Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Auswirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, insbesondere der Frauen" verlangt.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Auswirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes auf die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, insbesondere der Frauen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil es hohe Zeit ist, hier im Parlament auch darüber zu sprechen, was das Beschäftigungsförderungsgesetz wirklich gebracht hat, das die Bundesregierung und Sie von den Regierungsfraktionen vor einem Jahr gegen uns Sozialdemokraten durchgesetzt haben. Es ist ja so, daß weder die Öffentlichkeit noch wir heute noch auf Sprüche der Regierung oder auf Vermutungen angewiesen sind. Die Nachrichten, die wir aus den Betrieben, aus den Arbeitsverwaltungen und aus den Gewerkschaften bekommen, sind nicht gut. Das Beschäftigungsförderungsgesetz wirkt sich, wie befürchtet, zu Lasten der arbeitenden Menschen, besonders belastend für immer mehr berufstätige Frauen und junge Menschen, aus, die nach der Ausbildung ins Berufsleben eintreten.
Was haben Sie, Herr Blüm, doch im letzten Jahr den Mund voll genommen! Das Beschäftigungsförderungsgesetz, so haben Sie versprochen, werde zu mehr Einstellungen führen. Dann, als Sie die gesetzlich gewollte Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer nicht mehr leugnen konnten, haben Sie zynisch hinzugefügt: Ein befristetes Arbeitsverhältnis oder eines mit schlechteren Arbeitsbedingungen sei immer noch besser fürdie Betroffenen, als arbeitslos zu sein. Ähnliche Töne hört man heute auch noch aus dem Regierungslager.
Heute, ein Jahr nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz, Herr Kolb, wird jedem klar, wie sehr der Arbeitsminister auch hier wieder mit dem Vertrauen der Arbeitnehmer Schindluder getrieben hat
und daß er auch in dieser Frage die Menschen an der Nase herumführte. Das zeigen auch, aber nicht nur die Zahlen der Untersuchungen der Gewerkschaft Textil-Bekleidung. Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat eben nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Es bewirkt vielmehr, daß für normale Arbeitsplätze, die, aus welchem Grund auch immer, neu besetzt werden müssen, jetzt Frauen und Männer verstärkt eingestellt werden, die häufiger befristete Arbeitsverträge ohne Sicherheit und ohne Kündigungsschutz bekommen. Es bewirkt, daß das Leiharbeitsunwesen ins Kraut geschossen ist, und es bewirkt, daß besonders Frauen und junge Menschen, also Gruppen, denen Sie sonntags auch heute noch Ihre besondere Fürsorge versprechen, belastet werden, weil ihnen einseitig diese belastenden Formen aufgelastet werden.Meine Damen und Herren, das ist arbeitnehmerfeindlich, und es zeigt darüber hinaus, wie falsch Ihre Auffassung ist, man könne mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten Arbeitslosigkeit bekämpfen oder gar überwinden.
Das geht nicht. Lassen Sie mich fragen: Was hat eigentlich die arbeitslose junge Frau davon, daß ihre Schwester nur befristet oder rechtlich schlechter abgesichert eingestellt wird? Was haben die vielen jungen Arbeitslosen davon? Denen geht es keinen Deut besser, wenn ihre Altersgenossen immer häufiger unter schlechteren Bedingungen eingestellt werden, wenn weniger Kündigungsschutz Wohlverhalten erzwingen soll und wenn Arbeitsplatzsicherheit zum Fremdwort wird.
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16588 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Frau Dr. Däubler-GmelinDas Beschäftigungsförderungsgesetz — das wird heute noch klarer als vor einem Jahr — muß aufgehoben werden. Interessant ist aber auch, wie die Bundesregierung mit Berichten und Zahlen über Auswirkungen ihrer Gesetze umgeht. Klar, wenn die Berichte ins Konzept passen, werden sie hochgejubelt, und wenn nicht, werden sie einfach bestritten, abgewertet oder negiert. Das ist schade, und zwar deshalb, weil sich die Bundesregierung nicht nur einer Möglichkeit zur schnellen Korrektur falscher Gesetze begibt, sondern durch ein solches Vorgehen auch noch ein zweites Mal auf den Betroffenen herumtrampelt.
Meine Damen und Herren, zwar sehe ich Frau Ministerin Süssmuth heute nicht im Saal, aber ich glaube, es sollte ein Vorfall zur Sprache gebracht werden, der besonders ihr Vorgehen in den Vordergrund rückt. Frau Ministerin Süssmuth hat im Oktober des vergangenen Jahres als auch für Frauenfragen zuständige Bundesministerin auf dem Frauenkongreß der Gewerkschaft Textil-Bekleidung unter viel berechtigtem Beifall und auf eindrucksvoll sympathische Weise darüber geredet, sie wolle gute Zusammenarbeit und stehe zu den Dingen, die sie verspreche. Weil sie die Klagen vieler Frauen über die Gesetze dieser Bundesregierung hörte, hat sie ausgeführt, sie werde sie prüfen und werde dann, wenn sich Frauenfeindlichkeit herausstelle, eine schnelle Änderung anregen.Die Frauen haben sie beim Wort genommen, haben Briefe geschrieben und Zahlen vorgelegt. Und was ist passiert? Hat Frau Ministerin Süssmuth das aufgegriffen und prüfen lassen?
Nein, während noch die Druckerpresse mit den Meldungen über die Zahlen und Untersuchungen lief, hat sie einen Brief an den Kollegen Blüm als den für das Beschäftigungsförderungsgesetz und seine Auswirkungen zuständigen Bundesminister veröffentlicht, in dem nichts von Prüfung oder von Untersuchung oder gar von Änderungsvorschlägen steht; vielmehr steht darin die Beteuerung, sie habe den Anstoß zu dieser Untersuchung nicht gegeben,
und im übrigen sage diese Untersuchung, die sie — wie sie selbst feststellt — noch gar nicht im Detail kenne, nichts aus.Frau Ministerin Süssmuth, auch wenn Sie heute nicht da sind, sage ich Ihnen: Diese Haltung muß die Frauen draußen im Lande enttäuschen. Lassen Sie sich sagen: Wer Fraueninteressen vertreten will und wer zu seinen Ankündigungen stehen will, der — oder die — muß auch dann Konflikte aufnehmen und sie durchstehen, wenn er — oder sie — weiß, daß das unbequem ist; sonst verliert man an Glaubwürdigkeit.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, ich bin sowieso gerade fertig.
Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Däubler-Gmelin, es ist ein starkes Stück, wenn Sie jetzt das Beschäftigungsförderungsgesetz für die Arbeitslosigkeit insbesondere von Frauen verantwortlich machen wollen,
ein Gesetz, das noch nicht fünf Monate in Kraft ist,
— Entschuldigung, das aber jedenfalls nicht lange genug in Kraft ist, als daß man in der ganzen Entwicklung schon absehen könnte, welche Auswirkungen es auf Dauer haben wird. Die Wahrheit ist doch, daß Sie nicht in der Lage waren, die Arbeitslosigkeit von Frauen bekämpfen; diese ist unter den SPD-Kanzlern ständig gestiegen, und zwar überproportional im Verhältnis zu den der Männer.
Ihr politisches Unvermögen in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wollen Sie jetzt verschleiern, indem Sie gegen ein Gesetz zu Felde ziehen, das in seinen Anlagen gerade dazu geeignet ist, Frauen in ihrer jeweiligen spezifischen Situation zu helfen,
und davon will ich hier reden.
Ich glaube, daß es auf dieses Gesetz und auf andere Einflüsse zurückzuführen ist, daß z. B. im Monat März zum erstenmal die Arbeitslosigkeit von Frauen zurückgegangen ist, obwohl, wie wir alle j a wissen, ständig zusätzlich Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen.
Meine Damen und Herren, ihre Argumente stehen auf tönernen Füßen. Sie beziehen sich auf die Untersuchung der Gewerkschaft Textil-Bekleidung und wollen dann geltend machen, daß diese Untersuchung, die ich für wenig aussagekräftig halte, das beweist, was Sie eben vorgetragen haben. Dort steht — ich zitiere —, die „überproportionale Betroffenheit von Frauen" sei jetzt für den Bereich Textil und Bekleidung festgestellt. Die Wirklichkeit ist doch aber die, daß gerade in diesen beiden Berufssparten Textilindustrie und Bekleidungsindustrie überproportional viele Frauen beschäftigt sind, nämlich zum einen 52 % und zum anderen sogar 81 %.
Ich spreche einmal einen Teilbereich des Beschäftigungsförderungsgesetzes an: Wir haben die Teilzeitarbeit aufgewertet und sozial besser abgesichert. Damit haben wir das getan, was viele Frauen wünschen: daß sie nicht ganztägig erwerbstätig sein müssen, sondern auch halbtags arbeiten können, denn sie stehen doch vor dem Problem, wie sie ihre unterschiedlichen Pflichten in Familie und Beruf miteinander vereinbaren können, und Frauen
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Frau Verhülsdonk
sind es, die schon lange fordern, daß sie größere Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung erhalten. Wir haben mit diesem Gesetz die Möglichkeit eröffnet, daß sich in den nächsten Jahren mehr und qualifiziertere Teilzeitarbeit anbietet. Wir haben Ihnen also eine gangbare Brücke gebaut. Aber es ist ja bekannt, daß Sie an einer solchen Brücke nicht interessiert sind. Sie können sich den Menschen nur so vorstellen, daß er während seines ganzen Lebens ganztags beschäftigt sein muß.
Von diesen Rezepten aus der Mottenkiste wollen die Frauen schon lange nichts mehr wissen. Langsam dämmert das auch ihnen, wie man in letzter Zeit erkennen konnte. Die Frauen erwarten von uns jetzt, daß wir für ihre Probleme mehr Offenheit, mehr Phantasie zeigen
und daß wir auch unkonventionelle Wege gehen. Diese sind wir mit diesem Gesetz gegangen. Meine Kollegen werden das ja noch an anderen Punkten darlegen.
Immerhin muß man doch sehen, daß der Teilzeitarbeitsmarkt in unserem Lande ungewöhnlich unterentwickelt ist. In Norwegen sind es 18, 3 %, in Schweden 24,3 %, bei uns nur 10 %. Da mußte endlich etwas geschehen. Daß Sie das all die Jahre über nicht getan haben, Frau Däubler, und zwar aus ideologischen Gründen, war ein schlechter Dienst an den Frauen, vor allen Dingen an den Frauen, die nach einer Familienphase wieder langsam in die Arbeitswelt eingeliedert werden wollen.
