldmöglichst einen Beschluß der Bundesregierung an, der die Chancen und die Rahmenbedingungen für qualifizierte Teilzeitarbeit in der Bundesverwaltung verbessert.Angesprochen sei hier auch die Frage der Rückkehr in das Berufsleben nach der Familienphase. Jährlich wollen etwa 320 000 Frauen nach der Familienphase wieder erwerbstätig werden.An diese Zielgruppe richtet sich das 30-MillionenDM-Modellprogramm des Bundesministeriums zur Wiedereingliederung von Frauen in den Beruf, das den ländlichen Raum besonders berücksichtigt. Wir fördern hier zum einen mit der Laufzeit von drei Jahren 17 Beratungsstellen für Frauen in allen Bundesländern. Eine erste Bilanz zeigt, daß Frauen nach der Familienphase ein großes Bedürfnis nach beruflicher Beratung, aber auch nach umfassender Lebensberatung haben. Oft muß in den Gesprächen auch den Männern klargemacht werden, daß für ihre Frauen die Berufstätigkeit weit mehr bedeutet als eine zusätzliche Verdienstquelle oder als ein Beitrag zur Aufbesserung des Familieneinkommens.Nach einem Jahr Erfahrung mit dem Modellprogramm zeigt sich, daß die Nachfrage hier weit höher als das Angebot ist. Deshalb überprüfen wir zur Zeit eine Erweiterung des Modells.Im zweiten Teil des Sonderprogramms der Bundesregierung geht es um die Entwicklung und Erprobung qualifizierter betrieblicher Einarbeitungsmodelle für Frauen nach der Familientätigkeit. Arbeitgeber, die bereit sind, Berufsrückkehrerinnen unbefristet einzustellen, erhalten einen Zuschuß für die Qualifizierung am Arbeitsplatz, in der Regel bis zu sechs Monaten. Die Schwerpunkte dieser Einarbeitungsmodelle liegen im EDV-gestützten Bereich sowie in sozialpflegerischen und in Gesundheitsberufen.Kurz zu Punkt 3. Die Frauen- und Familienpolitik der Bundesregierung ist von einer neuen Bewertung des Begriffs der Arbeit geprägt. Die Arbeit in der Familie, die Arbeit im Ehrenamt und die Erwerbsarbeit sind gleichwertig. Jedoch wird die Arbeit in der Familie, in der Erziehung der Kinder und in der Pflege chronisch kranker und behinderter Angehöriger im öffentlichen Bewußtsein bisher viel zuwenig als Arbeitsleistung beachtet.
Entscheidende Leistungen zur besseren sozialen Absicherung der Familienarbeit sind die Verkürzung der Anwartschaftsfrist für die Altersrente von 15 auf 5 Versicherungsjahre, die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung und der Einstieg in eine bessere soziale Sicherung bei häuslicher Pflege. Hier sehe ich allerdings noch einen dringenden Handlungsbedarf für die nächste Legislaturperiode.Schließlich zu Punkt 4. Wir brauchen auch ein erweitertes Verständnis der Frauenpolitik. Obwohl es einen immer noch sehr erheblichen Nachholbedarf an sozialer Gerechtigkeit für Frauen im Beruf gibt, müssen wir doch die Frauenpolitik vor einer einseitigen Ideologisierung bewahren. Notwendig ist der Schritt von der Frauenfrage im engeren Sinne zum umfassenderen Begriff der Gleichberechtigung, der auch das Verhalten der Männer und die Situation der Kinder einbezieht.
Kooperation statt Konfrontation: Gleichberechtigung läßt sich nicht gegen die Männer durchsetzen, sondern nur mit den Männern.Schließlich, meine Damen und Herren, müssen wir jetzt dafür sorgen, daß sich die Gleichberechtigungspolitik in einem demnächst einheitlichen Deutschland auch einheitlich entwickelt. In der Gleichberechtigungspolitik haben wir noch ein großes Stück Arbeit vor uns. Ich wünsche mir im Interesse aller Frauen, daß wir diese Arbeit nach Ende dieser Debatte wieder gemeinsam tun, gemeinsam nach weiteren Realisierungsmöglichkeiten suchen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weyel.
Frau Präsidentin! Liebe Frauen, die Sie der Debatte von Anfang an gefolgt sind, und sehr geehrte wenige Herren — ich bin bereit, Herr Gallus, Sie dabei namentlich zu nennen — , die Sie ebenfalls an dieser Debatte teilgenommen haben! Ich möchte nur feststellen, daß in den letzten fünf Minuten eine große Anzahl von Herren herbeigeströmt ist, die von dieser Debatte nichts mitbekommen und durch ihre Abwesenheit zumindest gezeigt haben, daß sie sich für dieses Thema nicht interessieren,
die jetzt aber nach Ende der Debatte versuchen werden, mit ihrer Mehrheit ein Abstimmungsergebnis zu erzielen, das dem Verlauf dieser Debatte nicht entspricht.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3266. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/7449 unter I die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion DIE GRÜNEN. Auch in diesem Falle ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Ich rufe die Art. 1, bis 12, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit großer Mehrheit abgelehnt.
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Vizepräsidentin RengerDamit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes, Drucksache 11/3728. Der Ausschuß empfiehlt — ebenfalls auf Drucksache 11/7449 unter I — die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Wir stimmen über die Ursprungsvorlage ab. Ich rufe die Art. 1 bis 25, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Es ist noch über eine Entschließung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit abzustimmen, deren Annahme der Ausschuß auf Drucksache 11/7449 unter II empfiehlt. Wer stimmt dieser Empfehlung zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? —Die Entschließung ist angenommen.Ich rufe Punkt 25 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der energiewirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie und ihrer sicherheitstechnischen Behandlung in der Übergangszeit
— Drucksache 11/13 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 11/4654 —Berichterstatter:Abgeordnete HarriesSchäfer
Dr. Daniels
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 11/4661 —Berichterstatter:Abgeordnete Schmitz Dr. Weng (Gerlingen)Frau VennegertsWaltemathe
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. Ich frage Sie, ob Sie 45 Minuten für die Beratung brauchen oder ob es kürzer geht.
— 45 Minuten sind also beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wohlstand der westlichen Industrienationen wird mit der Gefahr einer Klimakatastrophe, mit weiter steigenden Umweltschäden und radioaktiven Gefahrenpotentialen erkauft. Bei dieser Bestandsaufnahme sind wir uns in diesem Haus einig.Wir Sozialdemokraten halten diesen Zustand für nicht länger verantwortbar. Deshalb ist eine grundlegende ökologische Reform unserer Energieversorgung überfällig. Wir haben dazu unsere Vorschläge vorgelegt, die von dieser Seite des Hauses bislang abgelehnt worden sind. Unsere Vorschläge sind, eine Öko-Steuer auf den Energieverbrauch, ein neues Energiegesetz, das endlich ernst macht mit der Ausschöpfung der Energieeinsparmöglichkeiten, und Abschreibungserleichterungen — also steuerliche Vergünstigungen — für Energieeinsparmaßnahmen einzuführen. Ein Programm zur Förderung erneuerbarer Energiequellen ist hier im Bundestag eingebracht worden. Schließlich, meine Damen und Herren, erinnere ich an unseren Beschluß auf dem Nürnberger Parteitag 1986, die Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland binnen zehn Jahren nach Erlangung der Regierungsverantwortung auf Bundesebene abzulösen.Wir sind, was die Verwirklichung dieser Ziele angeht, sehr zuversichtlich. Die Wahlsiege in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen am 13. Mai dieses Jahres zeigen, daß auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland in der Kernenergie keine Zukunftsenergie sieht, sondern aus dieser gefährlichen, langfristig nicht zu verantwortenden Energiequelle aussteigen will.
Johannes Rau und Gerhard Schröder haben — wie zuvor schon Björn Engholm und Oskar Lafontaine — mit ihrer klaren Haltung gegen die weitere Nutzung der Kernenergie die Mehrheit der Wähler auf ihre Seite gezogen. Spätestens seit Tschernobyl gibt es in der Bundesrepublik Deutschland in der Bevölkerung keine Mehrheit mehr für die Kernenergie. Die letzten Wahlen haben diese Entwicklung bestätigt.Die rechtliche Flankierung unserer Ausstiegsbeschlüsse erfolgt für den Bund über das Kernenergieabwicklungsgesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten. Wir Sozialdemokraten wissen — wir sagen dies auch den Bürgern — , daß wir auch im Bund eine Gesetzgebungsmehrheit brauchen, um das alte Atomgesetz durch ein neues Kernenergieabwicklungsgesetz abzulösen. Deshalb gehört dieses Gesetz auch zum Regierungsprogramm von Oskar Lafontaine. Es ist wesentlicher Bestandteil einer ökologisch verantwortbaren Energieversorgung der Zukunft.Die Wählerinnen und Wähler, aber auch die Energiewirtschaft können darauf vertrauen und sich darauf verlassen, daß wir Sozialdemokraten in der Regierungsverantwortung alles tun werden, um diese Beschlüsse — die zukunftsorientiert sind — , aus der Kernenergie auszusteigen, auch umzusetzen.Im übrigen hat der Anfang vom Ende der Nutzung der Atomkraft schon begonnen. Der Hochtempeteraturreaktor in Hamm-Uentrop liegt still. Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich liegt still. Die Blöcke I bis IV in
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Greifswald in der DDR sind stillgelegt. Würgassen liegt still. Das Kernkraftwerk Obrigheim liegt still. Wir hoffen, daß das bald endgültig auch für den Schnellen Brüter in Kalkar und für das Kernkraftwerk in Stade gelten wird.
Wenn Sozialdemokraten die Mehrheit in Rheinland-Pfalz und in Hessen errungen haben werden — alles deutet darauf hin — , werden auch für MülheimKärlich keine Betriebsgenehmigungen mehr erteilt; diejenigen für Biblis A werden alsbald enden.Angesichts dieser Entwicklung, meine Damen und Herren, kann ich durchaus verstehen, daß die großen Stromkonzerne derzeit in einer großen Propagandaaktion versuchen, die Kernenergie wieder hoffähig zu machen. In dem Kernenergiepapier — der Öffentlichkeit übrigens nur verschämt vorgestellt — der acht großen Verbund-Energieversorgungsunternehmen vom Mai 1990, vor wenigen Wochen also, ist klipp und klar ausgeführt, daß in den nächsten Jahre große Investitionsentscheidungen in Milliardenhöhe im Bereich der Energieversorgung anstehen. Deshalb stehen wir schon in diesem Jahr vor grundlegenden Entscheidungen und grundlegenden Weichenstellungen. Wir müssen heute politisch darüber entscheiden, ob diese Milliardeninvestitionen, die die EVUs in neue Kernkraftwerke stecken wollen, nicht besser in Energieeinsparung und erneuerbare Energien, in KraftWärme -Kopplung und dezentrale Energieversorgungsstrukturen zu lenken sind
oder ob wir den alten Fehler fortsetzen und das Energieangebot erweitern, z. B. mit neuen Kernkraftwerken. Mit uns ist ein solcher Weg nicht zu gehen. Wer diesen Weg gehen will, verstößt gegen die Zukunftsinteressen unseres Landes und der nach uns kommenden Generationen.
Alle Experten — unabhängig davon übrigens, wie sie zur Frage der Nutzung der Kernenergie im einzelnen stehen — sind sich darin einig, daß wir eine Chance zur Abwendung der Klimakatastrophe nur dann haben, wenn wir alle Potentiale zur Energieeinsparung ausschöpfen. Hier müssen wir leider die größten Defizite auch und gerade in der Energiepolitik der Bundesregierung — wenn es eine solche denn überhaupt geben sollte — monieren.
Auch der Kabinettsbeschluß der Bundesregierung der letzten Woche zum Treibhauseffekt hat nicht die längst überfälligen strukturellen Entscheidungen für mehr Energieeinsparung, für Klima- und Umweltschutz getroffen, sondern diese Entscheidungen auf die längste Bank der Bundesrepublik, die Regierungsbank, in Gestalt eines interministeriellen Ausschusses geschoben und damit vertagt. Natürlich wird diese Arbeitsgruppe, wie es vorgesehen ist, bis Ende des Jahres tagen, um diese grundlegende Frage über die Bundestagswahl zu heben. Es geht nämlich darum, Reduktionsziele nicht nur festzulegen — das ist eine Sachen, die sinnvoll, die notwendig ist — , sondern gleichzeitig auch die konkreten Maßnahmen zu benennen und zu beschließen, die unverzichtbar sind, wenn man diese Verringerungsziele auch erreichen will.
Der Koalition fehlt der Mut, der Bevölkerung klar zu sagen — dies ist angesichts der weltweiten, aber auch nationalen Bedrohung der Umwelt nachgerade eine moralische Verpflichtung — , daß für mehr Klima- und mehr Umweltschutz und die Schonung knapper Ressourcen der Energieverbrauch absolut — nicht nur spezifisch — gesenkt werden muß und daß dazu neue Energieversorgungsstrukturen notwendig sind. Sie haben nicht den Mut, der Bevölkerung klarzumachen, daß dies neben ordnungsrechtlichen Maßnahmen nur mit höheren Energiepreisen, also nur mit der Internalisierung sogenannter externer Effekt, möglich ist
und daß dies der Preis für die Rettung der Lebensbedingungen zukünftiger Generationen ist; wir müssen ihn heute zahlen, wenn wir kommenden Generationen Lebensentscheidungen, ja Lebensmöglichkeiten offenhalten wollen.
Wer heute mit Milliardenbeträgen erneut in die Kernenergie investieren will, würde die Gefahrenpotentiale der Atomkraft steigern und sie kommenden Generationen aufbürden, ohne daß absolute Sicherheit garantiert ist — denn diese läßt sich niemals herstellen — und ohne daß die Entsorgungsfrage gelöst ist. Wir Sozialdemokraten wollen diese radioaktiven Lasten nicht kommenden Generationen aufbürden.
Meine Damen und Herren, wir haben gestern hier im Bundestag den Staatsvertrag mit großer Mehrheit beschlossen.
— Ja, diese Abers sind auch angebracht angesichts der Art und Weise, wie der Bundeskanzler den Weg der staatlichen Vereinigung eingeschlagen hat,
und angesichts der Art und Weise, wie vermeidbare Risiken in der DDR nicht vermieden worden sind, weil der Bundeskanzler den Prozeß der deutschen Einigung zu lange als Privatangelegenheit betrachtet und gehandhabt hat.
Aber ich sage noch einmal: Wir haben gestern den Staatsvertrag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir denken nun, daß unsere energiepolitischen Grundsätze auch für die DDR gelten müssen.
Deshalb sehen wir mit großer Sorge, daß die westdeutschen Stromkonzerne in wettbewerbsrechtlichhöchst bedenklicher Weise versuchen, ein neues Ver-
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sorgungsmonopol zusammenzuschmieden. Wir fürchten, daß dabei Kraft-Wärme-Kopplung und Energieeinsparung auf der Strecke bleiben.
Für ökologische Versorgungsstrukturen ist es besser: Erzeugung und Verteilung bleiben in der DDR getrennt.
Meine Damen und Herren, ich will etwas sagen — dies ganz gerafft — zu den Kosten der Katastrophe von Tschernobyl. Ich höre immer, wie billig Kernenergiestrom sei. Tschernobyl zeigt uns, wie teuer angeblich so billiger Kernenergiestrom geworden ist.
Vor gut einem Jahr, am 26. April 1989, habe ich im Umweltausschuß in einer ausführlichen und, wie ich finde, guten Debatte von allen Seiten der Fraktionen zu diesem Gesetz gesprochen. Ich habe die Debatte nachgelesen. Ich muß mich heute nur in einem einzigen Punkt korrigieren: Die Kosten der Katastrophe in Tschernobyl sind viel höher, als ich damals angenommen habe.
Die Wahrheit über Tschernobyl übersteigt selbst die schlimmsten Erwartungen. Die Spätfolgen der Katastrophe — dies ist die Bilanz, die uns in diesen Tagen aufgemacht worden ist — sind überhaupt nicht abschätzbar.Damals rechneten Fachleute mit weit mehr als 100 000 Krebstoten. Heute schätzt John Gofman, Professor für medizinische Physik an der kalifornischen Berkeley-Universität, daß am Ende mehr als 1 Million Menschen wegen des Supergaus von Tschernobyl an Krebs sterben werden. Das sei wegen der Langzeitwirkung des radioaktiven Cäsiums — mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren — nachgerade unvermeidlich.Bisher hatten wir angenommen, daß ein Gebiet von 30 km um Tschernobyl herum auf Dauer radioaktiv verseucht ist. Heute wissen wir, daß es zusammen wahrscheinlich mehr als 10 000 Quadratkilometer sind. Rund 2 Millionen der dort lebenden 10 Millionen Weißrussen sind radioaktiv gefährdet. 20 % des Territoriums dort gelten als unbewohnbar. Der angesehene russische Radiologe Olek Schadiro, Professor in Minsk, hat das so zusammengefaßt:Die Welt muß wissen, daß in Weißrußland ein nuklearer Völkermord stattfindet.
Meine Damen und Herren, ich sage dies nur, um das festzustellen. Ich will damit keinen direkten oder indirekten Vorwurf an Andersdenkende, was die Frage der Kernenergienutzung angeht, verbinden.
Nur eines will ich damit sagen: Wir müßten eigentlich, gleichgültig wie wir zu der Frage der Nutzung der Kernenergie stehen, alle Möglichkeiten nutzen, um die notwendige Energieversorgung anders zu bewerkstelligen. Solange die Möglichkeiten der Energieeinsparung, der umweltfreundlichen Nutzung fossiler Energiequellen, der tatsächlichen Förderung erneuerbarer Energiequellen nicht so genutzt, gefördert und angewandt werden, wie es möglich ist, so lange, denke ich, soll auch für die Befürworter der Kernenergienutzung das, was ich zu Tschernobyl gesagt habe, mehr sein als eine statistische Feststellung.Wir werden jetzt von den mir folgenden Rednern hören, daß Kernenergie notwendig sei, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden. Jeder, der sich mit der Frage befaßt, weiß, daß dies in der Tat nicht die Antwort sein kann. Der Ausbau der Kernenergie zur Bekämpfung der Klimakatastrophe kann keinen wirksamen Beitrag leisten.
— Aus Zeitgründen kann ich jetzt im einzelnen darauf nicht mehr eingehen. Aber ich verweise, was den Ausbau der Kernenergie als möglichen Beitrag zur Reduzierung der Klimakatastrophe angeht, auf den Zwischenbericht der Klima-Enquete-Kommission, wo dies im Einvernehmen mit allen Fraktionen festgestellt worden ist.Für uns Sozialdemokraten ist die Notwendigkeit, ein geschlossenes Energieversorgungskonzept in den wichtigsten Bestandteilen jetzt durchzusetzen, eine der Schlüsselaufgaben, um nach uns kommenden Generationen Überlebensmöglichkeiten zu erhalten.Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, ist ein unverzichtbarer Beitrag dazu. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch von seiten der Koalitionsfraktionen der eine oder andere unserem Gesetzentwurf in der Abstimmung zustimmen könnte.Zwischenzeitlich bedanke ich mich bei Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Abgeordnete Harries das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Herr Schäfer, Sie irren schon in einem ganz wichtigen Punkt: Uns fehlt keineswegs der Mut; wir haben vielmehr den Mut zur besseren Einsicht. Den durchzusetzen ist wesentlich schwieriger als die Konzeption, die Sie hier wieder vorgetragen haben.
Die SPD — oder sind es nur Teile der SPD? — hält hartnäckig an ihrem Szenario des Ausstiegs aus der Kernenergie fest. Begründet wird der Ausstieg wieder mit der mangelnden Akzeptanz unserer Bevölkerung
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Harriesund mit der Katastrophe von Tschernobyl. Damit überhaupt kein Zweifel aufkommt: Auch wir halten die Katastrophe von Tschernobyl und ihre andauernden Wirkungen und Belastungen für die Bevölkerung für schlimm und grausam. Aber auch wir nehmen bei unserem Entscheidungsprozeß das Bewußtsein der Verantwortung für unsere Bevölkerung voll in Anspruch. Erst nach Abwägung aller Argumente sagen wir weiterhin ja zur Kernenergie. Das tun wir keineswegs aus Liebe zu dieser Energiequelle oder weil die sogenannte Atommafia uns, wie es oft behauptet wird, dazu zwingt. Vielmehr sind wir weiterhin der Auffassung, daß ein Ausstieg erst dann möglich, sinnvoll und zu verantworten ist, wenn eine umweltfreundliche, eine ausreichende und auch eine preiswerte Ersatzenergie zur Verfügung steht.
Nach Aussage ernst zu nehmender Wissenschaftler ist damit erst in Jahrzehnten zu rechnen.
Wir sind von der Notwendigkeit überzeugt, daß wir beim jetzigen Energiekonzept der Bundesregierung und der Bundesrepublik bei diesem Mixtum verschiedener Energiequellen
— wozu auch das Sparen gehört, Herr Schäfer, da gibt es überhaupt keinen Zweifel — bleiben müssen.
Herr Abgeordneter Harries, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schäfer.
Da in den letzten zwei Minuten zwei sich widersprechende Aussagen von Ihnen gekommen sind — die eine, wir seien bereit, langfristig aus der Kernenergie auszusteigen, wenn Alternativen nutzbar seien, und die andere, auf Dauer sei das Mixtum in der Energieversorgung zwischen den verschiedenen Energieträgern das Optimum —, will ich Sie jetzt fragen: Ist es Ihr Ziel, langfristig die Nutzung der Atomenergie abzulösen, oder wollen Sie nach dem, was man heute erkennen kann, dauerhaft an der Nutzung festhalten?
