Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, ich darf zunächst mit Glückwünschen zu Geburtstagen beginnen. Der Herr Abgeordnete Jung hat am 26. März 1988 seinen 60. Geburtstag gefeiert, der Abgeordnete Herkenrath am 8. April 1988 ebenfalls seinen 60. Geburtstag, und heute feiert der Abgeordnete Reimann seinen 60. Geburtstag. Ich darf den Kollegen die besten Wünsche des Hauses übermitteln.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
2. Aktuelle Stunde:Einstellung der Tiefflugübungen als Maßnahme zur Verringerung der Gefährdung der Bevölkerung3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Daniels (Regensburg), Weiss (München), Frau Rust, Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNEN:Baustopp für die Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf— Drucksachen 11/260, 11/2121 —4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNEN: Schutz des Grund- und Trinkwassers vor Pestiziden — Drucksache 11/2109 —4. Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Sechsunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksachen 11/10, 11/2106 —Zugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Ebenfalls ist interfraktionell vereinbart worden, Punkt 17 und Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung am Ende der heutigen Sitzung zu beraten.Einer Bitte des Ausschusses für Forschung und Technologie folgend wird interfraktionell vorgeschlagen, die drei Gesetzentwürfe zur Regelung der Arbeitszeit auf den Drucksachen 11/360, 11/1188 und 11/1617 zusätzlich dem Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung zu überweisen.Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung und mit der vorgeschlagenen zusätzlichen Ausschußüberweisung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, bevor ich Punkt 2 der Tagesordnung aufrufe, möchte ich doch auf einen Vorgang zu sprechen kommen, der uns in diesen Tagen bewegt. Seit mehr als einer Woche ist die Weltöffentlichkeit Zeuge eines verbrecherischen Aktes der Luftpiraterie. Die menschenverachtende Grausamkeit dieser Sonderform des Terrorismus wird wieder einmal in erschreckender Weise deutlich. Die zivilisierte Welt verurteilt solche Terrorakte auf das entschiedenste.Wir bangen mit den Geiseln, und wir schließen uns dem Appell des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar an die Entführer an, auf die Stimme der Vernunft zu hören und die Geiseln unverzüglich freizulassen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, dem Königreich der Niederlande und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Inspektionen in bezug auf den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beseitigung ihrer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite— Drucksache 11/2033 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß VerteidigungsausschußRechtsausschuß
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4738 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Präsident Dr. JenningerNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe keinen Widerspruch. — Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung legt dem Deutschen Bundestag den Entwurf eines Vertragsgesetzes vor, der eine eindrucksvolle Bestätigung ihrer auf Festigkeit und Verhandlungswillen gegründeten Sicherheitspolitik darstellt. Es war ein langer und es war auch ein schwerer Weg von jenem 12. Dezember 1979, an dem ich dem Deutschen Bundestag über den in Brüssel gefaßten NATO-Doppelbeschluß berichtete, bis zu dieser Vorlage an das Hohe Haus.Der Washingtoner Vertrag über die vollständige weltweite Beseitigung aller amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenflugkörper hat historische Tragweite. Er ist ein Erfolg unserer Sicherheitspolitik, der gemeinsam mit unseren Verbündeten in achtjähriger Anstrengung schwer errungen werden mußte. Festigkeit auf unserer Seite und neues Denken auf der Seite der Sowjetunion haben es möglich gemacht, daß das westliche Verhandlungsziel der weltweiten Beseitigung der Mittelstreckenraketen erreicht wurde. Das INF-Abkommen verpflichtet die Sowjetunion, 1 750 Mittelstreckensysteme mit über 3 000 atomaren Sprengköpfen, die USA, 867 Mittelstreckensysteme mit derselben Anzahl von atomaren Sprengköpfen zu beseitigen. Damit wird eine schwere, vorwiegend gegen Westeuropa gerichtete Bedrohung beseitigt. Das schafft mehr Sicherheit für Westeuropa; es reduziert vorhandene Risiken.Der INF-Vertrag markiert den Durchbruch von der Rüstungskontrolle hin zu wirklicher Abrüstung. An Stelle von Begrenzungen auf hohem Niveau der Rüstungen wird erstmals eine ganze Waffenkategorie beseitigt. Der Grundsatz asymmetrischer Reduzierung wird erstmals angewandt: Wer mehr Waffen hat, muß auch mehr abrüsten.Wegweisend ist auch das im INF-Vertrag verankerte stringente Verifikationsregime, verbunden mit einem umfangreichen Datenaustausch. Obligatorische Vor-Ort-Inspektionen in einem Umfang, wie der INF-Vertrag vorschreibt, wären noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Damit hat sich eine neue Einsicht durchgesetzt. Maßnahmen zur verläßlichen Überprüfung der Einhaltung von Vertragsverpflichtungen sind notwendig, und sie sind auch möglich.Verifikation schafft Vertrauen. Die im INF-Vertrag vorgesehenen Inspektionsmaßnahmen betreffen nicht nur amerikanisches und sowjetisches Territorium. Vorgesehen sind auch Inspektionen militärischer Einrichtungen der Vereinigten Staaten auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, Belgiens, Großbritanniens, Italiens und der Niederlande sowie sowjetischer Militäreinrichtungen in der DDR und der CSSR. Das zwischen den fünf westlichen Stationierungsländern und den USA geschlossene Stationierungsländer-Übereinkommen stellt sicher, daß die USA ihren Verifikationsverpflichtungen nachkommen können.Die im Vertragswerk vorgesehenen Vor-Ort-Inspektionen werden über einen Zeitraum von dreizehn Jahren nach Inkrafttreten des INF-Vertrages durchgeführt. Es geht um die Überprüfung der vereinbarten Ausgangsdaten, um Abschlußinspektionen von Einrichtungen, die nicht mehr für INF-Zwecke genutzt werden, sowie um kurzfristige Verdachtskontrollen.Durch das am 11. Dezember 1987 in Brüssel unterzeichnete Übereinkommen verpflichten sich die Stationierungsländer, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, damit sowjetische Inspektoren einreisen und fristgerecht die Inspektionen der amerikanischen Einrichtungen durchführen können. Den sowjetischen Inspektoren werden die im Anhang zum Übereinkommen aufgeführten Vorrechte und Immunitäten gewährt. Das Stationierungsländer-Übereinkommen wird durch parallele inhaltsgleiche Notenwechsel zwischen den Stationierungsländern einerseits und der Sowjetunion andererseits ergänzt werden.Der Gesetzentwurf zum StationierungsländerÜbereinkommen ist von der Bundesregierung als besonders eilbedürftig eingebracht worden, damit die Implementierung des INF-Vertrages in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar nach der Ratifizierung dieses Vertrages beginnen kann. Ich darf deshalb dem Deutschen Bundestag namens der Bundesregierung für die zügige Behandlung dieses Gesetzes danken.Herr Präsident, meine Damen und Herren, das INF-Abkommen muß zum Wegbereiter eines breit angelegten Abrüstungsprozesses werden. Wir wollen, wie im Harmel-Bericht des westlichen Bündnisses vorgesehen, eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa mit geeigneten Sicherheitsgarantien schaffen. Gesicherte Verteidigungsfähigkeit, gestützt auf die enge Verbindung zwischen dem starken Westeuropa und den nordamerikanischen Verbündeten, und Rüstungskontrolle und Abrüstung bleiben die unabdingbare Grundlage unserer Sicherheitspolitik. Dialog und Kooperation müssen an die Stelle von Konfrontation treten.Abrüstung und Rüstungskontrolle sind integraler Bestandteil der westlichen Sicherheitspolitik. Abrüstung und Sicherheit sind keine Gegensätze. Falsch ist die Auffassung, wonach Sicherheit allein durch Rüstung geschaffen werden kann.Was vor 20 Jahren im Harmel-Bericht als richtig erkannt wurde, nämlich Sicherheit auch durch Abrüstung und Rüstungskontrolle zu verwirklichen, hat heute angesichts einer entscheidend verbesserten politischen Ausgangslage eine unvergleichlich höhere Verbindlichkeit.Das Konzept des Nordatlantischen Bündnisses für Rüstungskontrolle und Abrüstung, das im Juni 1987 auf der NATO-Ministertagung in Reykjavik beschlossen und beim NATO-Gipfel am 3. März 1988 bekräftigt wurde, muß nunmehr konsequent umgesetzt werden. Im nuklearen Bereich hat die Absicht der USA und der Sowjetunion, ein Abkommen über eine 50 %ige Reduzierung ihrer nuklearstrategischen Offensivpotentiale zu schließen, unsere volle Unterstützung.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4739
Bundesminister GenscherDie strategischen Nuklearwaffen der Sowjetunion haben Bedeutung nicht nur für die USA, sondern auch für Westeuropa. Der baldige Abschluß eines angemessenen, verifizierbaren Abkommens zur weltweiten Ächtung chemischer Waffen hat für die Bundesregierung hohe Priorität. Es würde eine schwere Bedrohung von Europa nehmen und der Ausbreitung dieser abscheulichen Waffen überall in der Welt die Grundlage entziehen.
Die Proliferationsgefahr für chemische Waffen liegt nicht in Europa; sie liegt in anderen Teilen der Welt. Auch das spricht neben den noch größeren Verifikationsproblemen gegen regionale, auf Europa oder gar Mitteleuropa beschränkte Regelungen.
Wir werden uns mit aller Kraft dafür einsetzen, daß die verbleibenden Hindernisse auf dem Weg zu einem weltweiten Verbot chemischer Waffen noch in diesem Jahr überwunden werden.
Mit der Erklärung des NATO-Gipfels zur konventionellen Stabilität wird ein besonders wichtiges Ziel der westlichen Sicherheitspolitik definiert. Die Herstellung konventioneller Stabilität auf niedrigem Niveau der Rüstungen ist das zentrale Problem der Sicherheit auf diesem Kontinent.Für die Bundesrepublik Deutschland ist die Beseitigung der bestehenden Ungleichgewichte und die Herstellung konventioneller Stabilität ein elementares sicherheitspolitisches Anliegen. Wir tragen die Hauptlast der konventionellen Verteidigung im Bündnis. Die Verlängerung der Wehrpflicht zeigt, daß wir uns dieser Verantwortung in vollem Umfang stellen. Wir wissen, daß auch ein nur mit konventionellen Waffen geführter Krieg für Europa und für uns eine existentielle Gefahr wäre.
Die schnelle Aufnahme der Verhandlungen über die konventionelle Rüstungskontrolle liegt im elementaren europäischen Sicherheitsinteresse.Bei diesen Verhandlungen geht es nicht nur um den Abbau vorhandener Übergewichte. Es gilt, einen Zustand herbeizuführen, bei dem die Streitkräfte beider Seiten am Mindesterfordernis für Verteidigung ausgerichtet sind, wie das für den Westen heute schon gilt. Die Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zu raumgreifender Offensive muß beseitigt werden.
Unser Verhandlungskonzept zur konventionellen Abrüstung will mehr als Kriegsverhinderung durch Abschreckung. Es will die Fähigkeit zur konventionellen Kriegsführung beseitigen.
Wir wollen damit eine neue, eine höhere Qualität derSicherheit schaffen. Das ist mehr als Gleichgewicht.Es verlangt über Gleichgewicht und Abschreckunghinaus qualitativ neue Strukturen der Kriegsverhinderung. Dazu bedarf es auch neuer Formen der Zusammenarbeit.Die Verhandlungen könnten durch einen aussagefähigen Informationsaustausch über militärische Potentiale erleichtert werden. Jüngste Erklärungen des Warschauer Pakts in diese Richtung sind ermutigend. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck für einen zügigen Abschluß der Wiener Mandatsverhandlungen ein, damit Verhandlungen über konventionelle Stabilität noch in diesem Jahr beginnen können.Bei den amerikanischen und sowjetischen Nuklearraketen kurzer Reichweite hat der NATO-Gipfel das in Reykjavik festgelegte Abrüstungsziel bestätigt: deutliche und überprüfbare Reduzierungen auf gleiche Obergrenzen. Auch hier muß es unser Ziel sein, sowjetische Überlegenheit durch Verhandlungen zu beseitigen.Das Bündnis hat immer wieder bekräftigt, daß für die absehbare Zeit das unverrückbare Ziel der Kriegsverhinderung durch Abschreckung eine geeignete Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte erfordert. Art und Umfang dieser Streitkräfte können sich immer nur nach den objektiven Erfordernissen westlicher Sicherheit bestimmen. Jede Entscheidung darüber setzt eine gründliche Analyse der Bedrohung der Ziele und der realistischen Perspektiven der Rüstungskontrolle und Abrüstung, der Entwicklung des Kräfteverhältnisses sowie der politischen Lage voraus. Unter Einbeziehung dieser Faktoren und Perspektiven wird das Bündnis ein Gesamtkonzept erarbeiten. Es wäre deshalb falsch, über einzelne Waffensysteme jetzt vorgezogene Entscheidungen treffen zu wollen.
Einzelne Waffensysteme dürfen keine eigene, sachfremde Dynamik entwickeln.
Es wäre genauso falsch, eine Debatte darüber zur Unzeit zu führen.Auch in Zukunft muß gelten: Nukleare Waffen dienen im Verständnis des westlichen Bündnisses der Kriegsverhinderung. Sie haben damit eine politische Funktion. Eine Verwischung der qualitativen Grenzen zwischen atomaren und konventionellen Waffen eröffnet den abschüssigen Weg in Kriegsführungsszenarien und damit in die Führbarkeit von Kriegen. Die Strategie der flexiblen Erwiderung soll die Option zum Zweck der Kriegsverhinderung ausweiten. Ein bequemer Ersatz für die Herstellung konventioneller Stabilität sind sie dagegen nicht.Im nuklearen Zeitalter sind Strategien so anzulegen, daß sie einen wechselseitigen politischen Zwang bewirken, militärische Auseinandersetzungen nicht entstehen zu lassen, Konflikte nur noch auf dem Verhandlungsweg zu lösen und von der Konfrontation allmählich, aber unaufhaltsam zur Zusammenarbeit zu gehen. Eine zukunftsorientierte Sicherheitspolitik darf sich nicht darin erschöpfen, Kriege weniger
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4740 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bundesminister Genscherschrecklich zu machen. Sie muß sie unführbar machen.
Wir müssen unter den Bedingungen des nuklearen Zeitalters Zusammenarbeit zur Sicherung des Friedens ermöglichen, d. h. kooperative Sicherheitspolitik verwirklichen. Auf dem dafür notwendigen, gewiß schwierigen und langwierigen Weg wird folgendes verlangt.Erstens: Abrüstungsschritte, die Überlegenheiten abbauen und Gleichheit auf einem niedrigen Niveau in allen Bereichen des militärischen Kräfteverhältnisses herstellen. Beim Verzicht auf Überlegenheit und bei der Bereitschaft zur Rüstungskontrolle darf es keine Ausnahmen geben, damit jeder Krieg mit Waffen jeder Art künftig ausgeschlossen wird.
Zweitens: Qualitative Veränderungen der Struktur von Streitkräften. Auf keiner Seite darf die Fähigkeit zur Invasion gegeben sein.Drittens. Wirksame Mechanismen eines weltweiten politischen Krisenmanagements werden gebraucht.Viertens. Die Weiterentwicklung und Verdichtung des Netzes von vertrauensbildenden Maßnahmen ist dringlich.Fünftens. Der Abbau von Feindbildern und die Förderung der Friedensgesinnung zur Achtung des anderen ist ein wichtiger Bestandteil der Vertrauensbildung zwischen den Völkern. Das erfordert die Öffnung der Gesellschaften, die Verwirklichung der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und die Verwirklichung aller Zusagen, die die Unterzeichnerstaaten der Schlußakte von Helsinki gegeben haben. Die Verwirklichung der Menschenrechte und die Erweiterung der menschlichen Kontakte sind wichtige Bausteine für neues Vertrauen zwischen West und Ost.
Sechstens. Die Verbreiterung und Vertiefung der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen in allen Bereichen dient der Vertrauensbildung und den beiderseitigen Interessen. Wir müssen in unserer interdependenten Welt gegenseitige Abhängigkeiten im guten Sinne schaffen und auf diese Weise den Weg der gleichberechtigten Zusammenarbeit unumkehrbar machen.
Meine Damen und Herren, mit der Bereitschaft der Weltmächte zu einem grundlegenden Wandel des West-Ost-Verhältnisses wächst auch die Verantwortung der Europäer, die Beziehungen zwischen den Staaten in West und Ost konstruktiv zu gestalten. Der KSZE-Prozeß ist der Rahmen, in dem die europäischen Staaten ihr Gewicht in besonderer Weise zur Geltung bringen können. Die Gegensätze und das Trennende in Europa als Ganzes müssen Schritt für Schritt überwunden werden. Die Bundesregierung wird mit diesem Ziel zusammen mit ihren Partnern aus der Europäischen Gemeinschaft ihre Politik des Dialogs, der Zusammenarbeit und der Abrüstung auf der Grundlage der durch das westliche Bündnis geschaffenen Sicherheit konsequent fortsetzen. Der heute vorgelegte Vertrag ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Wege.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Voigt .
Herr Bundesaußenminister, vielen Dank für die Rede. Sie ist Ausdruck einer veränderten Lage, in der im Bundestag alle Parteien einen Konsens über ein Gesetz haben, das einen Sachverhalt regelt, der lange Zeit nicht nur den Deutschen Bundestag, sondern auch unser Volk tief gespalten hat. Ich halte dies für so bemerkenswert, daß ich es an den Anfang meiner Ausführungen stellen möchte, denn ein solcher Konsens ist nicht selbstverständlich.Natürlich ist es so, daß die Motive, die uns zu diesem gemeinsamen Ergebnis bringen, nicht überall dekkungsgleich sind. Es bleiben auch Unterschiede. Ich hoffe aber, daß wir auch in der Lage sein werden, den Streit über die Frage der nuklearen Kurzstreckenwaffen, der möglicherweise unvermeidbar ist, in einer Art und Weise zu führen, die nicht wieder die alten Gräben in der alten Form aufreißt, nachdem wir jetzt bei der Zustimmung zu diesem Vertragswerk eine Übereinstimmung gefunden haben. Ich hoffe darüber hinaus, daß die Bundesregierung und die Regierungskoalition durch ihr Verhalten dazu beitragen, daß uns eine neue Diskussion, eine neue Auseinandersetzung über eine neue Nachrüstung im Bereich der nuklearen Kurzstreckenraketen erspart bleibt.
Wir werden uns auch in den kommenden Jahren dort, wo es möglich ist, um Gemeinsamkeiten bemühen. Dort, wo wir anderer Meinung sind — wie z. B. bei der Frage der dritten Null-Lösung bei nuklearen Kurzstreckenraketen —, werden wir mit Argumenten für unsere Auffassung werben. Aber wir brauchen dabei keine Feindbilder, und zwar auch nicht gegenüber der Regierung und auch nicht gegenüber der Regierungskoalition.
Ich möchte das auch am Beginn der heutigen Debatte sagen: Uns ist nicht daran gelegen, daß Feindbilder, die in den vergangenen Jahren manchmal wechselseitig aufgebaut worden sind, bei den neuen Themen, die uns künftig möglicherweise wieder trennen, erneut gepflegt werden.Deshalb noch ein letztes Wort dazu. Wir alle miteinander haben im Laufe dieser langjährigen Debatte seit 1979 dazugelernt. Wir haben das, was heute als Verhandlungsergebnis hier vorliegt, nicht voraussehen können. Auch ich habe es nicht voraussehen können. Ich bin dafür gewesen, aber ich habe es nicht immer vorausgesehen und manchmal an ihm gezweifelt. Deshalb wäre es überhaupt kein Zeichen der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4741
Voigt
Schwäche, sondern ein Zeichen der Stärke, wenn wir offen zueinander sagten: Wir alle sind in diesen Jahren seit 1979 nicht von Fehleinschätzungen frei gewesen. Das gilt für Sie als Regierungskoalition, für uns als Sozialdemokraten und selbstverständlich auch für die GRÜNEN, obwohl sie erst seit 1983 im Parlament sind.Nun zu dem anstehenden Vertragsentwurf im einzelnen. Ich teile die Auffassung des Bundesaußenministers, daß dies ein Meilenstein ist, und zwar nicht nur als Vertragswerk insgesamt, sondern auch mit den darin vorgesehenen Verifikationsbestimmungen insbesondere. Diese Bestimmungen zeigen, daß eine Einigung auch über Probleme der Verifikation möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Dieser Wille war hier vorhanden. Dieser Wille scheint beim Start-Abkommen vorhanden zu sein. Dieser Wille scheint nicht in bezug auf die chemischen Waffen in ausreichendem Maße vorhanden zu sein. Deshalb ist die Frage, daß es bisher noch nicht zu einer Einigung über eine weltweite Ächtung chemischer Waffen gekommen ist, nicht nur eine Frage von Verifikationsproblemen, sondern auch eine Frage von mangelndem Willen — und dies zur Zeit leider nicht vorwiegend auf der östlichen Seite. Aus diesem Grunde glaube ich, daß wir Ihnen mit unseren Vorschlägen für eine chemiewaffenfreie Zone noch eine Chance geben, Druck in Richtung auf eine weltweite Ächtung chemischer Waffen zu machen, und daß wir Ihnen eine Option eröffnen, falls sich westliche Verhandlungspartner gegen eine weltweite Ächtung chemischer Waffen weiterhin sperren, dennoch auf eine regionale Lösung zurückzugreifen. Wir wären auch doch alle froh, wenn wir heute eine solche verifizierbare regionale Lösung z. B. im Iran und Irak besäßen.Es handelt sich bei dem Vertrag um einen bilateralen Abrüstungsvertrag mit beidseitiger Verifikation, aber auch auf unserem Territorium. Diese Regelungen haben Vorbildcharakter in bezug auf Verifikationsmöglichkeiten bei einem Vertrag über die Abrüstung der Kurzstreckenraketen.Es gibt dabei aber auch Probleme. Wir bejahen die vereinbarte Verifikation, wir unterstützen die doppelte Null-Lösung, aber man muß ganz deutlich sagen: Die vereinbarte bilaterale Verifikation der beiden Weltmächte auf unseren Territorien kann nicht Vorbild für alle anderen künftigen Rüstungskontrollverhandlungen sein. Bei künftigen Rüstungskontrollverhandlungen müssen die europäischen Staaten in Ost und West bei der Verifikation auf ihren Territorien gleichberechtigt beteiligt werden. Wer Inspektionen auf seinem Territorium gestattet — das gilt z. B. für die Inspektionen der USA in Osteuropa und für die Inspektionen der Sowjetunion auf unserem Territorium — , der hat auch einen Anspruch auf Daten, die die Amerikaner durch ihre Verifikationsmaßnahmen erwerben. Deshalb bitte ich die Bundesregierung, dieses Vertragswerk auch zum Anlaß zu nehmen, von den Amerikanern eine bessere Information über ihre Aufklärung, die sie mit nationalen technischen Mitteln, etwa mit Satelliten, betreiben, zu verlangen.Und noch etwas: Die bisherigen Erfahrungen mit unseren Verbündeten zeigen, daß der Zugang zu ihren Verifikationsergebnissen nicht immer ausreichend ist. Deshalb bedarf es eines eigenen europäischen Aufklärungssatelliten, der uns von den Informationen der Amerikaner nicht völlig unabhängig, aber doch unabhängiger als bisher macht.
Das gilt einerseits für uns Westeuropäer im westlichen Bündnis; das gilt andererseits auch für den KSZE-Prozeß als gesamteuropäischen Prozeß.In der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR genießen die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mit ihren militärischen Vertretern eine besondere Bewegungsfreiheit. Ich meine, daß es jetzt, über 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, an der Zeit ist, daß wir Regelungen vereinbaren, durch die die beiden deutschen Staaten mit ihren militärischen Vertretern in dem jeweils anderen Staat die gleiche Bewegungsfreiheit genießen wie die vier ehemaligen Alliierten.
Ich glaube, daß dieser Schritt zur Verifikation mit deutscher Beteiligung, also der Schritt von den vier im Jeep zu den sechs im Jeep, überfällig ist und daß er auch ein Schritt nicht nur zur Verifikationserleichterung, sondern auch zur deutschen Gleichberechtigung ist.Mit dem gleichen Ziel sollten wir prüfen, ob nicht die bisherigen besonderen Rechte der Alliierten in bezug auf die Verifikation der grenznahen Lufträume in der Weise demokratisiert und umgestaltet werden können, daß die beiden deutschen Staaten an ihnen gleichberechtigt teilhaben.
Soweit zur Frage der Verifikation.
Nun noch zu den Themen, die uns möglicherweise im Anschluß an den Konsens in dieser heutigen Debatte erneut trennen könnten. Ich meine damit zunächst das Thema der nuklearen Kurzstreckenraketen. Die Bundesregierung hat gesagt, daß sie eine Gesamtkonzeption der NATO fordert. Dafür bin ich auch. Das besagt aber auch, daß diese Konzeption bisher nicht existiert. Das ist wohl in der NATO insgesamt so, aber, wie ich befürchte, leider in der Bundesregierung insbesondere der Fall. Ich hoffe, daß Bundeskanzler Kohl diese Forderung nach einer Gesamtkonzeption nicht nur erhoben hat, um Zeit zu gewinnen oder um taktische Kompromisse im westlichen Bündnis zu ermöglichen. Ich hoffe, daß er in der Sache eine neue Gesamtkonzeption will. Wenn er aber dem Ziel „Gesamtkonzeption" näherkommen will, bedeutet das, daß er jetzt seine Meinung äußern muß, damit er den deutschen Standpunkt und die deutschen Interessen in dieser Debatte im Bündnis auch zur Geltung bringen kann.Das heißt, die Forderung nach einem Gesamtkonzept der NATO erspart nicht die frühzeitige Definition der deutschen Interessen und des Standpunkts der Regierung in dieser Debatte. Schon aus diesem Grund ist — sogar unabhängig von dem amerikanischen Entscheidungsprozeß über Modernisierung und Beschaffung — eine Stellungnahme der Bundesregierung, ob sie nun für oder gegen die Modernisierung bei den
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4742 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Voigt
nuklearen Kurzstreckenraketen ist, jetzt unvermeidbar. Sie ist jetzt erforderlich, nicht erst 1995.Ich glaube, daß eine der Schwächen in dieser Debatte darin liegt — das wurde ja auch in den vergangenen Jahren sichtbar —, daß die sicherheitspolitische Diskussion bei uns an einem Zuviel an Angst und einem Zuwenig an konzeptioneller Klarheit leidet.
— Nein. Ich glaube, Herr Lamers, daß in Ihrer Frage ob man die Kurzstreckenraketen modernisieren soll, in gewisser Weise ein Mißtrauen — ich habe das schon mehrfach thematisiert — gegenüber der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Verpflichtung zur Verteidigung Westeuropas zum Ausdruck kommt. Ich persönlich — ich glaube, die Mehrheit der SPD — hält die amerikanische Garantie für Westeuropa auch dann für glaubwürdig, wenn es keine einzigen landgestützten Nuklearwaffen in Ost und West in Europa gibt.Daß Sie die Modernisierung fordern, hat zwei Gründe: erstens, weil Sie der amerikanischen Sicherheitsverpflichtung mißtrauen, und zweitens, weil Ihre Einschätzung der Sowjetunion so sehr von der falschen Vermutung einer hohen militärischen Risikobereitschaft der Sowjetunion geprägt ist, daß Sie die Abschreckung bei uns landstationiert für erforderlich halten, um die Sowjetunion abzuschrecken.
— Dann können Sie nachher in der Debatte darauf eingehen.Ich glaube, daß die Option auf landgestützte Kurzstreckenraketen sicherheitspolitisch nicht erforderlich ist und abrüstungspolitisch eine dritte und sogar eine vierte Null-Lösung bei nuklearen Gefechtsfeldwaffen begrüßenswert sind.Ich frage mich, ob dabei nicht auch Ihr Begriff der Entnuklearisierung völlig neben der Sache liegt. Denn sogar wenn es keine landgestützten Nuklearwaffen in Europa gäbe, wäre Europa nicht entnuklearisiert; es gibt ja noch die zahlreichen Interkontinentalsysteme, es gibt die seegestützten Systeme, es gibt die luftgestützten Systeme.Um das ganz deutlich zu sagen: Wir Deutsche verfügen darüber, ob bei uns Nuklearwaffen stationiert werden, aber wir verfügen nicht über das Ende der nuklearen Abschreckung — darüber verfügen die Nuklearmächte allein. Die Frage ist eigentlich, ob wir Optionen auf landgestützte Raketen bei uns brauchen; die Frage ist nicht, ob wir zur Zeit über ein Ende der nuklearen Abschreckung oder über eine Entnuklearisierung Europas entscheiden sollten. Diese Frage stellt sich gar nicht. Insofern sind Ihre Befürchtungen, daß es zu einer Entnuklearisierung kommt, völlig überzogen. Aber auch die Hoffnung der Friedensbewegung auf eine dritte und vierte Null-Lösung wären überzogen, wenn sie hoffen sollte, daß dies eine Entnuklearisierung Europas oder ein Ende der nuklearen Abschreckung bedeuten würde.Es geht in Wirklichkeit auf absehbare Zeit um die Frage der Ausgestaltung der nuklearen Abschreckung: ob man die nukleare Abschreckung imSinne einer Minimalabschreckung schrittweise reformieren will. Es geht noch lange nicht um das Ende der nuklearen Abschreckung. Wir glauben, daß man diese Reform versuchen sollte, daß sie unseren Interessen dient. Übrigens, wenn ich die Worte von Bundesaußenminister Genscher „die Abschreckung repolitisieren, Nuklearwaffen als politische Waffen" richtig gehört habe, so haben sie eigentlich den Sinn, daß man immer selektivere und flexiblere Optionen schrittweise zurückdrängt, also einen technisch möglichen Prozeß der immer größeren Verfeinerung von Nuklearoptionen aus politischen Gründen durch Verhandlungen zwischen Ost und West und einseitige Entscheidungen der NATO allmählich zurückdrängt. Wir sind dafür. Das ist eigentlich die Entscheidung, die in den nächsten Jahren ansteht, nicht mehr und nicht weniger. Es geht darum, einen Trend innerhalb der NATO-Doktrin, der mit der „flexiblen Antwort" eingeleitet worden ist und sich immer weiter fortgesetzt hat, umzukehren.
Es geht um eine Überwindung oder zumindest eine Reform der flexiblen Reaktion.Das ist die Diskussion, die wir in den nächsten Jahren im Zusammenhang mit der Frage der nuklearen Kurzstreckenraketen führen müssen. Wir sollten sie nicht mit dem Schreckgespenst Entnuklearisierung führen, wir sollten sie auch nicht mit dem Schreckgespenst Singularität führen, wir sollten sie auch nicht mit dem Schreckgespenst von Fire-breaks führen, wie es der eine oder andere von der CDU aus Großbritannien mitgenommen hat, sondern wir sollten sie führen im Sinne der deutschen Möglichkeiten und der deutschen Interessen an einer Reform der NATO-Strategie. Dies gilt insbesondere für den Nuklearbereich. Es gilt natürlich — da stimme ich mit Ihnen, Herr Bundesaußenminister, völlig überein - auch für den Bereich der konventionellen Strategien, bei denen wir wie Sie daran interessiert sind — da sehe ich auch Möglichkeiten der Übereinstimmung — , die konventionellen Strategien so umzugestalten, daß unsere defensiven Absichten noch deutlicher als bisher werden und daß die defensiven Erklärungen des Warschauer Vertrages einen Niederschlag in einer Veränderung ihrer bisher offensiven Militärstrategie finden, die die Sowjetunion nach wie vor hat. Wenn diese Änderungen auf beiden Seiten möglich sind, dann sind wir einen Schritt in Richtung auf die europäische Friedensordnung weiter gekommen, die Sie befürworten und die wir alle gemeinsam erreichen wollen.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Voigt, das war eine bemerkenswerte Rede,
weil sie ein bemerkenswerter Versuch war, aus Ihrenbitteren Erfahrungen mit der Nachrüstung wirklich zu
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4743
Lamerslernen. Aber ich will vorweg sagen, daß es kein Beitrag zu einer Versachlichung der uns bevorstehenden Debatte ist, wenn Sie jetzt von „Nachrüstung" reden. Eine Nachrüstung steht nicht zur Debatte. Das ist wieder ein Begriff, der geeignet ist, Emotionen zu wekken.Ich will auf das, was Sie vorgetragen haben, gleich eingehen. Bei vielem, was Sie gesagt haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie nicht in unsere Richtung gesprochen haben, sondern in Ihre Richtung. Dort war es auch notwendig.Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem INF-Begleitabkommen natürlich zu. Er ist ja Teil eines Vertragswerks, zu dessen Zustandekommen die Bundesregierung und unsere Koalition einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet haben.
Für diese Leistung der Bundesregierung auch heute, da wir, das Parlament, in eigener gesetzgeberischer Zuständigkeit zu dem Vertrag Stellung zu nehmen haben, noch einmal zu danken, besteht aller Anlaß.Wir stimmen dem Gesetzentwurf um so bereitwilliger zu, als er Teil des umfassenden Verifikationssystems ist. Die Verifikation ist das in unseren Augen vielleicht Bedeutendste in dem Abkommen. Es ist jedenfalls etwas wirklich Neues im Ost-West-Abrüstungsdialog. Diese Regelung ist Ausdruck nicht nur eines neuen Denkens, sondern sie ist in der Tat auch der Ausdruck neuen Handelns, widerspricht sie doch der ganzen sowjetischen, ja russischen Tradition exzessiver Geheimhaltung und Geheimniskrämerei.Mag man auch in einem engeren militärischen Sinne von Sicherheit in dem Abkommen den einen oder anderen Optionsverlust als nicht unproblematisch ansehen, so bedeutet doch gerade die durch die umfassende Kontrolle erwachsende Mehrung des Vertrauens eine Mehrung auch an Sicherheit. Vertrauen aber ist für alle künftigen Themata der Abrüstung noch wichtiger, weil sie alle ungleich komplizierter sind als das vorliegende Vertragswerk.
Dazu sollten wir nach dem Satz Lenins — aber in seiner richtigen Version — verfahren: Vertraue, aber prüfe nach!Es ist unbedingt notwendig, diesen Satz in seinen beiden Aussageteilen genau zu beachten, um den gerade erst begonnenen Versuch, Sicherheit künftig mehr als bislang, ja wesentlich stärker als bislang durch politische Anstrengungen, vor allen Dingen durch Abrüstung und Rüstungskontrolle, zu gewährleisten, ebenso entschlossen wie behutsam fortzuführen. Dabei ist die konventionelle Abrüstung zwischen Atlantik und Ural das Kern- und Schlüsselelement. Hier in Europa — und zwar nur hier — stehen sich außergewöhnlich große, auf das modernste konventionell und atomar bewaffnete Streitkräfte der beiden Bündnisse und Truppen der beiden Supermächte unmittelbar gegenüber. Damit ist auch hier die Möglichkeit einer unmittelbaren Konfrontation beider Gruppierungen gegeben, für wie groß oder gering man auch immer diese Gefahr einschätzen mag.Von der konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion in Europa, von ihrer Fähigkeit zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff geht die eigentliche Bedrohung des Westens aus. Diese Situation des konventionellen Ungleichgewichts bestimmt auch wesentlich Strategie, Struktur und Zahl der atomaren Bewaffnung des Westens in Europa. Deswegen ist die konventionelle Abrüstung auch der Schlüssel zur atomaren Abrüstung.So begrüßt meine Fraktion nachdrücklich, daß die Bundesregierung in vorzüglicher Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Verteidigungsministerium ein umfassendes Konzept für die Wiener Verhandlungen erarbeitet hat.
Sie hat damit eine Schrittmacherrolle in der Allianz übernommen, die sich aus dem Brüsseler Kommunique der NATO-Regierungschefs ersehen läßt, in dem sich alle wesentlichen Strukturelemente des deutschen Konzepts wiederfinden. So besteht guter Grund für die Annahme, daß der Westen eine in sich schlüssige und zugleich flexible Grundlage für die Wiener Verhandlungen haben wird. Das Mandat hierfür wird hoffentlich bald zustande kommen.Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn beide Seiten und alle Beteiligten zu jeder Zeit besten Willen aufbringen, werden diese Verhandlungen von der komplexen Materie her ebenso wie wegen ihrer möglichen politischen Folgen ganz ungewöhnlich schwierig sein. Die Sowjetunion wird, wie hoch man im einzelnen auch immer ihre Überlegenheit taxieren mag, in jedem Fall in fast jeder Kategorie zu stark asymmetrischem Abbau bereit sein müssen. Aber noch wichtiger ist, daß sie bereit sein muß, die politische Funktion, der ihre Überlegenheit dient, aufzugeben. Diese Funktion ist der Ausgleich ihrer globalen geostrategisch bedingten Unterlegenheit gegenüber den USA durch eine regionale Überlegenheit hier in Europa.Im Verhältnis zu Westeuropa, für sich genommen, das Prinzip gleicher Sicherheit zu verwirklichen, hieße für die Sowjetunion, ihre Weltmachtrolle, ihre europäische Rolle und das Verhältnis zwischen beiden grundlegend neu zu bedenken. Das ist viel verlangt, aber der Westen und vor allen Dingen die Europäer können darauf nicht verzichten.Wir haben deswegen allen Grund, uns mit ganzem Ernst nach den Bedingungen eines so ungewöhnlich hohen Erfolges zu fragen. Dazu haben wir Deutsche ganz besonderen Anlaß und Grund, spielen wir doch bei der konventionellen Abrüstung auf Grund unserer Lage, unseres militärischen Beitrages und unserer politischen Bedeutung für West wie Ost in der Tat eine zentrale Rolle. Wie wir sie spielen, davon hängt viel für uns und für Europas Zukunft ab.Deswegen sollten wir versuchen, uns der Lehren zu bedienen, die der Erfolg des INF-Vertrages für uns bereithält. Zwar haben sicher verschiedene Elemente diesen Erfolg ermöglicht, aber gewiß war der NATO-
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4744 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
LamersDoppelbeschluß Conditio sine qua non. Nicht daß ich meinte, wir könnten nun diese Entscheidung als Modell auf alle künftigen Fälle exakt übertragen, aber die beiden Grundelemente bleiben gültig: Das erste ist die Einigkeit des Westens, und das zweite ist die Kombination von Verteidigungs- und Verhandlungsbereitschaft.In dieser doppelten Entschlossenheit hat der Westen unter Beweis gestellt, daß er zu den unerläßlich notwendigen militärischen Anstrengungen ebenso bereit und fähig ist wie sogar zum völligen Verzicht auf sie, wenn die politischen Anstrengungen der Abrüstung zu demselben sicherheitspolitischen Erfolg führen.Es kann sein, daß die Sowjetunion aus dieser Erfahrung gelernt hat, daß der Westen eben nicht nur etwas ankündigt, sondern es auch realisiert, aber sie wird diese Lehre bald wieder vergessen, wenn wir in der Bundesrepublik den Eindruck erwecken, wir könnten im Blick auf künftige mögliche, aber keineswegs sichere Abrüstungserfolge schon heute auf notwendige Rüstungsentscheidungen verzichten. Die Versuchung für die Sowjetunion, den heutigen Zustand ihrer augenblicklichen Überlegenheit — nur auf einem niedrigeren Niveau mit geringeren Kosten und den Mitteln einer geschmeidigeren Diplomatie — zu perpetuieren, ist ohnehin schon groß. Er würde übermächtig, erweckte der Westen den Eindruck, er sei bereit, sich damit abzufinden. Daher dienen negative Festlegungen gegen notwendige Rüstungsentscheidungen der Abrüstung nicht nur nicht, sie sind vielmehr geeignet, sie zu erschweren.Das gilt auch für die Frage der Modernisierung der atomaren Kurzstreckensysteme. Sie ist nicht aktuell; es bleibt bei dem, was der Bundeskanzler in Washington vereinbart hat und was von der NATO in Brüssel übernommen wurde.
Daran ändern auch die scheinbaren Neuigkeiten nichts, die der Kollege Vogel glaubte, in Washington erfahren zu haben. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als Ladenhüter, die der SPD-Vorsitzende mangels anderer Themen schon heute als Wahlkampfschlager aufzumotzen versucht.
Es bleibt dabei, daß wir eine notwendige Entscheidung erst zum gegebenen Zeitpunkt und nur im Rahmen eines Gesamtkonzepts treffen werden.
Dies muß eine ausgewogene Neustrukturierung des ganzen atomaren Abschreckungsarsenals, das nach dem INF-Abkommen notwendig ist, umfassen und im Blick auf das erstrebte Verhandlungsziel der konventionellen Abrüstungsverhandlungen entworfen sein. Ziel bleibt die vom Bundeskanzler geforderte Beschränkung der atomaren Waffen auf das erforderliche absolute Mindestmaß. Mindestmaß heißt nicht Null. Die NATO-Regierungschefs haben in Brüssel zu Recht festgestellt: Das konventionelle Ungleichgewicht zugunsten des Warschauer Pakts ist nicht dereinzige Grund für die Präsenz nuklearer Waffen in Europa. Das heißt, auch wenn das von ihnen proklamierte Ziel bei den Verhandlungen in Wien erreicht sein sollte, halten sie nukleare Waffen nach wie vor für erforderlich. Sie können sich in dieser Überzeugung auf die geschichtliche Erfahrung berufen, daß ein Gleichgewicht der Kräfte in all den ungezählten Fällen, in denen Staaten Krieg gegeneinander geführt haben, entweder nie oder niemals über einen ausreichend langen Zeitraum existiert hat oder jedenfalls als solches von den Beteiligten nicht wahrgenommen wurde. Ja, es läßt sich nachweisen, daß in vielen Fällen sogar der an sich Unterlegene in der Annahme einer ihn augenblicklich begünstigenden Situation einen Krieg vom Zaun gebrochen hatte in der Hoffnung, ihn durch überraschende und schnelle Schläge siegreich beenden zu können, bevor der Gegner seine Kräfte gesammelt hat. Das ist ebenso die Grundstruktur der Überlegungen Hitlers gewesen wie die des Irak bei Ausbruch des Golfkrieges.Konventionelles Gleichgewicht, Stabilität, jede Art von militärischer Konstellation sind Phänomene, bei denen es entscheidend auf die Wahrnehmung ankommt, eine subjektive Wahrnehmung, die nicht allein durch objektive Gegebenheiten bestimmt ist, sondern ebenso durch die Art der Wahrnehmung, durch Wahrnehmungsfehler sowie durch den Willen. Die immer interpretierte, d. h. gedeutete Wirklichkeit ist notwendigerweise labil und Veränderungen, Irrtümern ausgesetzt.Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die objektive Seite, selbst wenn das Gleichgewicht das Ergebnis abrüstungspolitischer Vereinbarungen ist und kontrolliert wird. Wie überall, so gibt es auch gerade in der Waffenentwicklung keinen Stillstand. Schon im innerstaatlichen und zivilen Bereich der Technologie ist es bisher nicht gelungen, unerwünschte oder möglicherweise nicht gewünschte Entwicklungen zu kontrollieren. Zwischenstaatliche Rüstungskontrolle steht vor einer noch sehr viel schwierigeren Aufgabe. Stabil heißt nicht statisch. Jedes Gleichgewicht zwischen Gesellschaften ist labil, es wird durch Fortbewegung — wie ein Fahrrad — aufrechterhalten.Die NATO-Regierungschefs haben also die historische Erfahrung wie die Erkenntnisse logischen Durchdenkens auf ihrer Seite, wenn sie konventionelles Gleichgewicht nicht als ausreichenden Grund für einen völligen Verzicht auf atomare Waffen ansehen.Wenn nun der Kollege Bahr kürzlich meinte, der Unterschied zwischen der Union und der SPD in der Frage der atomaren Kurzstreckensysteme bestehe nur noch darin — so klang es heute auch bei Ihnen an, Herr Kollege Voigt — , daß wir, die Union, die eben geschilderte NATO-Position einnähmen, während die SPD glaube, auf atomare Waffen in der Bundesrepublik verzichten zu können, wenn konventionelle Stabilität erreicht sei, dann allerdings muß ich mich wundern, daß der Kollege Vogel dieses „nur" zum Gegenstand eines Wahlkampfs machen will. Das, Kollege Voigt, ist keine gute Voraussetzung für die von Ihnen
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Lamerszu Recht geforderte Versachlichung der sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen.
Wenn die SPD im übrigen sagt, daß auch sie gegen einen einseitigen Verzicht auf diese Waffen sei, und das fehlende Vorhandensein konventioneller Stabilität in Europa zum alleinigen Kriterium für die Notwendigkeit atomarer Waffen macht, dann muß sie grundsätzlich bereit sein, diese zu modernisieren, solange konventionelle Stabilität nicht erreicht ist. Sonst gäbe es eben doch eine einseitige Null-Lösung. Vor der Antwort auf diese Frage drücken Sie sich, meine verehrten Kollegen von der SPD, weil Sie entgegen der Logik Ihrer Argumentation und entgegen dem, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Voigt, auf jeden Fall in Ihrer großen Mehrheit offensichtlich gegen die atomaren Waffen sind. Und das nenne ich billigen Abrüstungspopulismus.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Ja, bitte sehr!
Herr Kollege Lamers, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß für uns die dritte Null-Lösung bei landgestützten Kurzstreckenraketen nicht abhängig ist von Ergebnissen der Verhandlungen über konventionelle Abrüstung und daß zweitens eine dritte Null-Lösung bei nuklearen Kurzstreckenraketen nicht nur ein Beitrag zur nuklearen Abrüstung wäre, sondern auch ein Beitrag zur konventionellen Abrüstung, weil der Westen zu Recht bisher immer gefürchtet hat, daß eine Vielzahl der sowjetischen Kurzstreckenraketen, die in Osteuropa stationiert sind, konventionelle und nicht nur nukleare Optionen haben, so daß auch die konventionelle Bedrohung durch eine dritte Null-Lösung verringert würde?
Selbstverständlich sind wir uns darüber im klaren, daß eine Reduzierung der doppelt verwendbaren Systeme auch eine konventionelle Abrüstung wäre. Darüber gibt es überhaupt keinen Dissens. Aber, Herr Kollege Voigt, bislang habe ich die Position Ihrer Partei immer so verstanden — ich erinnere mich an Diskussionen, die wir darüber geführt haben — , daß für Sie das Kriterium für die Verzichtbarkeit oder Notwendigkeit atomarer Waffen konventionelle Stabilität ist, ja oder nein.
— Aber auch diese Logik stimmt nicht; ich werde darauf noch eingehen. — Denn wenn das Kriterium konventionelle Stabilität in Europa ist, dann gilt dieses Kriterium selbstverständlich nicht nur für einen beschränkten Raum, sondern es gilt überhaupt für atomare Waffen. Es ist unlogisch, dann zu sagen, das Kriterium gilt nur etwa für die Bundesrepublik Deutschland. Es kann nur für ganz Europa gelten, ja, bei näherem Hinsehen muß es überhaupt gelten, weil es sonst keinen Sinn macht. Denn etwa in Asien stationierte Interkontinentalraketen der Sowjetunion, dort stationiert, um die USA zu erreichen, wären auch in der Lage, ganz Europa abzudecken.
Also: Die abrüstungspolitische Logik funktioniert entweder gar nicht, oder sie funktioniert weltweit.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Lowack?
Bitte sehr, Herr Kollege Lowack.
Kollege Lamers, sind Sie bereit, zu bestätigen, daß der Kollege Voigt vorhin mit großem Beifall dem zugestimmt hat, was der Bundesaußenminister ausgeführt hat, daß nämlich einzelne Waffenkategorien gerade nicht zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden sollten?
Ja, ich habe das so im Ohr gehabt, Herr Kollege Lowack.
Ich möchte jedenfalls die Gelegenheit nutzen, an die Sozialdemokraten, an Sie, zu appellieren — in dem Sinne, wie Sie das eben getan haben, Herr Kollege Voigt — , Ihre Haltung zu bedenken. Ich tue das, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, daß die Diskussionen, die Sie führen, und die Abrüstungsvorschläge, die Sie gemeinsam mit herrschenden kommunistischen Parteien machen, daß all das wie auch mancherlei anderes unüberlegtes Reden in den letzten Jahren und Monaten hierzulande kontraproduktiv ist, weil es nicht der erstgenannten Grundvoraussetzung für jeden Abrüstungserfolg mit dem Osten dient, nämlich der Einigkeit des Westens.Ich will das auch belegen — ich wiederhole es — : Wenn das Kriterium für die Notwendigkeit oder für die Verzichtbarkeit atomarer Waffen konventionelle Stabilität in Europa wäre, dann würde es selbstverständlich für ganz Europa gelten und nicht nur für einen begrenzten Raum. Das würde heißen, daß selbstverständlich auch die französischen und die britischen Systeme mit einbezogen werden müßten. Diese Logik ist unseren französischen und britischen Freunden natürlich bewußt. Da sie aber — wie wir — die Grundvoraussetzung, die Sie aufstellen, nicht teilen, müssen sie in solchen Forderungen nach atomwaffenfreien Zonen den fadenscheinigen Versuch sehen, sie in einen abrüstungspolitischen Zugzwang zu bringen, der ihren grundlegenden sicherheitspolitischen Überzeugungen widerspricht.Zweitens. Die diesen Konzepten zugrunde liegenden atomaren Kriegsszenarien vom vereinzelten atomaren Schlachtfeld Deutschland entsprechen nicht der Wirklichkeit. Atomare Waffen sind, wie der Bundesaußenminister kürzlich zu Recht festgestellt hat, politische Waffen. Sie sind Kriegsverhinderungswaffen und keine Kriegsführungswaffen. Natürlich muß eine Strategie — das weiß ich — , die sich dieser Waffen bedient, paradoxerweise auch Anwendungselemente enthalten, um glaubhaft zu sein. Das wider-
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Lamersspricht dem mächtigen Wunsch der Menschen nach widerspruchsfreiem Tun und Denken, vor allem in einer existentiellen Frage. Aber das paradoxe System ist bis heute erfolgreich, und wir müssen dieses Paradoxon aushalten.Drittens. Mögen auch all diese Angstszenarien unbegründet und die Zonenkonzepte abrüstungspolitisch unlogisch und sicherheitspolitisch unsinnig sein, sie müssen notwendigerweise bei unseren Nachbarn den Verdacht wecken, der politische Neutralismus folge notwendigerweise dem atomaren Eskapismus. Übrigens wird dieser Eindruck durch die bemerkenswerte deutschlandpolitische Diskussion verstärkt, die wir gerade in der letzten Zeit geführt haben.Ich möchte uns in Erinnerung rufen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, was Präsident Truman einst sagte und was bis heute gültig ist. Er sagte, ohne das Land zwischen Rhein und Elbe sei die Verteidigung Westeuropas „a rearguard action on the shores of the Atlantic Ocean", ein Nachhutgefecht auf den Klippen des Atlantik. So sicher all diese Befürchtungen bei unseren Freunden unbegründet sind, solange diese Regierung und diese Koalition in Bonn die Politik bestimmen, so sehr sind sie doch eine Realität, die jeder in Rechnung stellen muß, der politische Verantwortung in der Bundesrepublik trägt, sei es auch in der Opposition.Die allianzinternen Schwierigkeiten bei unserer gemeinsamen Forderung nach Einbeziehung der atomaren Kurzstreckensysteme in den Zusammenhang des konventionellen Abrüstungsprozesses sind auf dem von mir geschilderten Hintergrund verständlicher, wenn auch nicht berechtigt. Denn an sich ist ja unsere Position vor allem angesichts des gewaltigen sowjetischen Übergewichts von 1 : 15 in diesem Bereich abrüstungspolitisch ebenso dringend wie logisch zwingend, da diese Systeme auf Grund ihrer zweifachen Verwendungsfähigkeit eben auch konventionelle Waffen sind — natürlich. Westlicherseits dienen sie im Rahmen der Strategie demselben Zweck wie die abrüstungspolitischen Vorschläge, welche die Bundesregierung ausgearbeitet hat.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben vielleicht die wirklich historische Chance, die stark militarisierte Form der Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt tatsächlich zu überwinden. Vielleicht nähern wir uns in der Tat der Situation eines friedlichen Wettbewerbs zwischen Ost und West, von dem alle Menschen auf beiden Seiten nur Nutzen hätten.Aber wir Deutschen allein können nichts bewegen. Wir können nur etwas bewegen, wenn wir unsere Partner im Westen mitbewegen. Das demokratische Europa hat nur dann eine Chance, Akteur zu werden und nicht Gefahr zu laufen, Objekt zu werden, wenn es seine Kräfte nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und sicherheitspolitisch zusammenfaßt.
Das, meine Freunde, ist die außenpolitische Aufgabe mit der größten Priorität, auch und gerade imBlick auf die Abrüstungsverhandlungen. Wir sollten alles unterlassen, was dieses Ziel gefährden könnte.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kelly.
Liebe Freunde und Freundinnen! In den Artikeln XI, XII und XIII des INF-Abkommens wird ein System von Inspektionen sowohl innerhalb der Grenzen des Territoriums der anderen Seite als auch in den Stationierungsländern vereinbart, ein Verbot der Störung technischer Kontrollmittel der anderen Seite sowie von Tarnmaßnahmen, die die vereinbarten Kontrollen erschweren würden, festgeschrieben und eine Sonderkontrollkommission gebildet, um Verstöße gegen die Vereinbarungen auszuschließen.Auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung, von dem heute hier die Rede ist, dient dem Zweck, eine lückenlose Überwachung der im INF-Vertrag von beiden vertragschließenden Mächten eingegangenen Verpflichtungen zu ermöglichen. Diese gute Absicht, die wir voll unterstützen, kollidiert allerdings in gefährlicher Weise — so meine ich — mit den offensichtlichen Tatsachen.Pershing-II- und Cruise-Missiles-Verbände werden bis zum Abzug hundertprozentig einsatzbereit gehalten. Das Bedienungspersonal wird nicht automatisch abgezogen, und viele Einrichtungen, wie in Wüschheim, werden nicht unbrauchbar gemacht.Mit dem Übereinkommen vom 11. Dezember 1987 über die Inspektionen soll die Einhaltung des INF-Abkommens garantiert werden. Trotz aller hierzu festgelegten Details fehlt für mich leider die wichtigste Grundvoraussetzung, Herr Genscher. Denn die Vertragstexte enthalten keine Bestimmungen über die Entsorgung des in den Atomwaffen enthaltenen Plutoniums. Die verbreitete Annahme, das amerikanisch-sowjetische Abkommen über die Abschaffung von landgestützten Mittelstreckenraketen sehe auch die Vernichtung der entsprechenden nuklearen Gefechtsköpfe vor, ist irrig.Zwar werden die Trägersysteme und Abschußvorrichtungen unter Aufsicht der jeweils anderen Partei, Herr Genscher, „gesprengt, zermalmt, zerschnitten oder geteilt" und so unbrauchbar gemacht. Doch die Gefechtsköpfe mit ihren Zündanlagen nimmt der Vertrag aus. Jede Seite kann mit den Atomsprengköpfen anfangen, was sie will. Die Vertragsparteien können beliebig über die atomaren Gefechtsköpfe der Mittelstreckenraketen verfügen.Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages meint dazu — ich zitiere hier — :Die Vertragsparteien haben bewußt davon abgesehen, eine Vernichtung der Gefechtsköpfe zu vereinbaren. Insbesondere wäre das Problem der Verifikation kaum lösbar gewesen. Die Befolgung einer solchen Vereinbarung könnte nicht zuverlässig überprüft werden, zumal für Kurzstreckenwaffen und für strategische Waffensysteme weiterhin atomare Gefechtsköpfe hergestellt werden dürfen. Solange das erlaubt ist,
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Frau Kellywäre eine Vereinbarung, atomare Gefechtsköpfe für andere Trägersysteme zu vernichten, gleichsam unsinnig.Das aber ist genau der Pferdefuß des ganzen komplizierten Kontrollsystems mit all seinen Inspektionen. Das, was in erster Linie zu kontrollieren wäre, entzieht sich offensichtlich jeder Kontrolle, Herr Genscher, weshalb man lieber von vornherein auf seine Beseitigung verzichtet.Während einer Reise in die Vereinigten Staaten vor wenigen Wochen erfuhr ich von der leidenschaftlichen Debatte im amerikanischen Kongreß zu dieser Problematik, auch zu diesen Bestimmungen, die wir heute diskutieren. Senator John Glenn aus Ohio sagte z. B. während einer Anhörung im Verteidigungsausschuß des Senats, er sei erschrocken, wie wenige es wüßten, auch in den europäischen Parlamenten, daß der INF-Vertrag und alle ihn begleitenden Abkommen nicht einen einzigen atomaren Sprengkopf beseitigen würden.
Der amerikanische Verteidigungsminister Carlucci erklärte John Glenn gegenüber, daß dies auf amerikanische Veranlassung hin so vereinbart worden sei. In einer frühen Phase der Verhandlungen, fügte er hinzu, sei überlegt worden, die Sprengladungen zu demontieren, in ihre Komponenten zu zerlegen und das spaltbare Material auszusondern. Doch nach Aussagen Robert Barkers, Assistent von Carlucci, werden die Sprengköpfe nicht in ihre Bestandteile zerlegt, sondern als Ganzes wiederverwendet.Die Argumente Carluccis für die Wiederverwendung der INF-Gefechtsköpfe wurden immer abenteuerlicher, als er darauf verwies, daß das Energiedepartment — ich zitiere — aus Furcht vor möglichen Engpässen bei der Herstellung von neuem Plutonium in der 90er Jahren die Wiederverwendung der nuklearen Sprengköpfe empfehle. Als Beispiel, Herr Genscher: Pershing-II-Gefechtsköpfe für das Nachfolgesystem der Lance-Rakete und die Cruise-Missiles-Gefechtsköpfe für die seegestützten Marschflugkörper.Während wir uns hier über möglichst wirksame Inspektionen zur Verwirklichung des INF-Abkommens unterhalten, bleibt festzustellen, daß die Atomgefechtsköpfe der abgezogenen Raketen mit ihrem Plutonium auf neue, sogenannte modernisierte Waffensysteme wandern werden oder in den großen Plutoniumlagern der Supermächte auf eine Neuverwendung im Abschreckungssystem warten. Die am 8. Dezember 1987 geweckten Hoffnungen der Menschheit auf einen ersten, bescheidenen psychologischen Anfang bei der Verminderung der Atomkriegsgefahr werden, so meine ich, schwer enttäuscht.Nicht weniger schlimm ist es, daß, während wir uns hier den Kopf über Inspektionsdetails, über Befugnisse der Inspektoren und über die Anzahl der jährlichen Inspektionen den Kopf zerbrechen, die NATO, durch keine Inspektion gehindert, neue, als ,,Modernisierung" getarnte Aufrüstungsschritte beschließt. Ich meine, sie hat sie auch längst psychologisch vorbereitet. Ein Grund für diese Planungen ist auch die Absicht, während der Ratifizierungsdebatte die Kritiker des INF-Abkommens zu beruhigen. Welche Ironie liegt doch in der Tatsache, daß ein noch so bescheidener Abrüstungserfolg mit insgesamt mehr Rüstung auf atomarem, chemischem, wie wir jetzt hören, und konventionellem Gebiet erkauft werden muß. Dazu muß man nur noch Herrn Wörner anhören, der letzte Woche sehr deutlich gesagt hat, was er dazu meint.Ich stimme Dr. Leipold, Leiter der GreenpeaceKampagne für atomwaffenfreie Meere zu, wenn er feststellt:Das Abrüsten landgestützter Raketen wird dadurch entwertet, daß gleichzeitig die Bewaffnung zur See mit Interkontinentalraketen und Marschflugkörpern ausgebaut wird.Tatsächlich hat die internationale Abrüstungsdebatte die Nuklear-Armada auf den Ozeanen kaum berücksichtigt. Die Atommarinen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens, Frankreichs und Chinas verfügen über rund 16 000 Atomsprengköpfe. Trotz dieser Gefahr haben sie sich bisher allen Rüstungskontrollvereinbarungen entziehen können. Das ist um so unverständlicher, als die Raketen der Atom-U-Boote keine elektronischen Schlüssel besitzen, die von der politischen Führung kontrolliert werden könnten.Auch bei uns freilich wird — ganz im Gegensatz zu dem von dieser Debatte vermittelten Eindruck — mehr der ungebremsten Aufrüstung als ihrer Kontrolle und Eindämmung das Wort geredet. Sie, Herr Wörner, haben die Verstärkung der konventionellen Kampfkraft als unbedingt notwendig bezeichnet und erklärten in der „Süddeutschen" vom 12. April 1988 — ich zitiere — :Wer bei uns einen Modernisierungsverzicht fordert, fordert die einseitige Abrüstung.Herr Wörner, es ist keine einseitige Abrüstung, einen Modernisierungsverzicht zu fordern.
Was wir hier in Europa und in der Bundesrepublik haben, ist so viel, daß das Argument, wir würden entnuklearisiert, absolut falsch ist. Ich kann das nicht akzeptieren.Wenn der CDU-Militärstratege Lothar Rühl darauf verweist,
daß Atomwaffen auf deutschem Boden langfristig unersetzlich sind,
dann habe ich hierzu wirklich keine Antwort mehr.Das paßt zum Schluß gut zu der Erklärung der 16 NATO-Staats- und -Regierungschefs vom 3. März 1988, die NATO halte am Konzept der atomaren Abschreckung fest. — Im Westen also trotz Inspektionsgerede, Herr Genscher, noch immer nichts Neues, auch wenn man nun verharmlosend von einer abgestuften, differenzierten Abschreckung spricht.
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Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen mit der Debatte des heutigen Tages und mit dem Abkommen, um das es sich handelt, jenseits einer Schwelle, von der wir lange Jahre geglaubt haben, sie würde nicht überschreitbar sein. An diesen Punkt, an dem wir heute angekommen sind, Frau Kollegin Kelly, knüpfen sich Hoffnungen und Erwartungen auf weitere Schritte in dieser Richtung.
Ich halte es für geradezu absurd und gefährlich, wenn diese Hoffnungen, die sich ja nicht auf unser Land beschränken, sondern in Ost und West geteilt werden, zerredet werden sollten.
Herr Kollege Voigt, ich stimme mit Ihnen darin überein, daß wir heute eine der wirklich seltenen Gelegenheiten haben, den Konsens im Hohen Hause festzustellen in einer Frage, die für die Zukunft unseres Landes, aber auch für die Zukunft Europas von entscheidender Bedeutung ist. Ich freue mich darüber, daß es so ist, wenn wir auch bei der Debatte darüber, welche Schritte nun weiterhin erfolgen müssen und wann und wie die Hoffnungen realisiert werden können, die sich an diesem Tag und an die damit sichtbar gewordene Entwicklung knüpfen, unterschiedliche Ansichten vertreten.Dialog und Kooperation, Herr Bundesaußenminister, das haben Sie heute morgen gesagt, müssen an die Stelle von Konfrontation treten. Ich ergänze das, indem ich sage: Unsere Aufgabe in der Bundesrepublik, im Bündnis, aber im Grunde genommen auch die Aufgabe in Ost und West wird es sein, nach gemeinsamen Interessen über die Grenzen hinweg zu suchen und sich Gedanken darüber zu machen, was im Interesse der Menschen in beiden Blöcken — wenn ich das einmal vereinfachend so sagen darf — liegen kann und muß.Herr Kollege Voigt, Sie haben gesagt, eine Gesamtkonzeption der NATO sei nicht vorhanden. Ich bestreite das. Natürlich haben wir eine Konzeption der NATO. Wir haben sie in der Vergangenheit gehabt. Aber wir haben sie jeweils weiterentwickelt. Ich glaube, die Aufgabe wird sein, unsere Gesamtkonzeption auf Grund der neuen Gegebenheiten neu zu entwickeln. Ich erinnere an die Entwicklung von der massiven Vergeltung zur flexiblen Antwort. Sicherlich kann die Strategie der NATO von den Entwicklungen, die sich jetzt abzeichnen, nicht unbeeinflußt bleiben.Die Frage, die sich heute auch auf Grund der Einlassungen der Opposition ergibt, ist nun tatsächlich die: Wie verfahren wir weiter? Wie werden wir dahin kommen, daß konventionelle Stabilität erreicht wird? Wie werden wir erreichen, daß chemische Waffen tatsächlich beseitigt, geächtet, nicht mehr hergestellt und dort, wo sie lagern, vernichtet werden?Der Vertrag, über den wir heute in einem Teilbereich, dem Teilbereich der Inspektionen, reden, derINF-Vertrag, ist tatsächlich der erste Abrüstungsvertrag, der zur Vernichtung von Kernwaffen führt, nicht nur zu ihrer Begrenzung, zur Vernichtung einer ganzen modernen Waffenkategorie. Er ist zugleich der erste Vertrag, der asymmetrische Abrüstung verlangt. Es ist der erste Vertrag, der durch umfassende Kontrollen und Verifikationsverfahren die Durchführung seiner Zielsetzungen regelt.Das gilt natürlich auch in bezug auf die Gefechtsköpfe, wenn ich atomare Waffen insgesamt sehe, Frau Kelly. Denn die entscheidende Frage ist doch, ob die Trägersysteme beseitigt und vernichtet werden. Was soll eigentlich die Vorstellung von einem Arsenal vorhandener atomarer Gefechtsköpfe, wenn auf der anderen Seite sichergestellt ist, daß die Trägersysteme nicht mehr vorhanden sind?Ich sage noch einmal: Zerreden wir nicht das, was sich hier an Hoffnungen abzeichnet!
Nur, Herr Kollege Voigt, ich muß ganz ausdrücklich die Frage stellen: Dient eigentlich derjenige dem weiteren Fortschritt in diesem Zusammenhang, der im gegenwärtigen Zeitpunkt die Frage der Modernisierung atomarer Kurzstreckensysteme in Europa in den Mittelpunkt der Diskussion stellt?
Ist das eine Frage, über die wir heute zu entscheiden haben?
Ich will Ihnen dazu, Frau Kollegin Fuchs — —
— Setzen Sie sich bitte mit jedem auseinander, Herr Kollege Horn, mit dem Sie wollen. Aber wenn Sie sich mit mir auseinandersetzen, dann setzen Sie sich mit meinen Argumenten auseinander. Darum möchte ich doch bitten.
— Ich werde Ihnen sagen, was meine Auffassung und die Auffassung meiner Fraktion und damit die Auffassung der Regierung zu dieser Frage ist.
Sie haben heute morgen den Bundesaußenminister gehört. Wenn ich den Kollegen Voigt richtig verstanden habe, war er mit seinen Ausführungen einverstanden.
Aber wenn wir uns jetzt etwa über die Frage derModernisierung unterhalten, dann möchte ich einmal
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Ronneburgerzwei Zeiträume in unsere Überlegungen einbeziehen, die sich auf Grund der gegenwärtigen Vertragslage, vor der wir stehen, in die Zukunft hinein erstrecken. Es wird drei Jahre dauern, bis nach dem INF-Vertrag die letzte Mittelstreckenrakete beseitigt ist. Das heißt, es ist nicht so, daß von heute auf morgen eine Denuklearisierung stattfindet.Wir haben darüber hinaus die Aussage der USA-Regierung, daß die Lance-Raketen bis Mitte der 90er Jahre — so wörtlich bei den Konsultationen in Washington — einsatzbereit sein werden. Das heißt, wir haben einen Zeitraum vor uns, in dem wir uns auf das konzentrieren können, was sich in Wien abzeichnet und was dort verhandelt wird. Das Mandat zur Verhandlung über den Abbau konventioneller Rüstung scheint in diesem Jahr erreichbar zu sein.Wir haben Zeit, in die Zukunft hinein zu wirken, um auch bei den chemischen Waffen das zu erreichen, was wir ja gemeinsam wollen, nämlich ihre Ächtung, ihre Beseitigung und die Verhinderung jeder weiteren Produktion dieser Waffen. Nutzen wir doch diese Jahre, und reden wir in dem gegenwärtigen Zeitpunkt nicht über eine Modernisierung, von der ich befürchte, daß sie, wenn sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt stattfände — —
— Lassen Sie mich bitte ausreden, Herr Kollege Horn. Sie können sich ja selbst zu Wort melden, wenn Sie dazu etwas zu sagen haben.
Ich befürchte, daß ein Gerede — wie es ja nicht zuletzt der Vorsitzende Ihrer Fraktion aus den USA mitgebracht hat — über eine Modernisierung dieser Kurzstreckenwaffen
die Möglichkeiten des Abbaus von konventionellen und chemischen Waffen nicht erleichtert, sondern erschwert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehmke?
Bitte.
Herr Kollege Ronneburger, darf ich Sie fragen, ob Sie die Äußerungen des scheidenden Herrn Verteidigungsministers und der Generalität zu diesem Thema gelesen haben,
die jetzt jeden Tag zu hören sind, daß nämlich diese Modernisierung erforderlich sei? Hier besteht doch ein völliger Widerspruch zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Außenministerium.
Dann haben wir die Äußerungen des Verteidigungsministers sehr unterschiedlich verstanden. Ich kenne jedenfalls keine Äußerung desVerteidigungsministers dahin gehend, wir müßten jetzt die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenwaffen in Angriff nehmen. Er hat sich, wenn ich den Herrn Kollegen Dr. Wörner richtig verstanden habe, darauf konzentriert — und darin stimme ich ihm zu —, daß die Option einer Modernisierung in die 90er Jahre hinein aufrechterhalten werden muß, und wenn ich den Kollegen Voigt heute richtig verstanden habe, dann lehnt er diese Option auch nicht ab.
— Streiten wir uns nicht über Interpretationen, sondern setzen wir uns darüber auseinander, auf welchem Wege das erreicht werden kann, was ganz offensichtlich unser gemeinsames Ziel ist!Für uns ist Abrüstung nicht etwa gleichbedeutend mit einer Gefährdung unserer Situation, vielmehr ist jede Möglichkeit, zusätzliche Bedrohung abzubauen, eine Verbesserung unserer eigenen Situation. Meine Überzeugung ist, daß wir unser Augenmerk bei aller Bündnissolidarität sehr darauf richten müssen, was denn unsere, was denn die unmittelbaren europäischen Interessen sind. Deswegen ist es unser Ziel, Herr Kollege Voigt, konventionelles Gleichgewicht nicht durch Aufrüstung, durch zusätzliche Anstrengungen auf unserer Seite zu erreichen, sondern durch das, was auch Sie genannt haben: asymmetrische Abrüstung, in stärkerem Maße also dort, wo die größere Zahl von Waffen vorhanden ist.Ich komme auf etwas zurück, was ich einleitend kurz bemerkt habe, nämlich auf die Frage: Ist es möglich, gemeinsame Interessen in Ost und West festzustellen und auf dieser Grundlage die weitere Entwicklung zu bestimmen? Es ist ja wohl keine Frage, daß auch der Osten, daß Gorbatschow und sicherlich nicht der allein daran interessiert ist, die Lasten des gegenwärtigen Rüstungsniveaus zu reduzieren, um andere Ziele in seinem Staat und in seinem Bereich verfolgen zu können. Hier ergänzen sich die Interessen in Ost und West. Deswegen bin ich in bezug auf das, was sich weiterhin ereignen, was sich weiterhin auch in anderen Schritten der Abrüstung entwickeln wird, hoffnungsvoll.Die Verifikation, über die wir heute an sich im Kern reden, ist eine alte Forderung des Westens. Verifikation bei konventionellen Waffen, bei chemischen Waffen mag schwieriger sein als gerade bei dieser Waffenkategorie, aber kann man auf einen als notwendig erkannten Weg verzichten, wenn man gleichzeitig davon überzeugt ist, daß jeder andere Weg eine Gefährdung des Friedens und damit eine Gefährdung der Zukunft nicht nur Europas, nicht nur Deutschlands, sondern unter Umständen der Menschheit bedeuten könnte?Verifikation ist bei chemischen Waffen zugegebenermaßen eine schwierige Frage, etwa wenn man an den Einsatz dieser Waffen im Golfkrieg denkt. Nach offiziellen Schätzungen, übrigens auf beiden Seiten, würde eine Beseitigung der chemischen Waffen einen Zeitraum von etwa zehn Jahren in Anspruch nehmen. Warum sollte man sich nicht auf eine Lösung einlassen, die etwa bedeuten würde, daß nach fünf Jahren
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Ronneburgereine Überprüfung stattfindet, ob die Verifikation tatsächlich den Erfolg gehabt hat, den wir uns davon versprechen?Herr Kollege Voigt, wenn wir auf den Komplex der waffenfreien Zonen in Europa zurückkommen, muß ich Ihnen sagen: Atomwaffenfreie Zonen in Europa würden ihren Sinn nur dann erfüllen, wenn die Waffen wirklich zerstört, beseitigt werden, die heute in diesen Zonen stehen, nicht aber, wenn diese Waffen nur untereinander auseinanderrücken und weiterhin die angeblich freie Zone bedrohen.Bei den chemischen Waffen sehe ich mit dem Bundesaußenminister die große Gefahr, daß durch eine, wenn auch nur vorläufige Beschränkung auf eine solche chemiewaffenfreie Zone in Europa das Interesse an der wirklich weltweiten Beseitigung in den Hintergrund geraten könnte.Wir haben alle Veranlassung, uns darauf zu konzentrieren, daß wir weltweit weniger Waffen haben, daß Invasionsfähigkeiten beseitigt werden, Fähigkeiten zu Überraschungsangriffen. Damit würde die Situation in der Welt in einer Weise entspannt, von der wir vor kurzer Zeit noch nicht geglaubt haben, daß sie überhaupt in erreichbarer Nähe sein könnte, von der wir heute aber annehmen können, daß sie erreichbar sein wird.Es wird parallele Verhandlungen über ausgewogene Reduzierungen bei allen Waffensystemen geben. Wir werden, wie ich hoffe, zu einem Zustand der Stabilität kommen, der den Menschen in Europa, den Menschen auch in unserem Lande ein Leben ohne Angst ermöglicht. Ich sehe eine Entwicklung mit Hoffnung, nicht mit Gewißheit, heranreifen, in der wir in Europa nicht nur den Zustand des Nichtkrieges haben, sondern einen Zustand des Friedens, der auf gegenseitigem Vertrauen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit über die gegenwärtige Blockgrenze hinweg seine Basis findet und auf ihr beruht.Das ist das Ziel, das mit dem heutigen Vertrag einen Schritt näher in greifbare Entfernung rückt. Es ist zugleich das Ziel, an dem weiterzuarbeiten sich nicht nur lohnt, sondern ein Ziel, das zu erreichen wirklich unsere gemeinsame, unverzichtbare Aufgabe ist.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen den Abschluß des INF-Vertrages zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Wir betrachten ihn als einen Anfang. Wir sagen immer wieder, daß die Abrüstung weitergehen muß; das ist selbstverständlich.Wir finden es auch richtig, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung mit der beschleunigten Zuleitung des Zustimmungsgesetzes zu dem Vertrag vom 11. Dezember des letzten Jahres zwischen den USA und den westeuropäischen Staaten, in denen Pershing II stationiert sind, dokumentiert, daß sie bereit ist, ihren Teil zur Durchführung dieses Vertrages zu leisten.Ich will den Schwerpunkt meiner Ausführungen auf das Ratifikationsverfahren legen, weil wir hier einige Bedenken haben, die ausgeräumt werden müssen, aber zunächst einige weitergreifende Feststellungen voranstellen.In meiner Heimat Baden-Württemberg liegen besonders viele Raketenstandorte mit USA-Pershing-II-Raketen: Heilbronn-Waldheide beispielsweise, Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd. Nicht nur dort, aber auch dort freuen sich alle Bürgerinnen und Bürger, daß wenigstens diese Raketen bald wegkommen und die Atomsprengköpfe wenigstens abgezogen werden. Sie erwarten mit uns, daß der Abrüstungsprozeß weitergeht.Daß die Pershing II abgezogen werden, ist nicht nur das Verdienst der vertragschließenden Staaten und all derer, die in diesem Hause hier diesen Vertragsabschluß unterstützt, befördert oder gefordert haben. Nein, dieser Abzug ist zugleich Verdienst all jener in der Friedensbewegung, die in den vergangenen Jahren in langen, geduldigen und friedlichen Demonstrationen und Aktion dazu beigetragen haben, sichtbar und unüberhörbar zu betonen, daß sie sich mit Massenvernichtungswaffen und ihrer Stationierung niemals abfinden werden.
— Herr Lamers, jetzt werden Sie doch nicht so schnell nervös!Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, an dieser Stelle deshalb hinzufügen: Es schmerzt sehr, daß Sie und die Bundesregierung, wie man hört, immer noch Pläne weiterverfolgen, durch eine Verschärfung des Strafrechtes sicherzustellen, daß Demonstrierende in jedem Fall wegen Nötigung belangt werden sollen, die in zeitlich eng begrenzten, unstreitig friedlichen und gewaltlosen symbolischen Sitzblockaden auf diese Massenvernichtungsmittel vor Raketenstandorten hingewiesen haben. Wir halten diesen Weg für falsch. Das betone ich gerade in diesem Augenblick.
Wir, Herr Lamers, ermutigen nicht nur alle Demonstrierenden, ihre Meinung friedlich zum Ausdruck zu bringen, sondern auch alle jene Richter, die solche friedlichen Demonstrationen eben nicht als Gewalt oder Gewaltandrohung bestrafen.
Jetzt aber, meine Damen und Herren, zum Vertragstext, wie angekündigt. Vereinbarte Kontrollierbarkeit und Kontrolle der Durchführung eines Vertrages sind notwendig. Beides kann unstreitig helfen, Vertrauen zu schaffen. Das am 11. Dezember des letzten Jahres abgeschlossene Inspektionsabkommen soll dies bewirken, und Art. 1 des Zustimmungsgesetzes hält den nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes, unserer Verfassung, vorgeschriebenen Weg der Zustimmung und Umsetzung in das innerstaatliche Recht auch ein. Wir halten ihn deshalb für akzeptabel.Gegenüber der Sowjetunion indes wurde — so zeigen Art. 2 des Gesetzentwurfs, die Denkschrift und die Anlage dazu — ein ganz anderer Weg gewählt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4751
Frau Dr. Däubler-GmelinHierfür, Herr Bundesaußenminister, mag es gute Gründe geben. Festzuhalten ist jedoch, daß dem Bundestag heute ein zustimmungsfähiger Vertrag nicht vorliegt. Art. 2 des Entwurfs des Ratifikationsgesetzes enthält denn auch die Ermächtigung zu einer Rechtsverordnung, durch die die Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundesrates eine noch abzuschließende völkerrechtliche Vereinbarung mit der Sowjetunion in Kraft setzen kann, die Inspektionen, wie es dort heißt, „im Rahmen und nach Maßgabe" des INF-Vertrages, auf den Art. 1 des Gesetzentwurfs Bezug nimmt, gestattet.Dieses Verfahren, Herr Bundesaußenminister, ist ungewöhnlich und problematisch. Unser Grundgesetz enthält klare Regelungen über die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen und zur Transformation in innerstaatliches Recht. Dieses Verfahren, nämlich Vorlage eines unterzeichneten Vertrags und dann gesetzliche Zustimmung durch das Parlament, macht Sinn. So werden nämlich die verfassungsmäßigen Befugnisse sowohl der Regierung wie auch des Bundestages gewahrt.Wenn die Bundesregierung jetzt in zweifacher Weise davon abweicht, so wird dies verändert werden müssen. Der Vertrag liegt nicht vor, und das Zustimmungsgesetz in Art. 2 wird durch eine Ermächtigung ersetzt. Erklärungsbedürftig ist sowohl das eine wie auch das andere. Herr Bundesaußenminister, die Ersetzung des Zustimmungsgesetzes durch eine Ermächtigung, wie sie Art. 2 des Ratifikationsgesetzentwurfs vorsieht, können wir so nicht akzeptieren.Natürlich weiß ich, daß wir auch schon früher über solche Fragen haben streiten müssen. Offensichtlich neigen Bundesregierungen dazu, ihren Befugnisspielraum auch über die Grenze des eben noch Hinnehmbaren auszuweiten. Wir haben uns beispielsweise im Rechtsausschuß schon häufiger gerade mit den Juristen Ihres Ministeriums darüber auseinandersetzen müssen. Ich erinnere an jenen geplanten Tiefseebergbauvertrag von 1982 — jene berühmten Manganknollen — , zu dem uns ein Abschlußermächtigungen enthaltendes Ratifikationsgesetz ganz eigener Art vorgelegt worden war. Damals haben nicht nur wir Sozialdemokraten erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken deutlich gemacht, nein, auch die Kollegen der CDU haben dies getan. Insbesondere darf ich den damaligen CDU-Obmann im Rechtsausschuß erwähnen, den heutigen Bundesverfassungsrichter Professor Klein.Wir haben damals auch festgehalten, daß das in diesem Fall ausnahmsweise gerade noch unter schwersten Bedenken tolerierte Verfahren in Wiederholungsfällen nicht gelten dürfe und daß wir es auch in Zukunft nicht gelten lassen wollten, weil sonst Präzedenzfälle für die Umgehung, Aufweichung oder Minimierung der Rechte des Parlaments geschaffen würden.Das Auswärtige Amt, Herr Bundesaußenminister, das jenes merkwürdige Verfahren vorgeschlagen hatte, hat darauf folgendes erwidert — ich wäre Ihnen jetzt sehr dankbar, wenn Sie dies zur Kenntnis nehmen könnten — : Der Vortragende Legationsrat Erster Klasse, Herr Eitel, hat damals erwidert: Jawohl, das sei so, das könne sicherlich festgehalten werden, auchBeamte seien lernfähig, und die Beteiligten hätten das, was sie im Zusammenhang mit dem Manganknollenabkommen gelernt hätten, natürlich nicht vergessen. Uns Parlamentarier hat das damals ermutigt.Um so erstaunter sind wir jetzt allerdings, daß Art. 2 des Zustimmungsgesetzes genau dieses Verfahren wieder vorsieht. Und hier wollen wir Änderungen.Richtiger wäre es ohne Zweifel gewesen, zuerst die Vereinbarung abzuschließen wie gegenüber den USA und dann ein Gesetz zur Zustimmung durch das Parlament zu verabschieden. Aber, Herr Bundesaußenminister, sollte dieses Verfahren aus Gründen, über die Sie uns informieren müssen, den Vertrag, den wir ja wollen, unmöglich machen, dann muß gemeinsam nach einem Weg gesucht werden, der die Zustimmungsrechte des Parlaments in einwandfreier Weise wahrt.