Sicherlich ist nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, daß es Arbeitgeber gibt, die dieses Gesetz nicht richtig anwenden oder sogar mißbrauchen. Ich spreche hier von dem Bereich der geringfügigen Arbeitsverhältnisse. Aber weil es schwarze Schafe unter den Arbeitgebern gibt, kann man doch nicht die ganze Sache schlechtmachen, das ganze Gesetz schlechtmachen. Die Lehre kann doch nur sein, daß wir weiter aufklären müssen, und zwar Arbeitgeber und Arbeitnehmer, daß wir beiden klarmachen müssen, welche Chancen die Flexibilisierung, die dieses Gesetz auf dem Arbeitsmarkt gebracht hat, auf Sicht für beide Seiten bringen wird.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz schafft die beste Möglichkeit, die Arbeitszeit mehr an die Menschen anzupassen, und zwar für Männer und Frauen, für junge Eltern und vor allem auch für ältere Arbeitnehmer, die einen gemächlicheren Übergang in das Alter haben wollen. Deswegen haben wir dafür gesorgt, daß für die Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Freiheit eröffnet worden sind. Selbstverständlich bedeutet das auch für beide Seiten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, mehr Eigenverantwortung.
Aber ich weiß natürlich: Solche Gedankengänge sind Ihnen fremd. Sie wollen den Menschen an die Arbeitszeit anpassen und nicht umgekehrt, wie wir es uns vorstellen.
Frau Abgeordnete, darf ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich will nur noch eine Konsequenz ziehen. Wir gehen den Weg, Herr Vogel, daß wir den Menschen Freiheit und Eigenverantwortung zutrauen. Wir trauen auch den Frauen zu, daß sie ihre Belange selbst regeln können. Das ist ein guter Weg.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einmal grundsätzlich anmerken: Ich bitte sehr darum, daß die Rednerinnen und Redner die vorgesehene Redezeit einhalten. Es ist dem amtierenden Präsidenten immer unangenehm, wenn er darauf hinweisen muß. Das möchte ich ganz grundsätzlich sagen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Verhülsdonk, man hätte meinen können, Sie reden vom Arbeitszeitverordnungsgesetz der GRÜNEN und nicht vom Beschäftigungsförderungsgesetz.Meine Damen und Herren, in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung" vom 29. April 1986 steht, daß Arbeitgeberpräsident Esser ein Jahr nach Verabschiedung des Beschäftigungsförderungsgesetzes darauf hingewiesen hat, daß die Schwarzmalerei der Bonner Oppositionsparteien und der Gewerkschaften durch die positiven Wirkungen dieses Gesetzes eindeutig widerlegt seien.
Er hat recht. Das Gesetz hat nämlich genau die Wirkungen erzielt, die von Unternehmerseite und auch von der Regierung bezweckt wurden. Es ging nie um Beschäftigungseffekte. Es ging Ihnen immer um die weitere Ausbeutbarkeit und Verfügbarmachung der abhängig Beschäftigten im Interesse der Unternehmen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit.
Die Segnungen dieses Gesetzes haben die Unternehmen weidlich für ihre Belange ausgenutzt. Die Untersuchung der Gewerkschaft Textil-Bekleidung hat dies ausführlich nachgewiesen. Seit dem 1. Mai 1985 sind hochgerechnet 10 000 befristete Arbeitsverträge abgeschlossen worden. 67,4 % davon wurden von Frauen besetzt. Dies sind nach der Untersuchung jedoch keine neuen, zusätzlichen Erwerbsarbeitsplätze. Es handelt sich um Neubesetzungen infolge der gewöhnlichen Fluktuationen und der Freimachung von Erwerbsarbeitsplätzen durch die Inanspruchnahme von Vorruhestand. Diese Arbeitsplätze waren vorher Dauererwerbsarbeits-
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Frau Zeitlerplätte und wurden jetzt umgewandelt in befristete Arbeitsplätze von sechs bis achtzehn Monaten.
— Hätten Sie zugehört, dann wüßten Sie, wovon ich rede. — Über 50 % dieser Arbeitsverträge sind auf nur sechs Monate begrenzt, und die meisten davon nehmen Frauen ein. Die Untersuchung macht also ganz klar: Vor allem die Frauen sind Opfer dieses Gesetzes. Frauen, die eventuell Mutterschutz in Anspruch nehmen, waren für die Unternehmer ja immer ein Störfaktor. Durch die ungeschützten Be- schäftigungsverhältnisse gehen die Risiken dieser Störung ausschließlich zu Lasten der Arbeitnehmerin. Der Mutterschutz existiert durch das Gesetz faktisch nicht mehr. Auch das von der Regierung so hoch angepriesene Elternurlaubs- und Erziehungsgeldgesetz wird in Verbindung mit befristeten Arbeitsverträgen zur Farce.
— Hören Sie zu! — Nicht nur, daß durch dieses Gesetz die Arbeitsplatzgarantie nicht gewährleistet wird, sie kann aus finanziellen Gründen gar nicht erst in Anspruch genommen werden. Ich möchte nicht wissen, wie Untersuchungen in anderen Wirtschaftszweigen ausfallen würden.Diese Regelungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes bewirken, daß die weibliche Arbeitskraft für den Unternehmer neutral wird. Frau zu sein ist nun kein Hindernis mehr. Im Gegenteil, solange bei Frauen immer mitgedacht wird, daß ihnen die Alternativrolle Hausmutter offensteht, was in den meisten Fällen ja weder der Realität noch den Wünschen der Frauen entspricht, können sie, ohne moralische Entrüstung bei den übrigen Arbeitnehmern und den Gewerkschaften hervorzurufen, als Manövriermasse auf dem Arbeitsmarkt hin- und hergeschoben werden. Das heißt, sie können nach Belieben eingestellt oder entlassen werden. Durch das Beschäftigungsförderungsgesetz werden Frauen verstärkt in befristeten Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt, in denen 'sie keine Rechte mehr haben.
Die Verträge sind gering oder gar nicht abgesichert, die Beschäftigung ist meistens monoton und wenig qualifiziert.
Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz wurde erreicht, daß die Frauen zu Tagelöhnern in unserer ach so modernen Gesellschaft wurden.
Weil wir uns für die Frauen einsetzen, sind unsere Forderungen ganz klar: keine befristeten Arbeitsverhältnisse, Absicherung von Teilzeitarbeit ab der ersten Erwerbsarbeitsstunde, Verbot von Jobsharing und Kapovaz und radikale Arbeitszeitverkürzung.
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über Jahre hinweg haben alle Fraktionen des Hauses ein dichtes Regelwerk für das Arbeits- und Arbeitsvertragsrecht entwickelt. Jetzt stehen wir vor dem Ergebnis, daß sich diese zahllosen Regeln zum Teil gegen die wenden, die sie schützen sollen. Sie haben dem Arbeitsmarkt die notwendige Flexibilität genommen. Sie haben dazu geführt, die Mauer zwischen Arbeitslosen und denen, die Arbeit haben, zu erhöhen. Und sie haben dazu geführt, die Arbeitslosigkeit zu zementieren. Wo alles reglementiert ist, bewegt sich eben nichts mehr.Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz haben wir eine erste Auflockerung der verkrusteten Arbeitsmarktstrukturen erreicht. Ich stimme den Damen und Herren der Opposition zu: Das Gesetz ist unzulänglich. Aber hier hören unsere Gemeinsamkeiten auch schon auf.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist unzulänglich, weil es die Beweglichkeit des Arbeitsmarktes noch nicht in ausreichendem Maße garantiert. Es ist aber jedenfalls ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sie sprechen von Sozialabbau und Frauenfeindlichkeit. Wir sagen: Befristete Arbeit ist besser als unbefristete Arbeitslosigkeit. Auf die Frage von Frau Däubler-Gmelin, was die arbeitslose Frau davon habe, wenn ihre Schwester einen befristeten Arbeitsvertrag bekommt, antworte ich: Sonst wären sie beide arbeitslos!
Meine Damen und Herren, das Beschäftigungsförderungsgesetz baut eine Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Arbeit. Es erleichtert den Arbeitslosen den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben. Viele Unternehmen haben die Möglichkeiten des befristeten Arbeitsvertrages genutzt, anstatt in Überstunden auszuweichen — das war ja eines der Hauptziele —,
und das, obwohl die Gewerkschaften systematisch versuchen, solche Arbeitsverträge zu boykottieren. Sie argumentieren damit, daß über das Beschäftigungsförderungsgesetz ein Rotationssystem in Gang käme: alle 18 Monate ein neuer Mann oder eine neue Frau am alten Platz. Meine Damen und Herren, niemand glaubt doch wohl im Ernst, daß sich ein Unternehmer so unwirtschaftlich und so irrational verhalten wird, daß er. einen Arbeitneh-
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Dr. Graf Lambsdorffmer, den er kennt, der zuverlässig ist und mit dem er zufrieden ist, entläßt
und einen anderen einstellt, der lange und teure Einarbeitungszeiten und Anlernzeiten bedeutet. Diese Argumentation ist absurd.
Nun soll das Beschäftigungsförderungsgesetz — wir haben es gehört — auch noch frauenfeindlich sein. Frau Verhülsdonk hat vollständig recht. Der Abschluß von Teilzeitarbeitsverträgen, von Verträgen über Arbeit auf Abruf und Jobsharing sind durch das Beschäftigungsförderungsgesetz überhaupt erst arbeitnehmerfreundlich und auch frauenfreundlich und frauengerecht ausgestaltet worden.
Aber hier liegt eine der Hauptschwierigkeiten bei Ihnen und auch bei den Gewerkschaften, Frau Däubler-Gmelin, nämlich der Mangel an Einsicht in eine sich täglich wandelnde Arbeitswelt.
Den Einheitsarbeitnehmer wird es immer weniger geben. Je kürzer die Arbeitszeit, die Sie fordern, um so mehr andere Arbeitszeiten, um so vielfältigere Arbeitsverträge, um so immer differenzierter denkende und handelnde Arbeitnehmer wird es geben.
Gerade die Frauen, die Beruf, Haushalt und Mutterpflichten miteinander verbinden wollen, werden der Motor dieser Entwicklung sein. Ich entnehme übrigens einer Äußerung von Johannes Rau auf dem Hamburger SPD-Kongreß,
daß er wenigstens ahnt, was not tut, wofür er natürlich wütenden Protest des IG-Metall-Vorstandsmitglieds Janßen geerntet hat.