Herr Schäfer, ich habe Ihre Frage im Grunde genommen schon völlig klar beantwortet: Auch für uns ist die Kernenergie eine Übergangsenergie,
wobei der Übergang nicht nur drei Jahre, nicht nur zehn Jahre dauern kann, sondern mit Sicherheit einige Jahrzehnte dauern wird. Auch diese ehrliche Aussage sind wir unserer Bevölkerung schuldig: Es dauert einige Jahrzehnte. Ich habe gesagt: Die Voraussetzung für den Ausstieg ist für uns eindeutig die Zurverfügungstellung einer Ersatzenergie.Ich bemerke ausdrücklich, meine Damen und Herren, daß bei der ganzen Debatte — nicht immer unbedingt hier, aber in der Öffentlichkeit — mit der Angst gearbeitet wird. Die Angst wird immer wieder geschürt. Angst ist deswegen bei vielen in unserem Volk verbreitet. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber; er ist Widersacher der Besonnenheit, die wir gerade bei der Lösung dieser wichtigen Probleme brauchen.Sie haben wieder einmal Tschernobyl mit unseren Kernkraftwerken verglichen. Dabei weiß jeder Fachmann, daß wir andere Kernkraftwerke haben, daß wir andere Modelle haben. Wir haben Modelle, die unvergleichbar sicherer sind als die,
die uns die Sowjetunion immer noch vorhält. Aber auch dieser höhere Standard, den wir vorweisen können, bringt uns überhaupt nicht dazu, daß wir die Überlegungen zur ständigen Verbesserung der Sicherheit irgendwie leicht nehmen oder davon Abstand nehmen. Es ist eine ständige Aufgabe, der sich auch die Betreiber immer wieder unterziehen.Meine Damen und Herren, auch die Ratschläge und die Maßnahmen, die die Bundesregierung und die Reaktorsicherheits-Konferenz zu Greifswald und zur gesamten Situation der Kernkraftwerke in der DDR gegeben und ergriffen haben, bestätigen, daß für uns die Sicherheitsüberlegungen absoluten Vorrang haben. Wir sind aber der Auffassung, daß gerade wegen Tschernobyl und wegen der unterschiedlichen Sicherheitsstandards die internationale Zusammenarbeit — da gibt es hervorragende Ansätze — weiter verbessert werden muß.
Welche Gründe sprechen aus unserer Sicht für die weitere Nutzung der Kernenergie? Erstens sichert sie im Verbund mit den anderen Energiequellen die Stromversorgung der Bundesrepublik Deutschland. Um das, was Sie, meine Damen und Herren, als völlig selbstverständlich und unproblematisch hinnehmen, muß man sich immer wieder bemühen. Es ist einfach hervorragend, daß wir niemals Versorgungsprobleme gehabt haben. Strom stammt über 40 % aus der Energiequelle Kernenergie. Der Strom ist bei uns preiswert. Unsere Industrie ist darauf angewiesen; wir sind dadurch konkurrenzfähig — ein Gesichtspunkt, Herr Schäfer, den Sie immer wieder übersehen.Der zweite wichtige Punkt. Unserer Energiewirtschaft — darüber sollten wir im Grunde einig sein — hat einen Anspruch darauf, von uns eine klare, beständige Aussage darüber zu erhalten, wie die Energiewirtschaft der Zukunft aussieht. Man kann dazu nicht von Jahr zu Jahr neue Konzeptionen entwickeln. Der Bau neuer Kraftwerke dauert zehn bis fünfzehn Jahre.Drittens, meine Damen und Herren. Wir diskutieren wegen der deutsch-deutschen Entwicklung gerade jetzt über die Energieversorgung in der DDR. Sie ist problematisch; das Stichwort Greifswald ist gefallen.
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HarriesWir können und wir werden hier helfen. Wir können helfen, nicht zuletzt deswegen, weil wir eine funktionierende Energiewirtschaft haben. Weil wir Kernenergie haben, können wir in der DDR sehr schnell das tun, was ansteht.Vierter Punkt: Klimakatastrophe. Darüber sind Sie viel zu schnell hinweggegangen. Allein durch die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik werden über 150 Millionen Kubikmeter CO2 eingespart. Wenn wir, wenn alle Industrienationen der nördlichen Halbkugel, aussteigen und auf die Verbrennung fossiler Energiequellen setzen wollten, erreichte dies ein Ausmaß, das unverantwortlich wäre. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die angelaufenen Umdenkungsprozesse in Schweden, in der Schweiz und in den USA.Fünfter Punkt. Meine Damen und Herren, wir diskutieren auch in diesem Hause über die Sicherung und Sicherheit des deutschen Kohlenbergbaus. Wir haben die Mikat-Kommission; sie ist aus Sachverständigen aus allen Lagern zusammengesetzt und hat neben wichtigen anderen Aussagen auch einvernehmlich zum Ausdruck gebracht, daß die deutsche Kohle im Ruhrgebiet und im Saarland nur dann eine Zukunft hat, wenn wir aus der Kernenergie nicht aussteigen.Meine Damen und Herren, das Problem liegt zugegebenermaßen in der Entsorgung. Die Entsorgung ist aber deswegen zu diesem großen Problem geworden, weil Sie sich aus der Verantwortung herausgestohlen haben.
Es gibt einen Bund-Länder-Konsens, den Sie mit herbeigeführt haben. In Ihrer Regierungszeit sind die deutschen Kernkraftwerke genehmigt worden. Ich weise jetzt nur auf die neue Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Regierung in Hannover, in Niedersachsen hin. Wenn Sie sich die anschauen, dann wissen Sie, wie — ich sage: jenseits von Gesetz und Recht — das im Grunde stimmige, das überzeugende Entsorgungskonzept zerstört wird.
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs uns alle dazu aufgerufen, in dieser wichtigen Frage Besonnenheit an den Tag zu legen. Ich rufe nochmals dazu auf, um hier zu einem wichtigen Konsens in unserem Volk, aber auch in der Politik zu kommen.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Wollny.
Herr Präsident! Verehrtes leeres Haus!
Nachdem Herr Harries uns wortreich und lange erklärt hat, warum wir Kernenergie brauchen, habe ich jetzt noch vier Minuten, um zu sagen, weshalb sie nicht zu verantworten ist.Seit Anfang der 70er Jahre fordert die Anti-Atombewegung den Ausstieg aus der Atomenergie bzw. versucht sie, den Bau von Atomkraftwerken zu verhindern. Leider vergebens!Damals war es die SPD, die mit aller Macht und Gewalt den Atomkurs durchsetzte. Ich erinnere mich sehr gut, wie Helmut Schmidt bei den Ratsherren in Gorleben überraschend erschien, um ihnen das Zwischenlager zu „verkaufen" . Damals sagte er: Die paar Schreier, die noch gegen Atomenergie sind, sitzen in einem Zug, der längst abgefahren ist. Sie haben es bloß noch nicht gemerkt. — Inzwischen ist die SPD auf den Zug aufgesprungen, hat es aber leider bloß bis auf das Trittbrett geschafft.
Zeugnis dieser halbherzigen Bemühungen ist das vorliegende Gesetz. Es fordert den Ausstieg in zehn Jahren; drei Jahre davon sind bereits verstrichen.In meiner Rede zur ersten Lesung habe ich im Namen der GRÜNEN erklärt, warum der Ausstieg sofort geschehen muß. Heute, nach drei Jahren, haben sich die damals genannten Gründe noch erhärtet. Inzwischen weiß man: Die Folgen von Tschernobyl sind weit schlimmer, als man sich damals träumen ließ.
Man hat erfahren, das die AKWs in Frankreich wie in der Bundesrepublik von der behaupteten Sicherheit weit entfernt sind. Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls in den nächsten 20 Jahren wird auch bei uns mit einigen Prozent angegeben. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann es das nächste Mal knallt.Die Erkenntnisse über die Atomkraftwerke im Osten machen einen nur schaudern. Bezüglich der Endlagerung ist man in diesen drei Jahren weder bei uns noch anderswo auch nur einen einzigen Schritt vorangekommen.Die Frage des sofortigen Ausstiegs aus der Atomenergienutzung stellt sich heute aber auch aus ganz anderen Gründen dringender und zwingender denn je: Die drohende Klimakatastrophe verlangt Handeln. Sie verlangt den Verzicht auf die Atomenergie, um den Weg für eine optimale CO2-Reduzierung freizumachen.
Genau entgegengesetzt zu dem, was Sie hier sagen, wird nämlich ein Schuh daraus.Auch wenn die Atomlobby uns mit großangelegten Anzeigenkampagnen gern vom Gegenteil überzeugen will, bleibt es einfach Tatsache: Mit dem massiven Ausbau der Atomenergie seit Anfang der 70er Jahre wurden zentralistische Energieversorgungsstrukturen manifestiert. Die Atomenergie mit einem Anteil von heute fast 40 % an der Stromproduktion hat den Stromverbrauch in diesen Jahren um 50 % in die Höhe getrieben und eine effiziente Energienutzung und -anwendung verhindert. Damit hat die Atomener-
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Frau Wollnygie indirekt zum stetigen Anstieg der CO2-Emissionen beigetragen. Ohne Atomenergie hätten wir heute statt jährlich 700 Millionen t CO2-Ausstoß nur 350 Millionen t, wenn man in der Vergangenheit statt in die Atomenergie in eine effiziente Energienutzung investiert hätte.
Heute finden wir in der Zeitung die Schlagzeile „Stromkonzerne kaufen die DDR auf ". Damit wird klar, der bisherige Weg der Energieverschwendung und monopolistischer Strukturen, der eine Energiewende verhindern wird, soll fortgesetzt werden. Diejenigen, die gestern dem Staatsvertrag zugestimmt haben, tragen auch für diesen Super-GAU die Verantwortung.
Damit wurde die Chance vertan, unter den guten Bedingungen in der DDR mit der Energiewende zu beginnen. Wir messen die Ernsthaftigkeit der SPD zum Atomenergieausstieg auch an dieser Frage und stellen leider fest, daß sie im vollen Bewußtsein der Bedeutung der Bestimmung im Staatsvertrag diesen durch ihre Zustimmung mit trägt.Durch die Übergangsbestimmungen und Ausnahmeregelungen dürfen die Reaktoren in Greifswald weiter betrieben werden, darf das AKW in Stendal weitergebaut werden, und auf eine galante Art erhalten die Energieversorgungsunternehmen praktisch über Nacht ein genehmigtes Endlager in Morsleben, zu dessen Sicherheit sich weder die Regierung noch sonst jemand irgend etwas Definitives zu sagen getraut. Hier ist politisch konsequentes Handeln erforderlich. So ist das Verhalten der niedersächsischen Landesregierung zu begrüßen, wenn sie heute im Bundesrat diesem Staatsvertrag nicht zustimmt.
Die Atomenergienutzung fördert Energieverschwendung, verhindert Energiesparen und -effizienz. Jeder weitere Tag der Atomenergienutzung blockiert eine neue und dezentral strukturierte Energieversorgung und treibt uns weiter in die Klimakatastrophe.
Meine Damen und Herren, die GRÜNEN werden das Kernenergieabwicklungsgesetz der SPD ablehnen, weil die GRÜNEN nicht bereit sind, die Risiken der Atomenergienutzung auch nur einen Tag mit zu verantworten, und weil wir uns entschieden gegen den weiteren Weg in die Klimakatastrophe wehren.Danke schön.
Bevor ich dem Abgeordneten Baum das Wort gebe — —
— Herr Stratmann, nun wollen wir die Seriosität wiederherstellen. Das war nicht mehr seriös.
Ich habe noch eine Geschäftsordnungsfrage vorzutragen und zu klären. Der Ältestenrat hat in seiner Sitzung soeben vereinbart, daß in der Sitzungswoche vom 3. September — das ist die nächste Sitzungswoche — mit Rücksicht auf die Haushaltsberatungen keine Fragestunde und keine Aktuelle Stunde durchgeführt werden. Dazu brauche ich die Zustimmung des Hauses. — Widerspruch erhebt sich nicht; dann darf ich das als beschlossen feststellen und darf dem Abgeordneten Baum das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Debatte bereits 1987 geführt. Es hat sich seitdem nicht sehr viel geändert. Es hat aber eine Diskussion in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages gegeben. Die Klimakatastrophe ist stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und auch unserer Beratungen gerückt. Deshalb wurde noch klarer, daß ein sofortiger oder kurz- bzw. mittelfristiger Ausstieg negative Umweltauswirkungen hat, wie das auch Gutachten anerkannter Institute zum Ausdruck bringen.Das zweite Argument dagegen, Herr Schäfer, ist, daß Sie bei Ihren Diskussionsbeiträgen unser Zusammenwachsen in einer Europäischen Gemeinschaft, also den künftigen Gemeinsamen Energiemarkt überhaupt nicht erwähnt haben, also die Probleme nicht erwähnt haben, die sich aus Ihrer Sicht daraus ergeben müssen, daß der Strom in der Europäischen Gemeinschaft frei verkäuflich sein wird. Diese Probleme sprechen Sie überhaupt nicht an. Es bedeutet ja, daß sich unsere Stromversorgungsunternehmen dort eindecken können, wo sie wollen.In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Auch ich habe Sorge, daß sich die Wettbewerbsstrukturen in der DDR sehr schnell monopolistisch verfestigen könnten. Das kann nicht im Sinne einer liberalen Partei sein. Wir haben ja schon damals protestiert, als die Allianz — —
— Nein, das ist nicht entschieden. Wir werden das prüfen.Die FDP hat eine Beschlußlage: Kernenergie ist für uns nach wie vor Übergangsenergie. Wir müssen jedoch so lange daran festhalten, wie der nach der konsequenten Energieeinsparung und rationellen Energienutzung verbleibende Energiebedarf nicht durch andere umweltfreundliche Energiegewinnungsformen gedeckt werden kann. Wir sind nachdrücklich der Meinung — das haben wir vor kurzem auch beschlossen — , daß wir eine Offensive zur Energieeinsparung, zur sparsamen und rationellen Nutzung der Energie brauchen. Wir haben vor einigen Wochen ein Einsparpotential von 25 % in den nächsten zehn Jahren festgelegt. Das halten wir für erreichbar.Wir haben einen breiten Maßnahmenkatalog zur Energieeinsparung ins Auge gefaßt: Verschärfung der Wärmeschutzverordnung, bessere Wärmedämmung für Altbauten, bessere Energieausnutzung durch Kraft-Wärme-Kopplung, Umsetzung des Abwärmenutzungsgebots nach dem Bundes-Immis-
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Baumsionsschutzgesetz, Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes — eine uralte Forderung, die leider noch nicht realisiert ist — und anderes mehr.Einer der Schlüssel, wegzukommen von der Kernenergie hin zu einer Reduzierung der Verbrennung fossiler Brennstoffe, liegt in der Energieeinsparung. Das ist auch unsere Meinung.Ich habe auch die Entscheidung der niedersächsischen Landesregierung zu kritisieren. Herr Schäfer, wir waren uns doch immer einig mit den Sozialdemokraten, daß wir eine Entsorgung brauchen. Gerade meine Partei war sich mit Ihnen einig, daß wir die direkte Endlagerung nicht aus dem Auge verlieren dürfen.
Wir möchten beispielsweise das Atomgesetz in diesem Sinne ändern. Inzwischen sind auch die Christdemokraten soweit. Das steht alles in unserem Programm, und wir haben es immer wieder gefordert.Nun ist die Frage: Wie verhalten Sie sich in der Koalition in Niedersachsen in der Entsorgungsfrage? Sie haben den GRÜNEN nachgegeben, offenbar in der Hoffnung, der Bundesumweltminister wird es schon richten mit Bundesweisung — was er ja in Sachen Bergrecht nicht kann.Ich vermisse eine Stellungnahme der SPD-Bundestagsfraktion zum Entsorgungsproblem. Sie entziehen sich hier der Verantwortung. Ich weiß nicht, ob Gorleben geeignet ist oder nicht. Aber wollen Sie wirklich darauf verzichten, die Entsorgung von hoch-, schwach- und mittelradioaktiven Abfällen nachdrücklich mit uns weiter zu verfolgen? Sie klinken sich aus einer Gemeinsamkeit der Entsorgungsvorsorge aus.Ich habe noch in Erinnerung, daß mir vor einiger Zeit jemand sagte, die Ministerpräsidenten hätten sich am Kamin geeinigt, in diesem Bereich wieder zu einem Konsens zu kommen; nicht nur bezüglich der Entsorgung, sondern im Hinblick auf die Energiepolitik insgesamt.Da ist der Beschluß der Koalition in Niedersachsen ein Rückschritt. Die GRÜNEN haben sich dort durchgesetzt. Aber jubeln Sie nicht zu früh. Herr Schröder hat Ihnen nachgegeben, weil er sich darauf verläßt — das behaupte ich hier — , daß es so schlimm schon nicht kommen wird, weil andere das verhindern werden.
Ich möchte Sie dringend bitten, daß wir unserer gemeinsamen Verantwortung für die Entsorgung, die ja auch bestehen muß, wenn wir heute abschalten, Frau Wollny, gerecht werden. Das haben wir 1978 hier gemeinsam in die Wege geleitet. Da bestand zwischen allen Parteien Einigkeit. Dieser Konsens ist kaputtgegangen. Wir brauchen ihn, und wir müssen uns bemühen, ihn wieder herzustellen.
Wir sind in einer neuen schwierigen politischen Lage. Die Lage in Europa hat sich hoffnungsvoll geändert. Wir haben viele Probleme, auch deutsch-deutsche. Ein bißchen mehr Gemeinsamkeit in Dingen, die wir gemeinsam wollen müssen, ist notwendig.
— Ich habe Ihnen doch auch zugehört.
Herr Abgeordneter Baum, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Frau Abgeordnete Wollny, ich habe Ihnen bewußt sehr viel mehr Redezeit gegeben, als Ihrer Fraktion zusteht.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die anderen Redner freundlicherwise ausreden ließen und nicht den Eindruck erweckten, als stünden Sie zur Zeit am Rednerpult.
Was hatten Sie dazwischengerufen, Frau Kollegin?
— Frau Kollegin, diese Kooperationsbereitschaft hat sich bei den Ländern gezeigt. Auch in Gesprächen zwischen Bund und Ländern war man vor einigen Monaten der Meinung, daß man sich hier einmal ernsthaft zusammensetzen müsse. Man hat Beamte beauftragt, die das tun sollen. Die Ministerpräsidenten haben einen Grundkonsens gefunden. Das fand ich sehr hoffnungsvoll und vernünftig. Das müssen wir weiterverfolgen, nicht weil wir hier parteipolitische Unterschiede in Sachen Kernenergieabwicklung überdecken wollen — das kann sicherlich nicht geschehen — , sondern weil es um Fragen der Entsorgung geht, die wir gemeinsam lösen müssen. Wenn Sie eines Tages hier regieren sollten, müssen Sie diese Probleme auch lösen. Jeder muß sie lösen.Wir haben doch überhaupt keine Möglichkeit, uns diesem Problem zu entziehen. Wir können die abgebrannten Brennelemente nicht ins Ausland bringen, wir können sie nicht in den Weltraum schießen. Wir müssen sie hier entsorgen.
— Auch dann müssen wir sie entsorgen. Frau Kollegin, schauen Sie einmal die Mengen an, die bereits vorhanden sind und die aus Frankreich zurückkommen!
Das hat doch die SPD alles mitbeschlossen. Sie hat dieKernenergiepolitik mitgemacht. Wenn sie A gesagt
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Baumhat, muß sie eben auch B sagen. Sie kann uns doch nicht das Entsorgungsproblem überlassen.
Jetzt noch eine Bemerkung zur Novellierung des Atom- und Strahlenschutzrechtes. Wir haben hier Vorstellungen, die ich noch einmal kurz erwähne: Einführung zwingender umfassender Sicherheitsüberprüfung und Verbesserung des rechtlichen Instrumentariums, nachträgliche Auflagen zu erlassen und Nachrüstungen durchzusetzen, Aufhebung des Befristungsverbots für die Genehmigung von kerntechnischen Anlagen, Wegfall des Förderprinzips im Atomgesetz, Anhebung der Deckungsvorsorge und Wegfall des Vorrangs der Wiederverwertung. Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode mit der Novellierung befassen.Ihrem Antrag, Herr Kollege Schäfer, können wir nicht zustimmen. Er ist jetzt noch weniger plausibel als vor zwei Jahren, als wir ihn zum ersten Mal beraten haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Schäfer hat hier mit seiner Rede den Eindruck erweckt, daß der Ausstieg aus der Kernenergie ein großes Thema ist. Herr Kollege Schäfer, schauen Sie sich nur einmal die Redezeiten heute vormittag an. Die Frauendebatte dauerte eineinhalb Stunden. Wir alle haben Zeitmangel bei einer Dreiviertelstunde. Es ist nicht mehr das große Thema, das Sie einmal gesehen haben, als Sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben.
Der Kollege Schäfer hat hier richtig mitgeteilt, daß mit der Vorlage des Gesetzentwurfs ein Parteitagsbeschluß aus Nürnberg vollzogen werden soll. Es tut mir als Franke natürlich leid, daß ausgerechnet in meiner Heimat so eine falsche Weichenstellung erfolgt ist.
Leid tut es sicher auch noch heute Ihrem damaligen Bundeskanzler, meine Damen und Herren. Ich habe, weil ich den „Spiegel" aus dem Jahre 1981 aufgehoben habe, einmal nachgelesen: Helmut Schmidt hat noch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Ottawa im Jahre 1981 den langsamen Fortschritt beim Bau von Atomanlagen beklagt und hat versprochen, hier für mehr Akzeptanz zu sorgen. Dazu hatte er dann aber nicht mehr die Kraft, weil ihm die Akzeptanz in der eigenen Partei gefehlt hat.
Sie haben diesen Gesetzentwurf unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Frühjahr 1986 formuliert. Ich kann Ihnen nur sagen, daß sich das Gesetz auf die falschen Anlagen bezieht.
Wir haben früher mündlich und schriftlich immer erläutert, was wir von der Sicherheit sowjetischer Anlagen halten, und wir sind jetzt noch sehr viel glaubwürdiger, weil uns eine russische Anlage mit russischer Technik zugänglich ist, weil sie von unseren Sachverständigen geprüft wurde, weil wir Ratschläge geben konnten und weil diese Anlage inzwischen ihren Betrieb eingestellt hat.
