Rede von
Manfred
Reimann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Vorruhestandsregelung war ein Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Zwar hat sie sich als arbeitsmarktpolitischer Knüller nicht erwiesen, aber immerhin haben, wie wir hören, rund 115 000 ältere Arbeitnehmer sie in Anspruch genommen. Wenn sie jetzt gestrichen wird, geht es wohl einmal wieder ums Sparen, obwohl der Wegfall des Vorruhestands bei einer ständig steigenden Arbeitslosigkeit den Ruin der Kassen der Bundesanstalt für Arbeit nicht aufhalten wird,
insbesondere nicht, nachdem man sich der Nürnberger Gelder zur Entlastung des Bundeshaushalts fleißig bedient hat.
Die Öffentlichkeit interpretiert dieses Vorgehen richtigerweise als weiteren Schritt der Umverteilung von unten nach oben. Es ist eine Schande, wenn die Hochverdienenden in der Bundesrepublik mehr als die Hälfte der Steuerentlastung von 45 Milliarden DM einstecken, aber für den Vorruhestand nicht 3 Milliarden zur Verfügung stehen oder aufgebracht werden können. Hier wären Staatsausgaben sinnvoller angelegt als bei der Steuersenkung für die Reichen.
Da wettern der Herr Kohl und der Herr Strauß vereint gegen hohe Lohn- bzw. Sozialkosten in der Bundesrepublik, sie verlieren aber kein Wort darüber, wenn Herr Huber, der im Zusammenhang mit der WienerWald-Affäre zurückgetretene Präsident der Bayerischen Landesbank 2,9 Millionen DM an Abfindung erhält. Was sagen dazu eigentlich die Arbeiter der Maxhütte? Was sagen dazu die Arbeiter in Rheinhausen? Was sagen Sie dazu?
Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnte die Vorruhestandsregelung eine erhebliche Entlastung der Massenarbeitslosigkeit bewirken, während das Auslaufen des Vorruhestands den Arbeitsmarkt in unverantwortlicher Weise belastet.
Aber dem Arbeitsminister ging es 1984
auch um einen menschenwürdigen Abschluß eines langen Arbeitslebens. Ich zitiere: Die Vorruhestandsregelung soll ein konkreter Beitrag sein, den Arbeitslosen zu helfen, und sie ist ein Beitrag zur Humanisierung der Altersgrenze. — Heute reden Sie davon, daß das gegen die Natur der Menschen sei. Herr Minister, ich kann Ihnen nur sagen: Sie haben hier am Rednerpult schlechtere Sachen schon besser verkauft.
Seinen Kabinettskollegen Kohl und Bangemann geht es heute um alles mögliche, nur nicht mehr um die humanisierenden Motive.
Zukunftsbewältigung heißt das Zauberwort. Meine Damen und Herren, wer heute von der Verlängerung der Lebensarbeitszeit als Zukunftsbewältigung redet, hat entweder die Welt, in der wir leben, nicht begriffen, oder er ist ein rücksichtsloser Zyniker. Er weiß, oder er will nicht wissen, wieviel Menschen nach einem anstrengenden Arbeitsleben von 35 bis 40 Arbeitsjahren ausgelaugt und ausgebrannt sind, obwohl sie mit 55 Jahren noch keine alten Menschen sind. Viele schleppen sich förmlich hin zur 59er Regelung, was bedeutet, ein Jahr lang arbeitslos zu sein und dann in die Rente zu gehen. Derjenige, der es gesundheitlich noch kann, bleibt doch von selbst länger im Arbeitsprozeß, vielleicht bis 65 oder, wenn es nach Herrn Kohl geht, bald noch länger.
Wie sieht denn das Leben eines Industriearbeiters heute aus? 1986 hatte jeder 16. Erwerbstätige einen Arbeitsunfall erlitten. Wer kennt den Gesundheitsverschleiß am Arbeitsplatz durch den Umgang mit gefährlichen Stoffen, durch die Auswirkungen von Monotonie, Lärmbelästigung, Krankheiten durch Allergien? Wer kennt die Not eines erkrankten Arbeitnehmers, der seine Berufskrankheit nachzuweisen hat? Meine Damen und Herren, fragen Sie doch einmal die Betroffenen. Es gibt kaum noch einen 60jährigen Bauarbeiter. Die Leute sind mit 55 Jahren verschlissen.
Dasselbe gilt für Schweißer, Spritzlackierer, Näherinnen, für viele andere in der Industrie.
Was ist mit der großen Schar der Schichtarbeiter, der Stahlarbeiter und der Bergarbeiter? Ein Schichtarbeiter ist kaputt, wenn er 30 bis 35 Jahre Schicht gearbeitet hat. Er hätte sich seine Rente mit 55 Jahren redlich verdient. Dann müssen Sie noch eine Kommission einsetzen, um so etwas festzustellen.
Deshalb begrüßen wir Sozialdemokraten jede Regelung des Vorruhestands, insbesondere bei Menschen, die sich in ihrem Arbeitsleben vorzeitig verbraucht haben und auch bereit sind, den nachrückenden jüngeren Menschen Platz zu machen. Geben Sie denen eine Chance, schrittweise kürzerzutreten. Die Vorschläge der Gewerkschaften greifen wir auf. Wir begrüßen sie. Der Gesetzgeber aber sollte an dieser Stelle heute das mindeste, eine Verlängerung der jetzigen Regelung, beschließen. Deshalb bitten wir Sie: Stimmen Sie dem Vorschlag der Sozialdemokraten zu.