Meine Damen und Herren, die Inflexibilität des Arbeitsmarktes ist ein Hauptproblem bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Im Abbau von Überregulierung allgemein liegt bei uns ein ungenutztes Wachstumspotential. Noch so hohe Wachstumsraten können und werden nicht ausreichen, um alleine den entscheidenden Schritt beim Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun. Dazu sind zusätzliche Anstrengungen erforderlich. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften müssen endlich begreifen, daß sie die Daten auf dem Arbeitsmarkt setzen und dafür auch verantwortlich zeichnen müssen.Auch auf dem Arbeitsmarkt muß dem Markt wieder mehr Geltung verschafft werden.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist ein erster und richtiger Schritt, die festgefahrenen Strukturen zu lockern. Wir werden auch weiterhin die Gesetzgebung im Bereich des Arbeitsmarktes durchforsten. Unser Ziel ist es nämlich, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes wiederherzustellen, damit alle Arbeitswilligen eine gleiche, ein echte Chance für Arbeit haben.Danke sehr.
Das Wort hat der Abgeordnete Lutz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war gräflicher, das war menschenverachtender Zynismus,
was wir soeben hörten. Das war eine Ideologie, die den Menschen der Produktion unterwirft und nicht die Produktion dem Menschen.
Graf Lambsdorff, wenn ich wüßte, daß ethische Überlegungen Ihr Handeln mitbestimmen, würde ich Sie auffordern: Geben Sie den arbeitenden Menschen ihre Würde zurück, die Sie ihnen mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz genommen haben. Ich würde Sie beschwören: Sorgen Sie dafür,
daß wieder der aufrechte Gang das Fortkommen im Betrieb fördert .und nicht Kriechertum und Duckmäuserei, wie es seit 1985 wieder „in" ist.
Ja, ,ich würde mich nicht scheuen, Sie zu bitten: Gestehen Sie einen Fehler ein, und formulieren Sie mit uns gemeinsam gesetzliche Standards, die den Menschen und seine wirtschaftliche Existenz nicht länger vom Augenbrauenzucken eines Vorgesetzten abhängig machen.
— Wissen Sie, bei uns zu Hause brüllen nur die Ochsen, und das klingt schöner.
Aber leider kann man an ein Gewissen nur appellieren, wenn es vorhanden ist. Deshalb bleibt mir
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Lutznichts anderes übrig, als an die Seite Ihres Wesens zu rühren, an der Sie noch ansprechbar sind. Bedenken Sie bitte, daß sich gedemütigte Arbeitnehmer mit dem Stimmzettel wehren werden.
Kein Vorgesetzter kann sie da beaufsichtigen. Keine Betriebsleitung kann ihnen eine Abmachung in die Wahlkabine schicken.
[SPD]: Sehr gut!)
Nehmen Sie Ihr Gesetz zurück, oder die von Ihnen Bedrängten werden sich bei der Bundestagswahl mit einem Rundumschlag Luft verschaffen, und sie werden den ersten Befreiungsschlag in Niedersachsen landen.
Graf Lambsdorff, kein einziger Arbeitsplatz, der nicht schon zur Besetzung anstand, ist durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz neu geschaffen worden.
Aber aus Hunderttausenden sicherer Arbeitsplätze wurden Jobs auf Zeit;
der Mutterschutz und der Schwerbehindertenschutz entfielen. Der Mensch und seine Arbeitskraft sind zum Kostenfaktor degradiert, beliebig abrufbar und immer dann in die Arbeitslosigkeit „abgelagert", wenn es sich nicht mehr rechnet.
Ist das ein Menschenbild, das man verantworten kann? Ist das die Gesellschaft, die die Schöpfer des Grundgesetzes wollten? Gewerkschafter Blüm, haben dafür Millionen von Kolleginnen und Kollegen gekämpft und gelitten? Die Röte, die Sie immer so schnell anfliegt, ist keine der Scham, und das macht mich betroffen.
Dieses Gesetz muß weg. Wir werden nach dem Machtwechsel 1987 ein Heidenstück Arbeit besonders auf dem Feld zu leisten haben, auf dem Sie am erfolgreichsten waren.
— Übrigens, Herr Kolb, der liebe Gott hat Mitleid mit den Menschen, und Sie haben das nicht.
Wir werden die Rechte des Arbeitnehmers nicht länger abbauen, wie Sie dies taten; wir werden sie ihm wieder zurückgeben,
denn der einzelne hat Anspruch auf den Schutz desGesetzgebers. Er braucht die Hilfe des Staates, umim Betrieb, im Büro Mensch bleiben zu können. Ermuß vom Kostenfaktor zum mitverantwortlichen Partner werden,
und das kann er nur, wenn er nicht unter dem Fallbeil des bereits vorbestimmten Kündigungstermins steht. Der Mensch braucht Betriebsräte, die ihm beistehen können, wenn er sein Recht fordert, und er braucht starke Betriebsräte, die auch die Möglichkeit besitzen, ihm beizustehen.
— Herr Kolb, der Mensch hat ein Recht auf ein Arbeitsumfeld, das seine Gesundheit schützt und seine Kräfte nicht überfordert. Das aber hat er nicht, wenn man ihn zu beliebiger Zeit in die Betriebe scheuchen darf und zu beliebiger Zeit nach Hause komplimentieren kann.Diese Willkür werden wir beseitigen. Wir brauchen eine andere Politik und andere Politiker.
Sie sind nicht einmal in der Lage, das Unheil, das Sie mit Ihrem Beschäftigungsförderungsgesetz angerichtet haben, zu korrigieren. Meine Damen und Herren, wie gut, daß Ihr Arbeitsvertrag mit dem Bürger im Januar 1987
abläuft.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Lutz kommt hierhin und hält eine Rede mit hohlem Pathos unmittelbar nach dem Hamburger SPDWirtschaftskongreß, wo ja über Arbeitslosigkeit gesprochen worden ist. Dieser Vorgang ist schon bemerkenswert, denn die Strategie wird deutlich: Im Wahlkampfjahr wird die klassenkämpferische Kampagne, die versucht, unsere erfolgreiche Regierungsarbeit mit Norbert Blüm zu verunglimpfen, fortgesetzt.
Eine Verunglimpfung auf seiten der SPD ist notwendig — dieser Zwischenruf von Herrn Roth war ja sicherlich angebracht —, weil in Hamburg keine Rezepte angeboten wurden.
Und so schreiben auch die Kommentatoren großer deutscher Zeitungen über diesen Kongreß:Die SPD hat kein Wirtschaftsprogramm. Nach dem Stand der innerparteilichen Diskussion werden es die Sozialdemokraten nicht leicht haben, ihren Kompetenzanspruch für die Wirtschaftspolitik zu begründen.So die „Frankfurter Allgemeine".
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Müller
Auf diesem Kongreß ist, so berichten die Beobachter, auch noch ein weiterer bemerkenswerter Vorgang zu registrieren.
Das Vorstandsmitglied der IG Metall Janßen erhielt für seine demagogische Rede, die aber auch gar nichts zum Thema beigetragen hat, den meisten Beifall; so berichten die Beobachter.Die Debatte, die wir jetzt führen, ist nichts anderes als der Versuch, von dieser Inkompetenz abzulenken, und der Versuch, die Kampagne um den § 116 Arbeitsförderungsgesetz fortzusetzen. Als Ausgangspunkt der Diskussion, die wir jetzt zu führen haben, wird eine neuere Untersuchung der Gewerkschaft Textil-Bekleidung herangezogen; in fast jedem Beitrag von Ihrer Seite ist ja darauf abgehoben worden. Es handelt sich um eine Untersuchung, die Sie, verehrte Kollegen von der SPD, von einem „Märchen der Beschäftigungsförderung" und von einem „Trojanischen Pferd für die Profitinteressen der Unternehmen" sprechen läßt.
Meine verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie machen es sich da wesentlich zu leicht. Wenn man sich nämlich mit dieser Untersuchung etwas beschäftigt, kommt man zu dem Schluß: Hier wird versucht, durch eine angeblich objektivierende Umfrage Schlüsse zu ziehen, etwa: die Stammbelegschaft in den Betrieben wurde durch dieses Gesetz ausgezehrt — oder: für alle Frauen wurden nur noch befristete Arbeitsverhältnisse angeboten.
Diese Umfrage ist aber nur eine einzige Stichprobe und kann damit nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Ein einziges Beispiel mag dies belegen, und ich knüpfe an das an, was Frau Kollegin Verhülsdonk schon gesagt hat.Da spricht man von dem überproportionalen Betroffensein der Frauen, verschweigt aber, daß im Textil- und Bekleidungsbereich dieses Ergebnis ja geradezu schlüssig herauskommen muß, weil in diesen Wirtschaftszweigen überproportional Frauen beschäftigt sind.
So einfach ist das mit der Statistik.
Wer sucht, der findet, ist man geneigt zu sagen. Nur, seriös ist das nicht.
Was waren denn vor einem Jahr, und was sind denn heute noch die Argumente für dieses Gesetz? Zum einen das Senken der Einstellungshürde, zum anderen der Wegfall des Rechtfertigungszwangs im alten Gesetz. Und so sind auch unsere Erwartungen im positiven Sinne mehr als erfüllt worden. So ist es nicht zu einer massenhaften Umwandlung von Dauerarbeitsplätzen in Zeitarbeitsverträge gekommen, wie Sie gesagt haben. Und entgegen den Erfahrungen in früheren Aufschwungphasen ist es diesmal nicht zu einem gravierenden Anstieg von Überstunden und Sonderschichten gekommen.
Der befristete Arbeitsvertrag stellt sehr oft eine Tür zu einem Dauerarbeitsverhältnis dar, wobei man jetzt noch keine endgültigen und verläßlichen Zahlen vorlegen kann, da ja diese Zeitverträge anderthalb Jahre zum Teil ausgestaltet sind und das Gesetz erst ein Jahr in Kraft ist.Die Entwicklung des Arbeitsmarktes in kochentwickelten Volkswirtschaften, wie der unsrigen, vollzieht sich doch hauptsächlich im Dienstleistungsbereich. Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen im Handel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in den Banken, bei Versicherungen, im Gesundheitswesen, in der Rechts- und der Wirtschaftsberatung usw. In all diesen Branchen wird durch das Beschäftigungsförderungsgesetz die Hemmschwelle für Zehntausende von neuen Arbeitsverträgen herabgesetzt. Genau das war und genau das ist beabsichtigt.Meine Damen und Herren, die Arbeitslosigkeit ist zwar das größte Problem der heutigen Wirtschaftspolitik. Patentlösungen hat niemand anzubieten. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist ein Segen für Tausende geworden, die bisher vor der Tür gestanden haben.