Ich halte es für intellektuell nicht redlich, das zu machen, was der Kollege Schäfer heute wieder gemacht hat. Er hat im Grunde genommen eine Katastrophe in Tschernobyl beschrieben; er hat von finanziellen und — wenn man so sagen will — auch menschlichen tragischen Folgen bei dieser Anlage da drüben gesprochen, und dann überträgt er das unausgesprochen auf unsere Anlagen. Herr Schäfer — das muß ich sagen — , das ist auch eine Beleidigung für unsere Kraftwerksbauer. Sie waren ja eine zeitlang noch selbst im Untersuchungsausschuß, der sich mit einem aus meiner Sicht wirklich ernsteren Störfall in Biblis beschäftigt hat. Ich war damals sehr beunruhigt. Wir haben dann gesehen, daß diese Anlage noch über große, große Sicherheitsreserven verfügte. Da ist vieles nicht vergleichbar.
Sie sind bereit, eine Frage zu beantworten? — Bitte schön, Herr Dr. Daniels.
: Herr Kollege Friedrich, sind Sie denn der Meinung, daß tatsächlich ein prinzipieller Unterschied zwischen der Betriebsart und der Konstruktion eines Atomkraftwerkes, das darauf basiert, daß man die Wärme aktiv abführt — also, wir haben kein inhärent sicheres System — , in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion besteht, so daß Sie behaupten können, so etwas kann man nicht vergleichen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich bin jetzt nicht in der Lage, hier in allen Details die Unterschiede aufzuzeigen. Wir wissen von den Berichten aus Greifswald, daß hier mehrfache Sicherheitssysteme fehlen. Wir wissen, daß bei uns z. B. mit leichtem Wasser moderiert wird und daß die Anlage in Tschernobyl mit Graphit moderiert wurde. Man muß für die Zuhörer sagen, daß hier die Neutronen mit Graphit abgebremst werden. Graphit brennt; leichtes Wasser brennt nicht. Es gibt grundlegende Unterschiede.
Heute nicht vorgetragen — dies ist aber in der Begründung des Gesetzentwurfs enthalten — wurde die Behauptung, daß die friedliche nicht von der militärischen Nutzung der Kernenergie getrennt werden kann. Richtig daran ist natürlich, daß jede Technik militärisch genutzt werden kann. Das gilt auch für die Chemie, das gilt auch für Stahlwerke. Wenn die Kollegen der SPD die richtigen Konsequenzen aus dem allgemeinen Grundsatz ziehen würden, dann müßten sie die Stillegung auch der chemischen Werke und der Stahlwerke beantragen.Meine Damen und Herren, wenn es um den Export von chemischen Fabriken geht, weil die möglicher-
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Dr. Friedrichweise Kampfgas herstellen könnten, dann setzen auch die Damen und Herren der Opposition auf Exportkontrolle, auch auf ein schärferes Strafrecht. Im nuklearen Bereich sind sie nicht bereit, selbst internationale Kontrollen hier bei uns im Inland als ausreichend anzuerkennen.Sie verschweigen unseren Mitbürgern auch — das haben wir ebenfalls im Untersuchungsausschuß erfahren — , daß diejenigen, die das Bombenmaterial aus abgebrannten Brennstäben kommerzieller Reaktoren gewinnen wollen, einen technisch komplizierten und sehr teuren Umweg gehen und dabei nur ein begrenzt taugliches Produkt erhalten.Der Versuch der Kolleginnen und Kollegen der Opposition, den Ausstieg aus der Kernenergie als einen Beitrag zur Friedenssicherung zu verkaufen, hat die Phantasie von wirklich gestandenen Kollegen hier in diesem Haus in einer geradezu abwegigen Weise beflügelt. Ich erinnere nur an die Unterstellung, jemand könne auch nur auf die Idee kommen, Bombenplutonium aus Fässern mit konditionierten Abfällen zusammenzukratzen, deren Plutoniumgehalt unter 1 mg liegt.Meine Damen und Herren, ich bin mir ziemlich sicher, daß die SPD energiepolitisch in einen Dampfer eingestiegen ist, der sich — wenn man die internationalen Fahrgäste betrachtet — heute inzwischen wieder langsam leert. In den USA haben sehr viele Wissenschaftler eine grundsätzliche Kurskorrektur in der Energiepolitik gefordert. Zu den fünf vorgeschlagenen Maßnahmen gehört auch der Ausbau der Kernenergie.
In Schweden ist der Ausstiegsbeschluß des Reichstages inzwischen politisch am Wackeln. Er wird nach Umfragen nur noch von 21 % der Bevölkerung unterstützt. Die sehr engagierte Energieministerin Dahl ist in Schweden nicht aus der Kernenergie ausgestiegen, sondern zunächst einmal aus der Energiepolitik; sie hat also keinen Einfluß mehr. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß Sie auf Dauer energiepolitisch mit dem, was Sie hier immer noch vorschlagen, zunehmend vereinsamen. Die SPD hat nur eine Chance: daß sie eine Fähigkeit nutzt, die Sie hier schon öfter einmal bewiesen haben, nämlich daß Sie schnell den politischen Kurs wechseln.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Dr. Klaus Töpfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für dieses schwierige Thema haben wir heute sicherlich zu wenig Zeit. Deswegen nur drei Anmerkungen zu meiner Meinung nach zentralen Fragestellungen.Erstens. Es ist festzuhalten, daß ganz offenbar auch die SPD zu den Befürwortern der Kernenergie gehört.
Denn wer für zehn Jahre bei uns weiterhin Kernenergie nutzen will, muß zu 100 % davon überzeugt sein, daß dies eine unter Sicherheitsgesichtspunkten verantwortbare Entscheidung ist;
sonst kann er dies nicht tun.
Und wer für zehn Jahre Kernenergie nutzen will, meine Damen und Herren, der muß wohl auch ganz deutlich sagen:
Ich bin in der Verantwortung für die Entsorgung dieser Kernkraftwerke. Kernenergie zehn Jahre weiter zu nutzen heißt — Frau Abgeordnete Ganseforth! —, zehn Jahre weiterhin Abfall zu erzeugen und damit auch dafür Verantwortung zu übernehmen.
Das ist der nächste Punkt, meine Damen und Herren.Lassen Sie mich deswegen folgendes sehr deutlich sagen. Wenn wir uns denn schon über Verantwortung bei moderner Technologie unterhalten, dann wollen wir das einmal ganz generell tun. Dann will ich gern einmal darauf hinweisen, daß ich es als eine sehr vordergründige moralische Position ansehe, aus schwierigen, modernen Techniken als erste auszusteigen und damit bestenfalls dieses Risiko zu exportieren, aber das Risiko nicht ursächlich zu beseitigen. Das ist der nächste Punkt, meine Damen und Herren.
Ich will Ihnen ein Zitat vortragen, das der große deutsche Nobelpreisträger Manfred Eigen vor kurzem niedergeschrieben hat. Ich darf zitieren, Herr Präsident? —Ob gerade wir eine Wahrheit ans Licht fördern oder nicht, sie existiert so oder so und wird deshalb von irgend jemand eines Tages entschleiert.Und er fährt fort, er halte es für gefährlich zu glauben, man könne Forschung einfach abschaffen, verbieten oder wesentlich einschränken, statt zu lernen, mit erworbenem Wissen vernünftig umzugehen. Das ist die Herausforderung, meine Damen und Herren.Deswegen sage ich: Wir bemühen nicht die vordergründige Moralität, zu sagen: Wer als erster aussteigt, ist der beste, sondern wir müssen die Moralität doch darin sehen, daß wir anderen, die mit schwierigen Techniken möglicherweise schlechter umgehen können als wir, die Freiräume in der Nutzung fossiler Energieträger schaffen, damit dort nicht Energietech-
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Bundesminister Dr. Töpfernik notwendig wird, die wir hier zu verantworten haben.
Dies, meine Damen und Herren, gilt generell, nicht nur bei der Kernenergie, bei allen anderen modernen Technologien genauso. Ich warne vor den Propheten, die sagen, eine Welt mit fünf, sechs, sieben oder acht Milliarden Menschen sei auf Dauer zu ernähren, mit Energie zu versorgen und insgesamt zu erhalten, ohne daß wir auch weiterhin das Risiko moderner technologischer Entwicklungen in den Ländern eingehen, die dafür in besonderer Weise geeignet sind — dies ist ganz sicherlich auch die Bundesrepublik Deutschland.
Es ist ein Gebot der Redlichkeit, meine Damen und Herren, deutlich zu machen: Wo liegt die Unterschiedlichkeit dessen, was hier vorgetragen wird? Da werden die Anlagen bei uns vorgetragen, die vom Netz sind, und es wird Greifswald vorgetragen. Die Anlagen bei uns, die vom Netz sind, von Mülheim-Kärlich über Obrigheim bis Würgassen, sind nicht vom Netz, weil es Sicherheitsbedenken gegeben hätte, sondern weil es Rechtsfragen zu klären gilt. Greifswald ist nicht wegen fehlender Rechtsgrundlagen vom Netz gegangen, sondern wegen Sicherheitsbedenken ist es vom Netz gegangen. Die Rationalität, Herr Abgeordneter Schäfer, müssen Sie mir erklären, die darin bestehen sollte, ein nagelneues, mit bester Sicherheitskonzeption gebautes Kernkraftwerk wie Mülheim-Kärlich mit Freude vom Netz zu lassen und zuzusehen, daß östlich von unseren Grenzen Kernkraftwerke in Betrieb sind, die ein deutlich geringeres Sicherheitsniveau aufweisen als genau dieses Kraftwerk.
— Meine Damen und Herren, es tut mir leid, daß Sie diese Wahrheiten nicht gut ertragen können, aber es sind nun einmal Wahrheiten.
Lassen Sie mich dazu auch noch sagen: Unsere Konsequenz besteht darin, daß wir nicht als erste den Ausstieg vollziehen, sondern als erste den Einstieg in eine internationale Sicherheitspartnerschaft machen, daß wir dazu beitragen, daß weltweit der Sicherheitsstandard erhöht wird, und daß wir die ersten sind, die die Alternativen entwickeln, die auch andere einsetzen können, um nicht einen Weg in die Kernenergie hinein gehen zu müssen. Das sind unsere Konsequenzen.
Ein Zweites möchte ich dazugesagt haben: Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß es einigen nicht gut gefällt, wenn wir das, was wir vorher angekündigt haben, jetzt erfüllen. Wir haben als erste große Industrienation der Welt ein quantitatives Ziel zur CO2-Minderung erfüllt.
Wir haben es nicht nur als Ziel fixiert, sondern wir haben uns gebunden, bis November dieses Jahres das genaue Konzept vorzulegen. Sie wissen, daß es schon vorliegt und daß es weiter ausdifferenziert wird.
Ich wäre dankbar, wenn es irgendeine andere große Industrienation gäbe, die Gleiches tun würde.Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, meine Damen und Herren: Auch wir sind der Meinung, wir brauchen eine Weiterentwicklung des Atomgesetzes. Auch darin sind wir uns mit allen Bundesländern einig. Wir werden diese Novellierung des Atomgesetzes in der nächsten Legislaturperiode auch in Gang bringen. Wir werden dabei das Ziel, das Atomgesetz zu einem modernen Sicherheitsgesetz auszubauen, nicht aus den Augen verlieren. Wir werden unsere Spitzenstellung bei der Frage der Sicherheit im Umgang mit moderner Technik — und „moderne Technik" heißt auch Kernenergie — zu behaupten und weiter zu verbessern versuchen. Deswegen werden wir die Dynamisierung der Schadensvorsorge vornehmen, wir werden die Einführung periodischer Sicherheitsüberprüfungen vorsehen, und wir werden auch die Möglichkeiten der Ausweitung des rechtlichen Instrumentariums für sicherheitstechnische Nachrüstungen verstärken.Lassen Sie mich abschließend und aus aktuellem Anlaß folgenden Punkt ansprechen: Meine Damen und Herren, es gibt wieder die politischen Ausstiegsankündigungen auf Landesebene. Wir haben sie schon einmal in Schleswig-Holstein gehabt; wir haben sie jetzt wieder in Niedersachsen.
Lassen Sie mich dazu nur wenige Sätze sagen.
Ich möchte schon jetzt sehr deutlich davor warnen, daß wir den Verwaltungsvollzug als Vehikel einsetzen, um den weiteren Einsatz der Kernenergie unmöglich zu machen.
Ein ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug, das ist für meine Begriffe ein Anschlag
auch auf das föderative Instrument der Bundesauftragsverwaltung, meine Damen und Herren, um es ganz deutlich zu sagen.
Wer einen ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug anstrebt, muß wissen, daß wir nahe daran sind, Ermessens- und Rechtsmißbrauch an die Stelle des Vollzugs von Gesetzen zu stellen.
Deswegen muß man das hier anmahnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17333
Bundesminister Dr. TöpferIch möchte auch ganz deutlich anmahnen, daß wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Kalkar nicht so verstehen, als gebe es eine ganz wunderbare Veränderung der Beweislasten, nach dem Motto: Auf Landesebene stellen wir ab, und der Bund wird es durch Weisung schon richten. Wer das so macht, zerstört ein gutes Stück gewachsener Tradition föderativer Rechtsstaatlichkeit. Ich sage Ihnen ganz nachhaltig: Das sollten wir nicht tun, nicht wegen der Frage, ob die Bundesregierung diese Verantwortung übernimmt, sondern unter der Fragestellung, wie wir die damit verbundenen Vollzugskompetenzen weiter zu entwickeln haben. Ich bitte sehr nachhaltig, das hier zumindest ansprechen zu dürfen.Das sind die drei Punkte: Verantwortung gegenüber moderner Technik, Weiterentwicklung unseres hohen Standards der Sicherheitskultur und eine Beibehaltung der gewachsenen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Ein Ausstieg über die Weisungsbefugnis des Bundes, das ist wirklich die unehrlichste Ausstiegsebene, in die man überhaupt eintreten kann.Ich danke Ihnen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Kernenergieabwicklungsgesetzes, Drucksachen 11/13 und 11/4654. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4654 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen.
Ich rufe also die Art. 1 bis 9, Einleitung und Oberschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften entgegen der Ausschußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann darf ich feststellen, daß diese Gesetzesvorlage mit den Stimmen der Fraktion der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden ist. Nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung erübrigt sich logischerweise die dritte Lesung.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Punkt 26 der Tagesordnung auf:
Beratung des Zweiten Berichts der Enquete Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre Schutz der tropischen Wälder
— Drucksache 11/7220 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 90 Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? —Das ist offensichtlich der Fall.
Ich eröffne die Aussprache.
Zunächst hat der Abgeordnete Schmidbauer das Wort, gleichzeitig, wenn ich richtig informiert worden bin, auch als Berichterstatter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am 9. März 1989 hat der Deutsche Bundestag über den Ersten Bericht der Enquete Kommission Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre debattiert, der sich vorwiegend mit der Zerstörung der Ozonschicht und mit dem vom Menschen verursachten Treibhauseffekt befaßt. In einem einstimmigen Beschluß wurde den weitreichenden Maßnahmenvorschlägen zur Reduktion der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und der Halone zugestimmt. Diese Empfehlungen bildeten auch die Grundlage für die am 30. Mai dieses Jahres vom Bundeskabinett beschlossene Verordnung zum Verbot der FCKW und Halone.Heute liegt der Zweite Bericht der Kommission über den Schutz der tropischen Wälder zur Beratung vor. Sehr verehrter Herr Präsident, ich darf Ihnen das erste Exemplar dieses Berichts, ein Unikat, übergeben.
Dieser Bericht schließt sich an den Ersten Bericht an, in dem dieses Thema als Teil einer Gesamtstrategie zum Schutz der Erdatmosphäre bereits aufgegriffen wurde. Diese gesonderte Abhandlung, die ausschließlich die Tropenwaldproblematik untersucht, dokumentiert, wie ernst wir das Problem der Vernichtung der Tropenwälder nehmen.Ich möchte der Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, dem gesamten Präsidium des Deutschen Bundestages und der Verwaltung sehr herzlich für die tatkräftige Unterstützung danken, die sie der Kommissionsarbeit gewährt haben.
Mein gleicher Dank gilt der Bundesregierung für die sehr intensive Begleitung der Kommissionsarbeit durch alle beteiligten Ressorts, mal mehr, mal weniger intensiv. Ich danke aber insbesondere dem Herrn Bundeskanzler für seine nachdrückliche Unterstützung in der Sache bei allen wichtigen nationalen und internationalen Anlässen.
Ebenfalls bedanke ich mich bei allen Kommissionsmitgliedern. Es war eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit bei über 100 Sitzungen.Ich danke insbesondere dem Sekretatriat der Enquete Kommission für die Mitarbeit an diesem Bericht.
Hier wurde wesentlich mehr als das geleistet, was wir als übliches Maß bezeichnen. Hier wurde teilweise in Tag- und Nachtarbeit der Kommission zugearbeitet. Meinen herzlichen Dank an den Sekretär und an alle Mitarbeiter der Kommission!
Tag für Tag werden 500 Quadratkilometer Tropenwald vernichtet, 500 Quadratkilometer eines in Jahrmillionen gewachsenen unvorstellbaren Artenreichtums. Ein großer Teil dieses wertvollen, für unsere genetische Evolution unersätzlichen Ökosystems ist bereits unwiderbringlich verloren. Ein weiterer Teil
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Schmidbauerstirbt täglich, unbekannt und unerforscht. Die Vernichtung der tropischen Wälder, der vom Menschen verursachte Treibhauseffekt und der Ozonabbau in der Stratosphäre sind Gefahren für unsere Erde, eine Bedrohung für alle Menschen. Bislang wurden Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt als begrenzbar, als weitgehend reparabel betrachtet. Nun wird immer deutlicher, daß wir vor einer der größten ökologischen Herausforderungen stehen. Es ist inbesondere eine Herausforderung an die internationale Staatengemeinschaft, hier so schnell wie möglich zu handeln.