Ich darf einmal diesen etwas komplizierten Vorgang in ein alltägliches Bild übersetzen: Der von Ihnen vorgesehene Weg mutet uns zu, zunächst einmal als Bundestag einen Blankoscheck zu unterzeichnen, in den dann die Bundesregierung den Betrag einsetzen darf. Genau dies wollen wir nicht.Nun können und werden Sie auch sagen, daß die Noten des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland und die Antwortnote der Botschaft der UdSSR, die zu einer Vereinbarung zwischen beiden Ländern führen sollen, die mit dem INF-Vertrag in Kraft tritt, in der Anlage beigefügt sind. Um im Bild zu bleiben: Die Bundesregierung zeigt damit ihre Bereitschaft, den Betrag zu nennen, den sie hinterher in den Blankoscheck einsetzen will.
Aber das reicht eben nicht aus. — Das „Na also" hätte vielleicht von einem Mitglied der Bundesregierung kommen dürfen, aber nicht von einem Vertreter dieses Parlaments; denn es geht genau um dessen Rechte. Herr Kollege, bei der Wahrung der Rechte des Parlaments kann man wirklich nicht genau genug sein.Wir wollen nicht — um das ganz deutlich zu betonen — , daß die Bundesregierung an Hand der Ratifikation eines Vertrages, den wir wollen, mit Erfolg wieder einmal Schrittchen für Schrittchen — sozusagen durch die Hintertür — ihre innerstaatlichen Befugnisse weiter ausdehnt. Deswegen sagen wir Ihnen: Art. 2 des Ratifikationsgesetzentwurfes kann so nicht bleiben.
— Zu Ihnen als Person habe ich schon Vertrauen. Ich muß Ihnen aber sagen: Zwischen Bundesregierung und Bundestag habe ich das System der verfassungsmäßigen „checks and balances" , soweit wir sie haben, und der Kontrolle, viel lieber.
Ich will Ihnen aber auch noch den Weg andeuten, den wir für gerade noch akzeptabel halten würden,
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4752 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Frau Dr. Däubler-Gmelinwenn Sie uns das abweichende Verfahren gegenüber der Sowjetunion und den unterschiedlichen innerstaatlichen Weg wirklich zwingend begründen können. Wenn die im Anhang abgedruckten Noten den Vertragsinhalt wirklich abschließend umfassen und enthalten sollen, dann ist, Herr Bundesaußenminister, deren ausdrückliche Aufnahme in Art. 2 des Ratifikationsgesetzentwurfes etwa in der Form, daß der Bundestag von ihnen zustimmend Kenntnis nimmt und die Bundesregierung dazu ermächtigt, eine Vereinbarung mit der Sowjetunion in Kraft zu setzen, die ausschließlich sie zum Inhalt hat, das Minimum dessen, auf dem der Bundestag bestehen muß.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Grundlage des Ratifizierungsgesetzes, um das es heute geht, ist zweifellos ein für uns besonders wichtiger Vertrag. Nach der Stockholmer Konferenz verpflichten wir uns erneut, Inspektionen auf unserem Territorium zuzulassen. Dieser Vertrag enthält nicht nur die Verpflichtung, diese Inspektionen zuzulassen, sondern auch die, sie zu erleichtern, diplomatische Rechte an Nichtdiplomaten zu erteilen, Transportmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, Fernmeldeverbindungen herzustellen und verschiedene Unterrichtungspflichten. Der Vertrag hat eine Gültigkeit von 13 Jahren. Wir hoffen, daß das kein schlechtes Omen sein wird, sondern daß das eher eine Glückszahl ist. Ich habe keinen Zweifel, daß wir Deutsche uns als gute Gastgeber erweisen werden. Der Text ist mit den Verbündeten koordiniert.Sehr verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, die Problematik, die Sie angesprochen haben und die wir grundsätzlich anerkennen, wird bei den Ausschußsitzungen sicher eine Rolle spielen. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, daß Ihr Kollege Bahr gestern in der Sitzung des Unterausschusses „Abrüstung und Rüstungskontrolle" noch der Auffassung war, man könne in einer Sitzung mit dem Gesamtproblem fertig werden,
und deswegen fast euphorisch gesagt hat, bereits nächste Woche könnten wir uns darüber abschließend unterhalten.
— Wir werden es in den Ausschüssen beraten.Vor allen Dingen ist anzuerkennen — das möchte ich ausdrücklich herausstreichen — , daß die Bundesregierung eine direkte vertragliche Verpflichtung der Sowjetunion eingeholt hat, sich streng an die Bestimmungen über die Inspektion und ihre Begrenzung zu halten. Herr Bundesaußenminister, es ist schon fast mutig, daß wir das gleich mit einem Notenwechsel begründet haben.Allerdings ist eines schade: Daß diese Vereinbarung leider nicht das Grundprinzip des „do ut des" enthält, das eigentlich ein wichtiges Vertragsprinzip ist. Deswegen möchte ich anregen, daß wir uns doch einmal Gedanken machen, ob es nicht möglich ist, auch die Grundlage dafür zu geben, daß deutsche Inspektoren mit beteiligt werden. Warum soll eigentlich bei diesem Vertrag, der uns berührt und bei dem wir unsere Souveränität einschränken, die Inspektion nur auf amerikanischen oder sowjetischen Inspektoren aufgebaut sein?Ich bin also schon der Auffassung, daß wir in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion festlegen sollten, daß auch Deutsche mitbeteiligt sind; denn eines ist vorauszusehen: Es wird in Zukunft — auch bei den weiteren Verhandlungen, die anstehen — das Inspektoren-Knowhow eine ganz wichtige Rolle spielen. Wir brauchen Leute, die auch dieses Instrumentarium kennen, und ich bitte darum, Herr Bundesaußenminister, daß wir das durchaus einmal ins Auge fassen. Ich werde auch das in die Ausschußberatungen mit einbringen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Verabschiedung des Ratifizierungsgesetzes ist ein Akt des Vertrauens, der diesmal auch in der Verantwortung des Parlaments liegt. Es ist ein Vertrauen, das dem INF-Abkommen zugrunde liegt. Wir müssen aber erneut festhalten: Mit der Durchführung und auch schon mit dem Abschluß des INF-Abkommens — letzteres, weil damit ein Stationierungsstopp verbunden war — haben wir einen Teil unserer Sicherheit durch das Prinzip Hoffnung ersetzt, und wir können nur hoffen, daß das keine Illusion war.Wir entziehen mit der Einräumung der Inspektionsrechte darüber hinaus einen Teil unseres militärisch einplanbaren Raumes einer gewissen Verfügungsgewalt. Angesichts der Größenverhältnisse der Territorien ist das für uns vergleichsweise problematisch. Wenn ich Inspektoren in ein bestimmtes Gebiet hineinlasse, ist dieses Gebiet für mich in der militärischen Planung nicht mehr so nutzbar. Vertrauen und Vorleistung können aber nicht die einzigen Prinzipien unserer Sicherheit sein, vor allem dann nicht, wenn sie sich bisher nur auf Worte, leider nicht auch auf Taten auf der anderen Seite stützen können bzw. wenn die Taten auf sowjetischer Seite — auch das muß herausgestellt werden — bislang keinerlei Vertrauen rechtfertigen. Drei Jahre Gorbatschow bedeuten bislang nur Aufrüstung in allen militärischen Bereichen, und wir müssen festhalten, daß die ohnehin weit überlegene Kampf- und Feuerkraft der Sowjetunion nochmals aufgestockt wurde und daß die Militärdoktrin bisher noch nicht geändert wurde. Selbst wenn wir Gorbatschow unterstellen wollen, daß er es gut und besser meint, entspricht dies eben bisher der Herrschaftsstruktur in der Sowjetunion.Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben vor Jahrzehnten auf die Herstellung von Atomwaffen verzichtet. Wir haben auf die Verbreitung von Atomwaffen verzichtet. Damit haben wir auch ein Recht darauf, zu verlangen, daß endlich etwas geschieht, daß nicht nur verhandelt und geredet wird. Vielleicht kann das auch einmal der Sowjetunion klargemacht werden. Es ist jedenfalls ein Anliegen des ganzen Deutschen
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LowackBundestages, darauf hinzuweisen. Wir wollen keine Angebote, bei denen auch der Dümmste merkt, daß sie kein Mehr, sondern ein Weniger an Sicherheit bedeuten würden. Auch die letzten Vorschläge des Warschauer Paktes aus Sofia waren nicht so hinreißend, daß wir sagen könnten, sie wären eine Grundlage für weitere Verhandlungen.Ich meine damit auch die Einseitigkeit im Denken und in der offiziellen Polemik, die wir aus der Sowjetunion heraus, z. B. durch Radio Moskau, immer noch hören, mit der ständig verdeckt wird, daß die Sowjetunion auch ihre Kurzstreckensysteme modernisiert und diesen Modernisierungsprozeß niemals abgestoppt hat, gleichzeitig aber von uns verlangt, auf jegliche Modernisierung zu verzichten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten nicht vergessen und immer wieder herausstellen, daß die NATO mit den Beschlüssen in Montebello 1983 eine wesentliche Abrüstung ihrer nuklearen Potentiale beschlossen und auch durchgeführt hat und daß die andere Seite dieser Entscheidung die war, zu modernisieren.Die Bundesregierung hat in der Zwischenzeit in Vorbereitung des Gesamtkonzepts der NATO einen Vorschlag unterbreitet, der auf gleichen militärischen Stärken aufbaut. Wir begrüßen diesen Vorschlag, weil er der richtige Ansatz ist und viele Probleme, die wir mit den MBFR-Verhandlungen erlebt haben, von vornherein ausschließen würde. Es ist erfreulich, daß diese Konferenz in der Zwischenzeit so weit vorbereitet ist, daß die Ziele und Methoden bereits feststehen. Es liegt nun an der sowjetischen Führung, nicht nur permanent Hoffnungen zu wecken, sondern ihnen auch gerecht zu werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben bislang alles getan, was wir tun konnten.
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Behandlung unseres heutigen Tagesordnungspunktes bringt es mit sich, daß wir eine allgemeine Bewertung des INF-Vertrages vornehmen. Ich stehe nicht an zu erklären: Die Bedeutung des INF-Abkommens weiß nur der richtig einzuschätzen, der sich vergegenwärtigt, in welche gefährliche Entwicklung Europa bei Scheitern der INF-Verhandlungen geraten wäre. Wenn wir die Situation in diesem Jahr mit der im Jahr 1983 vergleichen, dann, denke ich, ist die Erleichterung und die Zufriedenheit über das Zustandekommen dieses Abkommens mehr als berechtigt.Das Zustandekommen der Abrüstungsvereinbarung ist bekanntlich nicht zuletzt Ausdruck einer radikalen Veränderung der sowjetischen Politik. Insofern ist es nach meiner Überzeugung keine Übertreibung, wenn wir den neuen sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow als Glücksfall in der Geschichte Europas bezeichnen. Seine radikalen Abrüstungsvorschläge, die Ansätze zu Demokratisierung des sowjetischen Staates im Rahmen der Perestroika und die, wenn auch vorsichtige kulturelle Öffnung nach Europa eröffnen für eine neue Politik auch auf deutscher Seite große Möglichkeiten.Erstaunlicherweise trifft das weitreichende Angebot, das die Neuorientierung der sowjetischen Politik enthält, auf eine eher verhaltene Resonanz im Westen. Vor allem die klägliche und kleinkrämerische Art und Weise, wie auf westlicher Seite — man kann vielleicht sagen: auf mancher westlichen Seite — mit den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows umgegangen wird, muß von uns entschieden kritisiert werden. Die mutige Idee eines atomwaffenfreien Europas als Vorstufe einer weltweiten Ächtung dieser Massenvernichtungsmittel sollte uns nicht beängstigen, sondern ermutigen.
Für uns ist eine atomwaffenfreie Welt nun gewiß kein Schreckgespenst, Karsten Voigt.
Daß Herr Lamers hier wieder eine Darbietung gezeigt hat, bei der man eigentlich sagen muß, daß Sie immer noch in einer — entschuldigen Sie, Herr Lamers — bornierten Weise auf das Abschreckungsdenken fixiert sind, ist ein Tatbestand, mit dem wir uns vielleicht nicht näher beschäftigen müssen, der aber etwas über Ihr rückwärts gewandtes Denken aussagt.
Die Vorschläge zu einem kontrollierten weltweiten Verbot von Chemiewaffen bedürfen einer klaren Antwort aus dem Westen. Auch das ist ein Vorgang, den man nicht oft genug unterstreichen kann: Nachdem von sowjetischer Seite die Bereitschaft vorhanden ist, ein weltweites Chemiewaffenverbot strikt zu kontrollieren, wird nun auf westlicher Seite, auf US-amerikanischer Seite, eine Barrikade errichtet. Das ist ein Vorgang, den der Deutsche Bundestag auch genügend zu würdigen hat. Ebenso sollte auf westlicher Seite endlich auf die Vorschläge der Sowjetunion zu konventioneller Abrüstung konkret eingegangen werden. Man kann sie ja kritisieren, aber es wäre doch längst an der Zeit, daß der Westen nun einmal konkret sagt, was denn seine Vorstellungen für konventionelle Abrüstung sind.Die Diskussion über die Bedeutung des INF-Abkommens darf sich aber nicht auf die militärische Seite beschränken. Es ist auffällig, daß diese weitreichende Abrüstungsvereinbarung insbesondere in der Bundesrepublik zu Irritationen und Verunsicherungen geführt hat. Offenkundig dämmert es einigen, daß die Entfernung der gewohnten militärischen Stabilisatoren die Legitimität der bisher propagierten Staatsräson ins Wanken bringt. Zweifellos gewinnen wir mit dem INF-Abkommen aber mehr und neue politische Handlungsspielräume. Wenn Abbau der militärischen Konfrontation eine neue politische Dynamik in Europa auslöst, heißt das, daß auch der Status quo der letzten 40 Jahre in Bewegung kommen kann. Manche sehen darin vielleicht eher eine Gefahr. Manche westlichen Machtverwalter scheinen eine demokratische Sowjetunion sogar als größere Be-
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Schilydrohung zu empfinden als die Aufrechterhaltung der alten militärisch-diktatorischen Strukturen.
Für uns kommt es aber darauf an, das überholte militärisch fixierte Denken in der Außenpolitik zu überwinden. Wer die geschichtlichen Lehren richtig versteht, vermag zu erkennen, daß militärische Stärke für die Deutschen stets politische Schwäche bedeutet hat. Selbst wenn wir vorsichtiger formulieren, müssen wir wissen, daß ein großes Militärpotential der Deutschen ein Hindernis auf dem Wege zur Erreichung politischer Ziele ist und den politischen Handlungsspielraum verengt.Wir wollen gewiß nicht eine Abkehr von den Prinzipien eines republikanischen demokratischen Staates; ganz im Gegenteil. Deshalb sind vielleicht Vorstellungen einer Neutralisierung Mitteleuropas eher geeignet, Mißverständnisse zu wecken. Demilitarisierung Mitteleuropas, nicht Neutralisierung sollte deshalb unser Ziel sein.Die Deutschen als militärischer Machtkonkurrent in Europa haben stets nur Unheil angerichtet. Nicht auf militärische Machtmittel, sondern auf Vertrauen, auf die Plausibilität, auf die Anziehungskraft von Demokratie, Freiheit und Solidarität sollten wir setzen. Das INF-Abkommen verändert die politische Statik Europas. Jetzt sind neue Entwürfe gefragt für die politische Gestalt Europas, für die bisher allenfalls Ideenskizzen vorliegen.Unsere Vision ist ein Europa, dessen Strukturprinzipien Freiheit, Demokratie und Solidarität sind. Europa als kulturelle, nicht militärische Großmacht — das ist ein Ziel, für das es sich zu arbeiten lohnt und in dem die Jugend Europas einen neuen Lebenssinn finden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat den INF-Vertrag und seine erfreulichen Ratifizierungschancen im amerikanischen Senat begrüßt. Für die landgestützten nuklearen Kurzstrekkenraketen fordert die SPD den beiderseitigen Abbau. Unser Ziel ist ihre völlige Beseitigung, aber zumindest die Beseitigung des völlig unerträglichen Kräfteverhältnisses von 15 : 1 oder 1 365 : 88 Systemen. Das werden Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ja wohl noch mitmachen wollen. Wir fordern einen Abbau durch Verhandlungen und außerdem, daß diese Kurzstreckensysteme während der Dauer der Verhandlungen nicht modernisiert werden.Die SPD will den mit dem INF-Vertrag erzielten Durchbruch für Abrüstung und Rüstungskontrolle ausweiten und die Dynamik der Ost-West-Abrüstungsverhandlungen stärken — genau im Sinne dessen, wie es heute der Außenminister gesagt hat.Das erkennbare Umdenken der Sowjetunion in militärischen Fragen muß auf seinen Realitätsgehalt hin getestet werden, statt sich haltlosen Spekulationen hinzugeben, Gorbatschow könnte vielleicht dochnoch wackeln. Die sowjetische Bereitschaft, auf die von uns geforderte Unfähigkeit zum Angriff einzugehen und sowohl Strategie als auch Streitkräfte dispositiv des Warschauer Pakts auf das Maß unseres Verständnisses von Verteidigung zurückzuführen, muß ausgelotet werden.Dieser politische Prozeß darf nicht durch neue nukleare und konventionelle Rüstungsrunden unterlaufen werden. Es ist doch widersinnig, östliche Angebote einer asymmetrischen Abrüstung auf gleiche Streitkräfteobergrenzen in Europa nicht einmal aufzugreifen, wenn man gleichzeitig eine Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts konstatiert — eine besonders zweifelhafte Wortschöpfung von Herrn Wörner, mit der er sich von allen sozialdemokratischen Verteidigungsministern unterscheidet.Nun hat der Warschauer Pakt im Appell von Sofia gesonderte Verhandlungen über die Verringerung taktischer Nuklearwaffen in Europa angeboten, und leider gibt es bei uns wieder keine Reaktion. Der Deutsche Bundestag hat am 15. Oktober 1987 beschlossen, daß nach dem Abschluß von Vereinbarungen im INF-Bereich auch Verhandlungen über die landgestützten atomaren Flugkörper unter 500 km entsprechend dem Beschluß der NATO-Außenministerkonferenz in Reykjavik vom 12. Juni 1987 notwendig sind.Wer an der nuklearen Rüstungsspirale dreht oder drehen läßt, hat jedoch keine politische Atempause, Herr Kollege Ronneburger. Oder glaubt der Kanzler etwa noch an seine Washingtoner Erklärung vom 20. Februar, daß die Frage der Modernisierung dieser Waffen in der Reichweite 100 bis 500 km — ich zitiere wörtlich — „irgendwann zwischen 1992 und 1995" zu stellen ist? Seine Frage — Sie haben sie heute fast wörtlich wiederholt — : „Wer zwingt uns denn, heute, 1988, über dieses Thema zu reden?" wurde jedenfalls von Herrn Wörner, wurde vom Generalinspekteur, wurde von Staatssekretär Rühl hinreichend beantwortet, und leider negativ im Sinne dessen, wie wir uns politische Folgewirkungen wünschen.
Herr Kollege Ronneburger, ich will darüber nicht unnützerweise streiten, aber es muß über die substantiellen Fragen gestritten werden, damit hier nicht mit weißer Salbe über bestimmte Dinge gestrichen wird, die ausdiskutiert werden müssen. Da sagt am 11. April 1988 in Hamburg der Verteidigungsminister wörtlich: „Wer darum bei uns einen Modernisierungsverzicht fordert, fordert die einseitige Abrüstung. " Es kommt noch dicker. Da sagt der Generalinspekteur — ihn zitiere ich nur, den Generalinspekteur greife ich nicht an; der Soldat steht unter dem Primat der Politik; ich habe dies immer vertreten, dies ist unabdingbar notwendig; er vertritt infolgedessen die Position seines Ministers — in seinem Interview in der „Süddeutschen Zeitung" : „Ausgehend von diesen beiden Vorgaben, der politischen wie der technischen, meine ich, es wäre sinnvoll, die nukleare Komponente in Europa auf andere Qualitäten zu begründen, als die Lance sie heute hat, z. B. eine größere Reichweite, deutlich unter 500 km." Hier wird mit falschen Begriffen gehandelt. Es handelt sich nicht um eine Modernisierung, sondern hier wird eine völlig neue Qualität nuklearer
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HornWaffen in die Entwicklung und möglicherweise in die Einführung gegeben, die einen neuen Rüstungsschub qualitativer und quantitativer Art eröffnet. Das ist der Punkt, über den gestritten werden muß.
Deshalb, Herr Kollege Ronneburger, dürfen Sie hier keine Nebenkriegsschauplätze mit uns eröffnen. Ich sage Ihnen: Stärken Sie Ihrem Außenminister den Rücken, denn ihm stehen wir in dieser Frage wesentlich näher als dem, was Sie heute sagten und was der Kollege Wörner sagt.
Dagegen machte der Außenminister wiederholt deutlich, daß das politische Konzept der Abschrekkung durch ein Konzept der gemeinsamen oder, wie der Außenminister es nennt, der kooperativen Sicherheit ersetzt werden muß. Wir freuen uns darüber, daß wir uns — auch bei leicht veränderter Wortwahl — inhaltlich mit dem Außenminister in dieser Hinsicht übereinstimmen. So ist der INF-Vertrag auch ein Schritt in die richtige Richtung, um von einer gegenseitigen Verunsicherung zu einer gemeinsamen Sicherheit zu kommen. Wenn der Außenminister dieses sicherheitspolitische Konzept so weiterverfolgt, dann hat er ganz klar auch die Unterstützung der Sozialdemokraten.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz auf folgende Punkte eingehen: Die Krisenstabilität ist das Problem der landgestützten Raketen. Warum also will die Bundesregierung darauf sitzen bleiben und sie auch noch modernisieren? Herr Kollege Ronneburger, ist es denn sinnvoll, die europaweiten Raketen abzubauen und dann die deutschlandweiten zu modernisieren? Ist es denn nicht so, daß das Ziel, von den Raketen auf beiden Seiten ganz wegzukommen, vor allem bedeutet, von einer instabilen und voraussichtlich krisentreibenden Situation wegzukommen? Geht es nicht darum, den Nuklearwaffen vielmehr wieder den Charakter der politischen Waffen zuzuweisen? Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, daß bei den Kurzstreckenraketen ein Kräfteverhältnis von 1 : 1 erreicht würde, blieben Einsatzflughäfen Schlüsseleinrichtungen der NATO unter der Raketendrohung. Ist es denn nicht so, daß die Raketenmodernisierung dann zum Zugzwang führt, eine Raketenabwehr aufzubauen, also Herrn Wörners erweiterte Luftverteidigung legitimiert? Wäre das nicht so ziemlich identisch mit einem Teil des SDI-Konzepts, und stünde dies überhaupt in irgendeinem vertretbaren Kosten-Nutzen-Verhältnis.Schließlich: Herr Wörner, wo wollen Sie eigentlich auch noch für diese Projekte das Geld hernehmen? Heute morgen las ich gerade in einer Agenturmeldung, daß der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses — und zwar völlig zu Recht — die Frage nach der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr gestellt hat. Begründung für den Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses: Es mangelt am Geld. Da haben wir das handwerklich Notwendige nicht für die Verteidigungszwecke im herkömmlichen Sinne, und dannwird herumphantasiert von Science-fiction ohne Science, von einer Überbelastung, die den Verteidigungsinteressen gar nicht dient, aber zugleich internationales Vertrauen zerstört und uns in eine schwierige Situation während der Abrüstungsgespräche bringt.Ich fasse zusammen. Das System der Abschreckung soll durch die politische Konzeption der gemeinsamen Sicherheit oder, wie der Außenminister sagt, der kooperativen Sicherheit ersetzt werden. Ein durchgreifender Wandel der Beziehungen zwischen NATO und Warschauer Vertrag fordert entscheidende Veränderungen auf drei Gebieten: Erstens Neuorientierung der Militärstrategien an der Defensive, zweitens Veränderungen der beiderseitigen Streitkräftestrukturen einschließlich Waffen, Personal, Organisation und Stationierungen mit dem Ziel der Nichtangriffsfähigkeit
und drittens Kontrolle der Einhaltung der Vereinbarungen.Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit erfordert eine neue Strategie. Offensive Optionen werden auf beiden Seiten zugunsten ausreichender defensiver Maßnahmen reduziert. Dies trägt dem beiderseitigen Sicherheitsbedürfnis Rechnung. Um die neue Strategie der beiderseitig optimierten Verteidigung wirkungsvoll zu gestalten, sind wesentliche Veränderungen im Aufbau und in der Planung der Streitkräfte nötig. Nach dem INF-Vertrag streben wir in Europa eine Null-Lösung, wie es der Kollege Voigt schon klar gesagt hat, für die nuklearen Kurzstreckensysteme unter 500 km Reichweite und für die nuklearen Gefechtsfeldwaffen sowie konventionelle Stabilität beiderseits an.Ein Zwischenschritt zu einer Null-Lösung und zugleich eine Maßnahme militärischer Vertrauensbildung und Entspannung wäre die Einrichtung eines nuklearwaffenfreien Korridors entsprechend einer Übereinkunft von SPD, SED und KPC, die inzwischen von den Regierungen der DDR und der CSSR übernommen worden ist.Wir fordern weiterhin nachdrücklich den Abschluß eines Vertrags über die weltweite Ächtung und Vernichtung von Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle. Bei den konventionellen Waffen und Streitkräften muß die Reduzierung derjenigen Waffenpotentiale und Verbände mit Vorrang angestrebt werden, die für Überraschungsangriffe und raumgreifende Offensiven besonders geeignet sind. Dabei handelt es sich um Kampfpanzer und gepanzerte Fahrzeuge, Kampfflugzeuge, Boden-Boden-Raketen und sonstige Flugkörper entsprechender Reichweiten, Kampfhubschrauber und Artillerie nach gegenseitig vereinbarten Kriterien.Unser Grundsatz heißt: Bestehende Überlegenheiten in Waffen, Soldaten und Optionen sind nicht durch Aufrüstung auszugleichen, sondern durch Abrüstung abzubauen.
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HornVielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Sie werden es dem Bundesminister der Verteidigung nicht verargen, wenn er die Gelegenheit nutzt, auch seinerseits seine Befriedigung darüber auszudrücken, daß es zu diesem Abkommen zwischen den beiden Supermächten im Blick auf die Abrüstung der Mittelstreckenraketen gekommen ist. Als Bundesminister der Verteidigung habe ich, glaube ich, einen erheblichen Teil der Last der Stationierung mitgetragen. Ich habe von diesem Pult bzw. von dem Pult drüben den Mitbürgerinnen und Mitbürgern mehrfach gesagt, daß wir bereit wären, jede dieser neuen Raketen wegzunehmen, wenn die Sowjetunion das gleiche täte. Daß das möglich geworden ist — das stelle ich völlig unpolemisch fest — , ist der Erfolg unserer Standfestigkeit, der Erfolg der Klarheit unserer Politik und der Erfolg einer gesicherten Verteidigung.
Es ist gut und richtig, daß wir uns jetzt darüber einig sind.Ich will ein Zweites sagen: Das entscheidende Ziel unserer Politik — ich denke, der Außenminister hat das in der gebotenen Deutlichkeit hier gesagt, aber auch als Verteidigungsminister möchte ich das unterstreichen — bleibt die Kriegsverhinderung,
und zwar die Verhinderung nicht etwa nur nuklearer Kriege. Dieses Volk soll weder in einen nuklearen noch je wieder in einen konventionellen Krieg verwickelt werden,
in überhaupt keinen Krieg. Ich selbst habe als Kind einen Krieg erleben müssen. Wenn ich — dem Abschluß meiner Zeit als Verteidigungsminister näher gekommen — eines mit großer Befriedigung feststellen kann, dann ist es dies, daß es unserer Bundesregierung gelungen ist, in diesen fünfeinhalb Jahren nicht nur jeden Krieg für unser Land zu verhindern, sondern auch die Verständigung zwischen Ost und West voranzubringen und dazu beizutragen, daß zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte eine echte Abrüstungsvereinbarung zustande kam. Ich glaube, darauf können wir stolz sein.
Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Schily: Wenn man auch in Zukunft Kriegsverhinderung betreiben muß, sind dazu politische Anstrengungen nötig. Auch damit will ich mich gerne auseinandersetzen. Aber leider Gottes können die Menschen in dieser Welt ihre Freiheit und den Frieden nur bewahren, wenn sie in der Lage sind, sich zu verteidigen. Wir leben noch nicht in einer Welt, in der der völlige Verzicht aufWaffen möglich wäre. Im übrigen liegt es nicht an unserem Staat. Dieser Staat ist ausschließlich auf Verteidigung eingestellt. Wir werden unsere Waffen nie als erste einsetzen. Unsere Waffen sind allein zum Schutz gegen Angriffe gedacht, und nur so werden sie eingesetzt.
Nun haben wir dieses Ziel über vierzig Jahre lang verwirklichen können. Kriegsverhinderung war und bleibt das Kernstück der Strategie der Allianz, der flexiblen Reaktion. Herr Schily, wenn Sie das als rückwärtsgerichtetes Denken ansehen, dann sage ich nur: Ich hoffe, daß mit dieser Strategie auch weitere Jahrzehnte des Friedens und der Freiheit für unser Volk verbunden sind. Das ist nicht rückwärtsgerichtet, das ist ein Wunsch für die Zukunft. Deswegen gilt es, diese Strategie wirksam zu halten.
Zu dieser Strategie gehören konventionelle und auch nukleare Waffen. Ich glaube, ich bin nicht in der Versuchung, nukleare Waffen glorifizieren oder auch nur verharmlosen zu wollen. Nukleare Waffen sind schreckliche Waffen, unvorstellbar schreckliche Waffen. Aber gerade deswegen schrecken sie auch von ihrem Gebrauch ab. Es steht außer jeder Frage, daß die Sicherheit Europas auch weiterhin gebunden bleibt an die Existenz einer Mindestzahl dieser Waffen und an die Aufrechterhaltung der Eskalationsfähigkeit durch alle Ebenen hindurch bis hin zur strategischen. Wer die Nuklearwaffen völlig beseitigt, macht Europa sicher für konventionelle Kriege, ohne deswegen das nukleare Risiko ganz beseitigen zu können. Es gibt kein Zurück zur nuklearen Unschuld; niemand bedauert das mehr als ich. Aber das Wissen um die Herstellung von Nuklearwaffen bleibt in den Köpfen der Menschen.Wenn dann ein konventioneller Krieg ausbräche, wer könnte die daran Beteiligten hindern, Nuklearwaffen zu bauen, zumal man weiß, wie man sie macht? Das ist doch das Schicksal der Menschheit. Das hat Jaspers schon in den fünfziger Jahren geschrieben — Sie sollten das nachlesen — , nicht weil er ein Fanatiker dieser Waffen wäre — ich habe sie auch nicht erfunden — , sondern weil man klar sehen muß, daß es gilt, dafür zu sorgen, daß sie nie eingesetzt werden. Das ist die politische Wirkung, von der der Bundesaußenminister
— und auch Weizsäcker, sehr wohl — , wie ich finde, zu Recht gesprochen hat.Ich habe in meiner Rede in Hamburg — und damit bin ich bei der Frage der Modernisierung — deutlich gemacht, daß wir eine Neustrukturierung anstreben, daß wir weniger auf allen Ebenen haben wollen, daß wir die Waffen im Gleichgewicht haben wollen, damit sie nie eingesetzt werden und Kriege verhindern.Ich habe dann darauf hingewiesen — und ich hätte mir gewünscht, daß das auch von der SPD oder von den GRÜNEN einmal gesagt würde — , daß der Warschauer Pakt im Augenblick neue nukleare Waffen
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Bundesminister Dr. Wörnerbaut und einführt, also das tut, was er uns vorwirft und wovon wir nur für die Zukunft reden.Ich habe dann auf eine Reihe von konventionellen Aufrüstungsmaßnahmen des Warschauer Paktes hingewiesen; ich will sie hier wegen der Kürze der Zeit nicht zitieren.Anschließend habe ich folgendes gesagt — auch wenn die SPD fortlaufend das Gegenteil behauptet; ich zitiere jetzt wörtlich aus meiner Rede, aber nicht wie Sie, Herr Horn, wieder einmal nach der alten Methode nur selektiv — :Es versteht sich von selbst, daß die Mindestzahl an Waffen, die das Bündnis unbedingt zum Zwecke der Friedenssicherung braucht, auch wirksam gehalten wird. Insofern verstehe ich die Diskussion um die Modernisierung nicht. Der Warschauer Pakt modernisiert seine nuklearen Waffen ununterbrochen, ohne uns zu fragen. Wer darum bei uns einen Modernisierungsverzicht fordert, fordert die einseitige Abrüstung.Dann ging es weiter — lieber Herr Ehmke, vielleicht würden Sie das gütigst zur Kenntnis nehmen und aufhören, auf irgendeinen Pappkameraden einzuschlagen —Ebenso klar ist andererseits, daß gegenwärtig kein konkreter Entscheidungsbedarf besteht. Das Waffensystem Lance ist noch bis 1995 einsatzfähig.Warum haben Sie das nicht zitiert, Herr Horn? Dann geht es weiter:Gegenwärtig gibt es kein entwickeltes Nachfolgesystem, über dessen Einführung, Stationierung oder gar Beschaffung entschieden werden könnte. Über die Modernisierung der atomaren Kurzstreckenraketen muß im Rahmen eines westlichen Gesamtkonzepts entschieden werden.Das ist genau das, was der Bundesaußenminister gesagt hat; das ist genau das, was der Kollege Ronneburger gesagt hat.
Also würde ich doch darum bitten, daß Sie das künftig korrekt zitieren. Das ist meine Auffassung, und dabei bleibe ich.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe nur noch zwei Minuten.
Eine letzte Bemerkung: Spannungen — und hier bin ich ausnahmsweise, kann ich sagen, mit dem Kollegen Schily einig — entstehen in der Tat im politischen Bereich, und dort müssen sie letztlich gelöst werden. Militärische Maßnahmen, ob Aufrüstung oder Abrüstung, allein können deswegen den OstWest-Konflikt nicht auflösen. Sie können ihn, zumindest die Abrüstung, mildern. Aber sie können ihn nicht letztlich auflösen. Und deswegen muß die Lösung — in dem Punkt bin ich mit Ihnen einig — im politischen Bereich gefunden werden.
Was heißt das? Das heißt — und das ist eine Politik, die wir aktiv betreiben — , daß wir auf Verständigung aus sind. Das heißt aber auch, daß mehr Menschenrechte durchgesetzt werden müssen. Das heißt, daß die Weltmächte, jede Macht, eine Politik der Zurückhaltung in der Außenpolitik betreiben müssen. Das heißt, daß regionale Krisen geschlichtet werden müssen. Das heißt, daß man Konfliktmanagement betreiben muß. Das alles gehört in den Rahmen eines OstWest-Verhältnisses, das politisch friedlich ist.
Unser Ziel ist eine Friedensordnung Europas, bei der die Menschen Europas in Freiheit über ihr Schicksal entscheiden können und sich frei begegnen können. Das ist die Perspektive, auf die unsere Politik angelegt ist. Wir brauchen eine gesicherte Verteidigung. Das ist das Fundament, auf dem wir stehen. Wir brauchen das Bündnis. Aber auf diesem Standpunkt stehend, können wir es uns leisten — und wir tun es auch —, die Hand nach Osten auszustrecken, um eine friedlichere, um eine verständnisvollere Welt, um eine Welt mit mehr Freiheit herbeizuführen.
Das ist das Ziel unserer Politik, das bleibt es, meine Damen und Herren. Und dafür werde ich mich auch künftig einsetzen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann.Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen, und außerdem ist beantragt worden, die Vorlage zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es noch weitere Anregungen oder Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nunmehr Punkt 3 der Tagesordnung und den Zusatzpunkt zur Tagesordnung auf:3. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Hauff, Schäfer , Lennartz, Frau Dr. Hartenstein, Bachmaier, Frau Blunck, Duve, Fischer (Homburg), Jansen, Kiehm, Kühbacher, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Stahl (Kempen), Egert, Frau Conrad, Frau Dr. Götte, Dr. Schöfberger, Ibrügger, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDTschernobyl und die Folgen — Ein Jahr danach— Drucksachen 11/139, 11/755 —ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt-, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Daniels (Re-
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Vizepräsident Cronenberggensburg), Weiss , Frau Rust, FrauWollny und der Fraktion DIE GRÜNENBaustopp für die Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf— Drucksachen 11/260, 11/2121 —Berichterstatter:Abgeordnete HarriesSchäfer
BaumDr. Daniels
Hierzu, meine Damen und Herren, liegen Ihnen vor ein Entschließungsantrag der SPD auf der Drucksache 11/2102 — es handelt sich hier um einen veränderten Antrag, der gerade verteilt worden ist; ich bitte, das zu beachten — sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2110.Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß eine Debatte von zwei Stunden Dauer stattfindet. — Auch hiergegen ergibt sich kein Widerspruch, so daß ich das als beschlossen betrachten darf.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am 26. April jährt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum zweitenmal. Wenn wir einen Moment innehalten und uns vergegenwärtigen, welches Entsetzen, welche Gedanken, welche Angst, welche Betroffenheit, welche Emotionalität die sowjetische Bevölkerung und kurz darauf die Menschen dieser Welt erlebten, ist auch zwei Jahre danach festzuhalten: Wir dürfen weder jetzt noch in Zukunft taub sein, weder für die moralischen Fragen, weder für gesundheitliche und ökologische Folgen noch für die ökonomischen Folgen einer offensichtlich überholten Technik mit auf Dauer nicht zu verantwortenden Risiken.
Spätestens seit dem 26. April 1986 bedarf es zumindest der Einsicht, im Grunde bei allen, daß Tschernobyl mehr war als eine Technikkatastrophe. Tschernobyl hat in seiner Realität die Grenzen der Anwendung von Wissenschaft und Technik verdeutlicht. Diese Grenzerfahrung, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht verdrängen. So wie nach dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima im militärischen Bereich eine Grenze gegen Atomkrieg gezogen wurde, so ist mit Tschernobyl erstmals im zivilen Sektor der Technikanwendung eine Technik deutlich geworden, die das Maß des Menschen sprengt.Von dieser moralisch-ethischen Ebene her müssen wir die Kernenergie politisch bewerten, nicht nur, wie manche es gerne tun, von ihrer technischen Seite her. Vor diesem Hintergrund gesehen ist auch nicht derjenige technikfeindlich, der aus der Kernenergie heraus will. Im übrigen ist in den Regierungsparteien die Zahl der Übergangstechnologieanhänger seit Tschernobyl und dem Transnuklear-Skandal erstaunlich angewachsen. Wenn man den verschiedenen Presseorganen glaubt, ist Bundesminister Töpfer dabei, ins Lagerderjenigen umzuschwenken, die die Kernenergie nur noch für eine Übergangszeit nutzen wollen.Herr Töpfer, Herr Grüner, die politische Konsequenz müßte dann aber sein, den Schnellen Brüter und die Wiederaufarbeitungsanlage konkret aufzugeben. Politische Konsequenz müßte dann auch sein, den Anteil der Stromerzeugung aus Kernenergie zu verringern, statt ihn weiter zu erhöhen, wie es gerade in diesen Tagen durch die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Krümmel, die anstehende Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Lingen und die auch von der Bundesregierung betriebene Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Neckarwestheim II geschehen soll.
Politische Konsequenz müßte dann eine konsequente Einsparstrategie und die Einführung regenerativer Energiequellen sein — das erste Gebot übrigens, gleichgültig, wie man sonst in Fragen der Energiepolitik denkt, einer vernünftigen Energie- und Umweltpolitik.Die Bundesregierung präsentiert sich auf diesem Feld im absoluten Nichtstun. Auch Herr Töpfer redet zwar gelegentlich über notwendige Maßnahmen; Initiativen von seiner Seite bleiben aber aus.
Technikfeindlich ist in Wirklichkeit also derjenige, der meint, wir könnten auf keinen Fall ohne Atomkraft leben.
Die vermeintliche Sachlogik technischer Zwänge darf und kann nicht die Rahmenbedingungen für politisches Handeln in der Zukunft bestimmen, meine Damen und Herren. Eine solche Politik hätte dann endgültig abgedankt.Lassen Sie mich, weil die Grenzerfahrung von Tschernobyl nicht verdrängt werden darf, eine kurze Bilanz — sicher nicht vollständig — der Reaktorkatastrophe heute, zwei Jahre danach, vornehmen. Sowjetunion: 31 Tote, ungefähr 1 000 Menschen, über deren Gesundheitsschädigung man nichts Genaues weiß, 135 000 Evakuierte, die nicht mehr in ein über 100 Quadratkilometer verseuchtes Gebiet zurückkommen dürfen, wahrscheinlich auf Generationen hin nicht. Die Strahlenbelastung dieser 135 000 Menschen lag bei dem 40fachen dessen, was nach deutschem Strahlenschutzrecht im Normalbetrieb ein Mensch pro Jahr in der Umgebung eines Kernkraftwerkes maximal abbekommen dürfte. Langfristgesundheitsschädigungen für die Menschen in der Evakuierungszone von Tschernobyl sind frühestens in einer Generation bestimmbar. Die Langzeitstudien von Hiroshima und Nagasaki zeigen das überdeutlich.Die geschätzte Zahl der zusätzlichen Krebstoten durch Tschernobyl allein in der Sowjetunion liegt bei 24 000 bis 100 000. Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: Wir dürfen die Grenzerfahrung von Tschernobyl nicht verdrängen, und wir müssen politische Folgerungen daraus ziehen.Ich will kurz etwas zu den ökonomischen Folgen, nur auf die Sowjetunion beschränkt, dieser Reaktorkatastrophe sagen. Auch heute sind die wirtschaftli-
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Schäfer
chen Folgeschäden vor allem in einem Ausfall an Stromerzeugung, der Nachrüstung der bestehenden Kernkraftwerke mit neuen Sicherheitseinrichtungen, der Veränderung der Ausbaupläne für neue Kernkraftwerke, dem langfristigen Ausfall von Ernteerträgen im kontaminierten Gebiet und den Folgekosten der Umsiedlung und Rücksiedlung der Bevölkerung noch nicht genau zu beziffern. Die offiziellen Folgekosten werden in der Sowjetunion mit 22 Milliarden DM angegeben. Es ist nicht unrealistisch, davon auszugehen, daß die Reaktorkatastrophe volkswirtschaftliche Schäden nach sich zieht, die in den kommenden Jahrzehnten auf das Drei- bis Vierfache der heutigen Schäden, also auf 66 bis 88 Milliarden DM, anzusetzen sind. So teuer kann der angeblich so billige Atomstrom werden.Vor diesem Hintergrund stellt sich auch bei uns die Frage nach den ökonomischen Kosten und Risiken der Kernenergie völlig neu. Wären die wirklichen Risiken der Kernenergie einschließlich der Entsorgungsrisiken privatwirtschaftlich zu versichern, der Kernenergiestrom wäre in jedem Fall teurer als der Strom aus umweltfreundlich verfeuerter Kohle.
Tschernobyl hat weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus große Schäden in Gesamteuropa verursacht. Sie wissen: In Schweden mußten 90 000 Rentiere notgeschlachtet werden; Landwirte, Gemüsebauern, Kleintierhalter, Fischer mußten in fast allen westeuropäischen Ländern entschädigt werden. Der ökonomische Schaden lag in diesen Ländern bei mehreren Milliarden D-Mark.Auf die Folgen in der Bundesrepublik wird meine Kollegin Blunck näher eingehen; sie wird eine Bestandsaufnahme vornehmen. Deswegen will ich nur etwas zu den ökonomischen Folgen sagen.In der Bundesrepublik wurden Entschädigungen in Höhe von ungefähr 430 Millionen DM gezahlt. 113 000 Anträge auf Entschädigungszahlungen nach § 38 des Atomgesetzes wurden gestellt. Die wirklichen ökonomischen Schäden dürften aber höher als die Entschädigungsleistungen liegen; wahrscheinlich bei ungefähr 1 Milliarde DM. Und das als Unfallfolge einer Katastrophe 2 500 km von der Bundesrepublik Deutschland entfernt.Die Bilanz der nackten Zahlen kann aber nur einen kleinen Ausschnitt darstellen. Es hat sich auch gezeigt, daß wir als Gesamtstaat auf eine Reaktorkatastrophe nicht ausreichend vorbereitet sind. Beispielsweise sind der Katastrophenschutz, die Strahlenmedizin, die Strahlenschutzvorsorge einer solchen Katastrophe nicht gewachsen. In Tschernobyl waren 135 000 Menschen zu evakuieren. Bei uns leben in der Regel 500 000 bis 2 Millionen Menschen im Umkreis von 30 km um die Kernkraftwerke herum. Es ist nicht auszudenken — und leider ist sie auch nicht auszuschließen — , welche Folge eine ähnliche Katastrophe in der dicht besiedelten Bundesrepublik hätte.Tschernobyl hat gezeigt, daß unser Staat keine Instrumente zur geordneten Bewältigung einer Katastrophe dieses Ausmaßes besitzt. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Man kann Reaktorkatastrophen mit neuen Gesetzen, neuen Ämtern, neueninternationalen Regeln — wenn wir sie denn hätten — gar nicht bewältigen. Es wird Sicherheit vorgegaukelt. Wer glaubt, mit administrativen, gesetzlichen Maßnahmen Katastrophen dieses Ausmaßes bewältigen zu können, unterliegt einem Trugschluß.
Dieses Fazit, ganz nüchtern festgestellt, ist aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu ziehen. Dieses Fazit wird gestützt durch die jüngste Entwicklung auf dem Gebiet der Kernenergie. Die Nichtbewältigung der jüngsten Fastkatastrophen im Bereich der Kernenergie erweist sich als politischmoralische Krise in diesem Politikfeld.
Tschernobyl war die größte Katastrophe in der Geschichte seit dem Beginn der Industrialisierung. Die Bewältigung der Katastrophe ist letztlich der nächsten Generation auferlegt.Zum Schluß will ich noch ganz kurz darauf eingehen — ich habe die Rede bewußt unpolemisch, sachbezogen, sachlich angelegt —,
was aus den Ankündigungen geworden ist, die unmittelbar nach Tschernobyl gemacht wurden. Erstens: internationale Regeln. Es wurde angekündigt, den Sicherheitsstandard im Rahmen der Internationalen Atomenergieorganisation und auf EG-Ebene auf das höchste Niveau anzuheben. Das ist nicht gelungen. Es fehlt nach wie vor an verbindlichen internationalen Regeln, die Sicherheit der Kernenergie über die Grenzen hinweg tatsächlich zu erhöhen.
Die Debatte über die Strahlengrenzwerte in der EG war skandalös. Die Internationale Atomenergieorganisation hat sich selbst als Kernenergieausbauverein betätigt und tut es weiterhin.Zweitens. Eine Verbesserung der Strahlen- und Katastrophenschutzvorsorge wurde angekündigt. Das Strahlenvorsorgegesetz hebelt den Strahlenschutz aus, anstatt den Menschen zu schützen. Es fehlen, wie Sie wissen, verbindliche Grenzwertfestsetzungen. Von einer Verbesserung der Katastrophenschutzvorsorge in der Bundesrepublik kann nicht die Rede sein. Zwei Jahre nach Tschernobyl ist trotz vollmundiger Ankündigungen und Erklärungen nichts geschehen.Drittens. Ich sage das nur als Randbemerkung: Molke. Das ist wirklich ein Beispiel für die Unfähigkeit dieser Regierung, mit einem tatsächlich begrenzten Tschernobyl-Folgeproblem fertig zu werden.Entsorgung: Mit dem Schachtunglück in Gorleben und spätestens mit dem Hanauer Atomskandal ist mehr als augenfällig geworden, daß die gesicherte Entsorgung radioaktiver Abfälle nur auf dem Papier steht. Das Entsorgungskonzept für schwach- und mittelradioaktive Abfälle, das Herr Töpfer jetzt der staunenden Öffentlichkeit vorlegt, ändert an der ungelösten Entsorgung nicht das geringste.
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Schäfer
Im Gegenteil, die Entsorgung wird jetzt fein in der Fläche verteilt in der Hoffnung, daß das Verdünnungsprinzip, nach dem hier vorgegangen wird, von den Menschen akzeptiert wird.Atomskandal Transnuklear: Das bisher Bekannte und Aufgedeckte im Zusammenhang mit dem Hanauer Atomskandal hat deutlich gemacht, daß die Politik der Kernenergiewirtschaft trotz Atomgesetz nicht wirklich kontrolliert ist. Die Grauzone, in der der Vorrang der Sicherheit zugunsten der wirtschaftlichen Vorteile permanent über Jahre verletzt wurde, ist ein breiter Graben geworden.Ich komme zum Schluß. Das Konzept der tiefen Schnitte, das Herr Töpfer noch im Januar hier ankündigte, dient letztlich nur dem einen Ziel, das verlorengegangene Vertrauen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung in eine Kernenergiepolitik des „Weiter so!" durch kosmetische Veränderungen wiederzugewinnen. Im Kern ist seit Tschernobyl nichts bewältigt, im Kern ist seit Tschernobyl nichts gelöst, im Kern ist die Politik der Bundesregierung auch seit Tschernobyl trotz anders lautender Erklärungen unverändert geblieben. Es bleibt bei dem stupiden „Weiter so!", weil die Kraft für eine energiepolitische Kurskorrektur bei der Bundesregierung und den sie tragenden Koalitionsfraktionen fehlt, trotz vermehrter anders lautender öffentlicher Erklärungen und verstärkt zur Schau getragener angeblich neuer Nachdenklichkeit.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus der Distanz von zwei Jahren können Ursache und Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl nüchtern bewertet werden, auch wenn während dieser zwei Jahre SPD und GRÜNE unentwegt die Emotionen angeheizt haben.
— Ich werde noch auf Herrn Schäfer zu sprechen kommen.In keinem anderen Land sind Fragen der Energieversorgung, also Fragen zuerst an Naturwissenschaftler, Techniker und Wirtschaftsfachleute, so mit Emotionen überladen.Der Unfall von Tschernobyl hat deutsche Kerntechnik und deutsche Sicherheitsphilosophie nicht in Frage gestellt, sondern indirekt bestätigt. Wegen der wesentlichen Unterschiede in der Reaktorphysik und der Sicherheitstechnik können keine direkten Parallelen zu unseren Kernkraftwerken gezogen werden. Insbesondere die Bauweise des sowjetischen Reaktors folgt nicht unserem Konzept der mehrstufigen Barrieren, das die Katastrophe mit Gewißheit verhindert hätte.Die Ereignisse von Tschernobyl sind auf Leistungsreaktoren in der Bundesrepublik Deutschland nicht übertragbar. Aber genau dies haben Sie, Herr Kollege Schäfer, wieder in schlimmer und unsachlicher Weise getan, wenn auch, zugegeben, mit ruhiger Stimme.Koalition und Bundesregierung haben seither gleichwohl eine Vielzahl wichtiger sicherheitsgerichteter Initiativen ergriffen: von der Wiener Expertenkonferenz, den technischen Nachrüstungsmaßnahmen für hypothetische Störfälle, dem Strahlenschutzvorsorgegesetz bis zum Konzept der Neustrukturierung der Kernenergiewirtschaft und der Einrichtung eines Bundesamtes für die Aufgaben Strahlenschutz, kerntechnische Sicherheit und Entsorgung. Die friedliche Nutzung der Kernenergie wird in der Bundesrepublik Deutschland auf sicherer, technisch solider Grundlage betrieben.Über die zusätzliche radioaktive Belastung aus Tschernobyl heißt es im Bericht der Bundesregierung zur Strahlenexposition im Jahre 1987:Die durch den Reaktorunfall verursachte mittlere effektive Folgedosis der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland liegt bei weniger als 12 mrem für das Jahr 1987 weit unterhalb der natürlichen Strahlenexposition, die je nach Wohnort zwischen 96 mrem und 480 mrem schwankt.
— So weit die Fakten, die Sie nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen. Das ist nachmeßbar, das ist so nachprüfbar, das ist die Realität.In der zu diskutierenden Großen Anfrage der SPD wird behauptet, daß in unserem Land Lebensmittel und Trinkwasser immer noch hoch verstrahlt seien,
sich die Berichte über den Anstieg von Mißbildungen bei Neugeborenen und von Totgeburten beim Weidevieh häuften, die Langzeitschäden überhaupt noch nicht absehbar seien.
Diese Schreckensbotschaften hatten und haben mit der Wirklichkeit unseres Landes nichts zu tun.
Es wäre an der Zeit, daß sich die SPD von dieser unverantwortlichen Agitation distanzierte.
Ein sachlicher Meinungsstreit ist so mit Ihnen von der SPD, mit den GRÜNEN überhaupt nicht mehr möglich. Die SPD instrumentiert den politischen Kampf mit den Ängsten der Bevölkerung vor radioaktiven Gefahren und mißbraucht jeden Anlaß zu einem gesinnungsethischen Schlagabtausch mit hemmungsloser Schuldzuweisung an die Koalition. So einfach wird das gespielt. Es fällt schwer, an Zufall zu glauben, wenn kurz vor jedem Wahltag altbekannte Schauergeschichten über bedrohliche Sicherheitsmängel, Mißgeburten und Leukämieepidemien im Umkreis deutscher Kernkraftwerke hochgezogen werden. Philippsburg und die baden-württembergische Landtagswahl liegen hinter uns; Krümmel, Brokdorf und Brunsbüttel stehen uns ins Haus — wie gehabt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4761
Dr. LaufsDiese Auseinandersetzung ist in der Tat öde und unfruchtbar geworden. Sie leidet an einem furchtbaren Mangel an Augenmaß und an einem Hypermoralismus, der es zunehmend unmöglich macht, vielfältig vorhandene Gefahren unseres modernen Lebens richtig einzuordnen und insgesamt im Interesse der Sicherheit der Menschen und der Umwelt angemessen zu bekämpfen.
Konkrete, brauchbare Problemlösungen bringt sie nicht hervor. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sachliche Bezüge nicht mehr von entscheidendem Gewicht sind. Wir erleben bei jedem Anlaß gewaltige Ausbrüche des Irrationalen, die sehr beunruhigend sind. Und die SPD ist immer mit vorne dabei.Der neu vorgelegte Entschließungsantrag der SPD zur Reaktorsicherheit und militärischen Tiefflugübungen ist bezeichnend. Darin fordert die SPD bis auf weiteres die Einstellung aller Tiefflüge der Bundeswehr in der Bundesrepublik.
Mit keinem Wort erwähnt ist das bestehende Überflugverbot für geringe Flughöhen
und die Tatsache, daß unsere Kernanlagen weltweit die einzigen sind, die gegen Flugzeugabstürze geschützt sind.
Das ist die Haltung einer Opposition, die sich rein emotional ihrer Aussteigermentalität hingibt. Die pragmatische, wirklichkeitsbezogene Vernunft ist zu einer Art neuem politischen Feind geworden.
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Daniels?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Laufs, ist Ihnen bekannt, daß zum Beispiel beim Atomkraftwerk Würgassen, beim Atomkraftwerk Brunsbüttel oder im Kernforschungszentrum Karlsruhe Anlagen stehen, die nicht gegen Flugzeugabsturz gesichert sind?
Das, was Sie hier glauben feststellen zu können, trifft so nicht zu. Es ist richtig, daß nicht alle Containments der höchsten Punktlast in einem kritischen Auftreffwinkel schnellfliegender
schwerster Militärmaschinen völlig widerstehen können, daß diese durchschlagen.
Trotzdem muß und wird das nicht zur Katastrophe führen, da Schutzmaßnahmen vorgesehen sind, die eine Kernschmelze und eine entsprechend große Freisetzung, wie wir sie in Tschernobyl unglücklicherweise gehabt haben, verhindern werden. Es gibt hier entsprechende Vorkehrungen im Gegensatz zu anderen Kernkraftwerken, die es sonst weltweit gibt. Das müssen wir doch hier einmal in aller Klarheit feststellen.
Darüber und auch über Nachrüstmaßnahmen haben wir doch im Ausschuß schon weiß Gott oft genug diskutiert, so daß ich immer wieder feststellen muß: Wer rational begründet, macht sich hier offensichtlich verdächtig, liegt in der emotionalen Werteordnung verkehrt, trägt der seelischen Befindlichkeit nicht Rechnung.
— Sie bestätigen das, und so sieht dann auch Ihre Politik aus.
Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer lassen Sie auch zu?
Ja.
Dann bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Laufs, wie würden Sie auf dem Hintergrund der eben von Ihnen dargestellten angeblichen Sicherheit von Kernkraftwerken gegen Flugzeugabstürze folgende Feststellung des baden-württembergischen Umweltministeriums bewerten — ich zitiere — , es bestehe die Gefahr bei einem direkten Sturz eines schweren Flugzeugs mindestens vom Typ Phantom mitten in die Kernkraftwerksanlage Philippsburg I hinein, daß es zu einer erheblichen radioaktiven Verseuchung komme? Wie würden Sie diese Aussage des baden-württembergischen Umweltministeriums bewerten?
Schauen Sie, das unterscheidet uns eben, daß wir differenzieren.
Es ist ein großer Unterschied, ob wir eine Katastrophe wie in Tschernobyl hier gleich als Horrorgemälde an die Wand malen mit Kernschmelze und Freisetzung des wesentlichen Inventars oder ob bei einer sehr begrenzten radioaktiven Freisetzung, wie sie natürlich zu befürchten ist, wenn z. B. die Hauptkühlmittelleitung zerstört wird, aber die Notkühlanlagen noch funktionieren, keine Kernschmelze eintritt.
Das führt nicht zur Katastrophe. Das muß unterschieden werden.
— Wer sich als Maxime auf die Fahne geschriebenhat, alles sofort abzuschalten, kann natürlich nicht
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Dr. Laufsanders als Sie hier reagieren. Sie müssen sich natürlich auch einmal die Wahrscheinlichkeit ansehen und überhaupt die Risiken gegeneinander abwägen und richtig einordnen. Dann kommen Sie zu einem anderen Urteil. Aber dazu sind Sie nicht mehr bereit, und das ist auch immer der Grund für diese unfruchtbare Auseinandersetzung.Das Grundgefühl auf Ihrer Seite ist eben, daß Sie von der Vorstellung ausgehen, unsere hochindustrialisierte Gesellschaft folge einem Mechanismus der Selbstzerstörung, der unausweichlich in die Endkatastrophe führen muß.
Wir setzen dieser trostlosen Weltschau Vernunft und Optimismus entgegen,
weil wir überzeugt sind, daß wir die wirklichen Gefahren so weit erkennen und vorsorglich meistern können, daß sich aus Störungen und Unregelmäßigkeiten, die im Leben nun einmal unvermeidlich sind, keine Katastrophen entwickeln. Das ist der Unterschied.Wir nehmen dabei alle Sorgen und Risiken sehr ernst. Risikominimierung ist für uns eine selbstverständliche Aufgabe. Wir vergessen aber neben dem Risiko den Nutzen nicht. Allgemeiner Wohlstand, der als selbstverständlich und geradezu als vorgegeben empfunden wird, macht offenbar blind für die Vorteile, die wir aus der modernen Industriegesellschaft ziehen.
Ein Hinweis auf den Nutzen der Kernenergie für unsere Energieversorgung, für den Schutz unserer Erdatmosphäre oder für den Schutz anderer natürlicher Ressourcen wird bei der Diskussion über die Risiken der Kernenergie von SPD und GRÜNEN selbstverständlich beharrlich vermieden. Wer versucht, die Bevölkerung mit erneuerbaren Energiequellen zu trösten, sollte so redlich sein und zugeben, daß die Kernenergie durch regenerative Energien in überschaubaren Zeiträumen nur zu einem sehr geringen Teil ersetzbar ist.
Wir sollten nicht wie gebannt auf Tschernobyl starren. Im Interesse eines weiter erhöhten Sicherheitsstandards sollten wir die vorliegenden Betriebserfahrungen mit unseren Reaktoren zügig auswerten und umsetzen und die Erkenntnisse aus den umfangreichen sicherheitstechnischen Forschungsarbeiten anwenden.Die Zukunft und der Fortbestand unserer modernen Industriegesellschaft hängen davon ab, ob wir künftig noch zu einer rationalen Risiko-Nutzen-Abwägung in der Lage sind. Für die Koalition kann ich diese Frage jedenfalls bejahen. Der Umgang mit dem Risiko muß auch in unserem Land wieder rationaler werden.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Daniels .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde eben wieder vorgeführt: Die Damen und Herren der Regierungskoalition wollen vertuschen und verdrängen, vergessen und verschleiern. In erschreckender Manier sind sie bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen, als wäre Tschernobyl nur ein Phantom gewesen.Auch wenn es für Sie unangenehm ist: Die GRÜNEN und die Bürgerinitiativen werden immer wieder die Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen, ins Gedächtnis zurückrufen
und keine Bundesregierung aus der Verantwortung entlassen, bis alle Atomkraftwerke stillgelegt sind.
Tschernobyl hat unser Leben verändert und hinterläßt auch seine Spuren. Die Nahrung wird weiterhin für viele Jahre nuklear belastet bleiben. Alles Wildfleisch wäre da zu nennen, genauso manche Teesorte aus der Türkei, die bis zu 2 500 Becquerel pro Kilogramm belastet ist, manche Pilzsorte oder die Schokoladenprodukte aus der Osterzeit, in denen man bis zu 100 Becquerel pro Kilogramm gefunden hat. Not macht erfinderisch, und zwar nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Händler, die etwa aus belasteten türkischen Haselnüssen flugs kalifornische werden lassen. Die langlebigen radioaktiven Stoffe wie z. B. Cäsium werden sich weiter im Biokreislauf verteilen und alle Grundnahrungsmittel durchdringen. Kartoffeln — 1987 nahezu unbelastet — weisen heute durchschnittlich 10 Becquerel pro Kilogramm auf. Bei Milch liegt der durchschnittliche Belastungswert heute beim Fünffachen des Abklingwertes nach den Atombombentests.Was haben diese Bundesregierung und ihr Kanzler in den letzten beiden Jahren und besonders nach der Katastrophe von Tschernobyl nicht alles gesagt und versprochen? Von der Atomkraft als Übergangsenergie und der verstärkten Förderung neuer Energieträger war die Rede. Nichts, aber auch gar nichts ist davon übriggeblieben. Mit der Inbetriebnahme der Kernkraftwerke Brokdorf, Mülheim-Kärlich, Ohu II und der zuletzt hingetricksten Dauergenehmigung für das Atomkraftwerk Krümmel wurde deutlich, daß die Regierungspolitiker jedes bessere Wissen ihrer Ideologie geopfert haben.Was wurde aus den angekündigten Sicherheitsüberprüfungen bei Atomkraftwerken? Die berühmte OSART-Kommission, die fälschlicherweise als Sicherheitskommission der Internationalen Atomenergiebehörde bezeichnet wird, reiste durch die Lande, um in jeweils drei Wochen einen Persilschein für den Weiterbetrieb auszustellen. Dabei hat sie z. B. das Atomkraftwerk Krümmel im Notfallschutztraining als extrem schlecht bezeichnet. Das berühmte Druckentlastungsventil, das eine Explosion verhindern soll, und
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Dr. Daniels
die nachträglichen Versuche, Knallgasexplosionen in Siedewasserreaktoren zu verhindern, können doch nicht alles gewesen sein.Es entspricht auch nicht dem internationalen Kenntnisstand, daß durch diese Maßnahmen Kernschmelzunfälle — wie in Tschernobyl geschehen — beherrschbar wären. Bei den Siedewasser- und den Druckwasserreaktoren sind Kernschmelzunfälle sofort zu Beginn des Ereignisses oder wenige Stunden danach möglich, ohne daß etwas gegen das Versagen des Containments getan werden könnte. Ein Flugzeug, das auf ein Atomkraftwerk abstürzt, ein Erdbeben, die Explosion eines Gastankers in der Nähe eines Atomkraftwerks, eine mit konventionellem Sprengstoff versehene Bombe oder Rakete, gegen all diese Einwirkungen ist ein AKW nicht ausgelegt. Allerdings äußerte der Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission nach dem Absturz der Mirage neben dem Atomkomplex Ohu: „Intuitiv würde ich sagen, daß ein solcher Absturz z. B. einer großen Verkehrsmaschine aus größerer Höhe keine Gefahr bedeuten würde. "
Intuition ist tatsächlich die einzige Basis bei der Beurteilung eines Aufpralls einer schnell fliegenden Phantom auf den Sicherheitsbehälter eines AKWs!
Lassen Sie mich exemplarisch die Kernenergiephilosophie der Bundesregierung beschreiben. Fallbeispiel 1: Wie lasse ich mir ein AKW genehmigen? Erst das übliche Verfahren, doch halt, eine Panne! Sogar der — wie vielfach bewiesen kernenergiefreundliche — TÜV war dabei, eine kritische Studie zu erstellen. Der Bundesumweltminister handelte sofort: die Arbeiten an der Studie einstellen, ein möglichst „sicheres" Institut damit beauftragen, eben diese Studie zu prüfen. Damit auch nichts schiefgeht, prüft eine Kernenergiekommission die Prüfung des Atominstituts und kommt zu dem Schluß — meine Damen und Herren, Sie wissen es sicherlich schon — : alles paletti. Die TÜV-Studie muß falsch sein, die Genehmigung wird erteilt.Im Klartext: Die atomfreundliche Gesellschaft für Reaktorsicherheit wird für den Zerriß eines TÜV-Gutachtens bezahlt, der ihr von der Atomlobby — Pardon, will sagen: Reaktorsicherheitskommission — beglaubigt wird. Das TÜV-Gutachten ist natürlich bis heute, anderthalb Jahre später, noch nicht fertig. So geschehen beim AKW Krümmel! Das gleiche erleben wir, wie heute zu lesen war, in Kalkar.Fallbeispiel 2: Wie setze ich eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage gegen ökologische, ökonomische und technische Bedenken sowie den Widerstand der Bevölkerung durch? Erst lege ich den Standort nach Bayern, dann umgehe ich die Vereinbarungen in der Bund- Länder-Kommission, ändere das Baurecht, verlege Polizeikasernen, schere mich einen Teufel um Gerichtsurteile, besteche Gemeinden und Anwohner usw. usf. Schließlich übernimmt der Steuerzahler, vertreten durch die Bayerische Staatsregierung, auch noch die Prozeßkosten für die DWK.Liebe Bundesbürgerinnen und Bundesbürger, nachdem die Bundes-SPD keine Einwendungen gegen die WAA erhebt, hat sie auch ihre Chance vertan, jemals gegen die WAA gerichtlich vorzugehen.
Nutzen Sie Ihre Chance dazu bis Ende nächster Woche, schreiben Sie direkt an das bayerische Umweltministerium und bringen Sie die Baustopplawine ins Rollen!
Herr Bundestagspräsident, nehmen auch Sie Ihre Chance wahr, erheben Sie Einwendungen, machen Sie mit Ihrer Unterschrift das Erörterungsverfahren zu einer Volksabstimmung gegen die WAA! — Ich bitte auch Sie, Herr Präsident, das zu unterschreiben.
Herr Abgeordneter, ich würde Sie bitten, das wieder mitzunehmen und die Ordnung des Hauses zu wahren.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich, Tschernobyl hat einen Schock ausgelöst. Das Gefährdungspotential der Kernenergie wurde sichtbar. Es wurde erneut sichtbar. Es hat ja auch davor — zwar nicht mit diesen gravierenden Auswirkungen— Fälle gegeben; ich denke an Windscale und Harrisburg.Die Bundesregierung hat zunächst — das ist kein Vorwurf an den Umweltminister Töpfer — nicht souverän reagiert, aber alles, was seitdem geschehen ist — ich beziehe mich jetzt auf den Bericht der Bundesregierung und auch auf die Antwort auf die Anfrage der SPD — , ist beachtlich und findet unsere Zustimmung.Wie schon nach Harrisburg hat die Bundesregierung die Folgen für die Bundesrepublik sehr sorgfältig analysiert, hat den ganzen Schadensfall analysiert, wie kaum ein anderes Land es getan hat, und hat auch Konsequenzen im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Sicherheitspolitik, der Vorsorgemaßnahmen und der internationalen Zusammenarbeit gezogen. Ich nenne auch das Strahlenschutzvorsorgegesetz und die Einrichtung des Bundesamtes für Strahlenschutz, das auf einen Vorschlag meiner Partei zurückgeht.Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Punkten — ich will einige nennen —, die noch nicht zufriedenstellend geregelt sind. Ich nenne zunächst die internationale Situation. Herr Bundesminister Töpfer hat jetzt dieser Tage in Tokio mit Recht darauf hingewiesen, daß die Kernenergie von der internationalen Sicherheit abhängig ist. Kernenergie ruht auf einem relativ dünnen Fundament öffentlicher Akzeptanz. Wir sind darauf angewiesen, daß die Sicherheitsvorkehrungen in internationaler Zusammenarbeit überall funktionieren. Weitere erhebliche Störfälle oder Katastrophen irgendwo auf der Welt hätten erhebliche Aus-
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4764 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Baumwirkungen. Wir werden Ende der 80er Jahre ca. 500 Kernkraftwerke weltweit haben. Wir müssen darauf dringen, daß Standards, die wir für richtig halten, auch international akzeptiert werden. Da gab es nach Tschernobyl einen Ruck durch die internationalen Organisationen. Aber ich habe den Eindruck, daß sich das nicht wünschenswert verdichtet hat.
Ich bin mit den bisherigen Ergebnissen nicht zufrieden. Die Bundesregierung sagt: Es handelt sich um einen langfristigen Prozeß der verstärkten internationalen Zusammenarbeit, er ist in Gang gekommen — er dauert mir zu lange. Das ist kein Vorwurf an die Bundesregierung, Herr Grüner, das ist eine Zustandsbeschreibung. Ich erwarte allerdings, daß sich die Bundesregierung mit Nachdruck dafür einsetzt, daß internationale Vereinbarungen verbessert werden. Das gilt für die internationalen Organisationen, das gilt auch für die bilaterale Zusammenarbeit. Ich habe gesehen, daß es eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit der DDR gibt. Ich bin noch nicht zufrieden, was die Tschechoslowakei angeht — ein großes Gefährdungspotential. Auch die Zusammenarbeit mit der DDR läßt sich noch verbessern. Ich möchte die Bundesrepublik auffordern und ermuntern, in diesem internationalen Bereich alle Kräfte anzuspannen und einzusetzen, damit nicht nach einem solchen Ereignis, nach einem solchen Schock dann plötzlich etwas geschieht und das dann wieder verebbt — wie wir es im Umweltbereich ja oft erleben. Wenn die Katastrophe in eine gewisse zeitliche Ferne rückt, dann tritt wieder Beruhigung ein.
Der zweite Punkt betrifft die Sicherheit der Anlagen, die ja ständig überprüft worden ist. Ich fordere für die älteren Kernkraftwerke in der Bundesrepublik weitere zusätzliche Maßnahmen, und zwar anlagespezifische Risikoanalysen, wie sie in der Schweiz, in Schweden und in Finnland vorgenommen werden,
und zwar neben den Überwachungen in angemessenen Zeitintervallen, die ja stattfinden. Ich möchte den Umweltminister ermuntern, den Ländern gegenüber in diesem Sinne tätig zu werden.Der dritte Punkt betrifft den Katastrophenschutz. Meine Partei hat nach Tschernobyl in einem Parteitagsbeschluß gesagt: Der Katastrophenschutz bedarf einer deutlichen politischen Aufwertung und zusätzlicher Finanzmittel. — Uns ist natürlich klar, daß die Katastrophenschutzplanung zweizuteilen ist. Es gibt eine Katastrophenschutzplanung im Bereich der Anlagen, und es gibt eine allgemeine Katastrophenschutzplanung der Länder. Eine Erfahrung nach Tschernobyl war, daß die allgemeine Katastrophenschutzplanung auf einen solchen Fall nicht vorbereitet war. Ich erinnere mich an viele damalige Gespräche mit Bürgermeistern, Oberstadtdirektoren und Landräten, die keine Ahnung hatten, was sie tun sollten, und auch keine Möglichkeiten, keine Instrumente und kein Material hatten, um für eine solche Situation, die nicht einen Störfall in der Bundesrepublik, sondern einen Störfall mit weiträumiger Strahlenbelastung betraf, gewappnet zu sein. Ich habe den festen Eindruck, daß hier im Katastrophenschutz in der Bundesrepublik Deutschland nicht genügend getan worden ist, und mahne das an; auch wenn ich durchaus positiv hervorhebe, daß die Strahlenschutzvorsorge wesentlich verbessert worden ist, d. h. die Meßsysteme, die gesetzlichen Grundlagen usw.Der vierte Punkt betrifft die Tiefflüge. Ich teile hier voll die Meinung meines Parteifreundes, unseres Kollegen Paintner, der ja in Landshut mit einem dieser Fälle zu tun hatte: Tiefflüge haben in der Nähe dieser Anlagen nichts zu suchen.
Wir müssen dafür sorgen, daß das verboten ist und daß das Verbot durchgesetzt wird, daß sich auch die Alliierten an dieses Verbot halten.Ich habe heute mit Befriedigung in der Zeitung gelesen, daß der Verteidigungsminister gestern erklärt hat, er könne die Zahl der Tiefflüge weiter einschränken. Man muß hinzufügen: Muß immer erst etwas passieren, bevor eine solche Erklärung möglich ist?
Ich weise darauf hin, daß ich als Innenminister und daß die atomrechtlichen Behörden des Bundes und der Länder die Verteidigungspolitiker in Bonn jahrelang immer wieder gebeten haben, die Tiefflüge zu beschränken und auf das Risiko, das hier gegeben ist, Rücksicht zu nehmen.Wir sehen, daß die Unfallrate zurückgegangen ist. Aber es gibt natürlich Risiken. Bei den älteren Kernkraftwerken sind sie höher als bei den neuen. Das muß man sehen, das darf man nicht verschweigen. Wir haben diese Risiken in die Risikostudien einbezogen. Wir können es nicht verantworten, daß Tiefflüge in der Nähe von Kernkraftwerken stattfinden.
Übrigens können auch Abstürze aus größerer Höhe erhebliche Folgen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Daniels?
Bitte.
Bitte schön, Herr Dr. Daniels.
Herr Baum, auch bisher sind Tiefflüge über Atomkraftwerken faktisch verboten. Das Entscheidende dabei ist doch: Wie kann jemand sozusagen erwischt werden? Wie kann kontrolliert werden, ob ein solcher Überflug stattfindet? Gibt es dazu überhaupt Möglichkeiten? Bis heute gibt es sie scheinbar nicht.
Uns wurde gestern im Ausschuß, dem Sie ja auch angehören — Sie waren anwesend — , erklärt, es gebe solche Möglichkeiten.Ich bin der Meinung — darauf werden wir heute nachmittag zu sprechen kommen — , daß wir auch aus anderen Gründen die Tiefflüge zurückdrängen müs-
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Baumsen; denn sie zeitigen ja auch Umweltfolgen, die nicht nur die Kernenergie betreffen, sondern die Gesundheit unserer Mitbürger.Der fünfte Punkt betrifft die Wiederaufarbeitung. Solange die friedliche Nutzung der Kernenergie stattfindet, muß meiner Meinung nach der Brennstoffkreislauf besser überwacht werden.
Zugleich stellt sich die Frage, ob der Brennstoffkreislauf verkürzt werden kann. In Übereinstimmung mit dem Gutachten 1987 des Sachverständigenrats für Umweltfragen bleibt daher die Forderung bestehen, die Umweltauswirkungen von Wiederaufarbeitungsanlagen einerseits und von direkter Endlagerung andererseits abzuwägen.Meine Partei hat beschlossen — ich wiederhole das hier — :Die FDP verlangt eine ernsthafte Prüfung, ob im Rahmen einer geschlossenen Entsorgungskette eine Konditionierung abgebrannter Brennelemente zur direkten Endlagerung an die Stelle der Wiederaufarbeitung treten soll. Wenn sich erweist, daß eine direkte Endlagerung unter Sicherheits- und Kostengesichtspunkten den Vorzug verdient, ist die Entsorgungsstrategie der Bundesrepublik entsprechend zu ändern.Das haben wir 1986 beschlossen.
Der sechste Punkt betrifft die Übergangsschritte, den Übergang von der Kernenergie und von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien. Meine Partei ist dabei, diese Übergangsschritte zu präzisieren, zu konkretisieren und zu forcieren. Wir wollen einen Maßnahmenkatalog zur Förderung einer rationelleren Energienutzung vorschlagen. Wir gehen davon aus, daß hier erhebliche Handlungsspielräume für eine Verminderung der Energienachfrage durch Maßnahmen der rationellen Energienutzung vorhanden sind. Wir werden dazu in Kürze, nämlich Ende Mai, Vorschläge entwickeln.Wir werden zum anderen Vorschläge für die Entwicklung und die Einführung umweltfreundlicher Energien vorlegen. Wir sind der Meinung, daß auch hier durchaus ein Spielraum besteht. Die vom Sachverständigenrat für Umweltfragen für möglich gehaltenen Ziele, wonach die erneuerbaren Energieträger bis zum Jahre 2000 einen Anteil von 7 bis 10 % erreichen können, müssen unseres Erachtens realisiert werden. Wir wollen diese Zukunftsenergien weiter und stärker in das öffentliche und das politische Bewußtsein rücken. Wir haben zur Kenntnis genommen, daß eine ganze Reihe von Kollegen unseres Koalitionspartners diese Fragen jetzt auch behandeln. Herr Kollege Laufs, wir reden ja auch in unseren Koalitionsgesprächen darüber.Wir sind der Meinung, daß es nützlich wäre, ein deutsches Forum Zukunftsenergie zu errichten. Wir haben Vorschläge dazu gemacht, wie dieses Forum arbeiten sollte. Da es ein Deutsches Atomforum gibt, wäre es sehr nützlich, auch auf diesem Feld alle vorhandenen Kräfte zusammenzufassen. Wir sind derMeinung, daß das Entsorgungskonzept fortgeschrieben werden muß. Die ersten Konsequenzen aus dem Fall Transnuklear hat der Umweltminister gezogen. Er findet hier wie auch bei anderen Entscheidungen unsere Zustimmung.Wir unterstützen die Politik der Bundesregierung, Herr Grüner, trotz der kritischen Anmerkungen, die aber im wesentlichen nicht die Bundesregierung, sondern andere betreffen, die in einem Handlungsdefizit sind. Tschernobyl ist also keineswegs, Herr Kollege Daniels, spurlos an uns vorübergegangen. Das hätten Sie wohl gern.
Wir arbeiten das auf unsere Weise auf, nüchtern und vernunftbezogen, aber nicht minder energisch als Sie.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschen nehmen immer nur das wahr, was sie gern möchten. Das gilt in besonderem Maße für Herrn Laufs, aber das gilt leider Gottes auch für Herrn Daniels. Herr Daniels, Sie haben bezüglich der Haltung der Bundes-SPD zur Wiederaufbereitungsanlage gelogen.
Bei dem Absturz einer französichen Militärmaschine vor drei Wochen in unmittelbarer Nähe des Kernkraftwerkes Ohu haben wir es nur äußerst glücklichen Umständen zu verdanken, vor einer ähnlich großen Katastrophe bewahrt worden zu sein, wie wir sie heute behandeln. Wäre die Maschine auf den Atommeiler aufgeprallt, so wären wohl die Auswirkungen von Tschernobyl um ein Vielfaches übertroffen worden.
Da mögen uns noch so viele Experten mit Risiko- und Wahrscheinlichkeitsrechnungen in Sicherheit wiegen wollen, daß ein solches Ereignis bei uns praktisch nicht eintreten könnte; die Wirklichkeit sieht eben anders aus.
Ein Großteil unserer Kernkraftwerke ist nicht gegen Abstürze schwerer Militärmaschinen gesichert, und auch bei denen mit stärkeren Schutzvorkehrungen ist es mehr als fraglich, ob sie den Absturz von Militärmaschinen ohne Schaden für die Bevölkerung überstehen würden. Auf den Gegenbeweis sollten wir es aber nun wirklich nicht ankommen lassen. Dazu liegt auch ein Antrag meiner Fraktion hier vor.
Schließlich hielten auch die sowjetischen Techniker ihre Kernkraftwerke für sicher, bis Tschernobyl in drastischer Weise gezeigt hat, was von solchen Expertenmeinungen zu halten ist. Tschernobyl, der bislang
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4766 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Frau Blunckfolgenschwerste Industrieunfall, hat 570 Millionen Menschen in Europa zusätzlicher Strahlung ausgesetzt, darunter 5 Millionen Frauen, die werdendes Leben in sich trugen. Die Langzeitschäden sind immer noch nicht übersehbar. Die bislang vorliegenden Untersuchungen beweisen aber Schäden an Leben und Gesundheit von Mensch und Tierwelt sowie in der Natur.