Das Wort hat der Herr . Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition hat das Beschäftigungsförderungsgesetz im Frühjahr vergangenen Jahres hier mit der Begründung verabschiedet, ein zeitlich befristetes Arbeitsverhältnis sei besser als gar keine Arbeit — Originalton Blüm. Diese Begründung hatten Sie damals schon nicht ernstgenommen. Die Sozialdemokraten hatten mit großem Nachdruck vor der Entwicklung gewarnt. Die gegenwärtige Bundesregierung hat die Massenarbeitslosigkeit nie ernsthaft bekämpft. Gegen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit hatten Sie in völlig einseitiger Parteinahme für die Arbeitgeberseite schärfstens polemisiert; ohne die von der IG Metall 1984 erstrittenen Tarifverträge hätten wir heute an die hunderttausend Arbeitslose mehr.Die gewaltigen sozialen Umverteilungen nach 1982 zu Lasten der kleineren Einkommen haben nach Schätzungen des Sozialpolitischen Seminars der Universität Köln bis heute zu einem Verlust von etwa 400 000 Arbeitsplätzen geführt.
Auch dies war voraussehbar. Weniger Einkommenist weniger Kaufkraft und damit weniger Nach-
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Schreiner1 frage nach Produkten. Sie haben die Massenarbeitslosigkeit schamlos mißbraucht, um die Schäbigkeit Ihrer Motive bei der Verabschiedung des Beschäftigungsförderungsgesetzes zu verdecken und den Sozialstaat um so hemmungsloser zu plündern.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat nach den bisher vorliegenden Untersuchungen viele Zehntausende von Dauerarbeitsplätzen vernichtet und sozial ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse in schnellem Tempo vermehrt. Um Beispiele zu nennen: Die Zahl der Leiharbeitsplätze und der Umsatz der Menschenverleiher in der Bundesrepublik sind sprunghaft gestiegen. Bereits im Herbst 1985 lag die Anzahl der Leiharbeitsplätze um mehr als die Hälfte höher als ein Jahr zuvor. Die Schutzfunktion des Arbeits- und Sozialrechts geht weitgehend verloren, weil dieses Recht im Verhältnis zwischen Entleihbetrieben und Leiharbeitnehmern nur ausnahmsweise gilt.Ähnliche Verschlechterungen gelten für die Einkommen. In einem Wochenmagazin findet sich ein klassisches Beispiel für viele: Eine Firma kündigt ihrem Pförtner, der findet einen neuen Job — beim Arbeitnehmerverleiher; der verleiht ihn, wiederum als Pförtner, an die frühere Firma. Einzig der Stundenlohn des Pförtners liegt jetzt 2 DM unter dem alten Satz; der Verleiher will ja auch verdienen.Als weitere Alternative das Beispiel der Arbeit auf Abruf, die sogenannten Kapovaz-Verträge, die von Ihnen legalisiert wurden und deren Zahl insbesondere im Handelsbereich massiv angestiegen ist. Es handelt sich um Arbeitnehmer, besonders Frauen, die im voraus weder wissen, wann noch wie lange sie arbeiten.Diese Entwicklung zeigt: Ihre Gesetzgebung greift voll in den Kern der Voraussetzungen unserer Erwerbsgesellschaft ein. Ziel — dies ist der entscheidende Punkt — ist die sukzessive Aushöhlung des normalen Dauerarbeitsverhältnisses.
Das bisherige geschichtlich gewachsene normaleArbeitsverhältnis war für die Beschäftigten deshalbvon großem, ja geradezu von fundamentalem Wert,
weil der Dauerarbeitsvertrag ein stabiles, auf Dauer angelegtes Beschäftigungsverhältnis und damit eine langfristige Arbeitsperspektive ermöglicht und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine einigermaßen gesicherte Lebensplanung möglich macht.
Diese Dauerarbeitsverhältnisse als bisherige Normalarbeitsverhältnisse sind den Arbeitnehmernnicht in den Schoß gefallen; sie haben dafür viele Jahre und Jahrzehnte streiten müssen. Das normale Arbeitsverhältnis als Dauerarbeitsverhältnis war gerade auch ein großes Ziel der christlichen Arbeitnehmerschaft.
Diese Voraussetzungen zerstören Sie, und das ist der entscheidende strategische Punkt. Sie zerstören die Voraussetzungen des normalen Dauerarbeitsverhältnisses, und Sie zerstören damit nicht nur eine sichere Lebensplanung der Arbeitnehmerschaft, sondern Sie zerstören die Voraussetzung für die Sozialsicherungssysteme, die auf Dauerarbeitsplätzen aufbauen.
Der Kern ist: Die Stammbelegschaften werden immer kleiner, der Satellitenkranz von ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen wird immer größer.
Wenn man es ein wenig überhöht formulieren mag: Das normale Dauerarbeitsverhältnis war gewisser- maßen der historische Kompromiß zwischen den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Schichten und Klassen unserer Gesellschaft. Das Dauerarbeitsverhältnis war die tragfähige Grundlage für einen sozialen Konsens, der in diesem Land über viele Jahrzehnte gehalten hat.
Sie, Herr Bundesarbeitsminister, zerstören die Grundlagen dieses sozialen Konsenses, Sie zerstören die Fundamente des historischen Kompromisses im Arbeitsbereich, Sie zerstören die Fundierungen einer gesicherten Arbeits- und Lebensperspektive der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit ist es nicht Lambsdorff und nicht Bangemann, Sie sind es, der sich zum obersten Klassenkämpfer dieser Republik aufgeschwungen hat,
weil Sie drauf und dran sind, mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz wie mit vielen anderen Gesetzen die sozialen Grundlagen dieser Republik in einem Maße zu verschieben, daß der Sozialstaat auf dem besten Wege ist, vor die Hunde zu gehen.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1981, 1982 also in den letzten zwei Jahren der
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Bundesminister Dr. Blüm
Regierung Schmidt, gingen in der Bundesrepublik
820 000 Arbeitsplätze verloren.
1985 wurden 200 000 Arbeitsplätze neu geschaffen, 1986 werden es mindestens 300 000 sein. Also: 820 000 verloren, 500 000 gewonnen. Jetzt kommen die Vertreter des Arbeitsplatzverlustes und machen uns, den Vertretern des Arbeitsplatzgewinnes, Vorwürfe.
Das ist so ähnlich, als wenn eine Abbruchfirma der
Baufirma Vorwürfe macht, daß sie Häuser baut. Sie
können uns vorwerfen, daß wir nicht so schnell
bauen können, wie Sie abgebrochen haben. Das
stimmt. Aber das entspricht auch den Erfahrungen
eines Maurers. Sie brauchen nur einen Bulldozer,
um ein Haus einzureißen, und Sie brauchen Stein
für Stein, um es wieder aufzubauen. Das ist wahr.
— Schreiben Sie mit, Frau Fuchs — weil Sie sich gerade Notizen gemacht haben.
Sie haben in zwei Jahren 800 000 Arbeitsplätze verloren, und wir werden in zwei Jahren 500 000 Arbeitsplätze neu schaffen.
Freilich, die Frage ist, warum dieser Arbeitsplatzgewinn sich nicht unmittelbar in der gleichen Stärke in der Arbeitslosenstatistik niederschlägt. Das werden sich auch viele Bürger fragen.
Das liegt unter anderem daran, daß derzeit infolge der geburtenstarken Jahrgänge mehr junge Leute auf den Arbeitsmarkt kommen, als ältere ausscheiden. Es kommt hinzu, daß mehr Frauen als je zuvor wieder Arbeit nachfragen.
Deshalb erste Behauptung — Frau Däubler, immer mit Tatsachen —: 59 % des Arbeitsplatzgewinns sind Arbeitsplätze für Frauen. Die Frauen haben überproportional am Beschäftigungszuwachs partizipiert.
Ich sage das nicht mit einem Erfolgsgefühl. Hier handelt es sich ja um eine Aufholjagd. Hier handelt es sich ja darum, daß Benachteiligte ihre Benachteiligung aufholen müssen.
Ich will noch ein paar Zahlen nennen, immer Zahlen — ich beherrsche nicht die Phraseologie, die heute morgen hier vorgetragen wurde. 1982 waren 654 000 Lehrlinge Mädchen. Drei Jahre später sind es 744 000 weibliche Lehrlinge. Was ist mehr: 654 000 oder 744 000?
Immer mit Zahlen! Das ist immer gut. Adam Riese als Verbündeten zu haben, ist gegenüber der SPD immer gut.
Berufliche Qualifikation: 1982: 137 000 Frauen haben an Maßnahmen der beruflichen Umschulung und Fortbildung teilgenommen. Heute sind es 52 000 mehr.
Noch ein paar Fragen. Vielleicht beantwortet die SPD sie in der noch zur Verfügung stehenden Zeit. Teilzeitarbeit gegen Benachteiligung arbeitsrechtlich abzusichern, ist das für oder gegen die Frauen. Warum haben Sie die Teilzeitarbeit nicht abgesichert? Weil Sie ein Vorurteil gegen Teilzeitarbeit haben,
weil Sie sich immer wie die Oberlehrer der Gesellschaft benehmen. Jede vierte arbeitslose Frau sucht eine Teilzeitarbeit. Sie bestimmen doch nicht über die Wünsche der Frauen. Die Frauen bestimmen doch selber. Sie haben den Wunsch nach Teilzeitarbeit, und wir sind es gewesen, die die Teilzeitarbeit arbeitsrechtlich abgesichert haben.
Herr Schreiner, Sie scheinen das Gesetz nicht gelesen zu haben.
— Doch! Ich will es ja gerade begründen. Dieser Kapovaz — das ist ja auch so ein Wort, typisch aus der Arbeiterklasse entstanden, aus dem Soziologendeutsch; diese ganze Sprache, Herr Schreiner, ist ja nun wirklich in den Werkstätten geboren —,
also dieser variablen Arbeitszeit haben wir die Giftzähne gezogen. Wir haben sie doch nicht geschaffen. Nichts machen heißt doch nicht, daß es die nicht gibt. Wir haben ihr die Giftzähne gezogen, indem wir Ankündigungsmindestfristen eingeführt haben und dadurch Arbeitnehmer davor bewahren, daß sie am Telefon sitzen müssen und einfach abgerufen werden können. Mit Mindestankündigungsfristen, Mindestarbeitszeiten und damit auch Mindestverdienst haben wir die variable Arbeitszeit sozial verträglicher gemacht.
Wir haben das Jobsharing verbessert, auch eine moderne Form der Arbeitsplatzteilung. Wir haben sie davor bewahrt, daß dieses Jobsharing wie siamesische Zwillinge organisiert ist: Wenn die eine geht, muß auch die andere gehen. Ist das Fortschritt, oder ist das nicht Fortschritt? In Ihrer Einfallslosigkeit können Sie sich natürlich keine neuen Arbeitsverhältnisse vorstellen, weil Sie immer nach dem Motto arbeiten: Was nicht im Kochbuch der
16596 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Bundesminister Dr. Blüm
Großmutter stand, darf auch morgen nicht gekocht werden. So einfallslos sind Sie.