Der Deutsche Bundestag hat im November 1987 die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" eingesetzt, um Ursachen und Auswirkungen des stratosphärischen Ozonabbaus, des Treibhauseffektes und der Zerstörung tropischer Wälder aufzuzeigen und — dies ist besonders wichtig — auch Vorschläge für Maßnahmen zu erarbeiten.In dem heute vorliegenden zweiten Bericht hat die Enquete-Kommission Ausmaß, Ursachen und Auswirkungen der Tropenwaldzerstörung sehr ausführlich dargestellt. Wir kommen zu dem Ergebnis, daß sofort umfangreiche Maßnahmen notwendig sind, um die noch vorhandenen Waldbestände zu nutzen.Im Jahre 1980 umfaßte die Gesamtfläche der Tropen noch etwa die Hälfte ihres ursprünglichen Bestandes, nämlich 19,4 Millionen Quadratkilometer. Davon entfielen 12 Millionen Quadratkilometer auf geschlossene und 7,4 Millionen Quadratkilometer auf offene Wälder. Heute geht die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen davon aus, daß nur noch ein Bestand von 18 Millionen Quadratkilometern vorhanden ist. Allein in diesem Jahr werden weitere 200 000 Quadratkilometer tropischer Wälder vernichtet. Dies entspricht fast der Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Ohne entsprechende Gegenmaßnahmen wird der Umfang der Zerstörung weiterhin rapide zunehmen. Im Jahre 2000 wird die verbleibende Waldfläche vielleicht noch 15 Millionen Quadratkilometer betragen, im Jahre 2050 schätzungsweise nur noch 9 Millionen Quadratkilometer, etwa die Hälfte der 1990 vorhandenen Tropenwaldfläche. Mit Sicherheit werden zahlreiche Tropenwaldländer bis dahin keinerlei Waldbestände mehr besitzen.Um Wege und Mittel zu finden, die noch verbliebenen Tropenwälder zu schützen, müssen wir die Ursachen ihrer Vernichtung kennen. Diese sind äußerst vielschichtig und unterscheiden sich nicht nur länder- und regionenspezifisch, sondern verändern sich auch zeitlich, abhängig von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren. Im Vordergrund steht die Vernichtung durch Brandrodung. Dadurch will man landwirtschaftliche Flächen schaffen für Viehweiden, für den Anbau von Nahrungsmitteln, für die lokale Bevölkerung oder für devisenbringende Agrarexporterzeugnisse. Die Wälder werden ferner zur Brennholzgewinnung oder durch den kommerziellen Holzeinschlag übernutzt oder kahlgeschlagen, oft mit der Folge weiterer Brandrodungen. Straßenbau- und Industrieprojekte sowie deren Erschließung sind ebensoUrsache der Vernichtung. Brandrodung, Holzeinschlag und die anderen erwähnten Aktivitäten tragen zwar zur Vernichtung der Tropenwälder bei,
sind aber nicht die eigentlichen Ursachen dieser bedrohlichen Entwicklung.Diese liegen im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Vor allem die Bevölkerungsexplosion, die in fast allen Tropenwaldländern zu beobachten ist, gehört zu den mittelbaren Ursachen der Tropenwaldzerstörung. Im Jahr 1950 lebten ungefähr 2,5 Milliarden Menschen auf der Erde. Im Jahr 2000 werden es nach Schätzungen zwischen 6,1 und 6,5 Milliarden sein. Das Bevölkerungswachstum konzentriert sich auf die ohnehin armen Regionen in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dort wird sich die Bevölkerung in knapp drei Jahrzehnten verdoppeln und die betroffenen Staaten vor große ökonomische und soziale Probleme stellen. Der zunehmende Bedarf an landwirtschaftlicher Nutzfläche und Brennholz als nahezu einzigem Energieträger zwingt die in Armut und existentieller Not lebenden Menschen zu Raubbau an Böden und Brennholzressourcen.Bevölkerungswachstum ist aber nur ein Teil der Vernetzung verschiedener Ursachen der Tropenwaldzerstörung. Auch ökonomische und politische Hintergründe sind zu berücksichtigen. So spielt die Verschuldung dieser Länder eine äußerst wichtige Rolle. Sie hat sich nach Angaben der Weltbank seit 1980 mehr als verdoppelt. Ende 1988 betrug das Volumen der Auslandsverschuldung aller Entwicklungsländer nahezu 1 200 Milliarden US-Dollar.Mit Hilfe von Rohstoffen wird versucht, mehr Devisen für die Zins- und Tilgungsleistungen zu erwirtschaften. Finanzielle Mittel für Investitionen im Hinblick auf ressourcenschonende Technologien, die eine starke Übernutzung verhindern könnten, fehlen.Welche Folgen hat die Vernichtung der tropischen Wälder? Der anthropogen verursachte Treibhauseffekt wird um etwa 15 % verstärkt. In den tropischen Ländern selbst kommt es zu folgenreichen regionalen Klimaänderungen. Soziale, ökonomische und ökologische Auswirkungen wiegen, kurzfristig gesehen, für diese Länder möglicherweise schwerer als die Folgen der globalen Erwärmung.Der tropische Regenwald ist in seiner Substanz bedroht, und damit sind es auch seine unvorstellbare Artenfülle und Artenvielfalt. Die Zahl aller Tier- und Pflanzenarten wurde weltweit bislang auf 3 bis 10 Millionen geschätzt. Neue Überlegungen, die auf Stichprobenuntersuchungen in tropischen Feuchtwäldern beruhen, gehen von einem Gesamtartenbestand zwischen 30 und 50 Millionen aus. Der überwiegende Teil davon, mindestens 50 bis 75 %, möglicherweise sogar 90 %, ist in den tropischen Feuchtwäldern beheimatet. Auch wegen dieses hohen Anteils an Tier- und Pflanzenarten kommt den tropischen Wäldern besondere Bedeutung zu.Allein auf dem Staatsgebiet Kolumbiens befinden sich 10 % der bisher weltweit bekannten Pflanzenarten, und auf der nur 7,3 km2 großen Forschungsstation
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SchmidbauerLa Selva in Costa Rica kommen mehr Säugetier-, Vogel- und Amphibienarten als in der gesamten Bundesrepublik Deutschland vor.Zwischen 1970 und 1990 hat die Vernichtung von Arten eine bisher unvorstellbare Dynamik erreicht. Während im Verlauf der vergangenen 200 Millionen Jahre im Durchschnitt eine Art pro Jahr ausgestorben ist, stirbt seit Mitte der 80er Jahre mindestens eine Art pro Stunde aus; richtig gesagt: sie wird vernichtet. Bei Fortdauer des gegenwärtigen Trends werden Ende dieses Jahrhunderts weltweit 20 bis 50 % aller Arten nicht mehr existieren. Dramatisch dabei ist, daß die Natur Artenverluste nicht ausgleichen kann, da der Prozeß der Artenbildung in extrem langen Zeiträumen abläuft.Jeder anthropogene Eingriff in unberührte Primärwälder, insbesondere in die tropischen Feuchtwälder, führt zwangsweise zu einem Verlust der Artenvielfalt. Dazu zählt auch die Übernutzung durch Holzeinschlag. Mittel- bis langfristig führt sie zu einer Verringerung der Biodiversität und zu einer zeitweiligen oder dauerhaften Verdrängung von Tieren und Pflanzen aus ihrem angestammten Lebensbereich.Die volkswirtschaftlichen Schäden lassen sich zwar noch nicht hinreichend berechnen. Doch werden die mit der Abholzung und Brandrodung verbundenen Bodenzerstörungen und Klimaveränderungen und der Rückgang der Artenvielfalt gravierende negative Auswirkungen haben.Angesichts der teilweise rücksichtslosen Ausbeutung der tropischen Wälder werden z. B. langfristig die Exporterlöse aus der Holzwirtschaft sinken. Hält die gegenwärtige Entwicklung an, so können sich viele Tropenwaldländer bereits in naher Zukunft nicht einmal mehr selbst mit Holz und Holzprodukten versorgen.Die tropischen Wälder sind nicht nur Grundlage der Evolution, Klimaregulator und Wirtschaftsfaktor, sondern sie sind auch Heimstätte und Teil der kulturellen Identität vieler Naturvölker und ethnischer Minderheiten, die sich dem Leben im Wald angepaßt haben. Der Prozeß der wirtschaftlichen Erschließung der Tropenwälder bedeutet für die Stammesvölker Umsiedlung, Vertreibung und für viele Vernichtung.Ich denke, wir haben nicht nur die moralische Verantwortung, sondern auch eine Chance, den Tropenwald zu retten. Voraussetzung ist eine neue Kooperation zwischen Nord und Süd, ein neues Beziehungsgefüge zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Wir schlagen hierfür in unserem Bericht ein breit gefächertes, in sich abgestimmtes Maßnahmenbündel vor, nämlich erstens ein nationales und internationales Sofortprogramm, zweitens eine internationale Konvention zum Schutz der Tropenwälder, drittens einen internationalen Treuhandfonds und viertens eine ökologisch verträgliche internationale Politik.Nur mit einem globalen Stufenplan kann das rapide Ansteigen der Tropenwaldvernichtung gestoppt, danach gänzlich unterbunden und verlorengegangene Bestände, soweit das möglich ist, wiederaufgeforstet werden.Die Zeit drängt. Ein Sofortprogramm soll daher bis zum Inkrafttreten eines Treuhandfonds zum Schutz der Tropenwälder vorsehen, daß die Teilnehmerstaaten des Wirtschaftsgipfels noch in diesem Jahr zusätzlich einen Betrag in Höhe von insgesamt 750 Millionen DM zur Verfügung stellen. Dieser Betrag sollte unabhängig von den jeweils national aufzubringenden Mitteln koordiniert und in Abstimmung mit den Tropenwaldländern wie folgt eingesetzt werden: erstens um geplante oder bestehende Maßnahmen zum Schutz besonders gefährdeter Primärwaldgebiete zu beschleunigen, zu erweitern oder fortzuführen; zweitens für flächendeckende Agrarforstprojekte in Asien, Afrika und Lateinamerika, und zwar insbesondere dort, wo Bevölkerungsdruck über Brandrodung, Wanderfeldbau und anderes zur Vernichtung von Wäldern führt; drittens für den Aufbau von Brennholz- und Nutzholzplantagen und zur Förderung von Vorhaben einer umweltverträglichen Energieversorgung, um damit den Nutzungsdruck von den Wäldern zu nehmen; viertens zur Aufforstung von entwaldeten und zur Wiedergewinnung von versteppten Flächen und fünftens zur Durchführung von integrierten Regionalerschließungsmaßnahmen unter Einschluß von Handel, Gewerbe und Arbeitsplatzförderung außerhalb der Tropenwälder.Die internationale Konvention zum Schutz der tropischen Wälder ist die wichtigste mittel- und langfristige Maßnahme zur Unterstützung eines Stufenplanes. Dieses Übereinkommen muß völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen für die Unterzeichnerstaaten enthalten. Auch diejenigen Staaten, die nicht über eigene Tropenwaldvorkommen verfügen, sind aufgerufen, das Übereinkommen zu unterzeichnen und damit ihre Mitverantwortung für den Schutz der tropischen Wälder auszudrücken.Dazu gehört auch, daß keine Aktivitäten durchgeführt oder unterstützt werden, die im eigenen Land, im Rahmen von außenwirtschaftlichen Beziehungen oder in Tropenwaldländern direkt oder indirekt zur Waldzerstörung beitragen.Die Tropenwaldländer brauchen Unterstützung, und zwar durch die Bereitstellung programmgebundener finanzieller Mittel; wenn möglich, auch in Form nicht rückzahlbarer Zuschüsse. Sie brauchen Unterstützung durch den Transfer umwelt- und sozialverträglicher Technologien in den Bereichen Forst- und Landwirtschaft sowie in den Bereichen Umwelt- und Energietechnik. Sie brauchen Unterstützung durch eine verbesserte Grundversorgung der Bevölkerung der Tropenwaldländer mit dem Ziel ihrer Lebenssicherung. Sie brauchen Unterstützung durch Bereitstellung von Fachwissen in den Bereichen Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Regionalplanung. Und sie brauchen Unterstützung durch umfangreiche Forschungsmaßnahmen und Forschungskooperation sowohl in den Tropen- wie in den Industrieländern sowie durch einen intensiven Austausch von Forschungsergebnissen.Im Rahmen der Konvention zum Schutz der Tropenwälder sollten sich die Unterzeichnerstaaten, die über Tropenwaldvorkommen verfügen, bereit erklären: erstens ihre Primärwälder weitestmöglich zu erhalten und zu diesem Zweck u. a. verstärkt Schutzgebiete
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Schmidbauereinzurichten; zweitens die übrigen Wälder naturnah zu bewirtschaften; drittens Aufforstungs- und Regenerationsmaßnahmen durchzuführen, damit langfristig neue Sekundärwälder entstehen können, und viertens die Lebensräume der indigenen Gesellschaften und damit deren kulturelle Identität zu schützen.
— Vielen Dank, lieber Wilhelm.
Ein zentraler Bestandteil dieses Protokolls muß sein, daß jedes Unterzeichnerland, das über Tropenwaldvorkommen verfügt, einen im Rahmen dieses Protokolls rechtlich abgesicherten Tropenwaldschutzplan konzipiert und verabschiedet. Dieser soll als Grundlage für die bilaterale und multilaterale Unterstützung dienen. Diese neu zu erstellenden Tropenwaldschutzpläne müssen den Anforderungen und Zielen der Konvention entsprechen. Auf keinen Fall dürfen sie Neuauflagen von Tropenforstwirtschaftsaktionsplänen werden, die erfahrungsgemäß die Erhaltung und den Schutz der Tropenwälder nicht gewährleisten konnten.Für die Umsetzung der Konventionsvereinbarungen sind erhebliche Mittel notwendig. Als eine Finanzierungsmöglichkeit wäre ein projekt- und programmorientierter internationaler Treuhandfonds zum Schutz der Tropenwälder vorstellbar, der federführend vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen unter fachlicher Mitwirkung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und der Weltbank betreut werden könnte. Um die notwendigen Programme einleiten zu können, müßte auf der Grundlage von Expertenberechnungen ein Mittelvolumen in Höhe von 10 Milliarden DM pro Jahr verfügbar sein. Zur Ergänzung der internationalen Maßnahmen sollten die EG-Mitgliedstaaten ihr gemeinsames Engagement erheblich verstärken, und zwar unabhängig von ihren nationalen Aufwendungen für den Schutz der tropischen Wälder.In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, daß die EG-Kommission ihre Vergabekriterien für laufende und geplante Projekte so ausrichtet, daß die Umweltverträglichkeit aller Projekte sichergestellt ist und die Vorhaben sich sehr viel mehr am Tropenwaldschutz orientieren. Die EG-Kommission muß gewährleisten, daß auf EG-Ebene nur noch umweltverträgliche Investitionsentscheidungen getroffen werden.Die Forderung an die Tropenwaldländer, ihrerseits Maßnahmen zur Erhaltung der tropischen Wälder zu ergreifen, ist nur gerechtfertigt, wenn die EG-Mitgliedstaaten selbst verstärkte Anstrengungen zum Schutz ihrer heimischen Wälder sowie auf anderen Feldern der Umweltpolitik unternehmen, um dem Treibhauseffekt entgegenzuwirken, denn Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene setzt eine entsprechende nationale Politik voraus.
Die Bundesrepublik Deutschland trägt bereits jetzt in einem erheblichen Umfang zur Tropenwalderhaltung bei. Wir können aber im Bereich der Kooperation mit den Tropenwaldländern noch wesentlich mehr tun.Wir können unsere bisherigen Anstrengungen auf dem Gebiet des Schuldenerlasses weiter ausbauen. Hier war die Politik der Bundesregierung beispielgebend. Dabei sollte das betreffende Land durch sein Verhalten deutlich erkennen lassen, daß es seine tropischen Wälder schützen will.Unabhängig von Maßnahmen zur Eindämmung der Verschuldungsproblematik sollten wir in der Bundesrepublik Deutschland den Betrag von 250 Millionen DM jährlich für Tropenwaldschutzmaßnahmen ab dem Jahre 1994 auf 500 Millionen DM verdoppeln. Diese Mittel sollen weitere Möglichkeiten für Maßnahmen zur Tropenwalderhaltung schaffen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Bereitstellung finanzieller Mittel ist nicht genug, sie ist nicht ausreichend. Eine weitere zentrale politische Forderung ist, daß wir unsere Zusammenarbeit mit den Tropenwaldländern — wie überhaupt mit allen Entwicklungsländern — in allen Bereichen umweltverträglich gestalten. Unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten müssen wir auf die entsprechende Ausgestaltung der kommerziellen Handelsbeziehungen hinwirken. Als eines der größten Industrieländer können und müssen wir entscheidende Impulse geben.Die Tropenwälder gehören zum gemeinsamen Erbe der Menschheit. Sie sind in Gefahr, für immer verlorenzugehen. Nur eine systemübergreifende und internationale Kooperation kann ihre Erhaltung sichern.Wir müssen entschlossen sein, die Fehler der Vergangenheit durch effektive Maßnahmen umgehend zu korrigieren. Die Vereinten Nationen könnten als Zentralstelle die Koordination, Ausführung und Kontrolle der hierfür erforderlichen Programme übernehmen. Andere internationale Gremien könnten hier unterstützen, insbesondere die Weltbank, auf die eine große Verantwortung zukommt.Jetzt steht die Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft auf dem Prüfstand. Gemeinsam haben wir eine Chance, die noch vorhandenen tropischen Wälder zu retten und sie als Teil unserer Lebensgrundlage auch für künftige Generationen zu bewahren. Geben wir in der Bundesrepublik Deutschland ein gutes Beispiel, und gehen wir mit entschlossenem Handeln voran! Es muß uns gelingen, noch rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, indem wir alle Kräfte mobilisieren, um diesen einzigartigen, für unsere Erde unentbehrlichen Lebensraum zu retten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ganseforth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir uns in der Enquete-Kommission daranmachten, uns mit dem Tropenwald zu befassen, ging es uns darum, den Beitrag seiner Vernichtung zum zusätzlichen Treibhauseffekt sowie die Ursachen und möglichen Gegenmaßnahmen der Urwaldzerstörung zu ermitteln. Das hängt so zusam-
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Frau Ganseforthmen: Alle Pflanzen, besonders Wälder und speziell die tropischen Wälder, nehmen Kohlendioxid, also CO2, aus der Atmosphäre auf, sie fixieren den Kohlenstoff und geben den Sauerstoff wieder an die Atmosphäre ab. Die Pflanzen und Wälder und insbesondere die tropischen Wälder sind, wie wir sagen, eine Senke für CO2 und können damit dem Treibhauseffekt entgegenwirken. Wird der Wald jedoch abgeholzt, dann wird dieser Prozeß gestoppt. Wenn Holz verbrannt wird oder vermodert, dann entsteht wieder CO2, das dann an die Atmosphäre abgegeben wird und den Treibhauseffekt vergrößert.Die Zerstörung der Tropenwälder macht etwa 20 der CO2-Wirkungen aus, d. h., das CO2 bewirkt die Hälfte des Treibhauseffektes. Dies bedeutet: Der Beitrag der Zerstörung der tropischen Wälder zum Treibhauseffekt beträgt etwa 10 %. Das ist viel, aber wenn wir es an anderen Einflüssen messen, etwa halb so viel, wie die FCKW zum Treibhauseffekt beitragen.Die Störung des globalen Klimas ist aber nur einer der Gründe, warum der Tropenwald erhalten werden muß. Für diese Länder selber bedeutet die Zerstörung der Tropenwälder nämlich eine Störung des lokalen Klimas, z. B. Überschwemmungskatastrophen, wie wir in Thailand gesehen und gehört haben, und zusätzliche Erosion.Je mehr wir uns in der Enquete-Kommission mit diesem Thema beschäftigt haben, desto deutlicher wurde die Erkenntnis, daß es sich beim Tropenwald um ein Erbe der gesamten Menschheit handelt. Herr Schmidbauer hat schon darauf hingewiesen, daß der Treibhauseffekt und die Klimaproblematik nur ein Teil sind. Viel schlimmer ist noch, daß diese unendlich artenreichen Ökosysteme zerstört werden, was irreversible Auswirkungen hat. Wir waren mit einer Delegation der Enquete-Kommission — ich bin mitgewesen — in Südostasien. Man kann gar nicht beschreiben, wenn man sieht, was passiert, wenn ein jahrhundertealter, von Lianen bewachsener Baum in einem Urwald mit großen Motorsägen gefällt wird, wie er mit schwerem Gerät durch den Wald gezogen wird, wie rechts und links die Bäume umfallen, wie der Boden zerstört wird, und welche Schäden das hinterläßt. Dann kann man nicht mehr nur von „CO2-Senke" oder „Biomasse" sprechen, wenn man über die tropischen Regenwälder spricht.
Inzwischen ist die Hälfte der tropischen Wälder zerstört. Der Tropenwaldbericht, den wir hier heute vorlegen, listet das in umfangreichen Zahlen auf, analysiert die Ursachen und macht Vorschläge zur Rettung der noch verbleibenden Wälder. Wir, die Mitglieder der Enquete-Kommission, haben intensiv mitgearbeitet und tragen den Bericht in großen Teilen mit. Aber der im Kommissionsbericht vorgeschlagene Stufenplan zur Reduzierung der Zerstörungsraten ist unserer Meinung nach nicht ausreichend. Er wird die Zerstörung der Tropenwälder noch etwa 20 Jahre zulassen.Wir schlagen einen Vier-Phasen-Dringlichkeitsplan vor. Dadurch sollte es möglich sein, innerhalb von fünf Jahren einen weitgehenden Stopp der Tropenwaldvernichtung zu erreichen. Der Dringlichkeitsplan ist nach Jahren gegliedert. Dieses Jahr ist die erste Phase, 1991 die zweite, 1992 die dritte und 1993 die vierte. Bis dahin muß die Tropenwaldvernichtung beendet sein.Der Dringlichkeitsplan umfaßt bilaterale und internationale Teile. Entschuldung ist ein Thema. Ein Tropenwaldfonds wird gegründet. Ein Übereinkommen zum Schutz der tropischen Wälder im Rahmen einer Klimakonvention, Solarnutzungsprogramme und Modellprojekte zum Tropenwaldschutz sind enthalten. Wir haben den Dringlichkeitsplan oft genug vorgestellt, und er ist im Bericht enthalten.Zusätzlich zu diesem Plan müssen die internationalen Organisationen reformiert werden. Soziale und ökologische Standards müssen in die Vergabepraxis der nationalen und internationalen Kreditinstitute eingeführt werden. Die Entwicklungszusammenarbeit muß umstrukturiert werden — darüber sind wir uns in der Enquete-Kommission einig — , denn die Menschen in den Tropenländern zerstören ihre Wälder aus Not. Sie brauchen Verdienstmöglichkeiten. Sie brauchen Anbaumöglichkeiten. Sie brauchen alternative Möglichkeiten, Devisen zu erwirtschaften, ohne daß sie ihre Wälder zerstören. Dazu brauchen sie unsere Hilfe. Aber sie müssen selber ihren Beitrag dazu leisten; das wissen wir.Als wir mit unserer Delegation vor einem knappen Jahr in Südostasien waren, haben wir in einer Zeitung aus Malaysia, der „New Straits Times", vom 29. Juli einen Bericht gelesen, der sich mit einer ähnlichen Debatte im Kongreß der USA beschäftigte. Ich möchte aus diesem Bericht einige Passagen vorlesen bzw. übersetzen. Ich möchte das so machen, daß ich, wenn da „USA" steht, „Bundesrepublik" und, wenn es „Kongreß" heißt, „Bundestag" sage; denn ich denke: Das ist genau das Echo, das auch auf unsere Debatten hier kommen kann. In dem Bericht hieß es: „America should teach not preach". Manches, was hier gesagt wird — so kommt es mir vor —, wird gepredigt, anstatt zu helfen und zu lehren.