Wir müssen uns darauf einstellen, daß Tausende eines sicheren Krebstodes sterben werden, und genetische Erbschäden werden ebenso sicher auftreten wie zahlreiche Mißbildungen und dauernde Gesundheitsschäden. Auf Tausenden von Quadratkilometern um Tschernobyl ist die Erde auf Jahrzehnte unbewohnbar. Tschernobyl hat uns deutlich gemacht, daß wir keine ausreichenden Instrumente besitzen, um mit einer Katastrophe dieses Ausmaßes fertigzuwerden. Wir sind bei der technischen Beherrschbarkeit der zivilen Nutzung der Atomkraft an Grenzen gestoßen, die zum Überdenken und zur Änderung unserer Energiepolitik zwingen.
Eine Technologie, die bei einem einzigen Fehler zu solch katastrophalen Folgen wie in Tschernobyl führt und kommende Generationen aufs schwerste belastet, darf nicht länger hingenommen werden.
Haben wir uns eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, welche Hypothek wir unseren Enkeln aufbürden, wenn wir immer weiter giftigen Atommüll ansammeln, ohne zu wissen, wie wir ihn eigentlich gefahrlos lagern können? Die Entsorgungsfrage ist weltweit nicht gelöst. Bedenken Sie, die Halbwertszeit von Plutonium beträgt 30 000 Jahre.
Laufen wir angesichts dieser zeitlichen Dimensionen und bei unserer bisherigen rücksichtslosen Einstellung nicht Gefahr, von den zukünftigen, uns verhafteten Generationen als Terroristen beschimpft zu werden? Die Bundesregierung hat sich bislang allen solchen Einsichten und Überlegungen entzogen. Sie setzt auch nach Tschernobyl völlig unbeirrt ihren Atomkurs fort und verweigert sich jeder kritischen Neubewertung der Gefahren und Risiken der Kernenergie.
Mit dieser Politik des „Weiter so!" unterwirft sie sich dem Diktat und den Interessen allein der Atomwirtschaft.
Dabei werden die Ängste und die Befürchtungen der Mehrheit der Bevölkerung schlichtweg ignoriert.
Zu Recht sorgen sich noch immer Mütter und Väter,ob ihre Kinder nicht doch mit verseuchten Nahrungsmitteln ernährt werden, und stillende Mütter haben noch immer Angst vor radioaktiven Belastungen in der Muttermilch.
Statt umfassende und lückenlose Aufklärung zu betreiben, verharmlost und beschönigt die Bundesregierung die Langzeitwirkung des Reaktorunfalls auf die Gesundheit und die Lebenschancen unserer Bevölkerung. Ihr Handeln ist bis auf den heutigen Tag von Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Inkompetenz gekennzeichnet. Mit vermeintlichen Aktivitäten werden Sicherheit und Schutz vorgegaukelt, wo es beides im Grunde gar nicht geben kann.Auch bei dem Hin und Her um die Grenzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln im vergangenen Jahr hat sich die Bundesregierung nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber was soll auch schon dabei herauskommen, wenn der zuständige Bundesminister Töpfer selbst die von der EG-Kommission Vorgeschlagenen Werte als gesundheitlich nicht bedenklich bezeichnet? Lassen Sie mich hierzu eine ganz persönliche Ansicht sagen: Das Festlegen von Grenzwerten kann in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen lassen, daß Strahlenbelastung unterhalb dieser Grenzwerte ungefährlich sei. Das ist desinformierend, da niemand eine Gefährdung von Mensch und Umwelt auch bei geringen Strahlenbelastungen und bei der Aufnahme über die Nahrungskette ausschließen kann.
Eine Gefährdung läßt sich nach meiner Überzeugung nur dann völlig ausschließen, wenn zukünftige Strahlenbelastungen gänzlich vermieden werden. Daher ist auch die Auffassung der Bundesregierung, die radioaktive Strahlung sei ohne nachweisbare Auswirkung auf die menschliche Gesundheit geblieben, voreilig, unwissenschaftlich, nicht haltbar und fahrlässig gegenüber uns allen.
Neueste Untersuchungen zeigen uns sogar, daß ganz generell das Strahlenrisiko jahrelang unterschätzt worden ist. Das gilt gerade auch für niedrige Dosen radioaktiver Strahlung. Diese neuen Erkenntnisse können doch nur bedeuten, daß die heute gültigen Grenzwerte im Interesse eines ausreichenden und vorbeugenden Gesundheitsschutzes noch weiter abgesenkt werden müssen.Politik ist nicht erst im Zusammenhang mit der Atomindustrie in Verruf geraten. Aber die Vorkommnisse nach Tschernobyl haben ihren Teil dazu beigetragen, daß die Menschen den Politikern und Politikerinnen nicht mehr über den Weg trauen. Zuerst wurden die Gefahren entschieden verneint, und als dies nicht mehr aufrechtzuerhalten war, wurden die Tatsachen Stück für Stück zugegeben. Gleichzeitig setzte eine Strategie der Verharmlosung ein, und damit einhergehend wurden engagierte Männer und Frauen lächerlich gemacht. Ihnen wurden jegliche Fach-
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Frau Blunckkenntnisse abgesprochen, ja bei Demonstrationen gegen die Kernenergie wurden sie in die Nähe von Terroristen gerückt. Herr Laufs hat hier für meine Begriffe ein ganz schlimmes Beispiel für Unbelehrbarkeit gegeben.
Die Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen, sonst doch in allen Parteien eine stets wiederholte Forderung, wurde und wird als störend und lästig empfunden. Man versucht, dies mit allen Mitteln zu unterbinden, anstatt offene Worte für die Nöte, die Sorgen und Ängste zu haben und sie ernst zu nehmen, die Bürger zu beteiligen, indem z. B. Kritiker der Atomenergie in die Strahlenschutzkommission berufen werden,
indem Ärzte gegen den Atomtod zu den Beratungen über das Strahlenschutzvorsorgegesetz hinzugezogen wären. All das wird abgewiegelt. Bürgerbeteiligung wird nicht als hilfreich angesehen, nicht als Möglichkeit genutzt, eventuell vorhandene Betriebsblindheit zu überwinden und zu besseren Entscheidungen zu kommen. Nein, all dies ist nicht die Art der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien. Die reden lieber von dem „Patienten Atomindustrie", den man unbedingt am Leben halten will. Der Politiker Töpfer vermenschlicht eine Industrie, um einer menschenverachtenden Politik für eben diese Industrie zum Erfolg zu verhelfen.
Dazu paßt, daß die geschäftsführende Landesregierung in Schleswig-Holstein noch nicht einmal 30 Tage vor der Landtagswahl dem Kernkraftwerk Krümmel noch schnell eine Dauerbetriebsgenehmigung erteilt.
Sieht so eigentlich ein Neuanfang aus? Wenn die Not und das elende Sterben der Menschen nach Tschernobyl einen Sinn machen sollen, dann doch nur den: Wir müssen aus der Atomindustrie raus.
Frau Abgeordnete, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß gegenüber einem Kollegen der Ausdruck, er habe gelogen, unparlamentarisch ist.
Nun hat der Abgeordnete Engelsberger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Schäfer hat eingangs seiner Ausführungen angekündigt, er wolle die Debatte emotionsfrei und sachlich führen. Er persönlich hat sich freigehalten von Emotionen, aber sachlich ist er nicht geblieben. Meine Vorrednerin eben hat aber weder sachlich noch emotionsfrei gesprochen; sie hat nämlich gerade das aufdie Spitze getrieben, Herr Kollege Schäfer, was Sie an und für sich in dieser Debatte nicht wollten.
Darüber hinaus muß ich sagen, meine Damen und Herren von der SPD — die GRÜNEN waren damals noch nicht im Bundestag — : Der größte Teil der Kernkraftwerke, die in der Bundesrepublik arbeiten und die Sie heute so verteufeln, wurde unter Ihrer Regierungszeit gebaut. Geben Sie Ihre fortwährenden Irrtümer doch endlich einmal zu. Ich glaube, diejenigen, die gegen die eigenen Beschlüsse in diesem Maße vorgehen, haben nicht das Recht, andere zu verurteilen, die sich daran halten, was sie auch früher gesagt haben; das sind nämlich wir, das ist die Union.Meine Damen und Herren, der Nestor der deutschen Physik, Professor Maier-Leibnitz, hat schon Ende der 70er Jahre besorgt darauf hingewiesen, daß die Atomdiskussion bei uns deshalb so unbeschreiblich polarisiert ist, weil es dabei oft weniger um Kernenergie als um Macht, um Kampf gegen Autoritäten und um gesellschaftliche Veränderungen geht. Das ist doch des Pudels Kern.Diese Einschätzung hat durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit ihren häufig ebenso exzentrischen wie irrationalen politischen Folgewirkungen eine traurige Bestätigung erfahren. Die heute diskutierte Große Anfrage der SPD gibt noch einmal einen lebhaften Eindruck davon, mit welch aberwitzigen Schlagworten und Scheinargumenten dieses Ereignis von vielen Politikern und Medien unseres Landes zu einer hemmungslosen und häufig genug bewußt demagogischen Anti-Kraftwerk-Kampagne mißbraucht worden ist. Das erleben wir auch heute wieder.Aber trotz aller Kassandrarufe bleibt die Kernenergie auch nach Tschernobyl eine kalkulierbare, beherrschbare und vertretbare Technik. Denn diese Kraftwerkskatastrophe ist kein Beleg für nicht beherrschbare Risiken, sondern Ausdruck für eine extrem verantwortungslos gehandhabte moderne Technologie. Hier hat im Gegensatz zu unseren Kernkraftwerken höchster Sicherheitsstandard eben nicht Vorrang vor allen anderen Interessen gehabt. Auch nach sowjetischen Berichten haben erst ein für uns unvorstellbares Maß an Schlamperei, Inkompetenz und eine Kette von menschlichen Versagen zu diesem Unglück geführt.Übrigens, meine Damen und Herren, wenn Sie von den Menschenverlusten nach Tschernobyl sprechen, die auch wir bedauern:
In den Vereinigten Staaten war ebenfalls ein Reaktor durchgebrannt. Aber die dortigen Sicherheitseinrichtungen haben es verhindert, daß Menschen zu Tode gekommen sind. Das alles wollen Sie nicht in Betracht ziehen. Unsere Kernkraftwerke in der Bundesrepublik haben den höchsten Sicherheitsstandard im international vergleichbaren Rahmen. Ich glaube, das wird hier auch von den Herren der linken Seite mit anerkannt.
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4768 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, daß ich Sie einmal kurz unterbreche. — Wenn Sie Wert darauf legen, daß Ihre Zwischenrufe vom Redner, von den Nachbarn und vom Protokoll zur Kenntnis genommen werden, dann bitte ich Sie, sie doch etwas dosierter vorzubringen. Im übrigen ist das außerordentlich störend. Ein wenig mehr Zurückhaltung wäre empfehlenswert.
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Danke schön. — Wer heute ein Energiekonzept mit Zukunft vorlegen will, darf sich nicht auf Emotionen und auch nicht auf wünschbare Optionen, sondern muß sich auf verläßliche Rahmendaten abstützen. Denn die ausreichende Versorgung mit Energie unter ökonomisch wie ökologisch vertretbaren Bedingungen ist für die heutigen und erst recht für die kommenden Generationen eine Existenzfrage.
Meine Damen und Herren sowohl von links als auch von den GRÜNEN, Sie haben es vermieden, zu sagen, was denn an Stelle der Kernenergie dann letzten Endes bei einem Ausstieg kommen soll.
Ich werde in meinen Ausführungen noch darauf zurückkommen, welche verheerende Wirkung es haben würde, wenn wir nur auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe und Energiereserven zurückgreifen würden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn Sie mir das nicht von der Redezeit abziehen, weil ich schon in Verzug bin.
Ich rechne Ihnen die Frage und einen Teil der Antwort nicht an. Aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß wir schon eine halbe Stunde überzogen haben. Wir werden mit der namentlichen Abstimmung bestenfalls zwischen 13.20 und 13.30 Uhr beginnen können. Deswegen bitte ich, ein wenig Rücksicht auf die Kollegen zu nehmen.
Bitte schön.
Darf ich Sie fragen, ob Sie nicht von dem Gesetzesantrag der GRÜNEN Kenntnis genommen haben, der einen Ausstieg aus der Kernenergie möglich macht und der hier vorgelegt wurde? Denn Sie sagen, daß wir nicht wüßten, was wir wollten.
Ich muß Ihre Frage kurz beantworten, weil wir nicht die notwendige Zeit haben. Ich habe aber gerade zu dem Thema regenerative Energien etwas zu sagen.Mein lieber Herr Kollege, auch ich bin Anhänger der regenerativen Energien. Aber nach dem heutigen Stand, nach der heutigen Entwicklung und nach dem heutigen Wissen ist es einfach nicht möglich, z. B. inder Bundesrepublik 130 Milliarden Kilowattstunden elektrischen Stroms, der aus Kernenergie erzeugt wird, durch regenerative Energien zu ersetzen.
Wenn wir regenerative Energien einsetzen wollten — passen Sie einmal auf; ich bin Betreiber von Anlagen mit regenerativer Energie —, dann hätten wir die größten Schwierigkeiten gerade von seiten der Umweltschützer, die beispielsweise sagen: Die Wasserkraft ist ebenso umweltfeindlich wie die Kernenergie oder andere Energien. Das ist des Pudels Kern: Sie wollen letzten Endes unsere gesellschaftliche Struktur zerstören und nicht eine Energieversorgung für die Zukunft in unserem Lande sichern.
Es tut mit leid, daß ich nicht mehr Zeit habe; sonst könnte ich Ihnen hier noch einige Ratschläge geben, wie das weitergehen soll. Ich komme jetzt aber sowieso auf dieses Thema.Allein das zu erwartende Wachstum der Erdbevölkerung von derzeit 5 auf 8 Milliarden bis zum Jahre 2030 läßt leicht erkennen, welch ein gigantischer Energiebedarf auf uns zukommt. Ohne einen gewaltigen Ausbau der Energiepotentiale wird es für die Menschenmassen in der Dritten Welt keine Nahrung, keine Kleidung, keine Arbeit und damit keine Zukunft geben.
Meine Damen und Herren, wer darüber lacht und diese Dinge so leichtfertig wie hier die GRÜNEN beurteilt, dem kann ich nur sagen: Selbst wenn wir der Dritten Welt nur 10 % des Energieverbrauchs der Vereinigten Staaten pro Kopf zuweisen würden, d. h. eine Tonne Steinkohleeinheiten Verbrauch pro Jahr, dann würde das bedeuten, daß wir in den nächsten 50 Jahren zusätzlich 3 Milliarden Tonnen Steinkohleeinheiten verbrennen müßten, mit all den Folgen auch für die Umwelt, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.
— Man kann mit Ihnen wirklich nicht sachlich reden, weil Ihre Zwischenrufe ja davon zeugen, daß Sie gar nicht bereit sind, Argumente aufzunehmen und darüber zu diskutieren, sondern hier verhärten sich die Fronten.Ich will jetzt von den GRÜNEN nicht sprechen. Herr Kollege Schäfer und Herr Kollege Stahl, es war doch aber in den siebziger Jahren, als noch Kernkraftwerke gebaut wurden, unsere gemeinsame Auffassung, auch die der SPD
und vor allen Dingen die Ihres Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der diese Auffassung ja heute noch hat, daß wir zur Vermeidung z. B. des Kohlendioxidanstiegs in der Erdatmosphäre und zur Verhinderung klimatischer Veränderungen, die nicht mehr be-
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Engelsbergerherrschbar sein würden, Kernenergie einsetzen müßten, um den Einsatz fossiler Brennstoffe zu reduzieren. Das war die gemeinsame Meinung.Seit Tschernobyl wollen Sie diese Argumente nicht mehr wahrhaben. Kein einziger Ihrer Redner ist auf diese Gefahren eingegangen. Ich kann, wenn mir die Redezeit bleibt, ja dazu vielleicht noch etwas sagen.Meine Damen und Herren, auf Grund dieser Überlegungen hat sich die Vollversammlung der UNO am 11. November 1986, also nur ein halbes Jahr nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, einstimmig dafür ausgesprochen, die friedliche Nutzung der Kernenergie zu fördern. 142 Nationen haben dafür gestimmt.Auch der Club of Rome, der Anfang der siebziger Jahre so entschieden auf die Grenzen des Wachstums hingewiesen hat und dem man blinde Technologiegläubigkeit bestimmt nicht nachsagen kann, hält einen gewaltigen Ausbau der Kernenergie für notwendig, um die in 50 Jahren auf etwa 8 Milliarden angewachsene Menschheit am Leben zu erhalten.Eine zukunftsbezogene verantwortbare Energiepolitik darf das Restrisiko der Kernenergie nicht durch ein Dauerrisiko fossiler Energieträger ersetzen. Schließlich wird die Gesundheit der Menschen durch das Verbrennen von Kohle, Gas und Öl auf die Dauer weit mehr geschädigt als durch Kernenergie. Das wird von Ihnen allen nicht in Betracht gezogen.Hören Sie gut zu: Der amerikanische Medizinprofessor Gale, der durch seine Knochenmarktransplantationen an den Strahlenopfern von Tschernobyl weltberühmt wurde, traf vor Jahresfrist die bemerkenswerte Feststellung, daß jede Energiequelle ihren Preis habe und -daß, so gesehen, die Kernenergie einen sicheren Weg der Energieversorgung darstelle. Selbst die höchsten abschätzbaren Personenschäden durch Tschernobyl lägen um das 50- bis 500fache unter den weltweiten Schäden der fossilen Energiegewinnung, der Verkehrsunfälle und des Rauchens.
Gale stellte fest, daß ein Ersatz der sowjetischen Kernkraftwerke durch Kohle- und Ölkraftwerke eine zusätzliche Luftverschmutzung ergäbe, die in den nächsten 50 Jahren rund 1 Millionen Todesfälle erwarten lasse. Verehrte Frau Kollegin, Sie haben in Ihre Überlegungen nicht mit einbezogen, was Professor Gale sagte. Das sagt nicht die Union, und das sagt nicht die Rechte in diesem Bundestag, sondern das sagt ein neutraler medizinischer Sachverständiger und Wissenschaftler.
Damit wird einmal mehr auf die äußerst bedrohlichen Gefahren — jetzt leuchtet bei mir schon wieder das Licht auf — hingewiesen, die durch den Einsatz fossiler Brennstoffe entstehen. Ich erinnere nur an die verzweifelte Situation der Energieversorgung im anderen Teil Deutschlands, wo in den Wintermonaten ganze Städte und Landstriche von Ruß- und Qualmwolken eingedeckt sind und wo die Lebenserwartung im Raum Halle nach Aussagen renommierter Energiewissenschaftler allein aus diesem Grund etwa sechs Jahre unter dem DDR-Durchschnitt liegt. Das muß man doch alles mit einbeziehen.Es wird deshalb höchste Zeit, daß diese alarmierenden Tatbestände von uns endlich gebührend zur Kenntnis genommen werden; denn die dort lebenden Menschen wären heilfroh, wenn ihnen statt qualmender und stinkender Braunkohlenkraftwerke saubere Kernkraftwerke zur Verfügung stünden.Aber auch bei uns stellt sich die umweltpolitisch drängende Frage, ob die Inanspruchnahme fossiler Brennstoffe im bisherigen Ausmaß überhaupt noch länger zulässig sein kann; denn auch wenn die im internationalen Vergleich sehr weitgehenden Anforderungen an unsere Großfeuerungsanlagen eingehalten werden, stößt ein Kohlekraftwerk mit 650 MW Leistung immer noch 2 000 t Staub, 12 000 t Schwefeldioxid und 6 000 t Stickoxide im Jahr aus.
Darüber hinaus müssen 220 000 t Asche und 130 000 t Gips entsorgt werden.
Ein Verzicht auf die Kernenergie verschlimmerte deshalb nicht nur das Waldsterben, sondern stellte eine massive zusätzliche Belastung unserer Gesundheit dar. Das gilt insbesondere dann, wenn auch noch in Belgien und Frankreich Kernkraftwerke durch Kohlekraftwerke ersetzt würden.Darüber hinaus kann gar nicht deutlich genug auf das Problem der CO2-Emissionen, von denen ich vorhin gesprochen habe, hingewiesen werden, die in die Erdatmosphäre entweichen, dort eine Abstrahlung der Erdwärme verhindern und so den „Treibhauseffekt" hervorrufen.
Vor diesen Gefahren haben nicht zuletzt die Deutsche Physikalische Gesellschaft und die Deutsche Meteorologische Gesellschaft wiederholt mit Nachdruck gewarnt.Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen kann ich auf dieses CO2-Thema jetzt nicht weiter eingehen, obwohl wir bereits bei 347 ppm CO2 in der Erdatmosphäre angelangt sind.
Das geht bereits weit über das Maß hinaus, bei dem sich in früheren Jahrtausenden Wärme- und Kälteperioden abgelöst haben. Da lagen die Werte zwischen 200 und 280 ppm.Ich möchte das noch ganz kurz anführen dürfen, Herr Präsident. Ich weiß, ich habe überzogen.
Sie überziehen.
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4770 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Aber ich komme leider mit diesem Thema nicht durch. Doch jetzt kommt der Schlußsatz, wenn Sie mir den noch gestatten.
Den Schlußsatz werde ich Ihnen noch gestatten.
Vor allen Dingen Sozialdemokraten hätten allen Anlaß, die Erkenntnisse ihres Altbundeskanzlers Helmut Schmidt zu beherzigen, die er vor wenigen Wochen unter der Überschrift „Sieben Prinzipien vernünftiger Energiepolitik" in der Wochenzeitung „Die Zeit" überzeugend dargelegt hat. Er schrieb:
Wer angesichts der vorgetragenen Ungewißheiten mit dem Anspruch auftritt, er habe eine für die Energieprobleme Deutschlands befriedigende Lösung, der irrt sich im Prinzip — im schlimmsten Fall ist er ein Scharlatan.
Und recht hat er, der Helmut Schmidt.
Ich danke Ihnen schön.
Das Wort hat nunmehr die Frau Abgeordnete Wollny.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD steht der folgende Satz:Weil die Bundesregierung die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nimmt, hat sie sich nicht in Ausstiegsszenarien geflüchtet. Sie hat schnell... gehandelt.
Meine Damen und Herren, hätten Sie schnell und unverzüglich gehandelt, dann hätten Sie, nachdem die Katastrophe von Tschernobyl bekanntgeworden war, schnellstmöglich alle atomaren Anlagen in der Bundesrepublik abgeschaltet.
Das wäre nicht nur vernünftig gewesen,
sondern diese Reaktion wäre auch in Auslegung von Strahlenschutzverordnung und Atomgesetz zwingend erforderlich gewesen.
Gilt für Sie nicht der Art. 2 des Grundgesetzes, nach dem Leben und Gesundheit des Volkes grundsätzlich zu schützen sind?
Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Ist es richtig, daß Sie am 30. April 1986 um 9 Uhr aus dem Lagezentrum feststellten, daß als Bewertungsrichtlinien die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung heranzuziehen seien, und haben Sie in diesem Zusammenhang 4 Bq pro Kilogramm Lebensmittel als Grenzwert empfohlen? Ich frage Sie: Ist es richtig, daß dieser Grenzwert einen Tag später auf 500 Bq, also um mehr als das 100fache erhöht wurde,
nachdem Herr Professor Kaul kurzerhand die Strahlenschutzverordnung außer Kraft gesetzt hatte, weil sie nur für den Betrieb deutscher AKW gelte und für Unfälle generell und für solche im Ausland schon gar nicht anzuwenden sei?
Ich frage Sie: Welchen Wert hat eine Strahlenschutzverordnung, die nach Belieben angewandt oder verworfen werden kann?
Ich sage Ihnen den Grund für diese Entscheidung. Es war der einzige Weg, die deutsche Atomindustrie zu retten. Es war eine Flucht, eine Flucht nach vorn im Sinne „Angriff ist die beste Verteidigung". Ihre Fürsorge galt nicht der Bevölkerung, sondern allein dem Fortbestand der Atomenergie.
Oder sind auch Sie der Meinung wie der Generalsekretär der IAEO, nämlich wir seien längst über den point of no return hinaus und könnten schließlich eine Milliardenindustrie nicht einfach auf den Müllhaufen werfen? Ist es so, daß in diesem Falle Tausende von zusätzlichen Krebstoten keine Rolle mehr spielen? Dann seien Sie ehrlich und sagen Sie es.
Dann hören Sie auf, der Bevölkerung vorzugaukeln, Sie nähmen ihre Ängste und Sorgen ernst. Spätestens seit Tschernobyl haben Sie keine Berechtigung mehr, einen Kernschmelzunfall als Restrisiko zu bezeichnen. Nach dem sogenannten Kalkar-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. August 1978 liegt das Restrisiko im Bereich der Ungewißheiten, jenseits der Schwelle praktischer Vernunft und seine Ursache in den Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens. Das bedeutet, daß spätestens seit Tschernobyl die bis dahin ins Reich der Phantasie verwiesene Möglichkeit eines solchen Unfalls Stand der Erkenntnis ist und ebenfalls nach genanntem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts die Vorsorge dieser veränderten Situation anzupassen ist. Das heißt, wenn man die Folgen eines Unfalls in der Bundesrepublik bedenkt, nichts weiter als: Schluß mit der Atomindustrie.
Oder sollte man der Bundesregierung unterstellen, die ihr zur Verfügung stehende praktische Vernunft sei durch eine solche Erkenntnis überfordert? Man kann es nicht. Denn alle von dieser Bundesregierung seit dem Unfall in Tschernobyl gefaßten Beschlüsse weisen darauf hin, daß sie die Möglichkeit einer sol-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4771
Frau Wollnychen Katastrophe begriffen hat, einkalkuliert und einzig für einen solchen Fall Vorsorge trifft.Beweis Nummer 1 für diese Behauptung: das Strahlenschutzvorsorgegesetz. Es zentralisiert alle Messungen von erhöhter Radioaktivität beim Bundesminister für Umwelt, versetzt so die Bundesregierung in die Lage, allein zu entscheiden, was und wieviel die Bevölkerung über Meßdaten erfährt oder auch nicht erfährt. Eine Kontrolle der bekanntgegebenen Daten wird dadurch unmöglich und ist auch unerwünscht. Die mit dem gleichen Gesetz ausgesprochene Ermächtigung zur alleinigen Festsetzung von Grenzwerten hat der Bundesminister inzwischen an den EG-Ministerrat weitergereicht. Dieser hat bereits vorsorglich für den Fall einer neuerlichen Katastrophe Grenzwerte festgelegt, die, gemessen an den Werten der Strahlenschutzverordnung — ich möchte noch einmal an die 4 Bq erinnern —, diese um das mehr als 250fache übersteigen. Daß die Katastrophenwerte von 600 und 370 Bq, für die sich Herr Töpfer, wie er sagt, fast Arme und Beine ausgerissen hat, heute als gültige Dauerwerte festgeschrieben wurden, sei nur nebenbei erwähnt. Daß man allerdings versucht, fremde Länder mit verstrahlten Lebensmitteln zu beglücken, und sie mittels des Drucks von Sanktionen zur Annahme zwingen will — wie im Fall von Jamaika geschehen —, ist skandalös. Es beweist: Nicht der Gesundheitsschutz spielt eine Rolle, nein, man ist besorgt um den ungehinderten Warenfluß, und das möglichst weltweit.Punkt zwei des Beweises ist das jetzt in Aussicht genommene Bundesamt für Strahlenschutz. Unter dem Deckmantel, daß nach den Skandalen des letzten Jahres nun alles besser werden soll, sollen hier die Kompetenzen für Strahlenschutz — ehrlich gesagt, ich kann dieses verlogene Wort bald nicht mehr hören — ,
Reaktorsicherheit, Transport und Entsorgung des atomaren Mülls unter einem Dach zusammengefaßt werden. Das wird als Fortschritt für die Sicherheit und als Garant der Kontrolle angepriesen. In der Tat, dann wird alles unter Kontrolle sein: die sichere Absprache von Tür zu Tür, die bessere Geheimhaltung von Unregelmäßigkeiten, statt Transparenz mehr Undurchsichtigkeit und im Falle von Unfällen gefilterte oder unterdrückte Informationen. Frankreich oder die Engländer mit Windscale haben so etwas ja vorexerziert.Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen befinden wir uns im dritten Jahr nach Tschernobyl. Was haben wir daraus gelernt? Wo sind die Konsequenzen? Wo ist der Lernprozeß bei der Bundesregierung? Die Bevölkerung hat gelernt. Sie lehnt mit überwältigender Mehrheit die weitere Nutzung der Atomenergie ab.
Die Bundesregierung setzt jedoch unvermindert auf die Karte Atomenergie. Wie sagte Herr Töpfer erst letzte Woche gegenüber einer Initiativgruppe von Eltern für unbelastete Nahrung?
Frau Abgeordnete, kommen Sie bitte zum Schluß.
Zitat:
Ich sage immer: Wir müssen eine Zukunft ohne Atomenergie erfinden.
Aber wir können doch heute nicht verzichten, wenn diese Zukunft noch nicht da ist.
Manchmal muß man heute verzichten, um die Zukunft zu gewinnen. Je mehr Zukunft aber diese Regierung hat, .. .
Frau Abgeordnete, Sie überziehen die Redezeit zu sehr. Ich bitte Sie dringend, jetzt zum Ende zu kommen.
:... um so mehr steht unsere Zukunft durch die Risiken der Atomenergie auf dem Spiel. Es hilft nichts: Es müssen Konsequenzen gezogen werden. Konsequenzen heißt: abschalten, stillegen, aussteigen!
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Der vorliegende Entschließungsantrag der SPD zwingt mich, kurz Stellung zu nehmen, wobei ich der Aktuellen Stunde heute nachmittag nicht vorgreife. Ich beschränke mich auf die Punkte, die Sie angeschnitten haben. Es tut mir leid, in diese Debatte auf diese Weise hineingezwungen zu werden. Ich verstehe den Unmut der Kolleginnen und Kollegen.
Ich möchte mich also speziell mit der Flugsicherheit im Blick auf die Kernkraftwerke beschäftigen. Ich möchte nur ganz kurz darauf hinweisen, daß es uns in den letzten zehn Jahren gelungen ist, die Flugunfallrate der Bundeswehr um über 50 % zu senken.
Hinsichtlich der Zahl der zivilen Unfallopfer liegt die militärische Luftfahrt an letzter Stelle. Das heißt keinesfalls, daß wir in unseren Anstrengungen nachlassen werden oder dürfen. Im Gegenteil.Was nun das Sicherheitsrisiko für Kernkraftwerke anlangt, so gilt bei uns ein faktisches Überflugverbot für Kernkraftwerke. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich unsere Piloten nicht daran halten.
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4772 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bundesminister Dr. WörnerIch will das an zwei Punkten kurz belegen, die in dem Zusammenhang wichtig sind.Bei beiden Unfällen, Bundeswehr und die Alliierten, — —
— Vielleicht hören Sie erst einmal die Fakten an, bevor Sie dazu Stellung nehmen.Bei beiden Unfällen, in Landshut wie in Forst, fand— das ist inzwischen gesicherte Erkenntnis — ein Überflug nicht statt. Die Flugwegdaten sind durch die Radaraufzeichnung der Luftverteidigungsstellung Freising dokumentiert. Das heißt, sie stehen fest. Sie bestätigen im übrigen auch die vorliegenden Zeugenaussagen. Aus diesen Aufzeichnungen ist deutlich ersichtlich, daß bis zum Unfallzeitpunkt Flugwege und Flugmanöver nicht über die Kernkraftwerke Isar I und Isar II führten und daß simulierte Angriffmanöver in oder über 1 500 Fuß, also 500 Meter, oberhalb des Tiefflugbandes durchgeführt wurden. Soweit zu dem Unfall.Nun gab es dort Augenzeugen. Davon haben Sie alle in,der Presse gelesen. Es war ein Feuerwehrmann, der gesagt hat: „Aber die haben doch diese Kernkraftwerke als Ausgangspunkt ihrer Übungen genommen. " Das zeigt einmal mehr — das kann man dem Mann nicht vorwerfen, das passiert x-mal —, wie schwer es für die ist, die am Boden sind, wirklich zu sagen, ob darüber geflogen wird oder nicht. Die technischen Geräte zeigen einwandfrei, daß dies nicht der Fall war.Ich sage ein übriges, das in die Debatte kommen sollte, damit sie etwas versachlicht wird. Wir haben, längst bevor dieser Absturz war, im letzten Jahr an sechs verschiedenen Kernkraftwerken sechs Wochen lang, also jeweils eine Woche, unsere Überwachungsgeräte stationiert. Wir haben in dieser Zeit nicht einen einzigen Verstoß gegen das Überflugverbot feststellen können.
Ich habe dennoch angeordnet, diese Kontrollen noch zu verschärfen. Den Verdacht, der immer wieder geäußert wurde, daß unsere Piloten dieses Überflugverbot mißachten, muß ich, und zwar aus Überzeugung, zurückweisen, und zwar nicht nur für unsere Piloten, sondern auch für die alliierten Piloten.Im übrigen sage ich Ihnen — und ich sage das unabhängig davon — , das Magazin „Monitor" hat in einer unglaublich manipulativen Sendung, um das Gegenteil zu beweisen, einen „Kronzeugen" bemüht, der früher einmal Starfighterpilot war und jetzt für die GRÜNEN im Kommunalparlament sitzt, und dieser „Kronzeuge" hat 1975 das letzte Mal in einem Starfighter gesessen und ist auf eigenen Wunsch aus diesem Waffensystem abgelöst worden, weil er offensichtlich mit dem Waffensystem nicht fertig wurde. Er hat in dieser Sendung selbst zugegeben, daß er gegen die Vorschriften verstoßen hat. Ich kann nur sagen, einen solchen „Kronzeugen" als Beweis für diese Behauptung anzuführen, ist eine schlichte Unverschämtheit und eine Diffamierung unserer Piloten.
Unsere Piloten sind verantwortliche Luftfahrzeugführer, sind selbst meistens Familienväter. Das sind Leute, die schon im Frieden ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, damit wir einigermaßen in Frieden und Sicherheit leben können. Ich verbitte mir eine pauschale Diffamierung und Verleumdung dieser unserer Piloten. Das gilt auch für die alliierten Piloten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Bitte.
Bitte sehr.
Ich möchte erstens sagen, daß aus Personalakten nicht zitiert werden sollte. Auch ein Bundesverteidigungsminister sollte das nicht tun.
Sie sollten hier eine Frage stellen und keine Feststellung treffen.
Das möchte ich.
Ich möchte Sie fragen, Herr Wörner: Können Sie ausschließen, daß Kernkraftwerke oder auch andere Kraftwerke vorübergehend durch Piloten als Zielorientierungen benutzt werden?
Nach meinem Erkenntnisstand — diese Einschränkung muß ich machen, wenn ich glaubwürdig bleiben will — halte ich so etwas für ausgeschlossen. Ich selbst war, wie Sie wissen, Flugzeugführer der Luftwaffe. Ich habe selbst etwa 600 Stunden im Tiefflug über der Bundesrepublik Deutschland verbracht. Ich kann nur sagen, ich weiß das aus eigener Erfahrung und aus dem, was ich heute als Bundesminister der Verteidigung in den Geschwadern beobachten kann. Es macht auch überhaupt keinen Sinn, weil kein Übungszweck damit erfüllt wird. Kein verantwortlicher Flugzeugführer wird so etwas machen. Ich kann das nur sagen. Alle Erkenntnisse, die wir durch Kontrollen haben, beweisen das.Jetzt zu der anderen Frage. Der Antrag der SPD zielt ja auf die vorläufige Einstellung.Sie müssen eines wissen: Das Flugunfallrisiko steigt mit der mangelnden Flugerfahrung. Das heißt, je weniger ein Pilot fliegt, desto höher wird sein Unfallrisiko. Es gibt ein Bündnisland, das einmal die Flugstundenzahl unter 120 gesetzt hat. Darauf sind im folgenden Jahr die Unfallraten um über 100 % gestiegen. Das heißt, ein vorläufiger Stopp, wie Sie ihn fordern, würde ein erhöhtes und nicht ein vermindertes Risiko bedeuten. Er würde im übrigen das Problem auch aus folgendem Grund nicht lösen: Eine Einstellung übrigens nicht nur der Tiefflüge, sondern eine Einstellung des Fliegens überhaupt mit einem bestimmten Flugzeugtyp macht dann Sinn, wenn Erkenntnisse vorliegen, daß da technische Schwächen vorhanden sind.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4773
Bundesminister Dr. WörnerWir haben das vorläufige Ergebnis — ich habe es gestern im Verteidigungsausschuß vorgetragen — : Beide Unfälle und schon die vorläufigen Ergebnisse zeigen, daß technische Mängel nicht ursächlich gewesen sein können, so daß auch von daher ein vorläufiger Stopp keine Erleichterung bringt.Ein endgültiger Stopp — das wissen Sie selber sehr genau; Ihre Kollegen im Verteidigungsausschuß haben das gestern auch gesagt, jedenfalls gilt das für zwei — wäre gar nicht denkbar, solange wir am Auftrag der Luftwaffen festhalten. Die Alliierten werden nicht einstellen. Das haben sie längst bekundet. Auch die Bundesluftwaffe kann das gar nicht tun.Ich bitte jetzt die SPD einmal ganz dringend und völlig unpolemisch: Was glauben Sie, warum meine Amtsvorgänger Schmidt, Leber und Apel bei Unfällen, die es auch damals gegeben hat, nicht eingestellt haben? Weil diese Gesetzmäßigkeit, die ich heute vortrage, schon damals galt. Wenn Sie eines Tages hier wieder verantwortlich die Regierung übernehmen wollen, dann müßten Sie ganz genau wissen, daß das unmöglich ist. Was wir tun können und was wir tun werden ist, alle Möglichkeiten auszuloten, die es zur weiteren Verbesserung der Sicherheit und — wenn überhaupt eine Möglichkeit vorhanden — zu Einschränkungen gibt. Da haben Sie mich auf Ihrer Seite. Ich habe, glaube ich, mehr als irgendeiner vor mir getan, um es einzuschränken.Eine völlige Einstellung aber kommt nicht in Frage. Ein vorläufiger Stopp, wie Sie ihn vorschlagen, produziert das Gegenteil, nämlich ein erhöhtes Risiko. Deswegen bitte ich, diesem Antrag nicht stattzugeben.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Tschernobyl ist uns wieder einmal Anlaß, über die Risiken der Kernenergie nachzudenken. Es ist hier schon sehr ausgiebig darüber gesprochen worden. Es ist relativ wenig über die Sicherheitsstandards der deutschen Kernkraftwerke gesprochen worden. Immer ist der Unfall von Tschernobyl ein allgemeiner Maßstab für Unfälle im Kernenergiebereich. Damit wird dann der Ausstieg begründet.
Wir haben uns gerade jetzt mit den Folgen eines Reaktorunfalles ausführlich befaßt. Aber es fehlt — mit Ausnahme der Ausführungen von Herrn Engelsberger — eigentlich das Szenario zum Ausstieg aus der Kernenergie. Dabei möchte ich jetzt gar nicht einmal auf den Treibhauseffekt eingehen. Sie wissen alle, daß ich in dieser Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages bin. Wir werden hier sicherlich noch sehr häufig über die Problematik des Treibhauseffektes reden müssen. Das will ich hier heute einmal gar nicht als Argument für die Risiken des Ausstiegs benutzen.
Ich möchte nur einmal ganz simpel ökonomisch fragen: Was passiert beim Ausstieg? Als erstes muß man mehr fossile Brennstoffe einsetzen; denn wir sind uns sicherlich alle darüber einig, daß wir eine Vorlaufphase brauchen. Als zweites werden wir uns mit alternativen Energien näher befassen. In allen Fällen wird es teurere Energie werden; denn auch eines, Herr Daniels, muß berücksichtigt werden: Energiesparen gibt es nicht zum Nulltarif.
Auch Sie, Herr Schäfer, haben versäumt, die Investitionskosten für die alternativen Energien einmal in ein richtiges Verhältnis nur zum Bruttosozialprodukt zu setzen. Es ist in jedem Falle eine teurere Energie. Nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft beißt sozusagen die Maus davon keinen Faden ab.
Überlegen wir einmal, was diese teure Energie für uns bedeutet! Sie bedeutet eine Verschlechterung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Das bedeutet selbstverständlich Verlust von Arbeitsplätzen.
Es würde mich hier natürlich auch reizen, noch einmal das Thema Lohnniveau und Energiebedarf anzusprechen,
denn mit steigendem Lohnniveau sind wir gezwungen zu rationalisieren, das heißt, wir müssen Manpower durch Energie ersetzen. Das bedeutet mehr Energiebedarf und dann aber auch mehr Produktion. Was das im Grunde alles für die Umwelt bedeutet, dazu kann man wirklich nur sagen: Im Grunde ist die Umwelt die Leidtragende einer verfehlten Lohnpolitik.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Daniels?
Nein. Es ist jetzt schon so spät. Das können wir im Ausschuß einmal detaillierter behandeln. Wirklich, heute einmal nicht. Sie wissen, ich bin sonst nicht so.
Ich möchte auch dies — wie den Treibhauseffekt —fast ausklammern, nach dem Motto: Vielleicht geht es uns hier in der Bundesrepublik ja so gut, daß wir uns das alles leisten können.Ich möchte jetzt lieber noch einmal ganz kurz — Herr Engelsberger hat das auch schon angesprochen — auf die Folgen für die Dritte Welt zu sprechen kommen.
Selbst der Herr Jonas — das möchte ich jetzt hier doch noch einmal sagen — , der von Ihrer Seite immer mit dem „Prinzip Verantwortung" angeführt wird, hat in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt: Wir haben die Riesengefahr einer Massenarbeitslosigkeit, aber damit möchten sich bitte die Nationalökonomen
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4774 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Frau Dr. Segallbefassen. — Das können Sie wörtlich in der Rede nachlesen.
Das ist hier unser Problem. Wir dürfen nicht so egoistisch sein, hier nur unsere eigenen Probleme zu sehen. Wir sollten auch einmal einen Blick über unsere Grenzen hinaus werfen und sehen, was passiert, wenn wir einen weltweiten Ausstieg aus der Kernenergie inszenieren. Nur dieser macht Sinn.
— Ja, da kann man nichts machen.
Die Dritte Welt hat, wie Herr Engelsberger schon ausgeführt hat, noch so viel Bevölkerungswachstum, daß wir uns überlegen müssen, was dort passiert. Die Schuldensituation ist bereits heute katastrophal. Ein Ausstieg aus der Kernenergie würde diese Situation weiter verschlechtern.
Betrachten wir das Problem nur einmal von der Seite, welche Exportmöglichkeiten der Dritten Welt noch übrigbleiben, wenn wir hier auf Grund der verteuerten Kernenergie Konsumverzicht in großem Umfang durchführen müssen. Die Exportmöglichkeiten, an denen heute schon die Rohstoffpreise kaputtgehen, würden sich noch verschlimmern. Wenn sie dann noch die teure Energie, die wir dann automatisch bekommen, importieren müssen, würde das Defizit in den Ländern der Dritten Welt ins Ungemessene steigen. Es ist überhaupt nicht abzusehen, was dann passieren wird. Wenn wir den Energiebedarf für die Dritte Welt nicht decken können und wenn die Dritte Welt keine Exportmöglichkeiten mehr hat, dann möchte ich Sie einmal bitten, sich zu überlegen, was Sie dann der Dritten Welt zumuten. Nicht nur Hunger!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Jung .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage hat gezeigt — und ich finde, daß diese Debatte das noch einmal unterstrichen hat — , daß keines der schwerwiegenden Probleme, die mit der zivilen Nutzung der Kernenergie verbunden sind, wirklich gelöst ist. Es gibt keinen wirksamen Strahlenschutz, und das Strahlenschutzvorsorgegesetz hat daran nichts geändert. Es hat keine umfassende Sicherheitsüberprüfung aller Kernkraftwerke stattgefunden. Es gibt keine einheitlichen Sicherheitsstandards auf internationaler Ebene, noch nicht einmal in der Europäischen Gemeinschaft, und es gibt keine bundeseinheitliche Katastrophenplanung.Trotzdem rühmt sich die Bundesregierung — Frau Wollny hat das vor mir zitiert — , nicht in Ausstiegsszenarien geflüchtet zu sein. Ich meine, so ist es wirklich. Noch nie hat eine Bundesregierung so eindeutig auf die Kernenergie gesetzt wie diese, und ich füge hinzu: ohne Not, jedenfalls aus energiepolitischen Gesichtspunkten.
Mehr noch: Die Bundesregierung will den Anteil der Atomkraft an unserer Energieversorgung weiter steigern, obwohl von einer gesicherten Entsorgung überhaupt nicht die Rede sein kann. Bei den Bemühungen von Bundesumweltminister Töpfer, ein neues Entsorgungskonzept zu entwickeln, standen ja offenbar — das konnten wir kürzlich aus dem „Spiegel" erfahren — Überlegungen der Deutschen Bank Pate. So ist dann aber auch das Ergebnis. Statt einer sicheren Endlagerung, die allein dem Geist und dem Wortlaut des Atomgesetzes entsprechen würde, wird unter anderem eine Zwischenlagerung angestrebt, die ganz offenbar auf Dauer angelegt ist.Trotz einer aufwendigen unternehmensrechtlichen Reorganisation der Atomindustrie, die die Verantwortlichkeiten anders verteilt, besteht das neue Entsorgungskonzept im Kern doch nach wie vor aus folgenden Elementen: Ausweitung der Verpressung, Konditionierung und Lagerung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen an den Standorten der Kernkraftwerke, weil externe Zwischenlager nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen, und — wie bisher — Verschiebung der hochradioaktiven Abfälle ins Ausland, nach La Hague, Sellafield und Schweden, ohne Lösung der damit verbundenen Transportprobleme und jeweils befristet auf sechs Jahre. Diese hochradioaktiven Abfälle müssen wir ab 1992 in großen Mengen wieder zurücknehmen. Keiner weiß, wohin damit. Darum will Bundesforschungsminister Riesenhuber die Entsorgungsverträge mit dem Ausland verlängern. Dies läuft aber ebenfalls auf eine dauerhafte Zwischenlagerung hinaus, allerdings nicht bei uns, sondern in diesem Fall im Ausland.Meine Damen und Herren, dieses Konzept, das der Energiewirtschaft offenbar weit entgegenkommt, ist aber keine Lösung der Entsorgungskrise. Bei dem geplanten Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im Schacht Konrad ist noch nicht einmal das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen, und ob es politisch durchgesetzt werden kann, ist bis heute offen; und ob das geplante Endlager für hochradioaktive Abfälle in Gorleben technisch überhaupt möglich ist, ist unter Fachleuten in höchstem Maße umstritten.Das Atomgesetz gestattet aber den Betrieb von Kernkraftwerken nur bei einer sicheren Entsorgung und nicht bei einer dauerhaften Zwischenlagerung. In gewisser Weise ist Herr Töpfer schon dabei, sein Wort einzulösen, nämlich „tief zu schneiden". Ich meine allerdings, daß er nicht in die Entsorgungspraxis, sondern eher in das Atomgesetz „schneidet".Schließlich will die Bundesregierung den Schnellen Brüter in Kalkar ans Netz bringen und die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf bauen. Diese beiden Projekte sind energiepolitisch nicht nur unsinnig, der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft vergrößert außerdem die Risiken auf dramatische Weise. Darum
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Jung
lehnen wir diese Projekte ab. Herr Daniels, ich meine, das haben wir oft genug deutlich zum Ausdruck gebracht. Dies öffentlich in Frage zu stellen, ist schlicht unverschämt.
In ihrem Energiebericht geht die Bundesregierung davon aus, daß durch die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen 40 % Natururan eingespart wird — eine wahrlich bescheidene Rate gemessen an den ursprünglichen Vorstellungen. Damit läßt sich aber die Wiederaufarbeitung in keinem Fall rechtfertigen. Es gibt nämlich keine Knappheit an Natururan.Die Wiederaufarbeitung ist auch keine Alternative zur Endlagerung, die in jedem Fall sichergestellt sein muß. Die Alternative heißt: Direkte Endlagerung oder Endlagerung mit Wiederaufarbeitung.Die Wiederaufarbeitung ist auch teurer als die direkte Endlagerung. Sie ist also auch ökonomisch unsinnig.Wichtiger noch: Nirgends auf der Welt wird eine Brut- oder Wiederaufarbeitungsanlage allein zu zivilen Zwecken betrieben, und zwar aus gutem Grund. Plutonium ist der gefährlichste Stoff, der von der menschlichen Technik jemals in Gebrauch genommen worden ist. Nach den neuesten strahlenmedizinischen Erkenntnissen werden mit Sicherheit — ich betone: mit Sicherheit — mindestens bei denjenigen, die diesen Stoff bearbeiten oder verarbeiten müssen, schwerwiegende Gesundheitsschäden eintreten.Mit dem Einstieg in die großtechnische Plutoniumnutzung wird das Proliferationsrisiko, d. h. die Gefahr der Verbreitung von waffenfähigem Material, erheblich ansteigen. Die zivile und die militärische Nutzung der Spaltstoffe, die aus der Wiederaufarbeitung gewonnen werden, lassen sich eben nicht voneinander trennen. Diese Erkenntnis setzt sich in zunehmendem Maße durch. Experten halten es sogar für möglich, daß kleinere Mengen von spaltbarem Material, die aber durchaus zur Herstellung von atomaren Sprengsätzen ausreichen, abgezweigt werden können, ohne daß dies noch wirksam zu kontrollieren ist. Die Bundesregierung muß offenbar daran erinnert werden, daß es gerade diese Gesichtspunkte waren, die die amerikanische Administration unter Präsident Carter dazu bewogen haben, Ende der 70er Jahre die zivilen Brut- und Wiederaufarbeitungsanlagen in Amerika aufzugeben.Meine Damen und Herren, diese Risiken und ungelösten Probleme der Kernenergie würden für sich allein schon ausreichen, einen Verzicht auf die Plutoniumwirtschaft oder auch nur auf den Ausbau der Kernenergie, ja den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie selbst zu begründen.
Diese Einsicht ist in der Bevölkerung inzwischen weit verbreitet. Sie scheint ja jetzt auch innerhalb der Regierungsparteien an Boden zu gewinnen. Dennoch hält die Bundesregierung an ihrer Kernenergievorrangpolitik bis heute kompromißlos fest. Dies ist nach unserer Auffassung auch energiepolitisch unsinnig.
Bei den derzeitigen Überkapazitäten im Kraftwerksbereich entzieht die Bundesregierung damit nicht nur der Kohle, dem einzigen nennenswerten heimischen Energieträger, den Boden; sie verbaut auch die Perspektive für einen zügigen Einsatz zukunftsträchtiger regenerativer Energiequellen.
Wahrscheinlich noch bis zum Ende dieses Jahres werden mit Lingen II, Neckarwestheim II und Isar II drei weitere Kernkraftwerke ans Netz gehen. Das sind rund 4 000 MW mehr Strom aus Kernenergie, die damit ihren Anteil an der Stromerzeugung auf fast 40 % steigert. Damit werden Braunkohle aus dem Grundlastbereich und auch Steinkohle aus dem Mittellastbereich der Stromerzeugung verdrängt. Praktisch ist dies doch die Aufgabe der Kohlevorrangpolitik. Die Bundesregierung hat ja auch angekündigt, den Kohlepfennig bis zum Jahre 1995, also in der Restlaufzeit des Jahrhundertvertrages, drastisch abzusenken. Bei den derzeitigen Weltmarktenergiepreisen ist abzusehen, daß die gesetzlich garantierten Ausgleichsansprüche der Energieversorgungsunternehmen, die heimische Steinkohle verstromen, nicht erfüllt werden können. Dann ist auch das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages nicht mehr zu halten, von einer Anschlußregelung ganz zu schweigen.Das heißt im Klartext: Um der Kernenergie ihren Absatzkorridor zu erhalten und diesen dann auch noch auszuweiten, muß der Steinkohleabsatz in der Stromwirtschaft zurückgedrängt werden. Das heißt auch: Um den Ausbau der Kernenergie nicht zu gefährden, werden das Energiesparen und die Förderung regenerativer Energiequellen drastisch zurückgeschraubt. Dabei wäre dies ja der entscheidende Ansatzpunkt, um die Lösung des Problems der drohenden Klimakatastrophe in Angriff zu nehmen. Herr Engelsberger, ich glaube, diesen Gesichtspunkt sollten Sie auch so deutlich sehen.
Seit 1982 betragen, grob geschätzt, die gesamten Aufwendungen für die Erforschung, Entwicklung und Anwendung dieser Techniken weniger als 20 % der Subventionen, die für die Kernenergie verausgabt werden, und diese vergleichsweise bescheidenen Mittel sollen mit der Steuerreform weiter eingeschränkt werden.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt mit ihrer Kernenergievorrangpolitik die Bevölkerung immer größeren umweltpolitischen wie energiepolitischen Risiken aus.
Das ist nach meiner Auffassung das ernüchternde Fazit aus den zwei Jahren nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Aber die Akzeptanz dieser Politik schwindet zusehends. Ich finde, es kann gar keine Rede davon sein, Herr Baum, daß sich die Nutzung der Kernenergie auf eine schwache Akzeptanz stützen kann; es ist heute überhaupt keine Akzeptanz mehr da. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß die Diskussion auch innerhalb der Regierungsparteien in Bewegung gekommen ist.
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4776 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Jung
Im „Handelsblatt" war kürzlich zu lesen, es seien die Taktiker der Union, die den Ausstieg aus der Kernenergie suchten. 70 Köpfe sollen das sein. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit den überzeugten Kernkraftgegnern , die es auch in Ihren Reihen geben soll, zusammentun würden, dann könnte man erwarten, daß sich in absehbarer Zeit vielleicht auch bei Ihnen die Mehrheitsverhältnisse ändern.Der Streit darüber, wer den ursprünglichen energiepolitischen Konsens aufgekündigt hat — die Bundesregierung mit ihrer Kernenergievorrangpolitik oder wir mit unserem Nürnberger Parteitagsbeschluß — ist nach meiner Auffassung eigentlich nachrangig. Viel wichtiger ist es, vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die wir mit der Kernenergie gesammelt haben, neue Ansatzpunkte für einen energiepolitischen Konsens zu suchen. Der kann nicht mehr lauten „Kohle und Kernenergie"; so hat er im übrigen nie gelautet. Er hat gelautet: Kohlevorrangpolitik und Kernenergie für den Restbedarf. Wenn wir uns aber auf die Formel „Kernenergie als Übergangstechnologie" verständigen können, dann würde der politische Streit, der sicherlich auch dann noch gravierend sein wird, auf die nachrangige Frage des Zeitraums eines Ausstiegs reduziert werden.Meine Damen und Herren, dies ist auch der Grund, warum wir dem Antrag der GRÜNEN heute nicht zustimmen können. Ich gebe zu, er ist ganz geschickt formuliert. Es gibt eine ganze Reihe von Ansatzpunkten, die wir mittragen würden;
viele davon stammen ja auch aus unseren eigenen Überlegungen. Aber es bleibt die Feststellung übrig, daß Sie hier durch die Hintertür einen Beschluß herbeiführen wollen, wo wir nach wie vor kontrovers sind. Das ist die Frage des Zeitpunkts, d. h. die Frage, ob der Sofortausstieg aus der Kernenergie möglich ist oder nicht. Wir sind dort unterschiedlicher Auffassung. Wir haben unseren Willen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß wir auf die Kernenergie so schnell wir möglich verzichten wollen. Wir haben dazu das Kernenergieabwicklungsgesetz in den Bundestag eingebracht. Ich glaube, daß dies der richtige Ansatzpunkt ist; wir werden daran festhalten.Das Ziel, so schnell wie möglich eine Energieversorgung ohne Atomkraft zu verwirklichen, setzt für uns Sozialdemokraten heute voraus, daß keine Betriebsgenehmigungen für die im Bau befindlichen Kernkraftwerke erteilt werden, daß der Schnelle Brüter nicht ans Netz geht und die Wiederaufarbeitungsanlage nicht gebaut wird und daß alternative Standorte untersucht werden, um die direkte Endlagerung von radioaktivem Abfall sicherzustellen.Zu einem energiepolitischen Konsens gehört für uns Sozialdemokraten aber auch, die Kohlevorrangpolitik zu verteidigen, insbesondere das Mengengerüst des Jahrhundertvertrages zu erhalten, und auf dieser Grundlage eine Anschlußregelung zu finden. Auch nur so kann die Option für einen raschen Ausstieg aus der Kernenergie offengehalten werden, das große Potential an Energieeinsparung und rationeller Energienutzung durch eine systematische staatliche Förderung auszuschöpfen, um den Energieverbrauch mittel- und langfristig zu reduzieren und auch wieder Energieprogramme aufzulegen und fortzuschreiben, die den Anteil festlegen, den die einzelnen Energieträger an der Energieversorgung haben sollen. Nur so kann die Energiepolitik transparent gemacht und politisch entschieden werden.Meine Damen und Herren, wenn ich es richtig sehe, bewegt sich die Diskussion auch in den Koalitionsparteien ein Stück auf unsere Position zu, weil es auch dort Kräfte gibt, die erkannt haben, daß auf die Dauer eine Energiepolitik gegen die Mehrheit der Bevölkerung nicht durchzusetzen ist. Ich denke, daß wir auf dieser Grundlage weiterdiskutieren sollten.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei meinem Vorredner hatte ich wirklich den Eindruck, daß er hier politische Meinungen vorträgt und nicht Wahrheiten verkündet. Bei der Kollegin Blunck hatte ich wirklich den Eindruck, daß sie nicht Meinungen vertritt, sondern hier Glaubensbekenntnisse abgibt.
Ich glaube, wir sollten bei der Art und Weise, in der wir hier reden, auch ein bißchen zum Ausdruck bringen, daß wir uns auch irren können.
Meine Damen und Herren, die Kollegin Blunck, Mitglied auch des Umweltausschusses, hat hier daran erinnert, daß es in diesem Land sehr viele Menschen gibt, auch Frauen,
die im Hinblick auf die Strahlenbelastung Angst haben. Ich glaube, es wäre eigentlich unsere Aufgabe, hier nicht daran zu erinnern, daß Menschen Angst haben, sondern wir sollten als Politiker den Menschen sagen, was von diesen Ängsten zu halten ist.Frau Kollegin Blunck, Sie haben sich um diese Aussage leider gedrückt, weil andernfalls Ihre ganze Kampagne ein bißchen in sich zusammenbräche.Ich will sagen, was ich den ängstlichen Müttern sagen würde, nachdem ich sehr viele Unterlagen studiert habe. Selbst dort, wo der radioaktive Niederschlag nach Tschernobyl witterungsbedingt stärker ausfiel, nämlich südlich der Donau, wurden Kinder im ersten Jahr nach Tschernobyl mit einer zusätzlichen Strahlenbelastung konfrontiert, die nur 30 % über der natürlicher Strahlenexposition liegt.In ihrem Bericht über die Folgen des Reaktorunfalls geht die Strahlenschutzkommission davon aus, daß sich das allgemeine Risiko, an Krebs zu sterben, das bei etwa 20 % liegen dürfte, rein rechnerisch höchstens um 0,01 bis 0,05 % erhöht hat; rein rechnerisch deshalb, weil wir eigentlich nur bei den höheren Strahlendosen medizinische Erfahrungen haben. Im
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4777
Dr. FriedrichGrunde — das wissen doch auch Sie — spricht alles dafür, daß es unterhalb bestimmter Schwellendosen überhaupt keine gesundheitlichen Folgen gibt.Ich räume Ihnen ein: Wir können das aber nicht beweisen, Herr Kollege Daniels. Da die ständigen zeitlichen und regionalen Schwankungen bei den Krebsraten viel größer sind, wird sich ein Zusammenhang zwischen Tschernobyl und Krebs auch durch Langzeitstudien — das kann man schon jetzt vorhersagen — nicht nachweisen lassen.Wir wissen außerdem, daß sich im Unglücksjahr ein Wohnortwechsel in Sachen Strahlenbelastung oft viel stärker ausgewirkt hat als das, was an radioaktiven Wolken aus der Sowjetunion, so schrecklich diese waren, zu uns herübergekommen ist.
Ich habe Verständnis dafür, daß gerade die Kollegen von der SPD das nicht als Feststellung übernehmen. Dann müßten Sie, Herr Kollege Schäfer, nämlich eingestehen, daß es nicht verantwortungsbewußt, sondern wirklich überflüssig war, daß Ihre Parteifreunde unmittelbar nach Tschernobyl in Ländern wie Hessen einen Wettlauf veranstaltet haben, wer noch niedrigere Grenzwerte festsetzen kann, daß Freibäder geschlossen wurden und vieles andere.Einige Kollegen — auch der SPD — haben sich leider auch ernsthaft an der Diskussion beteiligt, ob man schwangeren Frauen nicht empfehlen müßte, die angeblich von Erbschäden bedrohten ungeborenen Kinder abzutreiben.Was ich bisher gesagt habe, ist eine Teilwahrheit der Ereignisse und Zustände nach Tschernobyl. Ich versichere Ihnen, daß auch wir die Sache insgesamt natürlich als ganz schrecklich betrachten.Der Herr Kollege Schäfer hat heute an diesem Pult gesagt: Tschernobyl hat gezeigt, daß die Menschen mit dieser Technik überfordert sind.
Ich habe eine andere Einschätzung. Meine Einschätzung geht dahin, daß Techniker eines ganz bestimmten Landes, in dem Schlamperei an der Tagesordnung ist, in dem Rohstoffe ständig knapp sind, in dem Kritik und auch eine Sicherheitsdiskussion lange Zeit unterdrückt wurden, überfordert sind, nicht die Technik insgesamt.Ich habe allerdings Verständnis auch dafür, daß Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht beruhigt sind, daß nach dem Ergebnis von Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Risikostudien von 1 Million Menschen, die im Umkreis eines deutschen Kernkraftwerks leben, statistisch gesehen, 130 pro Jahr damit rechnen müssen, daß sie an einem Berufsunfall sterben, 240 im Straßenverkehr, aber „nur" 0,01 wegen des Versagens der Sicherheitstechnik einer unserer nuklearen Anlagen.Den entscheidenden Mangel bei der Diskussion über den richtigen Weg bei der künftigen Versorgung unseres Landes mit Energie sehe ich persönlich darin, daß viele an diesem Punkt aufhören, weiter nachzudenken.Schon die Kampfparole „Aussteigen! " weist in eine völlig falsche Richtung und führt zu völlig falschen Vorstellungen. Sie erweckt nämlich den Eindruck, daß mit dem Aussteigen alle Probleme gelöst sind. Meines Erachtens beginnen dann erst sehr viele Probleme.Ich möchte noch einmal sagen, was ich meine: Wir sollten richtigerweise nicht darüber diskutieren, ob wir aussteigen, sondern
die richtige Diskussion kommt erst in Gang, wenn wir darüber reden, ob wir umsteigen, weil nur dieses Wort sozusagen die Diskussion eröffnet, wohin wir umsteigen und mit welchen Konsequenzen wir umsteigen.
Dazu hat der Kollege Engelsberger schon etwas gesagt.Ich möchte hier, aus Zeitgründen verkürzt, für die Union nur nochmals feststellen, daß ein Tausch der Restrisiken der Kernenergie gegen Umweltprobleme bei der Verbrennung von noch mehr Kohle, insbesondere also die Probleme der Veränderung der Erdatmosphäre und damit des Klimas, für uns nicht in Betracht kommt. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich würde mich von der Kernenergie und ihren Problemen, auch den Problemen der politischen Durchsetzbarkeit, gern erleichtert verabschieden,
sobald neue Energiequellen oder neue Techniken zur Verfügung stehen, bei denen ich überzeugt bin, daß sie den Kriterien sicher, umweltfreundlich und wirtschaftlich besser entsprechen.Es ist für mich ein merkwürdiges Phänomen, daß in der Öffentlichkeit und auch in diesem Haus ständig unterstellt wird, daß unsere Wissenschaftler und Techniker überfordert sind, wenn es darum geht, eine seit Jahrzehnten angewandte Technik der Kernspaltung zu beherrschen. Dieselben Skeptiker haben aber in Wissenschaft und Technik ein fast unbegrenztes Vertrauen, wenn es darum geht, die Kosten von Solarstrom kurzfristig von jetzt in der Größenordnung 2 bis 5 DM auf eine Größenordnung von mindestens — man müßte wohl sagen — 30 Pfennig pro Kilowattstunde zu drücken. Selbst wenn ich die wahrscheinlich optimistischen Prognosen von Herrn Bölkow akzeptiere, habe ich Zweifel, ob unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger uns richtig verstehen, wenn wir heute die Kernenergie als Übergangsenergie bezeichnen.
Für mich gilt folgendes — und damit komme ich zum Ende, Herr Präsident, ich sehe das Licht — : Wenn ich diese Formulierung gebrauche, dann will ich damit ausschließlich meine Bereitschaft und meinen Willen kundgeben, zum frühestmöglichen Zeitpunkt in eine neue, bessere Technik umzusteigen. Ich sage aber ehrlich „zusätzlich", ich halte einen Übergangszeitpunkt von 10 Jahren für völlig indiskutabel, und ich sehe mich beim besten Willen nicht in der Lage, mich darauf festzulegen, ob diese Übergangszeit noch
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4778 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Dr. Friedrich30, 50, 80 oder 100 Jahre dauern wird. Ich bin in diesem Punkt der Meinung — —
Ich sehe mich jetzt nicht mehr in der Lage, Ihnen eine längere Redezeit zuzubilligen, Herr Dr. Friedrich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich akzeptiere Ihre Rüge und schließe.
Danke sehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im April 1986, als uns die Ereignisse in Tschernobyl beschäftigt haben, war ich auf kommunaler Ebene noch für den Katastrophenschutz zuständig. Wie stellte sich damals die Lage dar? Die Katastrophe war nicht bei uns, sondern, wie wir wissen, einige tausend Kilometer entfernt geschehen. Wir waren auf die Ereignisse, die sich dann auch bei uns durch erhöhte Radioaktivität absolut schnell bemerkbar machten, nicht vorbereitet.Meine Damen und Herren, die Katastrophenpläne, die wir haben und hatten, gingen von Räumungen, von Evakuierungen, von einer großen Zahl von Verletzten aus, die wir konkret nicht hatten. Ich wurde damals öfter aufgefordert, doch Katastrophenalarm zu geben, was von mir und von den Kollegen auf allen Ebenen in den Städten und Kreisen mit Recht abgelehnt wurde.Die Situation war aber ganz anders. Wir alle wissen: Es gab Angst, Unsicherheit und viele Fragen in der Bevölkerung. Darauf waren wir mit den Unterlagen, die wir hatten, im Grunde nicht vorbereitet. Wir haben auf das verwiesen, was die Medien täglich über die Intensität und die Zunahme der Strahlung berichteten. Wir haben auch gesagt: Laßt euch nicht irremachen durch das, was von morgens bis abends völlig widersprüchlich gemeldet wird. Denn der eine gab diese Radioaktivität als gefährlich an, der andere eine geringere. Aber das hat überhaupt nichts bewirkt, um zur Ruhe oder Gelassenheit der Bevölkerung einen Beitrag zu leisten.Insofern war es eine außerordentlich wichtige Erfahrung, die wir damals gemacht haben. Wir nannten das damals — ich sage es noch einmal — Putativnotwehr, weil konkret nichts vorlag und wir auf das, was zu bewältigen war, nicht vorbereitet waren. Wir haben uns dann — wie auch andere — Strahlungsmeßgeräte beschafft und versucht, regional, auf unseren Bereich bezogen, die Aussagen zu machen, die für die Bevölkerung, die Kinder, die Schulen usw. wichtig waren.Meine Damen und Herren, seitdem ist etliches geschehen. Wir sind einen großen Schritt weitergekommen. Ich nenne hier, wie in dieser Debatte heute schon geschehen, das Strahlenschutzvorsorgegesetz, ich nenne die Absicht von Bund und Ländern, das Meßsystem in den Ländern zu verbessern und zu erweitern. Das wurde inzwischen eingeleitet und soll1989 abgeschlossen sein. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.Hier ist auch der Schritt zu nennen, der damals von unserem Bundeskanzler eingeleitet wurde; er hatte internationale Gespräche, internationale Verhandlungen und internationale Verträge gefordert. Zugegebenermaßen ist das nur der Anfang eines notwendigen und richtigen Weges. Hier ist noch viel zu tun.Meine Damen und Herren, zum Schluß dieser Debatte möchte ich noch drei Punkte ansprechen, die in meiner Sicht in der heutigen Aussprache zu kurz gekommen sind. Der erste Punkt bezieht sich auf Moral und Ethik — ich sage noch einmal: Moral und Ethik. Es stört mich ausgesprochen — und ich meine, das müssen wir auch vor der Öffentlichkeit deutlich machen, die unsere Debatte heute verfolgt oder morgen in den Medien verfolgen kann — , daß nur eine Seite dieses Hauses für sich in Anspruch nimmt, bei dieser schwierigen und wichtigen Frage der Kernenergie und ihrer Folgen für Moral und Ethik einzutreten. Moral und Ethik kann jeder für sich in Anspruch nehmen. Jeder bemüht sich darum, im Interesse unserer Bevölkerung, für die anstehenden Probleme das Richtige zu finden, den richtigen Weg zu beschreiten, und jeder kann und muß davon ausgehen, daß dabei auch anerkannt wird, daß er moralisch und ethisch handelt. Zu sagen: Nur wir sind diejenigen, die das für sich in Anspruch nehmen können, ist unehrlich und kann vor der Öffentlichkeit überhaupt nicht gerechtfertigt werden.Ein zweites klingt immer wieder in politischen Debatten über diese schwierigen Fragen an: Gerade bei der jüngeren Generation rufen wir den Eindruck hervor, als wäre es möglich, in einer Welt zu leben und zu arbeiten, die ohne Risiken sei. Dieser Eindruck wird immer wieder erweckt.
Es wird der Eindruck erweckt, wenn wir über Buschhaus oder über die Rheinkatastrophe diskutieren — da gebrauche ich das Wort durchaus — , wäre es möglich, risikolos Politik zu machen oder risikolos durch verbesserten notwendigen Umweltschutz zu neuen Lösungen zu kommen. Das ist ein Riesenirrtum. Wir sollten hier für viel mehr Ehrlichkeit eintreten und unserer jungen Generation und der Bevölkerung immer wieder deutlich machen, daß es überhaupt keine Lebenslage gibt — ob wir uns für die Alternativkultur oder für die Kultur dieser Gesellschaft entscheiden, egal, für welche Lösungen wir eintreten — , in der wir ohne Risiken leben könnten.
Als drittes darf ich zum Abschluß folgendes ansprechen: Wenn ich in Wahlversammlungen — das wird Ihnen nicht anders ergehen — gefragt werde: was sind nach Ihrer Meinung die wichtigen politischen Aufgaben, die in Bonn zu erfüllen sind?, so hat jeder aus seiner Sicht eine andere Antwort auf diese Frage. Ich sage sehr häufig und betone es, daß es unsere Aufgabe ist — Aufgabe des Parlaments, der Regierung und aller, die Verantwortung tragen — , die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes, unserer
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4779
HarriesBundesrepublik Deutschland, zu retten und zu bewahren und uns auf den europäischen Binnenmark 1992 einzustellen.Meine Damen und Herren, was hat das mit diesem Thema zu tun? Das ist völlig offensichtlich; das ist heute auch diskutiert worden: Wir können diesen europäischen Binnenmarkt 1992 nur bewältigen, wir können ganz generell die Zukunft nur bewältigen und meistern mit einer lebendigen, starken, wettbewerbsfähigen Industrie. Dafür brauchen wir ganz bestimmt sichere Energie. Wir brauchen aber auch ausreichende und preiswerte Energie.Wenn ich jetzt einmal die europäische oder die internationale Energiediskussion mir vor Augen führe, stelle ich fest, daß nur wir in der Bundesrepublik Deutschland es uns leisten, eine Energiedebatte mit dem Ziel zu führen: Wir steigen aus der reichlich vorhandenen, preiswerten und — wie ich hier sage — weitgehend sicheren Kernenergie aus,
um hier dann einen völlig ungewissen Weg in die Zukunft zu gehen.Es klang eben so, als bestünde Einvernehmen darin, daß das Verbrennen von fossilen Brennstoffen wohl nicht die Alternative sei, die der Forderung, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, Rechnung tragen könnte. Meine Damen und Herren, seien wir doch ehrlich, und seien wir es auch gegenüber der Öffentlichkeit: Es ist kurzfristig und auch mittelfristig nicht möglich, durch regenerative, durch additive Energien — solaren Wasserstoff und das, was wir hier vorbereiten, wozu wir uns bekennen, was wir intensivieren müssen — in einem mittelfristigen Zeitraum von 20, 30, 40 oder 50 Jahren eine alternative Energiequelle zu präsentieren. Das ist leichtfertig, und das muß meines Erachtens immer wieder gesagt werden.Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Ich darf eine Erklärung zur heute vorliegenden Drucksache 11/2121 abgeben, die, wie Sie wissen, den Baustopp für die Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf behandelt. Hier liegt Ihnen die Beschlußempfehlung — die auch richtig ist — vor, daß der Bundestag beschließen möge, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen. Aber Begründung und Lösung sprechen aus, daß man doch mindestens zehn Jahre mit der Kernenergie leben müsse und daß von daher auf diese Energie nicht verzichtet werden könne. Ich darf Sie bitten, einmal die Seite 3 dieser Drucksache aufzuschlagen. Im Namen der Ausschußmehrheit von CDU/CSU und FDP möchte ich hier auf der Seite 3 unter „B. Lösung" etwas berichtigen: Der Zwischensatz „mindestens noch 10 Jahre umfassenden Zeitraum" ist bitte zu streichen und soll somit nicht Gegenstand der Abstimmung sein.
Meine Damen und Herren, ich bitte diejenigen, bei denen das Bedürfnis, sich zu unterhalten, größer ist als das zuzuhören, den Saal zu verlassen. Das würde das Verfahren hier wesentlich vereinfachen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir wissen, daß die tatsächlichen Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl die Bundesrepublik Deutschland vergleichsweise geringfügig beeinträchtigt haben. Gott sei Dank ist das so. Wir wußten das nicht, als sich das Unglück ereignete. Die Strahlenexposition infolge des radioaktiven Niederschlags, der unser Land erreicht hat, lag in den am stärksten betroffenen Gebieten in der Größenordnung der natürlichen Strahlenexposition eines Jahres. Im größten Teil der Bundesrepublik Deutschland lag sie weit darunter.Die politischen und die gesellschaftlichen Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl waren allerdings enorm und wirken heute noch nach, und sie waren mit Recht außerordentlich tiefgreifend.Im Bereich der Strahlenschutzvorsorge hat die Bundesregierung nach dem Ereignis von Tschernobyl unmittelbar wirksame Maßnahmen getroffen. Mangels klarer gesetzlicher Kompetenzzuweisungen kam es allerdings bedauerlicherweise in verschiedenen Bundesländern zu unterschiedlichen behördlichen Empfehlungen bezüglich der Kontaminationsgrenzwerte in Lebensmitteln. Der Bundesumweltminister hat unverzüglich, noch im Sommer 1986, ein Strahlenschutzvorsorgegesetz erarbeitet, um künftig die Vorsorgemaßnahmen auf gesicherter rechtlicher Grundlage und bundeseinheitlich treffen zu können.Das Strahlenschutzvorsorgegesetz ist in Kraft. Es ist insbesondere Grundlage für das integrierte Men- und Informationssystem, das die in Bund und Ländern vorhandenen Strahlenmeßnetze verknüpft und die Meßdaten bei der neugeschaffenen Zentralstelle des Bundes zusammenführt, die den Umweltminister bei der Bewertung der Daten unterstützt.Die nationalen Regelungen über Grenzwerte der Radioaktivität sind festgelegt worden. Es hat in der Zwischenzeit auch eine internationale Festlegung auf der europäischen Ebene gegeben, auch wenn diese Grenzwerte nicht den von uns geforderten vorsorglichen Charakter erhalten haben, den wir weiter gezogen wissen wollten, als das die Europäische Gemeinschaft getan hat.Unmittelbar nachdem der Unfall von Tschernobyl bei uns bekanntgeworden war, wurde die Reaktorsicherheitskommission aufgefordert, etwa notwendige Konsequenzen für die deutsche kerntechnische Industrie in bezug auf die Anlagen zu ziehen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war, daß das Sicherheitskonzept der deutschen Kernkraftwerke Bestand hat und keiner Erweiterung und keiner Änderung bedarf.Dennoch hat der Bundesumweltminister in Wahrnehmung seiner Verpflichtung der ständigen Weiterentwicklung der Reaktorsicherheit auch über die Genehmigungsvoraussetzungen hinaus ein umfangreiches Prüfprogramm für deutsche Reaktoren in Gang gesetzt.
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4780 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Parl. Staatssekretär GrünerIn der Folge sind Empfehlungen für sicherheitstechnische Verbesserungen gegeben worden. Dazu gehört die gefilterte Druckentlastung von Druck- und Siedewasserreaktoren für den hypothetischen Fall eines Kernschmelzunfalles.
Herr Staatssekretär, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche.
Meine Damen und Herren, es wäre nicht nur ein Akt der Höflichkeit, wenn Sie die notwendige Ruhe herstellen würden. Ich möchte deswegen sehr eindringlich bitten, die Gespräche im Saale einzustellen.
Dazu zählt ferner die Inertisierung von Siedewasserreaktoren, d. h. Entfernung des Sauerstoffs aus dem Reaktorsicherheitsbehälter zur Vermeidung der Explosionsgefahr bei einer Freisetzung von Wasserstoff.
Die zusätzlichen Maßnahmen des anlageinternen Notfallschutzes sind bei den Kernkraftwerken Brokdorf, Krümmel und Brunsbüttel sowie den Konvoikraftwerken Isar II, Emsland und Neckarwestheim II bereits verwirklicht.Die von der Reaktorsicherheitskommission empfohlenen Maßnahmen dienen der weiteren Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit bzw. der Eindämmung der Folgen von hypothetischen Unfällen.Im internationalen Bereich hat Bundeskanzler Dr. Kohl maßgeblich auf das Zustandekommen der Sonderkonferenz der Internationalen Atomenergieorganisation auf höchster Ebene im September 1986 hingewirkt.Außerdem wurde auf Veranlassung des Bundesministers für Umwelt, Naturschütz und Reaktorsicherheit ein internationales Expertenteam in die Kernkraftwerke der Bundesrepublik Deutschland entsandt. Im Herbst 1986 wurde das Kernkraftwerk Biblis A auf seinen betrieblichen Standard untersucht, im Frühjahr 1987 das Kernkraftwerk Krümmel und Ende 1987 das Kernkraftwerk Philippsburg. In allen Fällen waren die Ergebnisse positiv.Meine Damen und Herren, alle diese Maßnahmen haben das Ziel verfolgt, das Menschenmögliche, das Äußerste zu tun, um ein solches Restrisiko weiter zu vermindern.Alle Redner der Opposition, insbesondere die Redner der SPD, die heute hier aufgetreten sind, haben in ihren Beiträgen nicht erkennen lassen, warum sie gemeinsam mit uns einmal die friedliche Nutzung der Kernenergie für eine Notwendigkeit gehalten haben,
warum sie in der vollen politischen Verantwortung alsRegierungschefs, als Forschungsminister diese friedliche Nutzung der Kernenergie für notwendig gehalten haben.
Ausschlaggebend dafür waren doch die Gründe, die wir noch einmal vom Sachverständigenrat für Umweltfragen bestätigt erhalten haben, der in seinem neuesten Gutachten erklärt hat, daß Kernkraftwerke keine nennenswerten Umweltbelastungen darstellten. Das war ein wichtiges Argument für die Bereitschaft, diese Kernenergienutzung trotz der hier besprochenen Risiken, die auch mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe verbunden sind, zu ermöglichen.Meine Damen und Herren, wenn der Kollege Baum hier die internationale Zusammenarbeit angesprochen hat, hat er mit Recht darauf hingewiesen, welche Gefahren darin liegen, daß in anderen Ländern die Risiken nicht so bewertet werden wie bei uns, daß wir auf diese internationale Kooperation angewiesen sind, weil keine der Gefahren, die hier als Restrisiko angesprochen worden sind, dadurch beseitigt würde, daß wir etwa auf die friedliche Nutzung der Kernenergie verzichteten.
Im Gegenteil, das Aussteigen aus der Kernenergie hier in der Bundesrepublik würde technologisch bedeuten, daß wir morgen keine Gesprächspartner in Sicherheitsfragen international mehr sein könnten.
Auch das ist ein sehr, sehr wichtiger Gesichtspunkt.
Herr Kollege Schäfer, wenn an die Adresse der Redner der SPD, die hier aufgetreten sind, der Vorwurf der Technikfeindlichkeit gerichtet wird,
dann auch deshalb, weil Sie z. B. in Ihrem Antrag zur Nutzung der Sonnenenergie in einem Nebensatz die Umwidmung der Mittel für die Kernfusionsforschung gefordert, also den Verzicht auf die Kernfusionsforschung inzidenter ausgesprochen haben,
obwohl wir alle wissen, daß etwa in der Kernfusion auch eine Möglichkeit liegt, unerschöpfliche Energiequellen für die Menschheit zu gewinnen, die wir, wie wir alle wissen, für die Zukunft brauchen werden.Ich finde es nicht richtig und habe es sehr bedauert, Frau Kollegin Blunck, daß Sie die Haltung des Bundesumweltministers, die Restrisiken ernst zu nehmen, sie anzuerkennen, zu sagen: Wir wollen zu anderen Energiequellen vorstoßen, als eine Vermenschlichung der Atompolitik mit der Zielsetzung, diese unmenschliche Energie möglich zu machen, abqualifiziert haben. Das war der Sinn Ihrer Ausführungen. So können
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4781
Parl. Staatssekretär Grünerwir nicht miteinander umgehen, wenn wir einen gemeinsamen Weg in die Zukunft verfolgen wollen.
