Protokoll:
11059

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 11

  • date_rangeSitzungsnummer: 59

  • date_rangeDatum: 5. Februar 1988

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 12:52 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/59 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 59. Sitzung Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg Hinsken 4088 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde betr. Überlegungen der Bundesregierung, das Vorruhestandsgesetz am 31. Dezember 1988 auslaufen zu lassen Heyenn SPD 4083 B Müller (Wesseling) CDU/CSU 4084 B Hoss GRÜNE 4085 B Cronenberg (Arnsberg) FDP 4086 B Hinsken CDU/CSU 4087 B Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 4088 B Dr. Blüm, Bundesminister BMA 4089 A Reimann SPD 4091 A Schemken CDU/CSU 4091 D Frau Fuchs (Köln) SPD 4092 D Dr. Haussmann FDP 4094 A Doss CDU/CSU 4095 A Stratmann GRÜNE 4096 B Dr. Warrikoff CDU/CSU 4097 A Tagesordnungspunkt 20: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Die Zukunft Berlins zwischen Ost und West (Drucksache 11/1094) b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Sellin und der Fraktion DIE GRÜNEN: Kürzung der Berlinförderung und Bildung eines Finanzfonds zur Verbesserung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Situation der Stadt (Drucksache 11/1187 (neu)) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU und der FDP: Zur Berlin- und Deutschlandpolitik (Drucksache 11/1758) Heimann SPD 4098 B Dr. Schäuble, Bundesminister BK . . . 4102B Sellin GRÜNE 4105 C Lüder FDP 4108A Diepgen, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 4109D Dr. Mitzscherling SPD 4112A Kittelmann CDU/CSU 4115 A Dr. Sohns FDP 4117 D Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes (Drucksache 11/1556) Clemens CDU/CSU 4118D Graf SPD 4120A Dr. Hirsch FDP 4121D Frau Olms GRÜNE 4122D Spranger, Parl. Staatssekretär BMI . . . 4123 C Nächste Sitzung 4124D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 4125* A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988 Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 4125* C Anlage 3 Sicherheitsvorkehrungen für Transportstrecken und Standorte defekter Castorbehälter MdlAnfr 18 29.01.88 Drs 11/1734 Frau Wollny GRÜNE ErgSchrAntw PStSekr Gröbl BMU . . . . 4125* D Anlage 4 Reise von Ministerpräsident Strauß als „Sonderbotschafter" des Bundeskanzlers nach Südafrika; Erfolg der Reise MdlAnfr 32, 33 29.01.88 Drs 11/1734 Schily GRÜNE SchrAntw StMin Dr. Stavenhagen BK . . 4126* A Anlage 5 Reise des Ministerpräsidenten Strauß in das südafrikanische Homeland Bophutatswana im Auftrag des Bundeskanzlers sowie Unter- richtung der angolanischen Regierung über das Treffen mit dem Führer der Widerstandsbewegung UNITA MdlAnfr 34, 35 29.01.88 Drs 11/1734 Verheugen SPD SchrAntw StMin Dr. Stavenhagen BK . . 4126* C Anlage 6 Beauftragung des Ministerpräsidenten Strauß mit einer Reise nach Südafrika durch den Bundeskanzler; Verlauf der Reise MdlAnfr 36, 37 29.01.88 Drs 11/1734 Büchler (Hof) SPD SchrAntw StMin Dr. Stavenhagen BK . . 4126* D Anlage 7 Beurteilung der außenpolitischen Lage Südafrikas und Besuch Namibias durch den bayerischen Ministerpräsidenten Strauß in Begleitung des südafrikanischen Außenministers MdlAnfr 38, 39 29.01.88 Drs 11/1734 Lutz SPD SchrAntw StMin Dr. Stavenhagen BK . . 4127* C Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988 4083 59. Sitzung Bonn, den 5. Februar 1988 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Amling 5. 2. Frau Beck-Oberdorf 5.2. Brauer 5.2. Frau Dempwolf 5. 2. Dr. Dollinger 5. 2. Dr. Dregger 5. 2. Eylmann 5. 2. Frau Flinner 5. 2. Frau Garbe 5. 2. Gattermann 5.2. Dr. Geißler 5. 2. Dr. von Geldern 5. 2. Gerster (Worms) 5. 2. Grünbeck 5. 2. Hasenfratz 5. 2. Hedrich 5. 2. Freiherr Heereman von Zuydtwyck 5.2. Frau Dr. Hellwig 5. 2. Dr. h. c. Herkenrath 5. 2. Höffkes 5.2. Hoppe 5. 2. Ibrügger 5. 2. Kiechle 5. 2. Kißlinger 5. 2. Klein (München) 5. 2. Dr. Köhler (Wolfsburg) 5. 2. Kossendey 5. 2. Kreuzeder 5.2. Dr. Kunz (Weiden) 5. 2. Dr. Graf Lambsdorff 5. 2. Leonhart 5. 2. Louven 5.2. Lowack 5. 2. Frau Luuk 5. 2. Meyer 5.2. Mischnick 5.2. Dr. Müller * 5. 2. Pfeffermann 5. 2. Repnik 5. 2. Reschke 5. 2. Reuschenbach 5. 2. Ronneburger 5. 2. Roth 5. 2. Roth (Gießen) 5. 2. Rühe 5. 2. Dr. Rüttgers 5. 2. Frau Schilling 5. 2. Schluckebier 5. 2. Frau Schoppe 5. 2. Schütz 5. 2. Dr. Spöri 5. 2. Dr. Stoltenberg 5. 2. Frau Terborg 5. 2. Frau Dr. Timm 5. 2. Frau Traupe 5. 2. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Voigt (Frankfurt) ** 5. 2. Dr. Waffenschmidt 5. 2. Dr. Wernitz 5. 2. Wieczorek (Duisburg) 5. 2. Wiefelspütz 5. 2. Wischnewski 5.2. Dr. Wulff 5. 2. Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksachen 10/2123, 10/2124, 10/2126 Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Drucksache 10/1991 Nr. 2 Drucksache 11/1656 Nr. 3.2 Anlage 3 Ergänzende Antwort des Parl. Staatssekretärs Gröbl auf die Zusatzfragen des Abgeordneten Dr. Lippelt (Hannover) (GRÜNE) zur Frage der Abgeordneten Frau Wollny (GRÜNE) (Drucksache 11/1734 Frage 18, 57. Sitzung, Seite 3944): Zu welchen spezifischen Standorten sollen gegebenenfalls defekte Castorbehalter gebracht werden, und welche Sicherheitsvorkehrungen gibt es hierfür entlang der spezifischen Transportstrecken und den jeweiligen Standorten? Wie von mir ausgeführt, ist es zutreffend, daß im Zwischenlager Gorleben Reparaturen an defekten Castorbehältern durchgeführt werden können und hierzu auch eine Genehmigung vorliegt. Reparaturen allerdings, die eine verstärkte Vorsorge gegen mögliche radiologische Belastungen erfordern, können im Zwischenlager nicht durchgeführt werden und müssen im Bedarfsfall in anderen kerntechnischen Anlagen nach Maßgabe einer Genehmigung nach § 7 oder § 9 Atomgesetz erfolgen. Entsprechende Genehmigungen haben beispielsweise die Kernkraftwerke Stade und Isar II; Beispiele von Kernkraftwerken, für die entsprechende Anträge gestellt wurden sind Würgassen, Brunsbüttel, Brokdorf und Emsland. Daneben sieht der Antrag auf Errichtung der Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben die Möglichkeit vor, dort Behälter mit abgebrannten Brennelementen zu reparieren. 4126* Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988 Im übrigen werden im Zwischenlager Gorleben nur dann Behälter akzeptiert, wenn sichergestellt ist, daß diese z. B. für einen Reparaturfall, der im Zwischenlager nicht durchgeführt werden kann, in andere kerntechnische Anlagen aufgrund einer Genehmigung nach § '7 oder § 9 Atomgesetz verbracht werden können. " Anlage 4 Antwort des Staatsministers Dr. Stavenhagen auf die Frage des Abgeordneten Schily (GRÜNE) (Drucksache 11/1734 Fragen 32 und 33): Ist der Bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß als „Sonderbotschafter" von Bundeskanzler Kohl oder der gesamten Bundesregierung im Januar dieses Jahres nach Südafrika gereist, und sieht ihn die Bundesregierung besonders qualifiziert fur eine solche Mission, weil nach der von Strauß neuerlich bekräftigten Auffassung die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auch für die schwarze Bevölkerung von Südafrika ,,weder der Gerechtigkeit noch der Freiheit dient sondern dem Chaos den Weg bahnt"? Wie beurteilt die Bundesregierung den „Erfolg" der Südafrikareise von Ministerpräsident Strauß angesichts äufierst kritischer Stellungnahmen, nicht zuletzt aus Kreisen dei südafrikanischen Kirchen und Gewerkschaften (Generalsekretär des südafrikanischen Rates der Kirchen, Frank Chikane: Die Reise von Strauß habe bewirkt, „daß unsere Schmerzen und unser Leiden noch größer werden" laut Bericht Frankfurter Rundschau vorn 28. Januar 1988, Seite 11? Zu Frage 32: Der Bundeskanzler hat den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß gebeten, nach Mosambik und Südafrika zu reisen, um hier in Gesprächen Chancen für eine friedliche Entwicklung der Region zu erkunden und wenn möglich auch einen Beitrag hierzu zu leisten. Der Bundeskanzler hat Ministerpräsident Strauß diese Mission auch deswegen übertragen, weil er wie wenige Politiker durch persönliches Ansehen und Sachkenntnis Einfluß auf die Regierung Südafrikas hat. Ohne Mitwirkung der südafrikanischen Regierung ist eine friedliche Lösung der inneren Konflikte Südafrikas nicht denkbar. Ministerpräsident Strauß hat sich auf Bitte des Bundeskanzlers hei der südafrikanischen Regierung intensiv um baldige Aufnahme des Dialogs zwischen allen politischen Kräften des Landes, um weiteren Abbau der Apartheid und um Freilassung der politischen Gefangenen bemüht. Zu Frage 33: Ziel der Südafrika-Politik der Bundesregierung ist es, zum Abbau der Konfrontation zwischen den Rassen beizutragen und den Dialog aller politischen Kräfte über die Zukunft des Landes zu fördern. In diesem Sinne hat der Bundeskanzler Ministerpräsident Strauß gebeten, seine Kontakte in der Republik Südafrika zu nutzen. Strauß hat sich dabei vor allem an die südafrikanische Regierung gewandt, weil diese über den Schlüssel verfügt, der schwarzen und farbigen Bevölkerungsmehrheit des Landes ihre gerechte Beteiligung an der politischen Willensbildung zu verschaffen. Logischerweise muß man vor allem mit denen sprechen, deren Politik man ändern will. Ministerpräsident Strauß hat der südafrikanischen Regierung die dringende Erwartung der Bundesregierung hinsichtlich der Entlassung von politischen Gefangenen, der Freisetzung von Mandela und der Öffnung zur Überwindung der Apartheid sehr deutlich gemacht. Ein erster Erfolg seines Einsatzes war die von der südafrikanischen Regierung zugestandene Entlassung einer Reihe politischer Gefangener. Anlage 5 Antwort des Staatsministers Dr. Stavenhagen auf die Fragen des Abgeordneten Verheugen (SPD) (Drucksache 11/1734 Fragen 34 und 35): Hat der Bundeskanzler den Bayerischen Ministerprasidenten Strauß beauftragt, das südafrikanische Homeland Bophutatswana zu besuchen und dort die Forderung nach voller Anerkennung der staatlichen Souveränität von Bophutatswana zu vertreten? Hat der Bundeskanzler dafür Sorge getragen, daß die Regierung der Volksrepublik Angola von dem Treffen des Bayerischen Ministerpräsidenten Strauß, der im :Auftrag des Bundeskanzlers in das südliche Afrika gereist war, mit dem Fuhrer der angolanischen Rebellenbewegung UNITA. Jonas Savimbi vorher unterrichtet wurde? Zu Frage 34: Nein. Der Besuch in Bophutatswana erfolgte nicht im Auftrag des Bundeskanzlers. Ministerpräsident Strauß selbst hat klargestellt, daß dieser Besuch seiner persönlichen Entscheidung entsprach. Zu Frage 35: Nein. Dieses Gespräch entsprach einem persönlichen Wunsch von Ministerpräsident Strauß. Es erfolgte nicht im Auftrag des Bundeskanzlers und war mit diesem nicht vorher abgestimmt. Anlage 6 Antwort des Staatsministers Dr. Stavenhagen auf die Fragen des Abgeordneten Büchler (Hof) (SPD) (Drucksache 11/1734 Fragen 36 und 37): Aus welchem Grunde hat der Bundeskanzler mit der Reise in das südliche Afrika den Bayerischen Ministerpräsidenten Strauß und nicht den Bundesaulienminister Genscher beauftragt? Wie beurteilt der Bundeskanzler Ergebnisse und Verlauf der Reise des Bayerischen Ministerpräsidenten Strauß im Hinblick auf clie Tatsache, daß die führenden Vertreter der weißen und schwarzen Opposition in Sudafrika sowie der südafrikanische Kirchenrat und die katholische Bischofskonferenz fur das südliche Afrika Begegnungen mit dem Beauftragten des Bundeskanzlers abgelehnt haben? Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988 4127 Zu Frage 36: Der Bundeskanzler hat Ministerpräsident Strauß nicht mit der Führung von Regierungsverhandlungen beauftragt. Ziel der Reise war vielmehr, Möglichkeiten zu erkunden, wie die Bundesregierung angesichts der sich verschlechternden Lage und der Zunahme der Gewalt bei der friedlichen Lösung der Konflikte des Südlichen Afrika hilfreich sein kann. Der bayerische Ministerpräsident Strauß verfügt im Südlichen Afrika über eine Reihe von Beziehungen und Kontakten, die der Bundeskanzler im Sinne der Friedenspolitik der Bundesregierung nutzen wollte. Zu Frage 37: Die Reise hat eine Reihe positiver Ansätze gebracht, die weiterverfolgt werden. Ministerpräsident Strauß hat insbesondere der Regierung Südafrikas, bei der der Schlüssel für die weitere Entwicklung der gesamten Region liegt, die Erwartungen der Bundesregierung für einen friedlichen Wandel verdeutlicht: Er hat die südafrikanische Regierung im direkten Gespräch auf die dringende Notwendigkeit eines umfassenden Abbaus der Apartheid, eines baldigen nationalen Dialogs mit allen politischen Kräften des Landes, der Überwindung von Gewalt und Gegengewalt und der Einhaltung der Menschenrechte hingewiesen. Er hat insbesondere versucht, die südafrikanische Regierung zu Fortschritten im Bereich der Menschenrechte zu bewegen. Ein unmittelbares Ergebnis war die von Südafrika zugesagte Freilassung einer Reihe von politischen Gefangenen. Anlage 7 Antwort des Staatsministers Dr. Stavenhagen auf die Fragen des Abgeordneten Lutz (SPD) (Drucksache 11/1734 Fragen 38 und 39): Hat der Bundeskanzler davon Kenntnis gehabt, daß der von ihm mit einer Reise in das südliche Afrika beauftragte Bayerische Ministerpräsident Strauß sich bei seinem Besuch in Namibia vorn Außenminister der illegal in Namibia anwesenden Nlacht Namibias, nämlich der Republik Südafrika. begleiten lassen würde? Teilt der Bundeskanzler die Auffassung, die der von ihm mit einer Reise nach Südafrika beauftragte Bayerische .Ministerpräsident Strauß vertreten hat, daß kein Land so unfair behandelt würde wie Südafrika? Zu Frage 38: Der Auftrag des Bundeskanzlers bezog sich nicht auf die Reise von Ministerpräsident Strauß nach Namibia, sondern ausdrücklich nur auf die Besuche in Mosambik und der Republik Südafrika. Bei dem Namibia-Besuch von Ministerpräsident Strauß handelte es sich daher um eine private Reise, bei der er über seine Begleitung in eigener Verantwortung zu entscheiden hatte. Zu Frage 39: Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß war vom Bundeskanzler beauftragt, in der Republik Südafrika Möglichkeiten zu sondieren, den Friedensprozeß und hier insbesondere den Dialog aller politischen Kräfte des Landes zu fördern. In diesem Zusammenhang ergibt sich für den Bundeskanzler kein Anlaß, Wertungen über das Verhältnis zwischen Südafrika und der übrigen Welt zu kommentieren.
Gesamtes Protokol
Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105900000
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf :
Aktuelle Stunde
Überlegungen der Bundesregierung, das Vorruhestandsgesetz am 31. Dezember 1988 auslaufen zu lassen
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Heyenn.

Günther Heyenn (SPD):
Rede ID: ID1105900100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Meldungen bestimmen die Tagesaktualität auf dem Arbeitsmarkt: Erstens. Die Arbeitslosigkeit nimmt stark zu. Ohne das günstige Wetter hätte die Zahl der Arbeitslosen wesentlich über 2,5 Millionen gelegen. Heinrich Franke sagt: Die ungünstige Tendenz hält an.
2,5 Millionen Arbeitslose bei einem Arbeitsminister, Herr Blüm, der noch vor wenigen Jahren die Arbeitslosenzahl auf unter 1 Million drücken wollte. Ich glaube, Herr Arbeitsminister, Sie haben auf der ganzen Linie versagt.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr! — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das zweite: Gleichzeitig kassiert diese Regierung das Vorruhestandsgesetz. Dieses Gesetz ist ihr einziger bescheidener Beitrag zur aktiven Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zu dem sie sich überhaupt aufraffen konnte. Ich glaube, das ist gegenüber den Arbeitslosen eine unmenschliche Politik.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollten das Gesetz doch nicht!)

Die Entwicklung zur 35-Stunden-Woche konnte von der Regierung mit dem Vorruhestand nicht torpediert werden. Aber das gewiß sehr unvollkommene Vorruhestandsgesetz hat nach den Berechnungen des DIW mehr als 60 000 Neueinstelltingen ermöglicht, rund 40 000 Arbeitslosen zu einem neuen Arbeitsplatz verholfen. Daß man aber ausgerechnet in einer Zeit, in der mit einer neuen Welle der Massenarbeitslosigkeit gerechnet werden muß, auch das wenige, was man noch hat, abschaffen will, ist blanker Zynismus.

(Beifall bei der SPD)

Die Regierung gibt damit eine beschäftigungs- und finanzpolitische Bankrotterklärung ab.
Heute zeigt sich, daß die massiven Einsparaktionen, die tiefen Einschnitte ins soziale Netz umsonst gewesen sind. Schon vor Jahren sind die finanziellen Reserven, die ein aktives Handeln ermöglicht hätten, restlos verspielt worden.
Mit der Abschaffung des Vorruhestandsgesetzes wird nun eine neue Welle des Sozialabbaus eingeläutet. Die nächsten Schritte werden nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein folgen.
Was macht die Regierung? Sie setzt zusammen mit den Koalitionsfraktionen eine Kommission ein. Wollen Sie damit eigentlich den Eindruck erwecken, es werde einen gleichwertigen Ersatz für den Vorruhestand geben? Ich sage Ihnen: Das sind nur Ablenkungsversuche. Kohl und Blüm sollen das Gesicht wahren, und Sie wollen über die nächsten Landtagswahltermine kommen. Die Beerdigung erfolgt dann im Mai.
Sie haben keine Wahl; denn diese Regierung ist finanzpolitisch am Ende.

(Beifall bei der SPD)

In der Rentenversicherung werden wir schon 1990 mit Milliardendefiziten zu rechnen haben. In Nürnberg bei der Bundesanstalt für Arbeit Ende 1989 ein Minus von 5 Milliarden DM.

(Hört! Hört! bei der SPD)

In der Krankenversicherung wollen Sie immer schneller steigenden Beiträgen mit Sozialabbau und Eigenbeteiligung begegnen. Die Nettoneuverschuldung des Bundes liegt nach heutigen Schätzungen bei 45 Milliarden DM — wie es bei Erdbeben heißt: auf der nach oben offenen Richterskala. Wir können da noch einiges erwarten.
Ich glaube, meine Damen und Herren, die Endzeit dieser Regierung ist da.

(Oh-Rufe bei der CDU/CSU)




Heyenn
Hier helfen auch nicht die Einsparungen von 400 Millionen DM für den gestrichenen Vorruhestand 1989. Sollten Sie allerdings einen bescheidenen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten wollen, dann brauchen Sie keine Kommission, dann brauchen Sie keine Modelle,

(Reimann [SPD]: Sehr gut!)

dann brauchen Sie ganz einfach nur das Vorruhestandsgesetz zu verlängern.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Wir sind auch dafür, es zu verbessern. Aber zunächst geht es um die Abschaffung oder die Verlängerung; das ist die Nagelprobe.
Meine Fraktion wird einen Antrag auf Verlängerung des geltenden Rechts einbringen und damit auch diejenigen auffordern, Farbe zu bekennen, die zuerst immer ganz laut schreien und dann, wenn es zur Abstimmung kommt, ganz leise und am liebsten heimlich mitstimmen. Ich meine, Herr Scharrenbroich, die Arbeitnehmervertreter in den Unionsfraktionen.
Nützen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die nächsten Wochen, um etwas nachzuholen! Herr Geißler hat Ihnen bescheinigt, Sie hätten das Problem nicht richtig ausdiskutiert. Wenn Sie es in den nächsten Wochen ausdiskutieren, können Sie unserem Antrag auf Verlängerung in den kommenden Wochen zustimmen.
Herr Blüm, zu Ihnen noch ein persönliches Wort:

(Zuruf von der SPD: Kann man überhaupt persönliche Worte für den finden?)

Man konnte in dieser Woche lesen, daß Sie vom Vorruhestand persönlich bedroht sind, wenn Sie eine bestimmte Reise nicht unterlassen.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das ist ja Karneval, was Sie hier treiben! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Nach diesem Spektakel in der Regierungskoalition kann ich für viele Arbeitslose nur sagen: Fahren Sie nach Südafrika, Herr Blüm!
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105900200
Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller (Wesseling).

(Reimann [SPD]: Aber jetzt!)


Alfons Müller (CDU):
Rede ID: ID1105900300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Heyenn, ich will es gleich vorweg sagen: In der politischen Auseinandersetzung um den Vorruhestand wird sehr viel geheuchelt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Beifall und Zurufe von der SPD)

Auch Ihre Erklärungen und Reden, meine Damen und Herren von der Opposition, klingen scheinheilig. Haben Sie eigentlich vergessen, mit welcher Häme Sie im März 1984 unser Vorruhestandsgesetz bekämpft und abgelehnt haben?

(Dr. Haussmann [FDP]: Aber wirklich!)

Damals sind hier doch die gleichen Leute angetreten und haben uns lauthals beschimpft, die heute die Verlängerung des so verteufelten Gesetzes fordern, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Diese Unehrlichkeit ist unerträglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich sage das auch an die Adresse der DGB-Gewerkschaften, die heute lauthals aufschreien, die es aber vier Jahre lang unterlassen haben, dieses Gesetz in ihre Tarifvereinbarungen einzubeziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Und trotzdem, meine Damen und Herren, hat das Vorruhestandsgesetz mehr als 120 000 älteren Arbeitnehmern das vorzeitige Ausscheiden aus dem Arbeitsleben ermöglicht.

(Zurufe von der SPD)

Damit hat es Zehntausenden jungen Menschen und vielen Arbeitslosen einen Arbeitsplatz gebracht.

(Heyenn [SPD]: Und darum muß damit Schluß sein? — Weitere Zurufe von der SPD)

Das ist ein nicht zu übersehender Erfolg im Kampf gegen die überwiegend strukturell bedingte Arbeitslosigkeit.
Aber, meine Damen und Herren, wir rennen nicht blind auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter. Die in vier Jahren mit dem Gesetz gemachten Erfahrungen veranlassen uns, darüber nachzudenken, ob und in welcher Weise die Instrumente unserer Arbeitsmarktpolitik nicht noch wirksamer eingesetzt werden können. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß das Vorruhestandsgesetz nur ein Teil unserer Bemühungen im Kampf gegen die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist!

(Lachen und Zurufe von der SPD)

Diese Regierung, meine Damen und Herren, hat für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit mehr getan, als Sie es je fertiggebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Lachen und Widerspruch bei der SPD und den GRÜNEN)

— Natürlich! Nehmen Sie doch die Fakten zur Kenntnis: mehr als 15 Milliarden DM für Qualifizierungsmaßnahmen, dreimalige Verbesserung des Arbeitslosengeldes und zahlreiche andere Maßnahmen. Meine Damen und Herren, sonst wäre die Arbeitslosigkeit doch noch viel höher, als sie heute leider ist.

(Dr. Vogel [SPD]: Herr Ost begrüßt doch die Zahlen! — Weitere Zurufe von der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Vogel in den Vorruhestand!)

Meine Damen und Herren, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist für uns die Herausforderung Nummer eins. Alle anderen Politikziele haben sich dieser Aufgabe unterzuordnen. Unter dem Vorsitz von



Müller (Wesseling)

Norbert Blüm wird jetzt eine Kommission eingesetzt,

(Lachen bei der SPD — Dreßler [SPD]: Das ist die Gesichtswahrungskommission, die Kommission zur Wahrung von CDU-Gesichtern!)

die besondere Maßnahmen überlegt, um Hilfen für die lebensälteren Arbeitslosen und für die Langzeitarbeitslosen anzubieten, nämlich für die Arbeitslosen aus den Problemgruppen, für die, die nicht genügend qualifiziert sind, und für die vielen, die einen Teilzeitarbeitsplatz suchen oder die sich schrittweise aus dem Arbeitsleben zurückziehen wollen. Das ist doch das eigentliche Problem der Arbeitslosigkeit.
Ich danke meinem Kollegen Scharrenbroich für seinen engagierten Einsatz in dieser Frage.

(Lachen bei der SPD)

Ich danke aber auch dem DGB-Kollegen Günter Döding ausdrücklich für seine Vorschläge zum Teilvorruhestand und ebenso dem Kollegen Roland Issen von der DAG. Diese Ideen werden wir aufgreifen. Ich halte es überhaupt für notwendig, daß wir die Erfahrungen der Sozialpartner stärker in diese Arbeit einbeziehen. Ich bin davon überzeugt, daß der Teilvorruhestand erhebliche Auswirkungen zur Entlastung des Arbeitsmarktes bringen kann und vor allem den vielen Teilzeitarbeit suchenden Arbeitslosen eine neue Chance geben kann.
Meine Damen und Herren, die entscheidende Frage lautet: Wie schaffen wir noch mehr neue, sichere und rentable Arbeitsplätze? Ich meine, da kann sich die Bilanz Helmut Kohls sehen lassen: In den vergangenen vier Jahren ist die Zahl der Beschäftigten um fast 800 000 gestiegen.

(Dreßler [SPD]: 1,9 Millionen!)

Ich möchte diese Regierung ermuntern, ihre Politik der Stetigkeit und der Stabilität fortzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Die Sozialausschüsse stehen fest in dieser Union verankert, und wir stehen zu unserem Kanzler,

(Zurufe von der SPD)

zu Norbert Blüm, zu dieser Koalition, und wir sind für alle Alternativlösungen offen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Heyenn [SPD]: Das Parlament lacht! — Dreßler [SPD]: Jetzt müssen sie sich schon im Plenum hinter Kohl stellen!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105900400
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.

Willi Hoss (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1105900500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit den Vertretern der Regierungskoalition muß man mal Tacheles reden,

(Beifall bei den GRÜNEN)

und zwar nicht nur hier in diesem Parlament, sondern auch draußen bei den Bürgern; denn wie Sie mit den Menschen draußen umgehen, nicht nur an Rhein und Ruhr — das gilt auch für Töne, die von diesem Pult aus
in der vergangenen Debatte über Rhein und Ruhr zu hören waren — , ist geradezu ein Skandal. Die Vorgänge um den Vorruhestand arten dagegen schon in Zynismus aus, und die Art und Weise, wie Sie mit den älteren Bürgern, mit Arbeiterinnen und Arbeitern, mit Angestellten umgehen, ist nichts anders als ein zynisches Verhalten. Sie betrachten die alten Menschen als Manövriermasse.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Der Zynismus besteht in folgendem. In einer Situation anhaltender Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, bei noch zunehmender Arbeitslosigkeit, die für das nächste und übernächste Jahr prognostiziert ist, und bei nicht gelöster Jugendarbeitslosigkeit, die uns seit Jahren plagt — wir haben 464 000 Jugendarbeitslose bis 25 Jahre — lassen Sie eine Maßnahme fallen, die immerhin 130 000 älteren Mitbürgern, Arbeitnehmern, die Möglichkeit gegeben hat, aus dem Arbeitsleben herauszugehen, wodurch immerhin 70 000 Arbeitnehmer ein neues Arbeitsverhältnis finden konnten. Sie lassen das fallen, ohne ein anderes Konzept zu haben, und forcieren damit weitere Zehntausende von Arbeitslosen zusätzlich zu denen, die wir jetzt schon haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Damit wir uns richtig verstehen — Herr Müller, das geht an Ihre Adresse — : Wir haben den Vorruhestand nie als den Königsweg zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit angesehen. Wir haben in der 84er Debatte unsere Bedenken deutlich formuliert. Aber wenn es wirklich so wäre, wie Sie es damals dargestellt haben, wenn der Vorruhestand das Mittel zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit wäre, dann dürften Sie ihn heute nicht fallenlassen. In dem Moment, wo Sie ihn fallenlassen, zeigen Sie, daß dieses Mittel nicht taugt und daß es nicht den Erfolg gebracht hat, den Sie damals prognostizierten.
Das Schlimme an Ihrer Politik besteht aber darin: Es ist nicht so, daß Sie kein Geld hätten, diese Vorruhestandsregelung weiterzuführen. Sie haben dieses Geld. Sie haben nur das Denken und Handeln für die kleinen Leute, für die sogenannten Objekte der Wirtschaftspolitik der Bosse, die den Profit höher halten als das Wohl und Wehe der Leute, aufgegeben.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

— Ich will Ihnen das sagen. In Rheinhausen sagen Sie: Das ist Sache der Unternehmer; wir sind in einer freien Unternehmergesellschaft. In dieser Frage des Vorruhestands haben Sie das Sagen. Und Sie gehen mit den älteren Arbeitnehmern genauso um, was die Möglichkeit angeht, auch im nächsten und übernächsten Jahr aus dem Arbeitsleben auszuscheiden und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Also doch!)

— Ja; ich kann Ihnen das nachher sagen.
Man muß Ihnen unter die Nase reiben, daß Sie Geld haben. Sie haben 1,2 Milliarden DM sofort für die Frühpensionierung von Offizieren bereitgestellt. Das sind 1 200 Personen. Dieses Geld hatten Sie anläßlich eines Beförderungsstaus sofort zur Hand, während Sie hier für die Fortführung des Vorruhestands zumindest



Hoss
für das nächste oder übernächste Jahr kein Geld zur Verfügung stellen, obwohl Sie Milliarden haben, um sie in den Weltraum zu schicken, und die Steuerreform zu finanzieren, die den Besserverdienenden hilft, die in Lohn und Arbeit stehen und ihr Brot verdienen können, nicht aber denen, denen geholfen werden muß, weil sie arbeitslos sind.
Ich habe hier das, was Sie, Herr Blüm, 1984 zur Begründung vorgebracht haben:
Es geht um die Arbeitslosen. Über allem Streit um die Mittel sollten wir heute und überhaupt in der Auseinandersetzung nicht vergessen, um wen es geht: um die Arbeitslosen.
Das ist Ihre damalige Rede im Zeichen des moralischgeistigen Aufbruchs. Heute bleibt davon — trotz zunehmender Arbeitslosigkeit — nichts mehr übrig.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wenn Sie etwas tun wollen, dann schaffen Sie nicht überhastet eine neue Kommission, die nur durch den Druck entstanden ist, der von draußen und in Ihrer Fraktion durch die Sozialausschüsse kommt, sondern lassen Sie den Vorruhestand so lange weiterlaufen, bis Sie eine gründliche, wirksame und überlegte Maßnahme treffen können. Das kann nur sein: Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit durch Bereitstellung von Mitteln für den ökologischen Umbau, durch Arbeitszeitverkürzungen, durch den Abbau von Überstunden. Schon durch den Abbau der 1 Milliarde Überstunden, die wir fahren, könnte man 400 000 Arbeitsplätze schaffen.
In diesem Sinn wünsche ich uns allen, daß wir zu richtigen Mitteln zum Abbau der Arbeitslosigkeit kommen.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105900600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1105900700
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die beschäftigungspolitische Wirkung einer Vorruhestandsregelung nach Muster der Bundesregierung tendiert gegen Null. Dieses Gesetz wird letztendlich dazu führen, daß unsere Älteren in den finanziell abgestuften Ruhestand geprügelt werden. Es läuft darauf hinaus, den Staat und die Vorruhestandsrentner in Anspruch zu nehmen, um die Betriebe von den Kosten der Sozialpläne zu entlasten. Diese Vorruhestandsregelung löst keines der drängenden beschäftigungspolitischen Probleme.
Meine Damen und Herren, das sind nicht die Worte eines eiskalten Unternehmers, sondern das sind Zitate von Rudolf Dreßler und von Egon Lutz.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der CDU/CSU: Pharisäer!)