In diesem Artikel heißt es:Lange bevor die Entwicklungsländer damit begannen, Wälder zu fällen, um ihre Bevölkerung mit Land zu versehen, hatten die Europäer von den Tropenwäldern profitiert. Wälder waren vernichtet worden, um den Westen mit Edelhölzern zu versorgen. Die besten, produktivsten Regenwälder waren zerstört, lange bevor die Staaten Afrikas und Südostasiens unabhängig wurden. Sie— die Edelhölzer —sind aufgegangen in einigen der schönsten Häuser und Gebäude Europas.Dann hieß es in dem Bericht:Wer sind die größten Verschmutzer der Welt? Sicher nicht die armen Völker der Dritten Welt. Die wahren Zerstörer der Umwelt sind die Industrien und Verbraucher des Westens. Sie entwickelten, produzierten und verwendeten die ozonzerstö-
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Frau Ganseforthrenden FCKWs. Also bevor die Deutschen und der Bundestag anfangen können, der Welt die Bedeutung von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie zu diktieren, müssen sie selber tun, was sie predigen.Soweit diese Stimme aus Malaysia.Ich glaube, wir müssen sehr ernst nehmen, was da geschrieben ist. Herr Knabe und ich haben übrigens mit den Verfassern dieses Artikels damals ein Gespräch geführt, weil es uns sehr wichtig war, auf diese Argumente auch im Dialog einzugehen.Wenn wir es also mit der Rettung der Tropenwälder ernst meinen und wenn es uns nicht nur um Ankündigungen geht, dann muß man diese Botschaft sehr ernst nehmen. Wir dürfen die Sorge um den Tropenwald nicht zum Alibi machen, um von Versäumnissen hier abzulenken oder uns selber vor schmerzhaften und unbequemen Maßnahmen zu drücken und das „Weiter so" zu verbergen. Wir dürfen uns nicht nur um den fernen Tropenwald kümmern, weil wir das Waldsterben bei uns und die Nordseeverschmutzung nicht in den Griff bekommen oder nicht in den Griff bekommen wollen.Vor unserer Reise nach Südostasien war ich radikal in bezug auf Forderungen zum Schutz der Tropenwälder. Zurückgekommen bin ich mit radikalen Forderungen in bezug auf uns, auf die Industrienationen, auf unsere Art zu produzieren und zu konsumieren:
z. B. FCKW- und Halonausstieg, kein Einstieg in die Produktion teilhalogenierter Kohlenwasserstoffe — das haben wir gestern in der Enquete-Kommission wieder diskutiert —, eine radikale Änderung der Verkehrspolitik und unseres Umgangs mit dem Pkw sowie mit dem Flugzeug, eine radikale Änderung der Energiepolitik sorgsamer Umgang mit Rohstoffen — dazu gehört auch Holz, dazu gehört auch Tropenholz —, denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wirksamer Tropenwaldschutz beginnt bei uns.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! An der Schwelle zum 21. Jahrhundert steht die Menschheit vor der größten Herausforderung in ihrer Geschichte. Sie steht vor der Gefahr, durch hemmungslose Inanspruchnahme der Ressource Umwelt ihre eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Sie muß erkennen, daß die Erde kurz vor dem Punkt angelangt ist, an dessen Überschreitung eine Umkehr nicht mehr möglich ist.Vielen Gefahren, die Plünderung des Planeten Erde durch den Verbrauch der fossilen Brennstoffe, die alarmierende Vernichtung der Wälder, die Ausbreitung der Wüsten, die Belastung von Böden, Luft und Gewässern mit Schadstoffen, bedrohen das Überleben auf unserer Erde. Die Menschheit ist leider — von vielen noch unbemerkt — zur Überlebensgemeinschaft geworden.Wir müssen erkennen, wie sehr der soziale Frieden, der Frieden zwischen den Völkern und der Frieden mit der Natur, einander bedingen. Verantwortung nicht nur für uns, sondern für alle künftigen Generationen muß unser Denken und Handeln bestimmen. Die Achtung vor der Menschenwürde und vor der ganzen Schöpfung, der Wille, mehr und nicht weniger Freiheit zu verwirklichen, verpflichten uns, künftigen Generationen die materiellen Möglichkeiten und die Freiheit zu belassen, über ihre eigenes Schicksal selbst zu entscheiden.Die Frage nach der Vereinbarkeit von Umwelt und Entwicklung steht im Mittelpunkt der globalen Umweltherausforderung. Entwicklung muß sich künftig in den einzelnen Staaten wie im weltweiten Rahmen an den natürlichen Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit orientieren.Notwendiges Wachstum und die legitime Nutzung von Ressourcen stellen dabei nicht von vornherein einen Gegensatz zu den Erfordernissen der Umwelterhaltung dar.Gestatten Sie mir dazu eine kleine Anmerkung: Wir beobachten, daß der technologische Fortschritt und das damit verbundene „down sizing" in vielen Produktionsbereichen eine Steigerung des Bruttosozialprodukts bei gleichzeitiger Verringerung des Ressourcenverbrauchs ermöglicht, allerdings unter steigendem Energieaufwand — ein Problem, dem sich die Enquete-Kommission noch stellen muß.Das Konzept des „sustainable development" muß zum Maßstab allen wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Handelns werden. Das von dem Philosophen Hans Jonas formulierte Prinzip Verantwortung für die Zukunftsbewältigung muß auch im Mittelpunkt der heutigen Debatte stehen, in der es um den Schutz der tropischen Wälder geht.Die alarmierende Zerstörung der tropischen Wälder hat in den letzten Jahren dramatische Ausmaße angenommen. Nicht nur das Tempo des Zerstörungsprozesses, sondern auch die zu befürchtenden globalen Auswirkungen sowohl auf das Weltklima als auch auf die politische, ökonomische, soziale und ökologische Situation der betroffenen Entwicklungsländer erfordern dringend Gegenmaßnahmen.Alle politisch Verantwortlichen sind sich hinsichtlich der Notwendigkeit und Dringlichkeit einig, wirksame Maßnahmen zum Schutz der verbliebenen Tropenwälder zu ergreifen. Angesichts der Komplexität des Problems und der Tatsache, daß es keine allgemeingültige Patentlösung geben kann, wird die öffentliche Diskussion über mögliche Lösungsstrategien nach wie vor äußerst kontrovers geführt.Die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" hat mit ihrem zweiten Zwischenbericht eine umfassende Darstellung und Wertung der Tropenwaldproblematik vorgenommen sowie in den Handlungsempfehlungen weitreichende Vorschläge und Forderungen für einen wirksamen Tropenwaldschutz unterbreitet.Die Analyse der Ursachen der Vernichtung tropischer Wälder zeigt, wie vielschichtig und komplex die Zusammenhänge der Tropenwaldzerstörung sind. Zusammensetzung, Verknüpfung und Gewichtung
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Frau Dr. Segallder Ursachen unterscheiden sich nicht nur nach Land und Region, sondern auch zeitlich in Abhängigkeit von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren.Häufig werden die Ursachen der Tropenwaldzerstörung durch eine verfehlte nationale Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik sowie soziale Mißstände noch verschärft. Fälschlicherweise werden die Aktivitäten, die zur Schädigung und Zerstörung der tropischen Wälder beitragen, wie Brandrodung, Brennholzgewinnung, Nutzholzeinschlag und Rodungen für die infrastrukturelle Erschließung als Ursachen bezeichnet. Diese Aktivitäten sind jedoch nur die äußeren Erscheinungsformen der Tropenwaldzerstörung und haben tieferliegende Ursachen.Dabei handelt es sich um Rahmenbedingungen, die in fast allen Tropenwaldländern gleichermaßen anzutreffen sind und deren Auswirkungen weit über die eigentliche Tropenwaldproblematik hinausgehen. Hierzu gehören vor allem das enorme Bevölkerungswachstum und die Armut breiter Bevölkerungsschichten.Diese miteinander zusammenhängenden Faktoren werden in dem Bericht der Enquete-Kommission folgerichtig als die tieferliegenden Ursachen für die zunehmende Zerstörung der Tropenwälder bezeichnet.Das Bevölkerungswachstum stellt nicht nur die Tropenwaldländer vor schwierige ökonomische, soziale und ökologische Probleme. Hohes Bevölkerungswachstum ist eine entscheidende Ursache dafür, daß sich die Armut in den Ländern der Dritten Welt verschärft und gleichzeitig zur Übernutzung der natürlichen Ressourcen führt.Welche Gefahren von einem weiteren ungezügelten Bevölkerungswachstum ausgehen, macht der kürzlich veröffentlichte Weltbevölkerungsbericht 1990 der Vereinten Nationen mit folgenden Worten sehr deutlich:... das schnelle Bevölkerungswachstum in den armen Ländern hat bereits begonnen, die Erde unwiderruflich zu verändern. Diese Veränderungen werden in den 90er Jahren ein kritisches Ausmaß erreichen. Zu Beginn der 90er Jahre müssen wir uns für konsequente Maßnahmen entscheiden, um das Bevölkerungswachstum aufzuhalten, die Armut zu bekämpfen und die Umwelt zu schützen. Andernfalls können wir unseren Kindern nur ein vergiftetes Erbe hinterlassen.Dieser dramatische Appell spricht für sich. Nach der jüngsten Prognose der Vereinten Nationen soll die Weltbevölkerung bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts 11 bis 14 Milliarden Menschen erreichen. Eine solch unvorstellbare Bevölkerungsexplosion wird nicht nur an die Substanz der Erde selbst gehen; sie wird auch alle Eigenanstrengungen der betroffenen Entwicklungsländer und die Erfolge einer wirksamen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit letztlich wieder zunichte machen.In einer solchen für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Frage dürfen parteipolitische und ideologische Überlegungen keine Rolle spielen. Durch die gebetsmühlenartigen Wiederholungen sozialistischer Patentrezepte zur Beseitigung einer ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht im Sinne der dirigistischen Vorstellungen einer sogenannten neuen Weltwirtschaftsordnung
sind die ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft nicht zu bewältigen.Welche Folgen Jahrzehnte sozialistischer Wirtschaftspolitik haben, erleben wir gegenwärtig in den Staaten Osteuropas. Notwendig ist künftig gemeinsames Handeln aller politischen Kräfte bei der Gestaltung einer auf Partnerschaft und Solidarität beruhenden internationalen Zusammenarbeit, die sich auf die Prinzipien des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Achtung der Menschenrechte, der Nichtdiskriminierung, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der auf privater Initiative beruhenden sozialen und ökologischen Marktwirtschaft gründet.Darüber hinaus müssen künftig alle Anstrengungen auf die Lösung der zentralen Probleme in der Dritten Welt konzentriert und dabei Umwelterhaltung, Armutsbekämpfung sowie die Reduzierung des Bevölkerungswachstums zur Strategie einer auf Dauer tragfähigen Entwicklung gemacht werden. Dazu zählt auch die Fortsetzung der Maßnahmen zur Überwindung der Verschuldungsproblematik sowie zur Unterstützung der Entwicklungsländer bei ihren Bemühungen um volle Integration in die weltwirtschaftliche Zusammenarbeit.Im Rahmen einer solchen ökologisch orientierten Gesamtstrategie spielt der Schutz und die Erhaltung der tropischen Wälder eine bedeutende Rolle. Daher müssen alle bestehenden und realisierbaren Handlungsmöglichkeiten für eine zügige Verwirklichung von Schutzkonzepten und Maßnahmen zur Tropenwalderhaltung genutzt werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung von Lösungsvorschlägen ist allerdings zunächst die Akzeptanz und Bereitschaft der Tropenwaldländer, sich an der Realisierung solcher Vorschläge aktiv zu beteiligen. Nicht der Versuch, den Tropenwaldländern noch so gut gemeinte Konzepte von außen aufzuzwingen, sondern der die gemeinsamen Interessen berücksichtigende Dialog und konstruktive Zusammenarbeit in klar definierten Kooperationsprogrammen führen weiter.Neben einer Unterschutzstellung von großen Teilen des Primärwaldes kommt es vor allem darauf an, durch eine nachhaltige Bewirtschaftung der übrigen Wälder deren ökologische Funktionen zu erhalten und die Interessen einer wirtschaftlichen Nutzung dieser Ressourcen langfristig zu wahren. Auch in der internationalen Expertenanhörung zum Tropenwaldproblem bestand weitgehend Konsens in der Beurteilung, daß nur das dauerhafte wirtschaftliche Interesse der ansässigen Bevölkerung und der Regierungen der Tropenwaldländer auf Grund dauerhafter Nutzungsmöglichkeiten unter Einschluß von Nichtholzprodukten wie Rattan, Nüssen und Kautschuk den Wald langfristig vor Zerstörung schützt. Die Vertreter von
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Frau Dr. SegallUmweltschutzorganisationen plädierten einhellig für eine Strategie „conservation and development" , d. h. Kopplung von Nutz- und Schutzzielen.Ein wirksamer Tropenwaldschutz erfordert vor allem eine geschlossene Landnutzungsstrategie für Tropenwaldregionen, welche die Probleme der Ernährungssicherung, der Energieversorgung und der ländlichen Entwicklung mit einbezieht, sowie verstärkte international koordinierte Maßnahmen zur Umsetzung wirksamer Schutzkonzepte. Patentrezepte sind hierfür ungeeignet. Zu diesen gehört auch die Forderung nach einem allgemeinen Tropenholzimportverbot
oder einem Verzicht auf die Nutzung tropischer Hölzer. Solche Maßnahmen sind keine praktikablen und erfolgversprechenden Handlungsmöglichkeiten. Sie können schon rein quantitativ keinen wirksamen Beitrag zum Schutz tropischer Wälder leisten und würden sich eher schädlich auswirken, da sie das Eigeninteresse der Tropenwaldländer am Erhalt ihrer Waldressourcen untergraben, statt es zu stärken.Ein genereller Tropenholzboykott würde sich für die betroffenen Entwicklungsländer nicht nur wegen der dadurch sinkenden Tropenholzpreise negativ auswirken, sondern hätte wegen der dann zu erwartenden Überführung großer Tropenwaldflächen in andere Nutzungsformen erst recht eine vermehrte Tropenwaldvernichtung zur Folge. Dagegen könnte durch eine gezielte Verwendung von Tropenholz, das nachweislich aus nachhaltig bewirtschafteten Tropenwaldbeständen stammt, zur Unterstützung umweltgerechter Waldwirtschaft in den Tropen beigetragen werden.Allerdings ist ein solcher selektiver Verwendungsverzicht ebenfalls kein geeignetes Mittel zum Tropenwaldschutz, solange die Einhaltung wirksamer Kontrollmaßnahmen noch nicht durch internationale Vereinbarungen sichergestellt ist. Unter diesen Gesichtspunkten stellt die Initiative der Bundesregierung zur Durchsetzung einer ausschließlich „nachhaltigen Tropenwaldnutzung" durch Erarbeitung eines internationalen Verhaltenskodex im Rahmen von ITTO einen wichtigen Beitrag dar.Im Interesse eines wirksamen Tropenwaldschutzes sind auch verstärkte Anstrengungen in der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit erforderlich. Eine entscheidende Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Unterstützung von Maßnahmen für Waldschutz und Forstentwicklung im Rahmen des TFAP, des Tropen-Forstwirtschafts-Aktionsplans.Trotz der Notwendigkeit, dieses Instrument zu verbessern und weiterzuentwickeln, kann es jedoch nicht darum gehen, eine weitere Mittelbereitstellung für nationale TFAP-Pläne bis zu einer vollständigen Neustrukturierung zu stornieren. Diese von SPD und GRÜNEN in ihrem Minderheitsvotum aufgestellte Forderung ist nicht nur in der Sache verfehlt, sondern würde auch jede Möglichkeit einer gezielten Unterstützung tropenwalderhaltender Maßnahmen für mehrere Jahre unterbinden. Bei aller berechtigten Kritik am bisherigen Konzept des TFAP als des bisher einzigen weltweiten und umfassenden Rahmenprogramms zur Tropenwalderhaltung und forstwirtschaftlichen Entwicklung: Es stellt zur Zeit das wichtigste Instrument zur Verhinderung der fortschreitenden Tropenwaldzerstörung dar.Angesichts der dramatischen Tropenwaldzerstörung mit ihren globalen Auswirkungen muß es vor allem darum gehen, ein weiteres Ansteigen der Vernichtungsrate umgehend zu stoppen und durch eine Unterbindung des Zerstörungsprozesses und durch Wiederaufforstungsmaßnahmen in einem realistischen Zeitrahmen Tropenwaldbestände auf Dauer zu erhalten. Dies stellt eine globale Herausforderung dar, die sowohl die Eigenverantwortung der Tropenwaldländer als auch die Solidarität aller anderen Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft erfordert.Zur Erreichung dieser ehrgeizigen Ziele hat die Enquete-Kommission einen Drei-Stufen-Plan vorgeschlagen, der sich durch realistische Zeitperspektiven, klare Zielhorizonte sowie einen noch überschaubaren finanziellen Rahmen auszeichnet und der Bundesregierung damit als eine wichtige Grundlage ihrer weiteren Bemühungen um den internationalen Tropenwaldschutz zur Verfügung steht. Entscheidende Elemente dieses Stufenplans sind ein Sofortprogramm und die Verwirklichung einer Internationalen Konvention zum Schutz der tropischen Wälder.Die Bundesregierung ist aufgefordert, auf eine Realisierung der von der Enquete-Kommission als dringend notwendig bezeichneten Maßnahmen auf internationaler, EG-weiter und nationaler Ebene mit Nachdruck hinzuwirken und an Hand dieser Vorgaben ein entsprechendes Aktionsprogramm bis zum 1. Oktober 1990 zu verabschieden.Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Bundesregierung durch die vor kurzem erfolgte Vorlage ihres Tropenwaldberichtes bereits getan. Ich begrüße die in diesem Zusammenhang von der Bundesregierung abgegebene Erklärung, die Empfehlungen der Enquete-Kommission bei ihrer Politik zur Erhaltung der Tropenwälder berücksichtigen zu wollen, und erwarte, daß sie ihre Vorreiterrolle beim Tropenwaldschutz auf internationaler Ebene weiterhin wahrnimmt.Zum Schluß möchte ich nicht vergessen, dem Sekretariat für die mühselige Arbeit noch einmal ganz herzlich zu danken.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Besucher im Bundestag! Die Erhaltung der Tropenwälder ist ein wichtiges Thema,
vielleicht eines der entscheidenden Themen der kommenden Zeit.Die tropischen Wälder, so wurde gesagt, sind die wichtigsten Ökosysteme der Erde. 10 bis 20 Millionen
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Dr. KnabeTier- und Pflanzenarten — man schätzt, noch mehr — leben dort. Millionen Angehörige von Stammesvölkern wirtschaften dort im Einklang mit der Natur. Mehrere 100 Millionen Wanderfeldbauern treiben dort Subsistenzwirtschaft. Eine noch größere Anzahl von Menschen ist Nutznießer anderer Dienstleistungen. Und alle Menschen wären Opfer der Klimaveränderungen, zu denen die Entwaldungen beitragen. Würden die Regenwälder verschwinden, wäre das eine Katastrophe, die nur mit der Zerstörung durch einen Atomkrieg vergleichbar ist.Meine Damen und Herren, die Regenwälder verschwinden nicht, sie werden vernichtet — vernichtet mit einer rasant zunehmenden Geschwindigkeit. Heute wird doppelt so viel Regenwald pro Jahr zerstört wie vor zehn Jahren, 1990 wahrscheinlich knapp die Fläche der Bundesrepublik Deutschland.Wer ist dafür verantwortlich? Nach der Arbeit in unserer Kommission ist heute vielen klarer denn je, daß es in erster Linie die Industrieländer sind. Es sind unsere Konzerne, unsere Regierungen und wir Verbraucher. Seit Jahrhunderten beuten Unternehmen aus Europa die Tropenländer aus und zerstören deren Wälder. Unser Wohlstand baut seit kolonialen Zeiten auch auf der Ausbeutung der Regenwälder auf.Heute haben sich zwar die Formen der Ausbeutung geändert, aber das Ausmaß unserer Verantwortung hat noch zugenommen. Deutsche Holzkonzessionäre verwüsten die Regenwälder Afrikas. Deutsche Holzhandelshäuser beteiligen sich an der Vernichtung der Lebensgrundlagen von Eingeborenen. Deutsche Erzimporteure lassen Löcher in die Vegetationsdecke des Amazonas reißen. Private und staatliche Banken profitieren, wenn Wälder in den Fluten großer Stauseen versinken. Deutsche Beamte sind beteiligt, wenn Regenwälder Entwicklungsprojekten geopfert werden oder wenn die EG-Agrarpolitik brasilianische Kleinbauern in die Regenwälder treibt. Auch wir Verbraucher sind beteiligt, wenn wir Tropenwaldprodukte konsumieren.Solche direkten Zusammenhänge gelten natürlich auch für die EG, die USA und Japan. Wir sind aber auch indirekt mit verantwortlich. Die Industrieländer und ihre Konzerne nutzen ihre wirtschaftliche Vorherrschaft, um die Austauschverhältnisse zu Lasten der Tropenländer zu verschlechtern. Eine forcierte Ausplünderung der Naturressourcen dort ist die Folge.Im vergangenen Jahrzehnt verdoppelte sich die Auslandsverschuldung der Dritten Welt, und gleichzeitig — dies ist sicherlich kein Zufall — verdoppelte sich der Grad der Tropenwaldzerstörung. Die Industrieländer erhöhen den Verwertungsdruck auf diese Wälder, indem sie den verschuldeten Ländern untragbare Schuldendienste aufbürden. Sie diktieren über den Internationalen Währungsfonds Strukturanpassungsprogramme, die keine Alternative zur verschärften Naturausbeutung zulassen.Wir haben diese Verantwortung der Industrieländer in einem Zusatzvotum zum Bericht dargestellt, weil eine Kommissionsmehrheit die zweifelhafte Ansicht vertrat, daß interne Faktoren — Sie haben es von FrauSegall gehört — der Tropenländer eine wichtigere Rolle spielen.
In der Frage der sogenannten Bevölkerungsexplosion ist es allerdings ein Verdienst des Berichts, mit einem Mythos aufgeräumt zu haben; denn er zeigt überzeugend, daß der Bevölkerungszuwachs nur e i n Faktor in einem komplexen Zusammenhang ist, der von der weltwirtschaftlichen Entwicklung beeinflußt wird.Meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit, diesen ökologischen Holocaust zu stoppen. Für die GRÜNEN im Bundestag ist der Schutz des Regenwaldes eine Schwerpunktaufgabe. Dies drückt sich in zahlreichen Anträgen und Anfragen in enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen aus. In der Enquete-Kommission habe ich als Forstwissenschaftler und Politiker intensiv mitgearbeitet, um den Forderungen der Betroffenen Ausdruck zu geben und hier wirksame Strategien zu entwickeln. Ich danke aber auch unserem Vorsitzenden Bernd Schmidbauer, der heute leider erkrankten Liesel Hartenstein und allen Mitgliedern, auch dem Sekretariat. Es ist eine unheimliche Menge Arbeit hineingesteckt worden. Wir sind in alle Tropenwaldländer gefahren, in alle drei Kontinente, um dort vor Ort die Lage zu erkunden.
Die tropischen Feucht- und Trockenwälder zu schützen bedeutet etwas anderes, als nur bewaldete Flächen zu erhalten oder Ödland aufzuforsten. Zwei Ziele müssen hier unbedingten Vorrang haben: die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Stammesvölker, damit sie das Recht bekommen, zerstörerische Einbrüche in ihre Lebensräume selbst abzuwehren — bei den Gummizapfern Amazoniens haben wir das erlebt — , zum anderen der Schutz der Primärregenwälder vor destruktiven Aktivitäten wie Holzeinschlag, Bergbau und Agrarkolonisation.Die Regenwälder zu schützen bedeutet dagegen nicht, unter dem Anspruch angeblicher Nachhaltigkeit den Holzeinschlag in die Primärwälder hineinzutreiben. Selbst die Internationale Tropenholzorganisation gibt ja zu, daß nur auf rund 1 Promille der Regenwälder von nachhaltiger Forstwirtschaft geredet werden kann. Auch das ist noch übertrieben, weil inzwischen erwiesen ist, daß die als mustergültig propagierte Forstwirtschaft in Queensland nicht das Prädikat „nachhaltig" verdient. Wer Primärregenwälder forstwirtschaftlich nutzen will, macht nach heutigem Kenntnisstand den Bock zum Gärtner. Das sage ich als Forstmann.Der Schutz der Tropenwälder muß so schnell wie möglich verwirklicht werden, nicht erst in 20 Jahren. Denn für die meisten Stammesvölker — wie die Penan in Sarawak oder die Yanomami in Brasilien — wäre es dann zu spät. Und zu spät wäre es auch für die westafrikanischen Regenwälder, für die südostasiatischen Dipterocarpaceen-Wälder und für viele bedrohte Arten. Die beiden Papageien hier an meinem Revers sind das Symbol der bedrohten Wälder und Arten, ausgewählt und mir geschenkt von der brasilianischen Umweltorganisation Mata Atlantica.