Wer hier von „Atomlobby", von dem „Nachgeben gegenüber wirtschaftlichen Interessen" spricht, der täuscht die Menschen über die Dramatik. Diese wirtschaftlichen Interessen beziehen sich auf Arbeitsplätze. Wir wissen alle, daß die wirtschaftlichen Folgen eines Ausstiegs bei uns angesichts der Kosten alternativer Energien gleichbedeutend mit dem Verlust von Arbeitsplätzen wären.
Das ist doch das Entscheidende, daß wir immer wieder ansprechen müssen. Ich würde morgen gerne die Sonnenenergie und den solar erzeugten Wasserstoff nutzen, wenn er mit weniger Risiken verbunden ist und ich das unter Wahrung der Arbeitsplätze hier in der Bundesrepublik Deutschland tun könnte. Auch hier sind wir auf internationale Kooperation angewiesen.
Wenn wir zukünftig andere Energiequellen erschließen wollen, werden wir das nicht ohne die Sowjetunion, nicht ohne die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht ohne China und ohne Indien erreichen können. Deshalb dürfen wir bei unseren Bürgern keine Illusionen über die Dauer des Weges erzeugen, der vor uns liegt, wenn wir andere, weniger mit Restrisiken belastete Energien entwickeln wollen. Das Nachdenken darüber ist eine gemeinsame Aufgabe.Der Bundesumweltminister will diesen Weg auch deshalb gehen, weil in der herkömmlichen Nutzung der Energien, der fossilen Energien, aber auch der Kernenergie in ihrer heutigen Form, auch Umweltrisiken liegen, die wir heute deutlicher sehen, als das noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war.Insofern müssen wir gemeinsam über Wege nachdenken, wie die energiepolitische Zukunft in unserem Lande, wie sie aber auch in der internationalen Kooperation aussehen kann.
Bevor wir zu der lang ersehnten namentlichen Abstimmung kommen, erteile ich dem Abgeordneten Dr. Daniels nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Meine Damen und Herren! Frau Blunck hat in ihrem Redebeitrag behauptet, ich hätte gelogen, was die Einstellung der SPD zur atomaren Wiederaufarbeitungsanlage Wakkersdorf angeht. Das ist falsch. Ich habe nicht behauptet, daß die SPD für Wackersdorf ist. Mir ist bekannt, daß die SPD derzeit eine Position gegen Wakkersdorf einnimmt.
Eine Möglichkeit, den Bau der WAA zu verzögern oder zu stoppen, ist die Beteiligung am atomrechtlichen Einwendungsverfahren mit seiner Unterschrift.
Beim ersten Anlauf zur Teilerrichtungsgenehmigung 1985 wurden 60 000 Unterschriften erbracht. Die SPD hat fast 1 Million Mitglieder. Bei ernsthaftem Engagement hätte zumindest die Parteispitze zu massenhaften Einwendungen aufrufen müssen. Das war der Punkt.
Herr Abgeordneter Dr. Daniels, ich möchte Sie bitten, die Klarstellungen, die die Geschäftsordnung zuläßt, vorzunehmen. Aber ich möchte Sie ebenso eindringlich bitten — andernfalls entziehe ich Ihnen das Wort — , diese nach § 30 zulässige Erwiderung nicht zu einem Aufruf für eine ganz bestimmte Angelegenheit zu mißbrauchen.
Ich möchte Sie bitten, diese Mahnung ernst zu nehmen.
Ich habe hier nur klargestellt, worauf sich meine Behauptung bezieht, nämlich darauf, daß die SPD bisher nicht zu den Einwendungen aufgerufen hat, die jeder Bürger bis nächste Woche, bis zum 20. April noch machen kann. Das war meine Kritik.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nun nicht mehr vor, so daß wir zu der Abstimmung kommen können.Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 11/2102 — das ist der veränderte Antrag — zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an folgende Ausschüsse: Verteidigungsausschuß, Auswärtiger Ausschuß, Ausschuß für Forschung und Technologie und Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. So haben wir das schon mal beschlossen.Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2110. Die Fraktion der GRÜNEN verlangt gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung die namentliche Abstimmung. Ich kann die Abstimmung eröffnen, wenn die Urnen entsprechend besetzt sind. Darüber muß ich mich zunächst einmal vergewissern. — Ich bitte die Fraktionen, dafür Sorge zu tragen, daß die Schriftführer an den Urnen sind. — Meine Damen und Herren, dann eröffne ich die Abstimmung. —Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß wir anschließend eine weitere Abstimmung haben. Ich bitte also, den Saal noch nicht zu verlassen.Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, dem Hause kundzutun, daß die Sitzung um 14.30 Uhr fortgesetzt wird.Ist noch jemand im Saal, der seine Stimme nicht abgegeben hat? — Sind die Geschäftsführer damit
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4782 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Vizepräsident Cronenbergeinverstanden, daß ich die Abstimmung schließe? — Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung.Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis werde ich später bekanntgeben. *)Meine Damen und Herren, ich bitte nunmehr, Platz zu nehmen, damit wir über den Zusatztagesordnungspunkt 3 noch abstimmen können. — Ich lasse nunmehr über den Zusatztagesordnungspunkt 3 abstimmen, und zwar die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die Ihnen auf der Drucksache 11/2121 vorliegt. Der Ausschuß empfiehlt Ihnen, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/260 abzulehnen. Ich mache darauf aufmerksam, daß durch Herrn Abgeordneten Harries eben noch Änderungen vorgenommen worden sind. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?
— Meine Damen und Herren, ersparen Sie dem Haus jetzt einen Hammelsprung.
— Nein. Ich lasse die Abstimmung wiederholen.
— Natürlich. Ich bitte die Kritiker, Herr Abgeordneter Schily, zu berücksichtigen, daß nicht wenige Abgeordnete im hinteren Teil des Hauses standen und das Präsidium verpflichtet ist, dieselben auch mitzuzählen.Ich lasse nunmehr die Abstimmung wiederholen.
Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Nunmehr darf ich feststellen, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen ist.Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Die Sitzung ist unterbrochen.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.Meine Damen und Herren, ich gebe zunächst das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. An der Abstimmung haben 369 Abgeordnete teilgenommen. Ungültige Stimmen keine; mit Ja haben gestimmt 31, mit Nein 334 Abgeordnete bei 4 Enthaltungen.*) Ergebnis Seite 4782 CEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 368; davonja: 31nein: 333enthalten: 4JaDIE GRÜNENFrau Brahmst-Rock BrauerDr. BriefsDr. Daniels Frau EidFrau FlinnerFrau GarbeHäfnerFrau HenselFrau HillerichHossHüserKleinert
Dr. KnabeFrau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau RustFrau SaiboldSchilyFrau Schmidt-BottFrau SchoppeSellinFrau TeubnerFrau UnruhFrau VennegertsFrau Dr. VollmerWeiss
WetzelFrau Wilms-KegelFrau WollnyNeinCDU/CSUDr. AbeleinBauer BayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin) BiehleDr. BlankDr. BlensBörnsen
Dr. BötschBohlBohlsenBorchertBreuerBühler Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaDr. Daniels
Frau DempwolfDeres DörflingerDr. DreggerEchternachEhrbar Eigen EngelsbergerEylmannFeilckeFellnerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedrichFuchtelGanz
GeisDr. von Geldern GersteinGerster
Dr. GöhnerDr. Götz GröblGünther Dr. Häfele HarriesFrau Hasselfeldt HaungsHauser Hauser (Krefeld) Freiherr Heereman vonZuydtwyckFrau Dr. HellwigDr. HennigHinrichs Hinsken Höffkes Dr. HoffackerFrau Hoffmann Dr. HornhuesFrau Hürland-Büning Dr. HüschDr. JenningerDr. Jobst Jung
KalbDr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKiechleDr. Köhler KolbKossendeyKrausKreyDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. LangnerLattmann Dr. Laufs LenzerFrau LimbachLink
Link Linsmeier LintnerDr. Lippold LouvenLummer MaaßFrau MännleDr. Mahlo MaginMarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MiltnerDr. MöllerMüller NelleDr. NeulingNeumann
Dr. OlderogOswald Frau Pack
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4783
Vizepräsident StücklenPeschPfeffermann PfeiferDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRepnikDr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) RossmanithDr. Rüttgers RufSauer
Sauer Sauter (Epfendorf)Sauter Scharrenbroich Schartz (Trier) SchemkenScheuSchmidbauerDr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schulte
Schulze (Berlin) Schwarz
Dr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSprangerDr. SprungDr. Stark StraßmeirStücklenSussetTillmannDr. UelhoffDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtDr. Warrikoff WeirichWeiß Werner (Ulm)Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms WilzWindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Dr. Wörner WürzbachZeitlmannZiererZinkSPDFrau Adler AmlingAndresAntretter Bachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme Börnsen (Ritterhude)BrückBüchler Dr. von Bülow Frau Bulmahn BuschfortCatenhusen Frau Conrad ConradiDillerFrau Dr. DobberthienDr. Ehmke
Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich EstersEwenFischer
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesFrau Dr. Götte GrafGroßmannGrunenberg Dr. HaackHaack
Frau Hämmerle HasenfratzDr. Hauchler Heistermann HeyennHornHuonkerJahn Dr. JensJung KastningKirschnerKißlingerKolbowKretkowski KuhlweinLambinusLeidingerLennartzLohmann
LutzFrau LuukFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-MaierDr. MitzscherlingMüller Müller (Pleisweiler) Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelFrau Dr. NiehuisDr. NieseDr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo PauliDr. Penner PfuhlDr. PickPorznerFrau Renger ReuterRixeRothSchäfer SchanzScherrerSchluckebierFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. Schmude SchreinerSchröer SchützSeidenthalFrau SeusterSielaffFrau SimonisSingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingStahl
SteinerFrau SteinhauerStiegler Stobbe Frau TerborgTietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau TraupeUrbaniakVoigt Wartenberg (Berlin) WeiermannFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzWestphalFrau WeyelWiefelspützvon der Wiesche Wimmer WittichWürtz Zander ZumkleyFDPBaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)Dr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallus GattermannGriesGrünbeckGrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrich Dr. HirschDr. HitschlerHoppeDr. HoyerKohnMischnickNeuhausenNolting Paintner Richter RindRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. SohnsDr. ThomaeTimmWolfgramm Frau WürfelEnthaltenSPDMenzelPeter
Dr. WieczorekFrau Wieczorek-ZeulDamit ist der Entschließungsantrag der GRÜNEN abgelehnt.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 4 bis 8, für die eine Aussprache nicht vorgesehen ist, erst nach der Aktuellen Stunde, also gegen 16 Uhr aufzurufen. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen; es wird so verfahren.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle StundeEinstellung der Tiefflugübungen als Maßnahme zur Verringerung der Gefährdung der BevölkerungMeine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß Nr. 1 Buchstabe c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Militärstrategie ist heute nur noch auf der Grundlage hoher Verdrängungsakrobatik möglich. Das wird beispielhaft immer wieder deutlich an Dicta, wie sie heute morgen hier gefallen sind: „Nuklearwaffen sind politische Waffen" oder wie unser Herr Bundesaußenminister immer
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4784 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Dr. Lippelt
gern sagt, er beurteile Nuklearsysteme nur nach ihrer friedenstiftenden Wirkung. So wird die physische, die materielle Seite dieser Waffen hinwegeskamotiert. Würden sie sich auch nur zu einem geringen Bruchteil jemals in ihrem tatsächlichen Charakter, nämlich als materielle Gewalt enthüllen, jeder Politiker, jeder Militär, der jetzt theoretisch mit solchen Doktrinen spielt, würde moralisch an ihnen zerbrechen.In Gorbatschows Denken und Egon Bahrs kürzlich veröffentlichter Antwort darauf wird jetzt zu unserer großen Freude nachvollzogen, was die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensbewegung nach 1981 zusammenbrachte, nämlich die Erkenntnis, daß es keine friedliche Atomenergie gibt, daß schon konventioneller Krieg in einem mit Reaktoren bestückten Lande Nuklearkrieg ist.An der Schnittstelle militärischer und ziviler nuklearer Vernichtungspotentiale aber liegt die Tieffliegerei. Sie ist der deutlichste Ausdruck von Offensivstrategie; denn sie begründet sich aus der Notwendigkeit, das gegnerische Radar zu unterfliegen, um Schläge weit im Hinterland des Gegners auszuteilen. Solange die herrschende NATO-Doktrin die der Flexible Response ist, ist der Tiefflug damit die unmittelbare Eskalationsvorstufe zur allseitigen Vernichtung.
Uns GRÜNEN ist deshalb auch unverständlich, warum die SPD, die doch die strukturelle Nichtangriffsfähigkeit beschwört, im heute vormittag vorgelegten Antrag die Tieffliegerei zwar von einem neuen Gesamtkonzept abhängig macht, sie damit aber im Prinzip bejaht. Im Gegensatz zu den Doktrinen nuklearer Kriegführung ist allerdings die Tieffliegerei eine nicht so fein sublimierte Militärstrategie. In den Worten des Verteidigungsministers: „Die Piloten riskieren täglich ihr Leben schon im Frieden. " Denn sie besteht aus der täglichen Übung eines Ernstfalls, der genausowenig wie der Einsatz nuklearer Waffen je eintreten darf. Damit aber ist sie ein Stück überflüssigen täglichen Krieges gegen die Piloten, um die wir genauso trauern wie um die zivilen Opfer; denn sie sind Opfer falschen militärstrategischen Denkens.
Sie ist ein Stück täglichen Krieges gegen die lärmgepeinigte Bevölkerung in den Tieffluggebieten. Sie ist immer gegenwärtige potentielle Bedrohung für uns alle, wie die Unfälle in der Nähe von AKWs belegen.Denn AKW und Tiefflug haben eines gemeinsam: Sie werden als Mindestschutzmaßnahmen den Ballungsgebieten ferngehalten und begegnen sich damit im ländlichen Raum, wo die deutlichen Silhouetten der AKWs sich hervorragend zum Anflug und als Wendemarke zum Umflug eignen: Nordkurve Grohnde, Südkurve Würgassen. Das Überflugverbot, auf das der Minister so stolz ist, ist reine Augenwischerei. Denn wohin schießt ein modernes Jagdflugzeug, das sich etwa im Anflug zum Umflug befindet und dann zwei, drei Sekunden — aus welchen Gründen auch immer — unkontrollierbar wird?
Auch der Pilot der F 16 wollte nicht in Forst aufschlagen. Ohu und Forst bei Philippsburg waren auch nicht die ersten Einschläge in der Nähe von AKWs. Am 10. Juli 1984 schlug ein Starfighter in der Nähe des AKW Stade auf. Wir haben in der Nähe von Würgassen Aufschläge gehabt, schon zwei. Wir haben mehrfach, mehr, als hier in diesem Hause bewußt ist, Glück gehabt.Ich höre jetzt erst einmal auf; die fünf Minuten sind abgelaufen. Ich komme noch einmal wieder.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Francke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit großer Betroffenheit haben wir alle von den Flugzeugabstürzen in Landshut und Forst Kenntnis genommen. Unser Mitgefühl gilt den hinterbliebenen Angehörigen des Bürgers, der dabei zu Tode gekommen ist, aber auch den getöteten Piloten der beiden Unglücksmaschinen.Wie meine Kollegen, so habe auch ich großes Verständnis für die emotionalen Reaktionen in der Bevölkerung, insbesondere an den Unglücksorten. Aber wenn wir diese Reaktionen hier ansprechen, meine ich, dann nicht nur aus Gründen des Infragestellens von Notwendigkeiten von Tiefflügen angesichts der beiden Abstürze, sondern ich denke dabei auch an die spontane Bereitschaft der Anwohner in Forst, die über die Ostertage dort eingesetzte deutsche und amerikanische Soldaten versorgt haben. Dieses Zeichen der Solidarität mit den Streitkräften verdient genauso Erwähnung wie das verständliche Entsetzen über das Geschehen. Leider hat dieses großartige Verhalten der Menschen vor Ort in der Presse nicht im entferntesten die Beachtung gefunden wie zum Teil unverantwortliche Darstellungen der Tiefflugproblematik in gewissen Medien.
Ich finde, daß wir uns hier im Parlament um so mehr um eine sachlich abwägende Debatte bemühen müssen. Ausgangspunkt muß dabei sein: Wer den Verteidigungsauftrag der eigenen und der verbündeten Luftstreitkräfte politisch bejaht, der darf den Piloten bei der Erfüllung dieses Auftrages seine politische Unterstützung nicht verweigern. Sie erfüllen täglich unseren Auftrag
und sichern dieses freie Parlament.Wir wissen, mit welch großem Verantwortungsbewußtsein die Piloten, deutsche wie alliierte, ihre Aufgabe wahrnehmen und daß sie diese Diffamierungen der letzten Tage nicht verdient haben. Wir wissen aber auch, ein vollständiger Verzicht auf Tiefflugübungen über der Bundesrepublik ist mit dem Ziel, den Verteidigungsauftrag aufrechtzuerhalten, nicht vereinbar.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4785
Francke
Ich weise im übrigen darauf hin, daß wir, was die Vergangenheit anbelangt, in diesem Verteidigungsminister jemanden haben, der auch gestern in der Sitzung des Verteidigungsausschusses eindrucksvoll belegt hat, was schon bisher an entlastenden Schritten zur Verminderung der Belästigung geschehen ist. Dazu zählt sowohl die Tatsache der Reduzierung der Tiefflugaktivitäten in den vergangenen fünf Jahren,
die Reduzierung der Tieffluganzahl bei der Waffenausbildung, und die restriktiven Auflagen, die für die Bundesluftwaffe gelten, sind auch auf die befreundeten NATO-Mächte übertragen worden.Zurückgehend auf die Debatte von heute morgen: Sie war von der SPD mehr durch den Wahlkampf in Schleswig-Holstein als durch Sachkenntnis bestimmt. Es ist, was die Frage des Überflugs von Kernkraftwerken anbelangt, festzustellen: Wir haben ein Überflugverbot für Kernkraftwerke. Daran halten sich auch die Piloten einschließlich der alliierten Piloten. Insofern stößt der Einwand von heute morgen ins Leere.
Bei den insgesamt sechs einwöchigen Einsätzen in der Nähe von Kernkraftwerken mit Skyguard wurde kein Verstoß gegen die Überflugregeln erkannt.
Diese Feststellung kann auch durch die Aufzeichnung der Flugbewegungen belegt werden.
Wir werden, was die Zukunft anlangt, davon auszugehen haben: Es ist für die Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft notwendig, Tiefflugübungen durchzuführen. Wir haben das Maß der Belästigungen reduziert, gewaltig reduziert. Wir sind, wie die gestrige Sitzung des Verteidigungsausschusses ergeben hat, dabei, weitere Reduzierungen vorzunehmen.
— Natürlich können sie runterfallen. Aber der Minister hat heute morgen zu Recht darauf aufmerksam gemacht: Gerade um die Häufigkeit des Herunterfallens zu minimieren, dürfen wir nicht unter die jetzige Zahl der Übungsstunden heruntergehen.
Das genaue Gegenteil von dem, was Sie wollen, träte nämlich ein, wenn wir Ihren unausgegorenen Gedanken folgten.
Noch einmal: Tiefflugübungen müssen in der Bundesrepublik auch in der Zukunft möglich sein — unter Einhaltung der erlassenen und möglicherweise zu vertiefenden Vorschriften. Dazu hat diese Bundesregierung in der Vergangenheit mehr getan als alle Vorgängerregierungen. Dazu gehören auch das Wissen und die Erkenntnis, daß die verbündeten Nationen sich an die von uns gegebenen Auflagen halten, alsogleichermaßen volles Verständnis für die deutsche Situation haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heistermann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich politische Schlußfolgerungen aus den Abstürzen von Militärflugzeugen in der Karwoche ziehe, gilt mein Mitgefühl den Angehörigen der Toten, die bei diesen beiden Unfällen zu beklagen waren.Ich halte es für unsere Pflicht und Schuldigkeit, zu fragen, ob wir wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um die Risiken solcher Unfälle zu verhindern oder wenigstens zu mindern.Die Abstürze der zwei Militärflugzeuge am 30. und 31. März 1988 vom Typ Mirage und vom Typ F 16, aber auch der Absturz einer Mirage bei Bar-le-Duc und der Absturz eines österreichischen Abfangjägers nahe der bayerischen Grenze kurze Zeit später dürfen uns nicht zur Tagesordnung übergehen lassen.Gefordert ist jetzt überlegtes und konsequentes Handeln. Fehl am Platz sind offizielle Beschwichtigungen sowie Wahrscheinlichkeitsrechnungen über das Risiko eines Flugzeugabsturzes auf ein Kernkraftwerk. Fehl am Platz sind auch Lippenbekenntnisse zur Notwendigkeit von Tiefflügen, verbunden mit der Forderung, diese Tiefflüge bloß nicht dort stattfinden zu lassen, wo man selber wohnt oder politische Verantwortung trägt.
Für die SPD-Bundestagsfraktion steht fest, daß das sogenannte Restrisiko von Flugzeugabstürzen über kerntechnischen Anlagen wesentlich höher ist, als bisher angenommen wurde, da die meisten kerntechnischen Anlagen nicht gegen Abstürze von Militärflugzeugen der neuesten Generation ausgelegt und gesichert sind. Das ist auch bei anderen sicherheitsrelevanten Industrieanlagen, wie chemischen Fabriken mit hohem Risikopotential, nicht anders. Dies hat die Bevölkerung verstärkt wahrgenommen. Sie erwartet jetzt konkrete Antworten der Verantwortlichen.Ich halte es nicht für unabänderlich, daß wir Krankheiten, psychische Störungen und Angst vieler Menschen, besonders vieler Kinder und Älterer, als quasi naturgegebene Folge der bisherigen Tiefflugpraxis hinnehmen.
Es ist schon lange nicht mehr ausreichend, daß der Bundesminister der Verteidigung immer nur wiederholt, er verkenne nicht, daß der Fluglärm eine Belastung für die Bevölkerung darstelle. Mit diesem Satz ist niemanden geholfen, und mit diesem Satz bleibt alles beim alten.
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4786 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
HeistermannMit der jetzigen Tiefflugpraxis dürfte aber selbst dann nicht alles beim alten bleiben, wenn gewährleistet wäre, daß stets alles unfallfrei abliefe. Wir dürfen uns weder mit der immerwährenden Praxis des Fluglärms noch mit Beinahe-Katastrophen abfinden.
Deshalb sollten wir hier alle gemeinsam dafür einstehen, daß jegliche Tiefflugübungen, die in der Verantwórtung der Bundeswehr liegen, bis zur Erarbeitung eines neuen Gesamtkonzepts für Tiefflugübungen einzustellen sind.
Die Bundesregierung sollte darauf hinwirken, daß die NATO-Partner bis zur Klärung der Unfallursachen der beiden Flugzeugabstürze von Tiefflugübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik absehen.Das wird ja auch in anderen Parteien Gott sei Dank so gesehen. Der CDU-Abgeordnete Sauter erklärte am 2. April: „Wir müssen über ein eindeutiges Verbot von Tiefflügen über Kernkraftwerken ernsthaft nachdenken." Verteidigungsexperte Zierer: „Ich bin dafür, Tiefflüge so lange auszusetzen, bis alle Absturzursachen geklärt sind. "Die Bundesregierung muß dem Parlament und den Bürgern Auskunft darüber geben, wie viele Flugstunden für die Bundeswehr notwendig sind, und dazu gehört eine nachvollziehbare Begründung.Die politischen Vorgaben zum Tiefflug sind auch politisch zu verantworten. Die Piloten erfüllen nur diese Vorgaben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Unfallserie vor Ostern ist bei dem Thema Tiefflug oder Lärmbelästigung durch militärischen Flugbetrieb sicher nichts mehr so wie vorher. Wenn sich die Erregung der letzten Wochen gelegt haben wird, dann können wir eben nicht zur Tagesordnung übergehen, das Thema einfach vergessen
und dann eine neue Sau durchs Dorf — sprich: durch die Medien — jagen. Denn die Unfälle vor Ostern haben eine neue Dimension in die ganze Diskussion gebracht.Wir haben uns, insbesondere im Unterausschuß „Militärischer Fluglärm" , bisher mit dem Thema unter dem Gesichtspunkt der Abwägung zwischen Reduzierung der Lärmbelästigung für die Bevölkerung einerseits und Aufrechterhaltung, Gewährleistung eines militärisch notwendigen Flugbetriebes, speziell Tiefflugbetriebes, andererseits befaßt. Diese Abwägung war schon schwierig genug. Das Faß war ja gewissermaßen schon randvoll, insbesondere bei den Bürgern in den am stärksten vom Tiefflug betroffenen Gebieten, worauf z. B. der Kollege Paintner in Bayern ja immer wieder zu Recht deutlich hinweist.Jetzt aber, da die Risiko- und die Gefahrendimension dazugekommen sind, droht das Faß überzulaufen. Deshalb haben wir alle Veranlassung, auf die Ängste, auf die Sorgen, auf die Beschwerden der Bevölkerung mit Verständnis einzugehen und sie ernst zu nehmen. Und an diesem Einfühlungsvermögen — lassen Sie mich das kritisch anmerken — hat es in den ersten Stunden nach den Unfällen am Gründonnerstag meines Erachtens gefehlt. Das hat häufig eher nach Abwiegelei und Verharmlosung ausgesehen und wurde von vielen Bürgern eher als kalt empfunden. Ich bin sehr froh, daß sich das auf seiten der Regierung und der Luftwaffe jetzt doch sehr deutlich geändert hat und man auf die Sorgen der Bürger hier endlich eingeht.
Einen Anspruch darauf, daß auf Lasten und Empfindungen sensibel eingegangen wird, haben allerdings auch die Angehörigen der Luftwaffe. Ich halte es für unerträglich, wie z. B. unsere Piloten in manchen Außerungen und Darstellungen als verantwortungslose Draufgänger und Luftrowdies dargestellt, abgemalt worden sind. Unsere Piloten können und müssen von uns Politikern verlangen — übrigens auch die vielen tausend Soldaten, deren Einsatz in Technik und Sicherung einen Flugbetrieb erst ermöglicht — , daß wir uns vor sie stellen. Denn die Gesellschaft hat ihnen den Auftrag erteilt, und wir haben den Auftrag als Politiker legitimiert, in dessen Erfüllung sie ständig physische wie psychische Höchstleistungen erbringen müssen und ihre Gesundheit — wenn nicht ihr Leben — riskieren. Das ändert überhaupt nichts daran, meine Damen und Herren, daß jeder Regelverstoß — und das heißt bei einem Soldaten ja wohl: jede Nichtbeachtung eines Befehls — unnachsichtig zu ahnden ist.Militärischer Flugbetrieb und auch Fluglärm sind für unsere äußere Sicherheit auch in Zukunft nicht verzichtbar. Gerade um einem potentiellen Gegner klarzumachen, daß unsere Luftwaffe seine Voraussetzung für einen schnellen Angriff zu Land und in der Luft wirkungsvoll unterbinden könnte, spielen unsere fliegenden Verbände eine ganz zentrale Rolle im auf Kriegsverhinderung ausgelegten Konzept unseres Bündnisses. Deshalb muß bei dieser Abwägung gelten: So viel militärischer Flugbetrieb wie für unsere äußere Sicherheit unbedingt nötig, dabei aber auch so wenig Risiken und so wenig Belästigung wie irgend möglich.Diesen Zielkonflikt kann man nur in einem Kompromiß auflösen; da gibt es keine Patentlösung. Deshalb müssen wir — wie uns auch das Ministerium zugesagt hat — prüfen, ob nicht doch noch Reduzierungen im Flugstundenvolumen oder Verlegungen von Luftkampfübungen über See möglich sind — ich würde es begrüßen, wenn das ginge — , ob nicht doch ein zusätzlicher Teil der Flüge verlagert werden kann — sei es nach Kanada, sei es in die Türkei, sei es in den Simulator — , ob nicht doch die Flugregeln z. B. im Hinblick auf die Sicherheit von Industrieanlagen und Kernkraftwerken verbessert werden müssen und vor allen Dingen im Hinblick auf ihre strikte Einhaltung und Durchsetzung überprüft werden müssen, ob nicht doch stärkerer Einfluß auf die oft nur kurze Zeit bei
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Dr. Hoyeruns übenden ausländischen Luftwaffen genommen werden muß, sich streng an die Regeln zu halten, und anderes mehr. Wir sollten übrigens auch prüfen, ob wir nicht auf das sogenannte 49er Modell, für das sich die FDP seit langem einsetzt, zurückkommen sollten.
Aber streuen wir dabei doch bitte nicht den Bürgern Sand in die Augen: Die Luftwaffe hat seit 1980 bereits um mehr als 25 % reduziert, wir strapazieren die Belastbarkeit unserer Luftwaffensoldaten durch Auf enthalte in unwirtlichen Gegenden des Auslands und durch die lange Abwesenheit von den Familien bis an die Grenze des Vertretbaren, und wir können den Ernstfall auch nicht im Simulator üben. Wir können das Gebiet, in dem diese Piloten im Ernstfall Einsätze fliegen müssen, nicht vollkommen von der Belastung freihalten.
Wir müssen uns schließlich darüber im klaren sein, daß eine weitere Verlegung ins Ausland auch finanzielle Bürden mit sich bringen wird, und zwar in nicht unerheblichem Umfange. Das gehört einfach dazu.
Deshalb suchen wir nach Möglichkeiten, wo immer sie bestehen, mehr Sicherheit und weniger Lärm zu schaffen. Nutzen wir solche Möglichkeiten entschlossen, denn unnötige oder leichtfertige Gefährdungen von Menschenleben wären genauso unverantwortlich wie die leichtfertige Verurteilung von Übungsflügen.Meine Damen und Herren, die Akzeptanz von Verteidigung, um die wir uns bemühen, ist hier auf die Probe gestellt. Wir müssen uns um diese Akzeptanz bemühen, denn sonst stehen gerade wir Verteidigungspolitiker bei der Verteidigung der Verteidigung eines Tages auf verlorenem Posten.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Verteidigung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Die beiden bedauerlichen Flugzeugabstürze in Landshut und Forst haben — und wer verstünde das nicht? — erneut zu leidenschaftlichen Debatten über die Notwendigkeit, die Sicherheit und das Ausmaß des militärischen Tiefflugs geführt. Ich hatte heute morgen in der anderen Debatte schon Gelegenheit, zur Sicherheit von Kernkraftwerken Stellung zu nehmen, und ich möchte mich jetzt mit einigen anderen Aspekten beschäftigen.Bevor ich das tue, möchte auch ich noch einmal den Angehörigen des getöteten zivilen Mitbürgers wie den Angehörigen der alliierten Piloten nicht nur meinMitgefühl, sondern auch das der Bundesregierung aussprechen.Bei all dem, was uns in der Sache trennen mag, sollten wir einander, glaube ich, eines nicht streitig machen: daß jeder die Gefühle derer versteht, die in Gebieten leben, in denen viel tiefgeflogen wird.
Ich gehöre zu denen, die einen Wahlkreis haben, in dem tiefgeflogen wird, und ich habe in den fünfeinhalb Jahren meiner Amtszeit, glaube ich, mehr als jeder andere Delegationen von Bürgern empfangen, ich habe mich vor Ort sachkundig gemacht, und ich nehme sowohl für meine Mitarbeiter in Uniform und in Zivil als auch für mich in Anspruch: Wir nehmen das nicht auf die leichte Schulter.
Seit Übernahme meines Amtes hat mich kaum eine Frage stärker beschäftigt als die des Tiefflugs, und nicht nur das; ich kann nachweisen, daß ich gehandelt habe. Kein Verteidigungsminister vor mir — und das kann ich nachweisen: keiner — hat so einschneidende Beschränkungen des Tiefflugs durchgesetzt wie ich.
In den fünf Jahren meiner Amtszeit ist es mir gelungen, den Tiefflug um rund ein Viertel zurückzuführen,
von über 90 000 bis auf 70 000 Stunden. Ein Drittel des Tiefflugaufkommens der Luftwaffe und zwei Drittel der Waffenausbildung der Luftwaffe wurden ins Ausland verlagert. Wir fliegen allein in der Ausbildung unserer Piloten 40 000 Stunden pro Jahr in den USA und Großbritannien. Wir haben die Mittagspause in der Sommerzeit ohne Ausgleich auch bei den Alliierten durchgesetzt, ebenso die Begrenzung auf höchstens 50 Minuten pro Mission. Wir haben die Beschränkung der Alliierten im Tiefstflug nach dem Vorbild der Luftwaffe durchgesetzt.Das alles galt bei meinem Amtsantritt als unmöglich. Deswegen, lieber Herr Heistermann, ganz abgesehen davon, daß Sie auch meinen Amtsvorgängern Unrecht tun, wenn Sie sagen, man sei zur Tagesordnung übergegangen, kann ich nur sagen: Ich habe das Gegenteil getan. Ich bin eben nicht zur Tagesordnung übergegangen.
Sie brauchen keine Sorge zu haben: Niemand von uns wird zur Tagesordnung übergehen.Aber die SPD sollte sich — das sage ich jetzt so unpolemisch, wie das möglich ist —, anstatt jetzt diese Begleitgeräusche zu machen, doch einmal fragen, warum sich jeder der Verteidigungsminister vor mir, die Herren Schmidt, Leber, Apel, bemüht hat, Einschränkungen zu verfügen, auch durchgeführt hat, warum sie aber nicht in der Lage und auch nicht bereit
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4788 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bundesminister Dr. Wörnerwaren, den Tiefflug völlig aufzugeben. Da gab es Unfälle wie jetzt auch, lieber Herr Heistermann.
Deswegen glauben Sie eines, bei all dem, was uns hier an den Sorgen verständlich ist: Als Bundesminister der Verteidigung und als Bundesregierung können Sie sich nicht hinstellen und so tun, als ob Sie auf den Tiefflug ganz verzichten können. Das können Sie nur so lange, solange Sie in der Opposition sind, aber niemals, wenn Sie die Verantwortung tragen.Es führt doch an einem kein Weg vorbei — lassen Sie mich das jetzt auch sagen — : Solange wir der Luftwaffe einen Einsatzauftrag zur Abschreckung, zur Friedenssicherung und zur Verteidigung geben, müssen wir den Piloten die Chance bieten, sich auszubilden und sich vorzubereiten. Das sind wir dem Auftrag schuldig, den sie im Ernstfall zu erfüllen hätten, das sind wir aber auch den deutschen und den alliierten Piloten schuldig, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, und das schon im Frieden, um unsere Freiheit, um den Frieden unseres Landes zu schützen. Das sage ich jetzt für diese zahlreichen deutschen und alliierten Piloten: Sie haben nicht Diffamierung und Beschimpfungen verdient, sondern sie haben Dank und Anerkennung für das verdient, was sie zu unser aller Schutz machen.
Ich sage noch einmal: das sind keine Rowdies,
sondern das sind verantwortungsbewußte Staatsbürger und im übrigen großenteils Familienväter, die sehr wohl um die Belastungen und Risiken für unsere Mitbürger wissen und versuchen, darauf Rücksicht zu nehmen, so gut es geht.
Je tiefer ein Pilot fliegt, desto größer ist seine Chance, die sehr dichte gegnerische Luftabwehr zu unterfliegen, also seinen Auftrag zu erfüllen, und zu überleben. Daran ändern auch moderne elektronische Aufklärungsmittel nichts; sonst würde nicht überall auf der Welt, im Osten, genauso im Westen, bei unseren Alliierten wie bei uns, Tief- und Tiefstflug geübt. Unterhalb 100 Meter hat die gegnerische Luftverteidigung Lücken; je näher am Boden, desto größer die Lücken, also desto größer die Chance. Im Ernstfall würde das bedeuten, daß er dort bei 30 Metern mit etwa 250 Meter/Sekunde fliegen müßte.
Das heißt, daß er üben können muß.Im übrigen gilt: Je weniger er fliegt, desto höher das Unfallrisiko. Das hat eines unserer Partnerländer einmal erfahren müssen. Man hat die Flugstundenzahl unter 120 gebracht; dann stieg die Unfallhäufigkeit um über 100 %. Schon allein deswegen ist der Vorschlag der SPD nicht tauglich.Wir werden mit einer Reihe von Maßnahmen, die ich gestern angekündigt habe, versuchen, dort, wo es geht, weitere Vorkehrungen zu treffen. Aber an einem können wir nicht vorbei: Solange wir den Auftrag unserer Luftwaffe aufrechterhalten — das müssen wir zu Verteidigungszwecken — , so lange muß auch die Möglichkeit gegeben sein, den Tiefflug zu üben.Ich habe folgendes veranlaßt: Erstens habe ich mich mit der Bitte an die Alliierten gewandt, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, Anzahl und Umfang der Übungen in der Bundesrepublik Deutschland weiter zu verringern.Zweitens habe ich den Auftrag gegeben, zu prüfen, ob durch zusätzlichen Einsatz von Simulatoren weitere Erleichterung geschaffen werden kann.Drittens habe ich die Luftwaffe beauftragt, zu überprüfen, ob und unter welchen Umständen Luftkampfübungen auch der südlichen Geschwader über die See verlagert werden können.Viertens. Wir werden unsere Bemühungen noch stärker intensivieren, als wir es ohnehin schon betreiben, ein Ausbildungszentrum der NATO für ein taktisch-fliegerisches Training in der Türkei oder in Kanada zu errichten, wobei das NATO-Vorhaben Vorrang verdient, weil dann auch unsere Verbündeten dort üben können und müssen.Ich habe fünftens veranlaßt, das Überflugverbot noch eindeutiger zu formulieren.Sechstens habe ich angeordnet, die Kontrollen für Überflugverbote für Kernkraftwerke zu verschärfen. Im übrigen sage ich Ihnen: Wir haben im vergangenen Jahr, also weit vor dieser Absturzserie, sechs Wochen lang sechs verschiedene Kernkraftwerke durch das Überwachungsgerät jeweils eine Woche lang überwachen lassen. Wir haben nicht einen einzigen Verstoß feststellen können. Die Untersuchungen der jetzigen Unfallursachen haben ergeben, daß bei dem Fall in Landshut die Flugzeuge — das erweisen die technischen Geräte eindeutig — nicht über die Kernkraftwerke geflogen sind. Es gab aber Leute, denen man glauben kann, daß sie es so wahrgenommen haben, die das geglaubt haben, weil sich das ihrem Gedächtnis so eingeprägt hat, die gesagt haben: Die sind drüber gewesen. Die ganzen Aufzeichnungen der technischen Geräte zeigen, daß das nicht so war. Wir können davon ausgehen, daß unsere Piloten dieses Überflugverbot einhalten. Alles andere ist eine Verdächtigung, die keinen, aber auch keinen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit findet.Wenn das Magazin „Monitor" einen Kommunalabgeordneten der GRÜNEN zeigt und als Starfighterpiloten ausgibt, der das letzte Mal 1975 in einem Starfighter gesessen hat und der von sich sagt, daß er Vorschriften übertreten hat, dann kann ich nur sagen: Das ist kein Kronzeuge für das Verhalten der vielen, vielen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4789
Bundesminister Dr. Wörnerhundert anständigen, treuen und pflichtbewußten Piloten, die das nicht nötig haben.
1975 wurde er auf eigene Bitten abgelöst, weil er mit dem Waffensystem nicht fertiggeworden ist.
Auch das macht ihn nicht gerade zum Kronzeugen.Ich übe keine Medienschelte. Viele Journalisten haben objektiv und fair berichtet und kommentiert. Aber an einigen Beispielen wie an diesem hat man auch sehen müssen, daß es manchen Journalisten und manchen Medien weniger um Information als vielmehr um Panikmache ging.Zum Schluß: Ich kann nur sagen, mich hat jeder an der Seite, der für sinnvolle Beschränkungen dort, wo sie möglich sind, eintritt. Aber umgekehrt gilt: Wir haben dafür zu sorgen, daß unsere Soldaten in der Lage bleiben, ihren Auftrag zu erfüllen; denn davon lebt dieses Volk in seiner Freiheit und in seinem Frieden.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Auslegungsstörfällen im AKW-Genehmigungsverfahren gehört „Einwirkung von außen: 1. Flugzeugabsturz, 2. Erdbeben" . Wer die Genauigkeit kennt, mit der historische Daten seismologischer und geologischer Art in Erörterungsverfahren ermittelt werden, um die Erdbebensicherheit zu erkunden, kann sich wirklich nur wundern, wie fahrlässig mit dem Auslegungsstörfall Flugzeugabsturz umgegangen wird.
Der größere Teil unserer AKWs wurde gebaut, als dieser Auslegungsstörfall überhaupt noch nicht definiert war.
Der Witz ist nicht, daß das Fluggerät heute so durchschlagend geworden ist, daß dadurch gewissermaßen neue Gefährdungen entstehen. Der Witz ist, daß mindestens zwei Drittel unserer AKWs überhaupt nicht gegen diesen Störfall ausgelegt sind.
Herr Minister, ich möchte von Ihnen wissen, ob in Ihrem Hause überhaupt eine Liste der unterschiedlichen Berstsicherheiten von AKWs bekannt ist. Sie reden hier immer so, als wenn die AKWs in ein anderes Ressort gehörten. Aber Sie fliegen die AKWs an.
In meiner Heimat beispielsweise sind die Kernkraftwerke Stade und Esensham dafür überhaupt nicht ausgelegt. Das Kernkraftwerk in Würgassen hat eine Decke, die 20 cm dick ist. Da regnet es bald durch.
In diesen älteren, nicht gegen solche Störfälle ausgelegten Reaktoren hat sich während der langen Betriebszeit ein radioaktives Inventar gesammelt, das
das in Tschernobyl freigesetzte bei weitem übersteigt.
In der kürzlich vom TÜV vorgelegten Studie zu Stade heißt es, das AKW sei nicht gegen den Störfall Flugzeugabsturz ausgelegt, eine Stillegung komme aber trotzdem nicht in Betracht, weil — Zitat — „eine Erweiterung des Schutzzustandes gegenüber sehr großen bzw. sehr schnellen Flugzeugen wegen der sehr geringen Eintrittswahrscheinlichkeit nicht angemessen ist". Ich weiß nicht, ob der TÜV jetzt immer noch so formulieren würde. Ich vermute, daß der TÜV die Praxis der Tieffliegerei so wenig studiert hat wie unser Verteidigungsminister die Berstsicherheit unserer Reaktoren.
Deshalb wird es Sicherheit vor einem Absturz-Super-GAU nur geben, wenn es in einem größeren Abstand von sensitiven Anlagen überhaupt keine Flugbewegung mehr gibt oder wenn diese gefährlichen Anlagen — das sind etwa zwei Drittel des gesamten AKW-Parks — stillgelegt werden. Wenn man sich aber dazu nicht entscheiden will, dann muß die Mindestforderung sein: Stopp aller Tiefflüge!
Mit einem solchen Tiefflugverbot bliebe die SuperGAU-Anfälligkeit bundesdeutscher Reaktoren nach wie vor leider bestehen. Die Reaktoren würden nicht sicherer werden, aber es gäbe zumindest einen Anlaß weniger, sie zum Bersten zu bringen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bühler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Durchführung und das ständige Üben von Tiefflügen sind unbestritten notwendig, um die Einsatzbereitschaft und das fliegerische Können der Piloten und damit die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu garantieren. Die Durchführung und das ständige Üben von Tiefflügen sind aber auch ebenso unumstritten eine permanente und manchmal über die Grenzen des Erträglichen hinausgehende Belästigung für die Menschen, die in diesen Gebieten wohnen. Ich gehöre dazu.Diese beiden Eingangssätze, meine Damen und Herren, hätte ich genauso in umgekehrter Reihenfolge bringen können. Die von mir benutzte Reihenfolge bitte ich also nicht im Sinne einer politischen Wertung und Priorität zu verstehen; es ist genau das gleiche Problem. Beide Bemerkungen verdeutlichen aber auch das Dilemma dieses Problems für jeden, der sich mit diesem Problem ernsthaft — hier liegt die Betonung auf „ernsthaft" — beschäftigt und auseinandersetzt.Etwas differenzierter stellt sich diese Problematik dar, wenn man wie ich einen Wahlkreis vertritt, in dem zwei kerntechnische Anlagen ihren Standort haben, nämlich das Kernforschungszentrum Karlsruhe und das Kernkraftwerk Philippsburg. Diese beson-
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4790 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bühler
dere Problematik muß zwangsläufig zu einer gesteigerten Betroffenheit bei der Bevölkerung führen, wenn, wie vor wenigen Tagen geschehen, eine Militärmaschine in ein Wohngebiet der Gemeinde Forst bei Bruchsal stürzt. Der Unfall forderte zwei Tote, den Piloten und einen Bürger aus Forst. Ich kann nicht verschweigen, daß bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Toleranzgrenze nicht nur erreicht, sondern überschritten ist.Um hier keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen, möchte ich mit gleichem Ernst und Nachdruck zwei Feststellungen treffen. Die derzeitigen Proteste in meinem Wahlkreis richten sich weder gegen die Verteidigungsbereitschaft noch gegen das Vorhandensein von kerntechnischen Anlagen, also gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie. Diese Feststellung ist deshalb wichtig und notwendig, weil nach dem jüngsten Unfall von bestimmten politischen Kräften auch bei uns versucht wurde, die in der Bevölkerung verständlicherweise vorhandenen, nun aktualisierten Ängste und Sorgen politisch zu kanalisieren, Gott sei Dank ohne Erfolg. Das wird in der heutigen Debatte leider auch wieder versucht. Dies ist zu bedauern. Noch mehr, dies ist ein Mißbrauch und zugleich eine Beleidigung der Opfer.
In diesem Zusammenhang waren die Gespräche mit evakuierten Bürgern in Forst kurz nach dem Absturz für mich persönlich ganz besonders eindrucksvoll. Einer betonte — und dies in dieser Situation — die Notwendigkeit der Verteidigungsbereitschaft und berichtete mir voller Empörung von mitunter mehr als geschmacklosen Suggestivfragen einiger der zahlreich anwesenden Journalisten, die von vielen als unverschämt und der Situation völlig unangemessen empfunden wurden.
— So eine Haltung bringen Sie nicht auf, das glaube ich Ihnen. In der Hartstraße in Forst, wo das Unglück geschah, wurde eine spontane Sammlung der Bürger durchgeführt, die diesen Unfall direkt erlebt hatten. Hier möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß auf Beschluß dieser Bürger 50 % der gesammelten Summe an die Angehörigen des verunglückten US-Piloten weitergeleitet werden. Ich weiß, wie auch die Bürgerinnen und Bürger, um die Schwere der Aufgabe der Flugzeugführer, und ich weiß, daß sich die meisten größte Mühe geben, Beeinträchtigungen nach Möglichkeit zu vermeiden.Doch dieser Unfall erfordert auch Konsequenzen. Dabei möchte ich bewußt nur auf solche abheben, die ich im Interesse des Sicherheitsbedürfnisses der Menschen für erforderlich halte, die in einer Region wohnen, die ohnehin schon anderen erheblichen Belastungen ausgesetzt ist und Vorleistungen für die Allgemeinheit erbringt.Der Landkreis Karlsruhe — ich habe bereits darauf hingewiesen — ist Standort zweier kerntechnischerAnlagen. Damit werden beträchtliche Vorleistungen auf einem nicht gänzlich unumstrittenen Gebiet der Energieversorgung weit über die Grenzen unserer Regionen hinaus erbracht. Die durch diese Standortfunktion in besonderem Maße ebenso beschwerte wie sensibilisierte Bevölkerung sollte daher in anderer Hinsicht einen Ausgleich erfahren. Ich bin der Meinung, daß eine solchermaßen belastete Region nicht noch zusätzlich der Belastung militärischer Tiefflugübungen ausgesetzt werden sollte. Dies bitte ich nicht als Rückzug nach dem Sankt-Florians-Prinzip mißzuverstehen. Ich halte diese Forderung für ein Gebot emotionsfreier und verantwortungsbewußter Abwägung. Der Landkreis Karlsruhe sollte nach Möglichkeit aus der Liste der ausgewiesenen Tieffluggebiete gestrichen werden.
Diese Forderung habe ich auch schon in meinem Brief vom Karfreitag an den Minister zum Ausdruck gebracht. Ich weiß mich darin einig mit der großen Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis, die ich hier vertrete. Besonders verweisen möchte ich noch auf die Resolution, die Sie vom Bürgermeister der Gemeinde Forst erhalten haben, von dem Bürgermeister, dessen Bruder bei diesem Unfall zu Tode kam.
— Ich glaube, Sie sollten dieser Betroffenheit auch ein bißchen mehr eigene Betroffenheit entgegenbringen.Wir sollten uns in Zukunft zwei Zielen verpflichtet fühlen, nämlich der Sicherheit und der Freiheit unseres Landes und dem Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, die in Regionen wohnen, wo es besondere Belastungen gibt, und damit leben.Ich danke den Freunden meiner Fraktion, daß sie mir als Nichtverteidiger und betroffenem Abgeordneten die Gelegenheit gegeben haben, hier zu sprechen, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Vorbemerkungen. Herr Minister, wir wenden uns an die politisch Verantwortlichen, nicht an die Piloten. Diese unterliegen Ihrer Weisung.
Zweitens. Ich danke dem Abgeordneten Bühler; das kann ich aber nur ironisch sagen. Da die Flugzeuge, die im Landkreis Karlsruhe ankommen, immer aus der Südpfalz kommen, sollen sie bitte auch bei uns nicht tief fliegen. Auf diese Weise kommen wir bald in der ganzen Bundesrepublik herum; das ist nicht die Lösung des Problems insgesamt.Der Absturz dieser zwei Maschinen hat nur ein Signal gegeben. Schlaglichtartig wurde die größtmögliche Katastrophe sichtbar. Eine andere Katastrophe findet täglich statt:
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4791
Müller
Täglich flüchten sich Kleinkinder schutzsuchend zu ihren Müttern, andere werfen sich wie tot zu Boden.Täglich werden Schichtarbeiter nach zwei Stunden Schlaf aus dem Schlaf gerissen.Täglich müssen Lehrer dutzendemal den Unterricht unterbrechen.Täglich wird die ohnehin schwierige Arbeit von Ärzten und Mitarbeitern in psychiatrischen Kliniken und Krankenhäusern durch Tiefflüge unzumutbar gestört. Ein Experte des Bundesgesundheitsamtes empfiehlt, Kleinkinder sollten sich zur Vermeidung von Gehörschäden bei Tiefflügen nicht im Freien aufhalten. Das ist Hausarrest.
Erwachsene schwanken zwischen Angst und Zorn und Ohnmacht. Das ist die bedrückende tägliche Wirklichkeit von Millionen Menschen in unserem Land, und dies 44 Jahre nach dem Krieg,
in einer Zeit, die selbst nach Meinung des CSU-Vorsitzenden Strauß so entspannt ist, daß wir dies der Bevölkerung nicht zumuten sollten.Ein Verteidigungs- und Waffenkonzept, das den Menschen die beschriebene Dauerbelastung zumutet, ist unzumutbar und muß dringend geändert werden.
Von Regierungsseite wird eingewandt, die militärischen Gegebenheiten ließen eine nachhaltige Verringerung der Tiefflüge nicht zu. Ich frage: Wann endlich zählen die menschlichen Gegebenheiten,
wann endlich zählt die Angst der Kinder und der Kranken? Wann zählen die Schlafbedürfnisse der Schichtarbeiter, wann gilt endlich das Ruhebedürfnis der alten Menschen? Diese Frage zu stellen ist nicht radikal in dem Sinne, wie Sie, Herr Verteidigungsminister, uns das hier unterstellen wollen, sie ist radikal im guten menschlichen Sinne.
Seit gestern können wir in diesem Blatt vom Inspekteur der Bundeswehr lesen, ihn bedrücke, daß eine abnehmende Bedrohung wahrgenommen werde. Donnerwetter, kann man da nur sagen, die obersten Militärs haben Sorgen! Da wundern sich die Menschen, die vom täglichen Tiefflug in der Pfalz oder in Schleswig-Holstein betroffen sind.
Es ist an der Zeit, daß Sie sich endlich die Sorgen von jenen Menschen anschauen, die vom täglichen Tiefflug psychisch und physisch geschädigt werden.Wenn die Verteidigungsplaner mit der gleichen Energie und Phantasie, mit der sie die für ihre Beschaffungs- und Haushaltsinteressen notwendige Bedrohung herbeireden, an die Planung eines neuen Verteidigungs- und Übungskonzeptes herangingen, dann wären schon morgen große Teile unseres Volkes von der Tieffluglast erlöst.
Wir Sozialdemokraten fordern erstens eine Pause beim Tiefflug.Wir fordern zweitens in dieser Pause neben der lükkenlosen Aufklärung der Absturzursachen die Prüfung der Grundsatzfrage, ob Tiefflug noch sinnvoll, notwendig und zumutbar ist.
Fachleute außerhalb und auch innerhalb der Bundeswehr bezeugen, daß militärtechnische Entwicklungen in Ost und West den Tiefflug sinnlos, nicht mehr notwendig machen.Wie fordern drittens von Ihnen, daß Sie bei den Alliierten darauf drängen, ebenfalls von Tiefflügen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland abzusehen. Die Alliierten davon zu überzeugen, wird ein schwieriges Stück Arbeit; denn sie betrachten uns, was den Tiefflug betrifft, immer noch als etwas ähnliches wie ein besetztes Land. Sie üben hier bei uns, wie sie es bei sich zu Hause in dieser Weise und in dieser Fülle nicht tun. So geht das nicht weiter.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Müller, es ist natürlich sehr dankbar, der Welt zu versprechen, man werde sie von allen Übeln befreien. Es ist sehr ungerecht, so zu tun, als würden wir nicht die Belastungen sehen, denen die Bürger ausgesetzt sind. Glauben Sie uns, wir würden nichts lieber tun, als den Leuten zu sagen: Die Sache ist beendet, wir brauchen sie nicht.
Es geht nicht. Die Frage kann nur lauten: Wie findet die Güterabwägung statt?Im übrigen sind alle diese Waffensysteme von Verteidigungsministern gekauft worden, die einer früheren Regierung angehört haben. Ich kann das nicht beurteilen. Ich bin kein Verteidigungsexperte. Ich spreche hier zu den Gesichtspunkten des Umweltschutzes. Mir wird glaubhaft gesagt: Dieses Verteidigungssystem ist nach wie vor notwendig, und es kann — jedenfalls in einem gewissen Umfang — auf Tiefflüge nicht verzichtet werden.
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4792 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
BaumJetzt kann ich als Umweltschützer nur einige Argumente beigeben, um die Güterabwägung zu beeinflussen.
Herr Kollege Wörner, seit vielen Jahren haben die Umweltschützer, die zuständigen Minister im Bund und in den Ländern den Bundesverteidigungsminister immer wieder gebeten und aufgefordert, daß auf das besondere Risikopotential von Kernkraftwerken Rücksicht genommen wird. Das dies besteht, ist überhaupt nicht wegzudiskutieren, es ist vorhanden. Es sind gewisse Maßnahmen getroffen worden; Sie haben einige genannt.Ich habe allerdings Schreiben auch aus der jüngsten Zeit von Kollegen aus den Ländern, insbesondere aus Bayern und Baden-Württemberg, gefunden, z. B. ein Schreiben von 1986 aus Baden-Württemberg und ein Schreiben vom Bayerischen Staatsministerium vom 31. März 1988. Ich nehme es dem Verteidigungsministerium ab, wenn es sagt, es bildet solche Schutzzonen. Ich frage mich allerdings: Sind sie verbindlich? Ich frage mich, ob so etwas letztlich überhaupt Sicherheit gibt. Denn ich kann mir als militärischer Laie vorstellen: Sie können eine Schutzzone errichten, und dennoch ist, wenn ein Flugzeug außer Kontrolle gerät, nicht sicher, daß es nicht in die Nähe eines Kernkraftwerkes kommt.
Ich sage Ihnen also: Obwohl wir in der Nachrüstung auch der alten Kernkraftwerke gewisse Vorkehrungen getroffen haben, um das Risiko zu minimieren, besteht bei den älteren Kernkraftwerken ein Risiko in höherem Maße, bei den neueren haben wir es gegen Kampfflugzeuge weitgehend ausgeschlossen. Darauf sollte Rücksicht genommen werden, so gut es irgend geht. Das bitte ich in die Güterabwägung mit einzubeziehen. Das tun Sie auch schon, aber wir drücken jetzt erneut.Nun gibt es noch ein anderes Problem: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen — der übrigens, Herr Wörner, auch darauf hinweist, daß es eben doch Verstöße gegen diese Anordnungen gibt — sagt hier in seinem Bericht vom Dezember 1987: Trotzdem kommt es immer wieder zu Verstößen gegen die Bestimmungen der geltenden Tiefflugvorschriften.Dieser Sachverständigenrat weist nicht nur auf die Kernkraftwerke hin, sondern auch auf einen anderen Aspekt, auf die Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung. Da sind jetzt Gutachten und Forschungsvorhaben beim Umweltbundesamt in Arbeit, die in ihren Voruntersuchungen bereits einige doch gravierende Feststellungen zulassen. Es gibt eben solche meßbaren Folgen für die Gesundheit unserer Mitbürger. Das ist ein Sonderopfer, das diese Bürger bringen. Das sollte eben Anlaß geben — und Sie haben das ja hier angekündigt — , möglichst alles zu tun, um diese Gefährdungspotentiale zu minimieren.Ich habe hier auch noch eine weitere Bemerkung der Sachverständigen einzubringen. Sie sagen, es scheinen nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu sein, diese Flugzeuge selber geräuschärmer zu konstruieren. Wir haben ja hier die merkwürdige Situation, daß wir für unsere Flughäfen ein relativ strenges Fluglärmgesetz haben, daß wir aber für den Fluglärm außerhalb der Flughäfen keinerlei Lärmgrenzen haben.Also in dieser Abwägung müssen auch diese Umweltgesichtspunkte eine Rolle spielen. Hier ist auch jeweils ein Konflikt aufzulösen. Es ist ganz und gar nicht verantwortbar, Herr Kollege Müller, wenn Sie so tun, als gebe es diesen Konflikt nicht und als könne man ihn beiseite wischen, indem man auf die Flugzeuge und auf die Flüge einfach verzichtet. Das geht leider nicht.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf die Fragen antworten. Bevor ich das tue, eine einzige Bemerkung: Ich finde, Herr Kollege Müller, Sie sollten sich wirklich überlegen, wem Sie mit einer Rede dieser Art und dieses Inhalts dienen.Sie waren ausweislich des Handbuchs des Deutschen Bundestages seit 1973 für einige Jahre Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. Sie haben dem Bundeskanzler Brandt und Sie haben dem Bundeskanzler Schmidt als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt gedient. Damals wurde mehr tiefgeflogen als heute. Damals gab es mehr Abstürze als heute. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten etwas von dem Pathos und etwas von Ihren Vorschlägen, die Sie gerade vorgetragen haben, zur damaligen Zeit an der damaligen Stelle vorgetragen.
Was für eine Haltung! Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen, dann so aufzutreten. Ich empfehle nur den Kollegen der SPD, die eines Tages möglicherweise wieder die Verantwortung übernehmen werden, sich zu überlegen, ob sie sich eine solche Haltung zu eigen machen wollen. Ich sage Ihnen voraus, Sie halten sie nicht durch.Der nächste Punkt. Kollege Baum, deswegen habe ich mich gemeldet. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diesen sachlichen Beitrag. Dort, wo Chancen bestehen, werden wir sie nutzen.Sie haben mich konkret gefragt, ob das verbindlich ist. Das Überflugverbot ist verbindlich. Wir haben bei all unseren stichprobenartigen Nachprüfungen mit den Geräten keine Erkenntnisse, daß es nicht beachtet würde. Natürlich kann keiner von uns einen totalen Ausschluß des Risikos hier ankündigen. Ich kann nur sagen, daß alle meine persönlichen Erfahrungen und alle nachprüfbaren Kriterien zeigen, daß die Piloten das Überflugverbot einhalten.Nun gibt es sogenannte Augenzeugen, die subjektiv verständlich sagen: Aber er ist doch da drüber-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4793
Bundesminister Dr. Wörnergeflogen. Jedoch wie gesagt: Die Geräte beweisen, daß das nicht so ist.
Es ist sehr schwer für einen Untenstehenden, das zu übersehen.Ich jedenfalls habe, um auch weiterhin sicherzugehen, daß dieses Überflugverbot beachtet wird, angeordnet, daß die Kontrollen noch einmal verschärft werden.Ein letztes: Es macht wirklich keinen Sinn für einen Piloten, der üben will, ausgerechnet ein Kernkraftwerk als Ziel oder als Wendepunkt anzunehmen.
Es macht keinen Sinn. Schon aus diesem Grund wird es jedenfalls von den Piloten — und ich sage, das ist die überwältigende Masse — , die dem Auftrag verpflichtet sind, nicht gemacht.Ich bedanke mich sehr, daß ich diese Gelegenheit noch einmal hatte.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich rede hier wie der Herr Kollege Bühler nicht als Mitglied des Verteidigungsausschusses, sondern als Abgeordnete aus der betroffenen Region. Lieber Herr Kollege Bühler, bei uns ist es nicht so, daß man sich bei den Verteidigern bedanken muß, daß man zu diesem Thema auch reden darf.
Bei uns ist es so, daß hier selbstverständlich in allererster Linie die Betroffenen zu Wort kommen sollen.
Mein Einsatz, meine Damen und Herren, für die weitestgehende Einstellung der Tiefflugübungen war über Jahre hinweg geprägt von der Sorge, die Bevölkerung vor dem unerträglichen Lärm zu schützen, vor allem Kinder, ältere Menschen und Kranke, die großen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Zu diesem Umwelt- und Gesundheitsaspekt kommt nun aber eine völlig andere Qualität dieser Problematik, die uns durch die Abstürze am 30. und 31. März deutlich vor Augen geführt wurde. Die verheerenden Verwüstungen und die Todesopfer, deren Angehörigen mein Mitgefühl gilt, haben klargemacht, wie groß das Ausmaß des angerichteten Schadens ist. Allein dieses würde schon genügen, um mit allem Nachdruck erneut eine weitgehende Einstellung der Tiefflüge zu fordern.
Aber dies ist noch nicht alles. Nach beiden Abstürzen rückt ein weit umfangreicherer Sicherheitsaspekt in den Vordergrund — der Herr Kollege Bühler hat esausgeführt — : Die Absturzstelle liegt nur wenige Flugsekunden entfernt vom Kernkraftwerk Philippsburg und vom Kernforschungszentrum Karlsruhe. Ein Absturz auf diese Anlagen hätte die verheerendsten Folgen, die weit über die Region hinausgehen würden und deren Ausmaß durch den Reaktorunfall von Tschernobyl, wie ich glaube, doch augenfällig wurde.
Man könnte dies alles immer noch rein theoretisch betrachten und den Beteuerungen der Verantwortlichen glauben, wenn nicht durch dieses Unglück bekanntgeworden wäre, daß der Block I des Kernkraftwerks Philippsburg gegen derartige Flugzeugabstürze nicht gesichert ist.
Außerdem — ich sage es nachdrücklich, Herr Verteidigungsmininister — beobachten die Bewohner, daß die Atommeiler in Philippsburg trotz des bestehenden Verbotes eben doch — so sagen sie — als Zielobjekte angeflogen werden. Unter diesen Umständen besteht nicht nur eine unerträgliche Gesundheitsbelastung durch Fluglärm, sondern auch ein permanentes Lebensrisiko für alle Bewohner dieser Region und weit darüber hinaus.
Es ist deshalb doch nur zu verständlich, daß die Bürgerinnen und Bürger, ihre demokratische Vertretung, ihre Abgeordneten, die Bürgerinitiativen und die Verwaltungen erneut an Sie, Herr Verteidigungsminister, und die Bundesregierung herantreten und nachdrücklich fordern, daß die Zahl der Tiefflüge drastisch eingeschränkt wird und daß Übungsflüge über solch problematischen Gebieten ganz verboten werden müssen.
Ich füge hinzu, daß nach meiner Meinung auch ein Verbot jeglicher Luftkampfübungen über bewohntem Gebiet erforderlich ist.
Die betroffene Bevölkerung — und ich sage das mit Nachdruck — spricht sich nicht für das Sankt-Florians-Prinzip aus, sondern sie fordert eine eingehende Überprüfung der Notwendigkeit für Tiefflüge, und sie fordert eine Nachdenklichkeit darüber, ob Tiefflüge für den Verteidigungsauftrag überhaupt erforderlich sind.Ich bitte Sie im Namen der heute Betroffenen und all der Menschen, die morgen betroffen sein können: Herr Verteidigungsminister, reden Sie mit den Alliierten nachdrücklich darüber, ob weiter an der Struktur der Tiefflüge zur Verteidigungsbereitschaft festgehalten werden soll. Und ich appelliere an Sie, auch nach dem, was Sie hier gesagt haben, dem Schutz der Menschen vor krankmachendem Lärm und vor einem möglichen atomaren Unfall Priorität einzuräumen.
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4794 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Das Wort hat der Abgeordnete Zierer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Der Absturz zweier Kampfflugzeuge, bei denen Menschen tödlich verunglückten, muß uns alle betroffen machen. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen. Wir haben Grund zur Sorge. Das gebe ich zu. Aber es ist kein Grund zur Panikmache.
Wenn Sie, Herr Kollege Heistermann, mich heute hier zitiert haben, muß ich dazu sagen: Es ist nicht ausschlaggebend, was in den Gazetten steht, was ich gesagt haben soll. Ausschlaggebend ist, was ich hier sage. Deshalb stelle ich hier fest,
daß für jeden verantwortungsbewußten Staatsbürger
das Tiefflugtraining unbestreitbar notwendig ist. Deshalb sage ich: Es ist unsachlich, wenn die bekannten politischen Unruhestifter jetzt wieder versuchen,
die zweifellos großen Belastungen, denen unsere Bevölkerung in den ländlichen Tieffluggebieten ausgesetzt ist, als Mittel zur Agitation gegen die Sicherheitspolitik der Bundesregierung einzusetzen,
Angst zu schüren und Emotionen gegen die Bundeswehr zu wecken,
gegen die NATO und gegen unsere Soldaten.
Unsere Piloten fliegen nicht aus Jux. Sie sind keine rohen Gesellen, die einen verrückten Sport treiben, sondern es ist für sie harte und anerkennenswerte Pflichterfüllung im Interesse unserer Sicherheit, im Interesse unserer Freiheit. Wir lassen sie deshalb nicht zu Prügelknaben der Nation machen.
Unsere Landesverteidigung zum Erhalt des Friedens stützt sich auf Heer, Marine und Luftwaffe. Dieser Luftwaffe muß eine Möglichkeit zum Training unter realistischen Bedingungen gegeben werden. Sandkastenspiele genügen hier nicht. Das heißt, an der Notwendigkeit von Tiefflugübungen in der Bundesrepublik kommen wir nicht vorbei.
Dennoch, meine Damen, meine Herren, werden wir das Problem nicht auf die leichte Schulter nehmen, werden wir als gewählte Volksvertreter die Sorgen unserer Bürger mittragen. Nicht nur ältere Bürger und Kinder leiden darunter, wenn überraschend auftauchende Strahlflugzeuge mit mörderischem Lärm raketengleich über ihre Köpfe hinwegrasen. Deshalb müssen wir Politiker gemeinsam mit den Militärs Lösungen suchen, die Zahl der Tiefflüge weiter zu reduzieren und auch die Lasten gerechter zu verteilen. Ich denke hier an das 49er Modell. Alle Möglichkeiten zur Reduzierung der Tiefflüge und der damit verbundenen Verringerung der Gefährdung der Bevölkerung sind zu nutzen. Die Verlagerung ins Ausland kann und darf aber nicht ohne sozial begleitende Maßnahmen für Piloten und ihre Familien geschehen.
Ich halte die Frage, wie sicher oder unsicher Kernkraftwerke sind, in diesem Zusammenhang für zweitrangig. Man sollte von vornherein kein Risiko eingehen und zumindest den Sicherheitsbereich, der derzeit bei 500 Metern liegt, erweitern. Angesichts der hohen Fluggeschwindigkeiten von Strahlflugzeugen bitte ich den Herrn Verteidigungsminister und die Militärs, diese Frage in die künftigen Sicherheitsüberlegungen einzubeziehen.
Ganz ohne Fluglärm, meine Damen, meine Herren, wird es allerdings auch in Zukunft nicht gehen. Die exponierte geographische Lage der Bundesrepublik an der Grenze zum Warschauer Pakt verlangt nach einer leistungsfähigen Luftwaffe, die ihre Einsatzfähigkeit unter realistischen Bedingungen trotz Glasnost, trotz Perestroika täglich unter Beweis zu stellen hat, wobei der tägliche Flugbetrieb über dem Bundesgebiet unmittelbarer Bestandteil der Abschreckung ist.
Wer das „Si vis pacem, para bellum", dieses Leitwort der antiken Sicherheitspolitik — „Willst du Frieden, halte dich kampfbereit" —,
ernst nimmt, muß auch ja sagen zu den Tiefflugübungen. Die CDU/CSU-Fraktion sagt ein Ja zur Reduzierung, aber ein Nein zum völligen Verzicht auf Tiefflüge; denn Frieden und Freiheit zum Nulltarif gibt es leider nicht. Unsere Soldaten, unsere Piloten haben einen politischen Auftrag zu erfüllen. Dafür gebührt ihnen unser Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer gewissen Weise knüpfen wir an die Debatte an, die wir heute schon vor der Mittagspause geführt haben; denn die beiden tragischen Abstürze vom 30. und 31. März 1988 haben uns in aller Deutlichkeit, sozusagen schlaglichtartig vor Augen geführt, welche Gefahren real — nicht hypothetisch — entstehen, wenn zwei gewaltige Zivilisationsrisiken aufeinandertreffen: das Zivilisationsrisiko einer fehlgeleiteten Energiepolitik in der Form der Atomtechnik und eine sich verselbständigende Logik des Militärs, die ebenfalls von sehr fragwürdigen Grundannahmen ausgeht.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4795
Müller
Herr Laufs, Sie haben sich heute morgen an einer Debatte beteiligt, die ich sehr wichtig finde, die wir auch weiter führen müssen. Sie haben gefragt, ob in der Debatte über die künftige Nutzung der Kernenergie nicht zuviel Emotionalität vorherrsche; die Rationalität in dieser Gesellschaft gehe verloren. Ich finde, das ist eine wichtige Betrachtungsweise, auch wenn ich Ihre Position nicht teile, die in etwa — ich verkürze jetzt — besagt: Es gibt zwar ein paar Probleme, aber im Grunde genommen sind wir auf dem richtigen Dampfer, es läuft alles in den richtigen Formen.Ich glaube, daß das zentrale Problem in unserer Gesellschaft darin besteht — das zeigt sich auch gerade an dem Beispiel der beiden Unfälle vor einigen Tagen — , daß sozusagen das Gefährdungspotential, das Risikopotential in dieser Gesellschaft immer weniger in Einklang steht mit den formalen Regeln, mit den Denkweisen, die wir in unserer Gesellschaft haben. Das heißt, das entscheidende Problem, vor dem wir stehen, ist — das zeigt sich in der Kernenergie, in der Atomenergie, das zeigt sich auch in der Frage der Tiefflüge — , daß wir sozusagen aus der Dynamik unserer Entwicklung heraus Gefahren und Risikopotentiale aufgebaut haben und mit den Formen, mit denen wir in unserer Gesellschaft damit umgehen, zurückgeblieben sind. Ich halte das für eine der ganz entscheidenden Fragen.Ich persönlich bin der Auffassung — das will ich Ihnen deutlich sagen — , daß Sie ein sehr traditionelles Verständnis von wissenschaftlicher Rationalität und eine fragwürdige Wissenschaftsgläubigkeit im Zusammenhang mit der Kernenergie haben. Ich habe den Eindruck, daß eine ebenso traditionelle Militärgläubigkeit und ein ebenso traditionelles Verständnis von Militärtechnik die Denkweise der Union in der Frage der Tiefflüge bestimmen.Meines Erachtens haben wir viel zuwenig erkannt, daß sich die Dimensionen der Gefahren und Risiken in räumlicher und zeitlicher Hinsicht in den letzten Jahren so erweitert haben, daß wir mit unseren bisherigen Formen der politischen Willensbildung, der politischen Regelung nicht mehr hinkommen. Das ist keine Frage, die ich subjektiv beantworten kann — Sie können persönlich durchaus anderer Meinung sein — , sondern das kann ich nur an der gesellschaftlichen Reaktion auf diese Entwicklung feststellen. Und die gesellschaftliche Reaktion ist Verunsicherung, ist Angst.
Das heißt, daß in der Tat auch die Bereitschaft zum Risiko zurückgeht.Da besteht auch wieder ein Unterschied zwischen uns. Wenn wir diese Risiken und Gefahren deutlich ansprechen, dann kann man das nicht damit abtun, als wären das die Chaoten, die darauf aufmerksam machen. Vielmehr artikulieren wir genau das Gefühl der Unsicherheit, das in dieser Gesellschaft vorhanden ist. Wer da abwiegelt, vergrößert im Gegenteil dieses Gefühl der Unsicherheit. Es kommt vielmehr darauf an, daß wir sehr rational versuchen, mit diesen Denkweisen und diesen veränderten Problemstellungen umzugehen.
Sehen Sie, Herr Laufs, dann geht es eben nicht an, daß beispielsweise Herr Töpfer in der Öffentlichkeit sagt, die Atomkraftwerke seien gegen den Absturz tieffliegender Flugzeuge gesichert. Das ist absoluter Blödsinn. Wer so etwas erzählt, braucht sich nicht zu wundern, wenn Politik nicht mehr ernstgenommen wird.
Das ist genau der Punkt, um den es geht.
Oder wenn Herr Birkhofer — faktisch der staatlich bestellte Papst für Sicherheit — sagt, es gebe ein zu vernachlässigendes Restrisiko. Das kann man doch ernsthaft nicht mehr vertreten.
Wenn so etwas quasi offiziell verkündet wird, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Leute in Distanz zur Politik geraten.Genau das dürfen und wollen wir nicht; denn es gibt in der Tat Probleme, die wir nicht individuell lösen können, sondern die neuer gesellschaftlicher Regulierungsformen bedürfen. Insofern sage ich das auch in Ihre Richtung. Sie müssen wirklich überdenken, ob diese Abwiegelungspolitik in der Tat den Interessen, die sie vertreten, noch dient.
— Sie haben ein absolut unreflektiertes Technikverständnis, genauso wie Sie oft ein unreflektiertes Freund-Feind-Verhältnis haben.
In beiden Positionen kommt man im Atom- und Chemiezeitalter nicht mehr weiter. Die Menschen wenden sich von einem ab. Was nützt es, wenn die Politik meint, sie sei rational, die Menschen es aber nicht mehr verstehen. Ich bin da nicht sicher, ob die Menschen nicht rationaler sind.Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu Ihnen machen, Herr Wörner. Zum ersten möchte ich Ihnen sagen, Sie haben völlig recht, am Beispiel dieser Unfälle sollte man nicht zu vordergründiger parteipolitischer Polemik greifen. Das finde ich völlig in Ordnung. Dann dürfen Sie aber auch nicht umgekehrt so tun, als ob diejenigen, die das Verbot von Tiefflügen fordern, sozusagen den Tod der Piloten ausnutzen. Ich finde, das ist dann auch nicht in Ordnung. Dieses geht auch nicht. Sie können aber auch nicht die Argumentation führen, wer für Tiefflüge ist, ist sozusagen für den Erhalt der Freiheit. So kann man Sie auch interpretieren. Auch das geht nicht. Der Tiefflug steht nicht im Grundgesetz, und deshalb sollten wir zu anderen Regelungen kommen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Gröbl.
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4796 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte kurz Stellung nehmen zu dem Problem „Schutzmaßnahmen bei Kernkraftwerken gegenüber einer Gefährdung durch Flugzeugabstürze". Herr Kollege Müller, es geht hier nicht um Abwiegelung, sondern es geht um die Darstellung des Sachverhalts, und darum bemühe ich mich hier.
Die Bundesrepublik Deutschland hat weltweit als erstes Land Anfang der 70er Jahre spezielle Maßnahmen zum Schutz besonders wichtiger Anlagenteile von Kernkraftwerken gegen die Gefährdung durch Abstürze schnell fliegender Militärmaschinen ergriffen.
Entsprechende Sicherheitsauflagen wurden auf Weisung des Bundes seit Dezember 1971 in den Genehmigungsbescheiden festgeschrieben. Die Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke von 1977 sehen vor, daß „die Anlagenteile, die erforderlich sind, den Kernreaktor sicher abzuschalten, ihn in abgeschaltetem Zustand zu halten, die Nachwärme abzuführen oder eine etwaige Freisetzung radioaktiver Stoffe zu verhindern, so ausgelegt sein müssen und sich in einem solchen Zustand befinden und gehalten werden müssen, daß sie ihre sicherheitstechnischen Aufgaben auch bei naturbedingten Einwirkungen" — die sind dann aufgeführt — „oder sonstiger Einwirkungen von außen, wie Störmaßnahmen Dritter, Flugzeugabsturz etc., erfüllen können".
Auch die Sicherheitsleitlinien der Reaktorsicherheitskommission haben für den Restrisikobereich derartige Maßnahmen mit aufgeführt und festgelegt.
Entsprechend der technischen Entwicklung haben wir in bezug auf die Auslegung der Schutzmaßnahmen unserer Kernkraftwerke drei Phasen:
Erstens. Kernkraftwerke, die bis Anfang der 70er Jahre in Betrieb genommen wurden, sind damals bei ihren umfangreichen Schutzeinrichtungen noch nicht speziell gegen Abstürze schnell fliegender Miltärmaschinen ausgelegt worden. Trotzdem gibt es auch bei diesen Kernkraftwerken gegen derartige Gefährdungen wirksame Schutzvorrichtungen.
Gegen ein Eindringen von Gegenständen in den inneren Reaktorbereich schützen zum einen die Außenwände — Sie haben die waagerechten Teile genannt — , deren senkrechte Teile zwischen 60 cm und 100 cm starken Stahlbeton aufweisen. Die nächste Barriere ist die Hülle des Sicherheitsbehälters, der aus einer 10 bis 30 mm starken Stahlwand besteht.
Darauf folgt nach innen eine ca. 1 Meter starke Betonwand, die den Reaktordruckbehälter umgibt. Darüber hinaus verfügen diese Kernkraftwerke über eine zusätzlich eingerichtete Notstandsanlage, die eingebunkert und ihrerseits gegen Flugzeugabstürze geschützt ist.
Dies gilt für die Kernkraftwerke Obrigheim, Würgassen, Stade, Biblis A, Brunsbüttel und Philippsburg I.
Über die oben beschriebenen Sicherheitsvorkehrungen hinaus haben die Kernkraftwerke Neckarwestheim I, Isar I, Unterweser, Biblis B und THTR 300 in Hamm-Uentrop eine spezielle Auslegung gegen Belastungen, die aus einem Absturz eines Starfighters herrühren könnten. Diese Kernkraftwerke waren weltweit die ersten, bei denen zusätzliche Vorsorgemaßnahmen gegen derartige äußere Einwirkungen gefordert und eingebaut wurden.
Nur der Vollständigkeit halber will ich die Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Freisetzung radioaktiver Stoffe auf Grund eines Flugzeugabsturzes nennen. So wurde z. B. für Biblis B diese Wahrscheinlichkeit mit 2 x 10-7 pro Jahr, d. h. seltener als einmal in 5 Millionen Betriebsjahren, geschätzt.
Drittens. Bei allen anderen Kernkraftwerken ist zusätzlich zu diesen umfangreichen Schutzvorkehrungen noch spezielle Vorsorge gegen Belastungen getroffen, die aus dem Absturz einer Phantom RF 4 E errechnet worden sind. Auch die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf wird diesem Sicherheitsstandard in vollem Umfang entsprechen.
Auslegungsanforderungen wie in der Bundesrepublik Deutschland sind in keinem anderen Land vorgesehen. In Frankreich werden Kernkraftwerke gegen Abstürze von Flugzeugen mit bis zu 5,7 t Fluggewicht und einer Geschwindigkeit von 360 km/h ausgelegt. Demgegenüber ist die Auslegung bei uns für die Phantom: Fluggewicht 20 t, Absturzgeschwindigkeit 775 km/h, Aufprallfläche 7 m2.
Ähnliche Größenordnungen wie in Frankreich werden in den USA und Kanada zugrunde gelegt. Ich stelle also fest, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Kernkraftwerke zu einem im internationalen Vergleich frühen Zeitpunkt gegen Abstürze schnell fliegender Militärmaschinen geschützt und diesen Schutz entsprechend dem technischen Wandel fortgeschrieben hat.