Wer diese Äußerungen kennt, muß sich fragen, ob der leidenschaftliche Einsatz der Sozialdemokraten für das Vorruhestandsgesetz nicht mehr taktisch bedingtes Theater denn echtes Anliegen ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dreßler [SPD]: Das ist Unsinn, was Sie gesagt haben!)

Warum wollen wir den Vorruhestand nicht verlängern?

(Dreßler [SPD]: Alternativgesetz!)

Erstens. Der Vorruhestand hat arbeitspolitisch nicht das gebracht, was wir und viele von Ihnen sich davon erhofft haben.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Also ist es entschieden?)

Zweitens. Der Vorruhestand ist summa summarum eine teure Angelegenheit, besonders für kleine und mittlere Betriebe. Großbetriebe haben mit einer mißbräuchlichen Handhabung der 59er Regelung und den Zuschüssen der Bundesanstalt, finanziert von den Menschen, die in den kleinen und mittleren Betrieben arbeiten, diese Gelegenheiten benutzt, ihre Belegschaften zu durchforsten.

(Beifall der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

Drittens. Man hat uns eingeredet, der Vorruhestand sei eine Alternative zur Wochenarbeitszeitverkürzung. Heute muß ich feststellen: Da waren wir wohl ein wenig blauäugig. Man sollte auch nicht vergessen, daß sich der Vorruhestand noch bis 1992 bei der Bundesanstalt für Arbeit auswirkt. Im übrigen ist es ja niemandem verwehrt, Vorruhestandstarifverträge auch jetzt abzuschließen, wie es in diesen Tagen die Gewerkschaft HBV und Banken auch für die Zukunft unternehmen.
Viertens. Die Befristung hatte ihren Sinn, zum einen, weil wir das Ergebnis bewerten wollten — ich habe das soeben getan — , zum anderen, weil uns der Vorruhestand damals als geeignetes Mittel zur Bekämpfung der überproportionalen Jugendarbeitslosigkeit erschien. Heute ist diese überproportionale Jugendarbeitslosigkeit nicht mehr vorhanden — Gott sei Dank!
Fünftens. Wir wissen alle, daß wegen der langfristigen Stabilisierung der Alterssicherungssysteme die Menschen auf Dauer wieder länger werden arbeiten müssen.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Aha!)

Wer jetzt den Vorruhestand über das Jahr 1990 hinaus verlängert, stellt die Weichen falsch, gibt falsche Signale. Auch Sie wissen, daß wir ab Mitte der 90er Jahre wieder länger arbeiten müssen.

(Heyenn [SPD]: Verlängern wir doch erst mal bis 1990!)

Damit werden aber wieder Besitzstände geschaffen, und damit wird zugleich deutlich, daß die seinerzeitige Befristung, verehrte Kollegen von der CDU/CSU, von Ihnen nicht so ernst genommen worden ist, wie wir Ihnen das geglaubt haben.
Zu mehr Beschäftigung kommt man sicherlich durch Verteuerung des Faktors Arbeit. Das Gegenteil ist richtig. Dafür haben die Tarifpartner den Schlüssel in der Hand. Mehr Leistung bringt mehr Erfolg und



Cronenberg (Arnsberg)

damit mehr Arbeitsplätze. Nach diesem Rezept verfährt auch der Fraktionsvorsitzende der SPD. Selbst jetzt im Plenum arbeitet er. Er nimmt keinen Vorruhestand, er kennt keine 35-Stunden-Woche, keinen Mehrurlaub, und er gewährt auch ganz selbstverständlich diese Vergünstigungen seinen Mitarbeitern nicht. Der Fraktionsvorsitzende Vogel hat das richtige Rezept. Verweigern Sie dieses Rezept nicht der deutschen Wirtschaft!

(Heiterkeit)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105900800
Sie haben Herrn Vogel mit Herrn Ehmke verwechselt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1105900900
1979 haben die Liberalen den Vorschlag gemacht, eine Teilrente und Teilarbeit in den letzten Jahren des Arbeitslebens einzuführen, sehr zum Protest beider hier anwesenden großen Fraktionen. Dieser Vorschlag muß auch längere Arbeitszeit als die Regelarbeitszeit vorsehen. Solche und ähnliche Lösungen, die die Finanzlage der Rentenversicherung nicht dauerhaft verschlechtern — auf diesen Satz lege ich großen Wert — , werden selbstverständlich von uns ernsthaft erörtert werden. Wir suchen nach konstruktiven, bezahlbaren Lösungen

(Frau Unruh [GRÜNE]: Nehmen Sie erst mal die Beamten ran, nicht die kleinen Rentner!)

und betreiben, Frau Unruh, keine Obstruktion. Wir legen aber Wert darauf, daß alle Vorschläge solide finanziert sind und nicht wie die Maßnahmen der Vergangenheit von den kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt werden, damit die großen ihre Probleme lösen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105901000
Das Wort hat der Abgeordnete Hinsken.

Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1105901100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 24. März 1984, vor knapp vier Jahren, stellten Bundesarbeitsminister Dr. Blüm und verschiedene Redner der Regierungsparteien fest: Die Vorruhestandsregelung ist ein Ausweg aus der Sackgasse der derzeitigen arbeitszeitpolitischen Verkrampfung, unter der die Sozialpartner leiden. Kollege Cronenberg, Sie sagten, Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung müßten freiwillig, rücknehmbar und gesamtwirtschaftlich kostenneutral sein. Ich möchte hinzufügen, sie sollten auch betriebswirtschaftlich neutral sein. Mein Kollege Kolb führte damals ergänzend aus: Dieses Gesetz wird auf fünf Jahrgänge begrenzt, und dann sehen wir weiter.
Ich gab eine persönliche Erklärung ab und wies unter anderem darauf hin, daß aufschlußreiche Zahlen, wieviel Belastung auf wieviel Betriebe in den verschiedenen Größenordnungen zukommt, leider noch nicht vorlägen. Jetzt haben wir Bilanz zu ziehen und uns zu fragen: Sind die Erwartungen erfüllt?
Die Fakten liegen auf dem Tisch: Das Gesetz brachte nicht den gewünschten Erfolg. Deshalb verstehe ich unseren Bundeskanzler, wenn er sagt, daß es auslaufen soll und wir uns anderen, wirksameren und — das halte ich für ganz entscheidend — von der Wirtschaft finanziell eher verkraftbaren Möglichkeiten zuwenden sollen. Es kommt nicht darauf an, was die Bundesanstalt für Arbeit zu zahlen in der Lage ist, sondern was die Wirtschaft leisten und erbringen kann. Schließlich haben wir in der Bundesrepublik Deutschland die teuersten Arbeitsplätze in der Welt. Diese Arbeitsplätze geraten durch zunehmende Kosten mehr und mehr in Gefahr.
Die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wäre geeignet, die Arbeitslosigkeit im rasanten Tempo zu beschleunigen. Dann, meine Damen und Herren von der SPD und von den GRÜNEN, schaffen wir nämlich Arbeitsplätze in Hongkong, in Taiwan und in Südkorea, aber nicht bei uns.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Aber unsere Brötchen werden wir uns nicht aus Taiwan liefern lassen!)

Die Drei-Punkte-Erklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist eine gute Grundlage für weitere Schritte. Aus ihnen ist erneut herauszulesen, daß wir ältere Mitbürger und Arbeitslose nicht abschreiben, sondern die Schlußfolgerung ziehen — die ziehe auch ich aus dem Auslaufen der Vorruhestandsregelung — , daß gerade auch ältere und tüchtige Facharbeiter nicht immer so ohne weiteres ersetzt werden können.
Erforderlich ist in diesem Zusammenhang vielmehr, die Arbeitszeit z. B. zu flexibilisieren und die Qualifizierung zu verbessern. Aus vielen persönlichen Gesprächen weiß ich, was es oftmals heißt, arbeitslos zu sein. Keine noch so hohe Unterstützung kann den Betroffenen den Mangel an Selbstwert ersetzen.
Eines muß aber klar sein: Je höher der Anteil der Betriebe an der Finanzierung ist, um so weniger ist eine Verlängerung des Vorruhestandsgesetzes gerechtfertigt. Denn die Personalnebenkosten, die ohnehin längst bereits die 80-Prozent-Marke überschritten haben, können nicht noch weiter in die Höhe getrieben werden. Denn trotz Zuschuß beträgt die durchschnittliche Belastung des Arbeitgebers je Vorruhestandsfall ca. 80 000 DM.
Ich verstehe auch die Argumentation mancher Gewerkschaftsführer und von Ihnen von der SPD nicht, die 1984 gegen den Vorruhestand waren und jetzt vehement seine Fortsetzung verlangen. Oh ihr Heuchler!, möchte ich hier zurufen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist schon mehr als stark. Ich setze jedoch darauf, daß die Bundesbürger nicht so schnell vergessen und noch wissen, was Sie vor fünf Jahren gesagt haben.

(Reimann [SPD]: Das hoffen wir aber auch!)

Als mehr als unredlich muß auch der Versuch charakterisiert werden, der Regierungskoalition Untätigkeit auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik vorzuwerfen. Denn die Zahl der Beschäftigten hat von März 1983 bis 1987 um 780 000 zugenommen. Die Jugendarbeitslosigkeit wurde entscheidend abgebaut. Die Lehrstellenbilanz ist mehr als positiv. Erstmals seit



Hinsken
1981 gibt es einen Angebotsüberhang an Ausbildungsplätzen. Kollege Müller hat auf verschiedene positive Aspekte hingewiesen. Viele weitere Maßnahmen wie die Verlängerung des Arbeitsiosengeidbezugs, der leichtere Zugang von Jugendlichen zu Malinahmen zur beruflichen Weiterbildung, die Anhebung des Unterhaltsgeldes bei Qualifikationsmaßnahmen können angeführt werden.
Von solchen Erfolgen, meine Damen und Herren von der SPD,

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: 21/2 Millionen Arbeitslose sind kein Erfolg!)

hätten Sie zu Ihrer Zeit nur träumen können. Was uns von Ihnen unterscheidet, ist die klare Tatsache, daß wir zeitlich beschränkte Maßnahmen nach dem Auslaufen auch kritisch unter die Lupe nehmen

(Duve [SPD]: Die allgemeine Beschränkung ist der Unterschied!)

und gewillt sind, daraus Konsequenzen zu ziehen, und zwar im Sinne einer verbesserten Wirksamkeit zum Wohle der Arbeitnehmer und der sie tragenden Wirtschaft.
Ich darf mich für die Aufmerksamkeit bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105901200
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Hinsken, der eben gesprochen hat, feiert heute seinen 45. Geburtstag.

(Beifall — Zuruf von der SPD: Vorruhestand!)

Herzlichen Glückwunsch!
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt (Nürnberg).

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1105901300
Liebe Kollegen!
Wir wenden uns mit diesem Tagesordnungspunkt den großen Sorgen unserer Bürger zu. Die großen Sorgen gelten der Arbeitslosigkeit und dem Erreichen von Vollbeschäftigung. Das sind die Themen, die 2 Millionen Arbeitslose interessieren.
... Wir gehen einen neuen Weg in der Beschäftigungspolitik . . .
Die Vorruhestandsregelung soll ein konkreter Beitrag sein, den Arbeitslosen zu helfen, und sie ist ein Beitrag zur Humanisierung der Altersgrenze. Sie erfüllt drei Funktionen: die Chancen des sozialen Friedens zu erhöhen, den Arbeitslosen zu helfen und die Altersgrenze zu humanisieren.
... Die Vorruhestandsregelung ist ... Arbeitszeitverkürzung , die mit einem Wiedereinstellungsmechanismus verbunden ist . . .
... Die Vorruhestandsregelung ist Ausdruck der Generationensolidarität. Alt und Jung sind zusammengespannt in Form eines wechselseitigen Gehens und Nehmens. Der Altere, der geht, macht einen Arbeitsplatz für einen Jüngeren frei. Die Vorruhestandschance für den 59jährigen
schafft eine Ausbildungschance mehr für den 15jährigen.

(Beifall bei der SPD)

Alles Originalton Blüm am 20. Januar 1984.

(Heiterkeit bei der SPD und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wäre ich unhöflich, würde ich sagen: Blüm, große Klappe und wie immer nichts dahinter.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Aber da ich nicht unhöflich bin, frage ich Sie nur: Was gibt Ihnen das Recht, vor dem Hintergrund von 21/2 Millionen arbeitslosen Männern und Frauen auch nur das winzigste Instrument, das helfen kann, über Bord zu werfen, ein Instrument, das Sie angesichts von 2 Millionen Arbeitslosen für unverzichtbar gehalten haben? Was gibt Ministerin Süssmuth das Recht, vor wenigen Tagen die teilweise ausweglose Situation von arbeitslosen Vätern und Müttern und vor allem ihren Kindern, die, weil sie arbeitslos sind, von Sozialhilfe leben müssen, zu beklagen? Welcher Teufel reitet Sie, zuzustimmen, die Rechtsgrundlage von 400 Tarifverträgen über Bord zu werfen?
Am Nachdenken soll man niemanden hindern, Herr Müller, nur muß man dazu ein Gesetz nicht abschaffen; man kann es ändern, z. B. in dem Sinne, wie wir es 1984 vorgeschlagen haben.
Der Kollege Blüm und ich gehören Gewerkschaften an, die der wöchentlichen Arbeitszeitverkürzung aus der Kenntnis ihrer Branchen den Vorzug gegeben haben. Dennoch wissen die Gewerkschaften: Wir brauchen alle Formen der Arbeitszeitverkürzung, wenn wir den Skandal von 2,5 Millionen Arbeitslosen nicht länger wie diese Regierung tatenlos hinnehmen wollen.

(Beifall bei der SPD)

Statt des von Ihnen beschworenen Beschäftigungspaktes der Taten findet eine Politik des Herumwurstelns und der Tatenlosigkeit statt. Eine Regierung, die den Anstieg um 210 000 Arbeitslose zum Anlaß nimmt, den Vorruhestand auslaufen zu lassen, ein Bundeskanzler, der öffentlich äußert, die Menschen müßten länger als bis zum 65. Lebensjahr arbeiten — Herr Cronenberg hat es hier wieder bestätigt —, und dabei in Kauf nimmt, daß dann die Jungen vor der Tür bleiben würden, erlaubt es, den Verdacht zu äußern, daß es mit der Vorruhestandsregelung von 1984 in Wirklichkeit nicht um einen Beschäftigungspakt, nicht um Generationensolidarität ging, sondern darum, Zwietracht bei den Gewerkschaften zu säen, um die Streikbereitschaft für die 35-Stunden-Woche zu schwächen. Das ist Ihnen damals nicht gelungen.

(Beifall bei der SPD) Und jetzt müssen Sie weiterwursteln.

Weil Sie die Bundesanstalt mit sachfremden Leistungen belastet haben, weil Sie die Arbeitslosen das Kindererziehungsjahr für die Rentnerinnen finanzieren ließen, das Benachteiligtenprogramm bei der Bundesanstalt ansiedelten, wird das Defizit der Bundesan-



Frau Schmidt (Nürnberg)

stalt in diesem Jahr weiterwachsen und am Jahresende über 1 Milliarde DM ausmachen.

(Zuruf von der SPD: So ist es!)

Deshalb muß die großspurig angekündigte Qualifizierungsoffensive beschränkt werden. Deshalb muß die Vorruhestandsregelung fallen. Deshalb werden Sie entweder die Beiträge erhöhen oder weitere Leistungen einschränken müssen. Deshalb ist Ihre angekündigte Teilruhestandsregelung jetzt schon heiße Luft; denn entweder ist sie vernünftig ausgestaltet — dann ist sie nach Ihren Kriterien nicht zu bezahlen — , oder sie bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein.
Wer angesichts von 2,5 Millionen Arbeitslosen mit ihren Familien und Kindern die Chance verspielt, für einige Arbeit zu schaffen, wer sich dieses letzten beschäftigungswirksamen Instruments einer ansonsten tatenlosen Regierung begibt, handelt verantwortungslos. Sorgen der Arbeitslosen, Herr Blüm, sollten endlich nicht mehr Objekt Ihrer Rhetorik, sondern effektiver Maßnahmen des Arbeitsministers sein.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105901400
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

(Unruhe bei der SPD)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1105901500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Schmidt, jedes Wort, mit dem Sie mich zitiert haben, kann ich heute wiederholen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin nicht sicher, ob Sie jedes Wort wiederholen wollen, das in ihrer Fraktion gesprochen worden ist.
Wenn wir schon bei einem Zitatenaustausch sind:
Sie werden von uns nicht erwarten, daß wir diese Mißgeburt als einen ernsthaften Versuch werten, den Tarifvertragsparteien, eine vernünftige Vorruhestandsregelung anzubieten.
Anke Fuchs, 44. Sitzung des Deutschen Bundestages, 8. Dezember 1983!

(Dreßler [SPD]: Gemessen an unserem Gesetzentwurf war das völlig richtig!)

— Herr Dreßler, schreien Sie nicht, auch Sie haben das Gesetz eine Mißgeburt genannt.

(Dreßler [SPD]: Wir haben eine Alternative gehabt, und gemessen daran ist das eine Mißgeburt gewesen!)

Meine Damen und Herren, was halten Sie von Leuten, die das Ende eines Gesetzes bedauern, dessen Anfang Sie bekämpft haben?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Was halten Sie von Leuten, die den Abbau eines Hauses bedauern, dessen Aufbau sie nicht wollten? Wenn es dieses Gesetz nicht gäbe, könnten wir heute die Debatte gar nicht führen. In ihrer Zeit hätten wir die Debatte gar nicht führen können.

(Dreßler [SPD]: Wenn es unser Gesetz gegeben hätte, hätten wir weniger Arbeitslose! — Heyenn [SPD]: Roßtäuscherei ist das!)

Jetzt will ich für meine Person festhalten: Der Vorruhestand ist eine Arbeitszeitregelung mit hohem beschäftigungspolitischen Wirkungsgrad. Ich will für mich festhalten, daß der Vorruhestand eine erfolgreiche Arbeitszeitregelung im Sinne von Beschäftigung war. Von 300 000 Anspruchsberechtigten haben 115 000 Arbeitnehmer den Vorruhestand in Anspruch genommen. Mehr als jeder Dritte hat das Angebot ergriffen. 115 000 sind damit vor Arbeitslosigkeit bewahrt geblieben.

(Dr. Klejdzinski [SPD]: Und warum verlängern Sie nicht?)

67 500 haben die so freigemachten Arbeitsplätze wieder besetzt, sind also aus der Arbeitslosigkeit wieder in die Arbeit gekommen. Deshalb sage ich: Jeder Satz von mir, den Sie zitiert haben, gilt.
Auch im Vergleich mit der Wochenarbeitszeitregelung der IG Metall kann sich der Vorruhestand sehen lassen. Vier Millionen waren von der Verkürzung der Wochenarbeitszeit begünstigt; die IG Metall schätzt den beschäftigungspolitischen Effekt auf 100 000.

(Hoss [GRÜNE]: Weil es keine 35 Stunden waren!)

Im Vergleich damit kann sich der Vorruhestand sehen lassen!
Aber der Vorruhestand war — das ist im Gesetz nachzulesen — von Anfang an als ein vorübergehendes Angebot gedacht. Wir diskutieren nur über die Frage „verlängern oder nicht verlängern?". Es ist gar nichts Neues geschehen! Er war von Anfang an als vorübergehendes Angebot gedacht, weil er in einer ungewöhnlichen Situation eine ungewöhnliche Antwort war.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Und zweieinhalb Millionen Arbeitslose sind wohl gewöhnlich?)

Es kann aber keine generelle Regelung sein, daß die Lebensarbeitszeit immer weiter absinkt. Wir sollten uns doch gemeinsam dagegen wehren, daß sich sozusagen die Mentalität festsetzt, daß die alten Menschen abgeschrieben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb geht es jetzt darum, nach einer Übergangsregelung eine Dauerregelung zu finden. Lassen Sie uns gemeinsam den Versuch machen, eine Dauerregelung zu finden, bei der der Beschäftigungseffekt stärker mit dem Humanisierungsaspekt verbunden wird, bei der nicht nur die Beschäftigung, sondern auch die Humanisierung berücksichtigt wird.
Ich lade uns alle ein, darüber nachzudenken, ob es so bleiben muß, wie es seit 100 oder 150 Jahren geregelt ist, nämlich daß man von heute auf morgen aus der Erwerbsarbeit in den Ruhestand aussteigt. Dieser abrupte Übergang ist gegen alle menschliche Natur, gegen jeden Rhythmus. Er nimmt doch geradezu am Maschinentakt Maß. Aber es kann doch nicht vernünftig sein, Menschen wie eine Maschine an- und abzustellen.

(Beifall des Abg. Stratmann [GRÜNE] — Zurufe von der SPD)




Bundesminister Dr. Blüm
— Ach, schreien Sie doch nicht dazwischen! Kollege Reimann, Sie sollten nicht schreien. Ihre Gewerkschaft hat doch selber den Versuch gemacht!

(Frau Steinhauer [SPD]: Er war ganz ruhig!)

— Gut, dann will ich ausdrücklich die Zustimmung des Kollegen Reimann zur Kenntnis nehmen. Ihre Gewerkschaft selber hat doch den Versuch unternommen, durch Tarifvertrag die Übergänge sanfter zu gestalten. Die Übergänge von der Erwerbsphase in den Ruhestand waren über Jahrhunderte ganz anders geregelt. In einer bäuerlichen Gesellschaft hat man sich Schritt für Schritt zurückgezogen. Ich denke, daß die moderne Technologie es uns wieder erlaubt, aus den Gewohnheiten einer Fließbandgesellschaft, deren Rhythmus kollektiv bestimmt war, auszusteigen und wieder stärker zu individualisieren,

(Frau Unruh [GRÜNE]: Richtig gedacht, aber nicht in die Altersarmut!)

Familie und Arbeit, Lebensalter und Arbeit wieder miteinander zu versöhnen, sozusagen die Arbeit wieder in einen natürlichen Lebensrhythmus zurückzuholen.

(Zuruf von der SPD: Welch ein Gesülze!)

— Das ist kein Gesülze, sondern der ernsthafte Versuch, die starren Arbeitszeitregelungen zu entkrampfen. Wenn der Vorruhestand — darin sehe ich auch sein Verdienst — die erste Arbeitszeitregelung war, in der wieder viel stärker individuelle Entscheidungen enthalten waren, nämlich die Entscheidungen der einzelnen selber und nicht allein die kollektive Vorschrift, dann hat er etwas dazu beigetragen, im Denken der Menschen die alten, starren Arbeitszeitregelungen zu entkrampfen. Laßt uns auf diesem Wege weitermachen! Der Vorruhestand hatte sozusagen die Pfadfinderfunktion, aus den kollektiven Gewohnheiten auszubrechen und wieder stärker zu individualisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch und Lachen bei der SPD)

Mein Wunsch wäre: Arbeitszeit nach Maß, nach den Wünschen der Menschen, nicht Arbeitszeit von der Stange.

(Sehr gut! bei der FDP)

Auch das ist ein Teil des Fortschritts, den wir uns erlauben können.
Freilich sind wir — auch das will ich hier festhalten — dabei auf die Tarifpartner angewiesen. Wenn es Differenzierung geben soll, werden wir als Gesetzgeber die Lösung nicht schaffen können. Der Gesetzgeber steht immer unter dem Zwang der großen Verallgemeinerung. Bei maßgeschneiderten Arbeitszeitmodellen sind wir auf die Mitwirkung von Arbeitgebern und Gewerkschaften angewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Insofern weitet sich das Thema über die Arbeitszeit hinaus aus. Es weitet sich zu einer neuen Kooperation von Gesetzgeber und Tarifpartnern aus. Es weitet sich aus zum Thema Alter.

(Lachen bei der SPD — Zuruf von der FDP: Was gibt's da zu lachen?)

Ich glaube nämlich, daß unsere Gesellschaft auf die Frage nach dem Alter noch keine befriedigende Antwort gefunden hat,

(Frau Unruh [GRÜNE]: Da haben Sie recht!)

daß unsere Gesellschaft geradezu mit einer Abschiebungsmentalität arbeitet. Schon das Wort Ruhestand lenkt die Erwartungen doch in falsche Richtungen: so als bräuchten wir die ältere Generation nicht mehr. Wir müssen sie wieder ins Leben heimholen, auch in ihrer Verantwortung.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Deshalb führt dieses Thema auch weiter in die Qualifizierung hinein. Es ist eine Verengung der Bildungspolitik, wenn sie auf das erste Drittel des Lebens beschränkt bleibt. Bildung muß das Erwerbsleben begleiten; deshalb auch altersspezifische Bildungsprogramme, deshalb auch neue Anstrengungen der Vermittlung älterer Arbeitnehmer.

(Heyenn [SPD]: Mit 60 wieder auf die Universitäten!)

Ich will ausdrücklich sagen: Wir können mit dem Zustand des Arbeitsmarktes nicht zufrieden sein. Über 2 Millionen Arbeitslose,

(Heyenn [SPD]: 2,5 Millionen!)

das muß jeden von uns quälen. Ich stehe hier doch nicht selbstzufrieden vor Ihnen. Nur wehre ich mich gegen die Behauptung, wir stünden mit leeren Händen da. Nach Jahren des Beschäftigungsabbaus haben wir wieder Beschäftigungsgewinn.

(Lachen bei der SPD)

Wir haben, meine Damen und Herren — wer es bestreiten will, soll an dieses Rednerpult kommen und soll es mit Zahlen bestreiten — , den höchsten Beschäftigungsstand, seitdem überhaupt Beschäftigungszahlen ermittelt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben leider auch hohe Arbeitslosigkeit. Deshalb darf uns der Beschäftigungsrekord im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht erlahmen lassen. Nie — nie! — hat eine Bundesregierung mehr Geld für Arbeitsmarktpolitik ausgegeben als wir. Ich sage dies wieder nicht mit Selbstzufriedenheit, sondern wende mich nur gegen die Behauptung, wir stünden mit leeren Händen da, weil sie Resignation und Fatalismus verbreitet.
Wir können vorankommen. Allerdings: Wir sind dabei auf Unternehmer mit Initiative und mit Mut, auf Gewerkschaften, auf alle, die guten Willens sind, angewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105901600
Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.




Manfred Reimann (SPD):
Rede ID: ID1105901700
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Vorruhestandsregelung war ein Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Zwar hat sie sich als arbeitsmarktpolitischer Knüller nicht erwiesen, aber immerhin haben, wie wir hören, rund 115 000 ältere Arbeitnehmer sie in Anspruch genommen. Wenn sie jetzt gestrichen wird, geht es wohl einmal wieder ums Sparen, obwohl der Wegfall des Vorruhestands bei einer ständig steigenden Arbeitslosigkeit den Ruin der Kassen der Bundesanstalt für Arbeit nicht aufhalten wird,

(Beifall bei der SPD)

insbesondere nicht, nachdem man sich der Nürnberger Gelder zur Entlastung des Bundeshaushalts fleißig bedient hat.

(Frau Steinhauer [SPD]: So ist das!)

Die Öffentlichkeit interpretiert dieses Vorgehen richtigerweise als weiteren Schritt der Umverteilung von unten nach oben. Es ist eine Schande, wenn die Hochverdienenden in der Bundesrepublik mehr als die Hälfte der Steuerentlastung von 45 Milliarden DM einstecken, aber für den Vorruhestand nicht 3 Milliarden zur Verfügung stehen oder aufgebracht werden können. Hier wären Staatsausgaben sinnvoller angelegt als bei der Steuersenkung für die Reichen.

(Beifall bei der SPD)

Da wettern der Herr Kohl und der Herr Strauß vereint gegen hohe Lohn- bzw. Sozialkosten in der Bundesrepublik, sie verlieren aber kein Wort darüber, wenn Herr Huber, der im Zusammenhang mit der WienerWald-Affäre zurückgetretene Präsident der Bayerischen Landesbank 2,9 Millionen DM an Abfindung erhält. Was sagen dazu eigentlich die Arbeiter der Maxhütte? Was sagen dazu die Arbeiter in Rheinhausen? Was sagen Sie dazu?

(Feilcke [CDU/CSU]: Was sagen Sie zu Lappas? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnte die Vorruhestandsregelung eine erhebliche Entlastung der Massenarbeitslosigkeit bewirken, während das Auslaufen des Vorruhestands den Arbeitsmarkt in unverantwortlicher Weise belastet.
Aber dem Arbeitsminister ging es 1984

(Dr. Klejdzinski [SPD]: Dem Arbeitslosenminister!)

auch um einen menschenwürdigen Abschluß eines langen Arbeitslebens. Ich zitiere: Die Vorruhestandsregelung soll ein konkreter Beitrag sein, den Arbeitslosen zu helfen, und sie ist ein Beitrag zur Humanisierung der Altersgrenze. — Heute reden Sie davon, daß das gegen die Natur der Menschen sei. Herr Minister, ich kann Ihnen nur sagen: Sie haben hier am Rednerpult schlechtere Sachen schon besser verkauft.

(Beifall bei der SPD)

Seinen Kabinettskollegen Kohl und Bangemann geht es heute um alles mögliche, nur nicht mehr um die humanisierenden Motive.
Zukunftsbewältigung heißt das Zauberwort. Meine Damen und Herren, wer heute von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit als Zukunftsbewältigung redet, hat entweder die Welt, in der wir leben, nicht begriffen, oder er ist ein rücksichtsloser Zyniker. Er weiß, oder er will nicht wissen, wieviel Menschen nach einem anstrengenden Arbeitsleben von 35 bis 40 Arbeitsjahren ausgelaugt und ausgebrannt sind, obwohl sie mit 55 Jahren noch keine alten Menschen sind. Viele schleppen sich förmlich hin zur 59er Regelung, was bedeutet, ein Jahr lang arbeitslos zu sein und dann in die Rente zu gehen. Derjenige, der es gesundheitlich noch kann, bleibt doch von selbst länger im Arbeitsprozeß, vielleicht bis 65 oder, wenn es nach Herrn Kohl geht, bald noch länger.
Wie sieht denn das Leben eines Industriearbeiters heute aus? 1986 hatte jeder 16. Erwerbstätige einen Arbeitsunfall erlitten. Wer kennt den Gesundheitsverschleiß am Arbeitsplatz durch den Umgang mit gefährlichen Stoffen, durch die Auswirkungen von Monotonie, Lärmbelästigung, Krankheiten durch Allergien? Wer kennt die Not eines erkrankten Arbeitnehmers, der seine Berufskrankheit nachzuweisen hat? Meine Damen und Herren, fragen Sie doch einmal die Betroffenen. Es gibt kaum noch einen 60jährigen Bauarbeiter. Die Leute sind mit 55 Jahren verschlissen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt auch keine jungen Bauarbeiter mehr!)

Dasselbe gilt für Schweißer, Spritzlackierer, Näherinnen, für viele andere in der Industrie.
Was ist mit der großen Schar der Schichtarbeiter, der Stahlarbeiter und der Bergarbeiter? Ein Schichtarbeiter ist kaputt, wenn er 30 bis 35 Jahre Schicht gearbeitet hat. Er hätte sich seine Rente mit 55 Jahren redlich verdient. Dann müssen Sie noch eine Kommission einsetzen, um so etwas festzustellen.
Deshalb begrüßen wir Sozialdemokraten jede Regelung des Vorruhestands, insbesondere bei Menschen, die sich in ihrem Arbeitsleben vorzeitig verbraucht haben und auch bereit sind, den nachrückenden jüngeren Menschen Platz zu machen. Geben Sie denen eine Chance, schrittweise kürzerzutreten. Die Vorschläge der Gewerkschaften greifen wir auf. Wir begrüßen sie. Der Gesetzgeber aber sollte an dieser Stelle heute das mindeste, eine Verlängerung der jetzigen Regelung, beschließen. Deshalb bitten wir Sie: Stimmen Sie dem Vorschlag der Sozialdemokraten zu.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105901800
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.

Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1105901900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um das Vorruhestandsgesetz vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit bietet uns die Gelegenheit — dies ist sicherlich etwas Positives in dieser Stunde — , erneut über die Gestaltung der Arbeitszeit nachzudenken. Daß sich allerdings die SPD zum Gralshüter des Vorruhestandsgesetzes macht, ist wirklich mehr als ein dreister Vorgang — das muß ich hier einmal ausdrücklich feststellen —

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

in Abwandlung der bekannten Formel: „Da macht
sich der Bock wirklich zum Gärtner" , wenn es um die



Schemken
Bereitschaft geht, über flexible Arbeitszeit nachzudenken.
Es ist nun einmal festzuhalten, daß das Vorruhestandsgesetz ein Angebot an die Tarifpartner war, sich über einen solchen Weg, über einen Weg der Lebensarbeitszeit bei entsprechender Ausgestaltung, zu einigen. Leider hat die unterschiedliche Bewertung auch durch unangemessene politische Begleitung der Opposition — dies wollen wir in diesem Hause noch einmal ausdrücklich festhalten — und auch weiter Bereiche des Gewerkschaftsbundes nicht dazu geführt, daß dieser Weg als eine Möglichkeit der Arbeitszeitgestaltung aufgenommen und gefestigt wurde.

(Frau Steinhauer [SPD]: Das ist ja nun wirklich verkehrt!)

Im Gegenteil, Frau Schmidt hat das soeben deutlich gemacht, indem sie insgesamt 400 Tarifverträge anführte. Dann sage ich: Dann ist doch sicherlich das, was von den Tarifpartnern aufgenommen wurde, mehr als eine ganz schmale Ausbeute.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Was folgt daraus?)

Die Kritiker von heute waren diejenigen, die mit allen Mitteln ein solches Gesetz bekämpft haben. Es folgt daraus, daß man mit Obstruktion — das ist draußen teilweise so gehandelt worden; ich habe das in Podiumsdiskussionen selber erfahren dürfen: mit Häme und Gelächter wurde dieses Gesetz begleitet — dem Schicksal des einzelnen Arbeitslosen nicht nachgehen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der FDP: So ist es!)

In der Abfolge der ständigen und immer enger werdenden Intervalle — das sollten wir in dieser Stunde auch einmal in aller Besonnenheit aufnehmen — , was die Frage der Technologie angeht, was die Frage der Gestaltung von Arbeit und Freizeit betrifft, und was auch die Problematik der Demographie bis hin zur Qualifizierung von Arbeitslosen, die wieder in den Arbeitsprozeß eingeführt werden sollten, angeht, müssen jetzt wirklich alle Möglichkeiten ausgelotet werden, um insbesondere mit dem Schwerpunkt der weiteren Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fertigzuwerden.
Wir liegen heute wieder bei über 26 Millionen Erwerbstätigen. Sie haben uns einen Markt überlassen mit knapp über 25 Millionen. Trotz der stagnierenden Zahl bei der Arbeitslosigkeit — das bedauern wir sicherlich alle ringsum — wurden in den letzten vier Jahren über 700 000 Arbeitsplätze mehr geschaffen.

(Dreßler [SPD]: Aber es wird bei euch weniger: erst 800 000, jetzt 700 000!)

— Über 700 000 mehr.
Ich muß hier einmal auf die wirklich große Leistung der Wirtschaft insgesamt, des Handels, des Mittelstands, auch der Betriebsräte, die mitgeholfen haben, was die Frage der Arbeitslosigkeit angeht, auf den Ausbildungsstellenmarkt hinweisen: Immerhin ist bei der Jugendarbeitslosigkeit mit ständig sinkender Tendenz eine Entwicklung festzustellen: Wir haben mittlerweile über 18 000 jugendliche Arbeitslose weniger, fast 19 000.

(Frau Steinhauer [SPD]: Mal sehen, wieviel zur Bundeswehr gehen, weil sie arbeitslos werden!)

— Auch das ist ein wichtiger Dienst im Staat, Frau Steinhauer, zur Bundeswehr zu gehen.
Mit starren Forderungen wie nur Wochenarbeitszeitverkürzung kommen wir, auf die Zukunft gesehen, nicht zu Rande. Wer den Arbeitsmarkt flexibel gestalten will, um weiteren Arbeitslosen den Zugang zur Arbeit zu ermöglichen, muß bereit sein, den Herausforderungen der 90er Jahre gerecht zu werden. Gestaltungsmöglichkeiten beinhalten auch die Entscheidungen des einzelnen. Wir sollten die Voraussetzung schaffen für die Öffnung einer Diskussion. Wir denken hier an einen gleitenden Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand — Minister Blüm hat dies soeben schon deutlich gemacht — , und wir denken auch an mehr Teilzeitbeschäftigung. Damit kommen wir einem Anliegen eines großen Teils der Erwerbslosen nach.
Eine umfassende Bestandsaufnahme ist u. a. mit notwendig, um ein vielseitiges Angebot an die unterschiedlichsten Bedürfnisse der betroffenen Arbeitslosen zu richten. Die Forderung der CDU/CSU-Fraktion geht dahin, in möglichst kurzer Frist zusätzliche Möglichkeiten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu prüfen. Dabei sollen alle Gestaltungsvarianten eingebracht werden, aber auch die Möglichkeit der Qualifizierung im Hinblick auf die Vermittlung bedacht werden. Denn wir stellen fest, daß bis zu 60 % der Arbeitslosen weder eine berufliche Ausbildung noch einen Hauptschulabschluß haben.
Ich möchte hier einmal die SPD fragen, wieso sie heute so vehement für den Vorruhestandsweg eintritt und kämpft, nachdem sie ihn gestern als untauglich abgetan hat.

(Dreßler [SPD]: Weil Sie sonst nichts, aber auch nichts zu bieten haben, Herr Kollege!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105902000
Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.

Heinz Schemken (CDU):
Rede ID: ID1105902100
Ich fordere Sie alle deshalb auf — dies ist vor allen Dingen ein Appell an die Tarifpartner — , mit flexiblen und breiten Angeboten an die Arbeitszeitgestaltung heranzugehen und den Herausforderungen gerecht zu werden. Die Arbeitslosen warten hier auf unsere Antwort.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dreßler [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105902200
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs (Köln).

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1105902300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will es gleich klarstellen, wie unsere Haltung war und wie sie heute ist: Der Bundesarbeitsminister hat darauf hingewiesen, daß eine ungewöhnliche Situation ungewöhnliche Maßnahmen erfordert. Damals waren es zwei Millionen Ar-



Frau Fuchs (Köln)

beitslose, und wir haben damals wie heute gesagt: Jegliche Maßnahme, die für Arbeitsplätze sorgt, und zum Abbau der Arbeitslosigkeit geeignet ist, wird von uns unterstützt. Deswegen haben wir gesagt: sowohl 35-Stunden-Woche als auch Vorruhestandsregelung. Das war damals unsere Antwort, und das ist sie auch heute noch.
Wenn Sie diese Maßnahmen ordentlich ausgestattet hätten, wenn Sie bei den Bedingungen des Vorruhestandes nicht so knickerig gewesen wären, dann wäre diese Maßnahme auch sehr viel besser gewesen, und wir hätten noch mehr Ersatzarbeitsplätze schaffen können.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Sie haben doch durch Ihre Politik dazu beigetragen, daß am Ende dieses Jahres die Bundesanstalt für Arbeit erneut Defizite haben wird. Sie müssen den Vorruhestand doch auslaufen lassen, weil sie dort keine müde Mark mehr haben.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Das ist Ihre Politik, weil Sie sagen: Das Benachteiligtenprogramm und die Sprachförderung für Aussiedler — eigentlich Aufgaben der Bundespolitik — werden auf die Beitragszahler abgewälzt. Deswegen ist kein Geld mehr da, und deswegen muß der Vorruhestand auslaufen.
Meine Damen und Herren, ich habe heute morgen zugehört und festgestellt — und das ist wichtig für mich — : Kein Abgeordneter der Koalitionsfraktionen hat sich für die Beibehaltung des Vorruhestandes eingesetzt.

(Dreßler [SPD]: Leider wahr!)

Dies gilt es festzuhalten. Die CDA, die Sozialausschüsse haben draußen einmal wieder großartig gepfiffen, aber Sie haben hier nicht klipp und klar erklärt, daß Sie für eine Verlängerung des Vorruhestands eintreten werden.

(Beifall bei der SPD — Andres [SPD]: Wo ist denn der Scharrenbroich?)

Die Linie ist klar, Herr Müller. Sie sagen: Wir bleiben auf unserem Weg. Sie sagen: Massenarbeitslosigkeit ist die Herausforderung Nummer eins. Sie bleiben auf Ihrem Weg, heißt: Sozialabbau, § 116 Arbeitsförderungsgesetz, Beschäftigungsförderungsgesetz, Auslaufen der Vorruhestandsregelung. Das ist die Herausforderung Nummer eins, und so wird die Koalition auch weitermachen, denn Herr Cronenberg hat das ja bestätigt.
Herr Cronenberg sagt: Das alles war zu teuer: Die 35-Stunden-Woche geht auch nicht; jetzt muß man länger arbeiten. — Herr Cronenberg, 2,5 Millionen Menschen sind ohne Arbeit. Die fragen nicht nach dem Vorruhestand oder nach sonst etwas. Was sie möchten, ist ein Arbeitsplatz.

(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Richtig!)

Das heißt also: Bevor wir darüber nachdenken, wie
wir Menschen länger in Arbeit lassen, ist doch erst
einmal die Frage zu stellen, woher die Arbeitsplätze
kommen, damit 2,5 Millionen Menschen Arbeit finden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Arbeitsplätze schaffen, aber nicht verteilen! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Dies ist auch der einzige Weg, der sich rechnet. 2,5 Millionen Arbeitslose sind das Teuerste, was sich eine Gesellschaft leisten kann.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Fortgesetzte lebhafte Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Für diese 2,5 Millionen Menschen verkürzt sich die Arbeitszeit auf null. Dann ist es zynisch, das einzige Instrument, das diese Regierung geschaffen hat, zu beseitigen.
Es ist besser, für Vorruhestand und für Ersatzarbeitsplätze zu sorgen, als hinzunehmen, daß 2,5 Millionen Menschen eine Arbeitszeit von null haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben in der letzten Stunde nicht zugehört!)

Nun — auch das ist wichtig für unsere Debatte, meine Damen und Herren — die neue Linie: Die Löhne sind zu hoch; die Arbeitsplätze sind zu teuer. Ich wundere mich ja, daß wir einen so großen Handelsbilanzüberschuß haben. Woher eigentlich kommen die 116 Milliarden — Milliarden! — DM Handelsbilanzüberschuß, wenn die deutsche Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig ist? Ich sage: wegen unserer sozialen Bedingungen,

(Dr. Vogel [SPD]: Dieses dumme Geschwätz mit Korea!)

wegen der guten Löhne, weil die Menschen hier nämlich arbeiten.
Herr Hinsken, wer soll denn Ihre schönen Brötchen noch kaufen, wenn die Menschen keine Kaufkraft mehr haben, weil Sie meinen, sie sollten nur so viel verdienen wie die Menschen in Hongkong?

(Hinsken [CDU/CSU]: Sie wollen sie zu einem vernünftigen Preis kaufen! Weil ich dem Wettbewerb ausgesetzt bin, liebe Frau Kollegin Fuchs!)

Hören Sie also auf, hier das Gerücht zu verbreiten, hier sei nichts zu machen.
Deswegen meine letzte Bitte. Wir sind es gewohnt, uns bei dieser Regierung an jeden Strohhalm zu klammern. Herr Blüm ist kein Strohhalm mehr. Der Kanzler hat ihn nicht einmal gefragt, ob er eigentlich für die Verlängerung des Vorruhestands sei.

(Hört! Hört! bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Quantité négligeable!)

Die Sozialausschüsse müssen erst einmal darauf aufmerksam machen, daß hier eine falsche Richtung eingeschlagen wird. Ich denke, Ihr Pfadfinder ist offensichtlich auch schon vor langer Zeit in den Vorruhestand geschickt worden, denn er hat auch nicht mehr



Frau Fuchs (Köln)

die Aufgabe, neue Pfade zu ermöglichen, damit wir zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen können.
Deswegen sagen ich Ihnen: Wir werden Sie daran messen, ob Sie in der Lage sind, mehr zu tun, als nur Sprüche zu machen. Es geht darum, dafür zu sorgen, daß die Menschen in dieser Gesellschaft eine Chance haben, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Sie haben die Situation für diese Menschen verschlechtert und nicht verbessert, seit Sie an der Regierung sind.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105902400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1105902500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Fuchs, es ist eine komische Debatte.

(Dr. Vogel [SPD]: Ja!)

Damals waren Sie mit falschen Argumenten gegen den Vorruhestand,

(Dreßler [SPD]: Das ist doch nicht wahr, was Sie hier behaupten! Das ist die Unwahrheit!)

heute sind Sie mit falschen Argumenten für die Fortsetzung des Vorruhestandes, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP — Dreßler [SPD]: Das ist die Unwahrheit, Herr Haussmann! Das wissen Sie ganz genau!)

Wer das Schicksal von Arbeitslosen ernst nimmt, der ist zur Wahrheit verpflichtet und darf keine falschen Versprechungen machen.

(Dreßler [SPD]: Dann reden Sie doch hier die Wahrheit! Die Wahrheit ist: Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, und Sie haben ihn niedergestimmt!)

Meine Damen und Herren, der Schlüssel für wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in der Zukunft liegt erstens beim Staat, zweitens bei den kleinen und mittleren Betrieben und drittens bei den Tarifpartnern. An diesen drei Kriterien müssen wir auch den Vorruhestand messen, meine Damen und Herren.
Die FDP hat mit ihrer Skepsis leider recht behalten. Auch im Unionslager gab es manche zu rosige Hoffnung. Was ist im Mittelstand passiert? Die Großkonzerne haben ihre Belegschaften mit staatlicher Unterstützung verjüngt. Das kann nicht Sache des Staates sein. Die kleinen und mittleren Betriebe fanden keine qualifizierten jungen Facharbeiter und konnten auf ihre qualifizierten 58jährigen nicht verzichten. Reden Sie einmal mit den mittleren Unternehmen. Die jährlichen Kosten betragen 20 000 bis 30 000 DM über zwei bis fünf Jahre, je nach Laufzeit. Das waren die Zusatzbelastungen.
Wenn wir das Vorruhestandsgesetz in seiner alten Form verlängern würden, würde dies Zahlungen bis in die Jahre 1995/96 bedeuten. Da muß ich in aller Offenheit sagen: Es wäre völliger Unsinn, die Abwerbung von Lehrlingen aus kleinen und mittleren Betrieben durch die Großkonzerne mit staatlichen Subventionen zu unterstützen. Dies aber wird die Situation sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Reimann [SPD]: Sie kennen Ihr eigenes Gesetz nicht!)

Es hat eben nicht geklappt, daß der erfahrene ältere Mitarbeiter durch einen unqualifizierten jüngeren Menschen ersetzt wurde.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Weil es zu mickrig ausgestattet war!)

Das heißt, bevor wir mit der Qualifikation nicht weiter sind, hat das Gesetz keine positive Auswirkung.
Zweiter Punkt: Auch Sozialdemokraten sollten sich mit dem Wert von älteren Arbeitnehmern und Angestellten in unserer Gesellschaft ernsthafter auseinandersetzen, wie Herr Blüm es gemacht hat.

(Dreßler [SPD]: Jetzt fang nicht noch an, zynisch zu werden! Unglaublich!)

— Wir wollen darüber schweigen, was Sie damals gesagt haben und was Sie heute sagen.
Das Internationale Arbeitsamt, Herr Kollege, warnt vor den Gefahren der Frühverrentung.

(Erneuter Zuruf des Abg. Dreßler [SPD])

— Herr Dreßler, hören Sie mal zu.
Das Internationale Arbeitsamt warnt vor dem Verlust an Know-how von älteren Menschen, und es warnt vor der Vergeudung von Erfahrung der älteren Menschen im Industrieleben.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen brauchen wir die Arbeitszeitverkürzung!)

Wer die älteren Menschen ernst nimmt, eröffnet ihnen Möglichkeiten. Wer es mit dem Wert der älteren Menschen ernst nimmt, trägt nicht über staatliche Gelder dazu bei, daß das Fallbeil des Ruhestands heruntergeht, unabhängig davon, ob sich ein älterer Mensch gut oder schlecht findet.
Das ist eine liberale Einstellung. Nur Sozialisten können davon ausgehen, daß alle Menschen mit 58 Jahren praktisch aus dem Arbeitsleben ausscheiden müssen.

(Stratmann [GRÜNE]: Sie werden sich wundern, wie liberal Sozialisten sein können! — Zurufe von der SPD)

Drittens geht es auch um den Charakter von staatlichen Angeboten. Das Problem ist: Befristete staatliche Angebote können nicht befristet bleiben; sie werden sofort zum Besitzstand. Es gibt immer nur Einbahnstraßen. Es gibt immer nur die kürzere Arbeitszeit, nicht die Möglichkeit, in die andere Richtung zu gehen. Der öffentliche Dienst fordert sofort das gleiche, meine Damen und Herren.
Deshalb muß man in aller Ruhe über den Vorruhestand diskutieren. Die FDP ist gern bereit, über bessere Alternativen nachzudenken und in der Kommission mitzumachen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, wird hier eine zynische Diskussion geführt. Der Bundeskanzler



Dr. Haussmann
erreicht dieses Jahr das Vorruhestandsalter, der Vizekanzler ist schon über das Vorruhestandsalter hinaus.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Er hat auch nicht 40 Jahre stramm gearbeitet!)

Der Oppositionsführer ist bereits vier Jahre über dem Vorruhestandsalter.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Nur Sie leider noch nicht!)

Aber die Arbeitnehmer und die Angestellten werden bevormundet, sie müssen das Arbeitsleben verlassen. Bei dieser Politik wird die FDP nicht mitmachen.

(Dr. Vogel [SPD]: Schicken Sie mal den Lambsdorff in den Vorruhestand!)

— Er ist Ihr Jahrgang, Herr Kollege.

(Dr. Vogel [SPD]: Was ist mit Strauß? In den Endruhestand, weg!)

Es liegt jetzt an den Tarifpartnern, dort, wo es notwendig ist, den älteren Arbeitnehmern Angebote zu machen. Aber wir müssen in Zukunft mehr auf zukunftsfähige Arbeitsplätze in kleineren und mittleren Betrieben achten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105902600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Doss.

Dr. Hansjürgen Doss (CDU):
Rede ID: ID1105902700
Das Vorruhestandsgesetz — eine „Mißgeburt" ; liebe Kollegin Anke Fuchs, das haben Sie 1983 gesagt. Heute fordern Sie hier und gestern auch in der Presse die Verlängerung.

(Dreßler [SPD]: Als Gesetzentwurf war es eine Mißgeburt!)

Das ist wieder einmal das entschiedene „sowohl-als auch" oder „Wie es euch gefällt".
Den Arbeitslosen gaukelt man damit Engagement vor. In Wirklichkeit ist es beschäftigungspolitischer Lärm, sonst nichts.
Das Vorruhestandsgesetz wurde aus der Situation des Jahres 1983 heraus entwickelt.

(Dr. Vogel [SPD]: Und seitdem wurde alles besser!)

Als zeitlich begrenztes Instrument sollte es Beschäftigungseinbrüche, die Sie als Resultat Ihrer Politik selbst prognostiziert hatten, überbrücken helfen.

(Widerspruch bei der SPD)

— Aber selbstverständlich.
Wenn wir heute vor veränderten Voraussetzungen stehen und wenn Politik noch etwas mit Kalkulierbarkeit zu tun haben soll, dann müssen wir Wort halten.
Die Situation von 1983 hat sich geändert. Sie gibt uns heute keine Hinweise auf die Arbeitsmarktpolitik der neunziger Jahre.

(Dr. Vogel [SPD]: 2,5 Millionen Arbeitslose!)

Im Gegensatz zur Opposition ist die Koalition flexibel genug, ihre Politik an veränderte Situationen und sich abzeichnende Entwicklungen anzupassen und die Weichen für die Zukunft richtig zu stellen.

(Dr. Vogel [SPD]: Glaubt ihr das selber, was ihr da erzählt?)

— Im Gegensatz zu Ihnen glauben wir wirklich, was wir sagen, während ich doch bei Ihnen nur taktische Winkelzüge vermuten muß.

(Dr. Vogel [SPD]: Ein flexibler Kanzler!)

Der entscheidende Maßstab bei der Bewertung beschäftigungspolitischer Instrumentarien ist die Zahl der entstehenden Arbeitsplätze, insbesondere der Dauerarbeitsplätze in den Betrieben. So wichtig das Vorruhestandsgesetz von 1983 war — es hat die Betriebe 1,7 Milliarden DM jährlich gekostet; es hat je nach Branche zu weiteren Steigerungen der Lohnnebenkosten um 5 bis 8 % beigetragen. Mit im Schnitt 27 500 DM pro Mitarbeiter und Jahr und mit einem 83 %igen Aufschlag auf den Lohn haben sich die Lohnnebenkosten zu einer der wesentlichsten Einstellungsbarrieren entwickelt, die wir abbauen müssen. Das Auslaufen des Vorruhestandsgesetzes trägt dazu bei.
Für das Einhalten der in § 14 festgehaltenen Auslauffristen sprechen darüber hinaus noch weitere Gründe: erstens die deutliche Senkung der Jugendarbeitslosigkeit mit weiter rückläufiger Tendenz.
Zweitens. Die demographische Entwicklung spricht gegen eine Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Die Zahl der Erwerbsfähigen wird bis zum Jahre 2000
— in nur 13 Jahren — um 6,5 %,

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Und bis dahin?)

die der 18- bis 21jährigen sogar um dramatische 33% zurückgehen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Und bis dahin?)

Nur bei den über 60jährigen gibt es Zuwachsraten. Wir haben 160 000 weniger Berufsanfänger innerhalb von vier Jahren.
Drittens. Vorruheständler sind in der Regel qualifizierte Facharbeiter. Schon heute klagen fast 50 % der Unternehmen über Facharbeitermangel. Wie wird das erst in Zukunft sein?
Nur 1,5 % der Betriebe konnten im letzten Jahr ihren Facharbeiterbedarf decken. Die Köpfe und die Hände der Menschen — das ist unser Kapital, das sind unsere Ressourcen. Die von rund 1 Million Arbeitnehmern zwischen 58 und 65 Jahren geleisteten rund 1,6 Milliarden Jahresarbeitsstunden sind ein wesentlicher Teil davon, auf den unsere Volkswirtschaft nicht verzichten kann, morgen weniger als heute.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Alle diese Zahlenspielereien können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es 2,5 Millionen Menschen ohne Arbeit gibt!)

Viertens. Wenn wir die Arbeitslosigkeit beseitigen wollen — und das wollen wir wohl alle — , dann müssen wir die Ursachen bekämpfen. Die Ursachen sind: die gesunkenen Investitionsquoten, die Verteuerung des Faktors Arbeit, die nationalen und internationalen Wettbewerbsnachteile, bürokratische Hemmnisse,
4096 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 59. Sitzung, Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988
Doss
Einstellungsbarrieren und Qualifizierungsdefizite auf seiten der Arbeitslosen.

(Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Eine unökologische Wirtschaftspolitik!)

Statt Fachkräfte freizusetzen, müssen wir ihre Zahl durch eine Qualifizierungsoffensive erhöhen. 51 % der Arbeitslosen sind ohne Berufsausbildung, während die Anforderungen moderner Arbeitsplätze an Bewerber ständig steigen.
Offensive für mehr Beschäftigung heißt: Statt Fachkräfte zum Aussteigen, müssen wir Erwerbstätige und Arbeitslose zum Einsteigen in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen ermutigen, um ihre Beschäftigungschancen zu verbessern. Statt starre tarifliche Rahmenbedingungen weiter zu zementieren, müssen die Tarifpartner für mehr Flexibilität sorgen. Statt die Betriebe weiter zu belasten, müssen wir sie entlasten und ihre Investitionsfähigkeit verbessern, um sie in die Lage zu versetzen, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
Bei den Investitionen liegen wir um drei Prozentpunkte hinter den Zuwachsraten der siebziger Jahre zurück. Arbeitsplätze entstehen nicht durch Verwaltungsakte und nicht durch administrative Reglementierungen. Sie entstehen durch Investitionen und dann, wenn legale Arbeit bezahlbar ist.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105902800
Das Wort hat der Abgeordneten Stratmann.

Eckhard Stratmann (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90):
Rede ID: ID1105902900
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Drei Punkte der Kritik und drei konkrete Vorschläge: Erstens. Herr Blüm, wir GRÜNEN lehnen den taktischen Umgang der Bundesregierung mit der Vorruhestandsregelung ab, weil wir es für unzumutbar halten, daß alte Menschen zur Manövriermasse der Arbeitsmarktpolitik, der Konjunkturpolitik und der Rentenfinanzierung werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zweitens. Wenn es darum geht — und darum muß es gehen — , die Arbeit zu humanisieren und die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, dann ist unter Fachleuten unbestritten, daß dazu die wirksamste Maßnahme die Verkürzung der Wochenarbeitszeit als auch, um ein Stichwort von eben aufzunehmen, der Abbau des Schichtsystems sind. Ich verweise auf die Stahlarbeiter und die Bergbauarbeiter.
Drittens. Es darf keine Konkurrenz in Tarifauseinandersetzungen zwischen Vorruhestandsregelung und Tarifrente auf der einen Seite und Wochenarbeitszeitverkürzung auf der anderen Seite geben. Aus dem Grunde müssen Arbeitszeitregelungen für Altere auf gesetzlichem Wege erfolgen. Nur auf diese Art und Weise kann man dieser Konkurrenz aus dem Wege gehen.
Unsere konkreten Vorschläge sind: Erstens. Hauptziel muß sein — Herr Blüm, da haben wir viele Gemeinsamkeiten — , für die alten Menschen die Zeitspanne zu verlängern und überhaupt erst einmal zu eröffnen, in der sie selbstbestimmt — darauf kommt es an — ihren Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand sozusagen gleitend gestalten können. Das ist das Prinzip. Und ich sage Ihnen als Sozialist: Da gibt es keinen Gegensatz zwischen liberaler Gestaltung und sozialistischen Vorstellungen.

(Hört! Hört! bei der SPD — Dr. Haussmann [FDP]: Sehr gut!)

Zweitens, Wie macht man das? Konkreter Vorschlag: gesetzliche Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze auf 60 Jahre. Das haben wir schon in unserem Grundrentenmodell gefordert. Damit diese flexible Altersgrenze auch von möglichst vielen Menschen in Anspruch genommen werden kann, kommt es darauf an, gleichzeitig die finanzielle Ausgestaltung der Rente so vorzunehmen, daß Menschen die Regelung auch in Anspruch nehmen können und nicht aus finanziellen Gründen gezwungen sind — nämlich wegen der Rentenhöhe — , länger zu arbeiten.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr. Haussmann [FDP]: DIE GRÜNEN sind moderner als die SPD)

Dritter konkreter Vorschlag: Gleichzeitig müssen politisch auch die Möglichkeiten gefördert werden, die es den Menschen erlauben, länger als bis zum 65. Lebensjahr zu arbeiten. Aber damit das auch wieder möglich ist, müssen für die Menschen, die länger als bis zum 65. Lebensjahr arbeiten wollen, die Voraussetzungen geschaffen werden, für sich die Wochenarbeitszeit zu verkürzen, d. h. wir brauchen eine stärkere Ankoppelung der Wochenarbeitszeitverkürzung an das zunehmende Alter der Erwerbstätigen. Je älter also die Menschen werden, desto drastischer muß die Wochenarbeitszeit verkürzt werden.
Noch ein letztes Wort, Herr Blüm, weil Sie damit immer wieder auflaufen.

(Glocke des Präsidenten)

— Lassen Sie mich noch einen Satz sprechen. — Herr Blüm, Sie haben eben wieder als angeblichen Erfolg der Wende-Regierung die Zunahme der Beschäftigtenzahl um 600 000 bis 700 000 ins Feld geführt. Herr Heinrich Franke, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, hat vor kurzem noch vor dem Wirtschaftsausschuß dargestellt, daß von 1982 bis 1987 das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden konstant geblieben ist.

(Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Das ist es!)

Das heißt, bei konstantem Arbeitsvolumen, bei Wirtschaftswachstum haben Sie die Zunahme der Beschäftigtenzahl nur erreicht durch den Zwang zur Teilzeitarbeit und zu unbefristeten Arbeitsverträgen. Das ist ein abzulehnendes Mittel der Arbeitsumverteilung. Sie haben durch Ihre Wachstumspolitik nicht zu einer Zunahme des Arbeitsvolumens beigetragen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)





Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105903000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Warrikoff.

(Andres [SPD]: Wo ist eigentlich der Abgeordnete Scharrenbroich? — Dreßler [SPD]: Beim Interview! Herr Scharrenbroich fordert in Interviews die Verlängerung des Vorruhestands!)


Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1105903100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vorruhestand hat Erfolge gehabt. Aber es ist ganz sicher falsch, die Diskussion auf das Thema Vorruhestand zu verengen. Deswegen ist es richtig, eine Kommission einzusetzen, die die ganze Breite der Möglichkeiten untersucht. Ich würde mich freuen, wenn Sie dieser Kommission Erfolg wünschen und nicht dauernd Kritik üben würden. Das ist es doch, was Sie wollen: ein breites Spektrum.
Frau Fuchs, Sie haben erklärt — völlig zu Unrecht übrigens — , daß sich unsere Vorschläge , unsere Maßnahmen auf den Vorruhestand begrenzt hätten. Das ist nicht wahr, und das wissen Sie. Es gibt sehr viele Maßnahmen. Aber nachdem wir nun eine Kommission einsetzen, die alle Alternativen untersuchen soll, sollten Sie ihr Erfolg wünschen. Ich wünsche ihr mit meinen politischen Freunden auf alle Fälle, daß sie Erfolg hat. Es ist ein ehrgeiziges Vorhaben, dieses große Gebiet in sechs Wochen zu bearbeiten.
Aber wir sollten uns nichts vormachen. Die Rolle der Politik bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist wichtig. Die Politik steht hier allerdings nicht allein, und sie kann auch nicht alles allein schaffen.
Wir haben die höchsten Löhne und Gehälter. Wir sind Weltmeister hinsichtlich der Kürze der Arbeitszeit. Wir haben ein Hochmaß an sozialer Sicherung. Der Grund dafür, warum das so ist, ist einfach: Wir haben ganz ungewöhnlich tüchtige und leistungsfähige Menschen, die in unserem Land arbeiten, und zwar auch ältere. Aber es gibt auch Grenzen für das, was geleistet werden kann. Diese Grenzen dürfen nicht überschritten werden.
Hier kommt eine große Verantwortung auf die Tarifvertragsparteien zu. Es gibt ja das wunderschöne Wort von der Tarifhoheit. Aber Hoheit heißt auch Verantwortung. Wenn man mit Hilfe der Tarifhoheit in den Ansprüchen an das, was erwirtschaftet wird, ununterbrochen wer weiß wohin geht, darf man sich nicht wundern, wenn die Schaffung von Arbeitsplätzen immer schwieriger wird und auf immer größere Widerstände stößt.
Meine Damen und Herren, auch auf die Opposition kommt in dieser Diskussion eine wichtige Verantwortung zu. Sie haben sich ja — aus welchen Gründen auch immer — dazu entschlossen, ununterbrochen ein düsteres Bild, ein Bild voller Pessimismus, ein Bild voller Schrecken zu malen.

(Dr. Vogel [SPD]: Ich denke, vorhin war von der Wahrheit die Rede! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Aber ja doch! — Wenn man Ihre Verlautbarungen hört, dann hat man ununterbrochen den Eindruck, als ob wir auf einem sinkenden Schiff seien, und das ist überhaupt nicht der Fall.

(Frau Unruh [GRÜNE]: Das sind wir auch!)

Wir haben eine Wirtschaft, die seit Jahren ununterbrochen wächst.

(Zurufe von der SPD)

Wir haben nicht ein von Ihnen hochgelobtes Minuswachstum, sondern wirkliches Wachstum, auch in diesem Jahr noch.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Reden Sie doch einmal mit Herrn Biedenkopf!)