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17342 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Dr. KnabeIn der intensiven Kommissionsarbeit zeigte sich, daß der Schutz der Regenwälder den Rahmen jeder Sektorpolitik sprengt und internationale Partnerschaft erfordert. Es geht um nicht weniger als den ökologischen Umbau der Weltwirtschaft. Die Enquete-Kommission hat sich dieser Herausforderung gestellt. Vielleicht hat sie sich übernommen.Die Industrieländer richten mit ihrer Wirtschaftsweise die Erde zugrunde. Die Regenwälder sind die Ökosysteme, die in diesem Prozeß der Selbstzerstörung als erste bedroht sind. Ihr Schutz ist ein Testfall dafür, ob die Menschheit die Erde für zukünftige Generationen erhalten kann. Wir tragen dabei eine doppelte Verantwortung: zum einen als Hauptverursacher und zum anderen, weil nur wir die zu erwartenden ökonomischen Lasten tragen können.Meine Damen und Herren, mutige, weitreichende und unverzügliche Maßnahmen sind erforderlich, um die tropischen Wälder zu retten. Es handelt sich um Maßnahmen — da soll sich niemand etwas vormachen — , die die Interessen der Industrieländer im Kern beeinträchtigen. Wir dürfen nicht länger Produkte importieren, die zur Schädigung dieser Wälder führen. Dazu brauchen wir ein europaweites Einfuhrverbot für Tropenholz und eine drastische Reduzierung der Futtermitteleinfuhren.Wir dürfen nicht länger Preise für tropische Produkte akzeptieren, die die Tropenländer zur Naturzerstörung zwingen. Unsere Unternehmen dürfen nicht länger Tropenwälder zerstören. Wir brauchen also Kontrollmechanismen, um destruktive Aktivitäten zu unterbinden.Unsere Entwicklungshilfe darf nicht länger Regenwälder zerstören. Es gibt auch positive Ansätze; das will ich gar nicht bestreiten. Aber die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik, der EG, der FAO und der Weltbank muß schon radikal umgestellt werden: Wir brauchen Akteneinsichtsrechte für die Öffentlichkeit, wir brauchen die Rechenschaftspflicht unserer Regierungsvertreter bei den internationalen Organisationen, und wir brauchen die volle Mitbestimmung der von Entwicklungsprojekten Betroffenen. Wir brauchen natürlich auch höchste Standards für die Prüfung von Umwelt- und Sozialverträglichkeit.Jetzt kommt ein Punkt, bei dem Dissens besteht. Wenn sich die Bundesregierung nicht länger der Zerstörung von Regenwäldern schuldig machen will, muß sie die Zahlungen an den Tropenforstwirtschafts-Aktionsplan einstellen.Unsere Verantwortung wahrzunehmen heißt auch, die notwendigen strukturellen Voraussetzungen zu schaffen. Solange die Dritte Welt mit 1 300 Milliarden Dollar verschuldet ist, kann sie keine Garantie für den Schutz ihrer Wälder geben. Deshalb fordern wir drastische Schuldenstreichungen. Die Bundesregierung sollte eine internationale Entschuldungskonferenz vorschlagen und sich an die Spitze eines Vorstoßes zum umfassenden Schuldenabbau setzen.Der Schlüssel zum Schutz bedrohter Regenwälder liegt im Nutzungsverzicht, nicht aber in gefährlichen Inwertsetzungsstrategien, die sich zu Unrecht mit dem Etikett der sogenannten Nachhaltigkeit schmükken. Nutzungsverzicht — sei es als Rücknahme vonKonzessionen, als Stopp von Besiedlungsprogrammen oder anderer Ausbeutung — geht nicht ohne Entschädigungen. Deshalb müssen die Industrieländer Kompensationszahlungen leisten. Sie müssen einen Kompensationsfonds einrichten, bei dem wir mit 20 Milliarden DM im Jahr rechnen. Schließlich brauchen wir eine Wälderkonvention, in die auch die Wälder unserer Bundesrepublik einbezogen sind.Meine Damen und Herren, der Schutz der tropischen Wälder wird nur gelingen, wenn wir selber ökologisch glaubwürdig handeln. Wir müssen alles beitragen, was in unseren Kräften steht. Die Handlungsempfehlungen der Kommissionsmehrheit reichen dafür nicht aus. Manchmal führen sie sogar vom Ziel weg.Die erforderlichen Maßnahmen führen wahrscheinlich zu tiefen Einschnitten in unseren gewohnten Wohlstand. Der Schutz der Regenwälder ist nicht umsonst zu haben. Aber was wiegen solche Kosten schon gegenüber dem noch zu vermeidenden Untergang der Stammesvölker, und was wiegen sie schon gegenüber dem noch zu vermeidenden Verlust von 20 Millionen Arten und dem Ende der Evolution?Der letzte Satz: Was der Schutz der tropischen Wälder auch kosten mag, für die GRÜNEN ist kein Preis zu hoch.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17343
Nein, der Zuwachs um Milliarden und Abermilliarden in den nächsten 30 Jahren wird dazu führen, daß hier, wenn wir nicht in dieser Form handeln, immer mehr tropischer Regenwald brandgerodet wird und immer mehr tropischer Regenwald gefällt wird.Ich mache eine Bemerkung am Rande, die nicht direkt das Tropenwaldprogramm betrifft. Aber ich glaube, daß wir uns auch weltweit noch intensiver um Strategien der Familienplanung kümmern müssen
und hier ansetzen müssen, um auch von dieser Seite her dafür zu sorgen, daß flankierend nicht der Druck erzeugt wird, der zur Zerstörung führt. Der Weltbevölkerungsbericht ist noch einmal ein dramatisches Alarmsignal, und ich glaube, er ist auch noch einmal ein Zeichen für die großen Konfessionen und Kirchen weltweit, ihre Einstellung zur Familienplanung noch einmal zu überdenken.
Ich glaube, wir müssen auch daran denken, Nutzholz- und Brennholzplantagen zu schaffen. Warum? Hier wird in der Diskussion über den tropischen Regenwald immer still übergangen, daß knapp 90%, des tropischen Regenwaldes gefällt werden, weil die Menschen Brennholz zum Kochen und zum Wärmen brauchen.
Ich sage das so. Das sind die Fakten, an denen wir nicht vorbeikommen. Wenn ich diesen Menschen nicht andere Energie gebe, seien es angepaßte Energieformen, sei es — weil ich glaube, daß dies schneller geht — Holz, das in Brennholzplantagen hochgebracht wird, dann können wir den Regenwald nicht schützen.Machen wir uns doch auch nichts vor: Auch die Strategie eines undifferenzierten Tropenholzboykotts ist doch nur eine Beruhigungspille, die letztlich nichts bringt.
Nur 14 % des Holzes sind Nutzholz, und davon geht nur ein Drittel in den Export. Wer daran ansetzt, erfaßt die wahren Ursachen bedauerlicherweise nicht.
Auch hier werden wir zu anderen Positionen kommen müssen.Wir werden auch — ich halte das für wichtig — der Aufforstung entwaldeter Flächen und der Wiedergewinnung versteppter Flächen für die Landwirtschaft mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Wir haben hier als Bundesrepublik Deutschland — auch durch unsere Entwicklungshilfemaßnahmen und unsere Entwicklungshilfeprojekte — die Lösungsmodelle entwickelt, die wir hier ansetzen können. Wir haben Modelle entwickelt, wie wir mit Alang-Alang-Gras bewachsene Flächen wieder nutzbar machen können, wie wir sie wieder bewirtschaften können. Deshalb sind die Vorwürfe, die von Wilhelm Knabe gerade in Richtung Entwicklungshilfepolitik der Bundesregierung kamen, zurückzuweisen.
Ohne diese Projekte, ohne diese Modelle hätten wir jetzt nicht die Instrumente, mit denen wir den Menschen dort sinnvoll helfen können!
Das sind praktikable Modelle.
Das einzige, was wir brauchen, ist mehr Geld, damit aus dem Modellprojekt eine Umsetzung in der ganzen Fläche, in der Region wird, damit es wirklich flächendeckend hilft und es nicht nur beim Modellfall verbleibt.Das heißt natürlich auch, daß ich integrierte Entwicklungshilfemaßnahmen brauche, weil ich den Menschen dort ja etwas zum Leben geben muß.
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17344 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Dr. Lippold
Ich muß ihnen Arbeit geben. Auch die Millionen, die dort zuwachsen und keine Arbeitsplätze finden, muß ich ja in Arbeit und in Lohn bringen. Deshalb brauche ich eine Agroforstpolitik; aber kombiniert mit einer kleingewerblichen Entwicklungshilfepolitik, die durchaus ökologisch verträglich sein kann. Aber auch das geht nur mit den Modellen, die wir hier in der Bundesrepublik glücklicherweise entwickelt und auch zur Verfügung gestellt haben.Daß wir ergänzend eine Internationale Konvention brauchen, ist, so glaube ich, unbestreitbar. Ein einzelnes Land, auch einige wenige Länder können dies nicht tun.Ich warne vor einem: daß wir in falscher Arroganz von hier aus Strategien entwickeln und sie den Ländern der Dritten Welt aufzwingen. Man kann nicht — wie es viele GRÜNE tun — auf der einen Seite sagen, man dominiere die Entwicklungsländer, und auf der anderen Seite sagen: Aber wir schreiben euch bis auf das letzte Komma vor, wie ihr vorzugehen habt. Ich glaube, hier ist mehr Ehrlichkeit im Umgang miteinander Voraussetzung dafür, daß wir in diesen Ländern mehr Akzeptanz für Maßnahmen schaffen, die wir gemeinschaftlich für notwendig erachten.Deshalb ist auch die absolute Negativkritik am Tropenforstaktionsplan nicht angebracht. Hier sind wenigstens einmal erste Maßnahmen in Gang gebracht worden, um etwas zu tun. Wenn ich das völlig streiche, werden wieder Jahre vergehen, bis neue Instrumente auf die Schiene gebracht worden sind. Auch das ist kein verträgliches Mittel, auch das ist kein taugliches Mittel.Ich sage auch noch einmal deutlich: Nur Schuldenstreichung allein bringt nichts. Undifferenzierte Schuldenstreichung wäre falsch, denn sie belohnt die Falschen. Durch die Streichung von Schulden allein wird der tropische Regenwald nicht geschützt, wird nicht wieder aufgeforstet. Ich muß also — das haben wir in Vorschlag gebracht — Geld in die Hand nehmen. Wenn ich Schulden streiche, habe ich noch keine einzige Mark, um einen Baum zu pflanzen, um einen Acker anzulegen, um das zu tun, was wir brauchen. Insofern muß also auch dieses Konzept der GRÜNEN überdacht werden; es muß verändert werden.
Ich glaube, daß wir als Enquete-Kommission mit den Vorstellungen, die die Bundesregierung ja aufgreift, hier auf dem richtigen und — so möchte ich auch sagen — auf dem besseren Weg sind.Ich will noch etwas deutlich machen: daß wir sicherlich mit all dem nur etwas erreichen können, wenn wir weltweit bei allem, was wir tun, auch bedenken, die Umweltverträglichkeit zu prüfen. Ich halte es für unabweisbar notwendig, daß wir bei uns selbst damit anfangen — aber auch im Zusammenwirken mit anderen, mit denen wir Projekte realisieren — , die Umweltverträglichkeit dieser Projekte zu überprüfen.
Ich freue mich — deshalb greife ich den Zuruf auf —,daß die Bundesrepublik dies tut, daß unserer Projektejetzt geprüft werden. Daß in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden, als wir alle miteinander gemeinsam diesen Punkt noch nicht gesehen haben und als in der Regierungszeit des Kanzlers Schmidt die Sägewerke genehmigt wurden, die wir heute gemeinsam besichtigen, wobei wir dann der Bundesregierung sagen, sie solle keine Fehler machen,
ist richtig. Es waren andere Zeiten, als dies alles gemacht wurde.Aber ich möchte den heutigen Tag nicht nutzen, um kleinliche Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Ich glaube, Umweltverträglichkeitsprüfung, internationale Konvention, gekoppelt mit einem Sofortprogramm, das sind Schritte, die wir gemeinsam tun sollten, auf die wir uns verständigen sollten, wie wir es ja in weiten Teilen auch schon getan haben. Über alles andere lohnt sich nicht kleinlich zu streiten. Wir müssen sofort einsteigen. Ich glaube, das ist der einzig richtige Weg.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der fortgeschrittenen Zeit will ich nur ein paar Anmerkungen machen.Während sich der Bundestag bei der gestrigen Debatte mit den Folgen der Spaltung Europas, also sozusagen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, beschäftigt hat, sprechen wir heute Konflikte und Risiken an, die sich, aus meiner Sicht, in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zuspitzen und das Zusammenleben der Weltgemeinschaft entscheidend bestimmen können.Ich will die Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen hier nicht kritisieren. Jeder — ich sage das auch für die Zuhörer und Zuschauer — , der die Belastungen der letzten Wochen mitbekommen hat, kann hierfür Verständnis haben. Aber ich glaube, ich spreche auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission, daß wir diese Diskussion als einen Einstieg verstehen, nicht als Abhandlung des Themas.
— Ja, das ist bei dem Thema auch sehr notwendig.Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich einige wenige Aspekte ansprechen, die mich besonders bewegen, die nicht nur in engerem Sinne die Frage des Schutzes des Tropenwaldes behandeln, sondern meines Erachtens Trends aufzeigen, wie sich in einer, für mich, gefährlichen Weise das Verhältnis zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern zuspitzt.Ich habe es beispielsweise als sehr beeindruckend empfunden, wie auf der Weltversammlung der Kirchen der Konflikt zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern überhaupt kein Konflikt mehr zwischen den Systemen, sondern nur noch einer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17345
Müller
zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern war. Wir sollten uns nichts vormachen: Was da auf uns zukommt, ist, wenn man sich die Daten der ökologischen Zerstörung anschaut, ein Sprengsatz, den wir uns heute in seiner Tragweite noch nicht ausmalen können.Wir haben mehrfach davon gesprochen, daß der Tropenwald das gemeinsame Erbe der Menschheit sei. Dieser Begriff „gemeinsames Erbe der Menschheit" ist meines Erachtens ein sehr weitreichender. Wenn das so ist, treffen unsere traditionellen Kategorien von Verwertung für diese große Ressource nicht zu. Wenn wir das ernst nehmen, müssen wir daraus weitreichende Schlußfolgerungen ziehen.Ich halte das für richtig: Der Tropenwald ist ein entscheidender Faktor für die ökologische Stabilität der Menschheit, und zwar wegen der engen Verflechtung von Klimasystem und Biosphäre. Wir können durch seine Vernichtung Prozesse in den Lebensbedingungen der Menschen einleiten, unter denen wir im Kern alle zu leiden hätten. Es ist bekannt — das ist auch hier mehrfach gesagt worden — , daß die Menschheit in einem Umfang und Tempo wie noch nie in der Umwelt gewütet hat. Die Zahlen, die genannt worden sind, will ich nur durch eine ergänzen: Pro Minute vernichten wir zur Zeit Tropenwald in der Größenordnung von 30 Fußballfeldern — pro Minute 30 Fußballfelder! Wir wissen, daß die Fortsetzung dieser Dezimierung in die ökologische Katastrophe führt.Insofern ist klar, daß es, wenn wir den Begriff vom „gemeinsamen Erbe der Menschheit" ernst nehmen, nicht eine Verantwortung der Tropenländer allein gibt, sondern daß es dann nur die Verantwortung der Weltgemeinschaft insgesamt gibt,
schnell und ohne koloniale Bevormundung zu reagieren.Das bedeutet für mich insbesondere zweierlei.Erstens. Wir müssen alles tun, um Not, Ausbeutung und Unwissenheit in der Dritten Welt schnell zu beseitigen.Zweitens. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das globale Wirtschaftssystem, das, wie meines Erachtens auch der Brundtland-Bericht völlig zu Recht nachgewiesen hat, die Länder der Dritten Welt in eine verhängnisvolle Abwärtsspirale der Vernichtung preßt, ökologisch umbauen und gestalten können.Meines Erachtens stehen wir deshalb vor einer doppelten Aufgabe:Die erste: Wir müssen die entwickelten Industrieländer durch den ökologischen Umbau zukunftsfähig machen.Zweitens. Wir müssen die sozialen Probleme in der Dritten Welt lösen, um diese Länder daran zu hindern, daß sie überhaupt den Weg in die armutsbedingte Umweltzerstörung gehen.
Das ist die doppelte Aufgabe, die wir haben. Hierzeigt sich sozusagen, daß unsere ganze national orientierte Denkweise zumindest nicht mehr die Denkweise des nächsten Jahrhunderts sein kann und sein darf.
— Richtig. Meines Erachtens müssen wir dem Fernsehen für diese Serie an dieser Stelle ruhig einmal danken. Ich finde, daß es solche Serien immer noch viel zu wenig gibt. Wir sollten auch die Intendanten der Rundfunkanstalten bitten, solche Veranstaltungen, solche Diskussionen und solche Fernsehreihen fortzuführen. Sie sind wichtig. Sie haben bisher viel zu wenig stattgefunden.
Aber was ist die entscheidende Frage, wenn das so ist? Ich glaube, daß die ökologische Zerstörung der Dritten Welt gesellschaftspolitische Auswirkungen für die Welt hat, die meines Erachtens die BrundtlandKommission im folgenden Beispiel zu Recht beschrieben hat:Die immer krasser zutage tretende Umweltkrise stellt für die nationale Sicherheit, ja, das Überleben der Menschheit unter Umständen eine größere Bedrohung dar als feindliche Militärbündnisse. Bereits heute ist in vielen Teilen der Dritten Welt— also auch in den Tropenwaldländern —die Krise der Umwelt zu einer gefährlichen Quelle politischer Unruhe und internationaler Spannungen geworden. Die meisten Länder aber gehen bei ihrem Verständnis von Sicherheit noch immer von überholten, ausschließlich militärisch bestimmten Sicherheitskategorien aus.Das ist genau die Konfliktlage, über die wir reden müssen. Es ist keine Fiktion, wenn wir ernst nehmen, was wir auf Grund vieler Daten wissen: daß sich nämlich wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit, soziale Abhängigkeit, Unterentwicklung und Umweltzerstörung in zerstörerischer Weise miteinander verbinden.Einige Zahlen dazu: In absehbarer Zeit werden sich vierzig Länder der Erde selbst nicht mehr ausreichend mit Wasser versorgen können. Schon heute haben zwei Millionen Menschen keinen Zugang zu hygienisch sauberem Wasser. Wir entnehmen im Augenblick dem globalen Wasserhaushalt tagtäglich Wasser in einer Größenordnung des 70fachen des Bodensees. Zur Zeit liegt die Rate der Artenvernichtung 10 000 mal über dem Tempo, bevor der Mensch auf die Erde kam. Das heißt, wir sind in einer Situation, daß jede Stunde eine lebendige Art auf der Erde stirbt. Das sind Daten, die man erweitern kann.Hinzu kommen die sozialen Daten. Nach Aussagen der FAO leiden ungefähr 800 Millionen Menschen an absoluter Armut. Mehr als 500 Millionen Menschen auf der Erde leiden an Unterernährung. Pro Tag sterben 40 000 Kinder unter fünf Jahren. Diese Zahlen lassen sich durch infrastrukturelle Daten ergänzen. Beispielsweise kommen in den Ländern der Dritten Welt auf einen Arzt ungefähr 18 000 zu Versorgend, Bei uns sind es etwa 600.
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17346 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Müller
Es gibt also unglaubliche Unterschiede in der sozialen Situation der Welt. Gleichzeitig haben wir — hier ist es mehrfach angesprochen worden — ein ungeheures und bisher kaum gebremstes Bevölkerungswachstum in der Welt. Da frage ich, wenn wir diese Situation sehr viel ernster nehmen als bisher: Wo soll das enden? Es gibt dann im Kern nur zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit lautet: Globale Verlagerung der Konflikte in das Verhältnis von Industrieländern und Entwicklungsländern mit allen Risiken, meines Erachtens auch für militärische Konflikte. Die zweite Möglichkeit lautet: Sie setzen den Schlüssel hier in den Industrieländern an. Wenn wir bei den Industrieländern ansetzen, ist es meines Erachtens die Pflicht der Enquete-Kommission, weiter darüber nachzudenken. Ich will ganz deutlich sagen, daß ich ein großes Interesse habe, daß wir viele der Empfehlungen aus dem Bericht gemeinsam vertreten. Wir haben mit dem Bericht viele positive Fortschritte gemacht. Aber es gibt eine Reihe von Themen, wo wir weiter diskutieren müssen und wo ich nicht weiß, ob es zwischen uns nicht erhebliche Unterschiede gibt.Ich spreche jetzt aus meiner Sicht. Ich glaube, daß wir nicht an dem Tatbestand vorbeikommen, daß industrielle Gesellschaften aus sich heraus eine Dynamik der Beschleunigung des Wachstums und der Komplexität haben, die ich nicht aufheben kann, auch nicht mit moderner Technik. Ich will das sehr deutlich ansprechen, weil ich glaube, daß wir darüber viel zu wenig nachdenken. Ich gehe also davon aus, daß das industrielle System aus sich heraus eine Logik hat, die auf ständige Vermehrung, auf ständige Erweiterung und damit auch auf ständige Erweiterung des Naturverbrauchs und der Zerstörung von Materie angelegt ist.Das ist ein Grundproblem, über das ich meines Erachtens in diesem Zusammenhang nachdenken muß. Ich kann das nicht verdrängen, ich kann es mir mit den Antworten nicht so einfach machen: Wir machen einfach nur bessere Technik. Wenn das so wäre, dürften die Industrieländer nicht die Hauptverursacher der globalen Umweltzerstörung sein. Insofern geht es meines Erachtens vor allem um die erste Schlüsselfrage: Wie bekomme ich ein Industriesystem hin, das ökologisch dauerhaft verträglich ist? Ich kann darauf heute noch keine Antwort geben. Ich weiß aber, daß bisher das entscheidende Kriterium für Industriegesellschaften die Entgrenzung, die Beschleunigung und die Grenzenlosigkeit waren, daß sozusagen das Hauptproblem im Verhältnis zwischen Industriegesellschaften und Natur die Geschwindigkeit ist, mit der wir leben, wirtschaften, produzieren, arbeiten, und mir scheint der entscheidende Ansatzpunkt zu sein, wie wir vor allem in unseren Gesellschaften das Leben, den Naturverbrauch reduzieren, also der ökologischen Wertschöpfung anpassen. Ich glaube, daß wir im Augenblick nur in der Lage sind, hierzu sozusagen alles zu tun, um in diese Richtung zu gehen, aber wir haben noch keine überzeugenden Antworten.Der zweite Punkt, der für mich dann zentral ist: Wie verteile ich den Weltreichtum so neu, daß sich die Spirale der sozialen Abhängigkeit, der Unterentwicklung, also von Armut, Not und Umweltzerstörung in den nächsten Jahrzehnten nicht wahnsinnig beschleunigt? Wir sehen beispielsweise, daß das Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt zu 90 % in den Ballungsgebieten stattfindet, wo heute die ökologischen Situationen schon katastrophal sind, und daher werde ich nicht daran vorbeikommen, auch in der Dritten Welt zu neuen Modellen der Entwicklung zu kommen, die meines Erachtens nur durchsetzbar sind, wenn wir das entwickeln, was de Maizière auch für das Verhältnis zwischen der DDR und Bundesrepublik genannt hat, nämlich daß Teilen die Voraussetzung der Überwindung der Teilung ist. Ich halte das auch im Verhältnis zur Dritten Welt für eine Schlüsselfrage.