Dieser Schutz wurde erreicht durch Genehmigungsauflagen und Sicherheitsvorschriften bei den in Planung bzw. in Bau befindlichen Anlagen ab Anfang der 70er Jahre und durch erhebliche Nachrüstungen bei den bereits errichteten Kernkraftwerken. Ein durch Flugzeugabsturz verursachter Kernschmelzunfall und dadurch bedingte Freisetzung von Radioaktivität können somit nach dem Maßstab praktischer Vernunft ausgeschlossen werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Uelhoff.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4797
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe sehr, daß die Ausführungen von Staatssekretär Gröbl nicht nur zur Kenntnis genommen werden bei denen, die von Ängsten politisch leben, sondern daß sie sie auch weitertragen und daß sie mithelfen, Ängste, die zweifellos bei unserer Bevölkerung vorhanden sind, abzubauen.Ich möchte aber noch, ich sage einmal: ein verstecktes Dankeschön auch an den Kollegen Müller richten; denn er hat — jedenfalls für mich — einige durchaus nachdenkenswerte Anregungen gegeben. Ich bin sehr froh darüber, daß dieser Beitrag sicherlich auch zur Versachlichung beigetragen hat. Nur in einem Punkt möchte ich Ihnen doch sehr widersprechen. Sie haben sinngemäß vor der traditionellen Denkweise in der Tiefflugpolitik gewarnt und auch von Abwiegelungspolitik gesprochen.Die traditionelle Denkweise wird z. B. durch einen Brief vom Parlamentarischen Staatssekretär Penner von 1982 deutlich, in dem exakt dargestellt wird, was ich als traditionelle Denkweise bezeichnen möchte. Was aber danach geschehen ist — es ist nämlich nicht nur geredet, sondern auch gehandelt worden; Minister Wörner hat darauf hingewiesen — , geht auf eine neue Denkweise zurück. Wir greifen die Ängste und die Sorgen der Bevölkerung auf und setzen die entsprechenden Maßnahmen auch gegen Widerstände durch. Um ein Viertel ist das Tiefflugaufkommen in der Bundesrepublik in den letzten fünf Jahren, seit dieser Verteidigungsminister sein Amt ausübt, geringer geworden. Als ein Wahlkreisabgeordneter, der weiß Gott von Tiefflug reden kann, weil dieses Problem meine Mitbürger beschäftigt, weiß ich das sehr zu schätzen. Ein herzliches Dankeschön, Herr Minister Wörner, dafür, daß hier erstmals etwas getan worden ist und daß man von einer traditionellen Denkweise abgegangen ist.Die Tiefflugübungen in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch auf den Territorien unserer Verbündeten gehören ganz zweifellos zu den Belastungen, die die Sicherung von Frieden und Freiheit mit sich bringt, die aber von den betroffenen Menschen als besonders unerträglich empfunden werden. Als pfälzischer Wahlkreisabgeordneter, der vier Flugzeugabstürze innerhalb weniger Monate erleben mußte, weiß ich um die Angst und auch den gelegentlichen Zorn vieler Mitbürger. Ich bin bei den Bemühungen, die Last unserer Mitbürger zu verringern, auch mit unserem südpfälzischen Kollegen Heiner Geißler sehr einig, der sich schon seit vielen Jahren vor Ort dieses Problems annimmt und in vielfacher Weise zur Verringerung dieses Problems beigetragen hat,
und zwar, Herr Kollege Müller , durch harte Arbeit und nicht durch Plakate und mit Pathos unter Hinweis auf Ängste.
— Herr Kollege Müller , Ihre Kompetenzwird von Ihrer Fraktion offenbar nicht so eingeschätzt,daß Sie im Unterausschuß „Militärischer Fluglärm"Ihre Beiträge einbringen können. Da sind weiß Gott kompetentere Kollegen Ihrer Fraktion anwesend.
— Das hören Sie nicht gern. Aber das muß doch einmal gesagt werden.
Fluglärm macht betroffen und fordert Antworten heraus. Wir haben Antworten gehört. Wir werden uns weiter um Antworten bemühen müssen. Doch wer, wie die Initiatoren dieser Aktuellen Stunde, glaubt, durch Einstellung von Tiefflugübungen die Gefährdung der Bevölkerung verringern zu können, erweist sich bestenfalls als ein Gutgläubiger, schlimmstenfalls aber als jemand, der von Fluglärm redet, die Angst der betroffenen Bevölkerung mißbraucht und in Wahrheit ganz andere Ziele verfolgt, z. B. die Schwächung der Verteidigungsbereitschaft oder, was sich aus aktuellem Anlaß weiß Gott anbietet, den Ausstieg aus der Kernenergie.
Daß nach einer aktuellen Wickert-Umfrage 85 % der Bevölkerung nicht den völligen Verzicht auf Tiefflüge zu militärischen Übungszwecken fordern, aber immerhin 68 % der Befragten Einschränkungen dieser Übungen fordern, macht doch deutlich, daß die Bevölkerung durchaus bereit ist, in erträglichen Grenzen Belastungen hinzunehmen, die zum Schutz von Frieden und Freiheit und zur Sicherheit unseres Vaterlandes notwendig sind. Dies entspricht übrigens auch exakt der Lage jener Mitbürger in Uniform, die als Piloten in den Flugzeugen sitzen und ihren letztlich vom Parlament gegebenen Auftrag zur Friedenssicherung unter großen persönlichen Opfern wahrnehmen. Bei Diskussionen über Tiefflugbelastungen dürfen wir auch diese Piloten nicht vergessen. Das ist Gott sei Dank mehrmals erwähnt worden. Auch ihre Belastungen und ihre Gefährdungen gilt es zu verringern.
Eine verantwortliche Antwort auf die ständig bohrende Frage nach der Verringerung des Fluglärms und eine verantwortliche Antwort auf die schlimmen Abstürze von drei Flugzeugen vor wenigen Tagen darf eben nicht sein: Einstellung der Tiefflugübungen. Für uns, die politisch Handelnden, gilt vielmehr das Gebot, den Zielkonflikt, von dem gesprochen worden ist, zu lösen, das zur Friedenssicherung Notwendige zu tun und dabei die Belastung der Bevölkerung in engen Grenzen zu halten.Im Deutschen Bundestag haben wir mit der Einrichtung des Unterausschusses „Militärischer Fluglärm" des Verteidigungsausschusses ein kompetentes Instrument geschaffen, das sicher eigene Vorschläge zur weiteren Verringerung der Tiefflugbelastung entwickelt und die Bemühungen des Verteidigungsministers engagiert unterstützt. Nationale Anstrengungen sind notwendig. Doch sie allein reichen nicht aus. Wir müssen mit unseren Verbündeten in der NATO darüber reden, weil sie bei uns ebenso üben wie wir bei ihnen.
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4798 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Herr Abgeordneter!
Mein letzter Satz, Herr Präsident! Nicht das Schüren von Emotionen, sondern die harte Arbeit in diesem Gremium, dem Unterausschuß „Militärischer Fluglärm", dies ist es, worauf ich setze.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder, der Verantwortung für Tiefflüge trägt und spürt
— und das tut man nicht nur, wenn man Mitglied des Verteidigungsausschusses ist, sondern beispielsweise auch, wenn man Abgeordneter eines Wahlkreises in einem Tieffluggebiet ist — , wird insbesondere durch Unfälle, wie sie jetzt Ende März wieder stattgefunden haben, wieder an seine Verantwortlichkeit gemahnt.
Die Frage ist, welche Konsequenzen wir daraus zu ziehen haben. Wenn ich diese Debatte einmal kennzeichnen darf, meine Damen und Herren, so sind es im wesentlichen zwei Positionen, die hier vertreten worden sind: Es ist einmal die radikale Position, die vom Kollegen Dr. Lippelt vertreten worden ist, der sagt: Weg mit dem Tiefflug! Anders sind die Risiken, die damit verbunden sind, nicht zu verantworten. Das ist eine konsequente Position, die ich aber nicht teilen kann, und ich werde das begründen.
Es gibt eine zweite Position, die hier vertreten wird, nämlich die, zu sagen: Wir kommen an den Tiefflügen unter militärischen Gesichtspunkten, unter Gesichtspunkten der Erhaltung von Frieden und Freiheit nicht vorbei. Aber wir wollen uns, wie wir das in der Vergangenheit getan haben, weiter bemühen, Gefährdungen hier auszuschließen, weiter auszuschließen — nach den Fortschritten von Technik und anderen Möglichkeiten.
Und dann gibt es, meine Damen und Herren — das scheint mir das Interessante an dieser Debatte zu sein, und darauf muß der Bürger hingewiesen werden —, eine unterstellte dritte Position — ich sage noch einmal: eine unterstellte dritte Position — , nämlich die Position, es solle alles beim alten bleiben. Diese Position dient denjenigen, die letztlich gar nichts anderes sagen können, als daß der Tiefflug bleiben muß, daß sie ihn aber entschärfen wollen, und die sich dem Bürger gegenüber dazu selbst legitimieren.
Hier möchte ich insbesondere zwei Kollegen in der Debatte etwas angreifen, bei denen ich diese Position sehe. Das ist einmal der Kollege Heistermann. Herr Kollege Heistermann, Sie sitzen mit mir, mit anderen Kollegen zusammen im Unterausschuß „Militärischer Fluglärm". Wir — das können wir wirklich sagen — versuchen doch gemeinsam, bessere Regelungen zu treffen, Gefährdungen auszuschließen, Lärm zu bekämpfen usw. Wir unterbreiten Vorschläge, wir hören uns Gutachten an, versuchen, daraus Vorschläge zu
gewinnen. Ich wüßte keinen Vorschlag, dem in der Vergangenheit nicht nachgegangen worden ist. Das einzige, das Sie heute hier zu bieten haben, ist die Tiefflugpause. Damit wollen Sie gegenüber den betroffenen Bürgern glaubwürdiger sein. Ich bin davon überzeugt, daß Ihnen das niemand abnimmt. Denn: Was würden wir denn mit der Pause erreichen, oder wann würde sie sich anbieten? Sie würde sich dann anbieten, wenn wir vermuten müßten, daß Fehler in Systemen von Flugzeugen, die abgestürzt sind, vorhanden sind. Es waren zwei verschiedene Systeme: Es war zum einen eine Mirage, es war zum anderen eine F 16. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein technischer Fehler, den man in einer Pause beheben könnte, ausgeschlossen werden könnte, ist gar nicht gegeben. Insofern ist die Pause in meinen Augen nichts anderes als Augenwischerei.
Meine Damen und Herren, zum Kollegen Müller — ich meine den Kollegen Müller ; ich sehe ihn jetzt gerade nicht — noch ein Wort. Der Kern der Aussage des Kollegen Müller war: Wenn sich Unmut regt, wenn sich Betroffenheit regt, wenn sich Ärgernis regt, dann muß Politik dem nachgeben, selbst dann, wenn wissenschaftliche oder auch militärwissenschaftliche Erkenntnisse dagegen sprechen. Dazu muß ich sagen: Es ist ja eine Leistung unserer Zivilisation und unserer Kultur, daß das rational Erfaßbare über das Irrationale gesetzt wird. Sie schlagen hier das Gegenteil vor. Dem kann ich nicht folgen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Müller das Wort. Bitte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Teil meiner persönlichen Erklärung betrifft die Rede des Kollegen Uelhoff. Da ich nicht Mitglied des Verteidigungsausschusses bin, kann ich angesichts der Tatsache, daß der Verteidigungsausschuß ein geschlossener Ausschuß ist, auch nicht Mitglied des Unterausschusses sein. Insofern unterstellen Sie mir und meinen Kollegen schon formal etwas Falsches.
Der zweite Teil betrifft die Angriffe des Bundesministers der Verteidigung. Ich weise diese persönlichen Angriffe zurück. Lange bevor der Herr Minister im Bundestagshandbuch meine Biographie nachgelesen hat, habe ich in mehreren öffentlichen Veranstaltungen meine eigene persönliche Erfahrung mit militärischem Tiefflug erklärt. Als ich im Bundeskanzleramt arbeitete, lebte ich in einer Großstadt ohne Tiefflugbelastung.
— Moment, das ist ganz wichtig! Seit ich in der Südpfalz lebe, weiß ich, was Fluglärm den betroffenen Menschen antut. Ich habe bei meiner zweijährigen Tochter selbst erfahren, was dies bedeutet. Der einzige wesentliche Unterschied zum Herrn Bundesmini-
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Müller
ster der Verteidigung ist, daß ich lernfähig bin und daß ich die Sorgen der Menschen, die das täglich zu ertragen haben, ernst nehme.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist zu Ende.
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Dritten Protokoll vom 12. Mai 1987 zur Änderung des Vertrages vom 27. Oktober 1956 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik und dem Großherzogtum Luxemburg über die Schiffbarmachung der Mosel— Drucksache 11/1177 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 11/1644 —Berichterstatter: Abgeordneter Pauli
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen gleich zur Abstimmung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist angenommen.Ich rufe die Punkte 5 bis 7 der Tagesordnung auf:5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 159 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1983 über die berufliche Rehabilitation und die Beschäftigung der Behinderten— Drucksache 11/1953 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung6. Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungÜbereinkommen 157 über die Einrichtung eines internationalen Systems zur Wahrung der Rechte in der Sozialen Sicherheit sowie die von der Bundesregierung hierzu beschlossene StellungnahmeEmpfehlung 167 betreffend die Einrichtung eines internationalen Systems zur Wahrung der Rechte in der Sozialen Sicherheit sowie die von der Bundesregierung hierzu beschlossene Stellungnahme— Drucksache 11/1621 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit7. Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungÜbereinkommen 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber sowie die von der Bundesregierung hierzu beschlossene StellungnahmeEmpfehlung 166 betreffend die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber sowie die von der Bundesregierung hierzu beschlossene Stellungnahme— Drucksache 11/1622 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Ausschuß für Arbeit und SozialordnungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu Bemerkungen? — Das ist nicht der Fall. Damit sind die Überweisungen beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 64/432/EWG hinsichtlich der enzootischen Leukose der Rinder— Drucksachen 11/1707 Nr. 13, 11/1941 —Berichterstatter: Abgeordneter EigenWird der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/1941 zugestimmt? — Keine Gegenstimmen. Dann ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Wilms-Kegel und der Fraktion DIE GRÜNENBundesweite, rechtliche Koordinierung gegen bayerischen Alleingang bei der AIDS-Bekämpfung— Drucksache 11/1364 —b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Jaunich, Frau Fuchs , Frau BeckerInglau, Frau Conrad, Gilges, Frau Dr. Götte, Großmann, Dr. Hauff, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (Salzgitter), Frau Seuster, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDDurchführung der Beschlüsse des Deutschen Bundestages zur AIDS-Bekämpfung vom 13. November 1986— Drucksachen 11/274, 11/1548 —Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/2103 und 11/2104 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2111 vor.Im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte mit zwei Beiträgen bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden, d. h. daß zwei Debattenrunden stattfinden. Das Haus ist damit einverstanden? — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
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Vizepräsident Frau RengerIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Wilms-Kegel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Skeptisch, aber doch noch mit Hoffnung, bringen wir heute unseren Antrag ein, der zum Ziel hat, eine koordinierte AIDS-Politik in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. Skeptisch bin ich darum, weil die Maßnahmen der bayerischen Landesregierung zur Bekämpfung einer „grassierenden Seuche" — um mit bayerischen Worten zu sprechen — bereits so stark gegriffen haben, und zwar über Bayern hinaus, daß es sicherlich einer großen Anstrengung der Bundesregierung bedarf, diesen Wildwuchs an Unmenschlichkeit, Rechtsstaatverletzung und Inhumanität rückgängig zu machen.Die Bundesrepublik ist voll von Gauweilereien. Da werden Schulleiter aufgefordert, alle Fälle von HIV-infizierten Kindern zu melden. Da werden ausländische Stipendiaten in der Bundesrepublik genauso getestet wie Attacheanwärter und -anwärterinnen im Auswärtigen Amt und Jugendliche vor Freizeiten. Psychisch Kranke vor Aufnahme in Heimen werden genauso getestet wie Beamtenanwärter und -anwärterinnen bei der EG. Studenten und Studentinnen im Klinikum Aachen werden genauso systematisch durchgetestet wie Patienten und Patientinnen im Klinikum Karlsruhe, Häftlinge in Nordrhein-Westfalen werden genauso getestet wie Adoptiv- und Pflegeeltern in Nordrhein-Westfalen. HIV-Positive werden in Fahndungscomputern gespeichert, in Niedersachsen in Langzeitstationen psychiatrischer Kliniken abgeschoben. HIV-positive Häftlinge werden in Gefängnissen isoliert, und Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern wird mit Isolierung gedroht, falls sie einem HIV-Test nicht zustimmen.In Bayern werden sogar Särge von Menschen, die an der AIDS-Krankheit gestorben sind, deutlich lesbar mit „Vorsicht AIDS" gekennzeichnet. In Frankfurt werden uneinsichtige Prostituierte zwangsinterniert, und in Bayern wird ein HIV-positiver Mann nur deswegen vor Gericht gestellt, weil seine Partnerin in vollem Bewußtsein des Risikos mit ihm ungeschützt Geschlechtsverkehr gehabt hat. In Aachen gipfelte die Diskriminierung dann darin, daß sich Menschen mit positivem Testergebnis für jedermann sichtbar namentlich genannt in einem Aushang wiederfanden, und in Bielefeld fand sich kein Zahnarzt und kein Zahnärztin bereit, HIV-positive Menschen zu behandeln.Meine Redezeit reicht nicht dazu aus, alle bekanntgewordenen Wildwüchse der letzten Monate hier aufzuführen. Die Aufzählung zeigt aber deutlich, wie unkoordiniert und fragwürdig in der gesamten Bundesrepublik mit der AIDS-Problematik umgegangen wird. Wir halten diese Vorgänge für Auswüchse einer paranoiden AIDS-Politik. Die Liste der Diskriminierungen in unserem Lande ließe sich beliebig fortsetzen.Hier stellt sich nun die Frage, wem die Schuld an dem Rechtsbruch, der Diskriminierung angelastet werden soll — den Klinikleitern, den Verwaltungsdirektoren, dem einzelnen Arzt, dem einzelnen Beamten? Die Frage ist recht einfach zu beantworten, denn in Ministerien und anderen Amtsstuben, z. B. in vielenGesundheitsämtern, ist offenbar weniger Aufklärung und Information über AIDS vorhanden als in der Bevölkerung. Das Thema AIDS führt offenbar dazu, daß jeder und jéde in der Bundesrepublik, der bzw. die irgendwie Anordnungen geben kann, die eigenen Ängste und Vorurteile hemmungslos auslebt. Die Aufklärung der Bevölkerung darf die Amtsstuben nicht aussparen, sondern muß gerade hier besonders gründlich erfolgen.
Das Paradebeispiel für derartige unkontrollierte Alleingänge finden wir in der berüchtigten bayerischen AIDS-Politik, die ja von dem Innenstaatssekretär Gauweiler geleitet wird. Er hält sich offenbar für den Ersatz-Bundesgesundheitsminister, die Deutschen für dekadent und AIDS für ihre gerechte Strafe. Da Gauweiler und sein AIDS-politischer Zauberlehrling Michael K. aus S. da, wo sie früher Sündenpfuhle witterten, jetzt Virusreservate identifizieren, ist es nur folgerichtig, daß die bayerische AIDS-Politik von den Betroffenen als Endlösung erlebt wird.
Ebenso folgerichtig sind natürlich auch die heftigen Angriffe aus Bayern auf die scheinbar liberalere Haltung der Bundesgesundheitsministerin. Daß diese Meinungsverschiedenheiten im vergangenen Sommer und Herbst dann auch zu einer ernsten Koalitionskrise geführt haben — als wir uns noch nicht so an Koalitionskrisen gewöhnt hatten — , ist uns allen noch gut im Gedächtnis.Meine Damen und Herren, wer hat denn nun die Kompetenzen für die Koordination der AIDS-Politik? Ist es in diesem unserem Lande hinnehmbar, daß die Länder eigene Wege gehen, alle oder einzelne, offen und aggressiv oder heimlich-verschämt? Bleibt dem Bundesgesundheitsministerium denn nur noch die Aufgabe, Millionen Steuergelder zu verteilen?Seit fast einem Jahr haben wir nun den vieldiskutierten bayerischen Maßnahmenkatalog, den wir GRÜNEN von Anfang an kategorisch abgelehnt haben. Wir haben diese Ablehnung übrigens als erste Partei sogar zum Programm gemacht, schon auf unserer Bundesversammlung im vergangenen Mai.Offenbar ist die Bayerische Staatsregierung von der Legalität ihrer Maßnahmen selbst nicht überzeugt, denn sie hat ja versucht, diese Maßnahmen durch ihre Gesetzesinitiative im Bundesrat nachträglich legalisieren zu lassen. Oder hat sie mit dieser Aktion nur Propaganda für ihren Maßnahmenkatalog machen wollen?Die Gauweilerschen Ideen haben in der Zwischenzeit tatsächlich Einzug in die Köpfe vieler Verantwortlicher in Amtsstuben, Kliniken und Ministerien gehalten. Während diese Leute Angst haben vor dem AIDS-Virus in der Bevölkerung, habe ich Angst vor dem Gauweiler-Virus in den Köpfen der Verantwortlichen.
Was wir Menschen in der Bundesrepublik brauchen, ist aber nicht Zwangsmaßnahmenpropaganda;
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Frau Wilms-Kegelwas wir brauchen, sind nicht die schönen besänftigenden, aber doch folgenlosen Worte der Bundesgesundheitsministerin. Wir brauchen dringend eine bundeseinheitliche Koordinierung der Maßnahmen zur AIDS-Bekämpfung.Eine sinnvolle AIDS-Politik kann Alleingänge von Ländern, Landkreisen und Kommunen nicht verkraften. Gelegentlich betreiben ja selbst zwei Landesbehörden innerhalb eines Landes eine unterschiedliche AIDS-Politik.Der bayerische Alleingang hat sofort dazu geführt, daß Betroffene und Gefährdete in Bayern sich nicht mehr trauen, sich beraten oder testen zu lassen. Die Folge ist, daß Bayern durch seine AIDS-Politik zusätzlich die anderen Bundesländer belastet und einen makabren HIV-Tourismus gefördert hat.Das bayerische Staatsministerium überschreitet klar seine Kompetenzen, wenn es auf dem Erlaßweg versucht, in die grundgesetzlich geschützte Privatsphäre des einzelnen einzudringen. Die erzwungene Offenbarungspflicht läßt sich nicht mit der vom Bundesverfassungsgericht abgesicherten informationellen Selbstbestimmung vereinbaren.In der Begründung unseres Antrags weisen wir nach, daß die Frage „Infektionseindämmung durch Aufklärung oder durch Zwangsmaßnahmen?" politisch derart folgenschwer ist, daß Länder gemäß Grundgesetz nicht befugt sind, einen Alleingang durchzusetzen.Was gedenkt die Ministerin Süssmuth nun zu tun? Wir GRÜNEN geben ihr und ihren wirklichen Freunden heute eine Chance: Stimmen Sie unserem Antrag zu, einem Antrag, der zum Ziel hat, die Machenschaften und Auswüchse der bayerischen Landesregierung zurückzudrängen, um eine koordinierte, humane, menschenachtende AIDS-Politik von hier, von Bonn aus zu betreiben. Allerdings haben wir manchmal den Verdacht, daß die von der Ministerin proklamierte AIDS-Politik der Bundesregierung gelegentlich als Verhandlungsmasse beim Koalitionspoker zur Verfügung steht.Eine sinnvolle und erfolgversprechende AIDS-Politik in einem Land wie der Bundesrepublik kann nur über zentral koordinierte Maßnahmen wirksam durchgeführt werden.Ich fordere Sie, Frau Süssmuth, auf, sich endlich in diesem Bereich Ihre Kompetenzen zurückzuholen. Sie, meine Damen und Herren, fordere ich auf, unserem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu zwei Punkten Stellung nehmen: einmal zu der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD, die Bezug nimmt auf die Beschlußfassung des Deutschen Bundestages vom 13. November 1986, zum anderen zu den beiden Entschließungsanträgen,die von der SPD-Fraktion für die heutige Debatte eingereicht worden sind.Aber lassen Sie mich mit einem Dank an Frau Minister Süssmuth beginnen, die an dieser Debatte aus Krankheitsgründen leider nicht teilnehmen kann. Ich glaube, daß es nicht einfach ist, in einem Politikfeld deutliche Akzente zu setzen, das mit der Krankheit AIDS etwas zu tun hat. Es ist das erste Mal, daß sich die Politiker mit einem Problem beschäftigen müssen, das aus der Definition heraus in den Bereich der Medizin gehört.Es ist ein Problem, das uns alle — die Wissenschaft, die Ärzte, die Soziologen und eben auch uns Politiker — so intensiv beschäftigt, weil die gesellschaftlichen Bedingungen, die durch diese Krankheit verursacht sind oder auf die sie stößt, von uns zu regeln sind, weil wir begleitend tätig sein müssen, wo immer wir das können.Das ist ein schwieriges Feld, in dem sich ein Bundesminister bewegen muß. Ich glaube, daß wir Frau Süssmuth sehr herzlich für die Art, wie sie mit diesem Problem umgeht, danken sollten.
Man muß hier Politik machen und eine Strategie entwickeln, die sich von populistischen Vorstellungen löst. Ein vereinfachender Umgang mit dieser Krankheit ist nicht denkbar, weil er der Verantwortung eines Politikers nicht gerecht wird. Man muß glaubwürdig sein, und man muß ständig versuchen, für seine nicht besonders populären Vorstellungen Partner zu finden, durch Aufklärung, durch eine intellektuelle Leistung den anderen davon zu überzeugen, daß hier dann der richtige Weg gegangen wird, wenn man die Eigenverantwortung des einzelnen in den Vordergrund stellt, daß dann der richtige Weg gegangen wird, wenn man die Aufklärung als das einzige und machbare Ziel im Umgang mit dieser Krankheit und zur Verhinderung weiterer Infektionen zur Maxime erhebt. Ein herzliches Dankeschön an Frau Minister Süssmuth zum Abschluß dieser kleinen Einleitung!Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß die Antwort, die das Bundesministerium auf die Anfrage der SPD gegeben hat, deutlich macht, daß hier die Politik der Bundesregierung, die Politik, die sich auch in den Koalitionsvereinbarungen findet, die sich in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers findet, eine Politik, die sich auch in der Beschlußlage vom 13. November 1986 wiederfindet, umgesetzt worden ist, wo immer das geht. Wir alle wissen, daß die Umsetzung so einer Politik auf Widerstände stößt, weil sie ein Neuland betritt, und wir sollten deswegen nicht hadern, wenn das eine oder andere nicht so schnell läuft, wie wir es uns gedacht haben.Aber wir müssen auch bedenken, daß die Situation im Jahre 1988 eine andere ist als im Jahre 1986 — ich komme gleich noch einmal darauf zurück — , daß wir, wenn wir Politik auf der Basis eines gemeinsamen Beschlusses dieses Bundestages gestalten wollen, vor allem dann lernfähig bleiben müssen, wenn es sich um einen Politikbereich handelt, wo uns die Wissenschaft ständig neue Daten liefern muß, auch wenn das für uns manchmal zu langsam geht. Trotzdem sollten
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4802 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Dr. Voigt
wir anerkennen, daß sehr viele neue Informationen auf uns zugekommen sind und aus der Wissenschaft heraus geleistet worden sind. Diese Wissenschaft wird immer wieder zu neuen Erkenntnissen, zu Veränderungen führen, die die Strategie beeinflussen werden, und auch diesen Punkt müssen wir einbeziehen, wenn wir den gesamten Bereich dieser Politik der vergangenen Jahre werten.Ich komme dann zu den beiden Entschließungsanträgen der SPD-Fraktion zurück. Ich mache keinen Hehl daraus — da richte ich mich vor allen Dingen an die beiden Kolleginnen, die in der Enquete-Kommission mit mir zusammenarbeiten — , daß ich es sehr bedauere, daß wir diese Debatte zum gegenwärtigen Zeitpunkt führen müssen. Wir alle sind uns darüber im klaren — ich habe eben schon versucht, das aufzuzeigen — , daß wir hier in einem starken Entwicklungsprozeß sind. Wir sind uns darüber im klaren, daß AIDS kein Problem ist, das man sehr einfach lösen kann. Genauso wie es keine einheitliche Therapie gibt, gibt es auch keinen einheitlichen Weg für den Umgang mit dieser Krankheit.Weil das so komplex ist, weil wir alle Anstrengungen brauchen, hat der Bundestag vor einem Jahr den Entschluß gefaßt, eine Enquete-Kommission einzurichten, die Empfehlungen unter dem Gesichtspunkt erarbeiten soll: Wie können wir dieser Gefahr Herr werden, wie können wir mit dieser Krankheit umgehen, wie können wir die gesellschaftlichen Veränderungen, die diese Krankheit ausgelöst hat, richtig einfangen und steuern, wie können wir etwas dagegen tun?Diese Enquete-Kommission wird in Abstimmung mit den Vertretern aller Fraktionen des Deutschen Bundestages in vier bis sechs Wochen den Zwischenbericht vorlegen. Er sollte ursprünglich im Herbst letzten Jahres vorgelegt werden, aber aus bekannten Gründen — wir konnten die Arbeit erst später aufnehmen — gab es diese Verzögerung. Das war mit allen Fraktionen einvernehmlich so geregelt. Diese Enquete-Kommission wird diesen Bericht in vier bis sechs Wochen vorlegen. Alle Fragen, die hier in diesen Entschließungsanträgen formuliert sind, finden dort eine Antwort. Sie sollten sich doch einmal überlegen, ob es der richtige Umgang mit dem Selbstverständnis unseres Parlaments ist, wenn wir sechs Wochen vorher zu Teilaspekten Beschlüsse fassen und nicht warten können, bis wir diesen Zwischenbericht spätestens Mitte Juni, wie Sie alle wissen, hier im Bundestag vorliegen haben und dann wissenschaftlich fundiert, so wie es der Auftrag an die Enquete-Kommission war, die einzelnen Entscheidungen hier vorlegen können.
In der Sache wird kein wesentlicher Unterschied gegenüber den Entschließungsanträgen der SPD herauskommen. Ich glaube, wir würden einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit dieses Parlaments leisten, wenn wir diese Geduld aufbringen könnten. Daher meine Bitte: Überlegen Sie noch einmal, ob wir heute darüber abstimmen sollten, ob es nicht andere Wege, der Überweisung oder wie auch immer, gibt, um diese Beschlußfassung heute nicht herbeizuführen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch einiges zu den grundsätzlichen Fragen sagen, die mit der AIDS-Problematik zusammenhängen. Ich habe es vorhin angedeutet, die Situation ist heute eine andere als noch im Jahre 1986. Wir haben einiges ganz nüchtern festzustellen. Die erste, für uns sicherlich bedeutendste Feststellung muß sein, daß wir im Gegensatz zu dem Optimismus vom Jahr 1986— ich habe damals auch zu denen gehört, die das geglaubt haben — heute mit ziemlicher Sicherheit sagen können, daß wir in den nächsten fünf Jahren keinen Impfstoff bekommen werden. Das heißt, wir werden viel länger mit dieser Krankheit leben müssen, als wir es ursprünglich erwartet hatten.Auf der anderen Seite können wir mit Befriedigung feststellen, daß es Ansätze für eine vernünftige Therapie gibt, mit der für den HIV-Infizierten der Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit hinausgeschoben wird. Das wird die Testproblematik auf eine ganz andere Basis stellen. Wenn das einmal der Fall sein sollte— und die Wissenschaft rechnet damit, daß das demnächst passieren wird — , dann wird der Test als eine Möglichkeit der medizinischen Diagnose sicherlich wieder dorthin zurückfallen, wohin er gehört, nämlich in die Hand des Arztes.
— Selbstverständlich. Frau Conrad, Sie wissen genausogut wie ich, daß etwa 30 Substanzen getestet werden und daß die Wissenschaft hier wesentlich optimistischer ist als in der Frage, ob es jemals einen Impfstoff geben wird. Aber auch das müßte uns doch animieren, bei der Argumentation zur Frage des Tests vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Das ist die zweite Änderung, die sich ergeben hat.Darüber hinaus müssen wir, so erfolgreich die Aufklärungsaktion insofern ist, als über 90 % der Menschen in unserer Bundesrepublik wissen, was AIDS ist und wo die Gefahren liegen, feststellen, daß wir damit rechnen müssen, daß auch ein Gewöhnungsprozeß einsetzt — jedenfalls dann, wenn wir uns nur auf die öffentlichen Medien und darauf beschränken, das Ohr zu öffnen. Wir müssen — und ich glaube, daß das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit das inzwischen völlig verstanden und zum Teil auch schon umgesetzt hat — eine dezentrale AIDS-Politik, eine dezentrale Aufklärung machen. Wir müssen eine Politik entwickeln, die den subjektiven Fragen und individuellen Anforderungen jedes einzelnen gerecht wird. Im Endeffekt brauchen wir vor Ort Menschen, die dem katholischen jungen Bürger eine andere Antwort geben als dem protestantischen, die dem Jugendlichen auf die Frage, wie er in seiner Neugierde auf dem Gebiet der Sexualität seinen Partner aussuchen soll, in einer Großstadt eine andere Antwort geben als in einer kleinen, nicht so stark besiedelten Gemeinde. Diese differenzierten Fragen und Antworten, die wir suchen müssen, sind schwer zu definieren. Das fordert von uns allen Zurückhaltung, Sensibilität und Verantwortung im Umgang mit der Aufklärungsarbeit, die sehr subtil in die einzelnen Felder hineingehen sollte.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Ich bin der Meinung, daß es noch einen anderen Grund gibt, heute nicht
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Dr. Voigt
über einen Entschließungsantrag abzustimmen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß der Deutsche Bundestag, nachdem er vor zwei Jahren einen sehr wichtigen Entschluß gefaßt hat, nach zwei Jahren noch einmal einen Bleichlautenden Entschluß fassen sollte. Ich glaube, der Bürger nimmt uns das nicht ab. Ich möchte vor allem darauf hinweisen, daß der Deutsche Bundestag im Jahre 1988 in Anbetracht der weltweiten Entwicklung dieser Krankheit keinen Beschluß fassen darf, der nicht berücksichtigt, welche Auswirkungen diese Krankheit in Afrika und Brasilien hat. Ich habe die herzliche Bitte: Überdenken Sie die Frage, ob wir diesen Antrag nicht zurückstellen und vielleicht einen anderen Weg finden sollten, nachdem die Enquete-Kommission ihren Bericht eingebracht hat, darüber zu diskutieren.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Conrad.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Wie eine Gesellschaft mit der Krankheit und den von ihr Betroffenen umgeht, ist ein Prüfstein für ihre Menschlichkeit.Dieser Satz stammt nicht von mir, ich unterstreiche ihn aber voll. Er ist aus der Rede des CDU-Abgeordneten Dolata, Ihres ehemaligen Kollegen, aus der letzten Legislaturperiode, mit der er den von allen Fraktionen getragenen gemeinsamen Antrag „Maßnahmen gegen AIDS" im November 1986 für seine Fraktion begründet hat. Damals war der Bundestag fähig gewesen, trotz Wahlkampf, eine gemeinsame Strategie zur AIDS-Bekämpfung zu formulieren und bei der Bundesregierung anzumahnen. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage, was aus den Anträgen an sie geworden ist, ist heute unter anderem der Gegenstand unserer Debatte. Da, wo es um die bayerischen Vorstellungen geht, merkt man es der Antwort der Bundesregierung sehr wohl an, unter welchem Koalitionsdruck sie geschrieben worden ist. Denn so weit ist es mit der Gemeinsamkeit nicht mehr her, wie alle wissen. „Versäumnisse in der AIDS-Politik", „abenteuerlicher Standpunkt" , „Untätigkeit" , „teure Pseudo-Aktivität", „Karikatur einer realistischen und effektiven Seuchenpolitik", das sind keine Kraftausdrücke einer Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition, so geht die bayerische Schwesterpartei mit Frau Süssmuth um. Wie wir das schon so oft getan haben, widersprechen wir auch heute solchen Vorwürfen gegen Sie.Mit einigen Einschränkungen nimmt meine Fraktion Ihre Antwort auf unsere Anfrage weitgehend zustimmend zur Kenntnis, wie wir auch in den verschiedenen Ausschüssen die Maßnahmen zur Vorbeugung und Aufklärung, Betreuung und Forschung unterstützt und im Haushaltsausschuß auch die entsprechenden Mittel mit bewilligt haben.Wir wissen, daß die Bedrohung durch AIDS natürlicherweise Ängste und, da es sich um eine sexuell übertragbare Krankheit handelt, auch Schuldgefühle und Schuldzuweisungen hervorruft. Verantwortliche AIDS-Politik hat dieses ernst zu nehmen und irrationalen Ängsten durch Aufklärung und eine sachliche Information über Übertragungswege und Schutzmöglichkeiten entgegenzuwirken. Dies genau hat der Bundestag 1986 in seinem von allen Fraktionen verabschiedeten Antrag beschlossen. So verhalten sich fast alle Bundesländer, zum Teil auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.Ich nenne ein Beispiel: Die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels hat bei ihren Mitgliedern für die Verbreitung einer Aufklärungsbroschüre geworben und dies damit begründet — Zitat —, „der verständlichen Angst den Kampf durch saubere Informationen anzusagen".Welch ein Widerspruch zu den Politikern, die mit Horrorszenarien über die Ausbreitung der Krankheit, mit Angst operieren, um ihre krachledernen Rezepte durchzusetzen!Wir haben heute eine Situation — daran ist die Bundesregierung mit ihren Kampagnen nicht ganz schuldlos — , wo sich scheinbar die ganze AIDS-Politik nur noch ums Testen dreht. Sogar Mediziner verlangen den Test als Präventionsmaßnahme, und Prävention heißt schließlich Vorbeugung. Ein HIV-Test sagt aber nur aus, ob sich jemand vor einigen Wochen angesteckt hat oder nicht. Vorbeugen heißt, ungeschützten Geschlechtsverkehr und gemeinsamen Spritzengebrauch zu meiden. „Sich schützen statt testen" müßte die Aufklärungskampagne heute eigentlich lauten. Kein Wunder, daß — um es mal etwas salopp auszudrücken — in der Bundesrepublik nach wie vor die „Testmoral" besser ist als die „Kondommoral" . Aber erst umgekehrt wird Prävention daraus.Dabei weiß ich sehr wohl, daß die „Kondommoral" — um bei dem Ausdruck zu bleiben — in der Hauptbetroffenengruppe, bei den Homosexuellen, dank Aufklärung heute gut ist, aber nicht bei den promisk lebenden Heterosexuellen. Wir werden kläglich versagen, wenn über Testkampagnen der Eindruck erweckt wird, man müßte wissen, wer infiziert ist, um sich dann schützen zu können. Dieses Wissen ist nicht herstellbar, und es ist auch nicht nötig.Es gibt auch keine Risikogruppe und Risikopersonen. Diese Bezeichnungen vermitteln, es gehe von ihnen eine Gefahr aus. Es gibt Risikosituationen und gefährliche Verhaltensweisen, die es zu meiden gilt. Darauf müssen wir uns endlich einigen. Ich sage heute noch einmal — auch wenn es Herr Halter vom „Spiegel" gerne herbeischreiben möchte — : Das AIDS-Virus kann nicht fliegen.Wir können nicht die Verantwortung des Schutzes auf die Infizierten abwälzen. Beide, Gesunde wie Infizierte, haben die Verantwortung. Die SPD steht nach wie vor zu dem, was 1986 gemeinsam formuliert wurde: Jeder muß lernen, daß die Vermeidung risikoträchtiger Verhaltensweisen Schutz gegen Infektionen darstellt.An dieser Stelle vielleicht noch einen Satz zu Frau Wilms-Kegel: Frau Wilms-Kegel, Sie sollten doch heute in Ihrer Rede der Ehrlichkeit halber sagen, daß auch nach unserer Intervention diese Routinetests am Klinikum Aachen eingestellt worden sind und auch
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Frau Conradvon Zwangstests in den Justizvollzugsanstalten Nordrhein-Westfalens heute nicht mehr die Rede ist.Wir sind nicht grundsätzlich gegen den Test — um zum Thema zurückzukommen. Er ist sinnvoll, wenn er nach medizinischen Erwägungen mit Einverständnis des oder der Betroffenen freiwillig und anonym durchgeführt und in eine allgemeine Beratung eingebunden ist. Dies ist in der Regel so bei den Gesundheitsämtern oder beim Arzt oder bei der Ärztin des Vertrauens. Der HIV-Antikörpertest gehört nicht in Arbeitgeberhand, weder bei der AEG noch beim öffentlichen Dienst.Oft hat man den Eindruck, daß die, die so schnell die scheinbar populären Lösungen zur Hand haben, nicht weiterdenken. Ist es denn wirklich so erstaunlich, daß die, die Reihentests verlangen, jetzt über die Deutsche Gesellschaft für innere Medizin einen Vorstoß für eine namentliche Meldepflicht machen, oder ist es etwa ein anderer Professor Nepomuk Zöllner als der Münchener Gauweiler-Berater, der den Vorstand dieser Gesellschaft dazu benutzt, solche unsäglichen Konzepte zu propagieren? Sehen Sie, Herr Voigt, deswegen ist es doch notwendig, daß wir uns heute noch einmal über diese Frage unterhalten.Wer die namentliche Meldepflicht will, der weiß, daß er eine Vorbeugungspolitik kaputtmacht, weil Menschen Angst haben werden, sich AIDS-Beratern und Ärzten anzuvertrauen. Wer diese Meldepflicht will, der muß wissen, daß das notwendige Klima von Vertrauen zerstört wird.Das ist es, was uns Sorge macht. Deshalb pochen wir heute noch einmal auf den Beschluß von 1986 und stellen zwei Feststellungen erneut zur Abstimmung, und zwar zur namentlichen; wir bleiben dabei.Freiwilligkeit und Anonymität aller Maßnahmen sind die notwendige Voraussetzung für den vertrauensvollen Umgang mit Betroffenen und Gefährdeten. Im Interesse der Infizierten und im Interesse einer erfolgversprechenden Strategie ist die Gewißheit wichtig, daß diese Prinzipien auch weiterhin gelten.Herr Voigt, Sie haben darum gebeten, daß wir heute nicht abstimmen. Sie haben sich hinter dem Auftrag der Enquete-Kommission versteckt. Ich frage mich aber: In welch erbärmlichem Zustand ist eigentlich die Koalition, wenn sie heute nicht fähig ist, die aktuelle Politik ihrer Gesundheitsministerin, Frau Süssmuth, und auch die aller B-Länder — nicht nur der A-Länder — außer Bayern heute noch einmal in diesen zwei Punkten zu bestätigen! Um nichts anderes handelt es sich nämlich bei diesem Antrag. In welch erbärmlichem Zustand ist die Koalition!
— Ich glaube, daß Ihnen zum Heulen zumute ist. Mir wäre auch so, wenn ich in Ihrer Koalition wäre.Die SPD-Fraktion hat einen weiteren Antrag gestellt, der die Konsequenzen aus der bisherigen Politik zieht, ohne im wesentlichen die Empfehlungen der Enquete-Kommission vorwegzunehmen. Deswegen, glaube ich, können wir heute über diese Punkte abstimmen, weil der Antrag auch aktuelle Fragen anspricht, wie z. B. die Frage der Behandlung der ABM-Stellen durch die Bundesanstalt für Arbeit.Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit, um noch auf die einzelnen Punkte aus unserem Antrag, die wir gerne angesprochen hätten und die ich gerne dargestellt hätte, noch weiter einzugehen. Aber nicht zuletzt haben wir diesen Antrag gestellt, um Tendenzen und Ausgrenzungen und Diskriminierungen vorzubeugen, die wir alle kennen und die auch im bayerischen Maßnahmenkatalog, der kollektiv ganze Gruppen, HIV-infizierte Drogenabhängige und Prostituierte, unwiderlegbar zu gefährlichen, ansteckungsverdächtigen Individuen stempelt, zu finden sind. Nicht zuletzt deswegen stimmen wir auch dem Antrag der GRÜNEN gegen den bayerischen Alleingang bei der AIDS-Bekämpfung zu.Denjenigen, die in Sachen HIV meinen, die Macher markieren und die anderen der Untätigkeit bezichtigen zu können, möchte ich zum Schluß einen Satz von Jonathan Mann, dem AIDS-Experten der WHO, mitgeben:Die moralische Stärke eines Staates zeigt sich an den Maßnahmen, die ergriffen, mehr noch an denen, die unterlassen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Eimer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wohl kaum ein anderes Thema ist so stark mit Emotionen besetzt wie dieses, die Diskussion um AIDS. Kein Wunder; es werden jetzt Ängste in einer Zeit erweckt, da Krankheiten scheinbar fast besiegt sind und Krankheit und Tod als Naturereignis verdrängt sind. Eine vernünftige und sachliche Diskussion über AIDS und Maßnahmen dagegen, über die Möglichkeit, sich zu schützen, über die Möglichkeit des Staates und der Gesellschaft, kurz: eine vernünftige Behandlung dieses Themas wird zwischen zwei extremen Meinungen zerrieben und damit fast unmöglich gemacht.Da ist die eine Seite, die einen Kampf gegen die Unmoral führen will und für die AIDS ein guter Vorwand ist, und da ist auf der anderen Seite die Angst der Hauptbetroffenen vor neuerlicher Diskriminierung. So wird auch eine Reihe von vernünftigen Maßnahmen in eine ideologische Diskussion hineingezogen, und der Schutz von Minderheiten wird auf der anderen Seite nicht erleichtert, sondern erschwert.Heute zeigt sich eine weitere Gefahr, die dazu beitragen kann, daß im Umgang mit AIDS Vernunft auf der Strecke bleibt. Es sind diese Anträge von der Opposition und die Art, wie sie hier behandelt werden. Da bemüht sich der Bundestag in langen Verhandlungen, eine einheitliche Linie zu finden, um gemeinsam eine Enquete-Kommission einzusetzen. Jeder weiß, unter welchen Schwierigkeiten dies gelang. Da ist man sich auf der anderen Seite einig, daß man in der Kommission so weit wie möglich auf ein gemeinsames Ergebnis drängt. Da ringt man zur Zeit um Formulierungen für einen Zwischenbericht, der in Kürze vor-
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Eimer
gelegt werden wird. Da versucht die Koalition, diese Gemeinsamkeiten nicht zu gefährden, und man diskutiert um der Sache willen zunächst innerhalb der Kommission. Ich denke z. B. an die Einigung innerhalb der Enquete-Kommission, nicht über spektakuläre Presseerklärungen Politik zu machen. Und dann kommen heute diese Anträge, Anträge übrigens, deren Inhalt wir erst über Presseerklärungen erfahren haben bzw. die als Vorlagen hier im Vorraum des Hauses liegen. Die Opposition hat damit der Arbeit der Enquete-Kommission keinen guten Dienst erwiesen.
Hätte man denn nicht warten können, bis der Zwischenbericht kommt?
Was ist, vielleicht bis auf einen Punkt, denn so eilig, daß die Opposition aus dieser Gemeinsamkeit ausscheren mußte? Ich will die Frage beantworten: Es geht der Opposition nicht um die Sache, sondern um den pressemäßigen Effekt.
Ich sehe überall in der Republik eher ein Aufeinanderzugehen, ein Näherkommen der einzelnen Standpunkte und Maßnahmen, auch wenn ich NordrheinWestfalen und Bayern vergleiche,
auch in Dingen, die ich gar nicht für so gut halte. Die Anträge der Opposition dienen nur zur Schau.Auch wenn ich inhaltlich kaum oder keine Differenzen sehe, kann der Bundestag nicht eine EnqueteKommission einsetzen, einen Zwischenbericht verlangen und kurz davor Teile in Anträgen verabschieden. Dies ist ein schlechter parlamentarischer Stil. Warum sollen wir dann in der Kommission überhaupt noch weiterarbeiten?
Ich fürchte, daß der Versuch, der von uns allen unternommen wird, zu einer einheitlichen Linie zu kommen, durch diese Debatte, durch die Art und Weise, wie hier argumentiert wird, zerstört wird. Schon diese Gründe reichen aus, die Anträge der SPD abzulehnen, auch wenn ich inhaltlich — ich will das nochmals betonen — keine Schwierigkeiten habe.Aber ich will nicht nur formal diskutieren. Die Punkte 1 bis 3 des Antrags 11/2104 sind eine Bestätigung der Bundesregierung. Aus welchem Anlaß, aus welchen Gründen sollten wir laufend bestätigen, daß ihre Politik richtig ist? Wir wissen, daß Frau Süssmuth gut arbeitet. Punkt 4 des Antrages beinhaltet einige der Aufgaben, die wir in der Enquete-Kommission zu behandeln haben. Das geschieht zur Zeit. Das ist Gegenstand der Beratungen innerhalb der Kommission.Besonders erstaunt aber, meine Kollegen, war ich über den Punkt 4 e. Da rede ich mir in der Kommission den Mund fusselig, daß es im sozialen Netz eine Lücke gebe, über die wir im Zwischenbericht schreiben und, wenn möglich, zu deren Schließung wir auch Vorschläge machen sollten, und da ist auf der anderenSeite die SPD, vor allem Sie, Frau Conrad, die versucht, mir einzureden, daß diese Lücke, die ich im sozialen Netz sehe, nur Einbildung sei.
Und dann sehe ich hier in dem Antrag — wörtlich —:... die immer noch offenen Fragen der sozialversicherungsrechtlichen Leistungsgewährung an HIV-Infizierte oder AIDS-erkrankte Personen endlich zu klären und bestehende leistungsrechtliche Lücken— ich wiederhole das noch einmal: „leistungsrechtliche Lücken" —zu schließen . . .Warum leugnet die SPD in der Enquete-Kommission, so frage ich, diese Lücken, um in diesem Antrag dann die Schließung der angeblich nicht vorhandenen Lükken zu verlangen?
Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, dem Antrag kann ich nicht zustimmen. Wir sollten das nochmals in der Kommission behandeln.
— Natürlich, Sie waren doch der Wortführer. Ich habe doch immer gesagt: Wir haben hier Lücken im sozialen Netz. — Und Sie haben versucht, mir einzureden, daß sie nicht da sind.Meine Damen und Herren, das Thema AIDS ist viel zu ernst, als daß es sich eignete, sich hier parteipolitisch zu profilieren.
Ich komme damit zu dem einzigen Punkt, bei dem es sich wirklich lohnt, hier darüber zu sprechen, schnell zu einer Entscheidung zu kommen. Das ist die Frage der ABM-Mittel. Aber auch da schlage ich vor, daß wir uns zusammensetzen und, wenn nötig, gemeinsam an die Bundesregierung herantreten, weil das, wenn wir das gemeinsam machten, mehr Erfolg hätte. Ich glaube, das ist ein Punkt, den wir wirklich sehr ernst nehmen müssen. Ich habe übrigens den Eindruck, daß die SPD diesen Punkt — er ist als letzter aufgeführt — woanders abgeschrieben hat.
Auch der andere Antrag zu AIDS, der Antrag auf Drucksache 11/2103, überrascht mich. Ich finde die Argumentation gut. Nur, als ich diese Argumentation bei einer der letzten Beratungen in der vergangenen Legislaturperiode gebracht habe, bin ich von der SPD in Zwischenrufen angegriffen worden.
— Ich freue mich, wenn die SPD lernfähig ist.Ich meine, daß wir auch in diesem Punkt abwarten sollten, was der Zwischenbericht bringt.Durch die ganze Diskussion um AIDS zieht sich immer wieder die richtige Aussage, daß der Erfolg im
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Eimer
Kampf gegen AIDS nur in einem Klima gedeihen kann, das von Vertrauen und Verstehen, vor allem ohne Diskriminierung, geprägt ist. Das ist alles richtig. Hierin sind wir uns alle einig. Aber das Schüren von Angst vor Diskriminierung ist genauso schlecht wie das Schließen der Augen vor tatsächlich stattfindender Diskriminierung. Hier haben wir einiges an Arbeit vor uns. Vor allem, meine ich, müssen wir uns etwas mehr Selbstdisziplin angewöhnen, wenn wir hier weiterkommen wollen.Zu dem Bereich Vertrauen und Klima gehören zwei heiße Eisen, die bisher nicht angepackt worden sind. Ich will diese beiden heißen Eisen ansprechen und dabei gleich betonen, daß ich mich mit meiner Fraktion nicht abgestimmt habe. Also bitte, wenn es Prügel gibt: die Prügel bei mir abladen und nicht bei meiner Partei!So haben die Homosexuellen Angst vor einer neuen Diskriminierung. Wir haben ein Sexualstrafrecht, das sehr unübersichtlich aufgebaut ist. Sollten wir denn nicht darangehen, es neu und übersichtlich zu formulieren und dabei den Versuch zu unternehmen, ohne eine materielle Änderung des Rechts das Wort „homosexuell" nicht mehr zu verwenden? Ich glaube, das geht nämlich. Ich wiederhole: Ich glaube, es geht ohne materielle Änderung. Das wäre auch ein Stückchen Entgegenkommen und ein Stückchen vertrauensbildender Maßnahme, damit deutlich wird, daß dieses Parlament, daß diese Gesellschaft eine Diskriminierung nicht haben will.Das zweite heiße Eisen: Wir haben bei der Ausbreitung von AIDS Probleme durch Prostitution, vor allem durch die Beschaffungsprostitution. Auch an dieses Thema traut sich kaum jemand heran. Prostitution läuft weitgehend im rechtsfreien Raum ab. Da gibt es auf der einen Seite Bars, in denen es Prostitution gibt. Die Behörden wissen das und entziehen nicht die Konzession, obwohl das nach dem Gesetz eigentlich notwendig wäre.
Auf der anderen Seite gibt es Clubs, in denen Alkohol ausgeschenkt wird. Auch das ist nicht rechtmäßig. Aber damit kein Mißverständnis entsteht: Ich halte diese pragmatische Handhabung für zweckmäßig, aber die Gesetze sind dem nicht angepaßt. Die Gesetze werden doppelbödig gehandhabt, und das Milieu ist halbseiden. So können — um ein weiteres Beispiel zu nennen — nach dem heutigen Recht Freier Dirnen um ihren Lohn prellen, ohne daß sie strafrechtlich belangt werden. Dirnen dürfen aber umgekehrt den Freiern Leistungen nicht verweigern. Ich glaube, wenn wir den Mut hätten, in dieses unappetitliche Kapitel etwas mehr Ehrlichkeit zu bringen, und das ganze nicht nur moralisierend betrachteten, dann könnten wir zu einer deutlichen Trennung zwischen der berufsmäßigen Prostitution und der Beschaffungsprostitution von Drogenabhängigen kommen. Wir könnten dadurch etwas mehr Sicherheit bekommen, etwas mehr zur Bekämpfung von AIDS tun.Ich wünsche mir persönlich, daß wir zur Sachlichkeit zurückfinden, daß wir versuchen, im Kampf gegen AIDS eine gemeinsame Linie zu finden. Das gehtnur in einem Klima des Vertrauens den Betroffenen gegenüber, aber auch durch ein Vertrauen hier im Hause.Ich wäre dankbar, wenn wir über die Anträge, die heute vorliegen, die wir aus den Gründen, die ich angeführt habe, ablehnen müssen, nicht abzustimmen bräuchten. Ein Zurückziehen der Anträge von seiten der Opposition oder eine Überweisung, wie es der Kollege Voigt vorgeschlagen hat, wären auch ein Stückchen vertrauensbildender Maßnahme in diesem Haus.Vielen Dank.
Das Wort hat der Senator für Gesundheit und Soziales des Landes Berlin, Herr Fink.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat sich auf zwei herausragenden Konferenzen mit dem Thema AIDS beschäftigt. Wir haben — mit einer Ausnahme — klar auf Aufklärung und Beratung und weniger auf das klassische seuchenrechtliche Instrumentarium gesetzt. Das hat nichts mit Feigheit oder Mut zu tun, sondern damit, daß wir nach bestem Wissen und Gewissen diesen Weg als den zweckmäßigsten erkannt haben.Es ist kein Geheimnis, daß Berlin viel dazu beigetragen hat, daß die Gesundheitsminister der Länder diese Haltung eingenommen haben. Das ist auch erklärlich. Berlin ist wie jede Metropole von diesem Problem besonders betroffen. Wir haben aber auch schnell darauf reagiert. Seit Januar 1985 — zum Teil Monate vor den anderen Bundesländern — testen wir sämtliche Blutspenden. Wir haben große Aufklärungskampagnen, und zwar mit der gebotenen Deutlichkeit, durchgeführt. Wir haben AIDS-Kongresse veranstaltet und damit die internationalen Erfahrungen nutzbar gemacht.Die epidemiologischen Anstrengungen müssen sich, solange wir noch keine rettende Therapie haben, vor allem darauf richten, die Infektionsketten zu durchbrechen. Da AIDS nicht durch Anhusten und Anniesen übertragen wird, sondern durch Geschlechtsverkehr und Blut-Blut-Kontakt, können und müssen andere Wege gegangen werden als etwa beim Kampf gegen Infektionskrankheiten wie z. B. offene Tbc.Gegen die Infektionsgefahr durch Blutkonserven und Blutprodukte kann man qua Staat Verbindliches tun. Das haben wir in den Ländern auch getan.Anders ist es beim wichtigsten Übertragungsweg, dem Geschlechtsverkehr. Der Staat kann nicht die AIDS-Freiheit der Geschlechtspartner garantieren. Das muß jeder wissen.
Das ist keine Frage der Moral, sondern nur eine Frage der Vernunft. Die Menschen müssen ihr Verhalten selbst darauf einrichten.Wie ändern Menschen denn ihr Verhalten? Durch Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen oder
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Senator Finkdurch das Erkennen der Gefahr des Todes? Es ist absurd, zu glauben, daß die Menschen ihr Verhalten bei Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen eher ändern als aus Angst vor Infektion und Tod.
Die strafrechtliche Bedrohung hat z. B. in der Drogenszene überhaupt nichts geändert. Es gibt Tausende von Drogenabhängigen — sogar im Strafvollzug —, und dennoch werden Drogen genommen, und dennoch steigt die Zahl der Drogenabhängigen.Sicher wird auch auf dem AIDS-Gebiet gegen Uneinsichtige und damit eventuell Kriminelle vorzugehen sein. Aber die Mischung muß lauten: 95 % Aufklärung und Hilfe und 5 % Zwangsmaßnahmen und nicht umgekehrt. Alle anderen Wege würden eine verhängnisvolle, eine falsche Sicherheit suggerieren. Verbote und Gebote schaffen Rechtstitel, gaukeln staatliche Aktivitäten vor, sie ändern aber doch nicht das Sexualleben der Bürger.
Prüfen wir doch z. B. einmal das Gesetzespaket durch, das derzeit im Bundesrat beraten wird. Danach sollen z. B. Ausländer getestet werden, und zwar nur dann, wenn sie sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühen. Das ist in der Regel bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten der Fall. Alles andere wäre technisch auch überhaupt nicht möglich. Die Konsequenz aber ist, daß sich ein durchreisender junger Mann aus San Francisco nicht testen lassen muß, wohl aber der ehemalige amerikanische Präsidentschaftskandidat McGovern, wenn er seine Gastdozentur in München verlängern will.
Oder Prostitution. Es liegt auf der Hand, daß der Staat die in § 35 c Abs. 4 enthaltene Anordnung — ich lese sie einmal wörtlich vor —, „beim Geschlechtsverkehr Kondome zu verwenden" , natürlich unmöglich überprüfen kann. Was aber soll eine Anordnung, deren Wirkungslosigkeit von vornherein feststeht?Worauf müssen wir uns heute konzentrieren?Erstens. Wir müssen die Aufklärung in Tiefe und Breite verstärken. Es hilft nichts, nur ab und zu einmal ein Plakat zu zeigen. Deshalb führen wir in Berlin ein sogenanntes School-Worker-Programm durch. Von der 9. und 10. Jahrgangsstufe an unterrichten bisher arbeitslose Biologielehrer und Mediziner, die dann auch als Vertrauenspersonen angenommen werden. Ich halte es für sehr wichtig, daß solche Programme auch in anderen Bundesländern durchgeführt werden und daß die Bundesanstalt für Arbeit nach Möglichkeit im Rahmen ihrer ABM-Programme diese wichtige Arbeit auch weiterhin fördert.Zweitens. Bei der Prostitution gibt es bereits in verschiedenen Ländern Tätigkeitsverbote. Wichtig ist aber vor allem, der wachsenden Zahl ausstiegswilliger Prostituierter eine wirkliche Ausstiegsmöglichkeit zu eröffnen. Das tun wir in Berlin, und zwar mit einem beachtlichen Ausstiegserfolg. Ich rate auch anderen Bundesländern, solche Programme durchzuführen.Der dritte Schwerpunkt sind die Drogenabhängigen. Ich halte nicht viel von Methadon-Programmen, aber ich halte sehr viel davon, daß neue Anstrengungen in der Drogenprophylaxe unternommen werden, etwa nach dem Motto: Die Droge macht nicht nur süchtig, sie könnte auch dazu führen, daß man an AIDS erkrankt und stirbt. Wir brauchen eine neue Anstrengung im Kampf gegen den Drogenmißbrauch. Die Initiativen z. B. der Gattin des amerikanischen Präsidenten sind hier rühmlich hervorzuheben.Viertens. Immer wieder liest man davon, daß die eine oder andere medizinische oder sonstige Gesellschaft oder auch das eine oder andere Unternehmen eine andere Meinung vertritt als die Gesundheitsminister oder die Bundesregierung. Das ist bei einer pluralistischen Gesellschaft nicht weiter verwunderlich. Ihnen allen aber sei gesagt, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland eine große Gemeinsamkeit in der Auffassung haben, daß aus heutiger Sicht Reihentests und dergleichen mehr im Kampf gegen AIDS nicht viel helfen.Fünftens. Besonders danken möchte ich denjenigen, die AIDS-Kranke betreuen. Jeder, der sich selbst einmal in diese Situation versetzt, mag wissen und mag ermessen, was hier an eigenen Ängsten erst einmal zu überwinden ist. Mich erfüllt es mit Stolz, wenn ich z. B. in Berlin sehe, wie sich Ärzte, Schwestern und Pfleger dieser schweren Aufgabe selbstlos widmen, und ich füge hinzu: auch viele Ehrenamtliche.Lassen Sie mich zum Abschluß sagen, daß ich sehr wohl sehe, daß unser Kurs im Kampf gegen AIDS Erfolge aufzuweisen hat, daß er aber auch Gefährdungen ausgesetzt ist. Ich würde den Kurs ändern, wenn überzeugende Argumente zur Änderung des Kurses vorgebracht würden. Sie sind bisher aber nicht vorgetragen worden. Deshalb nehme ich die Gelegenheit in dieser Debatte wahr, noch einmal in aller Klarheit und mit allem Ernst darauf hinzuweisen, daß hinter unserer AIDS-Politik ein klarer politischer Wille steht, ein Wille, der sich auch in entsprechendem Handeln niederschlägt.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Wilms-Kegel.
Frau Präsidentin! . Meine Damen und Herren! Zuerst einige Bemerkungen zu den beiden von der SPD eingebrachten Entschließungsanträgen: Dem Antrag Drucksache 11/2103 werden wir GRÜNEN mit Bauchschmerzen zustimmen. Zustimmen werden wir, weil wir seine inhaltlichen Intentionen teilen. Die Bauchschmerzen haben wir deswegen, weil in diesem Antrag Worte und Begriffe gewählt sind, die wir strikt ablehnen.
— Das ist mir klar. Wir lehnen es ab, von einer HIV-Durchseuchung der Bevölkerung zu sprechen undvon Risikogruppen, die heute eigentlich Hauptbetrof-
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Frau Wilms-Kegelfenengruppen heißen. Frau Conrad, ich weiß, daß Sie das genauso sehen wie ich. Wir bestehen auch strikt darauf, daß auf eine Meldepflicht nicht nur derzeit, sondern überhaupt verzichtet wird und die obligatorische Anwendung der Tests grundsätzlich abgelehnt und nicht nur mit dem Grundsatz der Freiwilligkeit verbunden wird.Ich bin davon ausgegangen, Frau Conrad, daß die SPD im Grunde genommen meine Bedenken teilt und diese Wortwahl nur aus taktischen Überlegungen nicht verändert hat.Andererseits wäre es für den Deutschen Bundestag sicher interessant, zu erfahren, ob die SPD-Fraktion da für die gesamte SPD spricht oder ob die nordrheinwestfälische Landesregierung ausgenommen ist. Die Geographie sagt schließlich, daß Bielefeld, Aachen, Wesel und die JVA Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen liegen. Maßnahmen nach bayerischem Muster sind schließlich unter Heinemann, Brunn, Krumsiek und anderen passiert.
In dem Antrag auf Drucksache 11/2104 können wir allen Punkten außer dem dritten und dem Punkt 4 g zustimmen. Wir beantragen daher, über diese Punkte getrennt abzustimmen. Sie werden nach dem, was ich ausgeführt habe und noch ausführen werde, sicherlich verstehen, daß ich die AIDS-Politik der Ministerin Süssmuth nicht so begrüßen kann.Ich habe meine Rede eben geendet mit der Forderung, die Ministerin solle sich ihre Kompetenzen zurückholen. Sie muß diese Kompetenzen aber auch mit Leben erfüllen. In den letzten Monaten hat es die Ministerin zugelassen, daß der Rechtsstaat mit Füßen getreten worden ist,
daß mit der informationellen Selbstbestimmung, die vom Bundesverfassungsgericht ja ausdrücklich bestätigt worden ist, Schindluder getrieben wurde.
In den letzten Monaten ist es geradezu an der Tagesordnung, daß tagtäglich vorsätzliche Körperverletzungen durch Zwangstests ohne Einwilligungen und Information der Betroffenen bei Zehntausenden von Bürgerinnen und Bürgern die Regel waren. Über alledem schwebt der Geist eines Herrn Gauweiler, der den Rest unserer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft als ideales Biotop für die Ausbreitung des Virus sieht und deswegen offenbar angetreten ist, nicht nur das Virus, sondern eben diese freiheitlich-pluralistische Gesellschaft zu bekämpfen.
— Das zitiere ich aus der „Augsburger Allgemeinen".Herr Gauweiler ist es doch, der versucht, die gesamte Bundesrepublik Deutschland in den morastigen Tümpel seiner AIDS-Politik zu verwandeln.
Seine Ideen wurden umgesetzt in Amtsstuben, Kliniken und Ministerien.Wir müssen heute die traurige Feststellung treffen, daß es damals wie heute alles leere Worthülsen waren, die die Ministerin zu einem liberalen Aushängeschild gegenüber der bayerischen Landesregierung und ihrer Helfer gemacht haben.
— Okay, Staatsregierung. — War die Frau Ministerin, war die Bundesregierung wenigstens erschüttert, als die Karawane der bayerischen Gedanken durchs Land gezogen ist und dabei vieles plattgewalzt hat, was an Rechtsstaatlichkeit noch vorhanden war?Die betroffenen Menschen in unserem Land, bei denen ein HIV-positives Testergebnis festgestellt wurde, die AIDS-Kranken, und die Menschen, die sich noch in den nächsten Monaten und Jahren an HIV infizieren werden, fragen, welche Taten den Worten der Frau Ministerin folgen werden. Liberales Vokabular ist nicht auch schon liberale AIDS-Politik. Schon in der Bibel, die zumindest den C-Parteien bekannt sein sollte, heißt es: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen." Für diejenigen, die mit der Bibel nicht so viel anfangen können, möchte ich Erich Kästner zitieren, der sagte: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es."Es ist zu begrüßen, wenn die Ministerin keine internationale Großveranstaltung zum Thema AIDS im In- und Ausland ausläßt. Aber eine rege Reisetätigkeit und der sicherlich notwendige Gedankenaustausch können eine effektive AIDS-Politik im eigenen Lande nicht ersetzen. Ist es nicht geradezu ein Paradebeispiel, wenn die Ministerin in London erklärt, AIDS-Tests bei Beamtenanwärtern und -anwärterinnen dürfe es nicht geben, und zur gleichen Zeit unter deutscher Präsidentschaft in der EG alle diese Menschen nur nach einer Zwangstestung eingestellt werden? Wir GRÜNEN können uns zugute halten, daß wir innerhalb weniger Stunden auf diesen Mißstand hingewiesen haben. Wir hoffen mit der Frau Ministerin, daß in Brüssel wirklich keine Zwangsuntersuchungen mehr durchgeführt werden.Das Ministerium propagiert umfangreiche freiwillige Tests, wo selbst der bayerische CSU-Landtagsabgeordnete Merkl dafür plädiert, daß die in Bayern obligaten Massentestungen zurückgenommen werden sollten, da sie teilweise zu dramatischen Fehlprognosen führten.
Die Ergebnisse der bayerischen Massentestungen haben schließlich bestätigt, daß sie für sinnvolle epidemiologische Untersuchungen völlig ungeeignet und völlig überflüssig sind.Aber die Forderung des Bundesgesundheitsministeriums nach massenweisen freiwilligen Tests hat
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Frau Wilms-Kegeldann dazu geführt, daß eine Firma wie AEG oder, besser gesagt, Daimler-Benz zunächst freiwillige Tests für ihre Mitarbeiter angeboten hat, dann jedoch zwangsweise Tests für ganze Berufszweige in ihrem Betrieb eingeführt hat. Sie können sicher sein, meine Damen und Herren, daß dieses Beispiel Schule machen wird.Daß es auch anders geht, habe ich vor kurzem bei Gesprächen in den USA erfahren können, in denen mir der Vorsitzende der AIDS-Kommission von Präsident Reagan mitgeteilt hat, daß in der Reagan-Administration nichts von zwangsweisen Massentestungen gehalten wird. Ich war überrascht, zu erleben, daß unter einer so konservativen wie der Reagan-Regierung tabufreie und zielgerichtete Aufklärungskampagnen möglich sind, wie wir GRÜNE sie uns hier nur erträumen können.
In den USA wird auch im öffentlichen Sprachgebrauch und in den Medien sehr viel sorgsamer mit der Wortwahl zum Thema HIV-Infektion und AIDS umgegangen. Eine HIV-Infektion und AIDS sind nun einmal nicht dasselbe. AIDS-Kranke und HIV-Positive dürfen nicht in einen Topf geschmissen und gleichgestellt werden. HIV-Positive sind nicht automatisch AIDS-krank. Die in unserem Lande in diesem Bereich herrschende babylonische Sprachverwirrung lädt gerade zu Denunziation, Ausgrenzung und Diskriminierung ein. Bestimmte Medien nutzen diese Wortverwirrung sogar zielgerichtet, um ihre Auflagen zu steigern. Aber auch hier habe ich von der Bundesregierung noch keine Einflußnahme bemerkt, übrigens noch nicht einmal in ihren eigenen Aufklärungsspots.Die liberale AIDS-Politik der Bundesregierung ist inzwischen völlig unter den Tisch gefallen, wo sie Ihrem Anti-Raucher-Programm Gesellschaft leistet.Wenn die Bundesregierung und die Frau Ministerin nicht mehr in der Lage sein sollten, die AIDS-Politik in unserem Lande zu bestimmen, sondern dies einigen Scharfmachern überlassen müssen, dann erklären Sie doch endlich Ihre AIDS-Politik für gescheitert.Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Geis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wilms-Kegel, was Sie hier geboten haben und was Sie hier laufend in der Debatte bieten, ist Scharfmacherei. Ich meine, wir helfen den AIDS-Kranken und der ganzen Problematik sehr wenig, wenn wir mit Ausdrücken wie „Wildwuchs von Unmenschlichkeit", „Gauweilereien", „paranoide AIDS-Politik" oder „krachlederne bayerische Maßnahmen" beginnen.
— Herr Fink hat diese Ausdrücke nicht gebraucht. Ich habe sehr genau zugehört.
Das sind jedenfalls Ausdrücke, die scharfmachen, die versuchen, eine Frage auf eine Ebene der Diskussion zu bringen, die der Problematik dieser Frage, der Problematik von AIDS, und den AIDS-Kranken nicht gerecht wird.
Ich möchte darauf hingewiesen haben.Auch ich nehme zu den Entschließungsanträgen der SPD-Fraktion Stellung. Ich wiederhole, was Herr Dr. Voigt und Herr Eimer schon gesagt haben: Wir haben eine Kommission, die sich ausgiebig mit dieser Frage beschäftigt, die Sachverständige dazu gehört hat und die in Kürze einen Zwischenbericht bringen wird. Ich halte es für wenig zweckdienlich, daß Sie heute vom Deutschen Bundestag verlangen, eine Entscheidung zu bestimmten Fragen aus diesem Katalog, den sich die Kommission vorgenommen hat, jetzt zu treffen. Deswegen bitte ich Sie ebenso wie Herr Dr. Voigt und Herr Eimer, diese Entschließungsanträge zurückzunehmen.
Die GRÜNEN haben ihren Antrag, der zu dieser heutigen Debatte geführt hat, zunächst damit begründet, die bayerischen Maßnahmen seien verfassungswidrig. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat mit seiner Entscheidung vom 13. Juni 1987 dazu Stellung genommen und festgestellt, daß es sich bei den bayerischen Maßnahmen um Vollzugshinweise handelt, die nur im Innenverhältnis bindend sind und keine neuen Rechtssätze nach außen hin normieren, die bestehende Gesetze nur auslegen und deshalb nicht verfassungswidrig sind. Ich bitte Sie, Frau Wilms-Kegel, das zur Kenntnis zu nehmen und nicht mehr solche falschen Argumente zu gebrauchen.Die Kritik an den bayerischen Maßnahmen beginnt vor allem — das haben wir heute auch aus Berlin gehört — mit der Behauptung, Bayern praktiziere einen Alleingang.Das Gegenteil ist richtig. Italien hat AIDS in den Katalog der meldepflichtigen Krankheiten längst aufgenommen. Schweden hat eine namentliche Meldepflicht eingeführt und vor kurzem ein Gesetz zur Schließung sogenannter Saunen und Videotheken verabschiedet. Österreich hat schon 1986 ein entsprechendes Gesetz erlassen, das die Meldepflicht regelt, das Tätigkeitsverbote für HIV-infizierte Prostituierte enthält und eine regelmäßige Untersuchung von Prostituierten anordnet.Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland haben sich sehr früh Stimmen geregt, vor allem Stimmen von verantwortungsvollen Medizinern, die ja als erste dieser Krankheit begegnet sind und heute noch als erste dieser Krankheit direkt begegnen. Sie haben gefordert, sich nicht allein auf Aufklärung zu verlassen, sondern sie verlangen heute noch — erst vor kurzem wieder — ein seuchenhygienisches Gesamtkonzept. Die Stadt Frankfurt hat inzwischen angeordnet,
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Geisdaß HIV-infizierte Prostituierte, die ihrer Tätigkeit trotz Verbots nach wie vor nachgehen, im Sinne des Seuchengesetzes abgesondert werden.Noch vor einem Jahr war der zuständige Minister von Nordrhein-Westfalen der Wortführer gegen die bayerischen AIDS-Maßnahmen. Aber jetzt hat Nordrhein-Westfalen einen Maßnahmenkatalog erlassen, der in weiten Teilen von dem bayerischen Maßnahmenkatalog abgeschrieben sein könnte.
— Ich will damit überhaupt nichts angreifen. Ich meine, diese Leute sind lernfähig gewesen.Die Strategie der Bayerischen Staatsregierung, den Kampf gegen AIDS dreifach zu beginnen: mit Aufklärung, mit Hilfe für die Betroffenen und mit staatlichen Eingriffsbefugnissen,
beginnt immer mehr Zustimmung zu finden.
Man muß doch einmal in Ruhe über eine solche Strategie reden können. Es muß mit der ständigen Diffamierung dieses Maßnahmenkatalogs Schluß gemacht werden. Es muß Schluß gemacht werden mit der falschen Behauptung, die Forderung nach Aufklärung und die Forderung nach staatlichen Eingriffsbefugnissen seien unüberwindbare Gegensätze. Das Gegenteil ist richtig. Es sind zwei Glieder einer Gesamtkonzeption, die, wie ich meine, im Kampf gegen AIDS notwendig ist.Dabei besteht überhaupt kein Zweifel — daran hat auch Bayern nie einen Zweifel gelassen — , daß in dieser Gesamtkonzeption der Aufklärung die entscheidendste Bedeutung zukommen muß. Das ist völlig klar; darüber brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren.Wir müssen natürlich den Menschen sagen, wie sie sich infizieren können, welches die Infektionswege sind. Wir müssen sagen, wie furchtbar die Infektion mit dieser Krankheit ist. Und wir müssen den Menschen sagen, wie sie sich am besten vor der Infektion schützen können.
Wir müssen bei der Aufklärung den Menschen natürlich auch klarmachen, wie gefährlich die Krankheit ist, wie schnell man sich infizieren kann und wie weit die Infektion bereits fortgeschritten ist. Wir müssen von 100 000 Infizierten in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen. Wir müssen ohne Wenn und Aber über die Übertragungswege informieren. Wir müssen auch sagen, daß es neben den Hauptübertragungswegen — dem Geschlechtsverkehr und dem gemeinsamen Benutzen von Bestecken intravenös Drogenabhängiger — den Übertragungsweg im Krankenhaus gibt, wie jetzt auch das Bundesgesundheitsministerium in einer Presseerklärung ausgeführt hat. Und es gibt auch den Übertragungsweg über Makrophagen. Es ist mir schon schleierhaft und für mich nicht mehr nachvollziehbar, mit welch einer arroganten Ignoranz Presseorgane glauben sich über diesen Übertragungsweg heute immer noch lustig machen zukönnen, nur weil die epidemiologische Bedeutung dieses Übertragungsweges nicht so groß ist wie bei den Hauptübertragungswegen. Aber demjenigen, den es getroffen hat, der auf diesem Weg infiziert worden ist, nützt der Hinweis, daß er durch einen Übertragungsweg, der epidemiologisch keinerlei Bedeutung hat, getroffen, infiziert worden ist, überhaupt nichts.Schließlich müssen wir den Menschen auch sagen, wie sie sich am besten schützen können. Hier reicht der Appell oder die Aufklärung mit „Safer Sex" allein überhaupt nicht, ganz abgesehen davon, daß dies eine sehr fragwürdige Wortwahl ist.Wir können die Epidemie — und ich befinde mich da in guter Übereinstimmung mit Frau Conrad — nicht mit der Propagierung von Kondomen bekämpfen. Die Propagierung von Kondomen mag in einem bestimmten Risikobereich richtig sein. Aber wer Kondome freiweg propagiert, propagiert im Grunde genommen die Promiskuität. Und die Promiskuität ist der Motor der Seuche, gerade im heterosexuellen Bereich. Das ist richtig, und daran können Sie nicht vorbei. Deshalb meine ich, Frau Conrad — Sie wissen genau, warum ich es sage; und ich sag's auch und lasse mich von Ihnen davon überhaupt nicht abhalten —,
daß wir vor allen Dingen bei den Jugendlichen für die partnerschaftliche Treue werben müssen. Wir dürfen nicht das Argument gelten lassen, daß diese Wahrheit, Frau Conrad, bei der Jugend von heute nicht mehr ankomme. Das halte ich zum einen für falsch und zum anderen für unverantwortlich. Wir müssen den Jugendlichen klarmachen — und das geschieht in der Aufklärungsarbeit der Bundesregierung ja auch —, daß die partnerschaftliche Treue der erste und beste Weg ist, sich vor der Seuche zu schützen. Wer glaubt, Frau Conrad und Herr Gilges, dies lächerlich machen zu dürfen und lächerlich machen zu müssen, der handelt in hohem Maße verantwortungslos.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bayerische Staatsregierung sieht Maßnahmen für die Betroffenen selbst vor. Sie bietet den freiwilligen Test an. Am 31. Dezember 1986 waren es 24 852 Personen, die sich dem freiwilligen Test unterzogen haben. Ein Jahr später — trotz bayerischer Maßnahmen und trotz Unkenrufen aus allen möglichen Richtungen der Bundesrepublik — waren es 62 333 Personen, die sich dem freiwilligen Test unterzogen haben, also fast dreimal so viel.Und die Bayerische Staatsregierung bietet auch den Kranken, wie ich meine, die beste Versorgung an. Es geht uns nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie uns immer wieder nachgesagt wird, um Ausgrenzung, sondern um Hilfe für die Infizierten. Aber wir sind der Meinung, daß wir das Gesamtkonzept wahren, daß wir auch zu staatlichen Eingriffsbefugnissen gegenüber denen kommen müssen, die sich verantwortungslos verhalten.
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GeisEs gibt, Herr Senator Fink, Menschen, die sich verantwortungslos verhalten. Und gegenüber diesem verantwortungslosen Verhalten muß man, muß der Staat eingreifen. Er darf sich davor, wie ich meine, nicht drücken.
Wir müssen natürlich auch einmal die Frage stellen, ob wir den Test bei bestimmten Personen nicht vorschreiben. Warum soll es eigentlich so furchtbar verkehrt sein, daß wir von den Prostituierten den Test verlangen? Wir verlangen ja sowieso, daß sie untersucht werden.
Warum sollen wir den Test von den Prostituierten nicht verlangen? Was ist da, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine „wilde Gauweilerei"? Was ist daran verkehrt?