Beantworten Sie alle diese Fragen noch in der Debatte!
Wir haben die Rückkehr der Frauen, wenn sie aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und später in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, erleichtert. Wir haben die Rahmenfristen der Förderung erweitert. Die Rahmenfristen sind länger. Sie haben auch in späterer Zeit noch Anspruch auf Maßnahmen der Eingliederung. Wir haben die Qualifizierungsmaßnahmen nach dem AFG gerade für Frauen mit neuen Angeboten versehen: Teilzeitarbeit mit Teilbildung. Wir haben Qualifizierungsansprüche, die es bei Ihnen nicht gegeben hat, neu geschaffen.
Und nun zum befristeten Arbeitsvertrag. Zum tausendsten Mal wiederhole ich: Lieber befristet Arbeit als unbefristet arbeitslos. Ich stelle mir den befristeten Arbeitsvertrag auch als Brücke in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis vor.
Und deshalb: Ich kann die Streitschrift der IG Textil auch geradezu als eine Schrift mit Komplimenten lesen. In ihr steht nämlich, daß 75 % der so Eingestellten mit der Erwartung — auch des Arbeitgebers — eingestellt werden, daß sie in unbefristete Arbeitsverträge überführt werden, daß drei Viertel dieser befristeten Arbeitsverträge schon zu Beginn mit der Aussicht auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eingegangen werden.
Meine Damen und Herren, daß in der Textilindustrie mehr Frauen von diesem Angebot Gebrauch machen, liegt auch daran, daß in der Textilindustrie mehr Frauen beschäftigt sind, daß das Einstellungsverhalten natürlich auch dem Beschäftigtenverhalten entspricht. 52 % der Beschäftigten in der Textilindustrie sind Frauen, in der Bekleidungsindustrie sind es sogar 81 %.
Nebenbei: Die Bundesanstalt für Arbeit sagt, daß die Inanspruchnahme von befristeten Arbeitsverträgen bei Männern und Frauen ungefähr gleich ist. Im übrigen: Die Untersuchung der IG Textil zeigt, daß 55 % der so befristeten Arbeitsverträge mit einer Laufzeit von weniger als sechs Monaten abgeschlossen wurden. Das gab es bisher auch schon, das hat mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz gar nichts zu tun.
Und, Frau Fuchs: Vielleicht stellen Sie Ihre Gruselmärchen ein und hören auf, zu erzählen, unbefristete Arbeitsverhältnisse würden jetzt in befristete überführt werden.
Oder Sie lesen noch einmal nach — etwa Arbeitsrechtsschulung der IG Metall Sprockhövel —, daß es Kündigungsschutz gibt, daß man einen unbefristeten Arbeitsvertrag nicht einfach in einen befristeten überführen kann, daß Kettenarbeitsverträge verboten sind. Sie werden doch den Anfängerkurs
im Arbeitsrecht bei der IG Metall noch in Erinnerung haben!
Und noch etwas zum befristeten Arbeitsvertrag, jenseits aller Phrasen — Herr Schreiner, wirklich, ich bin mir wie in einer Rhetorikschule für Ideologen vorgekommen —:
Der OECD-Bericht, an dem Fachleute aus vielen Nationen mitgearbeitet haben, lobt ausdrücklich unser Beschäftigungsförderungsgesetz. Es ist dies ein Gremium, der u. a. der Vorsitzende der US-Automobilgewerkschaft, Fraser, und der ehemalige Generalsekretär der irischen Gewerkschaft öffentlicher Dienst, O'Sullivan, angehören. Und wenn Sie schon mir nicht glauben, dann glauben Sie vielleicht Ihren Genossen in Spanien. Der spanische Ministerpräsident
hat am 9. Oktober 1984 — damit Sie auch den Zeitpunkt haben — im spanischen Fernsehen erklärt:
Es ist für einen Jugendlichen besser, wenn man ihm eine Beschäftigungsmöglichkeit von einem oder zwei Jahren anbietet, als wenn er keine Beschäftigungsmöglichkeiten hat oder, wie im 19. Jahrhundert, ohne soziale Sicherheit in der Illegalität arbeiten muß.
Wenn Sie schon einem Christdemokraten nicht glauben, dann glauben Sie den Sozialisten in Spanien! Die sind etwas weiter als Sie. Glauben Sie den Sozialisten in Frankreich! Die haben nämlich, als sie an der Regierung waren, nicht auf 18 Monate, sondern sogar auf 24 Monate befristete Arbeitsverträge angeboten. Wenn Sie schon solche Reden gegen Blüm halten, dann halten Sie gegen Ihre Genossen in Paris und Madrid die gleichen Reden!
Was die Leiharbeit anlangt: Ich bin mit aller Kraft gegen jene illegalen Menschenhändler. Wir sind es gewesen, die die Strafen verschärft haben.
Aber gegen solide Leiharbeit, die Arbeitsplatzwechsel mit solidem arbeitsrechtlichen Schutz verbindet, habe ich nichts. Auch das ist ein neues Angebot, das auch Wünschen von Arbeitnehmern, auch jüngeren, entspricht, nämlich den Arbeitsplatz wechseln zu können und dennoch ein gesichertes, gleichbleibendes Arbeitsverhältnis zu haben.
Meine Damen und Herren, mein Beitrag ist: Wir wollen die Arbeitnehmer schützen. Das bleibt die Aufgabe jeder sozialen Politik. Aber mancher Schutz kann sich auch als Sperre für diejenigen erweisen, die draußen sind. Deshalb: Eine soziale Politik muß nicht nur an die denken, die Arbeit haben, sondern muß auch dafür sorgen, daß die, die
Bundesminister Dr. Blüm
keine Arbeit haben, wieder in Arbeit kommen. Dem dient das Beschäftigungsförderungsgesetz.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich komme einmal zum Thema zurück.
Das Thema sind nämlich das Beschäftigungsförderungsgesetz und seine Auswirkung auf die Arbeitnehmer, insbesondere auf die Frauen. Der Bundesarbeitsminister kann ja rudern, wie er will, es bleibt dabei: 1982 hatten wir 500 000 Erwerbspersonen mehr als heute nach all den Bemühungen, die Sie uns hier vorzuweisen haben. Also, stellen Sie erst einmal den Beschäftigtenstand wieder her, den wir Ihnen überlassen haben,
dann können Sie von Erfolgen reden.
Der Bundesarbeitsminister hat, als das Gesetz verabschiedet worden ist, gesagt, dieses Gesetz solle Arbeitslosigkeit abbauen und dabei helfen, daß auch Frauen eine Möglichkeit haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Dieses Gesetz hat keinen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen. Es hat im Grunde nur dazu beigetragen, unbefristete Dauerarbeitsverträge in befristete Arbeitsverträge umzuwandeln.
Und wenn Sie mit Ihren großen Erfolgen so strunzen, dann sage ich noch einmal: Auch in diesem guten Konjunkturmonat April ist die Arbeitslosigkeit nur um 74 000 geringer als im Vorjahr. Von diesen 74 000 sind '34 000 nur deswegen nicht mehr arbeitslos, weil sie über die 58er Regelung aus der Statistik verschwunden sind. Also tun Sie etwas gegen Massenarbeitslosigkeit, und reden Sie nicht nur immer darüber!
Graf Lambsdorff, Sie werden es mir nicht übelnehmen — nun ist er schon weg —, wenn ich Ihnen sage, daß ich anderer Meinung bin als Sie. Jahrzehntelang waren in unserer Wirtschaft sozialer Konsens, stabile Arbeitsverhältnisse und eine starke Tarifautonomie ein Produktivitätsfaktor. Mein Kollege Schreiner hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Sie mit Ihren Gesetzen darauf abzielen, die Arbeitnehmerrechte abzubauen. Sie bilden sich ein, die Leute würden das nicht merken.
Wir sagen es den Frauen, und wir sagen den Frauen auch, was Frau Verhülsdonk hier heute gesagt hat, die so tut, als ob damit die Chancen für die Frauen auch nur etwas verbessert worden wären.
Frau Süssmuth sagt, Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei wichtig. Dem stimmen wir ja zu. Frauen wollen und müssen arbeiten. Die meisten Frauen arbeiten übrigens, weil sie Geld verdienen müssen. Sie erwarten von dieser Gesellschaft einen stabilen Arbeitsplatz, damit auch sie eine Chance haben, auf Erwerbsarbeit eine Lebensplanung aufzubauen.
Wenn wir Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen und wenn wir mehr Teilzeitarbeit wollen, meine Damen und Herren von der CDU, dann wird es Zeit, Frau Verhülsdonk, daß wir endlich an die Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung herangehen. Dies wäre der Einstieg in vernünftige, sozial abgesicherte Teilzeitarbeitsverhältnisse.
Der Punkt ist doch: Sie wollen es ja so, Sie wollen — Graf Lambsdorff hat es deutlich gemacht — Arbeitnehmerrechte abbauen, Sie wollen Stammbelegschaften reduzieren,
Sie wollen die übrigen Arbeitsverhältnisse so gestalten, daß man vagabundierend von ihnen auch schnell wieder befreit werden kann.
Der Schutz geht doch vor die Hunde. Wenn jemand schwerbehindert ist, kann er sich nicht auf die Gesetze berufen, weil sein Arbeitsvertrag nach der Befristung ausläuft.
Wenn der junge Mann zur Bundeswehr oder zum Zivildienst muß, kann er sich nicht auf das Arbeitsplatzschutzgesetz berufen, denn sein Arbeitsverhältnis ist befristet und läuft dann aus. Und wenn die junge Frau innerhalb dieser Befristung ein Kind erwartet, dann ist der Mutterschutz für sie nicht maßgebend, denn ihr Arbeitsverhältnis ist befristet und läuft dann aus. Das ist doch das Ziel Ihrer ganzen Planung. Sie wollen Rechte abbauen, und Sie haben damit in einer unerträglichen Weise in die Arbeitnehmerrechte eingeschnitten. Sie haben keinen zusätzlichen Arbeitsvertrag gebracht.
Herr Blüm hat uns gesagt,
— Sie hören leider nicht zu —, wenn das Gesetz keine zusätzlichen Arbeitsplätze bringt, nimmt er es zurück. Ich fordere ihn heute noch einmal mit Nachdruck auf, dieses Gesetz zurückzunehmen;
16598 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Frau Fuchs
denn es hat keinen zusätzlichen Arbeitsplatz gebracht.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Männle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat diese Aktuelle Stunde beantragt und wollte nach den Auswirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes insbesondere auf Frauen fragen. Ich habe aus den Debattenbeiträgen bisher den Eindruck, daß es sich hier um allgemeine Attacken auf den Arbeitsminister handelt und daß Sie mit infamen Unterstellungen arbeiten.