Die Reallöhne wachsen ständig, weil nämlich die Erhöhung der Löhne und Gehälter deutlich über der Inflationsrate liegt. Es ist nicht so, wie es bei Ihnen der Fall gewesen ist, daß die Erhöhung der Löhne und Gehälter unter der Inflationsrate lag. Es gibt also sehr viel Positives. Aber wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck, daß alles überhaupt nur mies ist. Vor diesem Hintergrund erwarten Sie, daß die Leute investieren. Sie verschrecken ja jeden, der sich mit einer solchen Absicht trägt.

(Lachen und Zurufe von der SPD) — Jawohl!


(Hoss [GRÜNE]: Sie sind ein Gesundbeter, Herr Warrikoff!)

Sie tragen wesentlich dazu bei, daß das Investitionsklima in der Bundesrepublik schlecht ist. Da kommt eine große Verantwortung auf Sie zu.
Herr Reimann, wenn Sie nun auch noch zusätzlichen Pessimismus verbreiten und sagen, daß die Qualität der Arbeit plötzlich ständig schlechter werde: Ist Ihnen nicht aufgegangen, daß die Zahl der Arbeitsunfälle ständig sinkt und die Qualität der Arbeit sich verbessert? Aber es wird von der SPD überhaupt keine Möglichkeit ausgelassen, um nach Kräften mieszumachen, und das ist schlecht. Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Jetzt sage ich etwas, von dem ich hoffe, daß ich unrecht habe — ich würde mich freuen, wenn Sie mir widersprächen — : Ich habe manchmal das Gefühl, Sie wollen den Erfolg nicht,

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Reden Sie von Sonthofen?)

sondern Sie wollen Mißerfolg, und zwar aus ganz kurzsichtigen, parteipolitischen Gründen:

(Feilcke [CDU/CSU]: Die leben vom Mißerfolg!)

Sie versprechen sich von Mißerfolgen Wahlerfolge; das ist eine schreckliche Sache.

(Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug, dummes Geschwätz! Der redet ja wie der Strauß in Sonthofen! — Weitere Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, unterstützen wir die Kommission, unterstützen wir alle, die mit aller Kraft für Arbeitsplätze in unserem Land arbeiten!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105903200
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.



Präsident Dr. Jenninger
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 und den Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:
20. a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Zukunft Berlins zwischen Ost und West
— Drucksache 11/1094 —
Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen (federführend)

Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten
Sellin und der Fraktion DIE GRÜNEN
Kürzung der Berlinförderung und Bildung eines Finanzfonds zur Verbesserung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Situation der Stadt
— Drucksache 11/1187 (neu)
Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Finanzausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß
ZP7 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Zur Berlin- und Deutschlandpolitik — Drucksache 11/1758 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Heimann.

Prof. Gerhard Heimann (SPD):
Rede ID: ID1105903300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mehr als ein Jahr her, da schrieb Joachim Bölke — unter den Journalisten einer der besten Kenner des Berlin-Status — in einem Leitartikel des „Tagesspiegel" : „Bewegung ist nicht alles".
Was er damit sagen wollte, ist klar: Der Status von Berlin enthält eine so empfindliche Balance von Interessen, daß er allzu heftige Stöße und ruckweise Bewegungen nicht verträgt. Auf der Grundlage dieses Status muß nicht nur ein dauernder Ausgleich zwischen den drei Westmächten, der Bundesregierung und dem Senat von Berlin hergestellt werden, sondern der Status muß sich auch als eine der wenigen blockübergreifenden Institutionen bewähren, weil die Rechts- und Machtlage die Einbeziehung der Sowjetunion und selbstverständlich auch der DDR verlangt. Es ist also ein Spiel mit mindestens sechs, meistens sieben Bällen. Richtig ist auch, daß dieser Status — wie übrigens auch das Viermächteabkommen — unverzichtbar ist und auch im Interesse der deutschen Seite aufrechterhalten werden muß, solange für Berlin (West) im Rahmen einer dauerhaften europäischen Friedensordnung keine andere, die Freiheit und Lebensfähigkeit gleichermaßen garantierende Lösung in Sicht ist.
Mit einem so empfindlichen und für längere Zeit noch unverzichtbaren Gut wird jedermann schon aus Eigennutz vorsichtig umgehen. Aber heißt das Stillstand, Untätigkeit, bloßes Beharren? Kann man den Status bewahren, indem man den Status quo heiligspricht? Kann die Politik in Berlin (West) Bewegungslosigkeit zum Prinzip erheben, wenn rundherum alles in Bewegung gerät? Das sind die Fragen, mit denen sich die Berliner Sozialdemokraten nicht erst seit heute beschäftigen. Das unterscheidet uns offenbar von der CDU/CSU, die sich mit ihrem eigenen Antrag verdammt viel Zeit gelassen hat, nämlich bis vorgestern.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist ja ein doller Vorwurf!)

Aber Sie können sich trösten, Herr Kittelmann: Soweit Sie unsere Vorschläge übernommen haben — das haben Sie reichlich getan — , sind Sie unserer Zustimmung sicher.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Umgekehrt gilt das auch!)

Was ich sagen wollte: Der Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion über die Zukunft Berlins zwischen Ost und West ist ein Ergebnis der vielen Diskussionen und Überlegungen, die zuerst in Berlin stattfanden und jetzt hier in Bonn weitergeführt werden. Aber warum hier in Bonn, warum jetzt im Bundestag? Die Antwort ist einfach. In Berlin sind die Probleme der Ost-West-Beziehungen, darin eingeschlossen die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, hautnah. Die dauernde Beschäftigung mit ihnen ist sozusagen selbstverständlich. Von der richtigen Beantwortung der Fragen hängt unter Umständen und auf Dauer das Überleben ab. Aber weil es kaum eine wichtige Frage der Berlin-Politik gibt, die nicht zugleich die Interessen von sechs Mächten und Staaten berührt, ist meistens auch die Lösung auf der lokalen Berliner politischen Ebene nicht möglich.
Vielleicht ein wenig überpointiert, aber dennoch richtig ist die Feststellung, Willy Brandt und Egon Bahr hätten die in Berlin begonnene Politik hinsichtlich der Passierscheinabkommen nicht zu einem nennenswerten Ergebnis führen können, wenn sie nicht ein paar Jahre später in Bonn die einzigartige Chance gehabt hätten, die Berlin-Frage in den Gesamtrahmen der sozialliberalen Entspannungs- und Vertragspolitik einzubauen.

(Beifall bei der SPD)

Das bedeutet aber auch: Nur weil sie die Berlin-Frage zu einer Bedingung gemacht hatten, ohne die nichts geht, zu der Conditio sine qua non der Vertragspolitik, wurde das Viermächteabkommen möglich, das damals, wie jedermann weiß, von der DDR nicht gerade enthusiastisch begrüßt wurde. Im Klartext: Die damalige Bundesregierung unter Willy Brandt hatte das Schicksal der Verträge von Moskau und Warschau
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, cien 5. Februar 1988 4099
Heimann
und des für später in Aussicht genommenen Grundlagenvertrages mit der DDR von einer befriedigenden Berlin-Regelung abhängig gemacht. Sie hatte damit zugleich die befriedigende Berlin-Regelung zu ihrer eigenen politischen Überlebensfrage gemacht.
Das war damals unter einem sozialdemokratischen Kanzler. Wie ist es heute? Was darf man in der Hinsicht von der heutigen Bundesregierung, vom Bundeskanzler erwarten? Weiterhin die schönen, aber in keinerlei Weise und Richtung nutzenden Worte von Berlin als der Hauptstadt der Nation? Solche Worte sind im doppelten Sinne billig: Sie kosten nichts und bringen nichts, es sei denn, man verwendet sie zur Täuschung, um dahinter eigene Tatenlosigkeit oder Schlimmeres, böse Absichten, zu verbergen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Haben Sie es nicht ein bißchen kleiner?)

— Ich sage es Ihnen gleich.
Während der Kanzler und die CDU/CSU-Fraktion in ihrer kürzlichen Berlin-Sitzung noch einmal alle Register verbalpatriotischer Hinwendung zu Berlin zogen, war die Kürzung der Berlin-Förderung um fast 1 Milliarde DM zur Finanzierung einer sowohl verfehlten wie sozial ungerechten Steuerreform bereits ausgemacht. Wissen wir eigentlich, was alles sonst noch der unfinanzierbaren Steuerreform zum Opfer fallen wird, vielleicht eines Tages auch die geplante Eisenbahnverbindung Berlin—Hannover?
Aber das ist nicht der einzige Fall. Keine Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung hätte es gewagt, mit der DDR eine Zwei-Tage-Regelung für Besuche in der DDR auszuhandeln und dann nicht dafür zu sorgen

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

— ich sage: bis heute nicht dafür zu sorgen; es war Zeit nachzubessern —, daß diese Regelung da, wo sie wirklich gebraucht wird, in Berlin, Anwendung findet.

(Feilcke [CDU/CSU]: Es gab noch nie den kleinen Grenzverkehr für Berlin!)

Riesengroß, wenn es nur um Worte, schöne patriotische Worte für Berlin geht, aber zwergenklein schon bei einer gründlichen, auch vor Tabus nicht haltmachenden Analyse als Grundlage jedes folgerichtigen Handelns.

(Feilcke [CDU/CSU]: Das ist nicht seriös!)

Eine Analyse der gegenwärtigen Lage von Berlin (West) ergibt Defizite, die sicher nicht mit denen vergleichbar sind, die Anfang der 70er Jahre Willy Brandt und Egon Bahr zum Handeln zwangen. Heute stellen sich die Fragen neu, aber die Konsequenzen können, wenn keine zureichenden Lösungen durchgesetzt werden, auf längere Sicht sogar noch ernster sein. Hinter dem schönen Schein künstlich erzeugten Glanzes, für den der Senat Millionen ausgibt, werden Risse im Fundament sichtbar, auf dem Berlin (West) ruht. Unbeschadet des Status von Berlin, der, wenn man ihn nur rechtlich sieht, der Status von Groß-Berlin ist, ist Berlin (Ost) funktionell und faktisch zur Hauptstadt der DDR geworden und wird dies auch bleiben. Alle Protestnoten ändern nichts und sind höchstens in künftigen Verhandlungen ein Preis, der aber immer billiger wird, je länger man wartet. Ob Berlin (Ost) als Hauptstadt der DDR akzeptiert wird, ist nicht eine Frage, die davon abhängt, ob der in absehbarer Zeit fällige Staatsbesuch des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik in Berlin (Ost) stattfindet oder nicht und ob der Regierende Bürgermeister dort Gespräche mit dem Staatsratsvorsitzenden oder mit dem Ost-Berliner Oberbürgermeister führt oder nicht. Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund, daß sich deutsche Politiker anders verhalten als die westlichen Statusmächte selber, die dort Botschaften eingerichtet haben und deren Ministerpräsidenten, Außenminister und stellvertretende Außenminister selbstverständlich Berlin (Ost) nicht meiden, wenn sie mit der Regierung der DDR sprechen wollen.
Nein, die eigentliche, die politische Entscheidung ist bereits am 13. August 1961 gefallen, als die Westmächte die faktische Teilung der Stadt nicht verhindern wollten und im Interesse des Friedens wohl auch nicht verhindern konnten. Die Gralshüter des Status von Berlin in der Berliner CDU werfen ihrem eigenen Regierenden Bürgermeister immer noch ein Stöckchen nach dem anderen zwischen die Beine — ich empfehle die Lektüre der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" vom 18. Januar — , damit er nicht so souverän wie sein Vorgänger Richard von Weizsäkker auftrete, der sein Gespräch mit Erich Honecker in Berlin (Ost) führte, ohne das diplomatisch strenge Stirnrunzeln der Westalliierten und einiger Vertreter der Bundesvertretung zu bemerken, weil er es nicht bemerken wollte, und ohne vom Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland begleitet zu sein. Heute lautet die Kernfrage schon ganz anders: Was haben der Senat und die Bundesregierung den Bürgern unserer Stadt, den West-Berlinern also, zu bieten, wenn in nicht allzu ferner Zeit alle bedeutenden westdeutschen Banken und Unternehmen zwar ein Büro in Berlin (Ost), aber nicht unbedingt in Berlin (West) haben werden? Dann wird auch der letzte kalte Krieger in der Berliner CDU merken, daß Berlin (Ost) Hauptstadt ist und Berlin-West nicht Hauptstadt ist und bei fortdauernder Zweistaatlichkeit auch nicht werden wird.

(Feilcke [CDU/CSU]: Was haben Sie denn für eine Perspektive!)

Dann wird es ein schaler Trost sein, sich statt dessen „Hauptstadt der Nation" nennen zu dürfen.
Wäre es übrigens nach Konrad Adenauer gegangen, dann wäre Berlin in keinem Fall wieder Hauptstadt geworden. Denn Adenauer schrieb bereits im April 1946, als die Zukunft Deutschlands und Berlins noch offen war:
Ich habe Herrn Kaiser
— gemeint ist Jakob Kaiser; Frau Bundesministerin Wilms, Sie haben gestern in Berlin Jakob Kaiser geehrt, allerdings ohne dieses Zitat von Adenauer zu erwähnen —
ausdrücklich erklärt, daß es für den Westen wie für den Süden Deutschlands ganz ausgeschlossen sei, daß nach einer Wiedererrichtung Deutschlands die politische Zentrale des neuen Deutsch-
4100 Deutscher Bundestat¡ — 11. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988
Heimann
lands in Berlin ihren Sitz finde. Dabei sei es ganz gleichgültig, ob und von wem Berlin und der Osten besetzt sei.
So Adenauer 1946.

(Kuhlwein [SPD]: Im besten Mannesalter!)

Mir geht es nicht darum, Salz in die ohnehin schmerzenden Wunden zu streuen, sondern nur darum, daß wir die Realität, wie sie ist, erkennen, um sie, wenn möglich, gemeinsam zu meistern. Der Dynamik, die in jeder Hauptstadtrolle liegt und die sich in den nächsten Jahren potenziert zugunsten von Berlin (Ost) auswirken wird — die DDR ist ja alles andere als ein unwichtiger, unbedeutender Staat in Europa —, muß Berlin (West) etwas entgegenzusetzen haben. Ich jedenfalls stelle mir die Aufgabenverteilung nicht so vor, daß am Tage in Berlin (Ost) über Politik verhandelt wird und Geschäfte abgeschlossen werden und in der Nacht die Ergebnisse in Berlin (West) zwischen Philharmonie, Oper, Theater und Nachtbar gefeiert werden.

(Dr. Mitzscherling [SPD]: Das wäre schlimm!)

Nun sind wir uns in einer Antwort sicher alle einig: Meinungsfreiheit und Demokratie, die in Berlin (West) gewährleistet sind, sind ein hohes Gut und begründen im Streit der Ideologien eine Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung. Daß wir dieses Gut in Berlin (West) bewahren konnten, haben wir neben cien drei Westmächten vor allem den großen sozialdemokratischen Bürgermeistern dieser Stadt, Ernst Reuter und Willy Brandt, und selbstverständlich den Berlinern zu verdanken.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Daß Sie die auch noch nennen!)

Was wir in diesen Tagen in Berlin (Ost) erlebt haben, zeigt, was die SED noch zu lernen hat, bevor sie rückwärtsgewandte Angstlichkeit und mangelnde Souveränität im Umgang mit kritischen Bürgern und abweichenden Meinungen überwunden hat. Aber täuschen wir uns nicht: Auf längere Sicht wird auch die SED lernen müssen, wenn sie will, daß die DDR ein moderner Staat wird, der sich in die europäische Völkerfamilie einfügt und dessen politisches und gesellschaftliches System konkurrenzfähig bleibt. Daß dieser Lernvorgang schon begonnen hat, auch wenn er immer wieder stockt, haben wir glücklicherweise auch bemerken können. Über einen solchen Lernvorgang, zu dem es im Grunde gar keine Alternative gibt, würden wir uns mit allen Deutschen in West und Ost freuen. Aber dann steht unverändert die Frage: Was hat Berlin (West) auf Dauer der Dynamik, die in jeder Hauptstadtfunktion liegt, entgegenzusetzen? Antwort: Berlin (West) muß seine eigene Rolle zwischen West und Ost finden, gleichermaßen nützlich und akzeptiert von allen wie heute Wien und Genf. Berlin ist unbezweifelbar der Ort der kürzesten Wege zwischen West und Ost. Nur, unsere Kraft und Phantasie als Politiker hat bisher nicht ausgereicht, diese Wege in beiderlei Richtung begehbar zu machen.
Im Gegenteil, wo immer an der Schwelle einer zweiten Stufe der Entspannungspolitik Bewegung zwischen West und Ost sichtbar wird, an Berlin (West) geht das allemal vorbei. Soll Berlin (West) überhaupt dabei sein, muß das immer noch Paragraph für Paragraph, Wort für Wort der anderen Seite abgetrotzt werden, wobei viele der erreichten Kompromisse immer noch nicht mehr sind als Verbalkompromisse, die dann in der Praxis wieder zu neuen Schwierigkeiten führen.
Überhaupt, wer aktive Ostpolitik betreiben will, sollte paradoxerweise nicht aus Berlin (West) kommen. Als Ministerpräsident in München oder in Saarbrücken sind seine Chancen ungleich besser als die des Regierenden Bürgermeisters, obgleich die Regelungsnotwendigkeiten in Berlin genau umgekehrt proportional zu München oder Saarbrücken sind. Als Bundestagsabgeordneter ist es ein Vorzug, falls er in Moskau über Frieden und Entspannung in Zentraleuropa sprechen will, nicht aus Berlin (West), sondern besser aus einem Wahlkreis an der Grenze zu Frankreich, Belgien, Luxemburg oder Holland zu kommen. Als Kommunalpolitiker sollte er nicht in Berlin (West) wirken, falls er sich eine Patenschaft zu einer Gemeinde in der DDR wünscht.
Allerdings gebietet es die Wahrheit festzustellen, daß an dieser Käseglocke politischer Abstinenz und Sterilität, die künstlich von außen über Berlin (West) gestülpt wird, nicht nur die Sowjetunion und die DDR schuld sind. Als im Vorfeld der 750-Jahr-Feier Berlins Erich Honecker die führenden Politiker der im Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Parteien zu einem Staatsakt nach Berlin (Ost) einlud, da schien es plötzlich möglich, auch weitere Barrieren bis hin zu der kommunalpolitischen Ebene der Doppelstadt Berlin zu durchbrechen. Selbst Patenschaften zu West-Berliner Bezirken waren greifbar nahe. Ein seit Jahren geführter Dialog zwischen der Berliner SPD und der SED hatte offenbar einen allmählichen Umdenkungsprozeß auf beiden Seiten befördern helfen. Die Bereitschaft aller, auch und gerade des Regierenden Bürgermeisters, die Einladung Honeckers anzunehmen, bewirkte jedoch bei den westlichen Statusmächten mehr als nur ein mißbilligendes Stirnrunzeln. Als dann Wege gefunden wurden, die Annahme der Einladung praktisch unmöglich zu machen— eine Ausnahme machte nur die AL —, da war aus dem Rathaus Schöneberg deutliches Zähneknirschen einer ganz großen Koalition aller im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien zu hören. Aber trotz Zähneknirschens hatte man dort die Lektion verstanden: Die vier Siegermächte wollten, was Berlin angeht, das Heft selbst in der Hand und den Dialog unter den Deutschen in Grenzen und unter Kontrolle behalten.
Die westlichen Statusmächte, die in Berlin nach wie vor die oberste Gewalt und höchste Verantwortung innehaben, hatten bereits in den zurückliegenden Jahren nach innen in ihren Sektoren von Fall zu Fall durch den Mantel der Schutzmachtfunktion die Rechte einer Besatzungsmacht durchschimmern lassen. Der bekannteste Fall ist der des Schießplatzes Gatow; noch immer suchen West-Berliner Bürger den ihnen im Grundgesetz garantierten gesetzlichen Richter vergeblich. Nun begrenzten sie auch den äußeren Handlungsspielraum deutscher Politiker in Berlin (West). Wahrscheinlich hatte der Regierende Bürgermeister sich nicht gewünscht, daß das Exempel aus-



Heimann
gerechnet an seiner Person statuiert werden würde, als er am 8. Januar 1987 vor der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik in Bonn sagte:
Im Hinblick auf den Status ganz Berlins entsteht eine Scherenentwicklung zwischen den beiden Teilen Berlins. Das notwendige westliche Festhalten am Status quo für West-Berlin bei gleichzeitiger westlicher pragmatisch beweglicher Politik gegenüber Ost-Berlin birgt für West-Berlin die Gefahr des Status quo minus. Dieser könnte darin bestehen, daß Ost-Berlin sich außenpolitisch mehr und mehr in der Hauptstadtrolle verdeutlicht, während deutschlandpolitisch der Anschein eines reduzierten Status von West-Berlin mit allen Folgen eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten West-Berlins verstärkt wird.
Genau das ist der Tatbestand, der uns alle auf das Äußerste herausfordern muß: eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten für West-Berlin bei gleichzeitiger Entfaltung einer Hauptstadtdynamik für Ost-Berlin.
Nun möchte ich nicht mißverstanden werden. Wir Sozialdemokraten betrachten das Plenum des Deutschen Bundestages nicht als Klagemauer für Berliner Bedrängnisse. Was wir mit diesem Antrag erreichen wollen, ist, die gegenwärtige Bundesregierung zu einer Kraftanstrengung zu veranlassen, die der der Regierung Brandt/Scheel Anfang der 70er Jahre vergleichbar ist. Nur die Bundesregierung kann gewährleisten, daß bei Fortschritten auf der allgemeinen Ebene der Ost-West-Beziehungen und der deutschdeutschen Beziehungen ein Gleichtakt mit der Entwicklung in Berlin ereicht wird, wie unser Bundespräsident das gerade gefordert hat. Politisch und moralisch ist die Bundesregierung in der höchsten Pflicht. Rechtlich gesehen sind es die Statusmächte, die handeln müssen. Dadurch, daß sie zunächst einiges abgeblockt haben, was auf der deutschen Ebene möglich war, haben sie sich folgerichtig selbst in einen Handlungszwang gebracht.
Es ist gut, daß sie das auch begriffen haben, wie das Aide-mémoire zeigt, daß die Franzosen im Auftrag der Drei Mächte in Moskau übereicht haben. Aber auch aus Moskau und dem Politbüro der SED hört man, daß inzwischen intensiv über Berlin nachgedacht wird. Die Zeit ist günstig wie nie.
Erfolgreich wird die Berlin-Initiative am Ende aber nur sein können, wenn sich insbesondere die Bundesregierung nicht abwartend auf die Rolle eines interessierten Betrachters zurückzieht, wie man leider nur zu oft den Eindruck hat und was man übrigens auch ganz offen in den westlichen Hauptstädten als Vorwurf hören kann. Damit das Aide-mémoire nicht bloß diplomatische Routine bleibt, die man allenfalls als Alibi vorzeigen kann, hat der Oppositionsführer im Berliner Abgeordnetenhaus, Walter Momper, unablässig in Washington und London, demnächst auch in Paris, dafür geworben und die Vorstellungen der Berliner Sozialdemokraten erläutert.
Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich in London dabei war und mein Kollege Dietrich Stobbe in Washington. Wir haben dort einen entschlossenen Willen zu tatkräftiger und sachkundiger Unterstützung gefunden, weil die Drei Mächte in einem langen, nicht immer konfliktfreien Diskussionsprozeß, den die Berliner SPD ausgelöst hat, begriffen haben, daß der Status von Berlin, wenn sie ihn weiter in Anspruch nehmen wollen, für sie kein Schlummerkissen ist. Bewegung ist nicht alles. Aber ohne Bewegung zur rechten Zeit wird auch das gefährdet, was sicher bleiben muß.
Worum geht es im einzelnen? Wir haben es oft gesagt, und man kann es in unserem Antrag genau nachlesen. Ich möchte mich hier auf drei Punkte konzentrieren.
Erstens. Berlin (West) muß eng mit dem KSZE-Prozeß verbunden werden. In der Schlußakte von Helsinki hat zum erstenmal ein Europa institutionelle Gestalt angenommen, das mehr ist als die Europäische Gemeinschaft und das nicht an der Elbe endet. Die Themen des KSZE-Prozesses — Sicherheit; Kooperation in Handel, Industrie, Wissenschaft, Technik und Umwelt; humanitäre Fragen — werden blockübergreifend von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewinnen. Der KSZE-Prozeß symbolisiert genau die europäische Rolle zwischen Ost und West, die es für Berlin (West) zu gewinnen gilt. Dabei wäre es Sache der DDR, selbst zu definieren, ob und inwieweit Berlin (Ost) an dieser Rolle teilhaben soll. Eine wichtige, aber im Grunde technische Frage, wer wohin einlädt, ist auf der Grundlage des Status von Berlin und des Viermächteabkommens lösbar.
Zweitens. Im Luftverkehr ist die Zeit reif für ein Luftverkehrsabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten, das allerdings eine Vorverständigung zwischen den Vier Mächten und den beiden deutschen Staaten über Landerechte der Lufthansa in Berlin-Tegel einschließen muß. Ich persönlich meine, daß, ohne die Luftkorridore selbst oder das Regime in den Luftkorridoren anzutasten, dabei eine Lösung angestrebt werden muß, die auch das Überfliegen der deutsch-deutschen Grenze und einen Parallelverkehr zu den Luftkorridoren oder einen Verkehr über ihnen ermöglicht. Alles andere sind halbe Sachen. Das Ziel, Berlin (West) nach allen Himmelsrichtungen in den europäischen Luftverkehr einzubinden, kann, wenn die Lärm- und Umweltbelastungen für Berlin (West) nicht unerträglich werden sollen, nur in Arbeitsteilung zwischen Berlin-Tegel und Berlin-Schönefeld erreicht werden. Deshalb ist eine schnelle, unkomplizierte und vertraglich garantierte Verbindung zwischen den beiden Flughäfen notwendig.
Nicht einverstanden sind wir Sozialdemokraten, wenn — was allerdings auch möglich ist — als Ergebnis all der hochfliegenden Pläne am Ende lediglich die Verlagerung der europäischen Luftflotten einiger amerikanischen Fluggesellschaften nach Berlin-Tegel herauskommt, weil der Himmel über Frankfurt oder München buchstäblich zu ist und deshalb nach Berlin-Tegel ausgewichen wird.
Drittens. Nach Abschluß des Viermächteabkommens haben wir einige Zeit geglaubt, Berlin (West) könne sich nun auf seine inneren Probleme konzentrieren und zu einer „normalen" Stadt wie jede andere werden. Wir wissen inzwischen, daß das ein Irrtum war. Normalität kann Berlin (West) nur schrittweise in dem Maße erreichen, wie sich sein Verhältnis zum Umland politisch entspannt und in möglichst vielen



Heimann
Bereichen normalisiert. Gegenseitige Interessenverflechtungen mit der DDR, der Sowjetunion, mit Polen und der CSSR sind auch ein Stück zusätzlicher Sicherheit.
Das wird nur gelingen, wenn wir gemeinsam darauf achten, daß die bekannten unterschiedlichen Rechtsauffassungen nicht schon im Vorfeld zu Fallstricken werden. Das Viermächteabkommen ist und bleibt das Vorbild, wie man zu gegenseitig nützlichen Regelungen trotz unterschiedlicher Rechtsauffassungen kommen kann.
Wenn es West-Berlin nicht gäbe, — so sagt Peter Bender —
die Deutschen beider Seiten wüßten viel weniger
voneinander und träfen sich nur halb so oft;

(Kittelmann [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

die deutschen Staaten hätten bei weitern nicht soviel miteinander zu tun. Die Insel zwischen ihnen ist für beide ein Problem, bringt beiden aber auch Vorteile; sie kann zu einem Bindeglied zwischen Bundesrepublik und DDR werden, wenn sie als gemeinsames Problem erkannt und behandelt wird, wie es die Vier Mächte schon 1969 taten.
Wenn es West-Berlin nicht gäbe, so füge ich hinzu, man müßte es tatsächlich erfinden. Seine ungelösten Probleme sind die ungelösten Probleme Europas. Die Herausforderung, die darin liegt, wird, wie schon mehrfach in der Nachkriegsgeschichte, Anstoß sein zu größeren Lösungen. West-Berlin wird eine Zukunft haben, wenn Europa, das ganze Europa in West und Ost, eine gemeinsame Zukunft hat.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105903400
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1105903500
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seinem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland am 15. Oktober vergangenen Jahres vor diesem Hohen Hause erklärt:
... es bleibt eine wesentliche Aufgabe unserer Deutschlandpolitik, die Freiheit und Lebensfähigkeit Berlins zu bewahren und seine Anziehungs- und Austrahlungskraft zu fördern — in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht.
Deutschlandpolitik, meine Damen und Herren, ist immer auch Politik für Berlin. An keiner anderen Stelle werden die Probleme der deutschen Teilung so bildhaft klar wie in dieser Stadt.
Der fortbestehende Viermächtestatus für Berlin als Ganzes, Herr Kollege Heimann, die Mauer, die in brutaler Weise die Stadt teilt, die Insellage der Westsektoren als westlicher Vorposten im östlichen Machtbereich, all dies macht für jedermann deutlich, daß die deutsche Frage nicht gelöst ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn es keinen anderen Grund gäbe, so wäre allein die Situation Berlins Grund genug, daß die Deutschen sich nicht mit der Teilung Deutschlands abfinden können.
Für die aktuelle Politik kommt es auch hier darauf an, die gegebene Lage, mit der wir auf absehbare Zeit leben müssen, für die Menschen wenigstens erträglicher zu machen. Solange die Mauer nicht beseitigt werden kann, müssen wir also versuchen, sie durchlässiger zu machen. Aber solange Berlin geteilt bleibt, Herr Kollege Heimann, kann die Lage Berlins nicht normal sein. Das geteilte Berlin ist keine normale Stadt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Berliner dürfen auch nicht das Gefühl bekommen, von der Entwicklung im Westen abgekoppelt zu werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Grundlage aller Berlin-Politik aber muß der Viermächtestatus der Stadt als Ganzer bleiben, der auf den originären Rechten der vier Siegermächte beruht und mit dem Sie, Herr Kollege Heimann, in Ihrer Rede in einer für mich nicht verantwortbaren Weise leichtfertig umgegangen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie haben nicht zugehört!)

Nur auf der sicheren Grundlage dieses Viermächtestatus kann eine aktive und dynamische Politik darauf gerichtet sein, Berlin und den Berlinern zu helfen.
Die Bundesregierung bleibt deshalb den drei Schutzmächten dankbar für ihr beständiges und verläßliches Engagement für Berlin und seine Bürger. Die Besuche der Staatsoberhäupter aller drei Schutzmächte in dem Jubiläumsjahr der deutschen Hauptstadt Berlin

(Lachen bei den GRÜNEN)

waren ein eindrucksvoller Beweis für dieses Engagement. Erst kürzlich ist es durch den französischen Staatspräsidenten und den französischen Ministerpräsidenten bei dem Besuch von Herrn Honecker in Paris wieder zum Ausdruck gebracht worden.
Berlin braucht ebenso den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rückhalt der Bundesrepublik Deutschland. Wir respektieren den Status von Berlin, aber zu diesem Status gehört auch, daß die Bindungen zwischen Berlin und dem Bund respektiert und, wie dies im Viermächteabkommen vorgesehen ist, weiter ausgebaut werden. Eine dynamische Entwicklung dieser Bindungen ist für die Lebensfähigkeit Berlins unerläßlich.
Dazu gehört, daß für das geistige, kulturelle und wirtschaftliche Leben in Deutschland wichtige Einrichtungen in Berlin angesiedelt werden. Ich denke etwa an das Deutsche Historische Museum, an Einrichtungen wie die Kulturstiftung der Länder, an die Akademie der Wissenschaften

(Frau Olms [GRÜNE]: Die Stadt zubauen!)

oder auch an das Deutsch-Japanische Kulturzentrum.