Ich halte all das für eine ziemliche Übertreibung und im Grunde genommen eigentlich für ein schamloses Gerede, das Sie hier vorbringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bayerische Staatsregierung — —
— Lassen Sie mich doch einmal reden. — Ich habe großen Respekt vor jedem
— lassen Sie mich den Schlußsatz bringen —,
der in dieser Frage anders argumentiert. Aber ich habe auch — und ich bitte Sie, mir das ebenso abzunehmen — großen Respekt vor dem Schritt der Bayerischen Staatsregierung, die mit genau demselben Verantwortungsbewußtsein, das Sie für sich in Anspruch nehmen, der Meinung ist, daß dies der richtige Schritt ist. Und die Entwicklung gibt ihr recht.Die Einsicht wächst in der Bevölkerung. Die Einsicht wächst auch bei den Bundesländern. NordrheinWestfalen hat den Anfang gemacht. Ich meine nur, wir müssen aufpassen, daß die Einsicht nicht zu spät kommt. Es ist, wie mir scheint, höchste Zeit, und wir haben eine große Verantwortung.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen!Ich glaube, wir haben jetzt, wenige Jahre nach Erkennen der Immunschwäche AIDS, Anlaß, vor allen Dingen der Bevölkerung zu danken, die sich trotz Sensationsberichterstattung und trotz bayerischer Maßnahmen nicht zu Panik und Hysterie hat hinreißen lassen. Zu danken haben wir den Selbsthilfeorganisationen, insbesondere der AIDS-Hilfe, die mit Phantasie, Beharrlichkeit und unkonventionellen Mitteln erreicht hat, daß in einer der hauptbetroffenen Gruppen, bei den Homosexuellen, deutliche Verhaltensänderungen eingetreten sind, oder der Organisation der Pflegeeltern behinderter Kinder, die sich trotz Anfeindungen und Maßnahmen, die man bereits Verfolgung nennen kann — vor allem in Bayern — , nicht davon haben abbringen lassen, auch AIDS-infizierte Kinder in ihre Familien aufzunehmen.Wir sind auch mit der AIDS-Politik der Gesundheitsministerin im wesentlichen zufrieden, weil Frau Süssmuth trotz laufender und dauernder Querschüsse aus Bayern — ein Beispiel haben wir hier ja gerade mitbekommen — ihre Linie der Politik, die auch unsere ist, durchhält. Diese Linie heißt: Prävention durch Aufklärung.Wenn wir nun das Gesundheitsministerium loben, bedeutet das nicht, daß wir nicht auch Kritik zu äußern hätten. So erscheint uns die Zersplitterung der Zuständigkeiten — die Tatsache, daß sich z. B. mehrere Kommissionen der Bundesregierung unter unterschiedlicher Federführung mit der Meldepflicht befassen — genauso unbefriedigend wie die Tatsache, daß es immer noch kein abgestimmtes Konzept des Bundes und der Länder zur AIDS-Bekämpfung gibt. So bedauern wir — da gab es offensichtlich ein Mißverständnis zwischen Frau Conrad und Herrn Eimer, das inzwischen hoffentlich aufgeklärt ist — , daß es immer noch Schwierigkeiten in der Sozialversicherung gibt, insbesondere wenn es sich um drogenabhängige Infizierte handelt. So vermissen wir in den Aufklärungskampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung — und da sind wir ganz auseinander, Herr Geis — häufig die notwendige deutliche Sprache, die uns z. B. die Schweizer vorgemacht haben. Das Wort „Kondom" bringt in der Bevölkerung wohl nur noch wenige zum Erröten,
und es darf, vor allem wenn es die sicherste uns bekannte Methode außer sexueller Enthaltsamkeit oder lebenslanger Treue von nicht infizierten Partnern ist, in unseren Augen in Aufklärungskampagnen nicht fehlen.Wir bedauern vor allen Dingen, daß sich das Ministerium nicht nachdrücklich genug dafür eingesetzt hat, daß AB-Maßnahmen für AIDS-Beratungsstellen nach wie vor genehmigt werden, und daß das Ministerium bisher zu wenige Schritte unternommen und eingeleitet hat, um die Anschlußfinanzierung dieser Stellen zu sichern.Herr Staatssekretär, ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu erläutern, was dieser Beschluß der Bundesanstalt, AB-Maßnahmen für AIDS-Beratung nicht mehr zu finanzieren, nicht nur für die Beratungsstellen der Selbsthilfeorganisationen und die Beratungsstellen
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4812 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Frau Schmidt
der freien Wohlfahrtspflege, sondern auch für die Kommunen bedeutet.Diese alle sind nicht in der Lage, die ausgefallenen Mittel für Personal aus eigener Kraft aufzubringen. Damit ist das gesamte Aufklärungskonzept gefährdet, auch all das, was Sie in sinnvoller Weise an Modellprogrammen auf den Weg gebracht haben.Es dürfte wohl auch einmalig sein, daß das so ohne Vorankündigung geschehen ist und daß sich die Institutionen, die Kommunen und die Länder darauf nicht haben einstellen können. Dieser Beschluß ist mehr als unverständlich und wird nur dadurch erklärbar, daß die Bundesanstalt, bedingt durch andere Maßnahmen der Bundesregierung, auf Teufel komm raus sparen muß. Dies ist aber ein Sparen an der verkehrtesten Stelle. Wir werden dieses Sparen, wenn es dabei bleibt, teuer bezahlen müssen. In meiner Heimatstadt, in Nürnberg, entfallen dadurch z. B. ab April in einer einzigen AIDS-Beratungsstelle drei Stellen, und genauso sieht es landauf, landab aus.Wir befürchten auch, daß uns in diesem Dilemma ein Antrag für den Nachtragshaushalt nicht weiterhilft. Das dauert zu lange und verursacht juristische und Kompetenzschwierigkeiten.Wir halten aber die Intention dieses Antrages für richtig und fordern Sie auf, Herr Staatssekretär, mit dem Buchstaben g unseres Entschließungsantrages, für den wir getrennte Abstimmung beantragen, die Einflußmöglichkeiten der öffentlichen Körperschaften zu nutzen, diese Entscheidung der Bundesanstalt rückgängig zu machen, und außerdem dafür zu sorgen, die Anschlußfinanzierung dieser Stellen zu sichern. Eile ist in diesem Falle wirklich geboten. Wir können hier auch nicht überweisen. Wir müssen in diesem Punkte heute abstimmen, weil wir nicht Wochen und Monate warten dürfen, bis das durch die Ausschüsse gegangen ist.
Nun zu den Anträgen. Herr Eimer, wir wollen den Ergebnissen der AIDS-Enquete-Kommission hier nicht vorgreifen, aber viele der Punkte, die wir angesprochen haben, sind Punkte, die eine Selbstverständlichkeit sind, bei denen Sie auch inhaltlich keine Schwierigkeiten haben, bei denen wir aber den Eindruck haben — die Rede von Herrn Geis bestärkt mich darin — , daß es ein so großer Konsens nicht mehr ist, daß der Konsens zwischen der FDP, der SPD und großen Teilen der CDU und der GRÜNEN nach wie vor besteht, daß aber die CSU-Abgeordneten hier anderer Meinung sind. Es ist legitim und richtig, zu fragen: Welche Unterstützung hat die Bundesregierung denn noch für ihre AIDS-Politik?Zum Inhalt der Anträge muß gesagt werden, daß manche dieser Punkte überhaupt nicht Bestandteil des Zwischenberichts der Enquete-Kommission sein werden
— Sie sagen: Sehr richtig! — , und zwar zwei wichtige Punkte, auch die Meldepflicht. Wir sind der Meinung, daß es unser Recht ist, zu fragen und, weil es da im Regelfall hier im Parlament Konsens gibt, auch darüber abstimmen zu lassen: Wie soll denn jetzt weiterverfahren werden, wo haben wir Handlungsaufträge für die Bundesregierung? Mit vielen dieser Punkte wird sich der Zwischenbericht nicht so detailliert befassen.Frau Wilms-Kegel, selbstverständlich spreche ich hier für die gesamte SPD, auch für Nordrhein-Westfalen. Mit Nordrhein-Westfalen sind unsere Anträge abgestimmt, und die Irritationen, die es gegeben hat, sind — ich sage es noch einmal — längst abgestellt, sowohl im Klinikum Aachen als auch beim Erlaß, den der Justizminister Nordrhein-Westfalens erlassen hat, der längst zurückgezogen ist. Wir sollten nicht auf ollen Kamellen immer weiter herumreiten.Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen, trotz dieser Kritikpunkte, die ich jetzt genannt habe, unterstützen wir die AIDS-Politik der Bundesregierung, weil es keine Alternative gibt, weil andere Politiken nicht nur verheerende gesundheitspolitische, sondern auch verheerende gesellschaftspolitische Auswirkungen hätten.Herrn Gauweilers Maßnahmenkataloge, Programme „gegen die nationale Dekadenz" und wie diese Produkte einer schwülstigen Phantasie noch alle heißen mögen, sind nicht nur sinnlos, sondern gefährlich. Mit deutlicher Anspielung auf den AIDS-Berater des Herrn Gauweiler hat — Herr Geis, vielleicht sollte man auch einmal zur Kenntnis nehmen, daß das nicht nur irgendwelche verantwortungslosen Presseorgane sind — z. B. Professor Gallo vor falschen Experten gewarnt und Berichte genannt, nach denen AIDS auch durch Küssen übertragen werde; solche Berichte sind unverantwortlich.Warum sind die bayerischen Maßnahmen und Vorhaben, Zwangstests, Meldepflicht, Einteilen der Menschen in Risikogruppen, Verteufelungen der Formen von Sexualität, die dem bayerischen Staatssekretär suspekt sind und es deshalb anderen auch sein müssen, und Absonderung infizierter Aufpasser so gefährlich?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Herr Geis, gerne.
Frau Schmidt, ist Ihnen die letzte Anhörung der Enquete-Kommission AIDS im Dezember letzten Jahres vor der Weihnachtspause noch bekannt
— nein, Herr Koch war gar nicht dabei — , in der Wissenschaftler aus Schweden, aus der Bundesrepublik Deutschland und aus Wien erklärt haben, daß die Übertragung des Virus sehr wohl durch Makrophagen erfolgen kann?
Herr Geis, mir sind die Anhörungen sehr wohl bekannt, ich muß mir aber nicht alles aus diesen Anhörungen zu eigen machen. Ist Ihnen die Äußerung Ihres Parteifreunds Merkl, Staatssekretär der Bayerischen Staatsregierung, bekannt, der dies ebenfalls Unsinn genannt hat? Die
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Frau Schmidt
Pressemitteilung von gestern der bayerischen AIDS-Kommission zeigt dies.
— Doch; ich kann Ihnen das nachweisen.
Ich habe gerade gefragt, warum diese Maßnahmen so gefährlich sind; aus zwei Gründen: Bei Gesunden wird der Eindruck erweckt, sie müßten sich um nichts mehr kümmern, müßten ihr Verhalten nicht ändern, müssen sich nicht selber schützen. Infizierte und solche, die in der Vergangenheit risikoreiches Verhalten praktiziert haben, werden durch Gauweilersche Maßnahmen abgeschreckt, tauchen unter; die Möglichkeiten von Beratung, eventuellen Tests und Betreuung nehmen sie nicht wahr. Sie werden also von verantwortungsbewußtem Verhalten eher ab- als dazu angehalten.Wie überzogen die Gauweilerschen Maßnahmen sind, zeigen auch die Ergebnisse der AIDS-Kommission des Bayerischen Landtags. Sie empfiehlt — einschließlich ihres CSU-Vorsitzenden — , auf die Zwangstests für Beamten- und Asylbewerber zu verzichten. Auch die Forderung nach einem Test für alle Wehrpflichtigen erweist sich als unsinnig. Ein freiwilliger Test von 171 000 Bundeswehrsoldaten ergab eine Infektionsrate von 0,07 %. Von 2 755 Asylbewerbern waren 2 HIV-positiv, und die Untersuchungen von 1,8 Millionen Blutspenden des Roten Kreuzes ergaben 0,002 % HIV-positive. Das Geld für Zwangstests ist also wahrhaftig sinnvoller in Aufklärung und Beratung angelegt.In der Enquete-Kommission werden wir erneut den Fehlerquoten des Tests nachzugehen haben. Wenn es zutrifft, daß die Fehlerquote beim ersten Test so hoch liegt, daß minimal 30 % falsch positive Ergebnisse auftreten, muß die bisherige Praxis wohl überdacht werden.Wir möchten auch in Zukunft sichergestellt wissen, daß die Freiwilligkeit und Anonymität des Tests gesichert bleibt. Solange es keine Heilungsmöglichkeiten, keinen Impfstoff gibt, kann es auch keine Meldepflicht geben.Aber Herr Gauweiler und mit ihm die Bayerische Staatsregierung sind durch nichts zu beeindrucken. Ob es das Bayerische Verwaltungsgericht ist, das einen Zwangstest untersagt und die Tauglichkeit des bayerischen Maßnahmenkatalogs in Frage gestellt hat, ob die AIDS-Kommission des Bayerischen Landtags diese Politik kritisiert — Gauweiler sieht keinen Grund zur Änderung und versucht, seinen Kreuzzug weiterzuführen, einen Kreuzzug, der manische Züge annimmt, einen Kreuzzug, der Zärtlichkeit und Küssen in Mißkredit bringt, einen Kreuzzug, der, sollte er erfolgreich sein, die Gesellschaft verändern und unseren Umgang mit Minderheiten noch weiter entsolidarisieren würde.
Deshalb unsere Aufforderung an die Gesundheitsministerin: Versuchen Sie alles, daß Bayern mit seiner AIDS-Politik nicht nur allein bleibt,
sondern daß dieser Maßnahmenkatalog endlich im Papierkorb landet, wohin er seit längerem gehört; denn es geht um mehr als nur um die Bekämpfung einer gefährlichen Seuche. Es geht darum, Solidarität und Liebe zu retten.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Tochter Corinna auf der Tribüne! AIDS ist eine tödliche Infektionskrankheit und ein multidisziplinäres Problem.Aus der öffentlichen Diskussion über AIDS kann man zeitweilig den Eindruck gewinnen, als sei diese Krankheit vorwiegend ein rechtliches Problem. Bei unserem derzeitig noch unbefriedigenden Wissensstand über die epidemiologische und medizinische Seite der Krankheit AIDS ist dies schwer nachvollziehbar. Ganz sicher ist eine rechtliche Koordinierung angebracht; allerdings müssen unsere Kräfte und Mittel gegenwärtig auf dringlichere Aufgaben konzentriert werden, und zu den dringenden Problemen zählen die seuchenhygienischen Fragen ebenso wie die Intensivierung der Forschung in verschiedenen Bereichen. Wir müssen uns durchaus fragen, ob die Anstrengungen, jetzt zu einer bundesweiten rechtlichen Koordinierung in Sachen AIDS zu kommen, in entscheidendem Maße dazu beitragen, unsere Wissenslücken zu schließen, um die Ausbreitung der HIV-Infektion in der Bundesrepublik einzudämmen.Wir müssen uns auch nicht scheuen zu fragen, ob die Aufklärung über AIDS tatsächlich an die richtigen Personengruppen gelangt. Es darf nicht verkannt werden, daß der Beweis für die Wirksamkeit erzieherischer Maßnahmen erst noch erbracht werden muß. Der Effekt von Aufklärungsmaßnahmen wurde jedenfalls bei vielen Gesundheitsgefahren bislang überschätzt. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß Erfahrungen mit anderen Risiken, die ebenfalls tödliche Folgen haben können, dies sehr deutlich zeigen; denn 20 Jahre Information und Aufklärung über die gefährlichen Folgen des Rauchens haben bisher nicht bewirkt, daß die jährlich 100 000 Todesfälle durch Rauchen wesentlich abgenommen hätten. Die Folgerung aus dieser Erkenntnis ist, daß wir ohne ideologische Voreingenommenheit alle Möglichkeiten der Eindämmung dieser Seuche immer wieder aufs neue zu prüfen haben.
Im Falle von AIDS muß wissenschaftlich sehr sicher und sorgfältig verfolgt werden, ob die Aufklärung tatsächlich zu verändertem Sexualverhalten führt und welche Kampagnen in der Tat wirksam waren. Wenn wir an die Drogensüchtigen denken, so wissen wir, daß auch sie nicht von ihren Spritzgewohnheiten ab-
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Frau Würfellassen, auch wenn sie um die Gefahr einer AIDS-Infektion wissen.Nach unseren bisherigen Erkenntnissen sind jedoch gesundheitliche Aufklärung und Gesundheitserziehung offensichtlich die wirksamsten Instrumente, um die Verbreitung der HIV-Infektion einzugrenzen. Dabei ist auch der Schutz des Gesunden vor einer HIV-Infektion zu bedenken; denn der Schutz des Gesunden ist für uns alle ein sehr hohes Rechtsgut.Da Sexualkontakte der häufigste Übertragungsweg für die HIV-Infektion sind und sexuelle Praktiken in der Wahl jedes einzelnen liegen, besteht die Verantwortlichkeit der Gesellschaft darin, die Menschen über Gefahren im Zusammenhang mit bestimmten Praktiken zu unterrichten und sie davon zu überzeugen, diese Sexualpraktiken zu unterlassen.Die Sexualerziehung muß frühzeitig in der Schule einsetzen und darf auch während des Erwachsenseins im sexuell aktiven Leben nicht vernachlässigt werden, sondern sie muß immer auf den neuesten Stand der Erkenntnisse gebracht werden. Diese erzieherische Tätigkeit muß sich auf viele Felder erstrecken, wie z. B. auf die persönliche Verantwortung dem eigenen Körper gegenüber, auf Ansteckungswege für alle sexuell übertragbaren Krankheiten, auf Vorkehrungen gegen die Krankheitsübertragung und auf Sexualität im weitesten Sinne.Bei der Aufklärung muß unterschieden werden zwischen der breiten Information für die Öffentlichkeit insgesamt und der Information für bestimmte Zielgruppen in der Bevölkerung, wie z. B. für Fachkräfte im Gesundheitswesen, für Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Jugendverbände, Verbraucher- und Familienverbände. Wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß das, was jetzt an einschlägiger Gesundheitserziehung eingeleitet werden kann, erst in einigen Jahren wirksam werden wird, und wir politischen Entscheidungsträger müssen diese zeitlichen Verschiebungen in unsere Überlegungen mit einrechnen.Alle im Gesundheitswesen Tätigen müssen zuverlässig wissen, ob die Zahl der neu mit HIV infizierten Personen weiterhin zunimmt oder ob schon eine Verlangsamung des Trends erkennbar ist. Wir müssen wissen, wie stark die Risikogruppen betroffen sind und wie die Entwicklung der HIV-Infektion in der heterosexuellen Bevölkerung aussieht. Es ist auch wichtig, die Größe der Gruppen mit einem erhöhten Risiko für eine Ansteckung zu kennen; das sind die Menschen mit risikoreichem Sexualverhalten und die spritzenden Drogensüchtigen. Hilfe für die bereits Erkrankten oder Infizierten, aber auch für die zu schützende, nicht infizierte Bevölkerung ist in erster Linie von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu erwarten. Dazu gehört z. B. auch, Infektionswege genauer zu kennen, Aufklärung und Beeinflussung auf die richtigen Bevölkerungsgruppen zu richten, die Größe des Risikos im Verhältnis zu anderen Risiken seriös und verständlich darzustellen und wichtige Forschungsvorhaben nicht an Bürokratie scheitern zu lassen.Auch die Weltgesundheitsorganisation ist der Auffassung, daß routinemäßige Reihenuntersuchungen an der gesamten Bevölkerung auf HIV-Antikörper unnötig und unrealistisch sind. Ein Routine-Screening bei Gruppen mit hohem Risiko wird von der Weltgesundheitsorganisation als von geringem Nutzen zur Bekämpfung und Eindämmung der AIDS-Epidemie angesehen, ja man geht sogar davon aus, daß dieses routinemäßige Screening sogar kontraproduktiv werden würde, und zwar dann, wenn nicht gewährleistet ist, daß Vertraulichkeit und soziale Rechte gewahrt und medizinische Nachsorge betrieben werden können, wenn sich jemand als HIV-Antikörper-positiv erweist.Zur Forschung ist zu sagen, daß eine erfolgreiche Forschung zu AIDS von Staats wegen nicht verordnet werden kann. Die Bundesregierung kann ausreichende Mittel zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen und die Wissenschaft zu intensiver Arbeit anregen. Das ist erkennbar geschehen. In der Bundesrepublik stehen in erheblichem Umfang Mittel für die AIDS-Forschung bereit. Klinische Forschung und Grundlagenforschung zur Virologie und Immunologie sind bei uns sehr gut angelaufen. Auf dem besonders wichtigen Gebiet der AIDS-Epidemiologie besteht meiner Meinung nach noch ein Defizit. Aus den vorhandenen Publikationen geht hervor, daß immer wieder die völlig unzureichende Datenlage zu Stand und Ausbreitung von AIDS in der Bundesrepublik angeprangert wird. Wir müssen uns fragen, ob die wenigen epidemiologischen Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik genügend an der AIDS-Forschung beteiligt sind. Dasselbe gilt für die Sexualforschung. Was wir brauchen, sind breit angelegte Projekte, die dazu beitragen können, all denjenigen, die für Aufklärung, Beratung und Seucheneindämmung zu sorgen haben, die heute noch fehlenden Daten über das Sexualverhalten der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.Zu den einzelnen Maßnahmen ist zu sagen, daß freiwillige individuelle Tests auf HIV-Antikörper dann befürwortet werden, wenn Anonymität und individuelle Beratung für die getesteten Personen sowie Vertraulichkeit der Daten garantiert sind. Diese freiwilligen Tests stellen ein Mittel dar, Personen motivieren zu können, falls sie HIV-Antikörper-positiv sind, riskante sexuelle Verhaltensweisen abzulegen. Der Beratung kommt meines Erachtens eine überragende Bedeutung zu, ja sie sollte obligatorisch sein, um AIDS-infizierten Personen zu helfen, die Konsequenzen ihres Gesundheitszustandes zu bewältigen und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um ihre eigene Gesundheit zu schützen und die Infektion nicht weiter zu verbreiten. HIV-Antikörper-negative Personen sollten darüber informiert werden, wie sie eine Ansteckung vermeiden können. Wichtig ist, Menschen, deren Test HIV-negativ war, davor zu bewahren, sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen, sofern sie nicht geeignete Sicherheitsmaßnahmen ergreifen. Es versteht sich von selbst, daß alle Berater in diesem Bereich hervorragend qualifziert und erfahren sein müssen, damit sie der Komplexität des Problems gerecht werden können.Meine Zeit reicht nicht aus, um jetzt noch ein paar weitere Anmerkungen zu machen. Deshalb möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag und den Punkt g eingehen, bei dem es sich um die Entscheidung han-
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Frau Würfeldelt, AB-Maßnahmen für AIDS-Beratungseinrichtungen der Kommunen und von Selbsthilfeorganisationen ab sofort nicht mehr zu genehmigen. Sie können sich sicher vorstellen, daß wir diesem Punkt gern zustimmen würden, aber wir haben das Problem, daß die hier Anwesenden nicht dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung angehören und daß dieser Ausschuß für diesen Punkt federführend ist. Wir hatten keine Gelegenheit, uns mit unseren Kollegen abzusprechen, weil dieser Antrag uns bislang nicht vorgelegen hat und wir ihn erst jetzt zur Kenntnis bekommen haben und weil wir aus dem Parlament heraus nicht in der Lage sind, miteinander in Kontakt zu treten. Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß wir ihn aus diesem Grunde ablehnen müssen.
Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Pfeifer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere AIDS-Politik — das kommt in der Antwort auf die Große Anfrage nochmals deutlich zum Ausdruck — ist in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 18. März 1987 festgelegt. Das heißt, oberstes Ziel ist und bleibt, alles zu tun, um die Gesunden vor Ansteckung zu schützen, Infektionswege zu unterbrechen, die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen und den Erkrankten und Infizierten zu helfen, sie vor Ausgrenzung und Diskriminierung zu schützen.
Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß gegen denjenigen mit allen rechtlich zulässigen Mitteln vorgegangen wird, der andere wissentlich oder fahrlässig mit AIDS ansteckt. Herr Kollege Geis, das ist auch die Position der Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Auf der anderen Seite sollten wir uns auch darauf verständigen, daß es völlig falsch wäre, so zu tun, als sei jeder Infizierte gewissermaßen ein potentieller Desperado. Im Gegenteil, auch hier gilt: Wer die Betroffenen gut informiert, berät und betreut, leistet auch einen Beitrag dazu, uneinsichtigem Verhalten entgegenzutreten.
Meine Damen und Herren, nicht nur die Länder der EG, sondern alle jene, die in der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten, haben immer wieder bestätigt, daß es bei dem Kampf gegen AIDS vor allem auf drei Punkte ankommt: erstens auf Aufklärung und Beratung der Bevölkerung, damit jeder weiß, was er tun kann, um sich vor Ansteckung zu schützen, zweitens auf vertrauensvolle, auf Hilfe angelegte Zusammenarbeit mit Betroffenen und Gefährdeten und drittens auf Stärkung von Selbstverantwortung und von ethisch verantwortetem Verhalten.Die Erfahrung lehrt: Zwangsmaßnahmen sind selten geeignet, Eigenverantwortlichkeit zu erhöhen. Aber wir müssen unsere Strategie gerade hier so anlegen, daß der Sinn für verantwortete Freiheit auch indiesem Sexualbereich wächst, wo der einmalige Wert des menschlichen Lebens auf dem Spiel steht. Wir verfügen inzwischen über eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die zeigen, daß Aufklärung und Beratung in der Tat zu deutlichen Verhaltensänderungen geführt haben und damit geeignet sind, die Ansteckungsquote zu reduzieren.So gefährlich AIDS ist, man kann sich gegen eine Ansteckung schützen. Die anfänglichen Erkenntnisse über die Übertragungswege haben sich inzwischen epidemiologisch immer wieder bestätigt. Nach wie vor liegt die Gefahr bei ungeschützten Sexualkontakten, bei Mutter-Kind-Übertragungen und besonders bei mehrfacher Benutzung von Injektionsnadeln durch Fixer. Alle Erörterungen, auf welche andere Art und Weise eine AIDS-Übertragung noch möglich sein könnte, werden von der Bundesregierung mit großer Sorgfalt verfolgt. Aber das ändert nichts daran, daß sich die Infektionen nach wie vor genau auf diesen drei genannten Wegen ausbreiten. Wir müssen deshalb mit großer Dringlichkeit darauf achten, daß die Erörterung von nicht erwiesenen, aber theoretisch nicht mit letzter Sicherheit auszuschließenden anderen Infektionsgefahren nicht von den eigentlichen Infektionsquellen ablenkt und damit bewirkt, daß Menschen sich nicht so ausreichend schützen, wie sie sich eigentlich schützen müßten. Die Bundesregierung wird deshalb weiterhin alles tun, um die Bevölkerung deutlich über die Gefahren aufzuklären, zugleich aber jeder Panikmache entgegenzuwirken.Meine Damen und Herren, in der Koalitionsvereinbarung wird eine Registrierung von HIV-Infizierten klar und eindeutig abgelehnt. Dagegen haben wir die vereinbarte anonyme Laborberichtspflicht inzwischen eingeführt, um die epidemiologischen Daten zu erhalten, die wir brauchen. Ich bin deswegen nicht der Ansicht, daß es gegenwärtig Gründe gibt, die es rechtfertigen würden, über die anonyme Laborberichtspflicht hinaus eine namentliche Registrierung von Infizierten vorzusehen.Dies gilt ebenso für die Forderung nach Reihenuntersuchungen für die gesamte Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Wer weiß, daß er ein Risiko eingegangen ist, kann heute zum freiwilligen anonymen Test gehen, um sich Gewißheit, Beratung und Betreuung zu verschaffen. Wenn er sich verantwortungsbewußt verhält, tut er das auch. Gerade deshalb fordert die Bundesregierung immer wieder alle gefährdeten Personen auf, diese Möglichkeiten zum anonymen Test zu nutzen. Ich kann nicht erkennen, welchen zusätzlichen Gewinn Reihenuntersuchungen mit sich bringen würden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei kurze Bemerkungen zu den vorliegenden Entschließungsanträgen machen: In ihnen findet sich eine Reihe von Forderungen, die darauf hinauslaufen, Maßnahmen, die die Bundesregierung bereits seit langem durchführt, weiter zu intensivieren, also etwa die Forderung nach einer besseren Abstimmung zwischen Bund und Ländern oder die Forderung nach stärkerer Einbeziehung der Selbsthilfegruppen in die Aufklärungsarbeit.Ich bin prinzipiell für jede Unterstützung und für jeden Konsens dankbar, den wir in diesen Bereichen
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Parl. Staatssekretär Pfeifererreichen können. Gerade deshalb finde ich es eigentlich bedauerlich, daß die Behandlung dieser Anträge in den Ausschüssen, wie das die Kollegen Voigt und Eimer vorgeschlagen haben, nicht möglich ist.Die Bundesregierung wird jedenfalls auch in diesen Bereichen ihre Politik konsequent fortsetzen. Dies trifft übrigens auch auf die Frage nach Gewährung von Leistungen aus der Sozialversicherung an HIV-infizierte oder -erkrankte Personen zu. Hier gibt es aus meiner Sicht, Herr Kollege Eimer, eigentlich keine offenen Fragen mehr. Aber wenn jemand hier anderer Ansicht ist, zeigt das meiner Meinung nach, daß es besser gewesen wäre, wir hätten dieses Thema in den Ausschußberatungen nochmals im einzelnen erörtern können.Schließlich noch eine letzte Bemerkung zu der Entscheidung über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für AIDS-Beratungseinrichtungen, die die Bundesanstalt für Arbeit getroffen hat. Meine Damen und Herren, für diese Entscheidung liegt die Verantwortung bei der Bundesanstalt für Arbeit. Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit hat die Bundesanstalt gebeten, ihre Entscheidung zu überdenken.Ich will dies hier gerne noch einmal in der Öffentlichkeit tun: Der Kampf gegen AIDS schließt eine ganze Reihe von Tätigkeitsfeldern ein, die nicht zur Gesundheitsfür- oder zur Gesundheitsvorsorge im engeren Sinne zählen. Dennoch sind sie für die Betroffenen in höchstem Maße sinnvoll und nützlich. Mir liegt daran, daß die bei den Kommunen und in den Selbsthilfeorganisationen in diesem Bereich eingeleiteten Initiativen jetzt nicht einfach aufgegeben werden. Deshalb appelliere ich an die Bundesanstalt für Arbeit, ihre Entscheidung bezüglich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im AIDSBereich zu revidieren.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird in der AIDS-Politik ihre Linie der Vernunft fortsetzen. Ich bin Ihnen dankbar für die Unterstützung, die Sie auch in dieser Debatte der Politik der Bundesregierung zuteil werden ließen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich darf Ihnen erst einmal mitteilen, in welcher Reihenfolge wir hier jetzt die Abstimmungen vorgesehen haben.
Meine Damen und Herren, wir stimmen zuerst ab über den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/1364, dann über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 11/2104. Hierbei wird über die einzelnen Abschnitte abgestimmt. Die Ziffer 4 g, über die hier diskutiert worden ist, wird auf Wunsch der Antragsteller überwiesen.
Wir kommen dann zur Abstimmung über den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/2111, und zuletzt kommen wir zur namentlichen Abstimmung.
Wenn jetzt die verehrten Kollegen Platz nehmen würden, könnte ich nachher auch die Mehrheitsverhältnisse feststellen.
Jetzt darf ich, damit hier Klarheit herrscht, was noch geändert werden soll, zu einer ganz kleinen Bemerkung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung Frau Abgeordneter Conrad das Wort erteilen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielen Dank, daß ich noch das Wort ergreifen kann.
Ich bitte, im Antrag Drucksache 11/2103 das Wort „Hauptrisikogruppen" durch „Hauptbetroffenengruppen" zu ersetzen.
Begründung: Wenn Sie das Protokoll vom 13. November 1986 durchlesen, werden Sie sehen, daß der damalige Berichterstatter, der CDU-Abgeordnete Dolata, für den zuständigen Ausschuß im Namen aller Fraktionen berichtet hat, daß in diesem Antrag, den wir hier nur zitieren, das Wort „Hauptrisikogruppen" durch das Wort „Hauptbetroffenengruppen" zu ersetzen ist.
Wir tragen diesem Rechnung, damit der Antrag ordnungsgemäß zitiert ist.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 9 a.Wer stimmt für den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1364? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist auf jeden Fall abgelehnt.Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2104 ab. Hierzu wird getrennte Abstimmung verlangt; ich habe das schon mitgeteilt.Wer für die Ziffern 1 und 2 sowie Nr. 4 a bis 4 f stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Ziffern sind abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ziffer 3 dieses Antrages. Wer stimmt für die Ziffer 3 dieses Antrages? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ziffer 3 ist abgelehnt.Meine Damen und Herren, wir haben eben mitgeteilt, daß die SPD-Fraktion darum bittet, Ziffer 4 g an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? —Der übrige Entschließungsantrag der Fraktion der SPD ist abgelehnt.Meine Damen und Herren, wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2111 ab. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? — Gegenprobe! —
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Vizepräsident Frau RengerEnthaltungen? — Der Antrag ist bei Enthaltung der SPD mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu der namentlichen Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 11/2103, die von der Fraktion der SPD gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung verlangt worden ist. Das Verfahren ist bekannt. Die Abstimmung ist eröffnet. —Meine Damen und Herren, ist noch jemand im Raum, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? — Ich schließe die Abstimmung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir fahren in der Sitzung fort. Ich werde das Ergebnis bekanntgeben, sobald es eingelaufen ist. *)
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die siebzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
— Drucksache 11/2042 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich frage das Haus, ob es dagegen Widerspruch gibt. — Nein. Es wird also so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
— Wenn er so freundlich wäre, sich ans Mikrophon zu begeben, hätte er sicher eine aufmerksame Zuhörerschaft hier im Plenarsaal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen das Gesetz zur Anpassung der Kriegsopferversorgung ein. Die Renten der Kriegsopfer, der Wehrdienstopfer und der Opfer von Gewalttaten werden ab 1. Juli 1988 um 3 % erhöht, so wie die Renten der Sozialrentner. Insofern kommen die Lohnsteigerungen des Jahres 1987 wie den Rentnern auch den Kriegsopfern voll zugute. Um die Bedeutung dieser Erhöhung richtig einzuschätzen, gilt es auch hier, diese 3 % in Beziehung zu den Preisen zu setzen. Dank stabiler Preise bedeutet Erhöhung der Renten auch Erhöhung der Kaufkraft. Die Politik der Solidität erweist sich als eine Politik der Solidarität.Zum drittenmal hintereinander steigen die Renten mehr als die Preise. Zum drittenmal hintereinander erhalten die Rentner und die Kriegsopfer ein deutliches Mehr an Kaufkraft. Daß das keine Selbstverständlichkeit ist, wissen Rentner und Kriegsopfer aus leidvollen Jahren der Inflation, wo die Preissteigerung*) Ergebnis Seite 4822 DRenten- und Kriegsopferversorgungserhöhungen überholt hatte. Die 1,5 Millionen Kriegsopfer, die heute im Durchschnitt über 70 Jahre alt sind, haben in ihrem Leben am eigenen Leib nicht einmal, sondern mehrfach erfahren, was Inflation bedeutet: in der Weimarer Zeit, in der Nachkriegszeit und auch in den 80er Jahren mit ihren hohen Preissteigerungsraten.Soziale Gerechtigkeit ist nicht mit einem groben Raster erreichbar. Politik muß den einzelnen Menschen mit seinen persönlichen Bedürfnissen und Sorgen im Blick haben. Deshalb ist unsere Kriegsopferversorgung ein differenziertes Leistungssystem. Es gibt individuelle Hilfen für die unterschiedlichen Schädigungen. Der Leistungskatalog ist umfangreich.Aber bekanntlich ist nichts vollkommen. Deshalb bleibt es unsere Aufgabe, das Kriegsopferrecht weiterzuentwickeln, und zwar auch strukturell, zumal sich auch die Lebenslage der Kriegsopfer mit steigendem Lebensalter ändert. Deshalb haben wir ja auch in der Vergangenheit in vielen, vielen — ich gebe zu — kleinen Schritten das Kriegsopferrecht weiterentwikkelt. Aber ein kleiner Schritt konkret ist besser als ein großer Schritt in der Rhetorik. Mit kleinen Schritten der konkreten Lebensverbesserung wollen wir auch weitermachen.Die Kriegsopferversorgung ist auch weiterhin auf Fortentwicklung angelegt. Ich nenne ein paar Beispiele: Beim Versehrtensport ist die pauschale Erstattung der Aufwendungen ab dem 1. Januar 1988 neu geregelt und fortgeführt worden. Zum erstenmal seit 1980 sind die Beträge der Teilversorgung im Ostbereich zum 1. Januar dieses Jahres wieder angehoben worden. Beides Punkte, die lange auf der Warteliste standen. Das sind Mosaiksteine einer ständigen Fortentwicklung des Kriegsopferrechtes. Zu den bereits erledigten Punkten kommen weitere hinzu. In Kürze wird sich die Bundesregierung wieder mit der Ausgleichsrentenverordnung befassen. Dabei geht es um die Frage, ob Wohnrechte im landwirtschaftlichen Bereich in Zukunft bei der Ausgleichs- und Elternrente anrechnungsfrei bleiben sollen.Niemand sollte unterschätzen, was solche Änderungen für den einzelnen bedeuten. Sie können im Einzelfall das Leben erleichtern, wichtige Fortschritte bringen.Der Bundeskanzler hat den Kriegsopfern in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 strukturelle Verbesserungen in Aussicht gestellt.
Entsprechend der Koalitionsvereinbarung wird die Bundesregierung auch darüber entscheiden, welche strukurellen Verbesserungen im Bereich der Kriegsopferversorgung sachlich geboten sind. Das wird im Zusammenhang mit der Gesamtwürdigung der Haushaltslage geschehen. In die Vorbereitung dieser Entscheidung werden die Vorschläge des Bundesrates und der Verbände einbezogen.Ein neues Kapitel der Sozialpolitik schlagen wir mit der Strukturreform des Gesundheitswesens auf. Wir wollen die häusliche Pflege in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufnehmen.
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Bundesminister Dr. BlümDas ist auch ein wichtiger Beitrag, der der Kriegsopfergeneration zugute kommt, gerade denjenigen, die zu Hause gepflegt werden. Wir wollen, daß Pflegebedürftige in der ihnen vertrauten Umgebung von ihnen vertrauten Menschen gepflegt werden.
— Ich zeige in einem Gesamtüberblick, welche gesetzlichen Änderungen gerade für eine Generation Verbesserungen bringen, die unter dem Krieg sehr gelitten hat. Das ist eine ganz praktische Sozialpolitik.Die wichtigste sozialpolitische Nachricht des Tages ist: Die Kriegsopferrenten sollen bei Preisstabilität um 3 % erhöht werden. Das ist ein Gewinn an Kaufkraft, ein Gewinn für eine Generation, der wir zu Dank und Anerkennung verpflichtet sind.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Weiler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Durchsicht des vorliegenden Gesetzentwurfes zur siebzehnten Anpassung der Kriegsopferversorgung und beim Nachlesen der Debatte vor knapp einem Jahr über die sechzehnte Anpassung konnte ich die Enttäuschung, die Empörung und auch die Resignation der betroffenen Kriegsopfer und ihrer Verbände sehr wohl verstehen.
Auch ich als Neuling in diesem Parlament habe mich noch nicht damit abgefunden, daß offiziellen Zusagen, sogar in der Regierungserklärung vom 18. März 1987, nicht die konkreten Taten folgen und daß die Einsicht zur notwendigen Veränderung nicht umgesetzt wird. Für mich persönlich ist das ein Zeichen politischer Unglaubwürdigkeit.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, wie ernst nehmen Sie eigentlich die Anhörungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung?
Die dringende Notwendigkeit der strukturellen Weiterentwicklung der Kriegsopferversorgung ist schon im Verlauf der Sachverständigenanhörung zum letzten Anpassungsgestz besonders deutlich geworden.
Von den dort gehörten Sachverständigen ist unmißverständlich klar gemacht worden, daß die altersbedingt besondere Situation in der Kriegsopferversorgung sofortige Leistungsverbesserungen notwendig mache. Insbesondere im Hinblick auf das inzwischen hohe Durchschnittsalter der Beschädigten und Hinterbliebenen sei ein weiteres Hinausschieben nicht zu verantworten. Im Ergebnis würde das sonst dazu führen, daß über hunderttausend Versorgungsberechtigte die Leistungsverbesserungen nicht mehr erleben würden.Herr Bundesminister, Sie haben eben von kleinen Schritten gesprochen. Ich bin sehr überrascht: Von diesen kleinen Schritten an strukturellen Verbesserungen ist in Ihrem Gesetzentwurf nichts zu merken.
Wenn ich Ihre Stellungnahme noch einmal zitieren darf: Zu den Vorschlägen des Bundesrates zum 16. Anpassungsgesetz haben Sie gesagt, Sie möchten diesmal noch keine strukturellen Verbesserungen machen, weil es zeitlich noch überdacht werden müsse. Diese Zeit haben Sie nun ein Jahr gehabt, und noch immer liegt nichts vor.Die Anpassung zum 1. Juli 1988 um voraussichtlich rund drei Prozent ist sicherlich eine erfreuliche Sache, aber bevor wir sie zu euphorisch feiern, möchte ich drei Punkte kritisch anmerken:Erstens. Der vorliegende Entwurf umfaßt lediglich die jährliche Anpassung nach dem Bundesversorgungsgesetz, die eh eine gesetzliche Verpflichtung ist.Zweitens. Durch die Ausirkungen der mit den Haushaltsbegleitgesetzen von 1983 und 1984 eingeführten Rentenkürzungsmechanismen hatten die Kriegsopfer erhebliche Einbußen zu erleiden. Noch 1986 waren die Kriegsopferrenten um real 0,3 Prozent niedriger als 1982. Erst seit dem letzten Jahr ist ein spürbarer Einkommenszuwachs zu verzeichnen.Drittens. Die dringend erforderlichen strukturellen Weiterentwicklungen fehlen immer noch.Der Gesetzentwurf kann nicht so bleiben wie er ist. Er wird in seiner jetzigen Form weder aus sozialpolitischer noch aus entschädigungsrechtlicher Sicht der Bedarfssituation der Kriegsopfer gerecht. Wir Sozialdemokraten werden bei den weiteren Beratungen im Ausschuß die dringend notwendigen strukturellen Veränderungen einbringen. Dies duldet keinen weiteren Aufschub, wenn Sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, auch in der Kriegsopferversorgung wie bei den Trümmerfrauen Politik mit der Sterbetafel zu machen.
Jede weitere Verzögerung ist bei einem Durchschnittsalter des betroffenen Personenkreises von 69 bzw. 75 Jahren, bei denen sich die Schädigungsfolgen auch noch immer stärker bemerkbar machen, der blanke Hohn. Mit den Vertröstungen, Herr Blüm, auf die zweite Hälfte der Legislaturperiode muß endlich Schluß sein. Dies ist unverantwortlich und unzumutbar für die Kriegsopfer.Die für die strukturelle Reform notwendigen Mittel sind durchaus vorhanden. Durch den Rückgang der Zahl der Versorgungsberechtigten ergeben sich sehr wohl Finanzspielräume. Nur scheint es, daß die Regierung gerne jede Mark aus dem Sozialetat zur Finanzierung ihrer fragwürdigen Steuerpläne und zur Sanierung der katastrophalen Staatsfinanzen verwenden möchte. Auch in diesem Gesetzentwurf wird wieder einmal deutlich, was die Richtschnur christlichliberaler Politik ist: Nach der Devise „Nimm es den Armen und gib es den Reichen" werden die massiven
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4819
Frau WeilerSteuergeschenke für Spitzenverdiener durch das Steuerpaket 1990 auch durch die Verweigerung von strukturellen Leistungsverbesserungen in der Kriegsopferversorgung mitfinanziert. Durch die geplanten Belastungen, Herr Blüm, nach dem Kostendämpfungsgesetz im Gesundheitswesen wird dieser Personenkreis noch zusätzlich betroffen.Mit besonderer Sorge betrachte ich die Situation der Kriegsopferwitwen. Diesen Frauen war es nicht möglich, eigene Rentenansprüche zu erwerben, weil sie den größten Teil ihres Lebens mit der Pflege ihrer versehrten Männer verbracht haben. Sie trifft ein Los, das sich in das von der Koalition gewünschte Frauenbild wohl besonders harmonisch einfügt. Schöne Dankesworte, ein warmer Händedruck und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für den aufopfernden pflegerischen Einsatz in 45 Ehejahren können und dürfen nicht die Alternative zu einer angemessenen Versorgungsleistung sein.
Ein großer Teil der dringend notwendigen strukturellen Leistungsverbesserungen, die auch die Verbände so eingefordert haben, würden den Ehefrauen bzw. den Witwen Hilfe schaffen. Wir Sozialdemokraten haben mit Freude zur Kenntnis genommen, daß einzelne Länder im Bundesrat und auch die Arbeits- und Sozialministerkonferenz im September letzten Jahres Verbesserungsvorschläge eingebracht haben. Wir hoffen, daß die Koalitionsfraktionen mit uns gemeinsam den vorliegenden Gesetzentwurf zum Wohle der Betroffenen noch einmal überarbeiten werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Louven.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1,5 Millionen Kriegsopfer erhalten ab 1. Juli 1988 höhere Leistungen. Die Steigerung von 3 % bedeutet, daß zum dritten Jahr in Folge unsere Kriegsopfer ein echtes Mehr haben.
Die von dieser Regierung erreichte Preisstabilität kommt auch unseren Kriegsopfern zugute. Wir begrüßen dies.
Die Verbände der Kriegsopferfürsorge fordern darüber hinaus strukturelle Verbesserungen. Ich denke, dies ist ihr gutes Recht, vielleicht auch ihre Pflicht.
— Ja, ja. — Auch der Bundesrat hat strukturelle Verbesserungen vorgeschlagen.
Wir werden diese wie die der Verbände sehr ernsthaft prüfen.
— Frau Weiler, nun warten Sie doch einmal. Ich bin doch erst am Anfang meiner Rede.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 ausdrücklich eine Weiterentwicklung der Kriegsopferversorgung zugesagt,
jedoch auch zum Ausdruck gebracht, daß Leistungsgesetze erst in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode möglich sind. Vor diesem Hintergrund ist es unredlich, dem Bundeskanzler Wortbruch vorzuwerfen.
Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen dennoch, wie im vorigen Jahr versprochen, auch mit diesem Gesetz strukturelle Verbesserungen erzielen. Ich sehe hierfür eine gute Chance, kann mir jedoch nicht vorstellen, daß sich diese in der Größenordnung, wie von den Verbänden und vom Bundesrat gefordert, bewegen werden.
Im übrigen möchte ich an dieser Stelle auch darauf hinweisen dürfen, daß trotz der finanziellen Schwierigkeiten im 14., 15. und 16. Anpassungsgesetz KOVstrukturelle Verbesserungen erreicht werden konnten. Diese verursachen Mehrkosten von jährlich 95 Millionen DM. Vergleicht man den Anpassungssatz mit den Sätzen der Jahre 1978 bis 1982, bei denen nicht einmal die Höhe der Inflationsrate erreicht wurde und strukturelle Verbesserungen, Frau Weiler, überhaupt nicht stattfanden,
so kann sich unsere Kriegsopferversorgung weiß Gott sehen lassen.
Wenn Sie sagen, die Kriegsopfer seien von diesem Gesetzentwurf enttäuscht und empört, und wenn Sie hier weiter sagen, auch dieser Gesetzentwurf verfahre wieder nach dem Motto: „Nimm es den Armen und gib es den Reichen! ", dann muß ich Sie fragen: Wie empört sind wohl die Kriegsopfer von 1978 bis 1982 gewesen? Im Jahre 1978 haben Sie nicht einmal eine Anpassung vorgenommen. Dies ist die Wahrheit.
Daß die Kriegsopferversorgung nicht Stiefkind unserer Sozialpolitik ist, sollen einige Zahlen deutlich machen: Von 1983 bis 1987 ging die Zahl der Anspruchsberechtigten um 14,6 % zurück,
die Summe der Aufwendungen jedoch nur um 4,7 %. Für eine Million Kriegsopfer wurden 1983 7,086 Milliarden DM ausgegeben, im Jahre 1987 waren es 7,89 Milliarden DM. Diese Zahlen beweisen, daß die Kriegsopfer, seit Norbert Blüm Sozialminister ist, an der wirtschaftlichen Entwicklung Anteil hatten. Einen Stillstand hat es seit 1983 nicht gegeben, und es wird keinen Stillstand geben.
Wir begrüßen es auch, daß durch die beabsichtigte Strukturreform im Gesundheitswesen keine negativen Folgen für die Kriegsopfer entstehen. Die Auf-
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Louven
nahme der ambulanten Pflege bedeutet für die Anspruchsberechtigten in vielen Fällen Erleichterung.
Strukturelle Verbesserungen in der Kriegsopferversorgung werden uns — ich führte das schon aus — in Zukunft beschäftigen müssen.
Neben den erwähnten Punkten nenne ich den Berufsschadensausgleich, die Ausgleichsrente und die Leistungen an Kriegsopfer, die der Pflege bedürfen. In diesen Bereichen bedarf es sorgfältiger Überlegungen, um zu einem gerechten System zu kommen.
— Sie sollten sich mit Zwischenrufen wie „Seit fünf Jahren! " zurückhalten, nachdem ich Ihnen soeben gesagt habe, wie Sie es praktiziert haben.
Es ist zu prüfen, ob eine differenzierte Lösung gefunden werden kann, die sicherstellt, daß der wirtschaftliche Schaden in vielen Fällen annähernd abgegolten wird und eine Überkompensation nicht stattfindet. Hierbei sind wir auf den Rat und die Mitarbeit der Kriegsopferverbände angewiesen.
So wichtig strukturelle Verbesserungen auch sind, die Verläßlichkeit der jährlichen Anpassung ist für unsere Kriegsopfer sicher das wichtigste Element ihrer Lebensführung.
Solidarität mit den Kriegsopfern ist unsere Aufgabe. Ihre Generation war es, die unseren Staat nach dem Zusammenbruch aufgebaut hat. Die Kriegsopfer haben trotz ihrer gesundheitlichen Schädigung oder eines schweren persönlichen Schicksals maßgeblichen Anteil daran gehabt. Dafür gebührt ihnen unsere Anerkennung.
Wir fühlen uns als Anwalt dieser Generation, die nun, da sie älter geworden ist, unseren besonderen Beistand braucht.
Die deutschen Kriegsopfer können sich auf uns verlassen.
Wir stimmen der Überweisung zu und bitten um zügige Beratung, damit das Gesetz pünktlich in Kraft treten kann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Herr Minister ganz besonders! Und die christliche Grundwertepartei im besonderen! Ich bin ja immer wieder begeistert, wieflüssig Ihnen das von den Lippen geht: „Dank und Anerkennung".
Und ich bin immer wieder begeistert, wie ich von Ihnen lernen kann, wie man vielleicht draußen die Alten noch mehr mit Sabberreden täuschen kann. Sie wagen es, das Wort der Kriegsopferverbände in den Mund zu nehmen. Sie wagen es, zu sagen, sie sollen uns mit Rat und Tat zur Seite stehen.
— Ja, natürlich, und wie die zusammenarbeiten! Nur, was nutzt das denn auf dem Papier? Sie tun doch nichts.
Sie gucken denen genauso treu in die Augen, wie Sie mir jetzt in die Augen gucken, und reden dann von 3 % , die Sie sowieso geben müssen, und erfüllen selber nichts.
— Aber, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich meine ja nicht ihre Pension oder so etwas. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind und ob auch Sie mit der Gnade der späten Geburt leben.
Auch das meine ich nicht. Dann halten Sie sich mal ruhig ein Stück bedeckt.
Ich meine, daß Sie nicht mal in der Lage sind, die geringen Forderungen des Bundesrats zu erfüllen. Das muß einen doch sehr, sehr stutzig machen.
Was wollen denn eigentlich die Kriegsopferverbände erreichen, wenn Sie nicht mal diesen Forderungen der Länder und Stadtstaaten, die einstimmig erhoben worden sind, folgen? Also: Asche auf Ihr Haupt! Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich muß Sie sonst politisch ernst nehmen. Und das kann ich nun absolut nicht.
Ich weiß, daß die GRÜNEN nicht von diesem hehren Verständnis getragen sind, wie Sie es hier so wunderschön christlich verständlich vortragen können. Die GRÜNEN sind ganz nüchterne Menschen,
die sagen: Die Menschen haben opfern müssen. — Denken Sie einmal an heute morgen. Tun Sie nicht so zynisch, ja! Da fallen die Flugzeuge vom Himmel, nur weil irgendwelche — das ist nicht parlamentsreif, was ich jetzt sage — Vollidioten das befehlen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4821
Frau UnruhUnd dann, was denn dann? Die, die das befehlen, bekommen die dicksten Abfindungen, die bekommen Schlösser hingesetzt,
die kriegen noch Rolls-Royce hingesetzt. — Ja, der Lafontaine will das ja vielleicht noch repräsentativ mit schönen Frauen, ja — hahaha.
Das ist doch ganz was anderes. Aber was macht denn so'n NATO-Generalsekretär damit? Was macht der denn? Ja, der verpaßt sich ein Schloß, der verpaßt sich einen Rolls-Royce und macht vielleicht auch noch ein ganz sehnsüchtiges oder samariterhaftes Gesicht und redet von Kriegsopfern.
Nein, es ist eine Schande für dieses Haus, daß wir das Wort „Krieg" und „Opfer" hier in der Bundesrepublik Deutschland auch noch 1988 überhaupt in den Mund nehmen müssen. Daran zeigt sich, wie wenig fähig dieses Parlament war, endlich einen Schlußstrich zu ziehen, die Menschen abzufinden, damit sie in ihrem hohen Alter endlich, so wie Sie mit Ihren Pensionen z. B., leben können.
Sie haben keine Nachteile, aber genau die alten Mütter, die alten Väter, Ihre eigenen Mütter und Väter, stehen doch dann draußen, drehen den Groschen nach wie vor zweimal um. Sie möchten auch mal gern alle fünf Jahre oder alle zehn Jahre zur Kur fahren; können sie aber nicht. Also gehen sie — —
— Hören Sie mal, was habe ich denn mit Ihrem Auto zu tun, was habe ich damit zu tun?
— Sie lenken aber wirklich dermaßen ballaballa ab,
daß ich mir sehr gut vorstellen kann, daß hier die Hälfte der CDU-Frauen sitzen muß. Denn in Ihre Betonköpfe geht's bei Gott nicht rein. Das, Herr Minister, haben Sie wieder bewiesen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kriegsopferfürsorge als Versorgungsleistung eigener Art hat die Aufgabe, den Kriegs-, Wehr-, Zivildienstopfern, den Opfern von Gewalt und anderen entschädigungsberechtigten Personen neben den übrigen Versorgungsleistungen individuelle Hilfe in allen Lebenslagen zu bieten. Als notwendige Ergänzung der Rentenversorgung hat sie im sozialen Entschädigungsrecht ihren gleichberechtigten Platz.
Mit diesem Zitat aus einer VdK-Schrift möchte ich zum Ausdruck bringen, daß auch wir, die Freien Demokraten, die Kriegsopferversorgung genauso einstufen und unser politisches Handeln daran ausrichten.
Verehrte Kollegin Unruh, das, was Sie soeben geboten haben, hat zwar einen hohen Unterhaltungswert gehabt,
ist aber dem Ernst der Dinge, dem Ernst der Sache nicht gerecht geworden.
Die Bundesregierung hat mit dem KOV-Anpassungsgesetz 1988 ein Gesetz vorgelegt, das in einer Anpassung sicherstellt, daß Kriegsopferrenten wie die Sozialrenten gleichermaßen dynamisiert werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Unruh?
Herr Präsident, ich habe nur noch vier Minuten.
— Wenn das geht, bin ich gerne bereit.
Ich schreibe Ihnen die Zeit gut.
Herzlichen Dank.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege, meinen Sie, daß man Sie mit Ihren Redensarten draußen ernst nimmt?
Auf diese Frage, falls es eine Frage gewesen sein sollte, werde ich Ihnen keine Antwort geben. —
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4822 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
HeinrichDiese Anpassung, von der ich soeben gesprochen habe, wird am 1. Juli 1988 wirksam und beträgt in diesem Jahr 3,1 %. Bei der gegenwärtigen Geldwertstabilität bedeutet das rund 2 % mehr in der Tasche der Hilfeempfänger. Das hat zur Folge, daß wir im Jahre 1988 mit 136 Millionen und im Jahre 1989 mit 262 Millionen DM Mehrausgaben des Bundes rechnen müssen. Insgesamt werden für diesen Personenkreis jährlich mehr als 12 Milliarden DM ausgegeben.Das ist sicher ein Niveau, das sich sehen lassen kann. Wir haben allen Grund, der Bundesregierung für ihre Politik zu danken, die eine solche Geldwertstabilität und damit gleichzeitig eine gute Sozialpolitik ermöglicht.
— Und ob sie etwas dafür kann!Als Sprecher meiner Partei möchte ich aber deutlich zum Ausdruck bringen, daß wir auf Grund des fortschreitenden Alters der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen weitere strukturelle Verbesserungen für notwendig halten. Da besteht ja Übereinstimmung; Sie kamen mit Ihrem nicht besonders hilfreichen Zwischenruf etwas zu früh.Das sage ich nicht zuletzt deshalb, weil wir im Wort stehen, denn bei der Beratung der sechzehnten Anpassung der KOV-Leistungen haben wir für die Mitte der Legislaturperiode strukturelle Verbesserungen angekündigt.
Ich stelle deshalb schon heute einen Änderungsantrag mit dem Ziel in Aussicht,
ab 1. Januar 1989 besonders vordringliche strukturelle Verbesserungen zu erreichen.
— Nun mal langsam! Wir schulden den Kriegsopfern Respekt und sind ihnen verpflichtet.
— Wir werden im Ausschuß erleben, ob Abstimmung besteht oder nicht — auch bei Ihrem Abstimmungsverhalten.
— Das habe ich nicht festgestellt.Die Opfer sind allerdings nicht allein durch Geld auszugleichen; das wissen wir alle. Finanzielle Leistungen bringen jedoch eine Erleichterung. Meine Damen und Herren, Sozialpolitik ist eine Sache nicht nur des guten Herzens, sondern auch des finanziellMachbaren. Ich hoffe, daß bei Herrn Finanzminister Stoltenberg beides vorhanden ist.
— Ich habe nicht Sie angeschaut! Ich wiederhole meinen letzten Satz, ohne Sie, gnädige Frau, anzusehen:
Sozialpolitik ist eine Sache nicht nur des guten Herzens, sondern auch des finanziell Machbaren. Ich hoffe, daß bei Herrn Finanzminister Stoltenberg beides vorhanden ist und daß wir dann in der dritten Lesung ein verbessertes Gesetz verabschieden können.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu ergänzende Vorschläge? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann wird so verfahren, wie in der Tagesordnung ausgedruckt ist.Meine Damen und Herren, ich gebe nun das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2103 bekannt. Abgegebene Stimmen: 348, davon ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben 145 Abgeordnete, mit Nein haben 201 Abgeordnete gestimmt. Es gab 2 Enthaltungen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 347; davonja: 145nein: 200enthalten: 2JaSPDFrau AdlerAmlingAndresAntretterBachmaierBahrBambergBecker Frau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrückBüchler Dr. von Bülow Frau Bulmahn BuschfortFrau Conrad Conradi Daubertshäuser DillerFrau Dr. DobberthienDuveDr. Ehmke Dr. Ehrenberg Dr. Emmerlich EstersEwenFischer Frau Fuchs (Verl) Frau Ganseforth GanselDr. GautierGilgesGrafGroßmannGrunenbergDr. HaackHaack Frau Hämmerle HasenfratzDr. HauchlerHeistermannHeyennHornJahn JaunichKastningKirschnerKißlinger
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4823
Vizepräsident Stücklen KloseKolbowKoltzschKretkowski KuhlweinLambinusLeidingerFrau LuukFrau Dr. Martiny-GlotzDr. MitzscherlingMüller Müller (Schweinfurt) MünteferingNagelFrau Dr. NiehuisDr. NieseDr. NöbelFrau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo PauliPeter PfuhlPorznerFrau Renger RixeRothSchanzScherrerFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. Schmude Schröer
SchützSeidenthal Frau SeusterFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingStahl SteinerFrau SteinhauerStieglerTietjenFrau Dr. Timm Toetemeyer Frau Traupe UrbaniakDr. VogelVoigt WeiermannFrau Weiler Weisskirchen Dr. WernitzFrau Weyel Dr. WieczorekFrau Wieczorek-Zeulvon der WiescheWimmer WittichZanderZumkleyDIE GRÜNENFrau Brahmst-Rock BrauerDr. BriefsDr. Daniels Frau EidFrau Flinner Frau Garbe HäfnerFrau Hensel Frau Hillerich HossHüserFrau Kelly Kleinert
Dr. Knabe Frau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau RustFrau SaiboldSchilyFrau Schmidt-Bott Frau SchoppeSellinStratmannFrau TeubnerFrau UnruhFrau Vennegerts WetzelFrau Wilms-Kegel Frau WollnyFraktionsios WüppesahlNeinCDU/CSUDr. AbeleinBauerBayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin) BiehleDr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Börnsen
Dr. Bötsch BohlBohlsen Borchert BreuerBühler Carstensen (Nordstrand) ClemensDr. CzajaDr. Daniels
Frau DempwolfDeresDörflinger Dr. DreggerEchternachEhrbarEigenEngelsbergerEylmann Feilcke Dr. Fell FellnerFischer Francke (Hamburg) FuchtelGanz
GeisDr. von GeldernGerstein Gerster
Dr. GöhnerDr. Götz GröblDr. GrünewaldGünther Dr. HäfeleFrau HasselfeldtHaungsHauser Hauser (Krefeld)Freiherr Heereman von ZuydtwyckFrau Dr. HellwigDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes Dr. HoffackerFrau Hoffmann
Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningDr. HüschDr. Jahn
Dr. JenningerDr. Jobst Jung
Dr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiDr. Köhler
KolbKossendey KreyDr. KronenbergDr. Kunz
LamersDr. Lammert LattmannDr. Laufs LenzerFrau LimbachLink
Link
Linsmeier LintnerDr. Lippold LouvenLowackLummerMaaßFrau Männle MaginDr. Mahlo MarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. Miltner Dr. Möller Müller
NelleDr. Neuling Neumann
Dr. Olderog OswaldFrau Pack PeschPfeffermann PfeiferDr. Pinger Dr. PohlmeierDr. Probst RauenRaweRegenspurgerRepnikFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) RossmanithDr. Rüttgers RufSauer
Sauer
Sauter
Sauter ScharrenbroichSchartz
Schemken ScheuFreiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schulte
Schulze (Berlin)
SchwarzDr. SchwörerSeehofer SeesingSeitersSpranger Dr. Sprung Dr. Stark
Dr. Stavenhagen Straßmeir StücklenSussetTillmannDr. Uelhoff Dr. Unland Frau VerhülsdonkVogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtDr. Waigel Dr. WarrikoffWeirichWeiß Werner (Ulm)Frau Will-FeldWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannWürzbach Zeitlmann ZiererZinkFDPBaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardDr. FeldmannFrau Folz-Steinacker FunkeGallusGriesGrünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrichDr. Hitschler HoppeDr. Hoyer KohnMischnick Neuhausen NoltingPaintnerRichterRindRonneburgerFrau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Thomae Wolfgramm Frau WürfelEnthaltenFDPDr. HirschDIE GRÜNEN KreuzederDamit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.
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4824 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Vizepräsident StücklenIch rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen
Grünbuch über die Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte— Drucksachen 11/930, 11/2014 —Berichterstatter:Abgeordnete Bernrath PfeffermannHierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2105 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat soll darüber eine Stunde diskutiert werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pfeffermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Ziel, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, ist im EG-Vertrag verankert. Dieser europäische Binnenmarkt ist integraler Bestandteil der politischen Einigung Europas. Es soll also ein Raum ohne Binnengrenzen mit 320 Millionen Einwohnern geschaffen werden, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet sein soll. Ein gemeinsamer Markt für Innovation und Kommunikation gehört dabei zu den unabdingbaren Voraussetzungen für den angestrebten freien Waren- und Dienstleistungsverkehr. Von daher bedeutet dieser Binnenmarkt ein neues Potential für wirtschaftliches Wachstum und damit für die Beschäftigung. Er bedeutet neue Chancen für den technologischen Fortschritt und gleichzeitig die Möglichkeit großer Kostenersparnis für die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten. Dieser Binnenmarkt ist die Voraussetzung dafür, daß Europa auf den rasant wachsenden Telekommunikationsmärkten insbesondere gegenüber den starken Konkurrenten USA und Japan im Wettbewerb bestehen kann.
Zur Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte hat die EG-Kommission ein Grünbuch vorgelegt. Wir begrüßen, daß die EG darin von dirigistischen Eingriffen in die organisatorische Zuständigkeit der Mitgliedstaaten absieht. Generelle Zeilsetzung des Grünbuchs ist die Schaffung eines offenen und mehr wettbewerbsorientierten Umfeldes für Telekommunikationsdienstleistungen und Endgeräte unter Wahrung der Integrität der Telekommunikationsnetze und der finanziellen Leistungsfähgikeit der Fernmeldeverwaltungen. Sie ist auf den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr ausgerichtet. Die Netzinfrastruktur und der Telefondienst, die infrastrukturell bedeutendste Telekommunikationsmöglichkeit, werden von der Wettbewerbsverpflichtung ausgenommen. Damit wird gleichzeitig auch die finanzielle Leistungskraft der Fernmeldeverwaltungen
zum Ausbau der Telekommunikationsnetze und ihre Innovation zur Erfüllung von Infrastrukturaufgaben erhalten.
Ohne diese Sicherstellung der Integrität der Telekommunikationsnetze, deren Ausbau und ihre Innovation kann ein öffentliches Fernmeldewesen den Ausbau und die Weiterentwicklung seiner Infrastruktur insbesondere auch in den ländlichen Bereichen und die Aufgaben der Daseinsvorsorge im Rahmen der vorgegebenen Gemeinwohlverpflichtung nicht erfüllen. Die Kommission akzeptiert im Grünbuch die unterschiedlichen Lösungsansätze für diese Aufgabe in den Staaten der EG und damit auch die Aufgabenstellung, wie sie das Grundgesetz der Deutschen Bundespost vorgibt.
Wir bedauern in diesem Zusammenhang, daß es im federführenden Ausschuß nicht möglich war, zu einer gemeinsamen Beschlußempfehlung mit der Opposition, zumindest mit der SPD, zu kommen. Leider hat dies die SPD kategorisch abgelehnt. Wenn ich mir heute den Änderungsantrag der SPD zu diesem Tagesordnungspunkt ansehe, bleibt es noch unverständlicher, warum sich die SPD einer gemeinsamen Stellungnahme versagt hat, denn die Teile Ihrer Beschlußempfehlung, meine Damen und Herren von der SPD, die sich auf das Grünbuch tatsächlich beziehen, hätten in eine gemeinsame Empfehlung eingebracht werden können bzw. sind sogar auch heute schon Bestandteil auch unserer Beschlußempfehlung. Jene sechs von acht Spiegelstrichen allerdings in Ihrer Empfehlung, die sich nicht auf das Grünbuch, sondern auf eine Neustrukturierung der Deutschen Bundespost beziehen, sind zum jetzigen Zeitpunkt eine Vorwegnahme einer Diskussion, die mit dem Grünbuch unmittelbar nichts zu tun hat. Wir jedenfalls haben nicht die Absicht, heute über die Neustrukturierung der Deutschen Bundespost zu sprechen, sondern über die Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte in der EG, und lehnen daher Ihren Änderungsantrag ab.
Wir begrüßen, daß die Beratung der Vorschläge der Kommission aus dem Grünbuch mit den interessierten Stellen in den Mitgliedstaaten bereits dazu geführt hat — da stimmen wir mit der großen Mehrheit der Bundesländer überein; übrigens auch denen der SPD — , daß sich ein Konsens vor allem in folgenden Punkten abzeichnet: erstens eine volle Liberalisierung des Marktes für Endgeräte und Berücksichtigung eines angemessenen Übergangszeitraums, zweitens eine Liberalisierung des Angebots von Mehrwertdiensten, drittens die Trennung hoheitlicher und betrieblicher Tätigkeiten der Fernmeldeverwaltungen, viertens die Orientierung der Gebührengestaltung an den Kosten, fünftens die Festlegung von europäischen Standards, wobei der Versuch unternommen werden muß, zu weltweiten Standards zu kommen, um auf diese Weise ein europäisches und weltweites Zusammenwirken der Dienste und Endgeräte sicherzustellen. Sechstens. Daß dabei für die Fernmeldeverwaltung die volle und aktive Beteiligung am Wettbewerb auf gleicher Basis sichergestellt sein muß, ist für uns nicht nur selbstverständlich, sondern unabdingbar.
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Pfeffermann
Wir verhehlen nicht, daß wir es mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis genommen haben, daß die Kommission erst jetzt, nämlich mit Schreiben vom 5. Februar, zum Ausdruck gebracht hat, daß sie die Notwendigkeit einer gemeinsamen Analyse der sozialen Auswirkungen und Bedingungen für einen sozial akzeptablen Wandel erkannt und leider erst jetzt entsprechende erste Aktivitäten auf europäischer Ebene eingeleitet hat; denn wir sind der Auffassung: sozialer Konsens, Akzeptanz neuer Technologien und strukturelle Veränderung sowie flankierende Maßnahmen auch im Bereich des Datenschutzes gehören mit zu den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung gemeinsamer Positionen.
Es gibt eine Reihe von Punkten, bei denen die Erörterung gezeigt hat, daß eine weitere Diskussion und genaue Definition erforderlich sind. So muß die Entwicklung einer einheitlichen europäischen Position zur Satellitenkommunikation vertieft werden. Wir würden uns als Bundesrepublik Deutschland von der allgemeinen Entwicklung absetzen, wenn wir hier die Entwicklung in anderen europäischen Staaten negieren wollten. Unser Ziel muß es sein, im internationalen Bereich die bestehende Politik kontinuierlich weiterzuführen und weiter darauf zu achten, daß bestehende Satellitensysteme nicht in Frage gestellt werden.
Die Entwicklung von europaweiten Telekommunikationsdiensten unter Beachtung der jeweils erforderlichen Kompatibilität und Interoperabilität ist im Interesse der Schaffung besserer Wettbewerbsbedingungen für die Bürger wie für die Anwender unerläßlich. Das von der Kommission angestrebte gemeinschaftsweite Diensteangebot muß allerdings nach unserer Auffasung auf eine flächendeckende Infrastruktur ausgerichtet sein. Dienste dieser Art dürfen nicht zu einem neuen Gefälle von Ballungsgebieten zu ländlichen Räumen führen.
Zur Entwicklung gemeinsamer Tarifgrundsätze sind wir mit der Kommission der Meinung, daß unter Wettbewerbsgesichtspunkten eine Annäherung der Tarifstrukturen wünschenswert ist. EG-einheitliche Tarifhöhen erscheinen uns auf absehbare Zeit nicht erreichbar. Letztlich ist eine stärkere Orientierung der Tarife an der tatsächlichen Kostenstruktur aus Wettbewerbsgründen zwischen den einzelnen Staaten dringend geboten; denn der zunehmende Wettbewerb auf den internationalen Fernmeldemärkten macht nicht mehr an den Grenzen der Bundesrepublik halt. Überzogene Tarife können schnell von Verlagerungen zu Telekommunikationszentren ins Ausland führen.
Die Voraussetzungen für die Nutzung fortgeschrittener Telekommunikationssysteme zur Entwicklung benachteiligter Regionen der Gemeinschaft sollen im Rahmen des bestehenden STAR-Programms weitergeführt werden. Dabei muß die Bundesregierung gegenüber der EG darauf bestehen, daß Beschaffungen aus Fördermitteln der Gemeinschaft EG-weit ausgeschrieben werden.
Wenn wir uns aus politischer Überzeugung für die Durchsetzung eines europäischen Telekommunikationsmarktes einsetzen und dazu die Öffnung des Marktes für mehr Wettbewerb befürworten, so muß
dies ein fairer Wettbewerb sein, d. h. eine ausgewogene Anwendung der Wettbewerbsregeln für private Anbieter und die öffentlichen Fernmeldeverwaltungen gleichermaßen gegeben sein. Eine klare Definition des Netzzugangs für Mietleitungen für öffentliche Datennetze und das ISDN ist gleichermaßen Voraussetzung für einen fairen Wettbewerb.
Im Rahmen der europäischen Entwicklung wird die deutsche Bundespost nicht länger am Monopol des einfachen Telefonhauptanschlusses festhalten können. Wir müssen darauf bestehen, daß eine Freigabe dieses Monopols nicht ausschließlich zu Lasten der kleinen und mittleren Gerätehersteller in Deutschland geht. Durch eine ausreichende Übergangsfrist muß es gerade diesen Herstellergruppen ermöglicht werden, sich auf die neuen Marktbedingungen einzurichten.
Neben den großen Chancen bringt der europäische Binnenmarkt die Notwendigkeit der Umstrukturierung in vielen Bereichen mit sich. Durch geeignete Maßnahmen diese Umstrukturierung rechtzeitig zu bewältigen, ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Industrie, der Wirtschaft, der Verwaltungen. Vor diesem Hintergrund ist die zeitliche Zielsetzung der Kommission sehr ehrgeizig. Wir sehen darin aber eine Rahmenplanung, auf deren Basis konkrete Vorlagen entwickelt und entschieden werden müssen, und sind bereit, diesen Weg mit zu unterstützen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bernrath.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Das uns von der EG-Kommission vorgelegte Grünbuch über die Entwicklung des gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und -geräte ist, meine ich, zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Einerseits zeigt es uns nämlich frühzeitig die Schwierigkeiten auf, denen wir auf dem Weg hin zu einem gemeinsamen Markt noch begegnen werden, andererseits vermitteln uns das Grünbuch und die daran geknüpften Diskussionen hier und in den übrigen EG-Staaten wichtige Maßstäbe für bevorstehende Entscheidungen, etwa zur Verfassung der Post, und diesen vorausgehenden ordnungsrechtlichen Veränderungen.Aber ich möchte feststellen, daß wir bei der Einschätzung des Inhalts dieses Grünbuchs zunächst einmal im Grundsatz übereinstimmen, auch nach dem, was ich eben von Ihnen gehört habe, Herr Pfeffermann. Aber es gibt eben einige doch wesentliche Einzelpunkte, über die wir uns sicherlich auch in den nächsten Jahren noch werden auseinandersetzen müssen. Wir stimmen überein, weil wir wissen, daß eine moderne, leistungsfähige Telekommunikationsinfrastruktur angesichts der zunehmenden Bedeutung, die Information und Kommunikation für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaften haben, unverzichtbar ist. Das Ziel der EG-Kommission, ein technisch fortgeschrittenes, europaweites und preisgünstiges Telekommunikationsnetz zu schaffen, wird daher auch von uns begrüßt. Eine gemeinsame Politik der Gemeinschaft ist also auch in dieser Hin-
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4826 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bernrathsicht wünschenswert, ich meine sogar erforderlich, um auf dem sich explosionsartig entwickelnden Weltmarkt für Telekommunikations- und Informationstechnologien überhaupt bestehen zu können und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, ja Umwälzungen, im Zuge einer gemeinsamen europäischen Strategie langfristig zu gestalten.Aber die bisher in der EG gesammelten Erfahrungen legen dringend nahe, insbesondere dann das Tempo auf einem solchen Weg nicht zu sehr zu beschleunigen, wenn die nationalen Voraussetzungen für das Zusammenwachsen eines Marktes, also auch dieses Marktes, in vieler Hinsicht so unterschiedlich sind wie im Telekommunikationsmarkt in den EG-Staaten. Darum warnen wir davor, den von der EG-Kommission vorgesehenen Zeitrahmen — Richtlinie nach Art. 90 Abs. 3 des EG-Vertrages bereits im ersten Halbjahr 1988 und dann das Zusammenwachsen des Marktes in den angegebenen Etappen bis 1992 — als unabdingbar anzusehen. Gerade wegen der unterschiedlichen nationalen Märkte und vor allen Dingen der Angebote und der Notwendigkeit, im gleichen Zeitraum auch unserer Leistungen im Telekommunikationsmarkt besser für den Wettbewerb im außereuropäischen Bereich auszurüsten, könnten die europäischen Entwicklungen sonst sehr gestört werden oder auch in Unübersichtlichkeiten untergehen.EG-einheitliche Regelungen für den Telekommunikationsmarkt dürfen darum auch nicht auf wirtschaftliche Betrachtungen eingeengt werden. Die Nachrichtenübermittlung ist in der Bundesrepublik bewußt als öffentliche Aufgabe im Grundgesetz festgelegt. Die Sicherstellung der notwendigen Infrastrukturen für das Post- und Fernmeldewesen ist, meinen wir, nach wie vor eine Kernaufgabe des Staates. Die Deutsche Bundespost, die diese Aufgabe wahrzunehmen hat, darf nicht allein wirtschaftliche Interessen von Großanwendern und Herstellern auf dem Telekommunikationsmarkt berücksichtigen. Sie hat vielmehr die Verpflichtung, im Rahmen der Daseinsvorsorge dafür zu sorgen, daß zur Erreichung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik alle Bürger in allen Regionen geschäftlich und privat Leistungen des Post- und Fernmeldewesens zu gleichen Bedingungen in Anspruch nehmen können.Vor diesem Hintergrund sind die vorgeschlagenen Positionen der EG-Kommission zu bewerten. Wir haben unsere Bewertungen dazu in unserem Änderungsantrag dargelegt. Wir bedauern auch, daß wir das nicht gemeinsam machen konnten, aber an ein, zwei Punkten wird sicherlich deutlich, daß es dort eben kardinale Unterschiede gibt, auch sehr unterschiedliche Einschätzungen bei Ihnen, die Sie zunächst mal Ihrem vermeintlichen Verpflichtungen unterordnen, die aber sicherlich in den nächsten Monaten, Jahren, auch im Zusammenhang mit den bevorstehenden aktuellen Fragen hier in der Bundesrepublik noch verhandelt werden.Ich möchte darum ergänzend nur einige dieser Positionen, die wir in unserem Änderungsantrag zusammengestellt haben, begründen. Das Netzmonopol ist für uns ein ganz wesentlicher Punkt. Ich war sehr verwundert, daß Sie so kategorisch sagen, das sei für Sieeigentlich geregelt. Das ganze Netz einschließlich der Zuwachsnetze für Mobilfunk und Satellitenkommunikation muß im Monopol der Deutschen Bundespost verbleiben. In der Anhörung des Postausschusses ist deutlich geworden, welche Konsequenzen ein Aufspalten der Netze hätte. Selbst die teilnehmenden Vertreter der deutschen Industrie und Wirtschaft haben, wenn auch behutsam, doch sehr deutlich zugunsten der Erhaltung eines Monopolnetzes gesprochen.Dabei unterstellen wir — und dem wurde auch in der Anhörung nicht widersprochen — , daß zum Netz auch alle Vermittlungseinrichtungen gehören. Die extrem unterschiedlichen Positionen in bezug auf das Netz, besonders auf den Mobilfunk und die Verteilkommunikation, erfordern ganz unterschiedliche Positionen in den einzelnen Ländern der EG. Sie erfordern ganz dringlich das Festhalten an einem einheitlichen Netzmonopol hier in der Bundesrepublik. Ausnahmeregelungen beim Mobilfunk und bei der Satellitenkommunikation sind daher von uns abzulehnen. Sie würden nach unserer Auffassung zu einer allmählichen Auflockerung des Netzmonopols führen und darüber hinaus angesichts der technischen Entwicklung einen erheblichen zusätzlichen Regulierungsbedarf in den Folgejahren nach sich ziehen.Das Netzmonopol der Post gewährleistet eine flächendeckende Versorgung, wie Sie sie auch fordern, zu gleichen Bedingungen auch bei künftigen Netzgenerationen. Ohne diese solide Basis der Alleinbetriebsrechte für das Netz können die für den Ausbau der Fernmeldeinfrastruktur notwendigen risikoreichen und sehr langfristigen Vorleistungen und das dafür erforderliche Kapital nicht erbracht werden.Im übrigen gilt es insbesondere, bei den Netzen den volkswirtschaftlichen Nutzen der sogenannten Externalitäten, wie es in der Anhörung hieß, also der Erreichbarkeit aller Netzteilnehmer zu erhalten und ständig zu verbessern. Ein hoher Qualitätsstandard in der Erreichbarkeit und in der Netzsicherheit setzt darum neben dem einheitlichen Netz auch Grunddienste im Dienstleistungsmonopol der Post voraus. Das ist der zweite Punkt, auf den ich noch eingehen wollte.Grunddienste sind besonders geeignet, die Erreichbarkeit zu verbessern. Darum ist unseres Erachtens das Dienstleistungsmonopol der Post nicht ausschließlich auf den einfachen Telefondienst zu beschränken. Infrastrukturleistungen, die unter anderem durch die Abdeckung eines allgemeinen Bedarfs und die Notwendigkeit der Flächendeckung, der Tarifeinheit im Raum, der Garantie von Dienstgüte und Kompatibilität und vieles andere gekennzeichnet sind, muß die Deutsche Bundespost auch künftig im Monopol bereitstellen können. In allen anderen Dienstleistungsbereichen, insbesondere bei den sogenannten Mehrwertdiensten wird eine Beteiligung privater Anbieter sicherlich möglich und auch richtig sein, wenn durch die Rahmenbedingungen sichergestellt ist, daß der Infrastrukturauftrag der Post nicht gefährdert wird.Die für den Ausbau und die Bereitstellung der Telekommunikationsnetze und -dienste notwendige Finanzkraft der Deutschen Bundespost darf nicht etwa durch Rosinenpickerei in diesem Zusammenhang ge-
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Bernrathschwächt werden. Die Eigenwirtschaftlichkeit der Post muß ebenfalls langfristig gewährleistet sein, damit die Deutsche Bundespost ihren gemeinwirtschaftlichen Auftrag auch unabhängig vom Bundeshaushalt durchführen kann. Sichergestellt sein muß auch, daß die Post in allen Dienstleistungsbereichen tätig sein, also sich am Wettbewerb beteiligen darf. Würde das Post- und Fernmeldemonopol aufgehoben, könnten die gemeinwirtschaftlichen Aufgaben — jedenfalls wenn man es über den Rahmen hinaus, wie wir ihn jetzt kennen, aufheben würde — nicht mehr erfüllt werden.Aus diesem Grund erachten wir es zusammen mit weiten Bereichen der deutschen Industrie für sinnvoll und erforderlich, um den freien Zugang zum Netz, insbesondere zu den Nicht-Sprachdiensten, zu ermöglichen, daß alle Dienste, die die Kommunikation erleichtern und die Erreichbarkeit des Netzes verbessern — das sind insbesondere die Grunddienste — , in das Monopol aufgenommen werden. Die EG ist offensichtlich unsicher, wenn sie für den Augenblick erkennt — wie es im Grünbuch heißt —, daß es dafür als Grunddienst eigentlich nur den Sprachdienst gibt, darüber hinaus aber nicht ausschließt, daß noch andere solche Grunddienste vorhanden sein mögen.Schließlich und zuletzt: Im Endgerätebereich muß sichergestellt sein, daß die Post auf dem Endgerätemarkt — ich sage das noch einmal — uneingeschränkt teilnehmen kann. Es muß verhindert werden, daß es über den Gemeinsamen Markt und seine Voraussetzungen zu Nachteilen für kleine und mittlere Gerätehersteller und die dort beschäftigten Arbeitnehmer kommt.Um ein europa- und weltweit funktionierendes Telekommunikationssystem auf hohem technischen Niveau zu ermöglichen und zu erhalten, sind an die Endgerätestandards auch künftig hohe einheitliche und verbindliche Qualitätsanforderungen zu stellen.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die EG-Kommission hat mit der Vorlage des Grünbuchs über die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte ein für die Entwicklung der Volkswirtschaften außergewöhnlich wichtiges Thema aufgegriffen. Die Kommission weist zu Recht darauf hin, daß die Stärkung des Telekommunikationsbereichs in der Gemeinschaft eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Förderung einer harmonischen Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit und eines wettbewerbsfähigen Marktes in der Gemeinschaft und zur Vollendung des EG-weiten Marktes für Waren und Dienstleistungen bis zum Jahre 1992 darstellt.Diese volkswirtschaftliche Betrachtungsweise scheint uns ganz besonders richtig zu sein, vielleicht richtiger als die betriebswirtschaftliche Betrachtungsweise, die in der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich gewählt wird, wobei dann mit dem Schlagwort operiert wird, die Post fit zu machen für die Zukunft.Schließlich geht es ja darum, die Wirtschaft der Europäischen Gemeinschaft mit einer wettbewerbsfähigen Telekommunikation zu versorgen. Das heißt, es muß sichergestellt werden, daß die Telekommunikation der europäischen Wirtschaft zu angemessenen, d. h. zu konkurrenzfähigen Preisen, angeboten wird. Der Telekommunikationsmarkt — darauf ist bereits von Herrn Pfeffermann und von Herrn Bernrath hingewiesen worden — ist der Markt der Zukunft. Während heute etwa 2 % des Bruttosozialproduktes im Telekommunikationsbereich erwirtschaftet werden, rechnet die EG-Kommission mit einem Anteil von 7 % im Jahre 2000. Dann sollen nach Schätzungen der Europäischen Gemeinschaft 60 % der Arbeitsplätze direkt oder indirekt von der Telekommunikation abhängig sein.Dies macht meines Erachtens die ungeheure Dynamik dieses Wirtschaftsbereiches aus und zeigt, welch große Bedeutung die Telekommunikation für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Hauptkonkurrenten, nämlich den USA und Japan, hat.Nach unserer Überzeugung kann diese Wettbewerbsfähigkeit nur durch die Schaffung eines offeneren, also eines liberaleren Marktes und durch mehr Wettbewerb erreicht werden. Hier unterscheiden wir uns grundlegend von den Sozialdemokraten. Das war ja auch einer der Gründe, warum wir im Ausschuß nicht zu einer gemeinsamen Erklärung gekommen sind.Zu Recht fordert die Europäische Gemeinschaft die Liberalisierung der Mehrwertdienste, um eine Verbesserung des Dienstangebotes, um eine Verbesserung der Leistung und der Preiswürdigkeit zu erreichen. Dazu gehört auch, daß der Endgerätemarkt voll liberalisiert und dem Wettbewerb ausgesetzt wird.Die Europäische Gemeinschaft, meine Damen und Herren, akzeptiert, daß die nationalen Fernmeldeverwaltungen die Netze bereitstellen und die Netzinfrastruktur vorhalten. Sie läßt aber gleichzeitig deutlich werden, daß sie auch liberalere Systeme in der Europäischen Gemeinschaft akzeptieren wird.Randwettbewerbe — darauf hat Herr Pfeffermann zu Recht schon hingewiesen — im Bereich der Satellitenkommunikation und des Mobilfunks werden von der Europäischen Gemeinschaft in diesem Zusammenhang ausdrücklich genannt. Wir Freien Demokraten — und das ist ebenfalls einer der Punkte, wo wir uns von der SPD maßgeblich und zum Teil auch von unserem Koalitionspartner in einzelnen Bereichen unterscheiden — sind für die Auflockerung des Netzmonopols, zumindest langfristig, unter wirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkten. Wir halten diese Entwicklung für sinnvoll.Die Europäische Gemeinschaft verkennt in ihrem Grünbuch nicht die Tendenzen in einzelnen Mitgliedsländern, die ausschließlichen und besonderen Rechte der nationalen Fernmeldeverwaltungen zu stärken.