Ich habe hier jetzt weniger zum Tropenwald-Bericht gesprochen, und ich bitte um Verständnis dafür, weil mich diese Frage sehr bewegt. Ich glaube, wir müssen auch über die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der globalen Umweltzerstörung nachdenken. Wir dürfen nicht wie bisher erst reagieren, wenn die Schäden eingetreten sind, wenn sie sichtbar sind, denn das Grundproblem von ökologischen Krisen ist, wir können sie nicht mehr reparieren, wenn wir die globale Skala erreicht haben. Das ist das Grundproblem.Ich meine, daß der Tropenwaldbericht eigentlich nur stellvertretend steht für die ungeheure Beschleunigung in den Wechselprozessen zwischen Ökonomie und Ökologie, vor allem in der Aufteilung der Welt zwischen Nord und Süd, und daß wir als Industrieländer, wenn wir diese Gefahren erkannt haben, die verdammte Pflicht und Schuldigkeit haben, darüber anders nachzudenken und andere Konsequenzen daraus zu ziehen, als das in der Vergangenheit der Fall war, ohne Vorwurf an die Vergangenheit, denn viele Lernprozesse waren Lernprozesse der letzten Jahre.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst sollte man eines feststellen: Bereits jetzt kann gesagt werden: Selten hat eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages so umfassend erfolgreich und herausragend gearbeitet wie diese Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmospähre".
Ich glaube, es ist richtig, wenn ich auch im Namen der Bundesregierung jetzt bereits den Mitgliedern der Enquete-Kommission und insbesondere dem Vorsitzenden der Kommission, dem Abgeordneten Schmidbauer, dafür danke, daß wir aus der Arbeit der Enquete -Kommission so umfassende Informationen und Hilfestellungen für unsere Arbeit gewinnen konnten.Es ist keine Frage: Bereits der erste Bericht, der sich mit der Ozonschicht beschäftigt hat, hat die Arbeit der Bundesregierung wesentlich mit vorangebracht. Er
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17347
Bundesminister Dr. Töpferhat die Informationen geliefert, die erforderlich waren, um wirklich beispielgebend weltweit den Ausstieg aus Fluorchlorkohlenwasserstoffen in der Bundesrepublik Deutschland zu entscheiden, und dies ist entschieden. Vor wenigen Wochen haben wir im Bundeskabinett die Verbotsverordnung verabschiedet. Sie liegt jetzt in Brüssel; wir gehen davon aus, daß sie auch in Brüssel akzeptiert wird, und wir werden 1995 diesen Ausstieg verwirklicht haben.Auch das sei dazu gesagt: ein Ausstieg, der nicht ein Einstieg in andere problematische Stoffe sein kann. Insofern ist die Interdependenz dieser Frage immer und immer wieder neu mit gestellt, und deswegen haben wir nicht nur mit Blick auf die sogenannten Montreal-Stoffe diesen schnellen Zeitplan, sondern wir haben als erste auch die teilhalogenierten Stoffe in diese Verordnung mit aufgenommen.Wir haben — was mir besonders wichtig erscheint — auch erreichen können, daß die beiden Produzenten in der Bundesrepublik Deutschland sich nicht nur verpflichten, ihre Produktion bis dahin zu beenden, sondern auch, keine Verlagerung innerhalb ihres Konzernbereichs nach außerhalb der Bundesrepublik Deutschland vorzunehmen.
Ich glaube, beides ist außerordentlich wichtig.
Wer hier sehr leichtfertig, vielleicht sehr publikumswirksam, Unternehmen und Unternehmer an den Prager stellt, muß wissen, daß dies in exaktem Gegensatz zu dem steht, was an Verantwortung dort übernommen worden ist. Lassen Sie mich das aus aktuellem Anlaß dazu gesagt haben.
Wir gehen in die kommende Woche mit der guten Hoffnung, daß dieses Tempo auch international mitgetragen wird. Die Folgekonferenz zum Montreal-Abkommen findet in der nächsten Woche in London statt. Wir sind der Hoffnung, daß der Zeitplan, den die Enquete-Kommission für Europa vorgegeben hat, nämlich 1997 auch hier auszusteigen, zumindest für Europa erreichbar wird und daß wir weltweit dieses Ziel zum Ende dieses Jahrzehnts erreichen.Lassen Sie mich dazu aber mit allem Nachdruck sagen: Dies ist weniger davon abhängig, wie schnell wir aussteigen, sondern hängt entscheidend davon ab, wie wir, die entwickelten Länder, bereit sind, finanzielle Mittel und Technologiemittel in die Hand zu nehmen, um anderen den Weg aus FCKW heraus zuermöglichen. Das ist die zentrale Frage der kommenden Woche. Dies muß gemeinsam beantwortet werden.Ich bin sehr froh, daß im Vorfeld dieser Konferenz die Vereinigten Staaten signalisiert haben, sich ebenfalls an einem solchen Fonds zu beteiligen, der durch die Weltbank zu verwalten ist und an dem die Teilnehmerstaaten des Protokolls mitwirken können. Die Perspektive für London sieht also gut aus.Ich glaube, die dritte Aufgabe der Enquete-Kommission, nämlich über die Frage von CO2 zu berichten, wird uns in unserer Arbeit in gleicher Weise unterstützen. Auch hier ist die Entscheidung der Bundesregierung klar. Wir müssen weniger CO2 emittieren, damit andere, die in ihrer Wirtschaftsstruktur heranwachsen, mehr Möglichkeiten haben, dies zu nutzen.Ich glaube, bereits hier ist diese internationale Solidarität gefragt. Von einer gerechten Arbeitsteilung oder Wohlstandsteilung kann so lange nicht gesprochen werden, wie 80 % der Energie von 20 % der Menschen dieser Welt genutzt werden. Hier muß zurückgestellt werden.Mein neuer brasilianischer Kollege Lutzenberger, ein hier durchaus bekannter engagierter Natur- und Umweltschützer, hat mir vor nicht allzu langer Zeit gesagt: Wenn eure Entwicklungspolitik so aussieht, daß die Armen arm und die Reichen reich bleiben, dann ist das eine Entwicklungspolitik, die wir nicht mitmachen können.
— Diese machen wir exakt nicht.
Deswegen möchte ich auf diesen Teilbereich der tropischen Regenwälder zu sprechen kommen. Dies ist ganz ohne jeden Zweifel eines der Themen, die wir aus der Bundesregierung und ganz konkret der Bundeskanzler persönlich in die internationale Diskussion eingeführt haben.
Es ist der Bundeskanzler gewesen, der, damals noch zur Überraschung vieler, auf dem Toronto-Wirtschaftsgipfel dieses Thema zur Sprache gebracht hat, und es ist der Bundeskanzler gewesen, der es bei der letzten Sitzung des Weltwirtschaftsgipfels in Paris bis zur Aufnahme in die Schlußfolgerungen hinein formuliert hat. Ich darf mit Genehmigung, Herr Präsident, zitieren. Dort steht:Wir setzen uns dafür ein, daß durch eine umweltgerechte Nutzung tropischer Wälder alle dort lebenden Arten sowie die traditionellen Rechte der dort lebenden Bevölkerung in bezug auf Land und andere Ressourcen geschützt werden. Wir begrüßen die deutsche Initiative in diesem Bereich, die Grundlage für Fortschritte darstellt.Das ist das einzige Mal, daß ein Teilnehmerstaat in der Schlußfolgerung zum Schutz der tropischen Regenwälder genannt wird. Dies ist das persönliche Anliegen des Bundeskanzlers, und dies ist in die internationale Arbeit so eingebunden worden.Deswegen bin ich ganz sicher, daß die wichtige erste Empfehlung der Enquete-Kommission, bereits jetzt beim nächsten Weltwirtschaftsgipfel in Houston, der ja in wenigen Wochen beginnt, auch eine Grundsatzentscheidung für ein solches Sofortprogramm zu bekommen, von der Bundesrepublik Deutschland vorangebracht wird. Ich halte das für eine der ersten wichtigen Aufgabenstellungen. Ich meine, daß wir diese Nachdrücklichkeit sicherlich auch mit Blick auf andere Instrumente mit Erfolg vertreten können.Ich teile die Meinung derer, die sagen: Schuldenerlaß für Naturerhaltung ist kein Allheilmittel. Aber fest steht auch, daß wir dieses Instrument bereits in besonderer Weise genutzt haben, daß wir an der Spitze derjenigen stehen, die dieses Instrument genutzt haben.17348 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bunn, Freitag, den 22. Juni 1990Bundesminister Dr. TöpferMit fast 9 Milliarden DM ist es bereits eingebracht worden.Ich weiß, daß insbesondere der Kollege Warnke die Weichen seiner Entwicklungspolitik seit längerer Zeit so gestellt hat, daß die Frage der Umweltverträglichkeit bei der Entscheidung über Projekte auch Priorität hat. Auch hier werden wir weiterhin beispielhaft vorangehen, damit diese gewaltige Aufgabe auch bewältigt werden kann.
Internationale Solidarität ist gefragt. Aber internationale Solidarität ist für uns noch nie ein Alibi dafür gewesen, daß wir zu Hause noch nichts gemacht haben. Deswegen ist es richtig, daß wir unsere Mittel für diesen Bereich — bei aller Notwendigkeit, den Fonds umzugestalten, weiterzuentwickeln — schon verdoppelt haben. Es ist richtig, daß wir dieses Signal gesetzt haben.Lassen sie mich abschließend nur wenige Worte zu dem sagen, was der Abgeordnete Müller, wie ich meine, an dieser Stelle zu Recht aufgegriffen hat. Denn wir haben es mit einer Situation zu tun, in der man wirklich auch einmal grundsätzlich etwas sagen muß. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir uns über Teilen unterhalten müssen. Allerdings muß dazu auch gesagt werden: Teilen kann offenbar nur der, der etwas hat, der etwas erwirtschaftet hat. Wenn nur Menschen zusammenkommen, die nichts zum Teilen haben, dann führt die Aufforderung zum Teilen nicht weiter.Deswegen müssen wir dazu beitragen, eine Industriekultur zu entwickeln, die in der Tat etwas zum Teilen erwirtschaftet, aber es nicht erwirtschaftet auf Kosten von Natur und Umwelt, auf Kosten kommender Generationen, auf Kosten der Menschen in der Dritten Welt. Vielmehr müssen wir dieses Wachstum gleichzeitig von der Inanspruchnahme von Umwelt, von Energie und Ressourcen entkoppeln.
Das ist unsere Aufgabe. Hier ist bei mir die Frage, Herr Abgeordneter Müller, ob wir so etwas durch Verzicht auf Technik oder durch eine in besonderer Weise provozierte Nutzung solcher Technik, die umweltverträglich eingebracht werden kann, erreichen können.
Hier lohnt es sich wirklich, weiterzudenken.
Ich bin ganz sicher, daß sich der Dialog mit dem Parlament, der in der Enquete-Kommission eine hervorragende Bestätigung gefunden hat, auch auf diesem Gebiet weiter bewährt. Wir werden uns, Herr Vorsitzender der Enquete-Kommission, auch bei der weiteren Begleitung der Arbeit bemühen, um am Schluß der Arbeit das Urteil hören zu können, daß wir durchgehend gut mitgewirkt haben.Ich danke sehr herzlich.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Bericht auf Drucksache 11/7220 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich habe Ihnen, bevor wir zum letzten Tagesordnungspunkt kommen, noch eine amtliche Mitteilung zu machen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz auf Drucksache 11/6946 soll nachträglich zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden.Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bittet ebenfalls um nachträgliche Überweisung zur Mitberatung des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/7322: Entwurf eines Energiegesetzes.Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 27 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe,Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNENAusstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC
zu dem Antrag der Abgeordneten Müller , Dr. Hauff, Schäfer (Offenburg), Duve, Bachmaier, Frau Blunck, Frau Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Frau Dr. Hartenstein, Jansen, Jung (Düsseldorf), Kiehm, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Lennartz, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller (Schweinfurt), Purps, Reimann, Reschke, Reuter, Schanz, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Dr. Sperling, Voigt (Frankfurt), Waltemathe, Weiermann, Frau Weyel, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDVorsorge gegen Schadensfälle in der chemischen Industriezu dem Antrag der Abgeordneten Frau Garbe, Dr. Daniels und der Fraktion DIE GRÜNENÄnderung der Störfall-Verordnungzu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Laufs, Dr. Lippold , Carstensen (Nordstrand), Fellner, Dr. Friedrich, Dr. Göhner, Harries, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch, Dr. Müller, Frau Rönsch (Wiesbaden), Schmidbauer, Schulhoff und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Bredehorn, Dr. Hirsch, Kleinert (Hannover), Frau Dr. Segall, Frau Seiler-Albring, Dr. Weng (Gerlingen), Frau Würfel, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDP
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990 17349
Vizepräsident WestphalVerbesserung der Gesundheits- und Umweltvorsorge im Chemikalienbereich— Drucksachen 11/3059, 11/714, 11/1037, 11/2348, 11/7184 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Lippold Müller (Düsseldorf)Frau Dr. SegallFrau GarbeMeine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Garbe.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Nach dem Willen der Koalitionsparteien soll vom Deutschen Bundestag offiziell bekundet werden: Es besteht kein politischer Handlungsbedarf, um die Umwelt- und Gesundheitsgefahren durch PVC und die Chlorchemie insgesamt zu verringern und zu beenden.
Verehrte Kollegen und Kolleginnen von den Koalitionsparteien, ein solches Unbedenklichkeitszertifikat kann nur ausstellen, wer unkundig ist und bleiben will und seinen Pakt mit der wirtschaftlich mächtigen Chemie längst geschlossen hat. Auf die Befähigung zum eigenen Urteil wird ganz offenbar verzichtet. Die Chemie sagt ja, wo es langgehen soll. Man habe sich lange genug mit PVC befaßt, und im übrigen gebe es ja genügend Literatur zu PVC: Das waren die Argumente im Umweltausschuß. Wir hielten diese ausführliche Auseinandersetzung mit PVC für notwendig, da die Beratungen zeigten, daß Sie weder die wahrlich umfangreiche Literatur noch die Ausführungen der Sachverständigen in der Anhörung zum Chemikaliengesetz zur Kenntnis genommen hatten.
Das Sündenregister von PVC ist lang, und Sie sollten es nicht länger leugnen. Ich nenne nur vier Beispiele von vielen:
Erstens. Bei der Herstellung gehen Gesundheits- und Umweltgefahren von nachweislich krebserzeugendem Vinylchlorid aus.
Zweitens. PVC ist die wichtigste Quelle für den möglicherweise krebserzeugenden Weichmacher DEHP, der — obwohl die Industrie ihn hartnäckig als gut abbaubar bezeichnet — 30 Jahre nach Beginn der industriellen PVC-Produktion weltweit so verbreitet wie DDT ist.
Drittens. Jeder PVC-Brand führt zur Bildung hochgiftiger Dioxine.
Viertens. Die Produktion von PVC ist eine der tragenden Säulen der Chlorchemie. Ihr haben wir die alarmierende Dioxinbelastung unserer Umwelt zuzuschreiben. Muttermilch enthält zum Teil so viele Dioxine, daß sie nicht mehr gehandelt werden dürfte.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, Sie haben sich — wie die Beschlußempfehlung zu unserem Antrag zeigt — der Auseinandersetzung um PVC entzogen. Sie haben nicht ein einziges Argument gefunden, um das PVC-Sündenregister zu entkräften und um zu belegen, daß kein Handlungsbedarf besteht.
Können Sie mir z. B. erklären, warum es ausreichen soll, PVC im Verpackungsbereich zu kennzeichnen, wie es Umweltminister Töpfer anstrebt, nicht aber in den restlichen zirka 85 % seiner Anwendungen? Können Sie mir weiter erklären, wie Sie durch mühevollen Aufbau eines Recycling-Systems speziell für PVC die Dioxinrisiken von PVC und Chlorchemie beenden wollen? Mit diesem Bemühen wird Zeit und Geld verschwendet, ohne daß etwas gegen die Ursachen der hohen Dioxineinträge zu erreichen wäre.
Mittlerweile wurde quasi offiziell die Notwendigkeit zum Handeln bestätigt: Umweltbundesamt und Bundesgesundheitsamt appellieren an die Industrie, umweltverträgliche Produkte und Produktionsverfahren als Alternative zur Chlorchemie einzusetzen. Der Einsatz von PVC wird ausdrücklich als vermeidbare Quelle für Dioxineinträge in die Umwelt angeführt.
Die KFA Jülich führte im Auftrag des BMFT eine Studie zu PVC durch. Den Inhalt der abschließenden Empfehlung werde ich Ihnen nachher noch mitteilen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, eine Studie, die im Auftrag der GRÜNEN 1987 durchgeführt wurde, hat gezeigt: Eine Substitution von PVC ist in kürzester Zeit umsetzbar. Nur in 5 % seiner Anwendungen ist PVC nach heutigem Kenntnisstand nicht umweltentlastend ersetzbar. Die Substitution von PVC ist allein eine Frage des politischen Willens.
Die Schweiz, Österreich und Dänemark haben die Substitution von PVC zum Ziel ihrer Umwelt- und Chemiepolitik gemacht; in Italien und Spanien regt sich zunehmender Widerstand gegen PVC. Mehr als 40 Kommunen verzichten bereits mit guten Erfahrungen auf PVC, und immer mehr Firmen verzichten unter ausdrücklichem Hinweis auf die Umweltrisiken auf PVC.
Meine Damen und Herren, der Ausstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC muß und wird kommen. Es ist die Aufgabe der Umweltpolitik, die Weichen für einen Ausstieg aus der Chlorchemie zu stellen. Ein wichtiger Teilschritt ist der Verzicht auf PVC, der übrigens auch im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Tagesordnungspunkt steht. Der Ausstieg aus der Chlorchemie ist auch im Hinblick auf den Klimaschutz und den Treibhauseffekt überlebenswichtig.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben hier zu mehreren Vorlagen zu reden. Wir müssen vorweg sagen, daß die Anträge, die zur StörfallVerordnung gestellt worden sind, durch die Entwicklung in der Bundesrepublik und durch die Politik der Bundesregierung überholt sind. Die Bundesregierung hat in diesem Bereich hervorragend gearbeitet und
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Dr. Lippold
auch Störfälle aufgegriffen, die in der Schweiz vorkamen; die Schweiz hat bis heute keine entsprechende gesetzgeberische Lösung vorgelegt. Wir haben darauf bereits reagiert, obgleich der Vorfall nicht in der Bundesrepublik passierte. Man kann der Bundesregierung zu diesem schnellen Handeln nur gratulieren. Deshalb sagen wir auch: Der Antrag ist aus unserer Sicht hinfällig und abzulehnen.
Das gleiche gilt für den Antrag der SPD betreffend vorsorgende Chemiepolitik. Auch hier ist deutlich zu machen, daß sich durch Störfall-Verordnung und die Novelle zum Chemikaliengesetz, die wir im letzten Herbst verabschiedet haben, der Handlungsbedarf erledigt hat. Daß wir insgesamt eine vorsorgende Politik betreiben, läßt sich im einzelnen nachweisen. Ich brauche nur die einzelnen Stufen des Gesetzes durchzugehen, um zu erkennen, was wir an mehr Sicherheit, an mehr vorausschauender Sicherheit und an mehr Vorsorge verankert haben und was wir — das halte ich für ganz wesentlich — insbesondere auch im Altstoffbereich getan haben, um zu mehr Sicherheit und Vorsorge zu kommen. Daß wir hier noch viel arbeiten müssen, daß wir das, was sich in Jahrzehnten aufgehäuft hat, nicht in kürzester Zeit abarbeiten können, ist, glaube ich, deutlich. Aber auch hier haben wir im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle. Wir werden um der Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik willen gut daran tun, diese Vorreiterrolle auch weiterhin auszubauen. Jedenfalls stehen wir mit der bisherigen Politik sicherlich auf der richtigen Seite. Das ließe sich im einzelnen — dazu haben wir leider nicht die Zeit — begründen.Ich darf jetzt noch kurz etwas zum Antrag der GRÜNEN zum PVC sagen: Frau Garbe ist heute wieder einmal die Begründung für das, was sie gesagt hat, schuldig geblieben.
Es sind im Antrag und dessen Begründung Behauptungen aufgestellt, die nicht stimmen.