Bundesminister Dr. Schäuble
Dazu gehören auch große internationale Veranstaltungen, die von deutscher Seite ausgerichtet werden — in den Bereichen des Sports oder der Kultur und der Wissenschaft ebenso wie im Bereich der Wirtschaft und der Politik. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, daß an internationalen Veranstaltungen in Berlin auch Vertreter osteuropäischer Staaten und Vertreter der DDR teilnehmen. Chancen zu friedlicher Zusammenarbeit müssen gerade hier genutzt werden.
In diesem Herbst wird die Jahrestagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in Berlin stattfinden, eine der bedeutendsten internationalen Veranstaltungen, die wir bisher in Deutschland gehabt haben. Diese Tagung ist für Berlin eine große Chance. Sie kann und sie soll für die Stadt in aller Welt werben. Die Berliner wissen das. Dies sollten auch alle bedenken, die die Arbeit von Weltbank und Währungsfonds vielleicht mit kritischen Augen sehen. Bei allem Verständnis für Pluralismus — und hier sollten sich wirklich alle Gruppen angesprochen fühlen — dürfen sich mögliche Aktionen gegen diese Tagung nicht so abspielen, daß daraus Schaden für Berlin entsteht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Berlin muß um seiner Attraktivität willen friedliches Forum und guter Gastgeber für internationale Veranstaltungen sein und sein können. Wer sich daran nicht hält, schadet Berlin.
Es gehört ebenso zur Ausgestaltung der Bindungen, daß Berlin an der Entwicklung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere an der Entwicklung der Beziehungen zur DDR voll teilnimmt. Für uns ist eine befriedigende Einbeziehung Berlins Voraussetzung für jeden Vertragsabschluß, nicht nur mit der DDR, sondern mit allen Staaten. Das Berliner Potential muß in alle Verträge auch praktisch voll einbezogen werden. Es geht dabei nicht um ein abstraktes Prinzip, sondern um konkrete, praktische Notwendigkeiten.
Auf der anderen Seite können wir es nicht akzeptieren, wenn die Sowjetunion oder andere versuchen, neben den Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland Sonderbeziehungen mit Berlin (West) zu suchen. Wir müssen da sehr aufmerksam und vorsichtig sein.
Schließlich und nicht zuletzt gehört zur Entwicklung der Bindungen Berlins an den Bund alles, was die wirtschaftliche Verflechtung der Stadt mit der Bundesrepublik Deutschland stärkt. Die Einbindung in die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung bleibt eine wichtige wirtschaftspolitische Aufgabe. Der Bundeskanzler hat sich hierfür wiederholt — auch bei zwei Wirtschaftskonferenzen in Berlin — persönlich eingesetzt und im Zusammenwirken mit dem Senat von Berlin große Erfolge erzielt. Herr Kollege Heimann, Sie haben völlig an der Wirklichkeit vorbei gesprochen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu Ihrer Zeit war Berlin in einer wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung begriffen; zu unserer Zeit haben wir eine deutliche Aufwärtsentwicklung in Berlin.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sellin [GRÜNE]: Die höchste Arbeitslosigkeit! — Zurufe von der SPD: 100 000 Arbeitslose!)

Wir haben übrigens auch darauf geachtet und werden darauf achten, daß bei den im Zuge der Steuerreform unumgänglichen Anpassungen Berlin relativ geringer betroffen wird und daß die günstigen spezifischen Rahmenbedingungen für die Berliner Wirtschaft erhalten bleiben.

(Zustimmung des Abg. Seiters [CDU/CSU] — Wartenberg [Berlin] [SPD]: Na, na!)

Die wirtschaftliche Attraktivität der Stadt ist in den letzten Jahren gewachsen. Herr Kollege Heimann, das werden Sie wissen, wenn Sie dort überhaupt noch einmal gewesen sind.

(Lachen bei der SPD)

Wenn Sie sich die Statistiken anschauen, wissen Sie, daß es wieder einen Zuwanderungsgewinn der Stadt gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies alles spricht dafür, daß die Politik von Bundesregierung und Senat für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins erfolgreich gewesen ist. Wenn Sie solche Erfolge gehabt hätten, hätten Sie hier Lobesarien gesungen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sie hätten jeden Tag gefeiert! — Er kann nicht singen! — Er ist unmusikalisch!)

— Er kann noch nicht einmal gut reden.
Meine Damen und Herren, nach der Rede des Kollegen Heimann muß man darauf hinweisen, daß Berlin-Politik immer auch Deutschlandpolitik ist und daß umgekehrt unsere Deutschlandpolitik immer auch eine konkrete Bedeutung für Berlin hat und haben muß. Der Bundeskanzler hat in seinen Gesprächen mit Herrn Honecker sehr klar gesagt, daß die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland nur so weit entwickelt werden können, wie Berlin daran teilhat. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland können noch weniger als die Beziehungen zu auswärtigen Staaten um Berlin herum entwickelt werden. Das bringt immer wieder Probleme mit sich. Auch wenn das unbequem sein sollte. Herr Kollege Heimann, müssen wir damit leben und uns dieser Verantwortung stellen.
Nach wie vor gibt es außer zu anderen Fragen gerade zu Berlin grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Aber die DDR weiß, daß wir notfalls auch auf bestimmte Schritte verzichten,

(Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

wenn nicht eine gleichwertige Behandlung Berlins gewährleistet ist.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)




Bundesminister Dr. Schäuble
Hier gibt es eine Solidarität auch der Bundesländer, auch der großen Städte mit Berlin, für die wir dankbar sind und die wir auch in Zukunft erhalten müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Bei der konkreten Zusammenarbeit kommt es darauf an, die Meinungsverschiedenheiten in Grundsatzfragen nicht in den Vordergrund zu rücken, sondern zu versuchen, pragmatische Lösungen im Interesse der Stadt und ihrer Bewohner zu finden. Dazu gehört auch, daß Berlin zu seinem Umfeld ein an sachlichen Interessen ausgerichtetes Verhältnis entwickeln kann. Es kann dabei nicht um Sonderbeziehungen zwischen dem Senat und der DDR gehen; dies widerspräche den Interessen Berlins. Es kann immer nur um ein gewisses Maß an praktischer Zusammenarbeit dort gehen, wo sie notwendig ist.
Allerdings muß Berlin wegen der besonderen politischen und rechtlichen Lage der Stadt im Umgang und in der Zusammenarbeit mit seinem Umfeld immer noch sorgfältiger sein als jede andere Stadt und jedes andere Land der Bundesrepublik Deutschland.

(Sellin [GRÜNE]: Beispiel Sondermüllentsorgung!)

Insbesondere muß Berlin darauf achten, daß jede Zusammenarbeit und Absprache des Senats mit der DDR vorher mit den alliierten Schutzmächten und der Bundesregierung abgestimmt ist und in die übergreifende politische Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR eingebettet bleibt. Aber, meine Damen und Herren, wir sind den Alliierten dafür dankbar, daß es ein Einvernehmen mit der Bundesregierung und dem Senat bei allen Fragen im Jubiläumsjahr Berlins gab

(Heimann [SPD]: Das hört sich in Berlin aber anders an!)

und daß es dieses Einvernehmen — Herr Kollege Heimann — auch im Hinblick auf Begegnungen etwa des Regierenden Bürgermeisters mit führenden Politikern der DDR gibt.

(Heimann [SPD]: Wo leben Sie denn? — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Das ist nun ein Gerücht!)

— Das ist überhaupt kein Gerücht, Herr Kollege Ehmke, das ist die Wahrheit, die Sie vielleicht nicht zur Kenntnis nehmen wollen und nicht gerne hören. Dies ist die reine Wahrheit.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Wenn wir uns einmal treffen, erzähle ich Ihnen die Details!)

Es gibt eine voll übereinstimmende abgestimmte gemeinsame Position des Senats von Berlin der Bundesregierung und der Drei Mächte auch in der Frage von Begegnungen des Regierenden Bürgermeisters mit führenden Politikern der DDR.

(Stobbe [SPD]: Da kommt es dann aber sehr auf die Konditionen an!)

In dieser praktischen Zusammenarbeit ist in den vergangenen Jahren vieles zum Nutzen Berlins erreicht worden. In den Gesprächen zwischen dem Bundeskanzler und dem Generalsekretär Honecker im letzten Jahr sind weitere Anstöße gegeben worden. Es ist jetzt erstmals gelungen, eine Vereinbarung über eine Einbeziehung von Berlin (West) in den westdeutschen Stromverbund auszuarbeiten und auch schon zu paraphieren. Bereits in den 70er Jahren ist dies vergeblich versucht worden. Sie alle haben das seitdem doch nicht mehr für möglich gehalten; wenn Sie ehrlich sind. Das ist jetzt ein großer Fortschritt für Berlin, den Sie nicht erreicht und nicht mehr für möglich gehalten haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Straßenverbindungen sind schon in der Vergangenheit erheblich verbessert worden. In wenigen Tagen werden gemäß der Verabredung beim Besuch von Generalsekretär Honecker die Sondierungsgespräche über den Ausbau einer leistungsfähigen, modernen Anforderungen entsprechenden Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Hannover aufgenommen werden.

(Sellin [GRÜNE]: Was ist Ihre Position?)

Es geht dabei um eine erhebliche Verkürzung der Fahrzeit und um eine erhöhte Zugfrequenz, die diese Verbindung langfristig attraktiv machen soll. Es wird dabei zunächst darum gehen, Herr Kollege, mit der DDR mögliche Varianten zu sondieren. Es besteht Einvernehmen mit der DDR, daß dieses Projekt der Eisenbahnverbindung Priorität hat; was übrigens meine Damen und Herren, auch heißt, daß andere Wünsche zurückgestellt werden müssen.
Es handelt sich dabei um ein sehr kompliziertes Projekt. Es geht nicht nur um eine bessere Schienenverbindung nach Berlin, sondern es geht darüber hinaus um eine bessere Verkehrsverbindung in Deutschland und in Europa. Wir stehen jetzt vor Sondierungen mit der DDR; sie sind Aufgabe der Bundesregierung. In dieser Situation ist es wenig hilfreich, wenn Stimmen in der Öffentlichkeit hier bei uns — auch aus Berlin — sich mit Vorschlägen gegenseitig zu überbieten suchen. Jeder weiß, daß dieses Projekt auch einen Preis hat. Es wäre deshalb gut, wenn wieder etwas mehr darauf geachtet würde, daß das Rollen- und Wechselspiel zwischen den verschiedenen politischen Kräften bei uns in einer Weise funktioniert, die der Bundesrepublik Deutschland und dem Anliegen von Deutschland als Ganzem gerecht wird.
Ich brauche übrigens nicht zu betonen, daß beide Projekte, Stromverbund wie Eisenbahn, auch eine ganz besondere deutschlandpolitische Komponente haben. Sie schaffen Verbindungen und begründen gemeinsame Interessen auch zwischen den beiden Staaten in Deutschland.
Die Bundesregierung hofft, daß mittelfristig auch der Luftverkehr von und nach Berlin substantiell verbessert werden kann. Sie begrüßt deshalb nachdrücklich die gemeinsame Initiative der drei westlichen Schutzmächte gegenüber der Sowjetunion, die sich auf eine Verbesserung und Ausweitung des Flugverkehrs sowie auf den Ausbau Berlins als Konferenzstadt und auf mehr Kommunikation in der geteilten Stadt richtet.
Der Luftverkehr von und nach Berlin hat sich in den letzten Jahren im übrigen kontinuierlich erweitert. Seit einigen Monaten ist ein wachsendes Interesse insbesondere der großen US-Fluggesellschaften am



Bundesminister Dr. Schäuble
Standort Berlin festzustellen. Die Initiative des amerikanischen Präsidenten vom Juni vergangenen Jahres zielt auf eine Verbesserung der Nutzung der Korridore durch die alliierten Gesellschaften, darüber hinaus aber auch auf erweiterte Anflugmöglichkeiten für alliierte und nichtalliierte Fluggesellschaften auf Strecken außerhalb der Korridore. Die Bundesregierung unterstützt diese Bemühungen nachhaltig.
Wenn es den gemeinsamen Bemühungen gelingt, die bisherige Blockierung Tegels für nichtalliierte Gesellschaften durch die östliche Seite aufzubrechen und Möglichkeiten für den Anflug außerhalb der Korridore, beispielsweise im Nord-Süd-Verkehr, zu eröffnen, dann, meine Damen und Herren, wird auch die Lufthansa wieder nach Berlin fliegen können. Dann werden sich auch Chancen für Verbesserungen des innerdeutschen Luftverkehrs ergeben. Die Bundesregierung setzt sich deshalb mit großem Nachdruck dafür ein.
Die Bundesregierung wird ihre stetige, berechenbare und erfolgreiche Deutschland- und Berlin-Politik fortsetzen. Diese Politik ist langfristig angelegt, ist ein Element praktischer Friedensarbeit in Europa. Sie bewegt sich auf der Basis der für die Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Verträge. Wir werden bei dieser Politik Grundsatzpositionen nicht aufgeben. Es gibt zur Zeit zwei Staaten in Deutschland. Aber die Menschen in beiden Staaten sind Deutsche und Angehörige einer Nation. Sie haben das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, und sie wollen zusammenkommen können.
Praktische Deutschlandpolitik ist nur durch Entwicklung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland möglich. Aber dabei dürfen die Gegensätze, die Ziele und Wertvorstellungen im Interesse der Glaubwürdigkeit und der Berechenbarkeit nicht verschwiegen werden. Deshalb muß vor allen Gedankenspielen zur Lösung der deutschen Frage, die an den Wünschen und Empfindungen der Menschen in Deutschland vorbeigehen, gewarnt werden. Sie führen zu nichts. Im Gegenteil, sie erwecken falsche Erwartungen, in der DDR wie bei allen unseren Nachbarn in Europa. Sie bergen im übrigen eine Gefahr für den Konsens zwischen den großen politischen Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland über die Positionen, Ziele und Wertvorstellungen der Deutschlandpolitik.
Sicher ist es in Berlin leichter, diesen Konsens zu erhalten. Im Bewußtsein der Berliner, von dem Sie, Herr Kollege Heimann, nach Ihrer Rede weit entfernt sind,

(Frau Olms [GRÜNE]: Sie wissen doch gar nicht, was die für ein Bewußtsein haben!)

geht es jedenfalls zuallererst darum, auch in Berlin unter denselben Lebensformen und -bedingungen zu leben wie in der Bundesrepublik Deutschland und an der gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung und an dem Ausbau der Gesellschafts-, Sozial- und Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland teilzunehmen und aktiv mitzuwirken. Die Berliner sind immer nüchterne Leute gewesen.

(Frau Olms [GRÜNE]: Darum erkennen sie auch das, was Sie sagen!)

Sie haben nie Gedankenspielen nachgehangen, sondern sich an das gehalten, was realistisch ist. Deshalb war es in Berlin immer leichter, einen Konsens in Fragen der Deutschland- und Berlin-Politik zu finden. Den Berlinern war immer klar, worum es im Kern geht, nämlich um die Freiheit.
Meine Damen und Herren, wir Deutschen in unserem geteilten Vaterland sind in einer besonders labilen Lage. Deshalb brauchen wir Gemeinsamkeit in nationalen Grundfragen, wobei Gemeinsamkeit das Verständnis über unterschiedliche Rollen und Auf gaben etwa von Regierung und Opposition einschließt. Nehmen wir uns an den Berlinern ein Beispiel und setzen wir Gemeinsamkeiten hier in Bonn nicht leichtfertig aufs Spiel! Gemeinsamkeit heißt, daß wir alle dem Auftrag unseres Grundgesetzes verpflichtet bleiben, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1105903600
Das Wort hat der Abgeordnete Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1105903700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist begrüßenswert, daß heute über die Zukunft von Berlin (West) im Rahmen der gesamteuropäischen Politik debattiert wird. Die politisch-konzeptionellen Veränderungen in der Sowjetunion bewirken Entwicklungschancen für das Verhältnis von West- und Osteuropa zueinander.
Berlin (West) liegt geographisch in der Mitte Europas. Dieser Vorteil der geographischen Mitte ist konfrontiert mit der politischen Last und Spannung zugleich, inmitten der DDR zu liegen. Die aktuellen Ereignisse in Berlin (Ost), der Hauptstadt der DDR, machten erneut deutlich, wie die politischen Widersprüche zwischen Ost und West im Selbstverständnis über die Gewährleistung von individuellen Grundrechten aufeinanderprallen.
Zugleich wurde eine große, wenn nicht sogar die größtmögliche Koalition offengelegt, die der Ost-West-Gegensatz bisher kennengelernt hat. Die Bundesregierung, die Sozialdemokratie, die Evangelische Kirche in der DDR, die SED-Führung und offensichtlich auch die Sowjetunion plädieren für die Konzeption: „Ruhe im Land". Unabhängige Oppositionsgruppen der Friedens- und Okologiebewegung, die die demokratischen Grundrechte offensiv anwenden, sind in Ost- wie Westeuropa den herrschenden Eliten zu unbequem, d. h. sie werden in einem nicht öffentlich ausgetragenen Konsensverfahren zur Ruhe gebracht. Die unfreiwillige Ausreise von Stephan Krawczyk und Freya Klier steht beispielhaft für solch eine Praxis.
Herr Lambsdorff hat das gestern abend in der Tagesschau offen dokumentiert: Wirtschaftliche Kooperationsinteressen z. B. über das Luftkreuz Berlin ge-
4106 Deutscher Bundestag — 11.Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag. cien 5. Februar 1988
Sellin
hen vor. Die Demokratisierung innergeseilschaftlicher Verhältnisse hat zurückzustehen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist unerhört, was Sie da sagen!)

Politische Opposition wird aus der Sicht der Herrschenden kanalisiert.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Das ist doch Ihre ideologische Einäugigkeit!)

Der SPD-Antrag über die Zukunft Berlins klammert die politische Bewertung über die praktizierten Prioritäten zwischen Interessen der Wirtschaft und der Politik in der Diplomatie von Ost und West aus. Diese Tatsache wird deutlich, wenn Gedanken für eine gesamteuropäische Perspektive in dem Antrag nicht vorhanden sind. Die Sozialdemokratie und die CDU betreiben im Bundestag und im Europa-Parlament eine euphorische Politik in Richtung auf eine Integration Westeuropas zu einem gemeinsamen Binnenmarkt. Der sich abzeichnende Koloß Europäische Gemeinschaft veranlaßt breits die EFTA-Staaten. z. B. das neutrale Österreich, über einen Beitritt in die EG nachzudenken, um nicht wirtschaftspolitisch erdrückt zu werden. Das gleiche Problem stellt sich für die einzelnen Staaten des Ostblocks sowie für den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Eine übertriebene wirtschaftliche und politische Stärke der EG gegenüber dem RGW kann ein schwerwiegendes politisches Hindernis für einen beschleunigten Ausbau wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen osteuropäischen Staaten und den EG-Staaten sein.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Also Schwäche ist gefordert?!)

Die wirtschaftliche, ökologische und finanzielle Lage der Mehrzahl der osteuropäischen Länder ist so schlecht und perspektivlos, daß es eine westeuropäische Verantwortung für die Entwicklung der Lebensverhältnisse in osteuropäischen Ländern gibt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Diese politische Verantwortung wahrzunehmen ist Friedenspolitik im erstrangigen Sinne. Die reichen westeuropäischen Länder, insbesondere die Bundesrepublik, haben die politische Verpflichtung, Osteuropa finanziell, technologisch und sozial für eine gesamteuropäische Lebensperspektive zu gewinnen.

(Lummer [CDU/CSU]: Sie brauchen nur den Kommunismus abzuschaffen! Das einzige Problem ist der Kommunismus! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Die größtenteils hohe Verschuldung osteuropäischer Länder gegenüber westeuropäischen Ländern sowie die Devisenknappheit als Hindernis für den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit dürfen nicht dazu führen, daß die Länder Osteuropas in Verhältnisse getrieben werden, die bereits zwischen Industrieländern des Westens und Schwellenländern der Dritten Welt bestehen.

(Lummer [CDU/CSU]: Wer treibt sie denn dorthin, wenn nicht die Regierungen selber?)

Berlin (West) als faktischer, politischer und volkswirtschaftlicher Teil der Bundesrepublik und Berlin (Ost) als Hauptstadt der DDR können Tagungsort für verstärkte Debatten und Perspektiven für ein zu bauendes Europäisches Haus sein.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dies setzt jedoch voraus, daß die EG-Integration nicht als politischer Hebel gegen Osteuropa eingesetzt wird.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist ja ein Quatsch!)

Der Antrag der SPD enthält eine Voraussetzung für die Akzeptanz beider Teile Berlins als internationale Tagungsstätte für Ost-West-Fragen, nämlich die faktische und funktionelle Anerkennung von Berlin (Ost) als Hauptstadt der DDR. Damit wird gleichzeitig der Anspruch aufgegeben, daß Berlin (West) eine Hauptstadt im Wartestand sei, wie es Herr Schäuble hier noch vorgetragen hat. Mit dieser Bewertung läßt sich die Sozialdemokratie auf den praktischen Anerkennungsprozeß der Zweistaatlichkeit ein. Wir begrüßen dies ausdrücklich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es wäre jedoch besser, wenn der vorgelegte Antrag den Begriff Zweistaatlichkeit enthalten würde. Es gibt nicht nur Berlin (Ost) und Berlin (West), sondern es gibt faktisch und funktionell zwei Staaten. Bei dieser Sicht der realen Verhältnisse müssen die DDR und die Sowjetunion akzeptieren, daß die West-Berliner ihre Stadt nicht als autonome Enklave, sondern als faktischen, politischen und volkswirtschaftlichen Teil der Bundesrepublik Deutschland verstehen. Damit wenden wir uns gegen eine Interpretation, die Berlin (West) auf dem Territorium der DDR liegend sieht und damit für einen späteren Zeitpunkt die Zugehörigkeit zur DDR anstrebt, wie dies noch immer von der DDR und der Sowjetunion formuliert wird. Wir wenden uns gegen eine Funktionszuweisung, die Berlin (West) zum Faustpfand gegen deutsche Sonderwege zwischen den Blöcken macht. Gucken Sie sich da auch einmal die Interessen der westlichen Alliierten an. Nimmt die Bundesregierung gegenüber den Alliierten und den europäischen Nachbarländern in Ost und West die Zweistaatlichkeit als Bedingung für die weitere gemeinsame Entwicklung Gesamteuropas an, dann können historisch erfahrene und berechtigte Angste gegenüber einem hegemonialen wiedervereinigten Deutschland in Europa beseitigt werden.
Es wäre ein politischer Fortschritt, wenn die Sozialdemokratie zugunsten einer europäischen Politik von dem Gedanken der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten Abschied nehmen würde. Die CDU ist von dieser Einsicht in die realen europäischen Verhältnisse noch weit entfernt.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Wir halten am Grundgesetz fest!)

Herr Diepgen z. B. hat in einer Rede am 20. März 1987 — im Landespressedienst veröffentlicht — angeregt, einen Patriotismus zu fördern, der sich nicht allein auf die Bundesrepublik Deutschland bezieht. Ich kann solchen politischen Werthaltungen nur entgegensetzen: Wer eine gesamteuropäische Perspektive will,



Sellin
der sollte nationalen Patriotismus bewußtseinsmäßig beerdigen und die multikulturelle Lebensweise aller Menschen in Europa fördern.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Berlin (West) und Berlin (Ost) können Tagungsort für die KSZE-Folgekonferenzen werden, wenn der politische Zustand der Zweistaatlichkeit Ausgangsverständnis deutsch-deutscher Politik geworden ist. Die beiden Städte von Berlin gehören faktisch zum jeweils anderen Staat. Kein Standort ist besser für die internationale Debatte über die Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung von individuellen und sozialen Menschenrechten geeignet.
Das überzeugende Engagement der unabhängigen Friedens- und Ökologiebewegung in Ost und West für die Verwirklichung individueller und sozialer Menschenrechte bildet die Basis einer alternativen Friedenspolitik für einseitige Abrüstungsschritte und das Eintreten für ein blockfreies Europa. Die utopischen Ziele lauten: Abzug aller sowjetischen und amerikanischen Armee-Einheiten aus West- und Osteuropa, Abbau aller atomaren, chemischen und nicht defensiven konventionellen Waffensysteme und in einem ersten großen politischen Schritt die Bildung blockfreier mitteleuropäischer Staaten: Dänemark, DDR, Polen, Bundesrepublik, CSSR, Ungarn usw.
Berlin (West) kann einen eigenen Beitrag zur einseitigen Abrüstung leisten. Jeder weiß, daß die Stadt militärisch nicht zu verteidigen ist. Von daher leistet das Viermächteabkommen von 1971 die internationale Sicherung des äußeren Status von Berlin (West) durch die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Durch eine Verminderung der alliierten Truppen auf symbolische Einheiten würde keine erhöhte Gefahr für die Aufrechterhaltung und Entwicklung dergewachsenen Bindungen und Verbindungen zwischen Berlin (West) und der Bundesrepublik entstehen.
Ein anderes Thema bildet jedoch der innere Status von Berlin (West). Es ist schon ein Skandal, daß die drei Westalliierten ein Besatzungsrecht aufrechterhalten und praktizieren, nach dem alle das innergesellschaftliche Leben betreffenden rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze, wie sie für die Bürger Frankreichs, Großbritanniens, der USA und der Bundesrepublik selbstverständlich sind, nicht gelten. Es ist politisch richtig, daß heute, nach mehreren Jahren des Debattierens, Gesetzentwürfe im Berliner Abgeordnetenhaus behandelt werden, die die eklatantesten Relikte des Besatzungsrechts aufheben sollen, z. B. die Androhung der Todesstrafe. Die Alternative Liste Berlin fordert von den Westalliierten eine Erklärung, daß sie sich in Zukunft einer Einmischung in innenpolitische Angelegenheiten der Stadt enthalten. Dies würde eine politische Änderung der Erklärung über Berlin vom 5. Mai 1955 bedeuten. Damit würde Berlin (West) ein größeres Maß an Selbständigkeit gegeben; der äußere Status würde jedoch nicht tangiert.
Ein weiterer Übergangsschritt wäre die Schaffung eines Besatzungsstatuts für Berlin (West), das nicht nur größtmögliche Souveränität nach innen garantiert, sondern weiterhin die militärische Präsenz als Mittel der politischen Sicherung abbaut. Dies könnte ähnlich dem Besatzungsstatut gestaltet werden, wie es von 1949 bis 1955 für die Bundesrepublik in Kraft war. Dies würde die Ablösung der Militärregierung und statt dessen die Einrichtung einer Alliierten Hohen Kommission — drei Hohe Kommissare — bedeuten, also die tatsächliche Entmilitarisierung von Berlin (West).

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der SPD-Antrag nimmt außerdem Stellung zu einigen konkreten Projekten wie dem Stromverbund mit der DDR und den Eisenbahntransitstrecken. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie halte ich von einem Stromverbund zwischen der DDR und der Bundesrepublik solange nichts, wie dieser Stromverbund zum Absatz überschüssigen Atomstrompotentials der Bundesrepublik genutzt werden soll, z. B. aus Grohnde.

(Beckmann [FDP]: Sie haben keine Ahnung!)

Dezentrale, mit hohen Wirkungsgraden ausgestattete Energieversorgungsstrukturen in Berlin (West) sind die Alternative zum Atomstrom aus Großkraftwerken.

(Lummer [CDU/CSU]: Sie machen es lieber mit Braunkohle!)

Der Ausbau der Eisenbahntransitstrecken soll nicht nach dem modernsten Stand der Technik in Form von Hochgeschwindigkeitszügen erfolgen, sondern es sollte unmittelbar und kurzfristig der Ausbau der Transitstrecken auf ein Geschwindigkeitsniveau für Intercity-Züge mit 160 Stundenkilometern und nach der Elektrifizierung mit 200 Stundenkilometern erfolgen.

(Beckmann [FDP]: Und dann zurück zur Postkutsche!)

Der stufenweise Ausbau aller fünf Eisenbahnstrekken zwischen dem Bundesgebiet und Berlin (West) hat den Vorteil, daß die Reise durch alle Teile der DDR erfolgt und der Reiseverkehr sich nicht auf den Eisenbahnknotenpunkt Hannover konzentriert. Vielleicht sind die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik eines Tages so entkrampft, daß die Züge keine Transitzüge mehr sind, sondern die Verbindungen der verschiedenen Regionen beider Staaten wiederherstellen, d. h. einschließlich des Ein- und Aussteigens in der DDR.
Die Flugsubventionen in Höhe von mehr als 100 Millionen DM pro Jahr sollten im Rahmen des Konkurrenzkampfes um die vermehrte Zulassung von Start- und Landerechten internationaler Airlines in Berlin-Tegel schleunigst umgewidmet werden für den beschleunigten Ausbau und die Nutzung aller Eisenbahntransitstrecken.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Eisenbahnfahren ist umweltfreundlicher als Autofahren, erst recht umweltfreundlicher als das Fliegen.
Eine kurze Bemerkung zum Schluß: Ein weiterer Diskussionsgegenstand ist die Berlin-Förderung. Ich habe leider nicht die Zeit, das hier im einzelnen vorzustellen. Ich will nur deutlich sagen: Uns geht es darum, die Berlin-Förderung tatsächlich finanziell zu kürzen, weil die Mitnahmeeffekte überwiegen. Wer



Sellin
sich das neue DIW-Gutachten anschaut, wird das dort bestätigt finden.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine nicht nachweisbare Behauptung!)

Dieses Geld sollte Berlin in einem Finanzfonds zur Verfügung gestellt werden, aus dem die Gelder auf Antrag vergeben werden zugunsten von Subventionen, die sich nach Kriterien richten wie primärenergiesparend, emissionsmindernd, rohstoffsparend, lärmmindernd, flächensparend, körperlich schwere Arbeit ersetzend, gesundheitsgefährdende Arbeitsstoffe und Arbeitsmittel ersetzend, ausbildungsplatzfördernd — insbesondere für Mädchen, ausländische Jugendliche und andere benachteiligte Gruppen —, behindertengerechte Arbeitsplätze und Verkehrsmittel schaffend.
Solch eine Konzeption der Berlin-Förderung steht allerdings völlig den Sparbemühungen der CDU entgegen, die ihre verfehlte Steuerreform finanzieren muß.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105903800
Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1105903900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Sellin, ich glaube, wenn wir Ihre Rede später einmal in einer genußsüchtigen Stunde nachlesen und dann feststellen, was Sie hier alles ausgeführt haben, dann werden wir feststellen, daß diese Rede sicherlich nur dann hätte ernst genommen werden können, wenn sie hier in dieser Gegend eine Woche später gehalten worden wäre.

(Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Aber den Schwulst, der von Ihrer Seite kam, den hören Sie sich an!)

Es waren ein paar ernste Punkte in der Rede, auf die ich wenigstens stichwortartig eingehen will. Sie haben das DIW-Gutachten erwähnt, das erst dieser Tage veröffentlicht wurde. Dieses Gutachten wird dem, was Sie hier gesagt haben, nicht gerecht. Insbesondere steht dort nicht, was Sie dem Bundestag zu verkaufen versucht haben. Studieren Sie es einmal genauer.
Zweitens vermögen wir dem nicht zu folgen, was Sie über die alliierten Schutzmächte gesagt haben. Wir vermögen dem nicht zu folgen, daß man im Zusammenhang mit den Schutzmächten von einer skandalösen Haltung spricht. Dieses wird dem Anspruch nicht gerecht, den die Alliierten nach 40 Jahren Hilfe für Berlin an uns stellen können.
Auch bezüglich der EG haben Sie eine Auffassung, der wir nicht folgen können.

(Abg. Sellin [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Ich habe nur relativ knappe Zeit.

(Sellin [GRÜNE]: Das wird nicht angerechnet!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105904000
Herr Kollege Lüder, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen? Bitte schön, Herr Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1105904100
Ich möchte Sie nur auf den Punkt ansprechen, daß es keine Gründe gebe, die Alliierten zu kritisieren. Wie stehen Sie denn zu der Tatsache, daß ein Berliner Kriminalbeamter zusammen mit einem französischen Verbindungsoffizier versucht, unmittelbar Zugriff auf Sozialakten in Behörden von Berlin (West), in dem Fall im Bezirk Wedding, zu nehmen?

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1105904200
Erstens kenne ich den Fall nicht. Zweitens halte ich es für einen Unterschied, ob man etwas kritisiert oder ob man gleich sagt, es sei ein Skandal, was die Alliierten machten. Dazwischen sehe ich schon einen Unterschied. Bisher war es eine gute Übung aller Senate, die ich kenne, daß wir das sachliche Gespräch mit den Alliierten geführt haben, um auch im innenpolitischen Bereich Berlins zu vernünftigen Verhältnissen zu kommen, auch wenn es einmal einzelne Ausbüxer gab.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, aber auch dem, was der Kollege Heimann gesagt hat, können wir so nicht in allen Punkten zustimmen. Ich meine, wenn wir mehr Zeit hätten, sollten wir einmal viel Geduld aufwenden, um die Geschichte Berlins aufzuarbeiten. Das Nachdenken über die Konsequenzen aus dem 13. August, das bei Herrn Heimann heute hier genannt wurde, hat ja erst verdammt spät eingesetzt. Aber auch, lieber Herr Schäuble, wenn Sie nur sagen, bis 1981 sei es bergab gegangen und seitdem gehe es bergauf, können Sie von mir keine Zustimmung verlangen, und die Daten werden dem auch nicht gerecht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Beiden großen Parteien sage ich: Wenn Sie vergessen, daß die progressive Berlin-Politik und die Vertragspolitik hier im Deutschen Bundestag vom damaligen Oppositionsführer Walter Scheel 1969 mit der Vorlage des Generalvertrages begann, und zwar gegen den Widerstand von CDU/CSU und SPD, so erinnere ich Sie daran, daß auch dieses zur Entwicklung der Berlin-Politik mit dazugehört.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sie bleiben der Tradition treu! — Stobbe [SPD]: Wir wollen das nicht vergessen!)