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4828 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
FunkeWenn man den Änderungsantrag der Sozialdemokraten liest, kann man ja erkennen, daß immerhin eine so große und bedeutende Partei wie die SPD die Stärkung der nationalen Fernmeldeverwaltungen und nicht so sehr den Wettbewerb fordert.
— Ich habe Ihren Änderungsantrag gelesen.
Die EG weist jedoch zu Recht darauf hin, daß das Prinzip der Gewährung ausschließlicher Rechte restriktiv ausgelegt und in regelmäßigen Zeitabschnitten der Überprüfung unterliegen soll, beispielsweise durch die Monopolkommission.Die Monopole der Fernmeldeverwaltungen sollen nicht ausgedehnt werden. Eine solche Ausweitung würde auch dem Prinzip des Wettbewerbs und der Marktöffnung widersprechen. Wettbewerb und Marktöffnung sind die Grundvoraussetzungen dafür, daß Telekommunikationsleistungen zu wettbewerbsgerechten Preisen zur Verfügung gestellt werden und gleichzeitig Innovationen in diesem so wichtigen Markt erfolgen.Die Europäische Gemeinschaft weist weiterhin auf die Gefahren der Quersubventionierung hin und fordert, daß sich die Gebühren der allgemeinen Entwicklung, der tatsächlich entstandenen Kosten anzugleichen haben. Wir sind uns bewußt, daß eine Quersubventionierung, wie sie zur Zeit bei der Deutschen Bundespost erfolgt, nicht von heute auf morgen auf gehoben werden kann. Aber wir fordern, daß mittelfristig eine solche Aufgabe der Quersubventionierung angestrebt wird, weil nur auf diesem Wege die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft gestärkt werden kann.Bei all den Diskussionen um die Neuordnung der Deutschen Bundespost und des Telekommunikationswesens in der Bundesrepublik Deutschland wird allzuhäufig vergessen, daß wir in der Bundesrepublik und auch in Europa nicht mehr auf der Insel der Glückseligen leben, sondern in die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingebettet sind. Hier herrscht Wettbewerb, und diesem müssen wir uns erfolgreich stellen.Internationaler Wettbewerb setzt freien Zugang zu allen Märkten, und zwar ohne Protektionismus, voraus. Dies gilt auch für den deutschen und den europäischen Kommunikationsmarkt. Wir können und dürfen uns nicht vom Weltmarkt abschotten, sondern müssen offen nach innen und außen agieren.Wir dürfen im übrigen auch keine Vorwände für andere Staaten geben, ihr protektionistisches Verhalten mit unserem protektionistischen Verhalten zu rechtfertigen. Die EG-Kommission zeigt mit ihrem Grünbuch ein hohes Maß an Wettbewerbsbereitschaft auf. Dieses unterstützen wir, denn wir wissen: Eine Rückkehr zu nationalstaatlichen Fernmeldeverwaltungen mit größtmöglichem Monopol wird es mit uns nicht geben können und wäre auch nicht zweckmäßig. Damit schaden wir uns in Europa selbst.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sogenannte Postreform, aufbauend auf dem Bericht der Witte-Kommission und inzwischen vom Bundespostminister angekündigt, sowie das Grünbuch zur Telekommunikation der EG-Kommission haben gleiche Ziele.Das erste Ziel ist, der Wirtschaft Kostenerleichterungen zu verschaffen, der Wirtschaft, die gerade in der Bundesrepublik inzwischen händeringend nach Anlagemöglichkeiten für ihre riesigen liquiden Mittel, für ihren riesigen Reichtum, d. h. die Erträge und Kapitalrückflüsse aus der Vergangenheit sucht. Das ist ein ganz entscheidendes Grundmotiv dieser Art von sogenannter Postreform.Das zweite Ziel ist, die Bevölkerung dazu zu bringen, die unvermeidlichen Verschlechterungen und Verteuerungen bei der Versorgung mit den für ein Leben auf dem heutigen Niveau unerläßlichen Post- und Telekommunikationsdienstleistungen hinzunehmen. Der Bericht der EG-Kommission dient also gerade auch dazu, die sogenannte Akzeptanz — einer der arrogantesten Begriffe im übrigen, der je in diesem Zusammenhang geprägt worden ist — zu schaffen.Das dritte Ziel ist, bei der Bundespost die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ein weiterer Arbeitsplatzabbau stattfinden, daß mehr Leistungsdruck an den Arbeitsplätzen entstehen kann, dafür zu sorgen, daß mehr Kontrolle und Überwachung durch verschärfte Rationalisierung gerade auch im Zusammenhang mit der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien und insbesondere der IuK-Technologien stattfinden können.Das vierte Ziel ist, der Wirtschaft gerade auch durch verstärkt im internationalen Rahmen betriebene Entwicklungen die Möglichkeit zu geben, durch verschärfte Rationalisierung mit den Informations- und Kommunikationstechnologien und insbesondere mit dem ISDN-System und einer zahlenmäßigen Explosion der Anwendung auf der Grundlage dieses ISDN-Systems noch höhere Erträge aus den Beschäftigten und auch aus den Kunden z. B. durch Entwicklungen wie das Teleshopping und vielleicht eines Tages auch das Telebanking herauszupressen und herauszulokken.Wir GRÜNEN lehnen schon wegen dieser Ziele sowohl die Empfehlungen des Grünbuchs als auch die geplante Postreform ab. Diese Art von Politik ist praktizierter Sozialabbau. Die Postreform und die Empfehlungen des Grünbuchs sind Bestandteil einer durch und durch sozial-reaktionären Politik. Die EG-Kommission sattelt hier, wie sie das oft auch auf anderen Gebieten tut, einfach nur drauf.Die sogenannte Postreform und die Vorstellungen der EG-Kommission stehen in einer Reihe mit der Steuerreform und der geplanten Reform des Gesundheitswesens.
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Dr. BriefsDas Hauptmotiv des Telekommunikationsgrünbuchs der EG und auch der Postreform ist jedoch ein sogenanntes ordnungspolitisches Credo, ein ordnungspolitischer Glaubenssatz der Bundesregierung, ist oberflächlich die Schaffung von besseren und harmonischeren Wettbewerbsbedingungen usw. durch Öffnung der Märkte der IuK-Technologien über das heute bereits vorhandene Maß hinaus.In Wirklichkeit steckt dahinter jedoch etwas anderes. Das kommt auch in der Studie der EG-Kommission zum Ausdruck. Es geht um ein brutales Wachstumsdenken, um Wachstum, das die Wirtschaft wegen ihrer Überkapazitäten und ihrer riesigen, den Wettbewerb um weitere Anlagemöglichkeiten weiter verschärfenden — ich erlaube mir, hier einmal einen etwas saloppen Ausdruck einzuführen — vagabundierenden Kapitalien nicht mehr auf den Märkten durch Marktexpansion erreichen, sondern eben nur drinnen erreichen, aus den Betrieben, aus den Beschäftigten herausholen kann. Es muß ihnen abgepreßt werden. Dazu dient diese Entwicklung. Dazu dient gerade auch die sogenannte Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte.Dieser Prozeß soll beschleunigt werden, wie es im Klartext auch an mehreren Stellen des Berichts der EG-Kommission heißt. An die Stelle des auf Grund des überquellenden Reichtums der Betriebe immer weniger möglichen — um es noch einmal zu sagen — expansiven Wachstums soll mit Hilfe der IuK-Technologien ein intensives Wachstum treten mit noch weniger Arbeitsplätzen, mit noch mehr Leistungsdruck an den verbleibenden Arbeitsplätzen, mit mehr Nacht- und Schichtarbeit — ein ganz entscheidendes und zunehmend schwieriger werdendes Problem — , mit Kontischichten, mit mehr Rund-um-die-Uhr-Arbeiten und insbesondere eben auch mit mehr Kontrolle und Überwachung am Arbeitsplatz und im allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang.Diese Doppelstrategie ist die dem Telekommunikationsgrünbuch der EG und dem Witte-Bericht sowie in der Folge auch der Postreform zugrunde liegende wirkliche Logik. Das ist das, was Sie wirklich im Auge haben:
erstens neue Märkte für die Wirtschaft erschließen, damit sie ihre riesigen und weiter wachsenden Mittel — ich sage es nochmals — unterbringen kann — Herr Pfeffermann, Sie wissen ganz genau, daß das das Kernanliegen ist —,
damit sie diese Mittel rentabel unterbringen kann. Der zweite Bestandteil dieser Grundlogik ist: neue, verschärfte Rationalisierungs- und Kontrollmöglichkeiten mit den IuK-Technologien in allen Phasen des Arbeitsprozesses und in allen Funktionsbereichen der Betriebe zu schaffen und zu nutzen.Diese Wachstumshoffnung mag — das ist zu befürchten — an vielen Punkten wohl auch leider in Erfüllung gehen, allerdings zu Lasten von immer mehr Menschen in Betrieben und auch von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern. Nicht dagegen inErfüllung gehen werden die Wachstumshoffnungen, wie sie im Grünbuch geäußert werden.Die Informations- und Kommunikationstechnologien — Herr Pfeffermann, da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen —
sind nicht geeignet, um die heutigen oder gar die weiter wachsenden Probleme des Arbeitsmarkts der Zukunft zu lösen. Sie sind einfach universelle Rationalisierungs- und Kontrolltechnologien, deren Förderung nicht, wie es Grundzug des Grünbuchs und der Postreform ist, in einem geradezu chaotisch wildwüchsigen Prozeß immer weiter ausgebaut werden sollte, sondern die — in der Sprache der Gewerkschaft — „sozial beherrschbar" gemacht werden sollten. Das ist, denke ich, das Entscheidende, was im Zusammenhang mit dieser Entwicklung notwendig ist.Allerdings: Die Vorstellungen, wie man die Informations- und Kommunikationstechniken sozial beherrschbar machen kann, müssen auch und gerade — das sage ich als GRÜNER und auch als Gewerkschafter ganz bewußt an die Adresse der Gewerkschaften — in den Gewerkschaften noch erheblich weiterentwickelt werden. Dazu gehört nämlich auch die Nutzung von Mitteln wie Blockaden, Streiks, Dienst nach Vorschrift und ähnlichem. Dazu gehört der Verzicht auf sozial und umweltmäßig schädliche technische Entwicklungen. Und dazu gehören leider auch große Teile der IuK-Technologien.Weil es also darum gehen muß, mehr und nicht weniger Kontrolle auszuüben, sind wir GRÜNEN gegen die vom Grünbuch der EG-Kommission empfohlene Öffnung der Telekommunikationsmärkte für private Interessengruppen, die ihre Kapitalien noch mehr als bisher zu Lasten der Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen mit zusätzlichen Profiten bedienen lassen wollen.Wir fordern statt dieses chaotisch wildwüchsigen Prozesses einen gründlichen sozialen Dialog, wie er übrigens auch im Grünbuch an einer Stelle kurz gefordert wird, aber wie er praktisch im ganzen EG-Bereich absolut nicht praktiziert wird. Wir fordern die Aufrechterhaltung, nicht den Abbau der Gemeinwohlbindung der Post. Wir fordern nicht weniger, sondern mehr Transparenz und demokratische Kontrolle sowohl der Auswirkungen neuer Technologien als auch der politischen Prozesse, in denen über die Bundespost und die zukünftige Informationstechnikinfrastruktur entschieden wird. Die Kosten einschließlich der vollen Entwicklungskosten sollen gefälligst die tragen, die sich von neuen Technologien und von durch Telekommunikation gestützten Diensten Profite versprechen. Eine Entwicklung, wie sie beim Bildschirmtextsystem eingetreten ist, darf sich nicht wiederholen.Deshalb fordern wir volle Transparenz und frühzeitige Gegenmaßnahmen beim Arbeitsplatzabbau, z. B. durch Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich. Deshalb fordern wir Ausbau, nicht Abbau des Datenschutzes. Denn die Informations- und Kommu-
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Dr. Briefsnikationstechnologien können gläserne Bürger und Bürgerinnen und gläserne Beschäftigte schaffen.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme zu den letzten Sätzen.
Deshalb fordern wir Ausbau, nicht Abbau der parlamentarischen Kontrollen. In dieser Richtung — wie ich sie jetzt angedeutet habe — möchten wir gerne eine Postreform unterstützen. Andere Vorschläge von uns liegen seit längerer Zeit vor.
Der Änderungsantrag der SPD wird von uns ebenfalls abgelehnt, —
Herr Abgeordneter!
— da er beim traditionellen Muster —
Es geht beim besten Willen nicht.
— sozialdemokratischer Wachstums- und Technologiepolitik bleibt. — Ich kürze hier ab.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Linsmeier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat uns das Grünbuch vorgelegt. Sie hat in einem ganz entscheidenden Bereich, nämlich im Bereich der Dienste, eine Unterscheidung getroffen a) in reservierte Dienste — das sind Dienste, die im Monopol sind, würden wir sagen — und b) in nicht reservierte Dienste. Ich möchte an dieser Stelle — auch unter Bezugnahme auf unseren Antrag — diese Unterscheidung noch ein bißchen vertiefen und auf das näher eingehen, was sich daraus für uns ergibt.Es ist richtig, was vorher gesagt wurde: daß die Kommission eine begrenzte Zahl von Basisdiensten — sprich: Grunddiensten — zulassen möchte, und zwar in der Alleinverantwortung eines Anbieters. Alles übrige soll frei und dem Wettbewerb zugänglich sein.Die Kommission sagt, gegenwärtig komme in der Gemeinschaft dafür allein der Telefondienst — sprich: Sprachdienst — als einziger Bewerber in Frage. Wir sind insofern auch dieser Auffassung, als es sich dabei um den jetzigen Telefondienst handelt. Aber wir haben eine ganze Reihe von anderen Diensten, die die Deutsche Bundespost heute im Interesse eines flächendeckenden Angebots, im Interesse einer Vollversorgung, im Interesse vernünftiger Preise bundesweit anbietet. Wir möchten nicht, daß all diese Dienste so, wie sie heute sind, künftig sozusagen nur als freie Dienste angesehen werden können. Wir haben deshalb in unserem Antrag zwischen die Definition derBasisdienste der EG und der freien Dienste der EG eine Definition des Pflichtdienstes eingefügt.Wir bitten die Kommission, diese Überlegung in ihre weiteren Entscheidungen einzubeziehen. Dienste wie heute z. B. der Telefaxdienst, Teletex und Telexdienst sind für die Gesamtversorgung eines Landes von so großer Bedeutung, daß sie aus unserer Sicht nicht von vornherein und ohne flankierende Maßnahmen künftig allein dem Wettbewerb überlassen werden können. Wir sind der Auffassung, daß es sich dabei um Pflichtdienste handelt, die, bei der Deutschen Bundespost angesiedelt, auch künftig bundesweit sichergestellt sein müssen.Wenn dann beim Pflichtdienst zum Anbieter Deutsche Bundespost zusätzlich ein Wettbewerber tritt und dabei sichergestellt ist, daß er sich nicht nur die Rosinen herauspickt, nicht nur die Hauptdienste übernimmt und die Hauptstrecken bedient —
dafür sind Instrumentarien zu schaffen — , haben wir selbstverständlich auch nichts dagegen.
Dabei gehen wir bei den Pflichtdiensten und beim Telefondienst davon aus, daß das, was heute an Definitionen vorhanden ist — auch beim Sprachdienst —, nicht statisch ist.
Die Kommission weist selbst darauf hin, daß die Informations- und Kommunikationstechnologie eine sehr dynamische Technologie ist, eine Technologie der ständigen Weiterentwicklungen, der neuen Herausforderungen und der neuen Antworten auf diese Herausforderungen. Wenn aber diese Technologie eine dynamische ist, dann müssen die ihr zugrunde liegenden und ihr beigeordneten Begriffe — auch gesetzestechnische Begriffe — ebenfalls eine Dynamik in sich haben und nach vorne offen sein. Das heißt auf deutsch im konkreten Fall: Es kann natürlich nicht so sein, daß sich der Telefondienst nur im Sinne der reinen Sprachübertragung ohne irgendeine schon heute übliche Funktion am Endgerät definiert. Das würde im Grunde bedeuten, daß wir selbst von dem weggehen, was die Gemeinschaft sagt, daß wir nämlich die Begriffe so nehmen, so auswählen und so definieren, wie sie der Anschauung breiter Bevölkerungsschichten heute entsprechen.Ich darf ein Beispiel aus einem völlig anderen Bereich nehmen. Wir definieren etwa im Bereich des Wohnungsbaus das, was wir dort fördern und verlangen, wofür wir einen Zuschuß geben, auch nicht mehr nach dem Eigenheim von 1955. Wir haben dort Definitionen, die das Eigenheim von heute und das Eigenheim von übermorgen berücksichtigen. So brauchen wir es auch in der Telekommunikation, zumal dies ein sehr, dynamischer Markt ist.Ein zweiter Punkt, den ich neben dem Stichwort „Dienste" hier noch vertiefen möchte, bezieht sich auf Seite 12 der Vorlage der Kommission vom 9. Februar. Hier wird immer wieder von einem breiten Konsens bezüglich der vollen Liberalisierung, von einem brei-
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Linsmeierten Konsens bei der Liberalisierung des Angebots von Mehrwertdiensten und ähnlichem gesprochen. Immer wieder heißt es: breiter Konsens. Dieser breite Konsens ist in der Theorie sehr leicht herstellbar. Es wird sich nur die Frage stellen, ob dieser breite Konsens auch in die Realität Europas eingehen wird, z. B. bei der Liberalisierung des Endgerätmarktes, ob also die Normen und die Bestimmungen, die wir in der Bundesrepublik sicher sehr sauber, sehr präzise und in der Tradition preußischen Beamtenrechts umsetzen werden, in allen Ländern so angewandt werden und ob dort bei Ausschreibungen und der Vergabe von Aufträgen dieselbe Auffassung besteht wie bei uns, ob also entsprechend verfahren wird oder ob es zu gewissen anderen Verhaltensweisen kommt. Fragen Sie einmal bei den Landwirten nach, Herr Kollege Grünbeck, was man quer durch Europa für Erfahrungen macht: Wir eilen voraus, erfüllen treu und brav unsere Pflicht, während andere ihre Zeit brauchen, bis sie dahin kommen. Ich meine, das darf im Bereich des Telekommunikationsmarktes nicht auch noch passieren; es reicht, wenn wir das bei den Milchquoten haben.
— Herr Kollege.
Also eine Zwischenfrage.
Danke sehr. — Herr Linsmeier, ich habe nach langem Zuhören die Frage, ob der Eindruck trügt, daß Sie mit dem, was Sie hier vertreten, meilenweit von der Position entfernt sind, die der bayerische Ministerpräsident, Ihr Parteivorsitzender, noch vor der Wahl vertreten hat, und ob in der CSU inzwischen Meinungsfreiheit eingekehrt sein sollte.
Sie haben weder in der ersten Alternative noch in der zweiten Alternative den Punkt getroffen. Die Meinungsfreiheit ist bei uns in der CSU schon dagewesen, da gab es die GRÜNEN noch nicht.
Das zweite. Ein meilenweiter Dissens zwischen dem Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten und mir ist in dieser Frage überhaupt nicht gegeben. Im Gegenteil! Ich darf Ihnen bei der Gelegenheit sagen, daß das bayerische Kabinett am Dienstag nach einer gemeinsamen internen Vorbereitung z. B. beschlossen hat, daß das Netzmonopol der Deutschen Bundespost uneingeschränkt und ohne Ausnahme erhalten bleiben soll.
— Ich habe schon gesagt: Den Dissens, den Sie vermuten, gibt es nicht.
Ich darf zum Schluß kommen. Es wäre auf einen weiteren Punkt einzugehen, nämlich auf die Frage der Finanzkraft des Unternehmens Deutsche Bundespost und auf die Frage der künftigen Kosten- und Gebührenentwicklung. Wenn hier angeschnitten wurde, daß die Gebührengestaltung der allgemeinen Kostenentwicklung folgen soll, so ist dem natürlich zuzustimmen. Auf der anderen Seite werden die Kosten und die Gebühren — letztere vor allen Dingen — so zu
gestalten sein, daß die Deutsche Bundespost, aber auch ihre Mitbewerber, künftige Investitionen tätigen könnten. Wenn man aus dem Satz, wie er im EG-Grünbuch steht, den Umkehrschluß ziehen würde, wäre kein Dienst der Deutschen Bundespost je eingeführt worden, weil die ersten 10 000 Anschlüsse eben die teuersten sind.
Meine Damen und Herren, wir haben uns heute hier gleichzeitig etwas am Rande einer aktuellen Diskussion um die Reform der Post bewegt. Ich möchte deshalb zum Abschluß sagen: Ich bin überzeugt, daß die Deutsche Bundespost, ihre Mitarbeiter und die Bürger draußen im Lande vor dieser Postreform und vor dem, was die EG uns bringt, keine Angst zu haben brauchen. Die Bundespost ist das größte und ein leistungsfähiges Unternehmen, das niemanden, auch nicht im Wettbewerb, zu fürchten braucht.
Danke schön.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Börnsen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Worten des Kollegen Linsmeier mit Interesse zugehört, weil sie eine gewisse Nachdenklichkeit hinsichtlich der aktuellen Bedingungen bei der Neustrukturierung der Deutschen Bundespost bewiesen. Ich glaube, auch wenn man die aktuelle Berichterstattung — gerade auch in der heutigen Presse — liest, dann ist es sehr sinnvoll, daß man sich nachdenklich mit diesen Problemen beschäftigt, die eben nicht eine Lösung mit Schlagworten erfordern oder gar ermöglichen, sondern wo man durchaus gemeinsam überlegen muß, wie sich die Lösungsmöglichkeiten, die diskutiert worden sind, auf die nächsten Jahre auswirken. Insofern unterschied sich das durchaus von anderem, was wir gehört haben. Das ist mit Interesse festzustellen.Meine Damen und Herren, mein Kollege Hans-Gottfried Bernrath hat dargestellt, welche Ergänzungen und Änderungen nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion unverzichtbar notwendig sind, damit bei der von der EG-Kommission angestrebten einheitlichen europäischen Telekommunikationspolitik gravierende Nachteile für die Deutsche Bundespost vermieden und die Infrastrukturleistungen im Nachrichtenwesen für Bürger und Wirtschaft nicht gefährdet werden.Ich möchte in meinem Beitrag auf einen weiteren Aspekt, der mit einer Vereinheitlichung der EG-Telekommunikationspolitik verbunden ist, eingehen. In ihrem Grünbuch macht die EG-Kommission deutlich, daß nach ihrer Auffassung eine gründliche Analyse der sozialen Auswirkungen neuer Kommunikations- und Informationstechniken im Hinblick auf eine künftige Entwicklung ausschlaggebend sei. Mit dieser Feststellung unterscheidet sich die EG-Kommission erfreulicherweise von der Regierungskommission Fernmeldewesen, die über diese Zusammenhänge kein Wort verloren hat. Allerdings beschränkt sich die EG-Kommission auf diese eben erwähnte Feststellung; weiterführende Analysen oder gar Empfehlun-
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Börnsen
gen zur Lösung von Problemen werden nicht vorgelegt. Das halte ich für ein grobes Versäumnis.Es ist völlig unstrittig, daß die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien für unsere Gesellschaft große Vorteile haben, wenn es gelingt, die Anwendung und den Einsatz dieser Techniken sozial verträglich zu gestalten. Sozial verträgliche Gestaltung bedeutet aber, vorausschauend negativen Auswirkungen zu begegnen. Dies gilt ganz besonders im Hinblick auf die quantitativen und qualitativen Veränderungen des Arbeitsmarktes, die durch den Einsatz und die Anwendung der I- und K-Techniken zu erwarten sind.Um die Dimensionen deutlich zu machen: Nach Schätzung des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden etwa 13 Millionen Arbeitnehmer in den Anwenderbereichen betroffen. Rund 25 % aller Büroarbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland sind automatisierbar, also durch den Einsatz dieser Techniken gefährdet. Die hinreichend bekannte Siemens-Studie „Büro 1990" geht davon aus, daß etwa 2 bis 2,5 Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Zwar entstehen durch die Produktion und Entwicklung der neuen Techniken auch neue Arbeitsplätze; aber bisherige Erfahrung zeigt, daß damit die durch den Einsatz der neuen Techniken fortfallenden Arbeitsplätze nicht kompensiert werden. Die Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken" des Deutschen Bundestages, der ich in der 9. Legislaturperiode angehört habe, hat dies durch eine Fülle von Zahlenvergleichen belegt.Die technische Entwicklung hat nicht nur auf die Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch auf die Art der Ausführung der Arbeit gravierenden Einfluß. Aus Zeitgründen erwähne ich hier lediglich das Stichwort Heimarbeit und die durch Automatisierung fortschreitende Sinnentleerung und Monotonie von Tätigkeiten.Die Gefahren sind bekannt. Sie werden mit der Schaffung eines europäischen gemeinsamen Binnenmarktes für die Telekommunikation nicht geringer, sondern größer. Verantwortungsbewußtes Handeln auf dem Gebiet der EG-Telekommunikationspolitik setzt daher nach unserer Auffassung eine gründliche Analyse der Auswirkungen einer Liberalisierung des europäischen Telekommunikationsmarkts, wie die EG-Kommission sie anstrebt, und wirksame Vorschläge zur Abwehr möglicher Risiken voraus.Der zweite Punkt, auf den ich in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen möchte, ist die völlig unzulängliche Behandlung der Probleme des Datenschutzes. Auch hier muß die Kommission nacharbeiten. Die Erfahrungen bei der Einführung neuer Dienste im Fernmeldewesen bei uns haben schon unter den derzeit noch geltenden Bedingungen des Netz- und Dienstemonopols der Deutschen Bundespost gezeigt, wie schwierig es war, dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Geltung zu verschaffen. Ich verweise hier lediglich auf die bekannten Auseinandersetzungen bei der Einführung des Bildschirmtextes oder bei Telex.Mit der Liberalisierung, also der Zulassung privater Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungenund Endgeräten, wird sich diese Problematik verschärfen, denn die privaten Anbieter sind im nationalen Rahmen lediglich gehalten, die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes einzuhalten. Diese Bestimmungen reichen aber nicht aus, um den spezifischen Anforderungen im Datenschutz gerecht zu werden, die beim Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken durch Dezentralisierung, Kombination und Integration persönlicher Daten entstehen.Weil das so ist, hat die Deutsche Bundespost für ihren eigenen Bereich zwar noch nicht hinreichende, aber immerhin spezifische Regelungen für den Datenschutz getroffen. Private Anbieter sind an diese datenschutzrechtlichen Bestimmungen aber nicht gebunden. Die EG-Kommission ist daher aufgefordert, konkrete Vorschläge zu erarbeiten, die den gesteigerten Datenschutzbelangen Rechnung tragen.Der Kollege Linsmeier hat bereits auf die aktuelle Diskussion über die Neustrukturierung der Deutschen Bundespost Bezug genommen. Auch ich tue das, um die Belange der EG-Kommission und des Grünbuchs nicht allzu theoretisch zu behandeln. Nach meiner Überzeugung sollte ein Abgleich vorgenommen werden zwischen den Schwerpunkten des Grünbuchs, denen die Regierung und Koalition, wie wir gehört haben, gewissenhaft zustimmen, und den Realitäten der Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung zur Postreform.Ich möchte dies am Beispiel der vom Grünbuch angeregten Trennung von hoheitlichen und betrieblichen Funktionen offenlegen. Es ist ja kein Geheimnis, daß auch wir eine solche Unterteilung für sachgerecht halten:Einerseits die hoheitlichen Funktionen der Regulation wie Verteilung von Frequenzen, Vertretung in Standardisierungsgremien, u. a. Hier ist ohne Zweifel die hoheitliche Zuständigkeit der Regierung angemessen, damit auch das herzustellende Einvernehmen zwischen Postminister und anderen Regierungsressorts. Andererseits die operationelle Ebene der betrieblichen Funktionen, die dem Wettbewerb geöffnet sind oder ihm geöffnet werden sollen. Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können, braucht die Bundespost mehr Flexibilität, also die Möglichkeit, unternehmenspolitische Entscheidungen sachgerecht, den sich ändernden Marktbedingungen entsprechend kurzfristig zu treffen, also unabhängig von politischen Einflußgrößen.Allerdings: Eine Unterteilung hoheitlicher und betrieblicher Funktionen ohne entsprechende Konsequenz ist unsinnig, ist absurd, bedeutet sogar, die Bundespost in einen ungleichen, existenzgefährdenden Wettbewerb zu entlassen. Da sind offensichtlich unsere Unterschiede, Herr Funke: daß wir den Wettbewerb hinsichtlich der Auswirkungen auf die Bundespost auch prüfen und das nicht nur als eine ideologische Aussage betrachten.Angesichts der auch uns bekannten mangelnden Bereitschaft der betroffenen Ressorts der Bundesregierung, auf ihre bisher wahrgenommenen Einvernehmensregelungen zu verzichten, muß sich die Bundesregierung die Frage gefallen lassen, wie ernst sie
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Börnsen
eigentlich die Aussagen des Grünbuchs in der praktischen Regierungstätigkeit nimmt.Ich möchte dies, Bezug nehmend auf die Einwände der stellungnehmenden Ressorts der Bundesregierung, begründen — das ist ja gerade heute in der „Stuttgarter Zeitung" dargestellt worden — : Eine unternehmerisch orientierte Bundespost muß auch in der Lage sein, die Stellenbesetzung und -vergütung nach marktorientierten Kriterien vorzunehmen. Das aber wird ihr vom Innenminister offensichtlich kompromißlos verweigert, der auf einer restriktiven Auslegung des öffentlichen Dienstrechtes beharrt.Meine Damen und Herren, ist es vertretbar, die Bundespost in den Wettbewerb zu entlassen, wenn der Finanzminister über den Stellenkegel weiterhin uneingeschränkt mitbestimmen will? Wie ist es denn dann möglich, die notwendige Zahl von Ingenieuren einzustellen und leistungsgerecht zu vergüten — und das angesichts der rasanten technischen Entwicklungen?Wie will die Bundespost am Markt überleben, wenn sie im intelligenten Software-Bereich keine marktgerechte Vergütung von Spezialisten aus eigener Entscheidungskompetenz herbeiführen kann?Ist es nicht völlig absurd, daß der Wirtschaftsminister über Angebot und Tarife von Wettbewerbsdiensten auch künftig, Herr Funke, mitbestimmen will — und das in einem Verfahren, das sich über Monate hinzieht und die Stellung der Bundespost im Wettbewerb ganz entscheidend beeinträchtigt?Ist es zumutbar, daß der Finanzminister auf seine milliardenschwere Postabgabe aus rein fiskalischen Gründen nicht verzichten will, obwohl das Grünbuch die Mehrwertsteuer-Veranlagung vorschreibt? Soll es etwa zu einer Doppelveranlagung von Abgaben und Mehrwertsteuer kommen?Ist die Wettbewerbsgleichheit für das traditionelle Postwesen gewährleistet, wenn die EG-Regelung der Steuerbefreiung in der Bundesrepublik unberücksichtigt bleibt? Wir können uns gerne darüber unterhalten, daß eine Quersubventionierung nicht mehr erforderlich ist, wenn die „gelbe Post" keine Mehrwertsteuer abzuführen braucht. Setzen Sie das in der Bundesregierung durch!Meine Damen und Herren — ich komme zum Schluß, es leuchtet rot — , die Trennung von Hoheit und Betrieb kann und darf nicht als Selbstzweck angestrebt werden, sondern bedarf der konsequenten Ausgestaltung, um für uns überhaupt diskutabel zu sein. Zur Zeit besteht ein Widerspruch zwischen der Zielvorgabe und dem politischen Handeln. Es entsteht der Eindruck provinziellen Beharrens auf ministeriellen Eigeninteressen zu Lasten der Entwicklungsmöglichkeiten der Bundespost.Diesen Widerspruch aufzulösen ist Aufgabe der Bundesregierung. Aber die ist leider nicht vertreten.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2105. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/2014. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts
— Drucksache 11/1471 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Innenausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Straffreiheitsgesetzes 1987
— Drucksache 11/1472 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates Rechtsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser beiden Entwürfe mit zwei Beiträgen bis zu je fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Das heißt also, jede Fraktion hat zweimal fünf Minuten. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Wir werden so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Häfner.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Menschen in den Politikerinnen und Politikern. Wir verdanken es heute Hunderten von Bürgerinnen und Bürgern, die sich Gedanken gemacht und die sich in Mutlangen, in Hasselbach und anderswo für ihr Leben und für das Leben ihrer Kinder und Kindeskinder glaubwürdig und konsequent engagiert haben, daß sich hierzulande und im Ausland niemand mit den mörderischen Raketen abgefunden hat. Diesem ausdauernden Einsatz ist der Erfolg nicht versagt geblieben.
Wie aber dankt der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern für diesen Einsatz? Durch Diffamierung und Kriminalisierung versucht die Bundesregierung und versuchen die hinter ihr stehenden Kräfte und Parteien, die Menschen von der Wahrnehmung ihrer Rechte abzuschrecken, versucht sie, das im Keim zu ersticken, was in Deutschland so unpopulär, aber gerade nach den geschichtlichen Erfahrungen so unver-
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Häfnergleichlich wichtig ist, nämlich Mut, Engagement und Zivilcourage.
Als Mittel, die Demonstranten und friedlichen Blokkierer in den Mühlen der Justiz zu zerreiben, fand man den alten Strafrechtsparagraphen der Nötigung. Eine beispiellose Tragödie, eine Narrenposse der Justiz und der Politik war die Folge. Denn als Gewalttäter wird heute bezeichnet, wer sich friedlich vor ein Tor setzt, verwerflich hat gehandelt, wer für das Ziel eines friedlichen Zusammenlebens der Völker ohne Atomwaffen gewaltfrei demonstriert hat.Dabei wird bei weitem nicht jeder Blockierer bestraft. Entscheidend ist die politische Opportunität der Ziele. Zehn Minuten symbolisches Blockieren für den Frieden führen zu hohen Verurteilungen; der bloße Aufruf dazu erbrachte eine Strafe von 55 Tagessätzen. Die bayerische Variante, stundenlanges, ja, tagelanges reales Blockieren einer mehrspurigen Autobahn für die Ziele des deutschen Speditionsgewerbes: selbstverständlich straffrei.„Das kann man gar nicht miteinander vergleichen", hat mir einmal ein bayerischer Minister gesagt. „In Mutlangen demonstrieren ja die Gegner unseres Staates, die unseren Verteidigungswillen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung untergraben wollen;
dagegen haben ja die Lkw-Fahrer auf der Autobahn völlig recht gehabt". Weiter wörtlich: „Da ist ja der bayerische Ministerpräsident selbst vor Ort gewesen und hat denen seine Unterstützung zugesagt; das können Sie doch gar nicht vergleichen."So etwas ist das Ende des Rechtsstaates, der Rechtssicherheit und der Rechtsgleichheit. Viele Gerichte machen das schon lange nicht mehr mit. Heute weiß jeder, in welchem Gerichtsbezirk er freigesprochen und in welchem er wegen Nötigung verurteilt wird. Markiert man die einen Bezirke weiß und die anderen rot, sieht die Bundesrepublik aus, als hätte sie Masern.Selbst das Bundesverfassungsgericht konnte sich nicht einigen. Genau die Hälfte der Richter war der Meinung, die extensive Auslegung des § 240 verstelle gegen das verfassungsrechtliche Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die anderen vier Richter wollten das nicht so sehen.Aber in einem waren sich alle Richter einig: Sie forderten nämlich den Gesetzgeber auf, endlich dieses Gesetz zu ändern und klarzustellen, was strafbar sein soll und was nicht. Des tun wir hiermit, nur tun wir es anders als der Bundesjustizminister, der uns heute die Ehre gibt. Er möchte nämlich ausnahmslos alle Teilnehmer an Blockaden kriminalisieren, auch die in Rheinhausen. Den Grund dafür haben Sie, Herr Engelhard, in einem Interview mit der Bild-Zeitung geäußert, was am Rande ein interessantes Licht auf den in meinen Augen längst vollzogenen Sieg des Wirtschaftsflügels über die rechtsstaatlichen Kräfte innerhalb der FDP wirft. Da hieß es nämlich — ich zitiere —: „Wo Straßen blockiert werden, investiert keiner."Heute sind es die GRÜNEN, die die Bürgerrechte, die Meinungs- und die Demonstrationsfreiheit vertreten. Unser Entwurf setzt konsequent das Programm meiner Partei um, die jede Form von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung ablehnt.
Wir haben eine exakte Bestimmung des Begriffs „Gewalt" vorgenommen. Wer seinen Mitmenschen durch den Einsatz von Körperkraft, von chemischen Mitteln oder technischen Einrichtungen gegen den Körper des Menschen seinen Willen aufzwingt, soll auch nach unseren Vorstellungen in Zukunft bestraft werden. Dies gilt auch für die bloße Drohung. Wer aber friedlich und gewaltfrei handelt, blockiert, protestiert und demonstriert, der kann und darf künftig nicht mehr als Gewalttäter verfolgt werden.Die Verwerflichkeitsklausel übrigens, diesen erst 1943 in Form des sogenannten „gesunden Volksempfindens" in das Gesetz gekommenen unbestimmten und Willkürbegriff, lehnen wir aus guten Gründen radikal ab.
— Was ist falsch? — Wenn Sie jetzt nicht antworten, muß ich zum Ende kommen.
— Richtig, damals hieß es „gesundes Volksempfinden". Nur der Wortlaut ist geändert worden, aber diese unbestimmte Klausel ist 1943 in das Gesetz eingefügt worden. Wir haben sie deshalb gestrichen.Wir beantragen, den Gesetzentwurf an den Ausschuß zu überweisen. Ich freue mich jetzt schon auf die Diskussion.
Das Wort hat der Abgeordnete Langner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht daß der Exgeneral Bastian und seine Gesinnungsfreunde irgendwo herumgesessen haben, hat das INF-Abkommne herbeigeführt, sondern daß Kanzler Kohl und diese Koalition standhaft gewesen sind;
dazu gleich mehr durch meinen Kollegen Hüsch.
Die Nötigung, die Sie abschaffen wollen, ist kein Kavaliersdelikt. Wer andere nötigt, mißachtet sie, benutzt Mitmenschen als Mittel zum Zweck, beeinträchtigt sie in ihrer Freiheit, verletzt ihre Rechte. Nicht eine Aufweichung der strafrechtlichen Nötigungsvorschrift, sondern ihre Klarstellung ist die Aufgabe.Das Bundesverfassungsgericht hält die Nötigungsvorschrift des § 240 StGB für verfassungsmäßig. In der Einstufung von Sitzblockaden als strafwürdiges Unrecht vermag es keinen Verstoß gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu erkennen. Die Stratvorschrift mull allerdings präziser gefaßt werden
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Dr. Langner— da haben Sie recht —, denn das Gericht hat in dem Mutlangen-Urteil nicht abschließend geklärt, in welchem Umfang die von den Straßenblockierern verfolgten politischen Fernziele zu berücksichtigen sind. Diese Unklarheit hat zu einer zunehmenden Zahl unterschiedlicher Urteile geführt, was in der Tat nicht weiter hinzunehmen ist.Die GRÜNEN wollen nun die Sitzblockaden völlig straffrei machen. Sie werden dadurch eine ganze Reihe von Tatbeständen auch straffrei machen, z. B. den, daß ein Vermieter seinem Mieter die Wohnung eigenmächtig räumt, um ihn zur Aufgabe zu zwingen; auch der begeht nach Ansicht der GRÜNEN in der Zukunft keine Nötigung mehr. Viele Unausgegorenheiten dieser Art sind noch in dem Gesetz. Ich gehe nicht weiter darauf ein.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli vorigen Jahres den Gesetzgeber zu einer Präzisierung des Nötigungsparagraphen aufgefordert. Eine Verfassungsbeschwerde von Herrn Bastian gegen das Strafurteil wegen Teilnahme an einer Sitzblockade wurde zurückgewiesen. In der Entscheidung heißt es aberich zitiere —.soweit die gegensätzlichen Beurteilungen von Sitzdemonstrationen durch das Bundesverfassungsgericht und die Strafgerichte Unklarheiten und Unsicherheiten ausgelöst hat, beruhen diese letztlich auf der vielfach kritisierten Fassung des § 240 StGB und können nur vom Gesetzgeber beseitigt werden.Die Union begrüßt ausdrücklich, daß der Bundesjustizminister in Kürze einen Regierungsentwurf vorlegen wird. Der Abs. 2 der Vorschrift soll danach folgenden Wortlaut haben:Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu der Handlung, Duldung oder Unterlassung, die erzwungen werden soll, verwerflich ist.In die Rechtmäßigkeitsprüfung ist danach nur noch das Verhalten einzubeziehen, zu dem unmittelbar genötigt wird, nicht die Fernziele. Wer die Freiheit anderer Bürger gegen deren Willen einschränkt, um für seine politischen Ziele Aufmerksamkeit zu ergattern, macht sich strafbar und ist in meinen Augen auch kein guter Demokrat. Gewaltsame Willensbeugung bleibt Nötigung. Mit Argumenten, nicht mit dem Hintern, dem Traktor oder dem Lastwagen ist zu streiten.in der politischen Auseinandersetzung um Sitzblokkaden wird oft argumentiert, Meinungs- und Versammlungsfreiheit schlössen Strafbarkeit aus. Hier herrscht ein großes Mißverständnis vor.
Weder das Meinungsäußerungsrecht noch das Versammlungsfreiheitsrecht gewähren den Anspruch, von Dritten auch tatsächlich zur Kenntnis genommen zu werden. Das Aufmerksamkeiterregen ist einzig eine Frage der geistigen, argumentativen Mobilisierung.
Jeglicher Zwang ist hier unserer Verfassung fremd.Der grundsätzlich weite Spielraum für die geistige Auseinandersetzung, wie das Grundgesetz ihn garantiert, duldet keine Erweiterung auf tätliches Verhalten, meine Damen und Herren. Wer durch Sitzblockaden und sonstige gezielte Gewaltanwendung zu überzeugen versucht, begibt sich — dies muß man deutlich aussprechen — auf die niedere Ebene politischen Erpressertums; er mißachtet die Spielregeln. Das wird auch nicht dadurch besser, daß sich der heutige saarländische Ministerpräsident früher selbst an Sitzblokkaden in Mutlangen beteiligt hat. Ich finde es etwas merkwürdig, daß ausgerechnet sein Justizminister dieser Tage an diesen Umstand erinnert hat.
Gerade angesichts der Rheinhausener Vorfälle kann ich nur eindringlich davor warnen, die Bewegungsfreiheit anderer als ein Rechtsgut minderer Art anzusehen, als ein Rechtsgut, welches man ohne weiteres beeinträchtigen dürfte. Was geschieht denn, wenn Rheinbrücken, Stadtzentren oder Verkehrswege blockiert werden? Die Mutter kommt zu spät zum Kindergartenabschluß, der Arbeitnehmer zur Arbeit,
der Geschäftsmann zum Geschäftstermin, der Reisende verpaßt sein Flugzeug, der Arzt kommt zu spät ins Krankenhaus und der Priester eventuell zum Sterbenden. Soll dies alles hinzunehmen sein, nur weil jemand für seine politische Anschauung auf friedlichem Wege kein Gehör zu finden glaubt? Was ist denn, wenn Verkehrsblockaden
einmal weniger edlen Zielen dienen als Frieden oder Arbeitsplatzsicherung oder wenn das nur vorgegeben ist? Was werden Sie denn sagen, wenn eines Tages die NPD oder radikale Ausländergruppen sich dieser Mittel bedienen?Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir lehnen diesen Entwurf ab. Das wird auch nach den Ausschußberatungen nicht besser. Wir erwarten allerdings die baldige Vorlage eines Regierungsentwurfs zur notwendigen Präzisierung der Vorschrift.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur einen Satz zu Ihren letzten Ausführungen, Herr Dr. Langner: Ich bin der festen Überzeugung, daß vieles von dem, was Sie zum Schluß Ihres Redebeitrags geäußert haben, schlicht und einfach nicht geltendes Recht ist. Jede Demonstration, jede — auch aus Ihrer Sicht — legale und legitime Demonstration ist nicht selten verbunden mit Belästigungen, mit Eingriffen auch in Freiheitsrechte anderer.
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WiefelspützWir werden immer genau hinschauen müssen, wie denn bei einer differenzierten Einzelfallbetrachtung das rechtlich zu würdigen ist.
Ich denke, Sie haben diese Differenzierungen zum Schluß Ihres Beitrags vermissen lassen.Aber lassen Sie mich zu meiner Rede kommen. Die Mittelstreckenraketen verschwinden aus der Bundesrepublik — die Strafverfahren wegen friedlicher Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen bleiben. Das gilt auch nach dem Sitzblockadenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1986. Dieses bemerkenswerte Urteil wirft im Hinblick auf den Nötigungsparagraphen des Strafgsetzbuchs mehr Fragen auf, als es beantwortet. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den § 240 des Strafgesetzbuches hatten nur deshalb keinen Erfolg, weil sich das erkennende Gericht bei Stimmengleichheit selbst blockiert hatte. Dennoch läßt sich — so hat es der Journalist Robert Leicht neulich in der „Zeit" formuliert — „den Leitsätzen dieses Urteils ein Votum gegen pauschale Aburteilung der Teilnehmer an Sitzblockaden deutlich genug entnehmen". Ich denke, das ist eine sehr maßvolle, mit Augenmaß vorgenommene Beurteilung dieser wichtigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Bei dieser Ausgangslage stellt sich für dieses Haus nachdrücklich die Frage, ob ein Handeln des Gesetzgebers erforderlich ist.Die beiden Gesetzentwürfe der GRÜNEN, der Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Strafrechts und der Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes 1987, die wir heute in erster Lesung beraten, stehen in einem engen Sachzusammenhang. Die GRÜNEN wollen durch eine Änderung des § 240 StGB erreichen, daß Sitzblockaden in Zukunft nicht mehr vom Tatbestand dieser Vorschrift erfaßt werden und deshalb straflos bleiben. Durch das Straffreiheitsgesetz soll Straffreiheit gewährt werden für Taten, die auf Grund der Änderung des § 240 StGB nicht mehr als Nötigung einzustufen sind. Beide Gesetzentwürfe verdienen eine eingehende und intensive Beratung im Rechtsausschuß.Bei uneingeschränkter Respektierung der Entscheidungen unabhängiger Strafgerichte will ich meine persönliche Überzeugung deutlich machen: Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Motive der Demonstranten, sind nach meiner Überzeugung viele Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen nicht strafbar. Es gibt inzwischen auch eine Reihe von strafgerichtlichen Urteilen, die die Linie einer differenzierten sorgfältigen Einzelfallprüfung verfolgen. Gleichwohl ist die Rechtsprechung — darauf haben Sie, Herr Kollege Langner, mit Recht hingewiesen — der Strafgerichte nach dem zitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts immer noch uneinheitlich.Meine Fraktion wird die weitere Entwicklung der Rechtsprechung aufmerksam verfolgen. Wir werden einen Handlungsbedarf im Bereich des § 240 StGB nur dann bejahen, wenn sich eine ständige Rechtsprechung entwickeln sollte, die mit unseren rechtspolitischen Überzeugungen nicht übereinstimmen sollte.
Schon jetzt will ich aber einige Bedenken gegen den Gesetzentwurf der GRÜNEN zu § 240 StGB geltend machen, Herr Häfner. Bei aller Anerkennung der Intentionen, die diesem Entwurf zugrunde liegen, scheint mir dieser Entwurf mit reichlich heißer Nadel gestrickt. § 240 StGB ist sicherlich eine der komplexesten und umstrittensten Vorschriften unseres Strafgesetzbuchs. Aber eine umstrittene, schwierig zu handhabende Strafvorschrift durch eine andere, nicht minder problematische Fassung zu ersetzen bringt keinen rechtspolitischen Fortschritt, sondern nur neue, möglicherweise größere Schwierigkeiten.Die von den GRÜNEN vorgeschlagene Einschränkung des Gewaltbegriffs auf die Fälle, in denen der Täter erhebliche Körperkräfte, technische Einrichtungen oder chemische Mittel gegen den Körper der Opfer einsetzt, würde wahrscheinlich dazu führen, daß viele Vergewaltigungsfälle künftig straflos blieben. Das kann doch nicht Ihr Wille sein, Herr Häfner.
Das Aushängen von Fenstern im Winter — Herr Kollege Langner hat darauf hingewiesen — , um Mieter zum Auszug zu zwingen, währe nach dem jetzt unterbreiteten Vorschlag der GRÜNEN ebenfalls nicht mehr als Nötigung strafbar. Dies gilt ebenso für Autobahnblockaden, gleichgültig, wer sie veranstaltet. Auch das sehr dichte Auffahren bei hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn über einen längeren Zeitraum hinweg könnte wahrscheinlich nicht mehr als Nötigung bestraft werden.Die von den GRÜNEN vorgeschlagene Beschränkung von Gewalt auf die körperliche Gewalt, die auch ernsthaft in der Fachdiskussion ist, privilegiert notwendigerweise, ob Sie das wollen oder nicht, besonders perfide Formen von Gewalt,
die wir unter dem Begriff der „vergeistigten Gewalt" zusammenzufassen gewöhnt sind. Das ist doch das Problem.Wenn ich hier Bedenken zum Gesetzentwurf der GRÜNEN zu § 240 des Strafgesetzbuchs geltend gemacht habe, so dürfen in diesem Zusammenhang die Pläne und Vorstellungen des Bundesjustizministers nicht unerwähnt bleiben. Der Bundesjustizminister beabsichtigt offenbar, § 240 Abs. 2 StGB so zu ändern, daß jede Sitzdemonstration gleichsam automatisch bestraft wird. Seine dahin gehenden Formulierungsvorschläge hat er bekanntlich den Justizministern und -senatoren inzwischen mitgeteilt. Würden diese Pläne Gesetz, dann bedeutete das eine weitere, von der SPD-Bundestagsfraktion nachdrücklich abgelehnte Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts.
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WiefelspützIch will noch einige Bemerkungen zum vorliegenden Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes der GRÜNEN machen. Es liegt offen zutage, daß die rechtspolitischen Bestrebungen der Bundesregierung und der Regierungsparteien in eine ganz andere Richtung weisen. In unterschiedlichem Tempo, mit verteilten Rollen setzt man auf Strafverschärfung und Einschränkung der Demonstrationsfreiheit. Diesem Weg werden wir uns widersetzen.Der Gedanke einer Amnestie wegen friedlicher Sitzblockaden gegen Raketenstationierungen verdient eine ernsthafte Prüfung. Die Beratungen im Rechtsausschuß werden dazu ausreichend Gelegenheit geben. Ich will aber auch hier deutlich machen, daß der von den GRÜNEN vorgelegte Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes unsere Zustimmung so, wie er vorgelegt worden ist, mit Sicherheit nicht finden wird; denn dieser Entwurf knüpft an eine Änderung des Nötigungsparagraphen an, die aus den von mir vorgetragenen Gründen mehr Nachteile als Vorteile bringt. Mindestens das muß man dagegen einwenden.Konsequenz des vorliegenden Entwurfs eines Straffreiheitsgesetzes wäre auch Straffreiheit für bestimmte, unstreitig strafwürdige Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, wäre auch Straffreiheit für strafwürdige Taten im Bereich des Straßenverkehrs, um nur einige wenige, sehr wichtige Fälle aufzuzeigen.
Das kann und wird unsere Zustimmung nicht finden.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist schon von Herrn Langner gesagt worden, wer eigentlich für mehr Frieden im Raketenbereich gesorgt hat, nämlich diejenigen, die sich mit der notwendigen Beharrlichkeit und mit dem notwendigen Weitblick hier im internationalen Geschäft richtig verhalten haben. Dafür möchte ich auch allen Beteiligten danken.Interessant ist auch, daß wir hier unter dem Gesichtspunkt, es handle sich um mehr Friedlichkeit überhaupt in der Gesellschaft, von denen ermahnt werden, Herr Häfner, die allein durch die Art, wie ihre Fraktions- und sonstigen Sitzungen abzulaufen pflegen, einen Begriff von Friedlichkeit demonstrieren, der wohl noch nachbesserungsfähig ist.
Wir haben diese Art von Friedlichkeit auf unseren Parteitagen noch nicht zelebriert.Daher meine ich, man sollte die Leute — da sie die Raketen Gott sei Dank sowieso nicht bedienen werden, weder positiv noch negativ — an ihrem ganz normalen Verhalten untereinander messen. Daß ich mirvon Leuten Vorträge über Friedlichkeit halten lasse, die so „friedlich" miteinander umgehen wie die GRÜNEN im Deutschen Bundestag und überhaupt, ist allerdings eine Zumutung.
Das ist nicht das einzige, was bei einer Vereinigung, die sich als politische Partei versteht, etwas merkwürdig ist. Es ist auch sehr merkwürdig, wie sehr Sie Dinge auf irgendeinen Punkt verengen. Ganz typisch ist Ihr heute zur Beratung anstehender Gesetzentwurf. Weil Menschen gegen Rüstung demonstriert und Sitzblockaden durchgeführt haben, meinen Sie, Sie müßten den § 240 des Strafgesetzbuchs ändern. Aber Sie reden überhaupt nicht von einer Fülle von Eingriffen in die persönliche Freiheit jedes einzelnen Bürgers, und zwar sehr gravierender Art. Weil Sie von dieser Sitzblockade geradezu besessen sind,
kommen Sie gar nicht auf den Gedanken, daß die beiläufige Mitteilung: Wenn dies oder das nicht bis spätestens morgen mittag, zwölf Uhr, geschieht, wird das Foto der Ehefrau geschickt oder — einige andere Beispiele sind hier schon genannt worden — —
— Ich bin Ihnen zutiefst dankbar für diesen Zwischenruf; denn damit haben Sie mich erst auf das ganz dicke Ding gebracht. Als erprobte Antikapitalisten wollen Sie nämlich die Erpressung unter Strafe stellen,
aber die Nötigung mit den gleichen Tatbestandsvoraussetzungen, was die persönliche Freiheit und die Handlungsfreiheit des einzelnen Bürgers angeht, wollen Sie nicht strafbar lassen. Wenn es um Geld geht, darum, sein Vermögen zu vermehren — so ungefähr steht es im Erpressungstatbetand; § 253 ist es wohl —, haben Sie gar keine Bedenken gegen die Vorschrift. Beim „Kapitalismus" sind Sie dafür. Aber wenn es sich um ganz normale Freiheitsrechte des Bürgers handelt, die nicht durch Drohungen fiesester Art beeinträchtigt werden sollen, durch wirkungsvollere Maßnahmen als das Hinsetzen auf eine Straße, dann kommen Sie an und sagen, weil Ihr Blick so unglaublich verengt ist, weil Sie nur auf diese Sitzblockade im Zusammenhang mit Atomraketen starren — —
— Erstens stimmt das nicht. Es gibt eine Reihe von Prozessen auch in anderen Fällen. Zweitens haben wir sehr sinnvolle Bestimmungen in unserem Strafprozeßrecht, die z. B. sagen, daß derjenige, der erpreßt wird, aber auch derjenige, der genötigt wird, die Möglichkeit hat, sich mit dem Staatsanwalt über das Verfahren zu einigen, das den Anlaß der Nötigung betrifft, damit der Nötiger oder der Erpresser festgehalten werden kann. Wir reden hier im Grunde über eine
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verhältnismäßig einfache Sache, und dazu möchte ich noch zwei Bemerkungen machen.Herr Präsident, wir haben uns interfraktionell so verständigt — wenn ich das sagen darf, ohne Geschäftsführer zu sein — , daß wir die zweimal fünf Minuten zusammenfassen und davon unsererseits dem Bundesminister der Justiz den ihm zukommenden Teil überlassen wollten, so daß ich mit fünf Minuten Redezeit jetzt zu schlecht bedient wäre.
Wenn der Geschäftsführer zugestimmt hat, schließt sich der amtierende Präsident dem an.
Wir haben einfach ein Problem: Eine Reihe von Richtern haben sich an dem Wort „verwerflich" aufgehalten. Die Nationalsozialisten haben 1943 den damaligen Tatbestand um das „empfindliche Übel" ergänzt. Empfindliche Übel kommen alltäglich in Familien vor. Wenn nämlich der Vater dem Sohn mitteilt, daß er das mit dem Kaugummi nervlich nicht mehr abkann und der Sohn sofort einen Backs kriegt, wenn er damit nicht aufhört, ist dies einwandfrei der Tatbestand der Nötigung. Weil das sehr sozialadäquat ist und so häufig vorkommt, hat man damals gesagt: Es muß dem gesunden Volksempfinden widersprechen. Gegen dieses Wort besteht zu Recht ein großes Unbehagen. Deshalb hat der Deutsche Bundestag 1952 versucht, das, was gemeint sein konnte, durch das Wort „verwerflich" zu ersetzen. Auch ich halte das nicht für ein sehr glückliches Wort, aber es steht nun einmal da drin.
Da bin ich bei einer meiner beiden Feststellungen: Wenn es nun seit 1952 darin steht — unsere Rechtsprechung ist seit damals damit zurechtgekommen —, wäre es von uns nicht sehr weise, ein neues Wort nur deswegen dort hinzusetzen, damit Generationen von Richtern sich bemühen, dieses neue Wort in all dem, was wir uns angeblich dabei gedacht haben, richtig auszuwägen und auszugewichten und eine lange Periode von Rechtsunsicherheit einzuleiten. Das ist einfach nicht Stil einer vernünftigen Gesetzgebung. Das ist der eine Gesichtspunkt.
Der andere Gesichtspunkt ist folgender: Grund der ganzen Verwirrung ist, daß an diesem Wort „verwerflich" Menschen, die ich nicht für Volljuristen halten mag, die das vielleicht aber sind, gesagt haben: Es kommt auf das finale an, es kommt auf das ganz große Ziel an. Wenn jemand ein edles Motiv hat, dann kann er nötigen, wen immer er will.
Genau dahin läuft diese Art von Rechtsprechung. Wenn jemand etwas gegen Atomraketen hat, dann ist es in Ordnung, daß er sich auf die Straße setzt, und — wenn ich Sie richtig verstanden habe — wenn jemand mit LKWs am Brenner steht, dann ist das nicht in Ordnung.
Ich bin der Meinung, es ist in beiden Fällen nicht in Ordnung, weil es nämlich die Freiheit der anderen Leute, die dort entlang fahren wollen, nachhaltig beeinträchtigt. Deshalb möchten wir es in beiden Fällen auch in Zukunft nicht so haben.
Wir möchten uns nicht von Ihnen mit Ihrem verengten Blickwinkel hier in eine Sackgasse treiben lassen, sondern wir sind der Meinung: Das Ding muß zurückgeführt werden, wenn diese Nachhilfe denn nun notwendig sein sollte. Da das Bundesverfassungsgericht uns das mitgeteilt hat, ist sie wohl notwendig. Wir möchten dann die Nachhilfe geben, daß es nur auf das Verhältnis zwischen dem, der nötigt, und dem, der genötigt wird, ankommt. In diesem Zusammenhang — nur in diesem! — soll der Gesichtspunkt der Verwerflichkeit oder der Bösartigkeit oder was man sonst dazu sagen könnte — nur halten wir uns an den Begriff, der schon einmal „ausgeurteilt" ist, wie man so schön sagt — —
Herr Abgeordneter Kleinert, ich will Sie keinesfalls nötigen, aber lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ich bitte darum, Herr Wiefelspütz.
Herr Kollege Kleinert, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die durchgreifenden Bedenken von vier Verfassungsrichtern in Karlsruhe zur Verfassungsmäßigkeit von § 240 des Strafgesetzbuchs die Bedenken sehr ernst zu nehmender und nicht etwa minderwertiger Juristen sind?
Ich habe diesen Sachverhalt nicht nur nicht bestritten, sondern ich habe eben ausdrücklich gesagt: Das Bundesverfassungsgericht hat uns mitgeteilt, wir müßten hier zur Klarstellung beitragen, weil Richter anderer Gerichte diesen Begriff der Verwerflichkeit viel zu sehr in die Ferne verlängert haben. In Wirklichkeit betrifft er nur das Verhältnis zwischen dem, der nötigt, und dem, der genötigt wird.Der Bundesminister der Justiz hat, wie ich höre, einen Entwurf vorbereitet, der auf diese unmittelbare Beziehung abstellt und in Zukunft keinen Unterschied mehr zuläßt, der einen Amtsrichter zwingt, zu unterscheiden, ob jemand zu Recht eine Sitzblockade macht, weil das Aufstellen von Atomraketen zu verhindern ist, oder zu Unrecht, weil er etwas gegen das Sammeln von Steinpilzen in dem dahinter befindlichen Wald hat. Diese Aufgabe können wir den Richtern vernünftigerweise nicht zumuten. Deshalb wollen wir, daß in allen Fällen, in denen jemand meint, er müßte die anderen Bürger in ihrer persönlichen Freiheit einschränken, eine Strafdrohung dahintersteht.Im übrigen bin ich sehr der Meinung, daß der allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs hier nicht außer acht gelassen werden sollte. Natürlich muß im Einzelfall sehr sorgfältig geprüft werden, wie man und ob man überhaupt zu bestrafen hat. Das gehört dann aber in den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs.Nun hätte ich viele Sympathien für viele Freisprüche oder Verfahrenseinstellungen in all den Fällen,
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Kleinert
die hier mit Veranlassung gegeben haben. Nur: Ich möchte mir deshalb nicht die Rechtssystematik zerstören lassen, so wie die GRÜNEN das mit ihrem Antrag vorhaben. Deshalb sind wir dagegen.Danke schön.
Ich erteile dem Herrn Justizminister das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rein formal besteht jedenfalls in einem Punkte Einigkeit zwischen den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung auf der einen Seite und der Fraktion der GRÜNEN auf der anderen Seite, daß es einer Novellierung des § 240 des Strafgesetzbuchs bedarf.
Die SPD verhält sich abwartend. Es wäre vielleicht gut, die Zwischenzeit zu nutzen, Herr Kollege Wiefelspütz, einmal darüber nachzudenken, ob es gut, ja, ob es überhaupt zulässig und vernünftig ist, immer wieder von neuem das Demonstrationsrecht im Zusammenhang mit Sitzblockaden einzuführen, weil Ihnen sehr wohl bewußt ist, daß das verfassungsrechtlich garantierte Demonstrationsrecht nie und nimmer mit der Verkürzung in unserer Verfassung gleichfalls grundrechtlich geschützter Rechte anderer Personen einhergehen kann.
Deswegen sollte auch nicht weiter der Versuch unternommen werden — das ist doch bekannt, und niemand fällt mehr darauf herein — , zu behaupten, das Ergebnis sei doch dasselbe, ob hier jetzt jemand nicht durchfahren könne, weil eine Sitzblockade stattfinde, oder ob der öffentliche Stadtverkehr und auch der private Stadtverkehr völlig ins Stocken geraten sei, weil sich eine große Demonstration mit Zehntausenden von Personen durch die Stadt bewegt.
Es ist doch völlig ausgetragen und wird von niemanden bestritten, daß der einzelne Verkehrsteilnehmer, sosehr es ihn ärgern mag, letzteres als eine sozial adäquate Begleiterscheinung eines verbrieften Bürgerrechts hinnehmen muß. Und wenn das so ist, dann verdrießt es, das immer wieder in dieser verfälschenden und alles durcheinanderwerfenden Art und Weise hier angesprochen zu hören. Deswegen erwähne ich es noch einmal.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns der Novellierung des § 240 des Strafgesetzbuchs widmen, dann müssen wir dort novellieren, wo es notwendig ist. Schon von daher ist der Ansatz des Antrags der GRÜNEN völlig verfehlt. Denn bei der Frage, was Gewalt ist, sind Schwierigkeiten in der Rechtsprechung nicht aufgetaucht. Da gibt es überhaupt keine Unklarheit. Nur, Sie machen jetzt etwas, was, weit über den Bereich der Sitzblockaden hinausgehend, eine Ungeheuerlichkeit beinhaltet.
Ist Ihnen eigentlich klar, daß nur eine sehr grob, schematisch, primitiv konstruierte Rechtsordnung mit einem sehr engen Gewaltbegriff auskommt? Vor dem Grundgesetz, ja bevor es überhaupt erkämpfte Verfassungsordnungen gab, mag man als Gewalt angesehen und es darauf beschränkt haben, wenn jemand mit der Keule, sehr grob zupackend, jemand anderem auf den Kopf donnerte. Je differenzierter Bürgerrechte gesehen werden — und sehr fein ziseliert hat dies unsere Verfassung getan, und die Sensibilität für die Rechte, die dem einzelnen Bürger zukommen, ist in unserem Lande zunehmend und zu Recht fein entwickelt — , desto weniger wird man auch die Verletzung solcher Rechte, etwa des Rechts auf freie Bewegung, der Freiheitsrechte anderer, auf den Begriff „erhebliche Körperkräfte" oder „physische Gewalt" beschränken können. Nein, da ist es verfehlt, zu jammern, daß hier eine Ausuferung erfolgt sei, daß man jetzt auch psychische Gewalt, wenn sie körperlich empfunden werde, als Gewalt ansehe.
Ist ihnen eigentlich in Erinnerung, daß schon im Kaiserreich in der berühmten Sargträgerentscheidung des Reichsgerichts eine wichtige Entscheidung in dieser Richtung gefallen ist?
Ich sage Ihnen: Eine Gesellschaft, die die Freiheit des einzelnen sehr hoch schätzt, wird Wert darauf legen müssen, daß sichergestellt wird, daß die Verletzung dieser Freiheit geahndet wird.
Dazu kommt man mit einem engen, einem schematischen Begriff der Gewalt nicht aus. Das, was Sie dort unternehmen, ist ja ein Tritt in die Magengrube unserer Rechtskultur. Es ist eine Ungeheuerlichkeit. Und Sie sollten sich dies einmal klarmachen.
Im übrigen sind die Beispiele genannt worden, was dann alles nicht mehr strafbar wäre, nicht mehr geahndet werden könnte.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Blunck?
Ja, bitte.
Herr Minister, mir ist die Sargträgerentscheidung nicht bekannt. Könnten Sie mir ganz kurz den Inhalt schildern?
Wenn dies zeitlich nicht angerechnet wird, so will ich den Inhalt gern kurz wiedergeben, Frau Kollegin.Bei einer Beerdigung, bei der ein Mann, der den Freitod gewählt hatte, zu Grabe getragen wurde, hatte die aufgebrachte Bevölkerung versucht, das Begräbnis an der vorgesehenen Stelle zu verhindern und es in dem Winkel, wo nichtgetaufte und ähnliche Menschen ihren Platz fanden, „in der Ecke", wie sie riefen, zu erreichen. Als die Sargträger mit dem Sarg auf den Friedhof kamen, wurden sie zwar nicht angegriffen, wurden körperlich gar nicht berührt; aber dort stand eine große Menschenmenge, eng aneinandergedrückt, nur eine Gasse in jenen verruchten Winkel offenlassend, und in Sprechchören wurde gerufen: In den Winkel mit ihm!
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4840 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Bundesminister EngelhardWenn damit Ihr Wissensdrang um die Sargträgerentscheidung befriedigt ist, so freut mich dies, Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, wir müssen sehen, daß wir in einem ganz anderen Punkte den Handlungsbedarf haben, nämlich daß es nicht angehen kann, daß künftig Gerichte in eine Situation gedrängt werden, wo sie als der politische Zensor auftreten sollen, wo sie als Strafrichter genötigt sind, darüber zu entscheiden, ob etwas verwerflich oder nicht verwerflich ist, und zwar danach, ob das Motiv, das Fernziel dessen, warum Sitzblockaden oder ähnliches durchgeführt werden, nun gut oder weniger gut ist.
Dies kann nicht sein; dies darf nicht sein. Das kann bei der Frage der Rechtswidrigkeit keine Rolle spielen. Es ist sehr wohl eine Frage, die der Strafrichter bei der Bemessung des Strafmaßes zu berücksichtigen hat. Das ist auch ehedem immer so geschehen und geschieht bis zum heutigen Tage.Meine Damen und Herren, deswegen kann — ich sage es deutlicher — , deswegen darf das, was Sie vorgeschlagen haben, keinerlei Chance haben. Wenn Sie im übrigen ein Amnestiegesetz vorschlagen, so sage ich Ihnen: Es ist eine Amnestie nur für bestimmte Personengruppen mit bestimmten Handlungsweisen nicht möglich, ja, schon gar nicht das, was Sie wollen. Denn Sie wollen ja das Amnestiegesetz für Sitzblokkaden, die zur Abwehr der Nachrüstung stattfinden, aber doch nicht für andere mögliche, denkbare, nicht auszuschließende Sitzblockaden,
die bis zu Motiven, die dahinterstecken, hingehen können, die auch bei Ihnen die volle Empörung auslösen würden, unsere sicherlich auch. Herr Kollege Langner hat das Beispiel neonazistischer Umtriebe und ähnliches ausdrücklich genannt. Deswegen ist die Schwierigkeit nicht, daß man viele Leute verurteilen will, sondern daß bei einem Amnestiegesetz der Gesichtspunkt der Gleichbehandlung zu berücksichtigen ist.Bevor man etwas Derartiges vorschlägt, sollte man sehr sorgsam nachdenken. Ihr Nachdenken hat etwas verkürzt stattgefunden.
Deswegen werden wir uns mit Ihren Vorschlägen nicht befreunden können.
Herr Abgeordneter, Sie können gleich stehenbleiben, denn Sie haben das Wort.
Nun muß ich die beabsichtigte Zwischenfrage im Anschluß stellen: Herr Minister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in dem Gesetzentwurf, auf den Sie sich bezogen haben, nämlich unserem, an keiner Stelle das Wort Nachrüstung oder ähnliches auftaucht, sondern daß das Recht hier unterschiedslos auf alle angewendet werden soll und daß gerade das ein Motiv für unseren Ansatz ist, sowohl was die Nötigung betrifft als auch was das Straffreiheitsgesetz betrifft?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Zur Beratung in erster Lesung legen wir Ihnen heute einen Entwurf für die Amnestie vor, auf die man in der Öffentlichkeit wartet und die der Gesetzgeber schuldig ist. Diese Amnestie ... soll nicht nur etwas abschließen; sie soll auch den Weg öffnen zu einem neuen Recht und zu einem entspannten Verhältnis zwischen der kritischen Jugend und ihrem Staat .. .Amnestieren heißt nicht, Gnade vor Recht ergehen lassen. Amnestieren heißt auch, daß von dem Gesetzgeber eine gewisse Mitverantwortung bekannt wird an dem, was geschehen ist. Das fällt schwer; aber wir sollten uns davor hüten, einen selbstgerechten Staat vorführen zu wollen . .Wir sind bereit, nicht nur eine Rechtsangleichung vorzunehmen— darüber haben wir eben gesprochen —,sondern auch darüber hinauszugehen und der Rechtsunsicherheit [durch ein] Absehen von Strafe, [auch gegenüber] den schon rechtskräftig Verurteilten ... und von weiteren Verfahren . . . Rechnung zu tragen . . .Es scheint uns an der Zeit, den mit der Strafjustiz in Konflikt geratenen ... durch einen gesetzgeberischen Akt einzuräumen, daß ihrem Vorgehen nicht eine kriminelle, sondern in aller Regel eine achtenswerte Gesinnung zugrunde lag ... ein im Moralischen gegründetes Engagement.Falls Sie es noch nicht gemerkt haben, meine Damen und Herren: Was ich eben vorgelesen habe, waren von der Anrede bis zu diesem Punkt ausnahmslos wörtliche Wiedergaben aus der Bundestagsdebatte vom 27. Februar 1970. Damals entschloß sich die Bundesregierung, nicht nur den alten LandfriedensbruchParagraphen endlich abzuschaffen, sondern auch ein Straffreiheitsgesetz für alle, die nach diesem Paragraphen wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen verfolgt worden waren, noch verfolgt werden, zu verabschieden. Genau das ist, was wir heute wollen.Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland hat phantasiereich und mit Leidenschaft jahrelang gegen die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles und für Abrüstung gekämpft. Ihrer Beharrlichkeit, der hohen moralischen Qualität ihrer Ziele und Aktionen verdanken wir, daß im Zusammenwirken mit einer von niemandem erwarteten Veränderung in der Politik der Sowjetunion und damit des gesamten machtpolitischen Gefüges anfängliche, erste Schritte zur Abrüstung möglich wurden. Der Bundesregierung — ich sage das, weil Sie das vorhin angesprochen haben — verdanken wir das wirklich am allerwenigsten. Sie wollte noch bis zuletzt an den
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4841
HäfnerWaffen festhalten. Offensichtlich muß man das heute noch einmal deutlich sagen.Doch gerade diejenigen, die mit friedlichen Mitteln auf Frieden hinwirken wollten, wurden mit der Behauptung, sie hätten durch bloßes Dasitzen „verwerfliche Gewalt" angewendet, nicht nur politisch — das war ohnehin nicht anders zu erwarten — , sondern auch strafrechtlich verfolgt. Dieser den Mitgliedern der Friedensbewegung gemachte Vorwurf stellte nicht nur die Wirklichkeit auf den Kopf. Er war auch juristisch im höchsten Maße umstritten und stützte sich auf ein völlig diffuses, rechtlich unbestimmtes und willkürlich anwendbares Gesetz.Genauso diffus wurde auch verfahren — ich habe das schon angedeutet — : Stundenlange, tagelange Blockaden an anderer Stelle blieben ungesühnt. Doch wenn es um den bloßen Aufruf oder um eine nur minutenlange Sitzblockade vor einer Kaserne ging — häufig wurden damit ja nicht Bürger an der Fahrt gehindert, sondern häufig wurden Tore blockiert, durch die niemand fahren mußte, weil andere zur Verfügung standen — , wurde das schwerstens bestraft.Eine Amnestie, besser: ein Straffreiheitsgesetz zum jetzigen Zeitpunkt ist keine Gnade. Im Gegenteil: Es ist die Wiederherstellung von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit und der Versuch, ergangenes Unrecht bzw. ungleiches Recht so weit als möglich wieder aufzuheben und wiedergutzumachen. Damit ist es auch ein Schritt zum Frieden; zum Frieden nicht nur zwischen den Staaten, sondern zum Frieden auch in der Gesellschaft, der von den Scharfmachern und von denen, die alle eingesperrt und bestraft sehen wollen, deren Meinung und Engagement ihnen nicht paßt, die aber zugleich große Steuerhinterzieher und andere Kriminelle straffrei ausgehen lassen wollten, immer mehr untergraben und gefährdet wird.Wir erwarten zu diesem Gesetzentwurf — das sage ich deutlich — die Unterstützung zumindest der Kollegen aus der SPD und aus der FDP, die seinerzeit mit fast denselben Begründungen ein Straffreiheitsgesetz eingebracht und beschlossen haben. Zumindest was die SPD anbetrifft, bin ich da trotz Ihren Ausführungen heute, Herr Wiefelspütz, auch völlig zuversichtlich; denn Rudi Schöfberger, Oskar Lafontaine und viele andere haben öffentlich deutlich erklärt, daß sie diesen Ansatz unterstützen wollen. Man muß nicht den Umweg über den Bundesrat gehen, wie Herr Lafontaine das will, sondern hier, dem Bundestag liegt der Gesetzentwurf vor.Ich denke aber auch an Herrn Kohl. Für das Amt des Bundeskanzlers genügt nicht physische Größe allein. Herr Kohl sollte einmal über seinen Schatten springen und unserem Gesetzentwurf zustimmen.Das „Amnestiegesetz" — sagte mein Kollege de With damals; wenn Sie mir diesen Satz zum Abschluß gestatten — „will einen Schlußstrich ziehen und den Weg für einen Neubeginn bauen helfen" . Das wollen wir tun. Auf geht's!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hüsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beiträge des Kollegen Dr. Langner, des Herrn Ministers und auch des SPD-Sprechers sowie des Kollegen Kleinert haben bereits deutlich gemacht, daß die Absicht der Änderung der materiellen Strafbestimmung wenig gut durchdacht ist. Die Gesetzesänderung darf deshalb schon aus den rechtstheoretischen Erwägungen heraus keine Mehrheit finden.Noch mehr gelten diese Bedenken gegenüber dem Ersuchen der GRÜNEN, an diesen geänderten Gesetzentwurf nunmehr eine Amnestie anzuhängen. In der Begründung — das muß man deutlich hervorheben — wird behauptet, Mitglieder der Friedensbewegung würden wegen ihres Eintretens für die Abrüstung strafrechtlich belangt.