Die Frauen kommen zwar so ab und zu einmal in einem Nebensatz vor, aber sie haben heute eine reine Alibifunktion.
Das Ziel des Beschäftigungsförderungsgesetzes mit den Verbesserungen zum beruflichen Wiedereinstieg im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes war für uns eine bewußte, leider aber eine in der Öffentlichkeit nicht sehr verbreitete Förderung der Zielgruppe derjenigen Frauen, die gerade nach der sogenannten Familienphase große Schwierigkeiten haben, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Deswegen sage ich: Die Auswirkungen des Beschäftigungsförderungsgesetzes für Frauen sind positiv.
Die berufliche Wiedereingliederung von Frauen nach der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder erfordert wegen des großen Zeitabstandes von der letzten Erwerbstätigkeit oftmals eine berufliche Bildungsmaßnahme. Ansprüche auf berufliche Weiterbildung, Umschulung oder Anpassungsförderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz setzen eine vorherige versicherungspflichtige Beschäftigung voraus.
Die Frist, die dafür mit drei Jahren gesetzt war, war für die Frauen, die wegen der Kindererziehung ausgestiegen sind aus dem Berufsleben, einfach zu kurz. Sie verloren ihre Ansprüche auf berufliche Wiedereingliederungsmaßnahmen. Frau Zeitler, wir haben diese Frist mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz verlängert.
Seit dem 1. Mai 1985 wird unabhängig davon, ob gleichzeitig mehrere Kinder betreut werden, für jedes Kind eine Betreuungszeit von fünf Jahren berücksichtigt. Eine Frau, die zwei Kinder betreut hat, hat jetzt den Anspruch auf Unterhaltsgeld, wenn sie in den letzten 13 Jahren zwei Jahre versicherungspflichtig gearbeitet hat. Das ist eine echte Verbesserung für Frauen.
Man kann mit Fug und Recht davon sprechen, daß die im Beschäftigungsförderungsgesetz neu aufgenommenen Bestimmungen zur beruflichen
Rückkehr zur Versöhnung zwischen Familie und Arbeitswelt beitragen. Für viele Frauen wird von daher der Konflikt zwischen Kinderwunsch und Erwerbstätigkeit entschärft, weil eben echte Hilfen zur Wiedereingliederung gegeben werden.
Die CDU/CSU-Fraktion wird fortfahren, sich dieses Problems anzunehmen. Sie hat es bereits getan mit der am 1. Januar 1986 in Kraft getretenen siebten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz. Hier haben wir, wie schon ausgeführt worden ist, die Finanzierung von Teilzeitfortbildungsmaßnahmen, Teilzeitumschulungsmaßnahmen festgelegt, die wiederum zum Nutzen von Frauen sind.
Im Zuge dieser siebten Novelle haben wir auch eine Bestimmung in das Arbeitsförderungsgesetz aufgenommen, die jenen Frauen zugute kommt, die auf Grund von Ehescheidung, die auf Grund von Verwitwung auch in späteren Jahren auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind. Sie haben auf Fort-bildungs- und Umschulungsmaßnahmen jetzt wieder einen Anspruch, wenn sie irgendwann einmal zwei Jahre versicherungspflichtig beschäftigt waren — irgendwann einmal zwei Jahre! Das hatten Sie 1981 sang- und klanglos abgeschafft. Davon wollen Sie heute nichts mehr hören. Unsere Politik hingegen bringt echte Verbesserungen für Frauen mit sich, Ihre Politik nicht.
Wenn wir von den befristeten Arbeitsverhältnissen sprechen, die hier so häufig andiskutiert worden sind: Ich sehe in diesen befristeten Arbeitsverträgen außer den übrigen vielen Verbesserungen für Frauen auch eine positive Auswirkung dahin gehend, daß ihnen der Ersteinstieg ermöglicht wird.
Wir wissen ja, daß sich viele Schutzgesetze negativ für Frauen auswirken und Frauen größere Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben. Ein befristeter Arbeitsvertrag gibt ihnen die Möglichkeit, zumindest wieder den Zugang zur Arbeitswelt zu haben; hinterher kann dieser Arbeitsvertrag dann in eine Vollzeitbeschäftigung umgewandelt werden. Auch im Erziehungsgeldgesetz berücksichtigen wir das.
Warten wir ab, bis wir exakte Zahlen haben. Dann können wir sehen, wie sich das für Frauen auswirkt. Ein Fazit ist aber schon heute möglich: Die CDU/CSU hat mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz außerordentlich viel für Frauen bewegt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über den Erfolg oder Mißerfolg des Beschäftigungsförderungsgesetzes zu diskutieren halte ich zwar für verfrüht, da das Gesetz gerade ein Jahr in Kraft ist.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16599
Frau Dr. Segall
Aber bitte, wenn Sie von der Opposition es so wollen, können wir auch heute schon einmal eine Zwischenbilanz ziehen und Ihre hier vorgetragenen Zahlen wieder ein bißchen zurechtrücken.
Die neuesten verfügbaren Zahlen der Beschäftigungsstatistik dokumentieren den Beschäftigungsgrad im September 1985, also nach einem halben Jahr Geltung des Gesetzes. Danach ist die Zahl aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten — nur über diesen Personenkreis gibt die Beschäftigungsstatistik Auskunft — im September 1985 um eine 3/4 Million höher gewesen als im Vorjahr.
Nun ließe sich wiederum trefflich darüber streiten, ob diese Zahlen eine Folge des Beschäftigungsförderungsgesetzes oder dem allgemeinen konjunkturellen Aufschwung zuzurechnen sind. Zur Beurteilung der Zahlen kann man sich auf die alte Erfahrung berufen, daß in einem Aufschwung zunächst die Zahl der Überstunden zunimmt, ehe an Neueinstellungen gedacht wird. Unser derzeitiger Aufschwung zeichnet sich dadurch aus, daß die Überstunden nicht steigen. Die bessere Auftragslage hat also nicht zu vorsichtigem Abwarten und einem damit verbundenen Mehr an Überstunden geführt, sondern unmittelbar zu neuer Beschäftigung, und zwar zu Arbeitsplätzen mit dauerhaften Verträgen; denn ein nennenswerter Anteil der befristeten Verträge führt zu dauerhafter Beschäftigung. Den Einstieg wieder möglich gemacht zu haben, rechnen wir uns allerdings als Erfolg an.
Sie aber wollen die offenkundige Entwicklung einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Sie weisen immer wieder auf die absolute Zahl der Arbeitsuchenden hin. Wenn Sie sich jedoch einmal ansehen würden, wie sich diese Zahl der sich arbeitslos Meldenden zusammensetzt, würden Sie erkennen, daß sich neben denjenigen, die arbeitslos werden oder nach Schule oder Ausbildung keinen Arbeitsplatz finden, auch viele als Arbeitsuchende melden, auf die diese Kriterien nicht zutreffen, die also aus der sogenannten stillen Reserve kommen. Das waren 1985 bei den Zugängen von männlichen Arbeitslosen 17 %, d. h. 398 000 von insgesamt 2,296 Millionen und bei den weiblichen Arbeitslosen 22 %, d. h. 324 000 von 1,454 Millionen.
Diese Zahlen waren höher als 1984. Daraus kann ich nur den Schluß ziehen, daß wieder viele die Hoffnung für berechtigt hielten, über das Arbeitsamt einen Arbeitsplatz zu finden.
Wir wissen aber auch aus Untersuchungen, daß ein Großteil der Vermittlung ohne eine vorherige Meldung beim Arbeitsamt vonstatten geht. Der positive Beschäftigungssaldo findet darin seine Erklärung.
Wenn wir nun insbesondere die Situation für die Frauen betrachten, so läßt sich zunächst einmal feststellen, daß der Zuwachs, wohlgemerkt der Zuwachs an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, bei den weiblichen Beschäftigten um 2 % gegenüber nur 1,3 % bei den männlichen Beschäftigten betrug. In absoluten Zahlen ausgedrückt: An der Erhöhung der Beschäftigungszahlen von 278 400 partizipierten die Frauen mit 159 400, also zu rund 60 %. Hierbei sollte vielleicht auch einmal erwähnt werden, daß diese Zahlen Bestandszahlen sind, hinter denen erhebliche Bewegungen stehen. Es werden im Durchschnitt monatlich 320 000 neue Arbeitsplätze mit Hilfe der Arbeitsämter begründet.
Doch nun einmal zu den Frauen. Es wird immer wieder argumentiert, daß es für Frauen nur die schlechteren Teilzeitarbeitsplätze gebe. Allein bei den zusätzlichen Arbeitsplätzen ist das Verhältnis von 100 000 Vollzeitarbeitsplätzen zu 60 000 Teilzeitarbeitsplätzen. Dabei muß man noch berück- sichtigen, daß ein Viertel der arbeitsuchenden Frauen nur einen Teilzeitjob anstrebt. Man kann also feststellen, daß die Frauen überproportional an der Verbesserung der Beschäftigungssituation teilnehmen mit der Einschränkung, daß manche Frau, die einen Vollzeitarbeitsplatz gesucht hat, nur einen Teilzeitarbeitsplatz gefunden hat. Die Diskrepanz ist aber nicht so groß, wie uns einige fragwürdige Umfragen von Gewerkschaften glauben machen möchten. Das A und O einer Verbesserung der Beschäftigungslage ist aber der Abbau von Beschäftigungshemmnissen, denn davon wurde im Laufe der Zeit ein ganzes Sammelsurium aufgebaut. Diese Beschäftigungsbedingungen sind in dem Zunftwesen unserer heutigen Arbeitsgesetzgebung nur schwer vollziehbar.
Ich ziehe das Fazit: „Aus guten sozialen Gründen mit bösen sozialen Folgen".
Das Wort hat der Abgeordnete Kolb.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Sie von der SPD nicht kennen würde, könnte man glauben, das, was Sie hier gesagt haben, wäre wahr.Was aber war der Fall? Als Sie an der Regierung waren, haben Sie das Spiel gespielt: Alles oder nichts. Als Sie beim Nichts waren, sind Sie ausgestiegen. Erlauben Sie mir deswegen, daß ich noch einmal Altbundeskanzler Schmidt zitiere, der am 30. Juni 1982 vor Ihrer Fraktion gesagt hat:Einige haben bemängelt, daß in diesem Pakt nicht genug getan werde zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Ich sage denen: Dies ist leider wahr. Wer mehr tun will, muß in die geltenden Sozialleistungen tiefer hineinschneiden, wer mehr für die beschäftigungswirksamen Ausgaben des Staates tun will, muß tiefer, noch viel tiefer als hier, in die Sozialleistungen hineinschneiden. Dies wollt ihr nicht tun.