Wir sollten uns vielleicht einmal zusammensetzen und in Ruhe aufarbeiten, was gewesen ist. Ein SchwarzWeiß-Standpunkt, wie er hier in manchen Reden durchkam, ist bekanntlich nur im Märchen Realität, nicht in der Politik.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen die Resolution, wie sie von den Koalitionsfraktionen hier vorgelegt wird. Der Antrag der Koalitionsfraktionen umreißt die Grundposition zur Berlin-Politik, wie sie aus dem Deutschen Bundestag heute dargestellt werden muß. Er zeigt Perspektiven auf; er weist auf die notwendigen Eckpunkte der politischen Entwicklung Berlins hin.
Diese Entwicklung Berlins wollen wir offensiv sehen und nicht in Reaktion, Herr Kollege Heimann, auf Glas, was in Ost-Berlin geschieht. Wir meinen nicht, daß wir uns einer Herausforderung der Dynamik der Hauptstadt Ost-Berlin, wie Sie es formulierten, entge-



Lüder
gensetzen müssen. Bisher war es gute Übung aller Senate in Berlin, und zwar sage ich jetzt: in Berlin (West), daß wir genug Selbstbewußtsein hatten, um unsere Stadt so zu prägen, daß die anderen Veranlassung hatten, sich an die Attraktivität West-Berlins anzuhängen und daß nicht wir zur Attraktivität Ost-Berlins schauten, um danach zu reagieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dieser Antrag zeigt die Perspektiven auf, die wir für Berlin entwickeln wollen. Wenn wir diesen Antrag aber ernst nehmen, müssen wir auch sehen, daß er Verpflichtungen für unser eigenes Handeln hier im Bundestag ebenso enthält wie Verpflichtungen für die deutschen Politiker in den Ländern. Wenn wir in diesem Antrag z. B. sagen, daß für uns, den Deutschen Bundestag, eine Deutschland-Politik an Berlin vorbei undenkbar sei, wenn wir in diesem Beschluß unsere Solidarität mit Berlin bekunden, so darf beides keine leere Formel und keine verbale Floskel bleiben. Jedes politische Handeln — das betrifft Mitglieder des Bundestages genauso wie Mitglieder des Bundesrates — muß sich dann an dieser Maxime orientieren. Es muß unsere Maxime sein, nach der sich jeder verantwortliche deutsche Politiker richten sollte, keine Schritte zu tun, die z. B. die Zugehörigkeit Berlins zur EG in Frage stellen oder die Bindungen Berlins an den Bund belasten oder gar Türen öffnen oder Weichenstellungen ermöglichen, durch die Grundsatzpositionen der Berlin-Politik in Frage gestellt würden.
Meine Damen und Herren, deswegen war es für uns so wichtig, daß der Deutsche Bundestag einstimmig beschlossen hat, daß für die gemeinsame Kommission für Wirtschaftsfragen zwischen Bundesrepublik und DDR der Tagungsort Berlin (West) als möglich festgeschrieben wird, und zwar — und dies füge ich jetzt aus aktuellem Anlaß hinzu — , ohne daß die Gnade Ost-Berlins dem zustimmen müßte, möglicherweise außerdem noch zu einem politischen Preis. Wenn der Bundestag hier einstimmig etwas gefordert hat, so muß dem auch entsprochen werden.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es für uns Liberale auch so wichtig, daß keine Behörde der Bundesrepublik Vorteile daraus ziehen darf, daß die Zugehörigkeit Berlins zum Bund rechtlichen Sonderregelungen unterliegt, die wir nicht ändern können und auch nicht wollen. Wer die Solidarität mit Berlin verspricht, darf z. B. die Reisenden nach Berlin nicht als Reisende ins Ausland behandeln. Er darf keine andersgearteten Paßkontrollen im Verkehr nach Berlin einführen als bei der Reise nach Hamburg, auch wenn die Sicherheitsbehörden mehr Kontrolle mit mehr Sicherheit verwechseln.

(Sellin [GRÜNE]: Das fällt auch auf die Alliierten zurück!)

— Herr Kollege Sellin, ich meine die Kontrollen, die wir selbst verantworten und einführen können: vom Bundesgebiet nach Berlin. Diese Kontrollen wenigstens können wir der Praxis anpassen, wie sie zwischen Bonn und Hamburg oder Bonn und München besteht.

(Sellin [GRÜNE]: Und von Berlin nach Bonn?)

Man sollte auch bei jedem außenpolitischen Schritt eines Vertreters einer Landesregierung darauf bedacht sein, daß die Betreuung von Reisenden und die Gestaltung des Programms durch die zuständigen Stellen der Bundesrepublik Deutschland so erfolgen, daß Art. 32 des Grundgesetzes so strikt angewendet wird, daß auch Berlin in die Lage versetzt wird, im Ausland keine Sonderrolle spielen zu müssen.
Weil wir wissen und erwarten, daß die Zukunft eine stärkere Aufgabe und Funktion für die Europäische Gemeinschaft bringt, ist die Zugehörigkeit Berlins zur EG für uns von zentraler Bedeutung. Berlin ist in die Europäische Gemeinschaft eingebunden. Das gibt der Stadt, das gibt auch uns eine Chance der Entwicklung und der Möglichkeiten für Berlin.
Auf der Grundlage des Viermächteabkommens über Berlin, eingebunden in das gute Verhältnis zu den Schutzmächten, auf Grund der Bindungen Berlins an den Bund und wegen der Einbeziehung Berlins in die Europäische Gemeinschaft hat die Stadt alle Chancen zu einer guten Entwicklung, zu einer international bedeutsamen Industrie-, Kongreß- und Kulturmetropole zu werden. Wir sehen, daß der Senat von Berlin — das sage ich auch als einer, der früher Verantwortung getragen hat — auf diesem Weg gute Fortschritte gemacht hat, daß das Echo Berlins im Ausland besser geworden ist und daß die Stimmung in der Stadt gut ist. Die Stadt auf diesem Weg zu unterstützen bleibt Aufgabe des Bundestages.
Dem soll die Resolution dienen. Mit der Zustimmung zum Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir der Stadt unsere Solidarität auf diesem Weg.
Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105904300
Das Wort hat der Regierende Bürgermeister von Berlin.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1105904400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit ungefähr einem Jahr ist die Berlin-Politik in Bewegung gekommen. Jedenfalls ist seit dem Abschluß des Viermächteabkommens nicht mehr so konstruktiv über Rang, Aufgabe und Perspektiven Berlins diskutiert worden wie zur Zeit. Dabei sind Konturen einer aktiveren Rolle der Stadt im West-West- und im WestOst-Dialog deutlich geworden.
Gerade bei dieser Debatte und den Anträgen, die vorliegen, zeigen sich Gemeinsamkeiten über Fraktionsgrenzen hinweg. Dabei muß ich ausdrücklich das ausklammern, was von seiten des Abgeordneten Sellin vorgetragen worden ist. Wenn Sie, Herr Sellin, nicht in dem Verdacht stünden, dies vor allen Dingen ideologisch begründet vorzutragen, würde ich Ihnen ein Privatissimum über die tatsächliche, wirtschaftliche, rechtliche und politische Situation anbieten. Aber ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Die Gemeinsamkeiten, die es über Fraktionsgrenzen hinweg gibt, sind allerdings zu begrüßen.
Der SPD-Antrag greift beispielsweise Ziele und Anliegen auch des Senats und der Bundesregierung auf. Die meisten Vorschläge sind bereits umgesetzt oder
4110 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988
Regierender Bürgermeister Diepgen (Berlin)

aber in Arbeit. Das geht vom Stromverbund über die Bemühungen um eine moderne Eisenbahnverbindung von Hannover nach Berlin, die Forderung nach mehr internationalen Konferenzen — insbesondere KSZE-Folgekonferenzen — in Berlin bis hin zu unserem Verhältnis zu den Schutzmächten.
Aber es gibt auch grundlegende Unterschiede in den Positionen, die ich nicht verschweigen möchte. So kann sich z. B. der Aufruf im Antrag der SPD-Fraktion zu einer wirklichen Versöhnung mit dem Umland nicht an uns, d. h. den Westen, richten, sondern doch wohl nur an diejenigen, die mit Mauer und Schußwaffe unfriedliche Grenzen errichtet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich vermisse auch das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen oder zur Einheit der Nation, wie es beispielsweise der Kollege Schmude in seinem Beitrag in der Debatte zur Lage der Nation abgegeben hat.
Aber diese und andere Bedenken gegen Hintergründe, gegen Grundlagen des SPD-Antrages will ich ausdrücklich zurückstellen und hervorheben: Ich begrüße, daß sich mit diesem Antrag der SPD Möglichkeiten zu Gemeinsamkeiten — jedenfalls zu mehr Gemeinsamkeiten — eröffnen, die in der Berlin- und darüber hinaus in der Deutschlandpolitik im ganzen von großer Bedeutung sind. Diese Gemeinsamkeiten erstrecken sich vor allem auf praktische Maßnahmen und Vorhaben zum Wohle Berlins und der Deutschen in beiden Staaten. Und diese praktischen Maßnahmen verändern die innerdeutsche Wirklichkeit auch eher als manche Theoriedebatte. Es darf bei der Erörterung einer Berlin- und Deutschlandpolitik der 90er Jahre nach meiner festen Überzeugung zwischen den Parteien, aber vor allem zwischen Ost und West eben nicht darum gehen, nur das Bestehende zu wahren, sondern es muß darum gehen — und dabei nehme ich Formulierungen auf, die hier bereits gefallen sind —, gegebene oder neue Handlungsmöglichkeiten nüchtern, illusionslos, aber auch entschlossen zu nutzen.
Eine Berlin-Strategie in diesem Sinne muß folgende Elemente, die ich hier stichwortartig vortragen möchte, enthalten:
Erstens. Berlin muß in alle Fortschritte der Ost-West-Beziehungen und insbesondere der innerdeutschen Beziehungen voll einbezogen werden. Das ist die Kanzler-Maxime, von Helmut Kohl beim Besuch des Generalsekretärs Honecker hier in Bonn und auch vom Kollegen Schäuble soeben besonders deutlich hervorgehoben. Das ist auch — neben den wichtigen Einzelfragen des Luftverkehrs — der Kernpunkt der Berlin-Initiative des Westens. Unbeschadet des Status von Berlin sind Verbesserungen der Lage in und um die Stadt möglich. Der Kern dieses Status muß dabei von allen Beteiligten sozusagen als ruhender Pol akzeptiert werden. Das ist nicht mit einer „Käseglocke" zu verwechseln, die man über Entwicklungen in und um Berlin stülpen möchte. Gerade dieser Status der Stadt steht Entwicklungen nicht im Wege, ganz im Gegenteil: Wer Berlin als Hemmnis für eine fruchtbare Entwicklung der West-Ost-Beziehungen heute noch immer mißversteht, der dient den Ost-West-Beziehungen insgesamt nicht. Eine Strategie für Berlin muß sich vielmehr darum bemühen, solche Hemmnisse abzubauen. Berlin muß materiell so anziehungskräftig sein, daß jede Nichtteilnahme oder Boykottstrategie für den Osten eher Nachteile als Vorteile bringt. Der Weg an Berlin vorbei muß politisch teurer sein als der Weg nach Berlin oder über Berlin.
Zur Erreichung dieses Ziels bedarf es — bei strikter Einhaltung, voller Anwendung und vor allen Dingen auch Ausschöpfung der Möglichkeiten des Viermächteabkommens — besonderer Anstrengungen in Berlin. Aber es bedarf genauso der solidarischen Anstrengung des Westens. Die Westbindung und ihre Entwicklung, ihre Entwicklungsmöglichkeit, so wie sie im Viermächteabkommen auch ausdrücklich genannt ist, schafft die Grundlagen und die Handlungsfähigkeit nach Osten. Vor dem Hintergrund der Zurufe in dem kleinen Frage- und Antwortspiel will ich hier ausdrücklich betonen: Hinsichtlich dieser Punkte, nämlich Entwicklung der Bindung nach Westen bei gleichzeitiger Entwicklung der Handlungsmöglichkeiten nach Osten, auch für den Berliner Senat, gibt es eine abgestimmte Politik, eine abgestimmte Politik mit den Schutzmächten und der Bundesregierung — damit es hier keinen Zweifel über diese Tatsache gibt.
Zweitens. Eine wichtige Voraussetzung für weitere Attraktivität von Berlin ist die langfristige Berechenbarkeit der Berlinförderung.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das müssen Sie der Bundesregierung sagen!)

Das braucht der Arbeitnehmer in der Stadt, das braucht die Wirtschaft. Berlinförderung ist dabei keine Subvention im üblichen Sinne. Sie ist vielmehr ein Ausgleich politisch begründeter Standortnachteile, ein Ausgleich der Folgen des Zweiten Weltkrieges, die die Stadt nach wie vor belasten.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Und deswegen wird sie gestrichen?!)

Mir erscheint es auch heute richtig, nochmals — wie auch in meinem letzten Beitrag hier im Bundestag — auf das 3. Überleitungsgesetz hinzuweisen. Die Bundesrepublik Deutschland als Ganze hat eine Rechtspflicht gegenüber der Stadt übernommen.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Sie gucken in die falsche Richtung, Herr Diepgen, Sie müssen mehr nach rechts gucken!)


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1105904500
Bei allen Finanzierungslasten wird Berlin relativ geringer beteiligt sein als andere Regionen.

(Jahn [Marburg] [SPD]: Was ist „relativ"?) Diese Bemerkung veranlaßt mich zu Optimismus.

Drittens. Aus dem Viermächteabkommen, der Teilung der Stadt, der politisch-geographischen Situation ergeben sich für Berlin besondere Verpflichtungen. In dem Ballungsgebiet Groß-Berlin gibt es Aufgaben,



Regierender Bürgermeister Diepgen (Berlin)

die nur miteinander, d. h. über die Demarkationslinien hinweg, gelöst werden können. Dazu zählen z. B. der Umweltschutz, aber auch die Ver- und Entsorgung sowie die Verbindungswege auf der Straße, der Schiene, zu Wasser und in der Luft. Die Verantwortlichen in Ost und West tragen für das Ballungsgebiet Groß-Berlin dabei eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft der Menschen, und dieser gemeinsamen Verantwortung kann man sich auch unter Wahrung unterschiedlicher Rechtspositionen gemeinsam stellen. Wo sich ein Dissens nicht ausräumen läßt, können und müssen beide Seiten mit ihm zu leben lernen. Der Senat tritt jedenfalls für eine umfassende Zusammenarbeit ein, die den Menschen auf beiden Seiten nützt, und ich sage, eine solche Zusammenarbeit schadet niemandem.
Viertens. Berlin ist ein Symbol der Freiheit. Die daraus erwachsenden Aufgaben für Berlin selbst und für den Westen sind deutlich. Die Freiheit des westlichen Teils von Berlin im Sinne einer Abwehr zu sichern, das ist auch in Zukunft unverzichtbare Aufgabe für den ganzen Westen. Freiheit ist aber nicht nur ein Abwehrrecht, sondern in erster Linie ein Gestaltungsauftrag. In dieser Idee, in dieser Grundposition gibt es vielleicht einige Überlegungen, die hier auch von Herrn Sellin vorgetragen worden sind, nämlich die innere Gestaltung der Stadt in der Attraktivität in den Vordergrund zu stellen. Freiheit gibt es nicht nur von etwas, sondern vor allem für etwas, und je gesicherter der Frieden ist, desto wichtiger ist es auch für unsere Überzeugungskraft nach West und Ost, daß wir von unserer Freiheit verantwortungsvoll Gebrauch machen. Die Überzeugungskraft unserer freiheitlichen und sozialen Demokratie nach innen, aber auch nach Osten werden wir nur erhalten, wenn wir — wiederum durch praktische Arbeit — zeigen, wie wir mit dem Umweltschutz, mit dem Strukturwandel, mit der Beherrschung des technischen Fortschritts und auch im menschlichen Miteinander umgehen.

(Frau Olms [GRÜNE]: Was ist mit Kreuzberg?)

Fünftens: Das Ziel der Deutschland- und BerlinPolitik für die nächsten Jahre muß und kann angesichts der globalen Bedingungen für jede Politik in Deutschland nur lauten: Wir wollen, daß die Einheit der Nation trotz der staatlichen Teilung für immer mehr Deutsche erlebbar wird. Es ist einer der Erfolge, eines der Ergebnisse der Deutschlandpolitik von Helmut Kohl, daß genau dies durch die vielfältigen Reise-und Besuchsmöglichkeiten, die in der letzten Zeit entstanden sind, die geschaffen worden sind, doch ein Teil deutscher Wirklichkeit geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Methoden zur Verfolgung dieses Ziels sind neben den Anstrengungen im Bereich des Reise- und Besucherverkehrs eine Zusammenarbeit der beiden Staaten in Deutschland, eine Veränderung der trennenden Wirklichkeiten, das gemeinsame Herangehen an gemeinsame Aufgaben und vor allem die Vernetzung der Infrastrukturen, und das erfordert von uns vielleicht noch mehr Bereitschaft zur Öffnung. Ich bin der festen Überzeugung: Bei einer Öffnung von uns aus, der Nutzung aller Chancen für Gemeinsamkeiten können wir nichts verlieren; denn unsere staatliche,
gesellschaftliche Ordnung ist leistungsfähiger, flexibler, zukunftsträchtiger, zukunftsfähiger als jedes einzelne sozialistische oder kommunistische Regime, das sich auf überholte Lehrsätze aus dem vergangenen Jahrhundert stützt. Jede gemeinsam errichtete Rauchgasentschwefelungsanlage, jeder Waren- und Dienstleistungsaustausch, jeder West-Ost-Verkehrsweg ist gewissermaßen eine vertrauensbildende und trennungsmindernde Maßnahme.

(Dr. Knabe [GRÜNE]: Richtig!)

Von besonderer Bedeutung ist dabei das, was im vorigen Jahr erreicht werden konnte und hier bereits genannt wurde: der Stromverbund, für Berlin auch das Glasfaserkabel. Die wichtigen Fragen der Eisenbahnverbindung sind hier schon erwähnt worden. Gerade am Bereich der Eisenbahnverbindung hebe ich hervor: Wir würden die Teilung Deutschlands und Europas vertiefen und ein Stück Zukunft verbauen, wenn wir die verkehrlichen Infrastrukturen in WestOst-Richtung vernachlässigen würden. Das ist nur ein Beispiel, das ich hier im Sinn von Infrastrukturen und deren Vernetzung in diesem geteilten Kontinent, in diesem geteilten Land, nenne.
Dabei geht es um den Rang der Deutschland-Politik. Es geht dabei um Prioritäten auch in Zeiten knapper Kassen.
Meine Position dazu ist: Die Deutschland- und Berlin-Politik ist nicht irgendein Politikfeld unter vielen, sondern ihr gebührt eine hohe Priorität, und dies ebenso wie etwa die Eisenbahnverbindung nicht nur wegen Berlin, sondern wegen der Zukunftsfähigkeit der geteilten Nation und der Entwicklungsmöglichkeiten insgesamt in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sechstens. Diesen Weg der Zusammenarbeit und der Vernetzung von Infrastrukturen gehen, heißt nicht, die Systemunterschiede verschleiern oder „verkleistern". Der Unterschied zwischen einer freiheitlichen Demokratie und dem System des sogenannten realen Sozialismus ist in den letzten Wochen und Tagen wieder einmal deutlich geworden. Es gibt immer wieder Rückschläge.
Wir müssen der DDR immer wieder sagen: Wir halten es nicht für eine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, wenn die DDR unsere Gesellschaft in einigen Punkten hart kritisiert, wie sie es gerade in den letzten Wochen getan hat. Umgekehrt ist es aber eben auch keine Einmischung, wenn wir von uns aus die DDR an ihre Verpflichtungen beispielsweise aus der KSZE-Schlußakte erinnern.

(Lummer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Es war Generalsekretär Honecker selber, der noch im Oktober 1987 erklärt hat — ich zitiere — :
Wir erachten die Mannigfaltigkeit der Meinungen und Ideen, eine rege geistige Kommunikation sowohl in unseren Reihen als auch mit Andersdenkenden als lebensnotwendig, weil nur so alle Potenzen unseres Volkes freigesetzt und erschlossen werden können.

(Lummer [CDU/CSU]: Schön!)




Regierender Bürgermeister Diepgen
Die Menschen in Ost-Berlin und der DDR erinnern die DDR-Führung an diese Worte.

(Lummer [CDU/CSU]: Gute Worte!)

Stellungnahmen bei uns über die Verhältnisse in der DDR müssen mit Blick darauf abgegeben werden, was den Menschen in Ost-Berlin und in der DDR wirklich hilft.
Schließen möchte ich mit einem Satz aus dem Antrag der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und der FDP: „Berlin als Ganzes führt das geteilte Deutschland und das geteilte Europa zusammen. " Sich dieser Aufgabe auch durch praktische Politik zu stellen und sie Stück für Stück umzusetzen, soll und kann von Berlin aus gemeinsam mit der Bundesregierung und dem ganzen Westen eine gemeinsame Aufgabe sein, eine Aufgabe, die Hoffnung und Perspektiven schafft, Hoffnung und Perspektiven weit über Berlin hinaus.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105904600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mitzscherling.

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1105904700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Berlin ist heute politisch sicherer und wirtschaftlich stärker als vor 1970 — das wollen wir gern bestätigen —; aber nicht erst seit 1981. Das Viermächteabkommen über Berlin, die Verflechtung der Stadt mit der Europäischen Gemeinschaft und die finanzielle und wirtschaftliche Hilfe und Förderung des Bundes haben entscheidenden Anteil daran.
Doch trotz aller Fortschritte hat Berlin große Probleme. 100 000 Berliner, Herr Schäuble, sind arbeitslos. Die Wirtschaft der Stadt ist beträchtlichen Strukturveränderungen ausgesetzt. Deshalb ist Berlin auf kontinuierliche Förderung angewiesen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat ihre Position zur Berlin-Förderung in der Debatte über den Bericht zur Lage der Nation deutlich gemacht. Wir sind dafür, ebenso wie der Regierende Bürgermeister, daß diese Förderungsmaßnahmen nicht als schlichte Subventionen betrachtet werden. Sie sind für uns vielmehr ein notwendiger Ausgleich für Nachteile, die sich aus der besonderen Lage der Stadt ergeben, und diese Belastungen bestehen für die Bürger Berlins und für die Wirtschaft der Stadt weiter, vor allem in Zeiten unsicherer wirtschaftlicher Erwartungen und einer schwachen Konjunktur.
Selbstverständlich sind auch wir dafür, die Berlin-Förderung darauf zu überprüfen, ob sie wirkt, wie vom Gesetzgeber gewollt. Wir sperren uns nicht gegen eine Novellierung des Berlin-Förderungsgesetzes, aber wir wollen erst dann eine Korrektur des Gesetzes, Herr Sellin, und eine Umverteilung des Fördervolumens, wenn uns mit den Ergebnissen der Überprüfung neue Entscheidungskriterien zur Verfügung stehen.
Deshalb halten wir auch nichts von Ihrem vorliegenden Antrag. Er mag durchaus den einen oder anderen richtigen Ansatz enthalten, aber vieles daran ist in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen nicht durchdacht. Würden Ihre Vorstellungen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, realisiert, dann käme es zu Arbeitsplatzverlusten, ohne daß an anderer Stelle zu gleicher Zeit neue Arbeitsplätze entstünden. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst daran, daß der Bundesfinanzminister die von Ihnen avisierten 3 Milliarden DM ersparter Mittel für einen zusätzlichen Fonds zur Verfügung stellen würde!

(Sellin [GRÜNE]: Das müßte unsere Forderung sein!)

Herr Stoltenberg braucht doch jeden Pfennig, um seine als Jahrhundertwerk gefeierte Steuerreform zu finanzieren. Deswegen geht er auch ganz ungeniert und ohne Rücksicht auf die konjunkturellen Bedürfnisse und die schwache Investitionstätigkeit an das Investitionszulagengesetz und die Berlin-Förderung heran. Da wird nicht gekürzt, um bessere Wirkungen zu erreichen, sondern weil Finanzierungslücken geschlossen werden müssen. Was sich die Bundesregierung hier leistet, ist schlichtweg skandalös. Es grenzt schon an Unverfrorenheit, wenn Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, der Regierung noch bescheinigen wollen, sie übe beständige und verläßliche Solidarität mit Berlin.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105904800
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1105904900
Ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen.
Die Bundesregierung widerspricht mit dieser Politik geradezu dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich, daß Kontinuität und Verläßlichkeit Voraussetzungen dafür sind, daß Berlin als Ort für wirtschaftliches Engagement attraktiv bleibt. Reden Sie doch mit Unternehmern, reden Sie mit der Industrie- und Handelskammer, reden Sie mit dem Berliner Handwerk: Diese Attraktivität wird nach den von Ihnen geplanten Maßnahmen in Frage gestellt. Diese geplanten Kürzungen schädigen Berlin, gefährden Arbeitsplätze und verstoßen eklatant gegen Grundsätze, die Sie sonst stets preisen, nämlich den Investoren Vertrauensschutz zu gewähren.
Auch über den ökonomischen Ansatz dieses Werkes, dieses Machwerkes, kann man sich nur wundern. Dreiviertel der geplanten Kürzungen gehen voll zu Lasten der Investitionstätigkeit. Sie gehen auch zu Lasten der kleinen und mittleren Betriebe, und dies alles in einer Zeit, in der die Investitionstätigkeit lahmt und im Interesse der Bekämpfung einer überhohen Arbeitslosigkeit eher der Stütze des Staates bedarf.
Entschuldigen Sie bitte, Herr Sellin.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105905000
Sie sind jetzt bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen. — Bitte schön, Herr Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1105905100
Danke schön, daß ich die Zwischenfrage stellen darf.
Herr Mitzscherling, wie stehen Sie zu einer Effizienzprüfung? Das neue Gutachten des DIW wird unter anderem folgendes aussagen: „Pro Erwerbstätigen



Sellin
ist von 1970 his 1975 der Förderaufwand für unternehmensbezogene Subventionen um 43 % gestiegen, von 1975 bis 1980 um 45 %, von 1980 bis 1985 um 55 %. Durchschnittlich wird pro Erwerbstätigen in Berlin 20 000 DM im verarbeitenden Gewerbe aufgewandt. In einigen Branchen stellt sich das so dar, daß die Subventionen höher sind als die Lohnkosten." Ist das effizient?

Dr. Peter Mitzscherling (SPD):
Rede ID: ID1105905200
Herr Sellin, ich verfüge nicht wie Sie über die Erkenntnisse aus dem Gutachten. Wir hatten gestern ein Gespräch mit dem Berlin Finanzsenator Rexrodt. Er konnte uns aus dem Gutachten nichts mitteilen. Wenn sich aus dem Gutachten Erkenntnisse ergeben — das habe ich auch gesagt —, die eine Novellierung in bestimmten Bereichen sinnvoll erscheinen lassen, dann wird diese Novellierung durchzuführen sein. Aber sie muß angesichts der gegenwärtigen Situation von einer Aufstockung oder einer Umverteilung des Förderungsvolumens an anderer Stelle begleitet sein. Denn in jedem Fall fällt gesamtwirtschaftliche Nachfrage aus. Und darüber wird zu diskutieren sein, wenn wir uns mit dem Gutachten zu beschäftigen haben.
Es mag ja sein, daß die Bundesregierung das alles nicht sonderlich interessiert, was in Berlin der Deutsche Gewerkschaftsbund, was die SPD, was der Berliner Senat selbst zu Ihrer Art von Berlinförderung sagen. Aber ich empfehle Ihnen — ich habe es Ihnen schon empfohlen — , sich einmal mit den Repräsentanten der Berliner Wirtschaft, auch mit den gutachtenden Wissenschaftlern zu unterhalten.
Wir, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, werden Ihren Weg nicht mitgehen. Wir werden auf die Widersprüche zwischen Ihren Worten und Ihrem Handeln verweisen, und wir werden durch unsere eigenen Vorstellungen versuchen, Schaden von Berlin abwenden zu helfen, den Sie anrichten und den Sie bereits heute angerichtet haben. Es ist ein Jammer, daß wir eine Politik der Schadensbegrenzung betreiben müssen, während es doch sinnvoll wäre, unsere ganze Kraft darauf zu konzentrieren, wie wir Berlins wirtschaftliche Perspektiven durch eine phantasievolle und gleichzeitig realistische Politik verbessern können.
Wir haben alle seit Abschluß des Viermächteabkommens erfahren, daß Verträge allein weder genügen, um die rechtlichen, die wirtschaftlichen und die finanziellen Bindungen von Berlin (West) in größerem Rahmen weiterzuentwickeln, noch um der Stadt neue Funktionen im Beziehungsgeflecht zur DDR und den übrigen RGW-Staaten zu übertragen. Entscheidend hierfür war und ist noch immer, daß alle Vertragspartner ein Interesse an einer solchen Entwicklung haben.
Übereinstimmendes Interesse an einer Zusammenarbeit mit den östlichen Partnern gab es in manchen Bereichen, die wir zu Anfang der 70er Jahre als entwicklungsfähig erkannt hatten, z. B. in der Energieversorgung — darauf wurde schon hingewiesen —, im Verkehr, zum Teil auch im Tourismus. Dieses gemeinsame Interesse hat zu Verhandlungen geführt, hat positive Ergebnisse gehabt. Wir haben eine Autobahn von Berlin nach Hamburg bekommen.

(Sellin [GRÜNE]: Keine Eisenbahn!)