Das ist eine politische Lüge, historisch falsch und stellt zudem eine Verleumdung der deutschen Justiz dar.
Wenn es nur eine einzige Begründung für die Ablehnung Ihres Ersuchens gäbe, dann die, daß man einer solcher Motivierung eines Gesetzgebungsvorhabens nicht dadurch Rechtfertigung verleiht, daß man das Gesetz verabschiedet. Das, was Sie wollen, geht also nicht.Der zweite Punkt. Der äußere Anlaß soll die Vertragsvereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion sein. — Es ist übrigens bemerkenswert, daß Sie in Ihrem Text die Sowjetunion als erste nennen. —
Weil die Friedensbewegung dafür war, erwarten Sie Anerkennung auch für solche Demonstranten, die sich aus Anlaß der Demonstrationen einer strafbaren Handlung schuldig gemacht haben. Daß Sie natürlich Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher die entsprechende parallele Anerkennung versagen, verwundert nicht. In Wirklichkeit, Herr Häfner, zielt aber Ihr Amnestieverlangen gar nicht nur auf diesen Täterkreis. Der Justizminister hat Ihnen dies bereits in einer umgekehrten Begründung vorgehalten. Lesen Sie § 1 Ihres Entwurfs! Es ist doch die abstrahierte Definition der Straffreistellung nach einem neu zu findenden Paragraphen. Das bedeutet nichts anderes, als daß eine Amnestie für jede Art der Nötigung eintreten würde, käme es zur Verabschiedung Ihres Gesetzes. Nicht nur der Sargträger, der eben hier — historisch — zitiert worden ist, bliebe straffrei, sondern auch Franz Josef Strauß, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, hätte er persönlich mit einem Lkw am Brenner gestanden und würde der Brenner zum deutschen Rechtsgebiet gehören, was nicht der Fall ist, was Ihnen aber offensichtlich bei Ihrem Zitat entgangen war; Ihr Eifer, Franz Josef Strauß einzubeziehen, hat Sie da etwas blind gemacht.
Es dürfte höchst interessant sein, festzustellen, welche Ihrer Parteigänger Nutznießer einer Amnestie werden sollen. Da darf man nachdenken: Ist es eine Lex Bastian, Lex Kelly oder Lex Lafontaine, wenn wir
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4842 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Dr. Hüschdie neuen Mittäter in dieser Frage einbeziehen wollen?
Das ist also eine Amnestie in eigener Sache, Herr Häfner. Ein Gesetz in eigener Sache: höchst peinlich. Ich muß Sie ja wohl nicht daran erinnern, welche Ausführungen, Verdammungen, Verurteilungen und Verunglimpfungen von seiten der GRÜNEN erfolgten, als hier die in der Tat umstrittene Frage einer Steueramnestie im Zusammenhang mit Parteienspenden erörtert wurden. Lesen Sie Ihre eigenen und die Ihrer Freunde von damals einmal nach.
Es ist ein Selbstbedienungsladen.Ihr Amnestieverlangen kann keinesfalls auf eine frühere Gesetzgebung zurückgreifen. 1949 hat der Bundestag einen Schlußstrich unter die außergewöhnlichen Verhältnisse aus der Not der Kriegszeit und der Nachkriegsjahre gezogen. 1954 ging es um die Bereinigung der durch Kriegs- und Nachkriegsereignisse geschaffenen außergewöhnlichen Verhältnisse. 1968 war es die Konsequenz aus der Novellierung des Staatsschutzstrafrechts. 1970 ging es in erster Linie um eine weit angelegte Rechtskorrektur und nur in kleinen Teilen auch um die Motivation der Befriedung; aber diese war nicht auf einen konkreten Täterteil und nicht auf konkretes Handeln wie Ihr Entwurf abgestellt, sondern hatte eine weit darüber hinausgehende Anlage. Auch wenn man dem damals nicht hätte zustimmen können, es war jedenfalls rechtfertigungsfähig. Das gilt aber für Ihr Vorhaben nicht.Letztlich stehen Sie mit Ihren Absichten in einem Widerspruch. Amnestie bedeutet Freiheit von der Vollstreckung, nicht die Freistellung von Strafe, die nachträgliche Rechtfertigung. Liest man aber Ihre Begründung, dann wollen Sie das strafbare Verhalten Ihrer Freunde anläßlich der Friedensdemonstrationen nachträglich rechtfertigen, und dafür eignet sich eine Amnestie nicht.Wie immer man es betrachtet, der Gesetzentwurf mag an den Ausschuß überwiesen werden, aber eine Mehrheit darf er nicht bekommen.
Zu einem kurzen Beitrag gebe ich dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In dieser zweiten Runde ist das Vorhaben der Amnestie ins Blickfeld gerückt worden. Dazu möchte ich anschließend an Herrn Hüsch sagen: Eine Amnestie kann dann einmal gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber selbst frühere Irrtümer korrigieren muß, also als Anpassungsamnestie. Wir haben — die Beispiele sind hier gebracht worden — , abgesehen von dem ersten Beispiel einer globalen Aufräumung einer Situation, die überhaupt eine völlige Ausnahmesituation war, immer sogenannte
Anpassungsamnestien gehabt. Das heißt, war die Rechtslage nicht völlig klar und hat man sie dann vom Gesetzgeber her bereinigt, dann sollte man den Leuten, die der Unklarheit vorher zum Opfer gefallen waren, die Möglichkeit geben, hier straffrei auszugehen. Das ist die Sache mit der Anpassungsamnestie.
Wenn wir hier zu einer vernünftigen Neuregelung einer Situation kommen sollen, die immerhin ein 4:4-Ergebnis bei unserem höchsten Gericht zur Folge gehabt hat, dann wären wir als Liberale auch bereit, uns auf die Idee einer solchen Anpassungsamnestie in der Diskussion einzulassen, aber erst dann, wenn die vorher bestehende Unklarheit ordnungsgemäß geregelt worden ist und man dann daraus entsprechende Konsequenzen ziehen kann.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nun nicht vor. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Andere Vorschläge werden offensichtlich nicht gemacht. — So sind die Überweisungen beschlossen.Ich kann nunmehr den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 4 aufrufen:13. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Laufs, Carstensen , Dörflinger, Eylmann, Dr. Friedrich, Biehle, Dr. Göhner, Harries, Dr. Lippold (Offenbach), Dr. Müller, Seesing, Sauter (Epfendorf), Schmidbauer, Susset, Weiß (Kaiserslautern), Repnik und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen), Bredehorn, Heinrich, Grünbeck, Dr. Hirsch und der Fraktion der FDPGewässerschutz und Pflanzenschutz — Drucksache 11/1135 —Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kiehm, Frau Blunck, Dr. Hauff, Roth, Schäfer , Lennartz, Bachmaier, Bernrath, Frau Conrad, Conradi, Fischer (Homburg), Frau Dr. Hartenstein, Jansen, Koltzsch, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller (Düsseldorf), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Adler, Kißlinger, Müller (Schweinfurt), Oostergetelo, Pfuhl, Sielaff, Wimmer (Neuötting), Weyel, Wittich, Dr. Böhme (Unna), Schmidt (Nürnberg),
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4843
Vizepräsident CronenbergDr. Klejdzinski, Dr. Hauchler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDGrundwasser- und Trinkwassergefährdung durch Pflanzenbehandlungsmittel— Drucksache 11/2082 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Flinner, Kreuzeder und der Fraktion DIE GRÜNENSchutz des Grund- und Trinkwassers vor Pestiziden— Drucksache 11/2109 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und GesundheitMeine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Absprache ist eine Stunde für diesen Tagesordnungspunkt vorgesehen. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist. — Dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Es hat das Wort der Abgeordnete Dr. Göhner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trinkwasser ist unser wichtigstes Lebensmittel.
Die Sicherung der Trinkwasserversorgung unserer Bevölkerung ist deshalb auch eine besonders wichtige umweltpolitische Aufgabe.
Wir haben hier in diesem Hause bereits vor etwa einem Jahr damals bekanntgewordene Untersuchungen über Belastungen des Grundwassers mit chemischen Pflanzenschutzmitteln diskutiert. Seit dieser Zeit sind eine Reihe von Maßnahmen ergriffen worden. Aber es gibt immer noch Defizite.
Nur Vorsorgemaßnahmen beim Gewässerschutz können letztlich eine gesunde und ausreichende Trinkwasserversorgung sicherstellen; denn der weitaus überwiegende Teil unseres Trinkwassers wird schließlich aus Grundwasser gewonnen. Wichtige Maßnahmen zum Schutz des Grundwassers sind ergriffen worden. Neue Gesetzes wurden geschaffen, alte Gesetze wurden verschärft. Aber es gibt ganz offensichtlich beim Vollzug dieser bestehenden Gesetze erhebliche Defizite.Ab. 1. Oktober 1989 werden die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung für PflanzenschutzmittelWirkstoffe in Kraft treten. Es ist zu befürchten, daß in Einzelfällen in bestimmten Trinkwassereinzugsbereichen diese Grenzwerte nicht eingehalten werden können. Trotz der erweiterten und verbesserten Möglichkeiten werden in einigen Bundesländern dringend notwendige Wasserschutzgebiete immer noch nicht ausgewiesen. Es ist kein Zufall, daß gerade in solchen Trinkwassereinzugsbereichen erhöhte Werte festgestellt wurden, in denen noch keine Schutzgebiete ausgewiesen sind.Für das Lebensmittel Trinkwasser muß nach den Grundsätzen unseres Lebensmittelrechts gelten: So wenig Fremdstoffe wie möglich. Pflanzenschutzmittel haben im Trinkwasser nichts zu suchen.
Deshalb schafft die Trinkwasserverordnung aus Vorsorgegründen auch solche Grenzwerte, die fast Nullwerte sind. Die Grenzen der Trinkwasserverordnung im Hinblick auf Pflanzenschutzmittel orientieren sich an der Grenze des gerade noch Nachweisbaren, nicht etwa an der Grenze der Gesundheitsgefährdung. Nicht Gefahrenabwehr, sondern Vorsorge ist die Maxime.
In einem Liter Trinkwasser dürfen nicht mehr als 0,1 Millionstelgramm eines PflanzenschutzmittelWirkstoffs enthalten sein. Dieser festgelegte Wert ist kein toxikologisch begründeter Schwellenwert, kein Wert, der nach dem Gesichtspunkt von Gesundheitsgefahren und deren Abwehr festgesetzt wurde, sondern eben ein reiner Vorsorgewert. Die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, empfiehlt übrigens Grenzwerte, die zum Teil um mehr als den Faktor 1 000 über den Grenzwerten unserer Trinkwasserverordnung liegen. Außer Holland und der Bundesrepublik Deutschland denkt offenbar kein einziges EG-Land daran, die strengen EG-Grenzwerte einzuhalten.
Wir wollen das. Aber wir fügen hinzu: Wenn diese Vorsorgewerte an der Grenze der Nachweisbarkeit überschritten werden, heißt das nicht etwa, daß verseuchtes Grundwasser vorliegt.
Ein Überschreiten unserer Grenzwerte bedeutet noch nicht, daß Gesundheitsgefahren bestehen.
Ein Beispiel: Wenn bei uns mehr als 0,1 Millionstelgramm Atrazin im Liter Trinkwasser ist, dann verstößt das bei uns gegen die Trinkwasserverordnung. Die WHO-Expertenkommission der Weltgesundheitsorganisation hält das Zwanzigfache bei Atrazin noch für gesundheitlich unbedenklich. Wir wollen, daß die strengeren Vorsorgegrenzwerte der Trinkwasserverordnung eingehalten werden.
Deshalb sind wir auch so alarmiert darüber, daß notwendige Vorsorgemaßnahmen im Bereich des Trinkwasserschutzes zum Teil nach wie vor unterbleiben.Bleiben wir beim Beispiel Atrazin: Da wurden im vergangenen Jahr in einem der größten Wasserein-
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4844 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Dr. Göhnerzugsbereiche der Bundesrepublik, im nördlichen Ruhrgebiet, im Einzugsbereich der Stevertalsperre Haltern, erhöhte Atrazinwerte festgestellt — noch nicht gesundheitsgefährdend, aber über unseren Vorsorgegrenzwerten. Aus diesem großflächigen Trinkwassergewinnungsbereich wird immerhin unser größtes Ballungszentrum, das Ruhrgebiet, mit Trinkwasser versorgt. Aber es besteht dort kein Wasserschutzgebiet. Ich halte das für einen umweltpolitischen Skandal, den die dortige Landesregierung zu verantworten hat. Spätestens nach den Feststellungen über erhöhte Atrazinwerte hätte man doch sofort die neuen Möglichkeiten des Wasserhaushaltsgesetzes verwirklichen müssen, um unverzüglich Trinkwasserschutzgebiete auszuweisen. Dann wäre es nämlich kein Problem, per Rechtsverordnung Auflagen zu erlassen und zu kontrollieren, die die Einhaltung solcher Vorsorgegrenzwerte ermöglichen. Nichts ist in dieser Hinsicht bisher geschehen.
Ich sehe das Szenario in einem Jahr schon vor mir: Im Herbst nächsten Jahres wird Herr Matthiesen der staunenden deutschen Öffentlichkeit verkünden, wegen der Belastung des Grundwassers mit Pflanzenschutzmitteln sei die Trinkwasserversorgung des Ruhrgebietes gefährdet. Schuld hätten die Bauern. Und sicher wird ihm auch irgend etwas einfallen, um zu erklären, Schuld habe im übrigen auch die Bundesregierung.Tatsache ist aber folgendes: Wo aus Vorsorgegründen nahezu Nullwerte verlangt werden, müssen auch Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden, zu denen ja die gesetzlichen Grundlagen, die wir geschaffen haben, vorhanden sind. Herr Matthiesen hat schon im vergangen Jahr vor dem Oberverwaltungsgericht Münster Schiffbruch erlitten mit seinem Versuch, ohne Wasserschutzgebiete der Landwirtschaft zusätzliche Auflagen zu machen. Das Oberverwaltungsgericht hat damals in seinem Urteil der nordrhein-westfälischen Landesregierung ausdrücklich ins Stammbuch geschrieben, solche Vorsorgemaßnahmen setzten voraus, daß ein Wasserschutzgebiet ausgewiesen wird.Ich wiederhole: Daß trotz dieser Feststellungen bis heute nichts in dieser Richtung geschehen ist, um diese Schutzgebiete zustande zu bringen, halte ich für einen umweltpolitischen Skandal.
Was dahinter steckt, läßt sich relativ leicht erklären: Werden der Landwirtschaft Auflagen und Beschränkungen innerhalb eines Wasserschutzgebietes gemacht, so müssen die wirtschaftlichen Nachteile — aufgrund des seit dem 1. Januar 1987 geltenden Wasserhaushaltsgesetzes — den Bauern in vollem Umfang entschädigt werden. Genau diese Entschädigungspflicht versucht man offenbar dadurch zu umgehen, daß man eben keine Wasserschutzgebiete ausweist. Das geht zu Lasten der Sicherheit unserer Trinkwasserversorgung und ist nicht akzeptabel.Die Koalitionsfraktionen fordern deshalb in dem vorliegenden Antrag, daß die Länder von den seit dem 1. Januar 1987 geltenden erweiterten Möglichkeitenzur Ausweisung von Wasserschutzgebieten verstärkt Gebrauch machen.
— In Bayern — ich erwähne das, Frau Kollegin, weil Sie gerade die CSU nennen — gibt es in der Tat einen vorbildlichen Umfang ausgewiesener Wasserschutzgebiete,
vorbildlich übrigens für viele andere Bundesländer.Zum Schutz des Grundwassers und der Trinkwasserversorgung sind Auflagen unverzichtbar. Wir haben uns gesetzlich darauf festgelegt, daß für diese in jedem Fall eine Entschädigung, ein Ausgleich vorgenommen werden muß. Und eines möchte ich gerade in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich sagen: Den Bauern kann man in dieser Sache keine Schuldvorwürfe machen. Wer Pflanzenschutzmittel bestimmungs- und anwendungsgemäß anwendet, handelt als Landwirt nicht etwa verwerflich.Aus Sicht der Landwirtschaft müssen wir im übrigen nachdrücklich fordern, daß der Schutz des Trinkwassers in allen EG-Ländern in gleicher und konsequenter Weise betrieben wird. Die strengen Anforderungen unseres Pflanzenschutzgesetzes, das ebenfalls erst seit gut einem Jahr in Kraft ist und das den Schutz des Grundwassers als Schutzziel ausdrücklich einbezieht, gelten in anderen EG-Ländern leider nicht. Deshalb unterstützen wir die Bemühungen der Bundesregierung, das Pflanzenschutzmittelrecht in der EG zu vereinheitlichen. Das ist in einem gemeinsamen EG-Agrarmarkt auch Voraussetzung für gemeinsame Bedingungen.Das neue Pflanzenschutzgesetz und die neue Pflanzenschutzmittelverordnung wirken sich bei uns jetzt nachhaltig positiv aus: Erste Herbizide, z. B. mit dem Wirkstoff Atrazin, sind kürzlich nicht erneut zugelassen worden und verschwinden vom Markt. Ein anderes Pflanzenschutzmittel, das auf den Markt kommen sollte, erhielt erst gar keine Zulassung, weil es die neuen Kriterien der neu geschaffenen Gesetze nicht einhielt. Das sind erste Anzeichen dafür, daß diese gesetzlichen Regelungen greifen.Wir sind davon überzeugt, daß auch die neue Pflanzenschutzanwendungsverordnung, die von der Bundesregierung vorgelegt worden ist und die derzeit im Bundesrat beraten wird, diese Wirkung haben wird. Entgegen einer etwas voreiligen Stellungnahme des Bundesverbandes der Deutschen Gas- und Wasserwirtshaft vor einigen Tagen wird diese Verordnung Anwendungsverbote und Anwendungsbeschränkungen zum Schutze des Grundwassers auch in Einzugsbereichen von Trinkwassergewinnungsanlagen und in sonstigen Gebieten ermöglichen.Mit einem Mißverständnis lassen Sie mich aber hier doch noch klar aufräumen: Wer glaubt, daß nicht toxikologisch begründete reine Vorsorgewerte, die der Trinkwasserverordnung, überall im Grundwasser gewährleistet werden müssen, ist auf einem totalen Irrweg. Unser Grundwasser kann nicht überall die Qualität haben, die wir nach der Trinkwasserverordnung für unser Lebensmittel „Trinkwasser" verlangen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4845
Dr. GöhnerOhne jede menschliche Beeinträchtigung weist das Grundwasser in Wald- und Gebirgslagen z. B. höhere Nitrat-, Aluminium- und andere Werte — Spurenelemente — auf, als in der Trinkwasserverordnung festgesetzt. Und wenn außerhalb von Trinkwassereinzugsbereichen im Grundwasser höhere Werte festgestellt werden, als in der Trinkwasserverordnung vorgesehen, so ist das noch nicht bedenklich und noch nicht alarmierend. Wenn beispielsweise außerhalb eines Trinkwassergewinnungsgebietes im Grundwasser 0,7 Millionstelgramm eines Pflanzenschutzmittelwirkstoffes je Liter Wasser festgestellt wird — das ist wohl der höchste Wert, der in der Bundesrepublik bisher gefunden wurde — , so ist das nach Auffassung der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, nicht einmal gesundheitsgefährdend und könnte nach deren Auffassung bedenkenlos Trinkwasser sein. Nach unseren Maßstäben ist das kein Trinkwasser. Aber wenn es sich um ein Gebiet handelt, das kein Trinkwassereinzugsbereich ist, dann muß ein solcher Wert nicht bedenklich sein. Entscheidend ist, daß unsere Vorsorgewerte in allen jetzigen und künftigen Trinkwassereinzugsbereichen auf Dauer eingehalten werden können.Ich befürchte, daß jene Bundesländer, die besondere Vollzugsdefizite haben, im Herbst 1989 vorübergehende Ausnahmeregelungen machen müssen. Die Trinkwasserverordnung sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor, wenn damit keine Gesundheitsgefahren verbunden sind. Wenn Länder von diesen Ausnahmemöglichkeiten Gebrauch machen werden, dann offenbaren sie damit zugleich ihre eigenen Defizite in diesem Bereich, nämlich keine hinreichenden Vorsorgemaßnahmen entsprechend den bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten in Angriff genommen zu haben. Spätestens seit dem neuen Wasserhaushaltsgesetz, seit dem 1. Januar 1987 also, haben die Vollzugsbehörden — und das ist nun einmal nicht der Bund — alle gesetzlichen Möglichkeiten zum Schutze unseres Trinkwassers.Wir wollen mit unseren Anträgen und, wie ich hoffe, auch mit unseren Debatten hier und im Umweltausschuß dazu beitragen, daß diese bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten auch wirklich eingesetzt und ausgeschöpft werden. Wir brauchen nicht neue Gesetze, wo die bestehenden nicht einmal konsequent umgesetzt werden, sondern einen konsequenten Vollzug. Das ist in diesem Bereich der Umweltpolitik, beim Grundwasserschutz, unsere Aufgabe Nummer 1.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über einem Jahr schlägt der Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft Alarm, weil im Grund- und Trinkwasser immer mehr und häufiger Rückstände von Pflanzenbehandlungsmitteln gemessen werden. In vielen Fällen wurde der ab 1. Oktober nächsten Jahres geltende Grenzwert der Trinkwasserverordnung für Pestizide erheblich überschritten. Hans-Peter Lühr, der Leiter des Instituts für wassergefährdende Stoffe an der TechnischenUniversität Berlin, spricht von einem „chemischen Zoo", der in unserem Grundwasser nicht mehr nur als punktuelle Kontamination, sondern als flächendekkendes Problem anzutreffen sei, und warnt vor den damit verbundenen Gefahren für unser Trinkwasser und damit für unsere Gesundheit.Nicht von ungefähr werden in einigen Gemeinden der Bundesrepublik bereits Babys von Amts wegen mit Mineralwasser versorgt oder werden in anderen Orten Mütter von der Gesundheitsbehörde auf Nachfrage darüber aufgeklärt, daß ein mit 50 Milligramm Nitrat pro Liter belastetes Trinkwasser für die Zubereitung von Nahrungsmitteln für Kleinstkinder nicht geeignet ist.Wenn man bedenkt, daß die heute festzustellende Nitratbelastung Folge des Stickstoffeintrags von vor 15 bis 30 Jahren ist — und damals wurden ja sicher in weit geringerem Maße als heute Düngemittel auf unsere Böden ausgebracht — , kann man, wenn man auch noch die Pestizidrückstände hinzunimmt, ermessen, was für eine gefährliche Zeitbombe in unserem Wasser tickt, eine Zeitbombe, die nur durch eine konsequente Vorsorgepolitik entschärft werden kann.
Die Europäische Gemeinschaft, sonst in Sachen vorausschauender Umweltpolitik eher zögerlich und meistens der Entwicklung eher hinterherhinkend, hat denn auch in einer bereits 1980 beschlossenen Richtlinie festgelegt, daß bis 1982 die Mitgliedstaaten die gemeinschaftlichen Höchstwerte zur Sicherung der Trinkwasserqualität in nationales Recht umzusetzen haben. Bedauerlicherweise hat die Bundesregierung erst ab 1. Oktober 1989 den Grenzwert von 0,1 Mikogramm pro Liter für Pflanzenbehandlungs- und Schädlingsbekämpfungsmittel sowie deren toxische Abbauprodukte zwingend vorgeschrieben. Da ist die immer wieder geäußerte Vermutung wohl nicht ganz von der Hand zu weisen, daß, würde der Grenzwert bereits heute gelten, eine ganze Reihe von Trinkwasserreservoirs geschlossen werden müßte, eben weil sie weitaus höher mit Schadstoffen belastet sind.Konkret heißt das: Die künftigen Grenzwerte werden sich nur dann halten lassen, wenn schon heute gefährliche Pflanzenschutzmittel aus dem Verkehr gezogen werden und durchgreifende Rechtsvorschriften für deren Zulassung erlassen werden. Nur, was die Bundesregierung mit der Pflanzenschutzanwendungsverordnung jetzt vorgelegt hat, wird den zwingenden Erfordernissen des Schutzes des Grundwassers und der Gesundheit von Mensch und Tier nicht gerecht. Die in der Verordnung enthaltene Aufzählung der Stoffe, vor denen es das Grundwasser zu schützen gilt, ist nicht vollständig. Der Bundesverband der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft sowie der BUND haben Ihnen mitgeteilt, daß allein 18 der mehr als 40 verschiedenen Stoffe, die bislang im Grund- und im Oberflächenwasser ermittelt worden sind, im Entwurf gar nicht enthalten sind.Für alle nicht mehr zugelassenen Pestizide muß ein vollständiges Anwendungsverbot gelten. Das gilt namentlich für solche, die wegen der Gefährdung des Grundwassers oder auf Grund krebserregender oder erbgutverändernder oder leibesfruchtschädigender
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4846 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Frau BlunckEigenschaften nicht mehr zugelassen wurden. Hierzu hat der Bundesrat eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen, und es wäre zu wünschen, daß die Regierung dem Rechnung trägt.Wenn in diesem Zusammenhang immer wieder zu hören ist, das Risiko einer unsachgemäßen Beseitigung der Restmengen durch die Anwender sei im Falle eines absoluten Anwendungsverbots höher zu bewerten als das Risiko der Ausbringung aller Restmengen, so ist dies nun wirklich an den Haaren herbeigezogen. Nach dem Abfallgesetz besteht die Möglichkeit, jederzeit durch Rechtsverordnung auch für Pestizide eine Rücknahmeverpflichtung für Händler, Hersteller oder Importeure festzulegen. Das rechtliche Instrumentarium ist vorhanden. Man muß das schlicht nur wollen.Die Beschränkung der Anwendungsverordnung auf Wasserschutzgebiete — davon haben Sie ja gesprochen, Herr Dr. Göhner — ist völlig unzureichend, da schwer abbaubare Stoffe auch von außerhalb der Schutzgebiete in Wassergewinnungsanlagen gelangen können. Die Beständigkeit vieler Pflanzenbehandlungsmittel ist falsch eingeschätzt sowie die Abbaufähigkeit im Boden unterschätzt worden. Daher müssen die Anwendungsverbote generell für alle Wassereinzugsgebiete gelten. Wir brauchen einen nach menschlichem Ermessen absoluten Schutz des Grund- und Trinkwassers vor Belastungen mit Pflanzenschutzmitteln und anderen Schadstoffen.Hier bedarf es einer bundeseinheitlichen Regelung, denn es kann nicht angehen, daß in einem Land ein umweltpolitisch wacher und engagierter Minister strenge Vorschriften erläßt, während in einem anderen Land sich die politisch Verantwortlichen mehr von überwiegend wirtschaftlichen Interessen leiten lassen. Die gegen eine bundeseinheitliche Regelung vorgebrachten rechtlichen Bedenken sind nicht stichhaltig. Schließlich bezieht der Art. 7 Abs. 1 des Pflanzenschutzgesetzes neben den Schutzgütern Leben und Gesundheit von Mensch und Tier auch den Naturhaushalt ein, und dieser umfaßt auch das Wasser.Wenn ich mir die Reaktionen der Bundesregierung seit Bekanntwerden der nunmehr wirklich alarmierenden Gefährdung des Trink- und Grundwassers vergegenwärtige und auch noch die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD würdige, dann kann ich hier leider nur feststellen, daß die Bundesregierung das Problem immer noch in unverantwortlicher Weise verharmlost. Da „erlauben" die erschreckenden Ergebnisse der Grundwasseruntersuchung „derzeit keine sichere Beurteilung der Situation". Oder „eine kurzzeitige Überschreitung der zukünftigen Grenzwerte der Trinkwasserverordnung, die ein gewisses Maß nicht übersteigen" , wird weiterhin für gesundheitlich nicht bedenklich erklärt. Woher weiß dies die Regierung eigentlich, welche Untersuchungen hat sie angestellt, um zu einer solchen Beurteilung zu kommen? Hat sie dabei auch Langzeitstudien und Langzeitauswirkungen und Kumulationen verschiedener Schadstoffe berücksichtigt? Darauf hätte ich sehr gerne eine Antwort. Wo ist eigentlich das Engagement der Frau Ministerin Süssmuth, die hier über das Bundesgesundheitsamt durchaus Einwirkungsmöglichkeiten hätte?Anstatt die alarmierenden Meldungen der Wasserwerke ernst zu nehmen, folgt man lieber der Ansicht des Industrieverbandes Pflanzenschutz, der uns auf Hochglanzbroschüren glauben machen will, daß nicht das Trinkwasser gefährlicher geworden sei, sondern ein untauglicher Grenzwert in einer Richtlinie eine gegebene Situation ungerechtfertigterweise verschlechtert habe. Natürlich hat nicht der Schädiger, sondern der Geschädigte schuld.Gegen eine solche egoistische, rücksichtslose und asoziale Sicht der Dinge helfen offensichtlich nur Schadensersatzklagen. Wenn die Hersteller, Anwender und Zulasser von Pestiziden zur Kasse gebeten werden können, dann, glaube ich, erledigen sich Probleme von ganz alleine. Die erste Klage soll bereits erhoben worden sein. Man kann nur hoffen, daß die Gerichte da endlich einmal eine Entscheidung im Interesse von uns allen treffen.Ich appelliere an den Bundesumweltminister und an die Gesundheitsministerin: Lassen Sie sich nicht vor den Karren der Chemieindustrie spannen! Wenn es um unser wichtigstes Nahrungsmittel, das Trinkwasser, geht, muß der Umwelt- und Gesundheitsschutz Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen einzelner haben. Noch ist hoffentlich Zeit, die chemische Zeitbombe, die das Grund- und Trinkwasser bedroht, entschärfen zu können. Unser Antrag ist hierzu das richtige Instrumentarium. Stimmen Sie ihm zu!
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Beratung der drei hier vorliegenden Anträge diskutieren wir über einen Kernaspekt des Spannungsfeldes Ökologie und Landwirtschaft in Form des Gewässer- und Pflanzenschutzes. Dieses Spannungsverhältnis enthält miteinander schwer vereinbare Ziele: erstens das Ziel, durch den Produktionsfaktor Pflanzenschutzmittel eine ordnungsgemäße Landbewirtschaftung zur Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel zu ermöglichen, und zweitens das Ziel, ein qualitativ hochwertiges Grundwasser, das uneingeschränkt auch als Trinkwasser dienen kann, zu gewährleisten. Die Widersprüchlichkeit der Ziele gilt es meines Erachtens soweit wie möglich auszugleichen. Ich möchte beide Komplexe kurz beleuchten.Erstens zum Wasser, Gewässerschutz und Grundwasser. Wasser ist nicht ersetzbar. Es ist für uns alle lebenswichtig, und sein Schutz steht deshalb gleichgeordnet z. B. neben dem Schutz der Ernährung. Deshalb muß konsequenter Grundwasserschutz betrieben werden. Dabei kommt der Ausweisung von Wasserschutzgebieten besondere Bedeutung zu, um Trinkwasser bester Qualität zu gewinnen. Wir wollen kein künstliches Wasserprodukt — es gibt ja das chemisch reine Wasser, das aber für die Gesundheit letztendlich weniger gut ist — , sondern wir brauchen das möglichst naturbelassene Wasser. Die Reinigungsaufwendungen von Wasserversorgungsunternehmen, die ja wirtschaftlich arbeiten müssen, sollten und müssen so gering wie möglich bleiben. Ich gehe einmal davon aus, daß die Wasserschutzgebiete zweckmäßig,
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Bredehornnämlich nach hydrologischen Gesichtspunkten, nach dem Wasserzufluß, nach den jeweiligen Quellgebieten, festgesetzt werden. Wenn hier Experten mitwirken, dürften in der Abgrenzung zwischen Wasserschutz- und sonstigen Gebieten, so schwierig dies im Einzelfall sonst auch sein mag, keine Irrtümer vorkommen.Zum Pflanzenschutz: Ich warne zunächst einmal davor, durch die unterschiedlichen Begriffe den Bereich der Pflanzenschutzmittel zu vernebeln. „Agrargift" z. B., eine von den GRÜNEN mit besonderer Vorliebe gebrauchte Wortverirrung ist der Gipfel des Sprachwirrwarrs und stellt jeden vernünftigen Umgang mit Pflanzenbehandlungsmitteln von seiten der Landwirte in Abrede. Der Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln ist noch notwendig, wenn der Landwirt gesunde, hochwertige Qualitätsnahrungsmittel produzieren soll.Dabei ist die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in diesbezügliche gesetzliche Rahmenbedingungen eingebunden, und zwar durch das 1986 novellierte Pflanzenschutzgesetz, wo es erstmals gelungen ist festzulegen, daß Grundwasser genauso geschützt werden muß wie z. B. die Gesundheit von Mensch und Tier, aber auch durch die Pflanzenschutzmittelverordnung, die Pflanzenschutzsachkundeverordnung und die Anwendungsverordnung, die gerade überarbeitet wird. Mit der neuen Anwendungsverordnung wird es zu erheblich größeren Anwendungsbeschränkungen in Wasserschutzgebieten kommen als bisher.Darüber hinaus sind die Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel strenger geworden.Schließlich ist im Pflanzenschutzgesetz die gute fachliche Praxis verankert. Zu einer guten fachlichen Praxis, d. h. zu einem sachkundigen Umgang mit Pflanzenschutzmitteln, gehört es zu wissen, auf welchen Böden bei welcher Witterung welche Art und welche Menge von Pflanzenschutzmitteln ausgebracht werden dürfen. Die Berücksichtigung der Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes führen zu einer Verbesserung des Grundwasserschutzes.Lassen Sie mich beiden Komplexen, Gewässerschutz und Pflanzenschutz, jetzt einmal zusammenführen. Ich will versuchen, Wege aufzuzeigen, die das Spannungsfeld zwischen beiden zu entschärfen helfen.Erstens. Nach Ansicht der FDP ist ein Schritt zur Entschärfung der Wille zu Kooperation, nicht die Konfrontation. Das gilt für die Landwirte auf der einen und Natur- bzw. Umweltschützer oder Wasserversorgungsunternehmen auf der anderen Seite. Dieser angestrebten Kooperation wenig dienlich sind polemische und unsachliche Angriffe gegen die Landwirte. Ich zitiere aus dem SPD-Antrag:Es ist hoffentlich noch Zeit, die lebensbedrohende Verseuchung unseres Grundwassers und Trinkwassers durch Pflanzenbehandlungsmittel zu stoppen.Eine solche Weltuntergangsstimmung zu verbreiten ist meines Erachtens unverantwortlich.Wenn Sie die Ausarbeitung der BGW mit den 18 Wirkstoffen zitieren, so ist bisher nicht ermittelt,welche Wirkstoffe wo eingesetzt wurden und woher diese Wirkstoffe rührten. Ich meine, man kann und darf das nicht so verallgemeinern.Zweitens. Es ist alarmierend, daß in Gewässern und selbst in großen Tiefen des Grundwassers Pflanzenschutzmittel nachweisbar sind. Andererseits ist es einfach nicht machbar, einen Persilschein für die Nichtexistenz von Pflanzenschutzmitteln im Grundwasser zu bieten. Daß es in einigen Jahren auch möglich sein wird, die Analysetechnik noch weiter zu verfeinern, so daß dann selbst Atome einzeln feststellbar sind, ist zwar ein Erfolg der Wissenschaft, aber entschärft das Problem der Pflanzenschutzmittelrückstände in Wasser und Boden keineswegs. Wir haben ja in der Trinkwasserversorgung einen Grenzwert von 0,1 Millionstel Gramm je Liter. Das ist ein Grenzwert, der praktisch fast Null ist. Man muß ganz deutlich sehen, dieser Grenzwert ist nicht aus toxikologischen Gründen — wie bei Lebensmitteln, wo der Grenzwert deswegen höher ist — , sondern — und ich finde das richtig — aus reinen Vorsorgegründen so festgelegt worden.Drittens. Probleme mit Rückständen von Pflanzenschutzmitteln gibt es regional insbesondere in Gebieten mit Sonderkulturanbau. Hier müssen alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Reinhaltung des Grund- und Trinkwassers zu gewährleisten.Viertens. Es sind nicht nur Rückstände von Pflanzenschutzmitteln, die zu Belastungen in Gewässern führen, es sind insbesondere auch Altlasten oder andere Luftverschmutzungspartikel. Ich warne davor, hier den Landwirt als alleinigen Übeltäter zu sehen.
Fünftens. Die Bundesländer, die gerade in der Umweltpolitik große Eigenständigkeiten haben, sollten die verbesserten Möglichkeiten zur Ausweisung von Wasserschutzgebieten nutzen und zügig neue Schutzgebiete festsetzen. Die dort notwendigen Beschränkungen, die sicher auch zu gewissen Bewirtschaftungsnachteilen, zu gewissen Einkommensausfällen bei den Landwirten führen, können ja nun Dank unseres Wasserhaushaltsgesetzes auch entsprechend ausgeglichen werden.Sechstens. Es geht nicht an, daß sich die Wasserwerke auf der einen Seite dem Vorwurf der Bevölkerung aussetzen müssen, eventuell sogar unzureichende Trinkwasserqualität zu liefern, daß man ihnen auf der anderen Seite einen Riesenaufwand mit Riesenkosten zur Reinigung des nicht qualitätsvollen Wassers zumutet.Siebtens appelliere ich an die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln, möglichst rasch umweltfreundliche Pflanzenschutzmittel zu entwickeln und den Landwirten zur Verfügung zu stellen. Die verschärfte Zulassungsverordnung, die wir nach der Novellierung des Pflanzenschutzgesetzes haben, muß dazu führen, daß auch die älteren, schon zugelassenen Pflanzenschutzmittel einer erneuten Überprüfung unterzogen werden, ob sie den jetzt notwendigen Anforderungen noch entsprechen.
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BredehornMeine Damen und Herren, in der FDP ziehen Umwelt- und Agrarpolitiker an einem Strang und auch in eine Richtung. Nur durch die Verständigung über schwierige Sachfragen wird es uns gelingen, Kompromisse bei Zielkonflikten zu finden. Auf jeden Fall wird uns der Stoff, aus dem das Wasser ist, in den kommenden Beratungen in den Ausschüssen und hier im Parlament noch eingehend beschäftigen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Vor fast genau einem Jahr hat die Fraktion der GRÜNEN einen Antrag „Schutz vor Pflanzenschutzmitteln" hier im Bundestag eingebracht. Neben der Forderung, nun endlich Maßnahmen zur Gefährdungsabwehr und zur Besserung der Belastungssituation des Lebensmittels Nr. 1, unseres Trinkwassers, zu ergreifen, hatten wir auch beantragt, in einem Hearing — Frau Kollegin Blunck wies darauf hin — die ewige Streitfrage abklären zu lassen: Ist die Trink- und Grundwasserbelastung nun „nur" ein punktuelles Problem, oder ist sie ein flächenhaftes Problem? Es ist richtig, Professor Lühr hat inzwischen gesagt, man könne den gesamten chemischen Zoo im Trinkwasser nachweisen. Die Anhörung fand bis jetzt noch nicht statt, sie ist allerdings für den Herbst anvisiert. Die Brisanz der Grundwasserbilanz hat allerdings die Koalitionsparteien und die SPD offensichtlich aufgeschreckt, denn in den im Laufe des Jahres eingebrachten Anträgen zu diesem Problem werden die von den GRÜNEN erhobenen Forderungen in weiten Bereichen wiederholt.
Wir haben Ihnen heute einen aktualisierten Antrag zum Schutz des Grund- und Trinkwassers vor Pestiziden vorgelegt und hoffen, daß Sie uns weiterhin in unseren Forderungen folgen.Meine sehr verehrten Herren und Damen, ich freue mich, hier feststellen zu können, daß während dieses Jahres die Diskussionen bei Ihnen weitergegangen sind, so daß ich den Eindruck habe, wir ziehen inzwischen alle an einem Strang: Erstens, Pestizide gehören nicht ins Grundwasser, und zweitens, die eingesetzten Pestizide müssen unbedenklich für die Gesundheit des Menschen und unbedenklich für den Naturhaushalt sein. Wenn Sie allerdings dieser Meinung sind, dann muß Schluß sein mit der billigend in Kauf genommenen Grundwasservergiftung. Die Verbrechen am Lebenselixier Wasser wurden und werden immer noch legal begangen.Ich möchte heute hier noch einmal daran erinnern, daß Brunnenvergiftung früher als Verbrechen geahndet wurde. Wenn Minister Töpfer seine Forderungen und Ansprüche wirklich ehrlich meint und ernst nimmt, daß nämlich dem Wirtschaftswunder nun ein Umweltwunder folgen müsse — so heißt es jedenfalls in dem Entwurf zur Umweltpolitik für den 36. Parteitag der CDU — , dann kommt er an Produktions- undAnwendungsverboten für bestimmte Pestizide nicht vorbei, z. B. für das 2,4,5-T- und das 1,2-Dichlorpropan.Wenn er seine Äußerungen ernst nimmt, dann ist es nicht zu verstehen, daß der EG-Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter pro Substanz, der unter Mißachtung der von der Kommission vorgegebenen Frist noch nicht in nationales Recht überführt worden ist, zum Teil erheblich überschritten wird.Es ist allerdings unschwer zu erraten, warum Herr Töpfer so säumig ist. Der Bundesumweltminister und wir wissen nämlich genau, daß bei Inkrafttreten der Grenzwerte in der Bundesrepublik eine Stillegung vieler kommunaler Wasserversorgungsunternehmen und Einzelwasserversorgungen drohen würde. Es gibt ja schon etliche besorgniserregende Untersuchungsergebnisse. So schätzen z. B. die Fachbehörden der Bundesregierung die Zahl der atrazinverseuchten Brunnen auf ca. 5 000. Das Zehnfache der zulässigen Trinkwasserkonzentration wurde im Rhein auf der Höhe von Wiesbaden festgestellt. Wir wissen alle — Sie wiesen darauf hin — , wie viele Menschen daraus letztlich ihr Trinkwasser beziehen. Kürzlich wurden in der renomierten englischen Wissenschaftszeitung „Nature" Messungen aus dem amerikanischen Landwirtschaftsgürtel bekannt: Selbst im Regenwasser wurden Pestizide in Konzentrationen bis zu 6 Mikrogramm nachgewiesen. Wenn die Landwirtschaft in der Bundesrepublik mit 3 000 Tonnen Gift im Jahr so weiterwirtschaften darf, dann steht uns wohl bald ein Verbot von Regenwasser ins Haus.Meine sehr verehrten Herren und Damen, der Schein trügt, daß grundsätzliche Einigkeit in wesentlichen Fragen vorherrsche. Denn die von der Bundesregierung am 18. März 1988 dem Bundesrat übersandte Novelle einer Pflanzenschutzanwendungsverordnung scheint eher vom Industrieverband Pflanzenschutz inspiriert zu sein denn von dem Antrag, den die Regierungsparteien hier eingebracht haben. Erhebliche Zweifel sind angebracht, daß die vorgelegte Novelle der Verseuchung des Grundwassers entgegenwirken könnte. Denn obwohl inzwischen schon über 40 verschiedene Pestizide im Grundwasser aufgetaucht sind, sind Anwendungsbeschränkungen bzw. Anwendungsverbote nur für einige von diesen vorgesehen. Die Anwendung extrem wassergefährdender Pestizide wie Atrazin wird nur in Wasserschutzgebieten ausgeschlossen, obwohl erfahrungsgemäß der Einzugsbereich der Brunnen viel größer ist.
Bekannte kanzerogene grundwassergefährdende Pestizide, die nicht mehr zugelassen sind, werden dennoch keinem Anwendungsverbot unterworfen. Nach dem Willen der Bundesregierung soll eine Vielzahl von Pestiziden zugelassen bleiben, die mutalten, kanzerogen und teratogen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Herren und Damen von der CDU — leider sind nicht mehr viele da — , daß Sie sich damit einverstanden erklären können. Sie haben in Ihrem Antrag die Unbedenklichkeit der angewendeten Pestizide für die Gesundheit von Mensch und Tier zum Maßstab genommen. Wenn mit dieser Elle gemessen
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Frau Garbewird, hoffe ich auf einen gewaltigen, aber gewaltfreien Aufstand Ihrer Fraktion gegen Ihre eigene Regierung.Meine Herren und Damen, wir dürfen die Landwirte nicht im Giftregen stehenlassen. Gesundheitlich sind sie nämlich am ehesten die Leidtragenden des Pestizidregens. Verantwortlich sind die Hersteller und die Prüfinstanzen. Die Biologische Bundesanstalt läßt durchaus Pestizide zu, deren Neigung zur Versickerung ins Grundwasser bereits den Antragsunterlagen zu entnehmen ist. Trotz sachgerechter Anwendung werden die Landwirte dann in Konflikte mit dem Wasserhaushaltsgesetz getrieben, wonach es verboten ist, das Grundwasser zu belasten. Die Zulassungspraxis bedarf jedenfalls einer grundlegenden Durchforstung.Mit der Sackgassenpolitik muß endlich Schluß gemacht werden. Die Pflege der Brunnen ist wieder angesagt. Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich hoffe, daß wir, der alten Tradition folgend, dann wieder nach dem Saubermachen der Brunnen Brunnenfeste statt Brunnenbegräbnisse feiern können. — Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erhaltung des Trinkwassers in ausreichender Menge und guter Qualität genießt als lebensnotwendiges Gut hohen Rang und muß auch in weite Zukunft hinein unter allen Umständen gesichert werden. Es wäre aber falsch, die Verantwortung dafür in der öffentlichen Diskussion allein den Landwirten anzulasten und sie damit zu den Giftspritzern der Nation zu erklären.
Um eine geringere Belastung landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzter Flächen zu erreichen, muß nicht nur im Bereich des Pflanzenschutzes ein sehr strenger Maßstab mit notwendigen Ergänzungen der Gesetze und Verordnungen angelegt werden, sondern die gesamten Produktionsbedingungen der Landwirtschaft müssen im Rahmen einer umweltfreundlichen Agrarpolitik verbessert werden.
— Ich freue mich, daß ich die Zustimmung der Regierung habe.Deshalb ist zu begrüßen, daß auch die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag feststellen, daß im Bereich des Pflanzenschutzgesetzes noch Bedarf an Nachbesserung besteht und daß sie die neuen Grenzwerte für Pflanzenbehandlungsmittel im Trinkwasser akzeptieren.Gleichzeitig ist die Agrarpolitik im europäischen Rahmen so zu verändern, daß der Landwirt zur Sicherung seiner Existenz nicht das Äußerste aus seinem Boden herausholen muß.
Belastet wird die Trinkwasserversorgung aber auch durch die Verunreinigung der Oberflächengewässer und durch die Belastung der Flüsse. Ursache dafür ist häufig die Belastung durch Industrieabwässer sowie durch die Risiken, die sowohl bei der industriellen Erzeugung als auch beim Transport von Gütern vorhanden sind.Auch die privaten Haushalte belasten weiterhin das Wasser. Während im Bereich des Pflanzenschutzes inzwischen strenge Maßstäbe angelegt sind, sind ähnlich strenge Maßnahmen für die im Haushalt verwendeten Mittel bisher nicht durchgesetzt worden. Es ist auch für die Lebensmittel und für die Bedarfsgegenstände eine Verschärfung in dieser Hinsicht nötig.Die Anträge der Koalition wie der SPD weisen auf die notwendige konsequente Durchführung des Pflanzenschutzgesetzes hin. Während die Verbesserung der Sachkunde der Landwirte in allen Bundesländern nachdrücklich betrieben wird, läßt z. B. die freiwillige Gerätekontrolle erheblich zu wünschen übrig. Wenn man sich die letzten Zahlen anschaut, erkennt man, daß es Länder gibt, in denen die Kontrolle der Pflanzenschutzgeräte weit unter 10 To liegt. Wenn man sich dann die Betriebsgrößen der Betriebe anschaut, die überhaupt geprüft haben, erkennt man, daß sie weit über der Größe der durchschnittlichen Betriebe in den Ländern liegen. Das heißt, nur wenige Betriebe — meistens die größeren — sind in diesem Punkt exakt.Der Biologischen Bundesanstalt fehlt nach wie vor Personal, das in der Ausschußempfehlung zum Pflanzenschutzgesetz beschlossen worden ist. Hier hat die Sparsamkeit des Finanzministers wieder einmal die sachlichen Notwendigkeiten übertrumpft.Der Entwurf zur Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung — Frau Garbe hat schon darauf hingewiesen — bedarf noch dringend der Nachbesserung. Ich gehe davon aus, daß diese auch durchgeführt wird.Betrachtet man die angewendeten Pflanzenschutzmittel, so erkennt man, daß 80 % davon Herbizide sind. Aber gerade in diesem Bereich gibt es nun wirklich Alternativen und Methoden, die sich vorwiegend auf mechanische Bekämpfung des Unkrauts beziehen.
— Sie wissen sehr genau, daß es heute ein Anzahl von Geräten gibt, die nicht mit der Hand betrieben werden und trotzdem ganz gute Erfolge zeigen.
— Herr Susset, Sie wissen es selber und können mir das auch bestätigen.Ich möchte hier auf einen Aspekt hinweisen, der mir für die Zukunft sehr wichtig erscheint: Gerade die Gentechnik hat in der Entwicklung der Pflanzen neue Perspektiven eröffnet. Eins der Zuchtziele ist Resistenz. Nur, entscheidend ist: Resistenz wogegen? Es muß das Ziel sein, die Resistenz der Nutzpflanzen gegen Schädlinge zu stärken. Es wäre aber eine verheerende Entwicklung, wenn das passierte, was einige angekündigt haben, daß man statt dessen die Resistenz der Pflanzen gegen Herbizide verstärkt, daß man z. B. Pflanzen, die heute gegen bestimmte Herbi-
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Frau Weyelzide empfindlich sind, resistent gegen diese Mittel macht, damit man dann in der Fruchtfolge unbedenklich auf das, was davor, danach und noch danach kommt, jede Menge Herbizide anwenden kann. Eine solche Entwicklung müssen wir nachdrücklich ablehnen, und wir müssen vor ihr warnen.
Die Frage ist: Was können wir wirklich dagegen tun, auch mit gesetzlichen Mitteln?
— Tun Sie was Gescheites, Herr Gallus; dann ist das viel besser.
Bei der Belastung des Trinkwassers möchte ich zum Schluß noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen. Es sollte nicht nur ein allgemeiner Grenzwert beachtet werden, sondern es sollten stärkere Unterschiede zwischen toxischen und bodenbelastenden Stoffen auf der einen Seite sowie solchen Stoffen, für die nachteilige Wirkungen nicht bekannt sind, auf der anderen Seite gemacht werden.Ich halte es auch für ein Unding, daß die Grenzwerte für Pflanzenschutzmittel wesentlich niedriger liegen als die Grenzwerte für Schwermetalle. Der Grund dafür ist mir nicht ganz klar. Aber selbst z. B. Quecksilber, das ja nun nachgewiesenerweise giftig ist, hat einen wesentlich höheren Grenzwert. Auch das muß noch einmal nachgeprüft werden.Es wäre noch zu überlegen, ob man nicht in der Zulassung von Mitteln grundsätzlich dazu übergehen sollte, dann, wenn ein Mittel mit einer geringeren Belastung zugelassen wird, das für denselben Zweck vorher zugelassene, aber stärker belastende Mittel sozusagen automatisch aus dem Verkehr zu ziehen. Auch darüber sollte man durchaus nachdenken, damit insgesamt die Belastung weniger wird.
— Da der Herr Gallus das Bedürfnis hat, noch etwas zu sagen, bin ich bereit, auch das noch anzuhören.
Das ist außerordentlich großzügig. Aber ich hoffe, daß er nicht etwas sagen, sondern fragen will. Bitte, Herr Abgeordneter Gallus.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß wir schon vor über zehn Jahren die Verwendung von Quecksilber in der deutschen Landwirtschaft bei Beizen verboten haben, die Landwirtschaft das mit hohen Preisen bezahlen mußte, in anderen Ländern Europas dies bis heute noch nicht vollzogen ist und bei der Industrie nach wie vor erhebliche Mengen von Quecksilber verwendet werden?
Dies ist mir völlig bekannt, Herr Gallus. Ich habe eben auch nicht von Quecksilber im Zusammenhang mit der Landwirtschaft gesprochen,
sondern ich habe von der Absurdität gesprochen, daß bei den Grenzwerten für Trinkwasser Quecksilber — und zwar Quecksilber aus anderen Quellen; das ist klar — eine wesentlich höhere Belastung haben darf als Pflanzenschutzmittel. Es ist eine Gesundheitsgefahr.
Damit möchte ich nun aber wirklich enden.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Grüner.
Herr Staatssekretär, das Präsidium besteht nicht darauf, daß Sie Ihre Redezeit voll ausschöpfen.
Da wird man ja unter Druck gesetzt; das ist eine Nötigung.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung verfolgt mit großer Sorge die in letzter Zeit vermehrt bekanntgewordenen Funde von Pflanzenschutzmitteln in Gewässern und in Brunnen von Wasserwerken. Wir verstehen den Warnruf der Wasserversorgungsunternehmen, die ab Oktober 1989 den strengen Grenzwert der Trinkwasserverordnung einhalten müssen.Wir meinen aber auch, daß der Vorsorgecharakter dieser Grenzwerte eindeutig und nachdrücklich betont werden sollte. Ich verweise hier auf das, was Herr Kollege Dr. Göhner gesagt hat. Ich rate auch den Wasserwerken, in ihren Veröffentlichungen den Charakter dieses Vorsorgewertes zu betonen.Wir dürfen nicht in Panik machen. Wenn im Antrag der SPD von „lebensbedrohender Verseuchung unseres Grund- und Trinkwassers durch Pflanzenbehandlungsmittel" gesprochen wird, dann ist das eine solche Panikmache. Gleichzeitig ist damit auch die Gefahr verbunden, daß der Gedanke von Vorsorgegrenzwerten im Umweltschutz auf immer größere Schwierigkeiten stoßen wird; denn wenn Überschreitungen von Grenzwerten, die aus Vorsorgegründen erlassen worden sind, als eine Gefährdung der Gesundheit dargestellt werden, werden wir uns außerordentlich schwer tun, mit diesem richtigen Grundgedanken des Vorsorgegrenzwertes zu arbeiten.Wir haben die rechtlichen Grundlagen durch Wasserhaushaltsgesetz und Pflanzenschutzgesetz geschaffen. Beide Gesetze sind am 1. Januar 1987 in Kraft getreten.Im Wasserhaushaltsgesetz sind die Möglichkeiten erweitert worden, Wasserschutzgebiete festzusetzen, um den Eintrag von Pflanzenschutzmitteln zu verhüten. Die neuen Regelungen erlauben insbesondere die Berücksichtigung ungünstiger Standortverhältnisse bei Anwendungsbeschränkungen für Pflanzenschutzmittel. Nicht weitere gesetzliche Verschärfungen sind gefragt, sondern die konsequente Anwendung der neuen Regelungen.
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Parl. Staatssekretär GrünerDas muß dann im Einzelfall sehr genau nachgewiesen werden.Im neuen Pflanzenschutzgesetz wurde das Grundwasser als absolutes Schutzgut neu aufgenommen. Die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels ist nicht mehr möglich, wenn es bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung schädliche Auswirkungen auf das Grundwasser hat. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Zulassung, die erst nach gründlicher Prüfung erfolgen kann.Im Fall Atrazin, das weitaus am häufigsten im Grundwasser gefunden wird, hat das Umweltbundesamt sein Einvernehmen für die Erneuerung ausgelaufener Zulassungen nicht erklärt,
so daß diese atrazinhaltigen Mittel nicht mehr zugelassen sind. Im Jahre 1987 waren hiervon 16 atrazinhaltige Mittel betroffen. 1988 werden es weitere 21 Mittel sein.Weiterhin hat das Umweltbundesamt sein Einvernehmen für die Zulassung eines Pflanzenschutzmittels mit dem Wirkstoff Dichlorpropen verweigert. Eine Reihe weiterer Wirkstoffe stehen im Verdacht, schädliche Auswirkungen auf das Grundwasser zu haben. Hier laufen zur Zeit intensive Überprüfungen.Die Prüfung von Pflanzenschutzmitteln im Hinblick auf eine mögliche schädliche Auswirkung auf das Grundwasser erfordert intensives, sorgfältiges Arbeiten. Das bedeutet aber auch — und zwar insbesondere wenn eine Zulassung entzogen werden soll —, daß kurzfristige Ergebnisse leider nicht möglich sind.Unabhängig von der laufenden Prüfung der Pflanzenschutzmittel haben wir dem Bundesrat den ja hier schon erwähnten Entwurf einer neuen Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung zugeleitet, um möglichst rasch Verbesserungen beim Schutz der Trinkwasserversorgung erreichen zu können. In dieser Verordnung werden die Anwendungsverbote und -beschränkungen von zugelassenen Pflanzenschutzmitteln in Wasserschutzgebieten erheblich erweitert. Die Verordnung sieht auch vor, daß die Länder entsprechende Anwendungsverbote und -beschränkungen auch in Einzugsgebieten von Trinkwassergewinnungsanlagen und in sonstigen Gebieten zum Schutz des Grundwassers anordnen können. — Also nicht der Ruf nach Verschärfung, sondern die konsequente Anwendung der gegebenen Möglichkeiten und natürlich ein entsprechender Vollzug sind das Gebot der Stunde.In diesem Zusammenhang ist ganz besonders der Anwender von Pflanzenschutzmitteln gefordert. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln birgt nun einmal ökologische Risiken. Dessen muß sich der Anwender bewußt sein und werden. Er muß die Mittel sorgfältig einsetzen, und er muß sie umweltbewußt anwenden, um die Risiken so klein wie möglich zu halten. Eine Überwachung der Anwendung wird immer wieder unvollkommen sein. Die Eigenverantwortung der Anwender muß gestärkt werden. Hier hat die Beratung eine ganz wichtige Aufgabe.Auch die Hersteller sind aufgefordert, ihren Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten. Hierzu gehören die Entwicklung von gewässerfreundlicheren Pflanzenschutzmitteln, die Förderung des integrierten Pflanzenschutzes mit dem Ziel, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu verringern, und auch Überlegungen, ob nicht durch die Rücknahme von Restmengen das Problem der Entsorgung etwas entschärft werden könnte. Dazu gehört aber auch, bei der Werbung für Pflanzenschutzmittel nicht die Probleme des Gewässerschutzes zu verschweigen, sondern den Anwender darauf hinzuweisen, daß der Nutzen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln auch seine Schattenseiten haben kann.Ich meine, daß der Entwurf der neuen Pflanzenschutz -Anwendungsverordnung entgegen der vom Bundesverband der Gas- und Wasserwirtschaft geäußerten Befürchtungen einen ganz erheblichen Fortschritt beim Schutz des Trinkwassers bedeutet. Der Vorwurf des Bundesverbandes der Gas- und Wasserwirtschaft, daß 18 Wirkstoffe, die im Grund- oder Oberflächenwasser gefunden worden sind,
nicht in die Verordnung aufgenommen worden sind, ist aus mehreren Gründen zur Zeit mit einem Fragezeichen zu versehen. Zum einen wird nicht angegeben, an welchen Orten und in welcher Konzentration die Rückstände gefunden wurden, und zum anderen wird offen gelassen,
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auf welchem Wege diese Stoffe in die Gewässer gelangt sein könnten.Ich meine, es stellt sich hier wirklich die Frage, ob nicht auch die Wasserwerke verstärkt in der Kooperation mit den Landwirtschaftsämtern, in der Kooperation mit den Landwirten solchen Fragen nachgehen sollten, auch um uns die notwendigen Informationen an die Hand zu geben. Wir sind auf diese Kooperation angewiesen. Wir sind auf ein intensives Zusammenwirken aller unmittelbar Beteiligten angewiesen, vor allem auch auf den Sachverstand der unmittelbar Beteiligten. Denn ich bin ganz fest davon überzeugt, daß das Gespräch des Leiters eines Wasserwirtschaftsamtes oder eines Wasserversorgungsunternehmens mit dem Landwirt oder mit den Landwirtschaftsbehörden mehr Wirkung hat als manche Verbotsgesetzgebung, die wir hier praktizieren und die wir im Ergebnis nicht überwachen können.In diesem Sinne ist hier wirklich ein Zusammenwirken aller Beteiligten gefordert. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch diese Debatte dazu beitragen könnte, daß das Bewußtsein für die Notwendigkeit dieses Zusammenwirkens gestärkt wird.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir jetzt nicht mehr vor. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Widerspruch erhebt sich nicht dagegen. Dann ist das so beschlossen.
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4852 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Vizepräsident CronenbergIch kann den Punkt 17 der Tagesordnung sowie den Zusatzpunkt 5 zur Tagesordnung aufrufen:17. Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Grundrecht und als Staatsziel— Drucksachen 11/663, 11/2106 —ZP 5 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Sechsunddreißigsten Gesetzen zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksachen 11/10, 11/2106 —Hier ist interfraktionell vereinbart worden, daß je Fraktion ein Redebeitrag bis — das „bis" unterstreiche ich — zu fünf Minuten geleistet werden kann. Ich wäre dankbar, wenn sich die Redner im Interesse der Mitarbeiter des Hauses bemühen würden, sich so kurz wie möglich zu fassen.In diesem Sinne gebe ich dem Abgeordnetne Häfner das Wort.
Sie alle wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrter Herr Präsident, daß Anfang dieser Legislaturperiode, ja schon viel früher, die Aufnahme des Umweltschutzes in das Grundgesetz eine der wesentlichen Forderungen der FDP war, gewissermaßen eine Art Altlast der FDP. Ursprünglich wollte man das noch als Grundrecht. Inzwischen hat man sich davon verabschiedet. Ein bißchen was ist übriggeblieben. So hat man sich stolz gerühmt, dies in den Koalitionsverhandlungen als wesentlichen Kernbereich der FDP-Politik durchgesetzt zu haben, übrigens, wenn man den Aussagen glauben kann, erkauft mit einer Zustimmung zu einem Teil der Sicherheitsgesetze — ein sicherlich frivoler Pakt. Der „Spiegel" hat diesen Zusammenhang kolportiert, unter Berufung auf Bangemann.Dem Bundestag liegen bis heute Entwürfe der GRÜNEN, der SPD und des Bundesrates vor, und das schon lange. Aus der Koalition und aus der Bundesregierung gibt es bis heute keinen Entwurf.
Der Punkt wird ständig verschleppt. Wir hatten eine umfängliche Anhörung, bei der die Zahl der Sachverständigen in einem umgekehrten Verhältnis zur Zahl und teilweise auch zur Qualität der dort vorgebrachten Argumente stand. Offenbar fehlt es am Willen in dieser Koalition, hier wirklich etwas zu tun.Selbst die jeder rechtspolitischen Konsequenz und Wirkung entkleideten Vorschläge des Ministers Engelhard, die in meinen Augen kaum noch das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden — dies zumal nach der Entwicklung, die im folgenden von mir aufgezeigt wird — , scheinen manchen offenbar schon zu weit zu gehen. Damit sind wir beim Punkt.In der vorletzten Sitzung des Rechtsausschusses hat der Vertreter des Bundesministers der Justiz zu denFragen der Abgeordneten geschwiegen. Stattdessen hat das Bundesministerium des Innnern geantwortet. Befragt, warum dies so sei, bekamen wir mitgeteilt, daß die Federführung in der Bundesregierung — nunmehr oder schon immer: das läßt sich nicht prüfen — beim Bundesministerium des Innern läge. Das schlug ein wie eine Bombe. Ausnahmslos alle Mitglieder des Ausschusses, also auch die der FDP, waren darüber — so kann man vorsichtig sagen — verwundert. Das war niemandem bekannt. Dies stellt in meinen Augen eine Brüskierung des Ministers — und des gesamten Koalitionspartners — dar, der hier in einem Kernbereich seiner Verantwortung als Verfassungsminister angetastet wird.Ich möchte noch einmal ganz deutlich festhalten: Sowohl im Rechtsausschuß, wo es ein Vertreter des Hauses Engelhard war, als auch im Bundesrat und im Bundestag hat für die Bundesregierung zu diesem Punkt immer ausschließlich der Bundesminister der Justiz gesprochen. Herr Zimmermann, bei dem die Federführung angeblich liegt, hat sich in diesem Hause oder anderswo nicht ein einziges Mal zu diesem Thema vernehmbar geäußert.Noch am 18. März 1988 hat Herr Engelhard der Öffentlichkeit einen entsprechenden neuerlichen Formulierungsvorschlag vorgelegt. Wie darf man diesen Vorschlag verstehen? Gar nicht, haben wir uns sagen lassen. Herr Minister Engelhard darf Vorschläge machen, zu sagen hat er aber nichts, so wurden wir belehrt. Wenn er zu diesem Thema jedoch etwas sagt oder schreibt, dann tut er das rein privat, aber nicht für die. Bundesregierung. Für die Bundesregierung spricht seit neuestem Herr Zimmermann. Und Herr Zimmermann schweigt.Er schweigt, aber er hat die Federführung. Das ist ein eigenartiger Begriff von Federführung: Der eine hat die Federführung, aber er führt die Feder nicht, und der andere führt die Feder, aber er hat nicht die Federführung. Ich will es meinem Kollegen Bachmaier überlassen, auf diesen Punkt noch näher einzugehen.Aber es ist nicht nur ein Kompetenzstreit in der Bundesregierung. Ein solcher könnte uns ja egal sein. Es ist nicht nur diese eigenartige Form der Persönlichkeitsspaltung, wie sie in der Bundesregierung offenbar in Mode gekommen ist und sich darin zeigt, daß in zunehmendem Maße Minister oder z. B. Angehörige der bayerischen Staatsregierung für die Bundesregierung in geteilter Verantwortung reisen und dann immer das, was einem nicht paßt, privat sagen und den Rest offiziell. Vielmehr hat das erhebliche politische Konsequenzen.Die Differenz zwischen Zimmermann und Engelhard ist ja nicht nur die Luftlinie zwischen ihren beiden Ministerien, sondern es ist eine erhebliche politische Differenz. Nach innen also machen diejenigen das Gesetz, die es nicht wollen und die dafür sorgen werden, daß es nichts wert ist und daß es zu nichts führt — entsprechend wird das Gesetz aussehen —, und nach außen dürfen diejenigen so tun, als hätten sie etwas zu sagen — und damit in der Öffentlichkeit vielleicht Lorbeeren einstreichen — , die im Endeffekt mit den Ergebnissen und Entscheidungen innerhalb der Regierung überhaupt nichts zu tun haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4853
HäfnerIch wäre sehr dankbar — das abschließend —, wenn sich die Herren Minister Engelhard und Zimmermann hierzu endlich im Bundestag äußern könnten, und zwar sowohl hinsichtlich der Zuständigkeit als auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Vorschläge, wobei dann möglicherweise eben auch die Kontroversen deutlich werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können wirklich gespannt sein, was uns von der Koalition und Regierung noch alles geboten wird, bis der Umweltschutz vielleicht doch noch im Grundgesetz verankert wird. Das kann allerdings nur in der Weise geschehen — so meinen wir — , daß wir uns auf eine Formulierung verständigen, von der auch die notwendigen Impulse im Interesse und zum Schutz unserer Umwelt ausgehen und die es wert ist, in die Verfassung aufgenommen zu werden.
Was wir allerdings seit einiger Zeit aus den Reihen der Koalition erleben, ist nicht dazu angetan, uns allzu hoffnungsfroh zu stimmen. Kaum hatte der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung im März 1987 verkündet, daß die Regierung den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern wolle — also genau das, was wir mit unserem Gesetzentwurf fordern und schon in der letzten Legislaturperiode gefordert haben — , da beschloß die Unionsmehrheit im Bundesrat eine Formulierung, die den Umweltschutz zu einem Staatsziel zweiter Klasse degradieren würde. Nach dem Willen der konservativen Bundesratsmehrheit sollte das Staatsziel durch einen Gesetzesvorbehalt und eine Abwägungsklausel so zurechtgestutzt werden, daß es praktisch wirkungslos verpuffen würde.
Der Bundesminister der Justiz meinte damals, am 10. Juli 1987, im Bundesrat — wörtlich — , daß eine Verfassungsnorm, deren eigentlicher Sinngehalt durch ihre Formulierung praktisch ausgehöhlt würde, die schlechteste Lösung wäre. Derselbe Justizminister aber, der noch im Sommer des vergangenen Jahres größte Bedenken gegen diese bis zur Wirkungslosigkeit abgewattete Formulierung der Bundesratsmehrheit hatte, empfiehlt uns nunmehr eine Formulierung des Staatszieles, die nur unwesentlich von der Fassung des Bundesrates abweicht, also eine Formulierung, die er selbst noch vor wenigen Monaten als des Papiers nicht wert erachtete, auf dem sie stand.
Damit aber nicht genug, so ganz nebenbei erfahren wir in diesen Wochen im Rechtsausschuß, daß der Bundesminister der Justiz, der die Bundesregierung bei dieser Frage im Bundestag und im Bundesrat ständig vertrat, in der Bundesregierung für diese Grundgesetzänderung gar nicht federführend zuständig sei, daß diese Federführung vielmehr dem Bundesminister des Innern zukomme. Vom Federführer Zimmermann wissen wir allerdings bis zum heutigen Tage kein Sterbenswörtchen, wie er es mit der Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz hält. Er hat sich bisher peinlich gehütet, die Federführung zur Verwirklichung des in der Regierungserklärung so groß angekündigten Vorhabens zu übernehmen.
Die leidlich verworrene Situation innerhalb der Regierung stellt sich mittlerweile für den außenstehenden Betrachter so dar, daß der ständig für die Bundesregierung auftretende Bundesminister der Justiz sich in Geschäftsführung ohne Auftrag die ihm gar nicht zukommende Federführung geradezu angemaßt hat. Man höre und staune, alle Ehre dem Herrn Bundesjustizminister!
Er muß nunmehr Feder für Feder lassen, während der legitime Federführer Zimmermann nicht im Traum daran denkt, die Feder in die Hand zu nehmen oder sie gar zu führen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, machen Sie diesem grausamen Kompetenzgerangel alsbald ein Ende und lassen Sie uns gemeinsam nach der für uns und die kommenden Generationen besten Lösung suchen, damit der Umweltschutz möglichst bald und wirkungsvoll in das Grundgesetz aufgenommen werden kann. Sie wissen genauso gut wie wir, daß dieses nur mit verfassungsändernder Mehrheit, also auch mit uns, geschehen kann. Der Zumutungen sind es nun genug, lassen Sie uns endlich im Interesse der Umwelt handeln. Dies muß auch ein Handeln im Interesse der Verfassung sein. So kann es auf jeden Fall nicht weitergehen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes würden dies geradezu als eine Demütigung dessen ansehen, was sie mit unserer Verfassung im Schilde geführt haben, wenn sie dieses grausame Spiel sähen.
Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bachmaier und auch Herr Kollege Häfner, es war nicht sehr originell, daß Sie das, was wir gestern im Rechtsausschuß erörtert haben, was dort längst widerlegt worden ist, heute noch einmal aufwärmen. Ich hatte mir gedacht, daß Sie sich etwas Neues überlegen.Die Regierungsparteien haben in der Koalitionsvereinbarung die Absicht erklärt — Sie haben es zitiert —, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern
und zu diesem Zweck durch die Fraktionen im Einvernehmen mit den Bundesländern einen Vorschlag zu erarbeiten. Wir, die Koalitionsparteien, sind dabei, uns auf einen Vorschlag zu einigen.
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4854 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Eylmann— Sie können sich darauf verlassen, daß wir uns einigen. Sicherlich bleibt Ihnen die Hoffnung, daß wir es nicht tun. Was bleibt der Opposition, wenn nicht die Hoffnung? Wir werden infolgedessen den Umweltschutz im Grundgesetz verankern, es sei denn, Sie, die SPD, hindern uns wegen der Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit daran.
Bereits in der Gegenerklärung der Bundesregierung zum Vorschlag des Bundesrates steht, daß es Aufgabe der Fraktionen ist, sich zu einigen. Sie benutzen dieses Thema zu einer billigen Polemik gegen die Regierung, die hier gar nicht gefragt ist. Wir, die Fraktionen, sind gefragt.
Wo bleibt eigentlich das Selbstverständnis des Parlaments, das sich in dieser wichtigen Frage plötzlich von der Regierung an die Hand nehmen lassen will?
— Ich lasse gerne eine Zwischenfrage zu.
Herr Abgeordneter de With, ich lasse die Zwischenfrage jetzt zu. Aber Sie wissen ja, daß die Geschäftsordnung das bei diesen Kurzbeiträgen normalerweise nicht zuläßt. Es handelt sich also um eine ausgesprochene Ausnahmeregelung. Bitte schön.
Herr Kollege Eylmann, wollen Sie bestreiten, daß die Bundesregierung und auch die sie tragenden Parteien schon in der letzten Legislaturperiode im Rechtsausschuß auf unser ständiges Drängen stets gesagt haben: Man käme zusammen, es würde schon eine Formulierung geboren, und daß dies, obwohl es nunmehr nicht nur in der Koalitionsvereinbarung, sondern auch in der Regierungserklärung steht, bis heute nach einem Ablauf von mindestens vier Jahren nicht geschehen ist?
In der Regierungserklärung, Herr Kollege de With, und in der Koalitionsvereinbarung steht, daß wir in dieser Legislaturperiode zu einer Verankerung des Umweltschutzes kommen werden. Sie können sich darauf verlassen, daß diese Vereinbarung umgesetzt wird.
— Bitte schön, wir haben noch ausreichend Zeit. Hektik ist in dieser Frage nun wirklich nicht am Platze.Grundlage unserer Überlegungen ist der Vorschlag des Bundesrates. Sie dagegen wollen nur die nackte Formulierung, daß die natürlichen Lebensgrundlagen unter dem besonderen Schutz des Staates stehen. Uns erscheint — das will ich betonen — ein Gesetzesvorbehalt, wie er von namhaften Verfassungsrechtlern befürwortet wird, unverzichtbar. Es läßt sich nämlich nicht ernstlich in Abrede stellen, daß sich eine Staatszielbestimmung in erster Linie an das Parlament richtet und vom Parlament umgesetzt werden muß. Sicherlich bleibt eine Staatszielbestimmung mittelbar auch für die Exekutive und für die Judikative von Bedeutung, dort wo es um das planerische Ermessenund um die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe geht. Das ist völlig unbestritten. Das ändert aber nichts daran, daß die Durchsetzung eines Staatsziels die originäre Aufgabe der Legislative ist.
Wer sich deshalb gegen einen Gesetzesvorbehalt mit der Begründung wendet, ein Staatsziel müsse unmittelbar von Rechtsprechung und Verwaltung anwendbar sein,
läßt die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema außer acht, verkennt die Justitiabilität eines Staatsziels Umweltschutz, bürdet den Gerichten eine Last auf, die sie nicht tragen können, und redet letztlich der Entmachtung des Parlaments in dieser wichtigen Frage das Wort.
Das ist doch die Sorge, die die Fachleute überall und auch z. B. die Kommunalpolitiker in Ihren Reihen umtreibt, daß nämlich in Zukunft Umweltschutz nicht mehr in erster Linie von uns betrieben wird auf der Grundlage der Verfassung, sondern von den Gerichten. Wir gehen doch an eine Änderung des Grundgesetzes heran im Lichte der Erfahrungen der letzten 40 Jahre, wo wir erlebt haben, daß sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in immer größerem Maße in die politischen Enscheidungen hineingedrängt hat.
Wollen Sie das denn?
Wir sind berufen, diese politischen Grundentscheidungen zu treffen. Diese Bewertung — dabei bleibe ich — ist eine politische Aufgabe der Abgeordneten dieses Parlaments.
Gerade weil dem Umweltschutz in der Gesetzgebung ein höherer Stellenwert beizumessen ist, wollen wir uns gleichsam im Wege der Selbstbindung den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen als stets und ständig zu beobachtende Pflicht auferlegen.Sie wissen, meine Damen und Herren von der Opposition: Die angestrebte Grundgesetzänderung läßt sich nur verwirklichen, wenn wir aufeinander zugehen. Wir haben im Rechtsausschuß angeboten, in eine Sachdiskussion darüber einzutreten, wie die Notwendigkeit der Umsetzung des Staatsziels Umweltschutz durch die Legislative im Gesetz angemessen zum Ausdruck gebracht und formuliert werden kann. Sie haben bisher keinerlei Bewegung gezeigt.
Sie haben wie Shylock gesagt: Wir stehen hier auf unserem Schein; alles andere interessiert uns nicht. Damit werden Sie Ihrer Aufgabe in diesem Falle nicht gerecht.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988 4855
EylmannHier können Sie nämlich nicht sagen: Wir können leichthin dagegen sein; wir haben die Entscheidung ja nicht in der Hand. Werden Sie Ihrer Verantwortung, die Sie in diesem Falle wegen der verfassungsändernden Mehrheit, die wir benötigen, tragen, gerecht! Ich fordere Sie auf, sich der Sachdiskussion zu stellen und Kompromißbereitschaft zu zeigen.
Zum Schluß hat der Herr Abgeordnete Kleinert das Wort.
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Herr Bachmaier, das haben Sie doch wohl selber nicht geglaubt. Die Sache ist doch eben von Herrn Eylmann schon durchaus richtig angedeutet worden.
Wenn wir das von Ihnen so dringend gewünschte Staatsziel Umweltschutz in unsere Verfassung bekommen müssen, brauchen wir dazu eine Zweidrittelmehrheit in diesem Hause.
Insofern ist es etwas skurril, wenn man von Ihnen hier hört, diese Regierung könne sich nicht einigen oder der und jener könnte sich nicht einigen. Sie sind an dem Prozeß ganz dringend beteiligt.
Und falls die Veranstaltung für Sie von besonderer Wichtigkeit sein sollte, sind Sie genauso aufgefordert wir wir, darüber nachzudenken,
wie es uns denn zum Schluß gelingt, hier mit Zweidrittelmehrheit die Sache ins Grundgesetz zu kriegen. Das herkömmliche Schema zu verwenden: „Ihr seid die Regierung, und wir können uns als Opposition nur lustigmachen", versagt hier.
Und deshalb — das wissen ja mehrere von denen, die ich da bei Ihnen sitzen sehe, Gott sei Dank ganz gut — sind von einer besonderen Dürftigkeit erst einmal die Auslassungen der GRÜNEN gewesen, aber von bedauernswerter Dürftigkeit leider auch die Auslassungen der Sozialdemokratie,
weil Sie nämlich nicht nur an der Frage vorbeigehen, wer die Zweidrittelmehrheit beschaffen muß, nämlich wir alle zusammen, sondern weil Sie alle beide peinlichst vermieden haben,
auch nur auf eine einzige der schwierigen Sachfragen, die hier zur Rede stehen, einzugehen.Herr Kollege Eylmann hat gesagt, wir sind hier an einem Punkt: Da reden alle möglichen Menschen immer von Staatszielbestimmung im Grundgesetz und wissen überhaupt nicht, wovon sie reden.
Denn der Unterschied zwischen einem Staatsziel und einem Grundrecht — anders hätte das Wort keinen Sinn — ist der, daß das eine eine Proklamation und das andere eine Verpflichtung ist, die praktische Auswirkungen in der täglichen Rechtsprechung der Gerichte haben kann.
Und dann gehen Menschen reihenweise her und unterhalten ihre Mitgliederversammlungen
mit dem kolossalen Bedürfnis nach der Einfügung dieser Staatszielbestimmung,
statt daß Sie hier mal sagen, wie Sie es denn mit der Problematik halten, wann der Gesetzgeber das Wort hat. Und das sind auch Sie, selbst wenn Sie mal gerade zufällig in der Opposition sind.
Sogar falls Ihnen das keinen Spaß machen sollte, sind Sie immer noch Gesetzgeber, obwohl Sie vielleicht in dem einen oder anderen Fall nicht die Mehrheit hier auf die Füße kriegen;
aber Sie sind Gesetzgeber. Und deshalb müssen Sie sich doch bei der Gelegenheit vielleicht wenigstens der Frage widmen, ob Herr Montesquieu nicht gewisse Dinge zu Recht angesprochen hat, als er sagte, man solle auf der einen Seite die Gesetzgebung und auf der anderen Seite die Jurisdiktion haben.
Ihnen allen, wie Sie da sitzen, ist normalerweise dieses Problem ganz klar und deutlich. Nur, wenn Sie abends spät in den Plenarsaal kommen, dann tun Sie so, als gäbe es dieses Problem für Sie nicht.
So einfach können Sie sich aus der Sache nicht herausstehlen.
Wir müssen zusammen eine Zweidrittelmehrheit bekommen. Die GRÜNEN brauchen wir dazu nicht unbedingt. Die Sozialdemokraten brauchen wir.
— Ich meine das mathematisch, rein mathematisch.
Deshalb werden wir unsere durchaus fachlich-sachlichen und freundschaftlichen Gespräche mit dem Ziel
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4856 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 71. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1988
Kleinert
fortsetzen, das, was Sie hier als so wichtig dargestellt haben, schließlich gemeinsam
zu erreichen. Das Vortragen formulärer, außergewöhnlich nebensächlicher Fakten wird Sie aus der Verantwortung nicht herausbringen.In dem Sinne arbeiten wir dann wohl gemeinsam weiter.Danke schön.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. April, 9 Uhr ein und wünsche Ihnen allen einen weiterhin vergnüglichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.