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16600 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
KolbSo sagte er damals, und da durfte er noch. Heute darf er nicht mehr bei Ihnen reden, heute wird er im „Vorwärts" verleumdet.
Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist doch Ihr Problem!Ihre Devise, liebe Frau Fuchs, lautet: Unsere Mittel haben damals für den Vollrausch nicht gelangt; laßt es uns kräftiger tun, dann wird es in Zukunft gelingen.
Ich habe Sie hier am 12. September 1985 gefragt: Wo sind die Erfolge Ihrer Rezepte? Wie war das beim „Telegraph", wie ist es bei der Neuen Heimat, wie bei Arbed? Fehlanzeige, meine Damen und Herren!
-- Lieber Herr Vogel, ich muß Ihnen einmal eines sagen: Sie stellen sich erst als Oberlehrer der Nation hierher und versagen dann. Lieber Herr Vogel, ich habe ja Verständnis dafür, daß Ihr einziges Argument gegen die Wahrheit darin besteht, andere zu verleumden, aber ich hätte mich heute gefreut, wenn Sie gesagt hätten: Der Herr Lutz und die Frau Fuchs werden jetzt zur Neuen Heimat gehen
und werden dort dafür sorgen, daß die Arbeitsplätze dort sicher werden
und die Mitarbeiter der Neuen Heimat nicht auf die Straße gehen müssen und nicht demonstrieren müssen, weil ihre Arbeitsplätze verlorengehen.
Lieber Herr Lutz, Ihnen schreibe ich ins Stammbuch, daß mir, wenn ich Ihre Rede hier höre, nur Matthäus 7,15 einfällt. Dort heißt es: Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie kennen nur zwei Bedingungen: zum einen den öffentlichen Dienst, zum anderen die Großbetriebe.
Sie kennen nicht die Situation der vielen Klein-und Mittelbetriebe. Lieber Herr Lutz, Sie reden wie Ihr Kollege Schreiner von Dingen, von denen Sie nichts verstehen. Haben Sie einmal erlebt, wie es in den Klein- und Mittelbetrieben ist,
wie dort die Bedingungen sind, die von den Großbetrieben gestaltet werden? Ihr Kollege Roth ist heute nicht hier. Ich habe einmal erlebt, wie er gesagt hat, daß die Zahl der Konkurse so gewaltig zugenommen hat. Hat denn diese Zahl zugenommen, weil die Selbständigen nicht mehr arbeiten wollten?
— Ach du lieber Gott! Nein, weil die Bedingungen von anderen vorgegeben werden!
— Frau Fuchs, es wäre gut, Sie würden sagen: Ich gehe mit dem Kollegen Schreiner hinaus und lerne praktische Arbeit, und wenn ich die Erfahrung habe, komme ich zurück. Nur theoretisch, wie Sie es tun, kann das auf Dauer nicht gehen!
— Herr Lutz, Sie haben die Sozialgesetze zugunsten derjenigen gestaltet, die in den Betrieben waren, und zwar so, daß die drinnen hervorragend geschützt sind, aber denjenigen, die draußen waren und hineinkommen wollten, haben Sie — ob Sie es glauben oder nicht — den Einstieg fürchterlich schwer gemacht.
Deswegen sind Sie, meine Damen und Herren, nicht glaubwürdig. Sie sagen heute, 10 000 Beschäftigte — das sind 0,04 % der Beschäftigten — seien die Betroffenen, bei denen es nicht gehe.
— Herr Lutz, wenn Sie wüßten, daß manch ein Textilbetrieb Aufträge für vier bis fünf Monate hat und nicht weiß, wie es nachher weitergeht, würden Sie anders reden.
Jeder Kleinbetrieb wäre dankbar, wenn er die Sicherheit der Dauerbeschäftigung hätte; dann würde er die Leute auch auf Dauer einstellen.
Deswegen, meine Damen und Herren, war dieses Beschäftigungsförderungsgesetz eine Hilfe für diejenigen, die keine Arbeit haben,
aber auch der Versuch, gegenüber Ihrer Ideologie des „alles oder nichts" eine Zwischenlösung zu bringen.
- Herr Lutz, Sie werden, wie man feststellen kann, wenn man Ihre Reden einmal nachliest, als derjenige hi die Geschichte eingehen, der nur falsches Zeugnis gegeben hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16601
KolbHerzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich bei der Opposition dafür bedanken, daß Sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat, gibt sie uns doch die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, daß es uns gelungen ist, den explosionsartigen Anstieg der Arbeitslosigkeit, den Sie uns hinterlassen haben, zu bremsen,
daß wir zahlreiche Maßnahmen eingeleitet haben und daß wir heute in der Bundesrepublik Deutschland eine gegenüber dem Jahr 1982 erhöhte Beschäftigung festzustellen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die von Ihnen vorgelegte Formulierung dieser Aktuellen Stunde ist ein Zeichen Ihrer Engsichtigkeit. Sie haben heute morgen den Arbeitsmarkt nur im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz diskutieren wollen. In Wirklichkeit gehört entscheidend mehr dazu. Wir haben für die Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland viele Schritte getan. Einer dieser Schritte ist das Beschäftigungsförderungsgesetz. Deswegen ist es unlauter, heute den Eindruck zu erwecken, als hätten wir gesagt, dies sei das Patentrezept, wie wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland beheben wollen. Es ist einer von vielen erfolgreichen Schritten, die diese Regierung und diese Koalition zum Wohle der Menschen in Deutschland eingeleitet haben.
Wir haben uns nicht auf Sie verlassen, wir sind Ihnen nicht bei Ihrer Forderung nach Beschäftigungsprogrammen gefolgt.
Die Beschäftigungsprogramme, die wir gemacht haben, lauten: Inflationsrate gegen Null, niedrige Zinsen, Stärkung der Arbeitnehmereinkommen, größere Nachfrage am Binnenmarkt,
sichere Renten, geordnete Staatsfinanzen, reales Wirtschaftswachstum. Das sind unsere Maßnahmen zum Wohle der Arbeiter in Deutschland.
Wenn ich Sie hier heute höre, kann ich den Menschen in Deutschland nur empfehlen: In der Opposition sind Sie gut, deswegen müssen Sie in der Opposition bleiben; wir sind in der Regierung gut, deswegen müssen wir in der Regierung bleiben.
Sie haben doch 13 Jahre Zeit gehabt, die Menschen mit Ihrer Ideologie zu beglücken. Was ist denn dabei herausgekommen? Sie haben in dieser Nation Schiffbruch erlitten. Unsere Politik führte zu einer Mehrbeschäftigung von 500 000 Arbeitskräften. Sie haben in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit über eine Million Arbeitsplätze kaputtgemacht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Wir haben eine Million Kurzarbeiter vorgefunden. Im April 1986 hatten wir 200 000 Kurzarbeiter. Das ist ein Fünftel dessen, was Sie uns hinterlassen haben.
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Das sind Dinge, die wir positiv sehen können.
Ich möchte als nächsten Punkt die Jugendarbeitslosigkeit ansprechen. Sie liegt heute bei 6,6 %, während die Arbeitslosigkeit durchschnittlich bei 9 % liegt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist also geringer als die durchschnittliche Arbeitslosigkeit. Bei Ihnen war die Jugendarbeitslosigkeit höher als die durchschnittliche Arbeitslosigkeit. Das sind die Fakten, die Sie in diesem Lande einmal zur Kenntnis nehmen sollten.
Wir wissen, daß wir noch viel zu tun haben. Das kann die Politik allein nicht leisten. Ich fordere die Betriebs- und Personalräte in Deutschland auf, stärker als in der Vergangenheit von ihrem Recht bei der Einstellung Schwerbehinderter Gebrauch zu machen und vorher zu prüfen, ob nicht ein freier Arbeitsplatz zunächst einmal für einen Schwerbehinderten reserviert werden muß. Dann bekommen wir auch die Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in den Griff, nicht durch irgendwelche frommen Sprüche.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, nämlich der Leiharbeit. Wir haben die Leiharbeit im Beschäftigungsforderungsprogramm in einer Art und Weise stabilisiert, daß die legale Leiharbeit, die wir begrüßen, abgesichert ist. Wir haben die illegale Leiharbeit stärker unter Strafe gestellt. Das ist der richtige Weg.
Weil wir heute morgen von den Frauen gesprochen haben: Wir haben im Beschäftigungsförderungsgesetz die Erstattung von Leistungen nach dem Mutterschaftsschutzgesetz und nach dem Lohnfortzahlungsgesetz für kleine Betriebe entscheidend verbessert, damit auch kleinere Betriebe keine Hemmungen mehr haben, Frauen einzustellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen: Wir haben noch sehr viel zu tun. Die Arbeitslosigkeit ist ein bedrückendes Problem. Wir werden uns auf diesem Weg nicht irremachen lassen, sondern damit fortfahren.