Die bestehenden Straßenverbindungen sind ausgebaut worden. Der Teltowkanal ist vom Westen her geöffnet worden. Wir haben einen Stromverbund zwischen West und Ost unter Einschluß Berlins, und wir beziehen sowjetisches Erdgas. In anderen Bereichen wird weiter verhandelt, z. B. in der Verbesserung des Eisenbahn- und des Flugverkehrs, auch im Umweltschutz, im Strahlenschutz, auch in einer stärkeren Nutzung der touristischen Möglichkeiten für die Bürger der Stadt. Aber vieles ist unerreicht geblieben. Vielleicht waren unsere Erwartungen auch zu hoch. Eine Drehscheibe des Ost-West-Handels ist Berlin nicht geworden.
Dennoch glaube ich, daß wir nicht müde werden sollten, immer wieder auf die potentiellen Vorteile hinzuweisen, die der Wirtschaftsstandort Berlin allen bietet. Auf die solidarische Bereitschaft des Westens konnten wir immer setzen. Wir tun es auch weiterhin. Doch auch am östlichen Horizont werden Silberstreifen sichtbar. Vieles ist in Bewegung geraten nicht nur Polen, Ungarn, Bulgarien und die Tschechoslowakei versuchen ihre planwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssyssteme weit stärker als bisher den Impulsen des Weltmarktes auszusetzen. Auch die UdSSR hat den Markt entdeckt, will ihr Wirtschaftssystem reformieren und flexibler gestalten, wünscht mehr Zusammenarbeit mit dem Westen.
Entspannung durch Abrüstung und mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ost und \\Vest können und dürfen nicht an Berlin (West) vorbeigehen. Zunehmend zeigt sich offenbar auch unseren östlichen Nachbarn, daß Berlin (West) Vorteile aufweist, die man nutzen kann. Wenn sich hohe sowjetische Außenhandelsfunktionäre, wie das in den letzten Tagen passiert ist, unter dem Hinweis auf das Viermächteabkommen und die dort geregelte Einbeziehung von Berlin (West) in die zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion geltenden Abkommen für mehr Zusammenarbeit mit der Stadt aussprechen, so verdient das Beachtung, verdient Prüfung und gegebenenfalls Konsequenzen, natürlich in enger Zusammenarbeit mit unseren Alliierten und mit der Bundesregierung. Dies gilt vor allem dann, wenn sich Perspektiven für eine Kooperation ergeben, die jenseits des reinen Warenaustausches liegt, wenn auch dessen Entwicklungsmöglichkeiten keinesfalls ausgeschöpft sind.
Aber man sollte die Hemmnisse, die diesen Warenaustausch belasten, durchaus sehen. Das sind auf östlicher Seite zunächst einmal die eingeschränkten Liefermöglichkeiten und die eingeschränkten Absatzchancen auf westlichen Märkten. An Berlin werden vorwiegend Agrarprodukte, Rohstoffe, Brennstoffe und andere transportintensive Produkte verkauft, von der DDR, von UdSSR, von anderen RGW-Ländern. Diese Produkte sind billiger geworden. Damit herrscht Devisenmangel, der trotz großen Bedarfs dieser Länder die Einkaufsmöglichkeiten bei uns begrenzt.
4114 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988
Dr. Mitzscherling
Der den Güteraustausch mit Berlin bisher eher belastende Wunsch der östlichen Partner nach bilateralem Ausgleich der Handelsbilanzen sollte dagegen an Bedeutung verlieren, je stärker Berlin als der westdeutschen Wirtschaft zugehörig begriffen wird; denn die Berliner Deutsche Mark unterscheidet sich nun mal nicht von der D-Mark der Bundesrepublik, und die in Berlin (West) verdienten Mark sind durchaus für Käufe von westdeutschen Erzeugnissen einzusetzen; das hat man wohl inzwischen auch gelernt.
Andererseits ist auch die West-Berliner Wirtschaft nicht sonderlich im Warenaustausch mit den Staatshandelsländern engagiert. Das kann man wirklich nicht sagen. Das lag in der Vergangenheit sicher auch daran, daß das Ostgeschäft kompliziert war und unter einer übermäßigen Planbürokratie litt und z. B. auch eine ständige Präsenz auf den Ost-Messen erfordert hat. Deshalb haben stets die Großen diesen Handel bestimmt. In Berlin herrschen kleine und mittlere Betriebe vor, die sich zurückgehalten haben, solange sie ihre Produkte auf vertrauten westlichen Märkten absetzen konnten. Hier ändert sich einiges, und es tut sich auch einiges in der Stadt selbst. Es könnte noch mehr sein.
Wir begrüßen es ausdrücklich, daß die Berliner Absatzorganisation und auch die Industrie- und Handelskammer sich intensiver um die Beratung dieser Betriebe kümmern, daß sie neuerdings auch verstärkt an Unternehmen herantreten, um sie zum Handel mit der DDR und anderen RGW-Ländern zu ermuntern. Das ist ein guter, wenn auch ein schwieriger Weg; denn die gegenwärtige Berliner Erzeugnispalette entspricht eben nur bedingt dem Bedarf der RGW-Länder. Deswegen muß auch nach anderen Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gesucht werden.
Die Bildung von joint ventures, von Gemeinschaftsunternehmen, wird von der Sowjetunion und anderen RGW-Ländern mit Ausnahme der DDR als eine neue Form der Unternehmenskooperation nunmehr begrüßt, sie wird gewünscht. Die Vorteile für die östlichen Partner liegen auf der Hand: leichterer Anschluß an moderne Technologien, Übernahme von modernem Know-how und Management-Wissen, leichtere Planbarkeit, Zugang zum Vertriebsnetz des Partners und Entlastung der Devisenbilanz. Auch der westliche Partner profitiert durch Erleichterungen bei Marktzugang, Spezialisierung und Rohstoffbeschaffung. Angesichts der Struktur der Berliner Wirtschaft sehe ich allerdings die Möglichkeiten hier eher begrenzt.
Ganz anders hingegen bietet sich Berlin (West) in verschiedenen Dienstleistungsbereichen als Partner an. Sein wissenschaftlich-technisches Potential, seine Hochschulen, seine Forschungs- und Bildungseinrichtungen, seine vielen Consultingfirmen und Beratungsgesellschaften und sein weltoffenes Kongreß-und Ausstellungswesen sind zweifellos attraktive Partner für alle Volkswirtschaften, die nach wissenschaftlich-technischer Kooperation auf hohem Standard drängen, die Wege zu einer rascheren Umsetzung moderner Technologien in die Produktion suchen, die Marketing, Service, Produktgestaltung und Preisbildung auf westlichen Märkten studieren wollen und hinsichtlich ihrer Reformen auch müssen. Hier vor allem liegt das Angebot von Berlin (West). Hier liegt seine große Stärke, die sich als ein geopolitischer Vorteil herausstellen sollte.
Der EG und ihrem wachsenden Binnenmarkt zugehörig, ist Berlin von der DDR umgeben und den anderen RGW-Ländern nahe. Polen ist 90 km, die CSSR 220 km, die Sowjetunion 600 km entfernt, eine Distanz, die etwa der zwischen Berlin und Köln entspricht. Wirtschaftskontakte über und mit Berlin zu pflegen, die vielfältigen Leistungsangebote für eine marktnähere Entwicklung der eigenen Volkswirtschaften zu nutzen, auch betriebliches Fachpersonal einer unerläßlichen Schulung, Fortbildung und dem Studium moderner betriebswirtschaftlicher und technischer Verfahren und Methoden zuzuführen, dies ist den RGW-Ländern in Berlin einfach, schnell, zumeist auch visafrei und zu geringen Kosten möglich.
Berlin (West) könnte also für die RGW-Länder zum Modell eines westlichen offenen Marktes werden, räumlich klar abgegrenzt, von zwei Millionen Menschen mit westlichen Kaufgewohnheiten bewohnt. Wo sonst findet sich ein ähnliches Testinstitut für Qualität und Produktgestaltung, für Kundendienst und Preisfixierung,

(Zustimmung des Abg. Heimann [SPD])

für Werbung und Marketing bei harter Konkurrenz auf dem Weltmarkt? Diese potentiellen Entwicklungschancen müssen genutzt werden, und dies erfordert die volle Aufmerksamkeit und die Unterstützung der Bundesregierung und des Berliner Senats.
Leider muß man in letzter Zeit den Eindruck gewinnen — ich habe schon darauf hingewiesen — , daß in den Bonner Amtsstuben Berliner Anliegen nicht mehr sonderlich gut aufgehoben sind. Die Kürzung der Berlin-Förderung ist dabei nur das allerjüngste Beispiel; wir haben hier schon über andere diskutiert. Sieht denn die Bundesregierung nicht, daß Berlin nach wie vor gewaltige Strukturprobleme hat? Ich sprach von 100 000 Berliner Arbeitslosen. Wenn die Konjunktur sich weiter abschwächen sollte, wenn die Berliner Probleme wieder ganz deutlich zutage treten, wenn sich der Binnenmarkt mit all seinen Vorzügen entfaltet, dann werden auch Nachteile sichtbar. Eine weitergehende Liberalisierung wird dazu führen, daß bestimmte Berliner Branchen im Übermaß betroffen werden; ich nenne nur die elektrotechnische Industrie.
Dieser Strukturwandel ist, wenn neue Arbeitsplätze entstehen sollen, nur mit Investoren zu erreichen, die Vertrauen in die Kontinuität und in die Berechenbarkeit der Politik haben können. Ich stimme dem Regierenden Bürgermeister an dieser Stelle ausdrücklich zu. Die Politik der Bundesregierung stärkt nicht dieses Vertrauen, sondern schwächt es im Moment und mindert damit die Attraktivität der Stadt.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: PapperlaPapp!)

Berlin kann seinen geopolitischen Vorteil nur einsetzen, wenn es wirtschaftlich stark ist. Nur dann kann die Stadt in der Weiterentwicklung der Entspannungspolitik eine wichtige Rolle spielen, nur dann kann Berlin (West) zur Stätte der Kontakte zwischen Ost und West und der Erörterung aller Wirtschaftsfra-



Dr. Mitzscherling
gen von gemeinsamem Interesse werden, und nur dann, wenn alle es wollen, kann die Stadt als Ausstellungsfenster des Westens und des Ostens zugleich als Modell eines westlichen und weitgehend liberalisierten Marktes auf allseitiges Interesse hoffen. Die Berliner wären froh, wenn es dazu käme. Ihre Arbeitsplätze wären sicherer. Ob es dazu kommt, hängt entscheidend von der Bundesregierung ab. Ihre gegenwärtige Politik gibt zu Zweifeln Anlaß.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105905300
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1105905400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüngsten Unruhen in Ost-Berlin haben einen wesentlichen Aspekt unserer Deutschland- und Berlin-Politik wieder ins Rampenlicht gerückt. Ich meine den Aspekt der Menschenrechte. Die CDU/CSU hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Wahrung der Menschenrechte durch die DDR die wesentliche Voraussetzung für bessere Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands ist. Die Ereignisse in Ost-Berlin haben uns wieder einmal vor Augen geführt, daß hüben und drüben noch immer sehr unterschiedliche Auffassungen von Meinungsfreiheit bestehen.
An unsere Diskussionen in der Aktuellen Stunde von Mittwoch erinnernd, möchte ich hier feststellen, daß diesen Ereignissen in Ost-Berlin durchaus Symbolcharakter zukommt. Zunehmend werden immer mehr junge Menschen nicht bereit sein, sich von den Fesseln des Systems einengen zu lassen. Die Menschen sehen nicht mehr ein, daß sie für die Wahrnehmung ihrer verbrieften Rechte bestraft werden.
Für viele drüben ist die Schmerzgrenze tolerierbarer Unterdrückung erreicht. Es ist an die DDR zu appellieren, daß sie verpflichtet ist, diesen Menschen eine andere Perspektive als das Gefängnis zu eröffnen, dies vor allen Dingen auch im eigenen Interesse der DDR.
Die Ereignisse in Ost-Berlin zeigen uns, daß wir in der von uns betriebenen Politik menschlicher Erleichterungen fortfahren müssen. Das ist es auch, was die Deutschen in der DDR von uns erwarten und woran sie ihre Hoffnungen knüpfen. Wir müssen ausgehend von einer Politik zur Linderung der Teilungsfolgen, eine Politik fortsetzen, die die Einheit der Nation, also die Zusammengehörigkeit der Deutschen, stärkt. Eine solche Politik, die im Zeichen der nationalen Einheit steht, ist kein utopisches Ziel, sondern sie ist unsere tägliche Aufgabe.
Meine Damen und Herren, Berlin hat ein großartiges Jahr hinter sich. Die 750-Jahr-Feier hat die Blicke der Welt auf die geteilte Stadt gerichtet. Sie mußte sich bewähren, und sie hat sich im Blick der nationalen und internationalen Kritik bewährt und hat Hervorragendes geleistet. Dem Berliner Senat, aber vor allen Dingen Ihnen, Herr Regierender Bürgermeister, gehört dafür der hohe Respekt und ein herzliches Dankeschön der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die CDU/CSU dankt insbesondere unseren westlichen Schutzmächten, die Berlin im Rahmen der 750Jahr-Feier wieder stärker ins internationale Rampenlicht und das Bewußtsein ihrer Bevölkerung rückten. Von ganz hervorragender Bedeutung, die wir gar nicht genug hervorheben können, ist die Berlin-Initiative unserer Schutzmächte. Sie wurde mit der international ausdrücklich geachteten Rede Präsident Reagans vor dem Brandenburger Tor

(Beifall bei den GRÜNEN)

die wichtigste alliierte Initiative seit dem Zustandekommen des Viermächteabkommens. Hier wurde die Vision des Luftkreuzes Berlin wieder zum Leben erweckt. Es ist erfreulich, wie dieser ins Wasser geworfene Stein so schnell positive Kreise zieht.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Sehr wohl!)

Die DDR ihrerseits darf sich nicht ausschließlich darauf beschränken, Vergünstigungen und Vorteile entgegenzunehmen. Die DDR muß sich allmählich auch an Realitäten gewöhnen.
Meine Damen und Herren, Berlin ist mehr als eine geteilte Stadt mit Bindung zu beiden Staaten in Deutschland, die darüber hinaus leider noch immer sehr unterschiedlich entwickelt sind. Berlin — Herr Heimann, dies haben wir in Ihrem Antrag vermißt — ist und bleibt die Hauptstadt der deutschen Nation.

(Beifall bei der CDU/CSU — Heimann [SPD]: Darüber haben wir doch die ganze Zeit gesprochen!)

Wir würden uns freuen, wenn auch die SPD zu dieser gemeinsamen Grundüberzeugung zurückfände.
Dies ist der Hintergrund, auf dem das Engagement des Bundes für die weitere Entwicklung Berlins als kulturelle und wissenschaftliche Metropole gesehen werden muß. Die Gründung der Kulturstiftung der Länder gehört, ohne sie überschätzen zu wollen, in diese Konzeption. Das Museum der deutschen Geschichte markiert das Ziel der nächsten Etappe auf dem Weg, für den wir schon seit einiger Zeit konsequent arbeiten und auch positive Ergebnisse zeichnen.
Der Status Berlins mit all seinen rechtlichen Bindungen ist nicht nur, wie es sehr häufig zu hören ist, ein notwendiges Übel — auch der Regierende Bürgermeister hat dies eben ausgeführt — , sondern auch Lebensgrundlage Berlins. Dies muß gegenüber zwei Mißverständnissen hier noch einmal klar herausgestellt werden: gegenüber dem böswilligen und bewußten Mißverständnis der anderen Seite, daß die Bindungen des Status nur für Berlin (West) gelten, denn die Rechtslage unterscheidet sich in beiden Teilen der Stadt nicht. Was für Berlin (Ost) gilt, sollte für Berlin (West) billig sein. Es ist eine abstruse Politik, einerseits den Hauptstadtcharakter von Berlin (Ost) betonen zu wollen und sich andererseits Mitspracherechte in Berlin (West) anzumaßen. Entgegenzutreten ist auch dem blauäugigen Mißverständnis, daß der Status Berlins dem freien Teil der Stadt keine Entwicklungsmöglichkeiten für seine Bindungen gibt. Sowohl der Regierende Bürgermeister als auch Herr Bundesminister Dr. Schäuble sind darauf ausführlich eingegangen.



Kittelmann
Die vergangenen Monate haben erhebliche Fortschritte in der Vertragspolitik der Bundesregierung mit der DDR und anderen Warschauer-Pakt-Staaten gebracht. An sich hätte ich hier — Herr Heimann, bei Ihnen nicht, aber vielleicht bei Herrn Mitzscherling — auch etwas Bewunderung für die Erfolge dieser Politik erwartet, die im wesentlichen von Ihnen, als Sie noch in der Regierung waren, angestrebt, aber nie erreicht wurden. Wir alle wissen, daß vor allen Dingen die Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und Umweltschutz mit der DDR, die am 8. September 1987 unterzeichnet werden konnten, wegen der berlinpolitischen Frage über viele Jahre nicht zustande gekommen sind. Die schließlich gefundenen Kompromisse sind pragmatisch und vernünftig. Freilich bedarf die Durchführung im einzelnen noch der genauen Beobachtung. Erneute Versuche zur Diskriminierung Berlins und der Berliner müßten die praktische Zusammenarbeit auf beiden Seiten belasten.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU möchte hier ausdrücklich der Bundesregierung, Ihnen, Herr Dr. Schäuble, und Herrn Bundeskanzler Dr. Kohl für ihre konsequente Politik der Einbeziehung Berliner Interessen in diese Verträge ihren Dank aussprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Berlin braucht nicht nur zuverlässige Vereinbarungen über seine Verbindungswege — Straße, Schiene, Binnenwasserstraßen — , sondern auch eine moderne Qualität dieser Verbindungswege. Es ist von allen Seiten hier — insofern kann ich mich kurz fassen — darüber gesprochen worden, wie notwendig eine Einbindung Berlins in das Intercity-Netz ist, und zwar nicht als Verbindung Hannover—Berlin, sondern als eine Verbindung Paris—Hannover—Berlin—Moskau.

(Clemens [CDU/CSU]: Braunschweig nicht vergessen!)

— Unter anderem vielleicht auch Braunschweig.
Dies ist eine Politik nicht nur für Berlin, sondern für Europa.
Meine Damen und Herren, in erster Linie ist es Aufgabe der DDR, in Gestalt der doch sehr erheblichen Transitpauschale, die wir immer wieder geben, dafür zu sorgen, daß die Verbindungswege in Ordnung sind. Allerdings ist hier deutlich zu machen — der Regierende Bürgermeister hat darauf hingewiesen und die CDU/CSU möchte dies ausdrücklich auch als ihre Meinung sagen — , daß die grundsätzliche Verbesserung des Standards der Verbindungen nicht ohne zusätzliche finanzielle Mittel möglich ist und daß wir uns in dieser Frage außerordentlich engagieren müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat nach dem Besuch von Erich Honecker die Zeit nutzen können, auch die DDR für ihre Pläne zu gewinnen, daß gerade dieses Projekt der Schnellbahn auf die Schiene gesetzt wird. Wir wissen, daß dieses noch sorgfältiger Verhandlungen bedarf. Dennoch sollten alle Beteiligten wissen, daß wir keine Zeit mehr verlieren dürfen. Die CDU/CSU wird darauf drängen, daß mit der DDR vertraglich vereinbarte Spielräume auch faktisch umgesetzt werden. Es darf und wird in der Berlin-Politik keinen Stillstand geben.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Zu den praktischen Verbesserungen für Berlin gehört auch, unverständliche Diskriminierungen zu beseitigen, die sich im Reise- und Besucherverkehr ergeben, und unnötige Belastungen des Reiseverkehrs abzubauen.

(Frau Olms [GRÜNE]: Ja, Bayern!)

Die CDU/CSU wird nicht aufhören, darauf hinzuweisen, solange dies nicht beseitigt ist. Eine überflüssige Diskriminierung der Berliner ist der Umstand, daß sie anders als Mitbürger im grenznahen Reiseverkehr keine spontanen Zweitagesreisen nach Berlin und in die DDR unternehmen dürfen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Da seid ihr schuld dran!)

Die DDR vergibt damit die Möglichkeit, mit allen daraus resultierenden wirtschaftlichen Vorteilen Berlin als natürliches Wochenendumfeld wieder zu öffnen. Es darf immer wieder daran erinnert werden, daß es unverständlich ist, wenn die DDR für bloße Tagesbesuche in Berlin (Ost) den vollen Mindestumtauschbetrag einfordert, den der Besucher am Wochenende doch gar nicht — oder wahrscheinlich nur mit Mühe — ausgeben kann oder dann aber bei seiner Verwandtschaft — oder wen er auch besucht — läßt. Die DDR ist hier noch immer nicht zu früheren Prinzipien ihres Mindestumtausches zurückgekehrt. Wir fordern sie dazu auf. Dies gilt ebenso für die Rentner, die noch immer mit Mindestumtauschbeträgen belastet werden; eine schlechte Visitenkarte für ein Regime, das sich sozialistisch nennt.
Meine Damen und Herren, es wäre auch ein Zeichen von Realitätsbewußtsein, die Diskriminierung von Berliner Bundestagsabgeordneten zu beenden sowie das willkürliche Einreiseverbot einzelner Bundestagsabgeordneter nach Berlin endlich einzustellen. Weder die DDR noch andere Warschauer-Pakt-Staaten nutzen ihre wahren, wirklichen Vorteile, die ihnen die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten Berlins bieten.
Die CDU/CSU appelliert auch an die Sowjetunion, das Viermächteabkommen insoweit zur Kenntnis zu nehmen, als es der Sowjetunion bezüglich West-Berlin konkrete Handlungsspielräume eröffnet. Dazu gehört aber, daß die Sowjetunion endlich damit aufhören muß, ihre Berlin-Politik hinter den Stand der neuen Vereinbarungen und des Viermächtestatus zurückzuführen. Ein positives Zeichen wäre es, wenn sie den geplanten Besuch des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages nicht weiter mit unerfüllbaren Vorbehalten behinderte. Die CDU/CSU geht davon aus, daß vor einer positiven Lösung dieser Frage kein anderer Bundestagsausschuß die Sowjetunion besuchen wird und daß wir so unsere Solidarität mit den zurückgewiesenen Kollegen unter Beweis stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, unsere Deutschland-und Berlin-Politik soll vornehmlich eine Politik menschlicher Begegnungen und menschlicher Erleichterungen sein. Gegenseitige Kontakte sind nütz-



Kittelmann
lieh und notwendig. Deshalb darf dieser Weg nicht durch einseitige Repressalien unterbunden werden.
Es gibt von Berlin aus noch viele Gestaltungsmöglichkeiten. So denken z. B. die Berliner darüber nach, in welcher Form sie in die Partnerschaft der Bezirke mit der einen oder anderen Stadt in der DDR einbezogen werden können.
Meine Damen und Herren, nicht nur in der DDR, sondern auch bei uns stellen immer mehr junge Menschen konkrete Fragen und äußern Hoffnungen, die uns zeigen, daß das politische Bewußtsein für die deutsche Frage wieder zunimmt. Wir fordern im Hinblick auf illusionäre Vorschläge die Sozialdemokraten auf, sich von den Überlegungen Egon Bahrs zur Frage zweier Friedensverträge deutlich zu distanzieren. Herr Heimann, Sie hätten heute viel Zeit gehabt, dieses zu tun.

(Heimann [SPD]: Haben Sie das überhaupt schon gelesen?)

— Ich habe das gelesen, was im „Stern" sehr ausführlich steht.

(Heimann [SPD]: Da steht überhaupt nichts, das kommt nämlich erst noch!)

— Wir haben Vorabdrucke; Sie haben es dann wahrscheinlich nicht gehabt. Sie müßten schneller sein, Herr Heimann. Ich habe den Eindruck, noch nicht einmal Sie haben es gelesen.

(Heimann [SPD]: Ich habe es gelesen, aber nicht im „Stern" ; da steht es nämlich nicht!)

Diese Vorschläge von Bahr würden die Teilung Deutschlands festschreiben. Bahr verabschiedet sich von der Chance eines gemeinsamen Deutschlands und schreibt unsere langfristige Zukunftsvision Berlins ab. Diese Gedankenspiele stehen in einer beängstigenden Kontinuität zu vielen Spitzenpolitikern der SPD. Die CDU/CSU sagt eindeutig nein zu dieser Politik.
Meine Damen und Herren, im Rahmen der Steuerreform gab es Diskussionen um die Berlin-Förderung.

(Zuruf von der SPD: Gibt es noch!)

Die CDU/CSU geht davon aus, daß diese jetzt so schnell wie möglich beendet sein werden. Für Berlin ist eine langfristige Perspektive entscheidend und existentiell. Die CDU/CSU begrüßt, daß Berlin konkrete Vorschläge unterbreitet hat, wie es die hohen Belastungen verkraften möchte. Für die Entwicklung Berlins ist es unverzichtbar, daß für die betroffene Wirtschaft eine langfristige Grundlage für die Investitionsentscheidungen festgelegt wird; denn Berlin muß als Standort auf lange Sicht für Investitionen attraktiv bleiben. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen langfristig stabil und planbar sein.
Die CDU/CSU bittet die Bundesregierung, die von Berlin vorgeschlagene Lösung zur Umsetzung der vorgesehenen Kürzungen zu akzeptieren.
Wie wir wissen, haben sich alle Bundesregierungen mit großem Engagement bemüht, Berlin zu helfen. Das betrifft selbstverständlich auch die früheren von der SPD geführten Bundesregierungen. Dafür ist herzlich zu danken. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl fühlt sich den Sorgen und Problemen der Stadt Berlin besonders eng verbunden.

(Frau Olms [GRÜNE]: Dafür danke!)

Dieses wird in vielen Entscheidungen für die geteilte Stadt deutlich und positiv sichtbar. Für diese Unterstützung ein herzliches Dankeschön, besonders als Berliner Abgeordneter, aber auch für die CDU/CSUFraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Bonner Politik gibt den Rahmen, in dem die Berliner Politik gestaltet werden kann. Die letzten Jahre haben bewiesen, daß Berlin diese Möglichkeiten hervorragend genutzt hat. Berlin ist wieder — zumindest das wird von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, in persönlichen Gesprächen zugestanden, auch wenn Sie das hier nicht mit Genuß hören werden — ein positiver Magnet für die nationale und internationale Politik geworden. Dafür dankt die CDU/CSU-Fraktion dem Berliner Senat, vor allen Dingen aber den Berlinern.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Olms [GRÜNE]: Wo sind die Blumen?)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105905500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1105905600
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich in der gebotenen Kürze am Ende der Debatte nur mit den Problemen beschäftigen, die mit der Entwicklung der Berliner Wirtschaft und mit der Neugestaltung der Berlin-Förderung zusammenhängen.
Wie Sie wissen, hat sich die Berliner Wirtschaft in den letzten sieben Jahren besser, auch deutlich besser als das Bundesgebiet entwickelt. Wir hatten eine durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandproduktes in Berlin von 2,5 %; sie lag im Bundesgebiet seit 1983 bei 2 %.
Wie sich die Situation in Berlin verbessert hat, wird noch deutlicher erkennbar, wenn man untersucht, wie sich die Investitionen entwickelt haben und wie die Bevölkerungswanderungsbilanz aussieht. Denn wodurch kann man besser das Vertrauen in einen Standort ermessen als dadurch, daß Menschen bereit sind, ihr Geld dorthin zu geben, um dort zu investieren, als dadurch, daß Menschen sogar bereit sind, einen Wohnsitzwechsel vorzunehmen? Das zeigt sich in Berlin ganz deutlich. Die Statistik weist aus, daß seit 1983 rund 80 000 bis 90 000 Personen netto zuzüglich nach Berlin gezogen sind.
Gerade in einem Augenblick, in dem sich die wirtschaftliche Situation verbessert hat, in dem das Vertrauen in das Land gestiegen ist, muß man die Subventionsgestaltung, die Förderung von Berlin natürlich daraufhin überprüfen, ob sie noch dort ansetzt, wo wirklich gefördert werden muß.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105905700
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?




Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1105905800
Ja, bitte schön.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105905900
Bitte schön, Herr Sellin.

Peter Sellin (GRÜNE):
Rede ID: ID1105906000
Sind Sie mit mir der Meinung, daß Betriebsverlagerungen aus verschiedenen Bundesländern — aus Bayern, Baden-Württemberg, Bremen — nach Berlin nur deshalb vorgenommen werden, weil es in Berlin höhere unternehmensbezogene Subventionen gibt, und daß diese Verlagerungen de facto keine neuen Industrieansiedlungen für die gesamte Bundesrepublik inklusive Berlin (West) bedeuten?

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1105906100
Wenn das so wäre, dann wäre das richtig, aber genau das ist nicht der Fall. Es ist in Berlin vielmehr zu deutlichen Nettoinvestitionen gekommen, Forschungseinrichtungen sind nach Berlin verlagert worden. Das zeigt, daß auch die Qualität der Investitionen, die Qualität der Wirtschaft in Berlin deutlich zugenommen hat. Das beruht nicht allein darauf, daß Unternehmen umgesiedelt werden.
Meine Damen und Herren, das Vertrauen, der Zustand, die Atmosphäre, das Bild von Berlin haben sich deutlich verbessert.

(Zustimmung hei der CDU/CSU)

Auf der Basis dieser Entwicklung müssen wir nun überlegen, wie wir die Berlin-Förderung zielgerichteter und zweckentsprechender gestalten können.
Das müssen wir natürlich auch im Zusammenhang mit der grollen Steuerreform tun, auf Grund der natürlich auch die Bürger, die Arbeitnehmer und die Unternehmen in Berlin einen großen Vorteil erzielen werden. Das ist der Moment, in dem man auch bei den Subventionen zu Einsparungen kommen kann, weil netto insgesamt mehr Geld nach Berlin fließt bzw. in Berlin bleibt.
Wir danken ganz besonders dem Senat von Berlin, dem Regierenden Bürgermeister und seinen Kollegen dafür, daß sie frühzeitig erklärt haben, daß Berlin, wenn es um den Abbau von Subventionen im Rahmen der Steuersenkungen geht, seinen Anteil leisten wird. Ich glaube, das ist ein mustergültiges Verhalten gesamtstaatlicher Finanzsolidarität. Damit hat Berlin eine Vorbildfunktion für andere Bundesländer übernommen, die es sich viel mehr erlauben könnten, ihren Beitrag zu leisten, aber die — beispielsweise wenn es in Wahlkämpfe geht — um die kleinsten Subventionen, die auch noch unberechtigt sind, kämpfen.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Ich bin der Meinung, daß Berlin unser Dank gebührt und daß wir bei der Ausgestaltung der Berlin-Förderung in der Zukunft auf die Ratschläge aus Berlin hören sollten.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Wartenberg [Berlin] [SPD]: Das heißt, bis heute haben Sie es nicht getan!)

Wir werden bei den Beratungen im Haushaltsausschuß die Vorschläge, die aus Berlin kommen, übernehmen, und wir sollten dort keine eigenen Vorstellungen einbringen; denn die Betroffenen vor Ort sind immer diejenigen, die die besseren Informationen haben.
:Meine Damen und Herren, ich will nur ein Wort zu dem Antrag der GRÜNEN sagen, der gerade in diese Situation hineinplatzt. Gott sei Dank droht ein solcher Antrag ja nicht realisiert zu werden.

(Frau Olms [GRÜNE]: Warten Sie es ab!)

Deswegen wird er nicht ernstgenommen. Aber man sollte nicht vernachlässigen, was geschieht, denn das wird ja auch öffentlich diskutiert. Wenn solch ein Antrag ernst genommen zu werden drohte, dann könnte nur ein Effekt entstehen: Die Unternehmen, die Unternehmer und die qualifizierten Arbeitnehmer würden Berlin in Scharen verlassen.

(Kittelmann [CDU/CSU]: Das wollen die wahrscheinlich doch!)