PVC ist weder kanzerogen noch mutagen. Das Deutsche Krebsinstitut behauptet zu einem großen Teil der aufgestellten Behauptungen gerade das Gegenteil. —Jetzt war ich etwas unfair, Frau Kollegin, denn das ist nicht das, was ich gesagt habe, sondern das, was der Kollege Gautier aus der SPD-Fraktion im Wirtschaftsausschuß dazu gesagt hat. Ich sage das, um deutlich zu machen, daß wir, wenn wir differenziert argumentieren, das nicht nur als Union tun. Vielmehr kommen auch andere, die sich mit diesen Problemen wissenschaftlich exakt auseinandersetzen, wie Sie es bedauerlicherweise nicht tun, zu anderen, wesentlich differenzierteren Ergebnissen.
Den Ausführungen des Staatssekretärs von Wartenberg konnte man entnehmen, daß die von Ihnen aufgeworfenen Probleme mittlerweile nicht mehr auftreten, daß wir sie mittlerweile so eingebunden haben, daß sie beherrschbar sind und daß auch hier Sicherheit gegeben ist.
Für wichtig halte ich, daß in diesem Zusammenhang der Prozeß der stofflichen Verwertung vorangetrieben wird. Hierzu gibt es Ansätze; ich hoffe, daß sie ausgebaut und weiterentwickelt werden.
Ich finde aber auch gut, daß z. B. bei der Verbrennung der Salzkreislauf geschlossen wurde, Frau Kollegin. Jetzt müssen Sie eines hinzusagen: Wenn wir dieses System der Schließung des Salzkreislaufs bei der Verbrennung in Müllverbrennungsanlagen in der Bundesrepublik flächendeckend hätten, dann würden wir nicht nur die Salzsäure, die beim Verbrennen von PVC entsteht, herausholen, sondern gleichzeitig auch das HCl, das durch die üblichen vegetabilen Stoffe im Müll bereits ohnehin enthalten ist, sicher entsorgen können. Das heißt, wir würden hier sogar einen positiven Weg beschreiten können.
Ich werde mir erlauben, Ihnen, Frau Garbe, noch einmal zusätzliches Material zu geben,
obgleich ich aus der Vergangenheit weiß, daß Sie dann trotzdem immer mit den gleichen Formulierungen argumentieren, auch wenn Sie vorab sagen, Sie hätten es geprüft. Ich bedaure, daß Sie solchen Informationen leider nicht zugänglich sind. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dieses in der Zukunft anders halten würden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Es ist immer etwas schwierig, über sehr komplizierte und komplexe Themen im Parlament zu diskutieren. Chemie gehört zweifellos dazu. Ich glaube, wir sollten hier nicht so pauschal diskutieren und uns meines Erachtens nicht mit ungerechtfertigten Urteilen gegenüberstehen. Ich habe nämlich, Herr Dr. Lippold, ein interessantes Erlebnis gehabt.Wir haben nach den letzten Debatten über PVC sehr viele Gespräche mit Unternehmen, Betriebsräten etc. geführt. Wir haben in den Gesprächen die unterschiedlichen Problembereiche von PVC angesprochen und gefragt, wie sie dazu stehen, also beispielsweise zum Herstellungsrisiko, zum Risiko der
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Müller
Zusatzstoffe und der Weichmacher sowie zur Entsorgung.
— Ich will Ihnen das jetzt ja nur einmal schildern. Herr Dr. Lippold hört zwar nicht zu, aber das macht ja nichts. Das steht ja im Protokoll.Das Interessante war, daß jede Firma sagte: Das Problem gibt es; aber das ist nicht unser Problem, das ist das Problem einer anderen Firma. — Bei dieser anderen Firma wurde dann wiederum gesagt: Das Problem gibt es, aber wir haben wieder ganz andere Probleme.
— Ja, das will ich Ihnen nennen.Beispielsweise bei Hüls wurde sehr klar gesagt: Natürlich ist es ein Problem, daß wir bei den Weichmachern und Stabilisatoren bestimmte Entwicklungen haben, die sehr schwierig zu handhaben sind, etwa in bezug auf anschließende Entsorgung. Wir sprachen auch mit Wacker-Chemie. Dort wurde umgekehrt gesagt: Ein Hauptproblem ist natürlich noch immer, daß es bei der Verfahrenstechnik Schwierigkeiten gibt, daß man also häufiger wegen der Emissionen die Fabrikation für eine Zeitlang leer machen muß, weil das erst entdampfen muß. — Es war also hochinteressant.Ich will das niemandem vorwerfen. Ich behaupte nur, daß wir in diesen Bereichen vor allem die unterschiedlichen Aspekte einmal zusammenbringen und die Argumente wirklich auf ihre Glaubwürdigkeit und tatsächliche Tragfähigkeit ernsthaft prüfen müssen.Das Grundproblem — auch bei dieser PVC-Debatte — ist, daß wir mehr übereinander als miteinander reden. Das ist eines der Grundprobleme, gerade in der PVC-Debatte.
— Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen. Gut, das kann an mir liegen.
— Nein, ich spreche ja von den Produzenten und von denen, die vor allem außerhalb des Parlaments über Chlor und PVC reden. Ich sagte: Das war mein Eindruck bei den Gesprächen außerhalb.Es gibt auch andere Beispiele. Wir haben vor kurzem ein sehr interessantes Gespräch mit Umweltverbänden, der chlorherstellenden Industrie und Gewerkschaften geführt. Dort wurde sehr klar gesagt— interessanterweise ist heute die Industrie in der chemiepolitischen Diskussion häufig viel weiter als manche anderen Beteiligten — , daß man in der Chlorchemie — wenn man sich auf die Basis verständigt, daß es nicht um ein pauschales Ja oder Nein, sondern um eine systematische Aufarbeitung von Schwachstellen geht — doch einmal systematisch durchgehen sollte: Welche Probleme gibt es bei der Herstellung? Welche Probleme gibt es bei den Stoffen? Welche Probleme gibt es beim Produkt? Welche Probleme gibt es bei der Entsorgung?Ich bin sehr dafür, das einmal sehr systematisch aufzuarbeiten. Dazu sind wir im parlamentarischen Bereich bisher nicht gekommen, vielleicht werden wir auch nie dazu kommen können. Insofern sollten wir auf jeden Fall noch einmal darüber nachdenken, wie wir eine solche Aufarbeitung chemiepolitischer Probleme bewerkstelligen.Das Grundproblem scheint zu sein: Das Thema ist so komplex und so kompliziert, daß wir es bei unserer traditionellen Behandlung von Umweltthemen eigentlich nur dann in unseren Blick bekommen, wenn irgendwo etwas passiert ist. Das ist bei solchen Themen sicherlich nicht angebracht. Deshalb sollten wir uns über entsprechende Verfahren weiter unterhalten. Wir haben ja den Vorschlag gemacht, zu diesem Thema eine Art von Technikfolgenabschätzung vorzunehmen oder eine Enquete-Kommission einzurichten.
— Ich glaube schon, daß sie einsichtig genug sind und da mitmachen. Da bin ich guter Hoffnung. Warum sollte nicht auch die CDU lernen? Manchmal gibt es ja positive Beispiele dafür. Insofern wird das vielleicht auch hier möglich sein.Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen. Wir stimmen der Vorlage natürlich nicht zu, weil darin u. a. auch der Antrag zur Vorsorge gegen Schadensfälle in der chemischen Industrie abgelehnt wird. Ich halte das übrigens für falsch, weil ich glaube, daß wir auf Dauer dem Wirtschaftsstandort Bundesrepublik und der Industriepolitik und unserem Lande mehr helfen, wenn wir diese Themen unter Einbeziehung aller Interessen systematisch aufarbeiten, als wenn wir sie sozusagen durch Wegdrücken behandeln. Letzteres ist auf Dauer nicht hilfreich. Ich halte statt dessen einen anderen Weg für den richtigen und einem modernen Politikverständnis für angemessen. Ich bedaure, daß die Mehrheit des Parlaments dem nicht folgt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Meinen vorbereiteten Debattenbeitrag lasse ich einmal in der Schublade. Weil es schon spät ist, möchte ich nur noch ganz kurz die Beschlußlage des Umweltausschusses hier vorführen. Der Antrag der Fraktion der SPD betreffend Vorsorge gegen Schadensfälle in der chemischen Industrie sowie der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN betreffend Änderung der Störfall-Verordnung wurden dort mehrheitlich abgelehnt. Im Prinzip haben wir diesen gesamten Bereich aufgearbeitet, wie es Herr Lippold schon vorgeführt hat.Das hatte natürlich zur Folge, daß auch unser eigener Antrag betreffend Verbesserung der Gesundheits- und Umweltvorsorge im Chemikalienbereich in dem Augenblick, als es zur Beratung im Umweltaus-
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Frau Dr. Segallschuß kam, obsolet war und daher mehr oder weniger als erledigt betrachtet werden konnte.Dann bleibt im Prinzip nur noch der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN betreffend Ausstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC, den wir im Ausschuß ebenfalls mehrheitlich abgelehnt haben. Dazu müssen wir festhalten, daß, soweit ein Gefährdungspotential vorhanden ist, z. B. in der Produktion, längst geeignete Maßnahmen zur Vorsorge getroffen worden sind.Beim Problem des PVC im Müll gibt es zwei Möglichkeiten: zum einen die bessere Kennzeichnung, um beim Recycling die Stoffe besser herauszubekommen, und zum anderen die Müllverbrennung. — Ich hatte mir vorgenommen, in meinem Debattenbeitrag das Thema Dioxin, speziell auch das Thema Tetradioxin, anzusprechen.Man sollte der Allgemeinheit wirklich einmal sagen: was wir in geräucherten, gegrillten und gebratenen Lebensmitteln an Dioxinen zu uns nehmen, steht, verglichen mit dem, was wir z. B. in belasteten Ballungsgebieten von NRW an Dioxinen aufnehmen — bei jedem Prozeß entstehen Dioxine, nicht nur bei der Verbrennung von PVC — , in einem Verhältnis von 25 000:4 bis maximal 25 000:6.Wenn es uns jetzt noch gelingt — auch das hat Herr Lippold schon angedeutet — , bei der Müllverbrennung die übrigen Dioxine, die bei diesem Prozeß sowieso entstehen, herauszubekommen, dann haben wir mehr Fortschritte erreicht, als wenn wir uns hier lang und breit über PVC bei der Müllverbrennung unterhalten.
Ich danke Ihnen.
Ich weiß nicht, ob es zur Klärung beiträgt: Wir haben eben überlegt, was das Verhältnis von 25 000 : 4 für einen Ruhrgebietsbewohner bedeutet. Ist es richtig, zu sagen, daß das Essen einer Plastiktüte ungefährlicher ist, als im Ruhrgebiet spazierenzugehen?
Nein, umgekehrt: Mit Ihrer normalen Nahrung nehmen Sie 25 000 Einheiten Dioxin auf, während Sie im belasteten Ruhrgebiet nur vier bis sechs Einheiten durch die schlechte Luft einatmen.
Jetzt hat Herr Bundesminister Töpfer das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist richtig, daß hier mehrere Anträge zur Behandlung anstehen. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß die Anträge, die zurückgezogen worden sind, deswegen zurückgezogen werden konnten, weil die Bundesregierung gehandelt hat.
Wir haben, so wie am Anfang dieser Legislaturperiode angekündigt, einen klaren Handlungsplan zur Verminderung der Risiken aus der Chemie in Angriff genommen und Punkt für Punkt abgearbeitet. Dazu gehört als ganz wichtiger Teilbereich die Störfall-Verordnung, die neu erarbeitet und am 1. September 1988 in Kraft gesetzt worden ist, eine Störfall-Verordnung, die den meisten Bürgern glücklicherweise nicht bekannt ist. Denn es gibt immer folgendes Ärgernis bei vorsorgender Umweltpolitik: Wenn die vorsorgende Umweltpolitik Erfolg hat, hört niemand etwas davon; denn der Erfolg der Störfall-Verordnung besteht darin, daß Störfälle verhindert werden. Aber über den verhinderten Störfall wird ganz sicherlich niemand irgendwo berichten, sondern nur über den eingetretenen. — Wir haben die Störfallvorsorge vorangetrieben, und es ist gut, daß wir damit die Risiken wesentlich abgesenkt haben.Wir haben in diesem Hohen Hause die Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz verabschiedet, mit der dieses Gesetz zu einem allgemeinen Anlagensicherheitsgesetz ausgebaut wurde. Es ist ein neues Chemikaliengesetz verabschiedet worden, durch das, Herr Abgeordneter Müller, gerade die Risiken und die Wirkungen von Stoffen einer umfassenden Prüfung unterzogen werden. Es ist jetzt nach diesem Gesetz nicht nur zu fragen: Was sind die Wirkungen dieser Stoffe auf die menschliche Gesundheit?, sondern auch: Wie ist ihre Ökotoxizität, also ihre Wirkung auf die Umwelt? — Das ist eine ganz wichtige Frage. Wir sollten uns viel mehr Gedanken darüber machen, wie wir das, was hier ins Gesetz geschrieben worden ist, in der Praxis auch umsetzen können. Denn über die Wirkungen von Stoffen auf die menschliche Gesundheit haben wir vernünftige Informationen. Aber die Auswirkungen von Stoffen auf die Umwelt insgesamt zu erfassen ist außerordentlich schwierig. Wir brauchen mehr Ökotoxikologie — ein schlimmes Wort, aber eine wichtige Angelegenheit. Dies fehlt, aber die gesetzliche Basis ist schon vorhanden.Wir haben an vielen anderen Stellen ebenfalls gehandelt. Frau Abgeordnete Garbe, wer mit einiger Objektivität verfolgt, was in der Bundesrepublik Deutschland an Chemiepolitik — ich greife diesen Begriff einmal auf — betrieben wird und was anderwärts gemacht wird, der kann zu allen Urteilen kommen, nur nicht zu dem Urteil, daß wir den Vorgaben der Industrie an irgendeiner Stelle mehr Bedeutung zuweisen als den Anforderungen des Umweltschutzes.
Das muß ich nun wirklich mit größtem Nachdruck sagen.Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen. Die Bundesregierung hat PCP — Pentachlorphenol — 1987 verboten. Wir müssen diese Verordnung wie jede Stoffverbotsverordnung in Brüssel notifizieren. Sie ist nicht akzeptiert worden. Ganz im Gegen-
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Bundesminister Dr. Töpferteil: Vor wenigen Tagen hat die Europäische Kommission eine Richtlinie über PCP vorgelegt, in der sie kein Herstellverbot vorsieht, in der sie die industriellen Imprägnierungsverfahren für weiterhin zulässig erklärt und in der sie PCP mit Hexachlordibenzodioxin bis zu 4 ppm als möglich ansieht. —
Es tut mit leid, Herr Präsident, daß ich in einem so späten Abschnitt dieser Sitzung einen so schwierigen Bereich noch ansprechen muß. — Wir sind mit dem PCP-Verbot wesentlich nachhaltiger und konsequenter in der Vorsorge gewesen. Dann kann man doch — ich sage es noch einmal — bei einigermaßen objektiver Beurteilung nicht sagen, wir würden uns an irgendeiner Stelle unter das Diktat der Industrie stellen. Das Gegenteil ist der Fall: Dort, wo gesundheitliche Gefährdungen bestehen, wird entsprechend gehandelt. Deshalb haben wir auch im Zusammenhang mit PVC gehandelt und zwar dort, wo die Gefahr besteht, daß eine falsche Verwendung zu Risiken führt. Das ist der Abfallbereich. Deswegen kann ich nur unterstreichen, was Herr Abgeordneter Lippold gesagt hat: Hätten wir den Salzkreislauf wirklich überall geschlossen, wären wir ein Stück weiter.Meine große Sorge — auch im innerdeutschen Einigungsprozeß — ist gegenwärtig sehr viel stärker damit verbunden, Maßnahmen zu ergreifen, um Chlorproduktionen, wie es sie etwa in Buna oder Leuna gibt, möglichst schnell stillzulegen. Denn die damit verbundenen Belastungen der Umwelt sind ungleich größer als eine sachgerechte Produktion hier bei uns.
Das sind die Überlegungen, von denen wir ausgehen müssen.Wir sind ein gut Stück vorangekommen, und wir werden in der Analyse und der Überprüfung von Produkten unsere Aufgabe für die Zukunft haben. Aber das isolierte Herausnehmen einzelner Stoffe aus der Produktpalette führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern führt sicherlich zu Substitutionsvorgängen, die wir alle nicht wollen.Ich danke herzlich.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Mir liegt aber noch die Wortmeldung zur Geschäftsordnung der Frau Abgeordneten Garbe vor. Es geht um die Zurückverweisung der Vorlage auf Drucksache 11/3059.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Freundin Frau Segall! Gemäß § 82 Abs. 3 der Geschäftsordnung beantrage ich die Zurückverweisung der Vorlage zum Ausstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC, Drucksache 11/3059, an die betreffenden Ausschüsse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon in meiner Rede Gründe für die Zurückverweisung unseres Antrages genannt. Deshalb zur Untermauerung der Notwendigkeit nur noch folgendes: Die in den Ausschüssen geführten Beratungen zu dem Antrag der GRÜNEN auf Ausstieg aus der Produktion und Verwendung von PVC sind nach heutigem Kenntnisstand keine geeignete Grundlage für eine abschließende Lesung des Antrags. Nach Abschluß der Beratungen in den Ausschüssen im November 1989 wurden durch eine vom BMFT geförderte Studie der Kernforschungsanlage Jülich und durch die Auswertung der Dioxin-Anhörung des Bundesgesundheitsamtes im Januar 1990 weitere Fakten zur Umweltrelevanz des PVC sowie aus der Sicht der Bundesbehörden — ich betone das — und der Wissenschaftler der KFA Jülich für notwendig erachtete Maßnahmen zur Gefahrenminderung veröffentlicht.Während die Ausschüsses des Bundestages in ihren Beratungen bis zum November 1989 noch zu dem Ergebnis kommen, es gebe im Hinblick auf die Produktion und Verwendung von PVC keinen politischen Handlungsbedarf, kommt die KFA Jülich in ihrer Studie „Stoffströme und Emission durch Produktion, Verwendung und Entsorgung von PVC" im Dezember 1989 zu der abschließenden Empfehlung: Soweit die Substitutionsmöglichkeit gegeben ist, sollte die PVC-Produktion stufenweise reduziert werden.Dies gilt auch im Hinblick auf den Gemeinsamen Markt ab 1992. PVC-Folien und -Verpackungen sollten sofort vom Markt genommen werden.Bundesgesundheitsamt und Umweltbundesamt sprechen sich nach Auswertung der Dioxin-Anhörung in einer Pressemitteilung, im ersten Sachstandsbericht vom März 1990 für folgende Maßnahmen aus: Kennzeichnungsvorschriften für chlororganische Produkte, um Verbraucher und Verbraucherinnen in die Lage zu versetzen, durch gezielten Kauf und Verwendung anderer chlororganischer Produkte zur Verringerung der Dioxinbelastung beizutragen; Verwendungsverbot für brom- und chlorhaltige Kunststoffe in brandgefährdeten Anlagen auf der Grundlage von § 35 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes oder § 17 des Chemikaliengesetzes; Verwendungsverbot für chlorhaltige Stoffe bei der Spanplattenherstellung auf der Grundlage derselben Gesetze; Appell an die betroffene Industrie, Umweltbelastungen aus der Chlorchemie drastisch zu vermindern und auf weniger kritische Verfahrenstechniken und Produkte überzugehen. — PVC-haltige Verpackungen werden in diesem Zusammenhang ausdrücklich als vermeidbare Quelle für die Freisetzung von Dioxin genannt.
Angesichts dieser Sachlage erscheint es notwendig, die Beratung zu dem genannten Antrag unter Einbeziehung der genannten Unterlagen wieder aufzunehmen. Eine abschließende Lesung des Antrags ohne vorherige gewissenhafte Prüfung aller zugänglichen Unterlagen würde weiterhin zu Recht Zweifel an der Glaubwürdigkeit und am Verantwortungsbewußtsein des Parlaments nähren. Denn es wäre fürwahr reines Polittheater, sich hier und heute von den Empfehlungen des BGA und des Umweltbundesamtes zu distanzieren.
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17354 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 218. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Juni 1990
Frau GarbeIm Hinblick auf PVC und Chlorchemie sind weitreichende Entscheidungen zu fällen.Ich danke Ihnen.
Es ist — das wissen Sie alle — sowohl bei Erklärungen zur Abstimmung — das haben wir auch gestern abend wieder erlebt — als auch bei der Begründung von Geschäftsordnungsanträgen immer erst dann, nachdem man sie gehört hat, möglich, zu beurteilen: War es denn so etwas?
Hielt es sich im Rahmen der Geschäftsordnung? Ich denke, die fünf Minuten konnten wir noch dransetzen und zuhören.
Nun hat sich noch Herr Dr. Rüttgers zur Geschäftsordnung gemeldet.
— Sie sind ein Genießer.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich an den Hinweis des Präsidenten halten und wirklich nur zur Geschäftsordnung sprechen.
Es liegen hier drei Anträge aus vier Fraktionen vor, die im Ausschuß sehr ausführlich — sogar mit einer internen Anhörung — behandelt worden sind.
Verehrte Frau Kollegin, wie ich Ihnen soeben schon gesagt habe, steht es Ihrer Fraktion jederzeit frei, auf Grund neuer Informationen, die Sie vorlegen zu können glauben, einen neuen Antrag zu stellen. Diese Möglichkeit haben Sie.
Diese drei Anträge sind ausreichend beraten. Wir lehnen Ihren Antrag deshalb ab.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 11/3059 an den soeben genannten Ausschuß zurückzuverweisen. Wer stimmt für diese Zurückverweisung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag auf Zurückverweisung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/7184.
Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 1, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3059 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Ziffer 2 weiter, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/714 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt darüber hinaus unter Ziffer 3 der Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1037 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen worden.
Der Ausschuß empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung unter Ziffer 4, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/2348 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages — achten Sie auf das Datum — auf Dienstag, den 4. September 1990, 10 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen allen und Ihren Familien in den vor uns liegenden sitzungsfreien Wochen, daß Sie ungeachtet der weiter zu bewältigenden Probleme ein wenig Erholung finden.
Auch unseren Dank an die Mitarbeiter möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen. Ich wünsche uns allen ein gutes Wiedersehen.
Die Sitzung ist geschlossen.