Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit ungefähr einem Jahr ist die Berlin-Politik in Bewegung gekommen. Jedenfalls ist seit dem Abschluß des Viermächteabkommens nicht mehr so konstruktiv über Rang, Aufgabe und Perspektiven Berlins diskutiert worden wie zur Zeit. Dabei sind Konturen einer aktiveren Rolle der Stadt im West-West- und im WestOst-Dialog deutlich geworden.
Gerade bei dieser Debatte und den Anträgen, die vorliegen, zeigen sich Gemeinsamkeiten über Fraktionsgrenzen hinweg. Dabei muß ich ausdrücklich das ausklammern, was von seiten des Abgeordneten Sellin vorgetragen worden ist. Wenn Sie, Herr Sellin, nicht in dem Verdacht stünden, dies vor allen Dingen ideologisch begründet vorzutragen, würde ich Ihnen ein Privatissimum über die tatsächliche, wirtschaftliche, rechtliche und politische Situation anbieten. Aber ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist.
Die Gemeinsamkeiten, die es über Fraktionsgrenzen hinweg gibt, sind allerdings zu begrüßen.
Der SPD-Antrag greift beispielsweise Ziele und Anliegen auch des Senats und der Bundesregierung auf. Die meisten Vorschläge sind bereits umgesetzt oder
4110 Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 59. Sitzung. Bonn, Freitag, den 5. Februar 1988
Regierender Bürgermeister Diepgen
aber in Arbeit. Das geht vom Stromverbund über die Bemühungen um eine moderne Eisenbahnverbindung von Hannover nach Berlin, die Forderung nach mehr internationalen Konferenzen — insbesondere KSZE-Folgekonferenzen — in Berlin bis hin zu unserem Verhältnis zu den Schutzmächten.
Aber es gibt auch grundlegende Unterschiede in den Positionen, die ich nicht verschweigen möchte. So kann sich z. B. der Aufruf im Antrag der SPD-Fraktion zu einer wirklichen Versöhnung mit dem Umland nicht an uns, d. h. den Westen, richten, sondern doch wohl nur an diejenigen, die mit Mauer und Schußwaffe unfriedliche Grenzen errichtet haben.
Ich vermisse auch das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen oder zur Einheit der Nation, wie es beispielsweise der Kollege Schmude in seinem Beitrag in der Debatte zur Lage der Nation abgegeben hat.
Aber diese und andere Bedenken gegen Hintergründe, gegen Grundlagen des SPD-Antrages will ich ausdrücklich zurückstellen und hervorheben: Ich begrüße, daß sich mit diesem Antrag der SPD Möglichkeiten zu Gemeinsamkeiten — jedenfalls zu mehr Gemeinsamkeiten — eröffnen, die in der Berlin- und darüber hinaus in der Deutschlandpolitik im ganzen von großer Bedeutung sind. Diese Gemeinsamkeiten erstrecken sich vor allem auf praktische Maßnahmen und Vorhaben zum Wohle Berlins und der Deutschen in beiden Staaten. Und diese praktischen Maßnahmen verändern die innerdeutsche Wirklichkeit auch eher als manche Theoriedebatte. Es darf bei der Erörterung einer Berlin- und Deutschlandpolitik der 90er Jahre nach meiner festen Überzeugung zwischen den Parteien, aber vor allem zwischen Ost und West eben nicht darum gehen, nur das Bestehende zu wahren, sondern es muß darum gehen — und dabei nehme ich Formulierungen auf, die hier bereits gefallen sind —, gegebene oder neue Handlungsmöglichkeiten nüchtern, illusionslos, aber auch entschlossen zu nutzen.
Eine Berlin-Strategie in diesem Sinne muß folgende Elemente, die ich hier stichwortartig vortragen möchte, enthalten:
Erstens. Berlin muß in alle Fortschritte der Ost-West-Beziehungen und insbesondere der innerdeutschen Beziehungen voll einbezogen werden. Das ist die Kanzler-Maxime, von Helmut Kohl beim Besuch des Generalsekretärs Honecker hier in Bonn und auch vom Kollegen Schäuble soeben besonders deutlich hervorgehoben. Das ist auch — neben den wichtigen Einzelfragen des Luftverkehrs — der Kernpunkt der Berlin-Initiative des Westens. Unbeschadet des Status von Berlin sind Verbesserungen der Lage in und um die Stadt möglich. Der Kern dieses Status muß dabei von allen Beteiligten sozusagen als ruhender Pol akzeptiert werden. Das ist nicht mit einer „Käseglocke" zu verwechseln, die man über Entwicklungen in und um Berlin stülpen möchte. Gerade dieser Status der Stadt steht Entwicklungen nicht im Wege, ganz im Gegenteil: Wer Berlin als Hemmnis für eine fruchtbare Entwicklung der West-Ost-Beziehungen heute noch immer mißversteht, der dient den Ost-West-Beziehungen insgesamt nicht. Eine Strategie für Berlin muß sich vielmehr darum bemühen, solche Hemmnisse abzubauen. Berlin muß materiell so anziehungskräftig sein, daß jede Nichtteilnahme oder Boykottstrategie für den Osten eher Nachteile als Vorteile bringt. Der Weg an Berlin vorbei muß politisch teurer sein als der Weg nach Berlin oder über Berlin.
Zur Erreichung dieses Ziels bedarf es — bei strikter Einhaltung, voller Anwendung und vor allen Dingen auch Ausschöpfung der Möglichkeiten des Viermächteabkommens — besonderer Anstrengungen in Berlin. Aber es bedarf genauso der solidarischen Anstrengung des Westens. Die Westbindung und ihre Entwicklung, ihre Entwicklungsmöglichkeit, so wie sie im Viermächteabkommen auch ausdrücklich genannt ist, schafft die Grundlagen und die Handlungsfähigkeit nach Osten. Vor dem Hintergrund der Zurufe in dem kleinen Frage- und Antwortspiel will ich hier ausdrücklich betonen: Hinsichtlich dieser Punkte, nämlich Entwicklung der Bindung nach Westen bei gleichzeitiger Entwicklung der Handlungsmöglichkeiten nach Osten, auch für den Berliner Senat, gibt es eine abgestimmte Politik, eine abgestimmte Politik mit den Schutzmächten und der Bundesregierung — damit es hier keinen Zweifel über diese Tatsache gibt.
Zweitens. Eine wichtige Voraussetzung für weitere Attraktivität von Berlin ist die langfristige Berechenbarkeit der Berlinförderung.
Das braucht der Arbeitnehmer in der Stadt, das braucht die Wirtschaft. Berlinförderung ist dabei keine Subvention im üblichen Sinne. Sie ist vielmehr ein Ausgleich politisch begründeter Standortnachteile, ein Ausgleich der Folgen des Zweiten Weltkrieges, die die Stadt nach wie vor belasten.
Mir erscheint es auch heute richtig, nochmals — wie auch in meinem letzten Beitrag hier im Bundestag — auf das 3. Überleitungsgesetz hinzuweisen. Die Bundesrepublik Deutschland als Ganze hat eine Rechtspflicht gegenüber der Stadt übernommen.