Das scheint mir auch die Absicht zu sein. Sie wollen aus Berlin eine alternative Szene machen. Berlin ist uns zu lieb und zu teuer, als daß wir solche leichtfertigen Experimente mitmachen würden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Denn es geht nun einmal nicht, pauschal 3 Milliarden DM Subventionen einzusparen, dieses Geld einem anonymen Fonds — bei dem die alternativen Kräfte dann natürlich ein Mitverfügungsrecht hätten — zu überlassen und sie dann wohlfeil den ihnen geneigten Personen zukommen zu lassen. So können wir Wirtschaftspolitik nicht machen. Das ist nicht ernst zu nehmen. Mit solchen Vorschlägen — das muß ich Ihnen in aller Freundlichkeit sagen — werden Sie draußen auch immer weniger ernst genommen. Wenn Sie als Partei überleben wollen, sollten Sie sich solcher Spielereien enthalten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105906200
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Altestenrat schlägt vor, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 21 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes

(federführend Sportausschuß ausschuß für Wirtschaft Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Clemens. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vorlage des neuen Waffengesetzes zum jetzigen Zeitpunkt macht deutlich, daß die Handlungsfähigkeit der Koalition auch auf dem innenpolitischen Sektor besteht. Es hat ein Clemens bißchen lange gedauert, aber nun sind wir uns innerhalb der Koalitionsparteien ziemlich einig geworden; es gibt kleine Änderungen, über die wir uns im Ausschuß noch beraten müssen. Ein maßgebliches Ziel des neuen Waffengesetzes ist der Abbau von Bürokratie, ohne dabei Sicherheitsrisiken entstehen zu lassen. Das Gesetz reiht sich insoweit würdig in die von der Bundesregierung begonnene Kampagne der Entbürokratisierung ein. Auf der anderen Seite wird bei der Novellierung in verstärktem Maße notwendigen Sicherheitsaspekten Rechnung getragen wie z. B. beim Führen von Waffen bei öffentlichen Veranstaltungen. Das Waffengesetz ist ein Beweis dafür, mit welchem Übereifer jahrelang Gesetz für Gesetz erlassen wurde. Die Folge war ein Dschungel von Verordnungen und regulierenden Erlassen. Nicht nur den Behörden ist diese Regulierungsflut über den Kopf gewachsen. Hauptleidtragender war vor allem der gesetzestreue Bürger. Das neue Waffengesetz soll diesen gesetzestreuen Bürger von vermeidbaren Beschränkungen befreien. Die Sicherheitsbedürfnisse des öffentlichen und privaten Lebens setzen dem Waffengesetz natürliche Grenzen. Diese Grenzen sollen nicht angetastet werden. Der Staat muß natürlich darauf achten, daß die Waffen nicht in falsche Hände geraten. Zwischen den Belangen der inneren Sicherheit auf der einen Seite und der notwendigen Entbürokratisierung auf der andern Seite muß es daher zu einem vernünftigen Ausgleich in diesem Gesetz kommen. Das Waffengesetz von 1972 wurde unter dem Eindruck von terroristischen Aktionen verabschiedet. Seitdem haben die Erfahrungen allerdings gezeigt, daß das Waffengesetz nicht als Instrument der Terrorismusbekämpfung gesehen werden kann. Es ist kein Fall bekannt, in dem ein Schwerverbrecher oder ein Terrorist aufgrund einer Strafnorm des Waffengesetzes verurteilt worden ist. Betroffen durch diese Strafnormen sind vielmehr in erster Linie Waffensammler. Sie werden mit unverhältnismäßig hohen Strafen bedroht. Die Mindeststrafe beträgt nämlich ein Jahr Gefängnis. Jemand, der danach bestraft wird, gilt also als Verbrecher. Eine derartige Strafe ist sonst nur bei Totschlag, Geiselnahme, Raub bzw. Menschenraub vorgesehen. Hier streben wir eine Reduzierung des Strafrahmens an. Eine Gefahr für die innere Sicherheit droht dadurch keineswegs. Schwerverbrecher und Terroristen benutzen bei ihren Straftaten im allgemeinen halboder vollautomatische Handfeuerwaffen. Diese unterliegen den Strafvorschriften des Kriegswaffenkontrollgesetzes mit seinen wesentlich restriktiveren Bestimmungen und härteren Strafen. Im übrigen unterscheidet das Waffengesetz nicht nur nach Kurzwaffen — Handoder Faustwaffen — und Langwaffen, sondern auch zwischen den bereits erwähnten volloder halbautomatischen Waffen und den Einzelladern oder Repetierwaffen. Repetierwaffen besitzen ein Magazin, so daß nicht einzeln nachgeladen werden muß. Bezüglich der Repetierwaffen ist es nun im Rahmen dieser Novellierung zu einer Auseinandersetzung mit einigen Ländern gekommen. Obwohl Sicherheitsbedenken bezüglich des Repetiergewehrs gar nicht bestehen können — es ist, wie ich schon sagte, für Kriminelle und Terroristen zu unhandlich und umständlich — , wenden sich die Länder gegen die geplante Erweiterung der Waffenbesitzkarte für Sportschützen. Mir ist das vollkommen unverständlich. Repetierwaften sind in vielen Schützenverbänden und Reservistenverbänden als Wettkampfwaffe zugelassen und teilweise vorgeschrieben. Ich erwähne in diesem Zusammenhang die in Calgary hoffentlich wieder erfolgreiche Riege der Biathleten um Peter Angerer, die auch mit diesem Repetiergewehr schießen. (Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Zuletzt aber schlecht! )

Joachim Clemens (CDU):
Rede ID: ID1105906300



— Es kann ja nur besser werden. Ich glaube, die letzten Ergebnisse zeigen, daß die Biathleten auf dem richtigen Weg sind.
Auch im Deutschen Schützenbund wird mit Repetierwaffen oft geschossen. Weil sie nicht nach jedem Schuß nachgeladen werden müssen, eignen sie sich hervorragend zu Trainingszwecken. Auch in der Internationalen Schützenunion ist die sportliche Verwendung dieser Waffe vorgesehen.
Aber auch die große Anzahl der Jäger benutzt diese Repetiergewehre. Ohne Beanstandung durch die Länder dürfen die Jäger auf eine Waffenbesitzkarte bis zu acht Waffen ohne erneute Bedürfnisprüfung erwerben. Will aber ein Sportschütze eine Repetierlangwaffe erwerben, muß er für jede neue Waffe die langwierige Bedürfnisprüfung über sich ergehen lassen. Er muß Bescheinigungen seines Verbandes beibringen; er muß in Berlin ein Führungszeugnis beantragen; er muß den Sachkundenachweis immer wieder erbringen. Das kann Monate dauern. Es gibt viel Papierkrieg. Diesen Bürokratismus wollen wir beenden. Denn schließlich unterliegt der Sportschütze ständiger Überwachung durch seinen Verband und die zuständigen Behörden. Er ist auf seine Zuverlässigkeit überprüft.
Die Sportschützen sind genau wie die Jäger gesetzestreue Bürger. Warum sollte ein Sportschütze nicht auch wie der Jäger bestimmte Waffen ohne neue Bedürfnisprüfung erwerben dürfen? Ich fordere daher gleiches Recht für alle, d. h. für Jäger und Sportschützen. Beide sollen in Zukunft nicht mehr eine neue verwaltungs- und zeitaufwendige Prüfung durchführen müssen, wenn sie eine neue Waffe erwerben.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105906400
Herr Abgeordneter, das war doch ein ganz guter Schlußsatz.

Joachim Clemens (CDU):
Rede ID: ID1105906500
Ich habe nur noch einen Absatz, und mir war gesagt worden, für mich seien sieben Minuten angemeldet. Darf ich das vielleicht noch eben zu Ende bringen?

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wir wollen doch alle Mittag haben! Machen Sie Schluß!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105906600
Wenn das so ist, dann geht das auf Kosten anderer. Aber ich frage gerne einmal den Geschäftsführer; er telefoniert gerade. Mir wurde



Vizepräsident Westphal
eine andere Zeit angegeben. — Herr Seiters, waren sieben Minuten angemeldet?

(Seiters [CDU/CSU]: Acht, Herr Präsident!) R•clen Sie bitte weiter.


Joachim Clemens (CDU):
Rede ID: ID1105906700
Ein Schlußsatz noch: Insgesamt ist festzustellen, daß die Waffenrechtsnovelle notwendig und überfällig ist. Ihre Maximen sind Entbürokratisierung und Vereinfachung für gesetzestreue Burger, Berücksichtigung der inneren Sicherheit und Anpassung an cien technischen Fortschritt.
Ich bedanke mich.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105906800
Den Streit hätten wir gar nicht gebraucht.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Graf.

Günter Graf (SPD):
Rede ID: ID1105906900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Waffengesetz, mit dem wir uns hier heute befassen, wird sicherlich als parlamentarisches Kuriosum in die Geschichte dieses Parlamentes eingehen.

(Wartenberg [Berlin] [SPD]: So ist es!)

Denn bereits 1983 hatte das Bundeskabinett das Dritte Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes beschlossen und dem Bundesrat zugeleitet. Der Bundesrat wiederum hatte bereits am 3. Februar 1984 seine Stellungnahme abgegeben. Am 13. Juli 1984 ist dieses Gesetz dann mit einer entsprechenden Stellungnahme der Bundesregierung dem Bundesrat zugeleitet worden. Allerdings hat eine erste Lesung dieses Gesetzentwurfes bis zum heutigen Tage nicht stattgefunden, weil nach unserer Einschätzung die Koalitionsfraktionen eine Beratung immer wieder hinausgezögert haben, da aller Wahrscheinlichkeit nach der damalige Entwurf als äußerst peinlich angesehen \\vurd e.
Dieser Entwurf sah eine ganz erhebliche Aufweichung der noch sehr strengen Bestimmungen des deutschen Waffenrechtes vor. Im Bundesrat herrschte damals die einmütige Auffassung, daß den im Waffenbereich bestehenden Gefährdungen entgegengewirkt werden müsse. Die vorgesehene Liberalisierung kam deshalb nicht in Betracht.
Der damals entschlossen geäußerte Widerstand der Länder führte dazu, daß die Bundesregierung von ihrem Vorhaben Abstand nahm. Auch die Versuche des Bundesinnenministers, die Länder von ihrer ablehnenden Haltung abzubringen, indem er u. a. mit Schreiben vom 18. Juli 1983 seine Kollegen in den unionsregierten Ländern bat, aus allgemein politischen Gründen dem Entwurf zuzustimmen, führten zu keinem Ergebnis.
Da die Bundesregierung seinerzeit offenbar selbst erkannte, daß der Entwurf in der damals vorliegenden Form nicht aufrechterhalten werden konnte, wurde den Vorstellungen der Länder in dem nunmehr vorliegenden Gesetzentwurf vom 18. Dezember 1987 in Einzelbereichen weitgehend Rechnung getragen.
Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung läßt dennoch erkennen, daß an der Zielsetzung, die strengen Bestimmungen zu lockern und dadurch eine Liberalisierung des Waffenrechts herbeizuführen, nach wie vor festgehalten wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt zwar grundsätzlich das Bemühen um Rechts- und Verwaltungsvereinfachung sowie den Abbau bürokratischer Hemmnisse; dieses darf jedoch nicht auf Kosten der Sicherheit geschehen.
Um von vornherein denjenigen zu begegnen, die da meinen, daß der nunmehr vorliegende und hier zur Debatte stehende Gesetzentwurf eine Liberalisierung auf Kosten der Sicherheit nicht beinhaltet, empfehle ich, einen Blick auf das Vorblatt des uns vorliegenden Gesetzentwurfs zu werfen. Dort heißt es nämlich in der Beschreibung der Zielsetzung u. a. — ich zitiere —:
Gleichwohl soll auch im Bereich des Waffenrechts das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung von vermeidbaren Konflikten entlastet werden, ohne daß dabei wesentliche Interessen der öffentlichen Sicherheit beeinträchtigt werden.
Ich denke, diese Formulierung macht jedem in diesem Hohen Hause deutlich, daß sicherheitspolitische Bedenken bewußt und gewollt in Kauf genommen werden. Nur, sie sind halt nicht „wesentlich".
Uns Sozialdemokraten ist es gerade vor dem Hintergrund der so schrecklichen und nicht begreifbaren Morde an den beiden Polizeibeamten an der Startbahn West in Frankfurt unverständlich, wenn auf der einen Seite nach einer Verschärfung demonstrationsrechtlicher Vorschriften gerufen wird, andererseits aber im gleichen Atemzuge das Waffenrecht liberalisiert werden soll.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

In dem vor uns vorliegenden Gesetzgebungsverfahren, insbesondere in den Ausschußberatungen, werden wir uns mit einer Vielzahl offener Fragen zu beschäftigen haben. Dabei wird es beispielsweise um die Frage gehen, ob es angebracht ist, durch den geplanten Wegfall des Munitionshandelsbuches einem erleichterten Munitionserwerb Vorschub zu leisten. Dabei werden wir zu überlegen haben, ob es aus Präventionsgesichtspunkten richtig ist, auf die Möglichkeit zu verzichten, über das Munitionshandelsbuch Hinweise auf möglich illegale Waffenhändler zu erhalten.
Darüber hinaus steht zu befürchten, daß für den Fall, daß die Buchführungspflicht künftig entfällt, in Zukunft Munition aus dem legalen Handel wesentlich verstärkt in das kriminelle Milieu hineingelangt.

(Clemens [CDU/CSU]: Seit 1972 hat das Munitionshandelsbuch zur Aufklärung nicht mehr beigetragen!)

— Das stellen Sie so fest, den Beweis sind Sie aber noch schuldig geblieben. Wir werden uns im Ausschuß darüber zu unterhalten haben, ob es so ist, wie Sie es darstellen, Herr Kollege Clemens.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Wir nehmen die Luftgewehrmunition auch noch mit rein!)




Graf
Der Nachweis der Herkunft und des Verbleibs der Munition durch die Führung des Munitionshandelsbuches und die damit mögliche Überwachung können dem entgegenwirken. Darauf, daß darüber hinaus die Beibehaltung der Buchführungspflicht aus Gründen der gewerberechtlichen Kontrolle zwingend erforderlich ist, will ich nur am Rande hinweisen. Derartige Pflichten sind für Gewerbebetriebe, die erfahrungsgemäß besondere Gefahren für die Allgemeinheit und besondere Versuchungen für die Gewerbetreibenden in sich bergen, selbstverständlich. Gerade die Ereignisse in Hanau bei Transnuklear sollten uns hier sehr hellhörig machen.
Im übrigen fühlen wir uns in unserer Auffassung auch durch das Bundeskriminalamt bestätigt.
Lassen Sie mich noch kurz auf einen weiteren Aspekt des uns vorliegenden Entwurfs eingehen. Die Absicht der Bundesregierung, durch eine Änderung des § 29 des Waffengesetzes die Berechtigung zum Erwerb von Munition auf Inhaber von Waffenbesitzkarten über den angemeldeten Altbesitz hinaus auszudehnen, kann erhebliche Sicherheitsbedenken erzeugen. Dabei ist zu beachten, daß zum Teil durch die Anmeldung der Altwaffen illegaler Waffenbesitz legalisiert worden ist.
Die Berechtigung zum Erwerb von Munition würde die Gefahr des Schußwaffenmißbrauchs erheblich erhöhen, zumal der weitaus größere Teil der Altwaffenbesitzer nicht zu den Sportschützen gehört und deshalb bislang kaum Zugang zu Munition auf Schießständen hatte. Der Hinweis der Bundesregierung in der Begründung zu § 29, die geltende Regelung habe in der Vergangenheit dazu geführt, daß sich der angesprochene Personenkreis häufig auf andere Weise Munition verschafft habe, kann allein kein Grund sein, eine entsprechende Gesetzesänderung vorzunehmen.
Wegen der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Redezeit kann ich nicht auf all die Änderungen im vorliegenden Gesetzentwurf eingehen, die nach unserem Dafürhalten regelungsbedürftig sind. Ich möchte die mir zur Verfügung stehende Zeit vielmehr nutzen, noch auf einige Sachverhalte hinzuweisen, die von dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nicht erfaßt werden.
Zunächst einmal erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, daß der Herr Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem 10. Tätigkeitsbericht Stellung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf genommen hat. In seinem Bericht hat der Bundesbeauftragte gegenüber dem BMI die Empfehlung ausgesprochen, bei der Bearbeitung eines Antrags auf Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis Auskünfte bei anderen Behörden nicht ohne Mitwirkung bzw. Wissen des Antragstellers einzuholen.

(Clemens [CDU/CSU]: Dann kriegt er ganz bestimmt keine Waffenbesitzkarte!)

Darüber hinaus, Herr Kollege Clemens, hat er auch Bedenken dahin gehend geäußert, daß er eine routinemäßige Übermittlung personenbezogener Daten zur Unterrichtung der Polizeibehörden über den Erlaß von Waffenbesitzverboten nicht für sachgerecht hält. Er hat deshalb vorgeschlagen, diese nur im Einzelfall
zuzulassen. Diesen Empfehlungen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz trägt der Gesetzentwurf in keiner Weise Rechnung.
Lassen Sie mich noch kurz auf ein weiteres Problem eingehen: Es ist unzweifelhaft, daß in den letzten Jahren verstärkt Straftaten begangen worden sind, bei denen Gas- oder Alarmpistolen verwandt wurden. Diese sahen echten Pistolen häufig täuschend ähnlich.
Diese Tatsache hat vielfach zu folgenschweren Reaktionen der Bedrohten geführt. Anfang April 1987 wurde die Polizei in Bonn von einer jungen Frau um Hilfe gerufen, die sich von ihrem Ehemann bedroht fühlte. Beim Eintreffen der Beamten drohte der Mann mit einer Waffe, worauf ein Polizeibeamter schoß und den Täter tödlich verletzte. Bei der Waffe des die Frau bedrohenden Mannes handelte es sich um eine Schreckschußpistole. Auf diesen Umstand hat die Gewerkschaft der Polizei in der Vergangenheit sehr häufig hingewiesen.
Ein weiterer Punkt, über den wir auch sprechen sollten, ist, wie wir das Problem lösen können, das sich verstärkt stellt, daß nämlich Hunde in besonderer Weise abgerichtet und zeitweilig als Waffe eingesetzt werden. Dieses Problem können wir sicherlich nicht direkt im Waffengesetz lösen,

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Maulkorb!) aber wir werden darüber zu sprechen haben.

Meine Zeit ist abgelaufen — hier am Rednerpult, ansonsten sicherlich noch nicht. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf für die SPD-Fraktion abschließend feststellen: Der uns vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung wird unsere Zustimmung dort finden, wo er bürokratische Hemmnisse und Übertreibungen im Bereich des Waffenrechts abbaut. Wir werden aber sehr genau darauf achten, ob hier in Teilbereichen nicht bewußt eine Liberalisierung angestrebt wird, die möglicherweise zur Folge hat, daß ein weiteres Stück an innerer Sicherheit verlorengeht.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105907000
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1105907100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte damit gerechnet, als letzter Redner vor Karneval sprechen zu können. Diese hohe rheinische Ehre wird aber dem Staatssekretär Spranger zuteil werden. Ich bin sicher, daß er dieser Verpflichtung gerecht werden wird.
Hinsichtlich des Waffengesetzes gilt natürlich der Grundsatz: Entbürokratisierung: ja; Gefährdung der Sicherheit: nein.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Guter Grundsatz!)

An der Diskussion über das Gesetz haben sich viele Interessierte und viele Interessenten beteiligt. Dem berechtigten Interesse der Polizei, daß so wenig Waffen wie möglich unters Volk verteilt werden sollen, daß die ohnehin schwierige Kontrolle des Munitions-



Dr. Hirsch
handels so weit wie möglich erhalten bleiben sollte, steht das Interesse zweifellos ehrenwerter Sportschützen gegenüber, für die Ausübung ihres Sportes die dafür benötigten Waffen möglichst ohne größere Schwierigkeiten erwerben und sie natürlich, Herr Kollege Clemens, auch behalten zu können, wenn sie aus dem Sportverein ausgeschieden sind. Das gleiche gilt für das Interesse der Jäger, die eine ernsthafte Prüfung ablegen müssen, ehe sie den Jagdschein kriegen. Dann gibt es die Bauern, die die Schädlingsbekämpfung mit der Schrotflinte fortsetzen wollen.

(Heiterkeit)

Es gibt die Waffensammler, die Angst um ihre Museumsexemplare haben, wenn sie der Beschußpflicht unterworfen werden. Es gibt die Ganoven, die sich einen „Ballermann" möglichst unproblematisch beschaffen wollen.

(Erneute Heiterkeit)

Es gibt die Leute, die ein geradezu erotisches Verhältnis zu einer Waffe haben. Und es gibt die Ängstlichen, die zu Hause mit der Pistole im Nachttisch auf einen Einbrecher warten.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105907200
Und es kommt noch Karneval, Herr Abgeordneter.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die Gardisten mit einem Säbel!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1105907300
Und es gibt schließlich die Waffenindustrie, die neidvoll auf die National Rifle Association sieht, die mit Erfolg den Eindruck aufrechterhält, daß es zum Wesen der Freiheit gehört, eine Waffe führen zu können. Und die Waffe — —

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Kurz und gut: Alles Männer! — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die Frauen kämpfen mit anderen Waffen!)

— Gnädige Frau, ich habe den Eindruck, daß die Waffen der Frauen mindestens ebenso gefährlich sind und daß da weit mehr unter Waffenschein gestellt werden sollte, als jemals im Gesetz steht.

(Heiterkeit und Beifall — Zuruf von der FDP: Möglichst ohne Waffenschein!)

Aber schließlich wollte ich noch zu den Beteiligten die Waffenindustrie rechnen, deren traurigste Leistung — das muß man sagen — die Verbreitung dieser Selbstmordwaffen ist, die im Grunde genommen aufgemotzte Spielzeuge sind und den anderen dazu reizen, sofort tödlichen Ernst zu machen.
Es ist nicht möglich, allen diesen Interessen gerecht zu werden. Ich habe den Eindruck, daß ein Teil der heftigen Novellierungsinitiativen darauf beruht, daß manche Verwaltungen der Länder nicht sicher genug zwischen denen unterscheiden, die ein berechtigtes, ernsthaftes Interesse an einer Waffe haben und die verantwortungsbewußt sind, damit richtig umzugehen, und anderen, denen gegenüber eine gesunde Zurückhaltung geboten ist. Es ist ja interessant, daß als Beispiele für die Notwendigkeiten der Novellierung meistens Fälle dargestellt werden, bei denen einfach eine Verwaltung auch auf der Grundlage des geltenden Rechts richtig hätte entscheiden können, es aber leider Gottes nicht tut.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Wie so oft!)

Wir haben einige Probleme mit dem Gesetzentwurf. Da sind bestimmte Wünsche des Datenschutzbeauftragten, da ist die Vorstellung, daß Waffenbesitzkarten zum Munitionserwerb berechtigen sollten, eine Idee, die wir nicht für annehmbar halten. Da ist die Vorstellung, man könnte die Strafdrohung für den illegalen Besitz einer Kriegswaffe herabsetzen, eine Strafvorschrift, die gerade mit der Terrorismusbekämpfung eingeführt worden war, und es gibt eine Reihe von Einzelheiten, zu denen wir noch einen Beratungsbedarf sehen.
Wichtig ist eine neue Vorschrift über das Mitführen von Waffen auf dem Weg zu öffentlichen Veranstaltungen, die wir positiv würdigen.
Unseren Wunsch, das Waffengesetz bei einer solchen Gelegenheit etwas lesbarer und verständlicher zu machen — man muß wirklich ein Jurist von hohen Gnaden sein, wenn man verstehen will, was darin steht — , erfüllt diese Novelle nicht, und ich weiß, daß er schwer erfüllbar ist.
Wir halten es für wünschenswert, bei der Beratung des Gesetzentwurfs im Innenausschuß auch Vertreter der Polizei zu hören, die wirklich ein berechtigtes Interesse daran hat, ihre Meinung bei einem derartigen Gesetz unmittelbar zu Gehör bringen zu können.
Wir stimmen also der Überweisung des Gesetzes an den Innenausschuß zu und werden mit dazu beitragen, daß er nicht auf die lange Bank geschoben wird.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105907400
Das Wort hat die Abgeordnete Olms.

Ellen Olms (GRÜNE):
Rede ID: ID1105907500
Meine Damen und Herren! Das einzig Erfreuliche an diesem Gesetzentwurf ist etwas, was nicht mehr drinsteht. Ich meine die in einem früheren Entwurf zur Änderung des Waffenrechts so geschickt verpackte Strafminderung beim Vergehen gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Die GRÜNEN haben dies seinerzeit so treffend als „Lex Rheinmetall" charakterisiert. Die Regierung Kohl wollte damit den strafbedrohten Rheinmetall-Waffenschiebern zu Hilfe eilen.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach hör' doch auf, Mädchen, das ist jetzt wirklich eine Fastnachtsrede!)

Dies wurde von der kritischen Öffentlichkeit weitgehend verhindert.
Der vorliegende Gesetzentwurf erweist sich schon bei flüchtiger Prüfung als ein klares Klientelgesetz, mit Lockerungen zugunsten der Steuerhinterzieher und Konkursstraftäter auf der einen Seite und irrwitzigen Strafandrohungen gegen politisch mißliebige Personen andererseits. Ich will das kurz ausführen.
Erfolgte Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, Gläubigerbegünstigung, Vergehen wie Baugefährdung und unterlassene Hilfeleistung soll das nach dem Willen der Bundesregierung kein Hinderungs-



Frau Olms
I grund mehr zum Besitz und Führen einer Waffe sein. Im Klartext heißt das: Ein Steuerhinterzieher darf zwar keine Kneipe mehr führen, kriegt aber einen Waffenschein. Ein Wirtschaftsverbrecher, dem die betroffenen Arbeiter oder Geschäftspartner nachstellen, soll sich wenigstens mit seiner Zimmerflak noch ihrer erwehren können. Gleiches gilt für die Architekten, deren Bauwerk mit den daraus resultierenden Folgen in sich zusammenbricht.
All diese Personen bezeichnet der Regierungsentwurf als „im allgemeinen gesetzestreue Staatsbürger". Da hat sich die Regierung wohl offensichtlich Lambsdorff und von Brauchitsch angenommen; die sollen ja schließlich nicht um ihre Knarre gebracht werden.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich glaube, da redet die Zimmerflak!)

Andererseits wird künftig unter Strafe gestellt, wer seinen Nachbarn bei einer Demonstration eine Flasche oder ein Taschentuch reicht; beides kann nämlich zur Herstellung eines Molotowcocktails verwendet werden. Wer es nicht glaubt, lese in der Erläuterung zu § 37 nach!
Die Neufassung dieses Paragraphen gibt noch weitere Rätsel auf, wenn wir uns die verschiedenen Ermächtigungen anschauen. Der Verdacht drängt sich auf, als solle das Bundeskriminalamt zu einer Art Verschiebebahnhof für ansonsten verbotene Waffen ausgebaut werden. Wir werden und müssen im Ausschuß noch näher darauf eingehen.
Wie eine Einladung zur Gründung und Ausbildung von Wehrsport- und Söldnergruppen liest sich der § 44. Im Absatz 2 Nr. 1 wird das Schießen in geschlossenen Räumen für Waffen- oder Munitionshersteller ausdrücklich erlaubt. Aber es kommt noch dicker. Schießen dürfen nicht nur diese Personen, sondern auch jeder Waffenbesitzer, seine Familienmitglieder sowie Personen, die zu dem Inhaber des Hausrechts in einem freundschaftlichen Verhältnis stehen. Nicht nur der schon erwähnte Steuerhinterzieher oder Wirtschaftsverbrecher, sondern auch dessen Kumpel soll schießen lernen. Wenn die eigenen Schießkünste nicht ausreichen, treten private Sicherheitsdienste in Aktion, sofern der Straftäter nicht zufällig über ein Abgeordnetenmandat verfügt und von Staats wegen und auf Steuerkosten bewacht wird. Diesem privaten Schießgewerbe will die Bundesregierung offenbar künftig noch breiteren Raum geben.

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Steuerlich fördern!)

Trupps wie die Schwarzen Sheriffs sind ja für ihre Übergriffe in U-Bahn-Bahnhöfen bekannt und bewachen größtenteils solche Anlagen und Objekte wie Atomkraftwerke, die wegen Fehlens der Akzeptanz vor der wütenden Bevölkerung geschützt werden müssen. Diese Anlagen müssen weg. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Damit wird sich diese Sicherheitsfrage natürlich erledigen. Wir jedenfalls werden in der weiteren Beratung einer weiteren Privatisierung des Sicherheitsbereichs entgegentreten. Gleichzeitig sind wir gegen eine weitere Militarisierung der Polizei.
Es bedarf deshalb auch keiner Änderung des Kriegswaffenkontrollgesetzes, die die rechtlichen Grundlagen für eine solche Polizeiaufrüstung schaffen soll.
Abzulehnen ist auch jede Anpassung des Waffenrechts an US-amerikanische Verhältnisse. Die USWaffen-Depots müssen nicht besser bewacht werden, sondern sollen möglichst bald verschwinden. Wir wollen hier keine Verhältnisse wie im Wilden Westen.

(Beifall der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] — Wartenberg [Berlin] [SPD]: Rasender Beifall!)

Die an mehreren Stellen zu findenden Verordnungsermächtigungen für den Bundesminister statt einer gesetzlichen Fixierung werden wir bei der Beratung ebenfalls zur Sprache bringen.
Insgesamt bedeutet dieses Klientelgesetz einen Angriff auf das allgemeine Rechtsempfinden.

(Beifall bei den GRÜNEN — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das war eine echte Büttenrede; eine gelungene Büttenrede! — Zuruf des Abg. Clemens [CDU/CSU])


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105907600
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Herr Spranger.

Carl-Dieter Spranger (CSU):
Rede ID: ID1105907700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Graf hat recht eindrucksvoll den bisherigen Leidensweg dieses Gesetzes in der vorigen Wahlperiode geschildert. Vielleicht muß man tatsächlich zu der karnevalistischen Stimmungslage, die Herr Hirsch hier zitiert hat, greifen, um nicht angesichts des Versuchs zu resignieren, hier etwas Vernünftiges auf den Weg zu bringen, nämlich zu einer Vereinfachung und einer vernünftigeren, praktischeren Handhabung dieses Bereichs zu kommen. Aber bei bestimmten Leuten scheint es aussichtslos zu sein, etwa wenn Sie hier von einer Entwicklung in Richtung Wilder Westen sprechen. Sie haben ja selber lachen müssen. Das ist die entsprechende Kommentierung dazu.
Ich meine, dieses Gesetz mit seinen Verbesserungen und Vereinfachungen ist überfällig. Wir beabsichtigen hier, das Waffenrecht zu modernisieren, um von vermeidbaren Reglementierungen wegzukommen.
Die Ursachen der jetzigen Gesetzeslage stammen aus dem Jahr 1972. Das ist hier schon vom Kollegen Clemens zitiert worden. Es gab damals unter dem Eindruck der terroristischen Bedrohungen Entscheidungen des Gesetzgebers mit der Folge erheblicher Einschränkungen beim Erwerb und Besitz von Schußwaffen, die, wie die Praxis in vielfältiger Weise gezeigt hat, sich in erster Linie nachteilig für den gesetzestreuen Staatsbürger ausgewirkt haben. Nach den mit dem Vollzug des Waffengesetzes gemachten Erfahrungen erscheint es ohne Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen vertretbar, für den Erwerb und Besitz von Schußwaffen und Munition durch seriöse Waffenbesitzer gewisse Erleichterungen zuzulassen. Herr Graf, ich bin sicher, daß hier keine sicherheitspolitischen Lücken entstehen. Wenn Sie Transnuklear zitieren müssen, um Ihre Bedenken zu begründen,



Parl. Staatssekretär Spranger
zeigt dies, daß diese Befürchtungen sicher etwas am Rand liegen. Wir werden darüber in den Ausschüssen beraten können.
Einige Vorschriften über den Erwerb und das Führen von Schußwaffen müssen in sicherheitspolizeilicher Hinsicht wirksamer gestaltet werden. Auch das ist die Absicht der Bundesregierung. Beim Vollzug des Gesetzes haben sich Mängel und Lücken herausgestellt, die mit der Novelle beseitigt oder geschlossen werden sollen.
Darüber hinaus soll die komplizierte Materie des Waffenrechts durch den Gesetzentwurf vereinfacht und übersichtlicher gestaltet werden. Dabei enthält — Herr Hirsch hat es erwähnt — natürlich auch der jetzige Entwurf eine solche Masse an Bestimmungen, daß man fragen kann, ob dieses Ziel erreicht wird. Aber es geht wohl nicht anders.
Der Umgang mit Schußwaffen bedarf einer staatlichen Kontrolle. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, daß die mit dem Umgang mit Schußwaffen verbundenen Gefahren in Grenzen gehalten werden. Staatliche Beschränkungen müssen sich an dem Grundsatz orientieren: Einschränkungen nur insoweit, als das Handeln die Rechte anderer oder die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt.
Der Gesetzentwurf beschränkt sich auf Erleichterungen für Sportschützen sowie für die Inhaber von Waffenbesitzkarten über angemeldeten Altbesitz. Andererseits enthält der Gesetzentwurf eine Verschärfung der Vorschriften über das Mitführen von Waffen und anderen gefährlichen Gegenständen bei nichtpolitischen öffentlichen Veranstaltungen, Vorschriften über höhere fachliche Anforderungen an das Personal von Bewachungsunternehmen sowie weitere Beschränkungen von geringerer Bedeutung.
Nach polizeilichen Erkenntnissen und Erfahrungen kommt es in der letzten Zeit immer häufiger zu gewaltsamen Ausschreitungen in Fußballstadien und auf den Anmarschwegen hierzu. Von den Störern werden dabei nicht nur Schuß-, Hieb- und Stoßwaffen, sondern auch andere gefährliche Gegenstände mitgeführt und gegen die Polizei eingesetzt. Die vorgesehenen Verschärfungen — der Gesichtspunkt der inneren Sicherheit, Herr Graf, wird hier besonders angesprochen — erlauben es künftig, den Störern nicht nur die mitgeführten Gegenstände wegzunehmen, sondern auch strafrechtlich wirksamer gegen sie vorzugehen.
Ferner enthält der Gesetzentwurf eine Verordnungsermächtigung, die Ausbildung des Personals von Bewachungsunternehmen im Umgang mit Schußwaffen näher zu regeln. Damit entspricht die Bundesregierung einer Zusage, die sie in einem Bericht an den Innen- und Haushaltsausschuß im Jahre 1981 gegeben hat.
Wegen der Beschränktheit der mir zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich schließen mit der Hoffnung und der Bitte, daß die Mitglieder der beteiligten Ausschüsse die Vorschläge der Bundesregierung möglichst zügig beraten, damit unser Waffenrecht bald den derzeitigen Anforderungen angepaßt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1105907800
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung an die in der Tagesordnung auf geführten Ausschüsse zu überweisen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlage zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. Februar 1988, 13 Uhr ein.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß dies nach Karneval liegt. Da ich aber weiß, daß die Einstellung der Abgeordneten zu Karneval, Fastnacht oder Fasching sehr unterschiedlich ist,

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Einheitlich positiv, Herr Präsident!)

beschränke ich mich darauf, Ihnen ein gutes Wochenende zu wünschen.
Die Sitzung ist geschlossen.