16602 Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Jagoda
Sie haben heute morgen den Splitter im Auge der Regierungskoalition überbewertet und den Balken in Ihrem eigenen Auge schamhaft verschwiegen. Sie sind schon sehr immun gegen die Auswirkungen Ihrer früheren politischen „Leistungen", die nicht Sie, sondern andere Bürger in Deutschland zu tragen haben, nämlich die Arbeitslosen.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich folgendes mitteilen. Die Fraktion der SPD möchte einen Mitgliederwechsel in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vornehmen. Sie benennt den Abgeordneten Dr. Soell, der bisher stellvertretendes Mitglied war, als ordentliches Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Der Abgeordnete Gerstl , bisher ordentliches Mitglied, soll stellvertretendes Mitglied werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit sind der Abgeordnete Dr. Soell als ordentliches Mitglied und der Abgeordnete Gerstl (Passau) als Stellvertreter in die Parlamentarische Versammlung des Europarats gewählt.Einer Bitte des Finanzausschusses folgend, meine Damen und Herren, wird interfraktionell vorgeschlagen, den Entwurf eines Gesetzes über das Baugesetzbuch auf der Drucksache 10/4630 nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Des weiteren sollen zwei Entschließungsanträge der Fraktion der SPD zum Agrarbericht 1986 auf den Drucksachen 10/5373 und 10/5374 sowie ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP ebenfalls zum Agrarbericht auf der Drucksache 10/5377 nachträglich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie mit den nachträglichen Überweisungen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte ersehen Sie aus der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste:2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1987
— Drucksache 10/5406 —Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNENZustimmungsverweigerung zu neuen chemischen Waffen — Drucksache 10/5461 —Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPChemische Waffen— Drucksache 10/5464 —3. Beratung des Berichts des Innenausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die sofortige Stillegung von Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland (Atomsperrgesetz)— Drucksachen 10/1913, 10/5459 —Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die fünfzehnte Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz
— Drucksachen 10/5209, 10/5493, 10/5494) —Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung von Regelungen über den Versorgungsausgleich— Drucksache 10/5484 —Beratung des Antrags der Abgeordneten Hedrich, Feilcke, Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Pinger, Repnik, Frau Fischer, Höffkes, Dr. Hüsch, Dr. Kunz , Dr. Kronenberg, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Borchert, Herkenrath, Sauter (Epfendorf), von Hammerstein, Dr. Hornhues, Eigen, Dr. Hoffacker, Sauer (Salzgitter), Schwarz, Dr. Olderog, Jagoda, Engelsberger, Kalisch, Frau Roitzsch (Quickborn), Jung (Lörrach), Hornung, Müller (Wesseling), Dr. Jobst, Weiß, Schmitz (Baesweiler), Dr. Faltlhauser, Sauer (Stuttgart), Frau Männle, Ganz (St. Wendel), Austermann, Dr. Schroeder (Freiburg), Ruf und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Schäfer (Mainz), Dr. Feldmann, Ertl, Frau Seiler-Albring und der Fraktion der FDPÜberwindung von Hunger und Not in Afrika — Drucksache 10/5488 —Zugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte — soweit erforderlich - von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Darüber hinaus soll Punkt 16 der Tagesordnung vor Punkt 15 aufgerufen werden. Sind sie damit sowie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr:Ing. Kansy, Niegel, Dr. Daniels, Dörflinger, Link , Linsmeier, Magin, Dr. Möller, Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Frau Roitzsch (Quickborn), Ruf, Zierer und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Frau Dr. Segall, Gattermann, Beckmann, Dr. Haussmann, Dr. Feldmann, Dr. Graf Lambsdorff und der Fraktion der FDP„Neue Heimat"— Drucksachen 10/5326, 10/5452 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner , Dr. Müller (Bremen) und der Fraktion DIE GRÜNENSanierung der Neuen Heimat — Drucksache 10/5228 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
HaushaltsausschußZum Tagesordnungspunkt 3 a liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 10/5479 vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungs-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16603
Präsident Dr. Jenningerpunkte 3 a und 3 b und eine Aussprache von drei Stunden vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kansy.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Name Neue Heimat war in den Aufbaujahren der Bundesrepublik verbunden mit einem sicheren Zuhause, mit einem besonderen sozialen Anspruch, mit seriösem Geschäftsgebaren und offener Information. Heute verbindet man mit diesem Namen Verunsicherung von Mietern, Herausmogeln aus sozialer Verantwortung, Mißwirtschaft und teilweise zynische Täuschung der Öffentlichkeit.
Die Verantwortung dafür tragen nicht die vielen tausend Mitarbeiter der Neuen Heimat, sondern letztlich die Eigentümer, die DGB-Gewerkschaften. Im Aufsichtsrat saßen und sitzen nur Spitzenfunktionäre des Deutschen Gewerkschaftsbundes, an der Spitze DGB-Chef Breit.Als sich 1982 ein anbahnender Skandal nicht mehr vertuschen ließ, wurde die Schuld zunächst in die Vergangenheit verwiesen und für die Zukunft Besserung gelobt. Übrigens, Genosse Ernst Breit gehört dem Aufsichtsrat bereits seit 1972 an. Immerhin, auf dem DGB-Kongreß 1982 wurde Besserung gelobt und folgender Beschluß gefaßt:Die Unternehmensleitung und Aufsichtsorgane der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen müssen durch ein Höchstmaß an Information und Transparenz sowie durch eindeutige rechtliche Regularien sicherstellen, daß der politisch-moralische Anspruch der Gemeinwirtschaft stets eingelöst wird.Doch der Skandal geht weiter. Jahrelange Mißwirtschaft, Großmannssucht, Grundstücksspekulation hatten den DGB-Konzern nicht nur moralischpolitisch, sondern zwischenzeitlich auch finanziell ruiniert.Wie kommen wir nun aus der Klemme — fragten sich die Genossen Großunternehmer —, ohne daß wir selbst für das einstehen müssen, was wir angerichtet haben? In spätkapitalistischer Manier sanierten sie zunächst den nichtgemeinnützigen Teil der Neuen Heimat, die Neue Heimat Städtebau, mit 1,5 Milliarden DM. Nur, dieser Neue-Heimat-Teil hat keine einzige Sozialwohnung, sondern hat z. B. Luxushotels in Monte Carlo gebaut und in Südamerika spekuliert.
Die Verantwortung aber für 1 Million Menschen in den Wohnungen der Neuen Heimat wollen die Gewerkschaften der öffentlichen Hand zuschieben,
obwohl die Neue Heimat bereits 10 Milliarden DM aus öffentlichen Kassen zur Schaffung von Wohnraum erhalten hat.Neue-Heimat-Chef Hoffmann schrieb einen Brief an den Kanzler. Die Bundesregierung organisierte ein Zusammentreffen der Minister von Bund und Ländern mit DGB und Neuer Heimat. Die Minister, die nicht nur Anwälte der Mieter zu sein haben, sondern auch Verwalter von Steuergeldern,
forderten notwendigerweise die Neue Heimat zunächst einmal auf, die rückhaltlose Offenlegung der Situation zu betreiben und ein Sanierungskonzept vorzulegen. DGB-Chef Breit sagte zunächst auch zu, dies innerhalb von drei Monaten zu tun. Aber dann besann er sich eines Besseren oder, korrekter gesagt, eines Schlechteren.Heute, meine Damen und Herren, nachdem ein Hamburger Nachrichtenmagazin Teile des noch nicht veröffentlichten Untersuchungsberichts der Hamburger Bürgerschaft vorgelegt hat, wissen wir, warum. Der Ausschußvorsitzende Hartmann, SPD, und Ehlers, CDU, als sein Vertreter lassen heute keinen Zweifel daran, daß die vom Ausschuß ermittelten Tatbestände klar Anhaltspunkte für Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden bieten.Plötzlich änderten auch die SPD-regierten Bundesländer ihre Meinung, allen voran Herr Rau. Es wurde sichtbar, was der Bremer SPD-Vorsitzende Kunick schon vor Monaten so beschrieben hat:Die Kette Neue Heimat — DGB, nahe der SPD, ist politisch nicht aus der Welt zu schaffen.Wie ist nun die Strategie von SPD, DGB und Neuer Heimat heute? Zunächst einmal bejammern sie das, was gewesen ist, sozusagen als einmaligen Betriebsunfall, versuchen sich selbst an die Spitze der Bewegung zu setzen, nach dem Motto: Haltet den Dieb.Aber dann geht es weiter zur Sache. Genosse A als Unternehmer behauptet zunächst, die Schwierigkeiten der Neuen Heimat könnten durch weitere massive Wohnungsverkäufe spielend gelöst werden. Wir brauchen die Öffentlichkeit gar nicht. Dann kommt Genosse B als Mieterschützer und beklagt mit Krokodilstränen in den Augen, der leider erforderliche Verkauf von 90 000 weiteren Wohnungen gefährde die Sozialbindung dieser Wohnungen — was übrigens so gar nicht stimmt. Dann tritt als Dritter Genosse C als Landesminister auf und spielt den großen Mieterfreund.
Das sieht z. B. in Nordrhein-Westfalen so aus. Zu einem Preis von 142 Millionen DM übernimmt die Landesentwicklungsgesellschaft 2 385 Wohnungen von der Neuen Heimat. Zur Finanzierung gibt die Westdeutsche Landesbank ein Darlehen, ein günstiges Darlehen, versteht sich. Zusätzlich gewährt das Land über die Wohnungsförderungsanstalt ein weiteres Darlehen. Der Kaufpreis der Wohnungen ist eher etwas zu hoch als zu tief; denn das Geld fließt in die Kasse des DGB und nicht zu den Mietern. Aber bezahlen tut das nicht nur der Steuerzahler,
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16604 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Dr.-Ing. Kansymeine Damen und Herren, es muß auch das Wohnungsbauprogramm des Landes gekürzt werden, 1986 von 21 000 auf 14 000 Wohnungen. Die angebliche Wohltat des Herrn Rau bedeutet letztlich weniger Altenwohnungen, weniger Eigenheimförderung, aber Geld in der Kasse des DGB.
Wie scheinheilig diese Politik ist, zeigt auch ein anderer Vorgang. Es gibt relativ preiswerte Sozialwohnungen aus den 50er und 60er Jahren und weniger preiswerte aus den 70er und Anfang der 80er Jahre. Die ersteren lassen sich heute natürlich besser verscherbeln. Nun gründet der DGB eine neue Firma -- 100%iger Eigentümer: DGB -- unter dein Namen BGI. Diese Immobiliengesellschaft schreibt an kaufkräftige Interessenten Briefe und bietet ausdrücklich die preiswerten Bestände an. Zum Beispiel steht in einem Schreiben vom 23. April 1986 u. a.:Unsere Objekte sind in den 50er und 60er Jahren gebaut und zeichnen sich durch niedrige Geschossigkeit und hohe Standortqualität aus. Die Bausubstanz ist gut. Teilweise ist noch Raum für Modernisierung gegeben.— Hört! Hört! —
Auf Grund der guten Mieterstruktur unserer Anlagen kennen wir zur Zeit keine Leerstände.So also gehen die Genossen mit den preiswerten Beständen um, während sie die unrentablen den Steuerzahler übernehmen lassen wollen.
Und der Herr Aufsichtsratsvorsitzende Breit wagte, sich am 1. Mai in Hannover hinzustellen und gegen frühkapitalistische Urzustände aufzurufen. Statt die Bundesregierung zu diffamieren, sollte er erst einmal anfangen, im eigenen Laden Ordnung zu schaffen.
Das gilt genauso für seine Aufsichtsratsgenossen Steinkühler von der IG Metall und Volkmar, die in Niedersachsen zum Wahlboykott gegen die CDUegierung aufgefordert haben. Ich fordere die DGB-Mitglieder auf, beim DGB-Kongreß Wahlboykott zu üben.Meine Damen und Herren, in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage werden viele Fragen beantwortet; sie hat jedoch manches offengelassen oder — besser gesagt — offenlassen müssen, weil seitens des DGB und der Neuen Heimat weiter verschleiert und vertuscht wird.
Die CDU/CSU wird sich nicht davon abbringen lassen, weiter die totale Offenlegung der Verhältnisse zu betreiben, selbst wenn man es von SPD-Seite als Wahlkampf diffamiert.
Dazu gehören auch seriöse Überlegungen, ob ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß erforderlich ist oder nicht. So etwas als Geheimpapier von CDU-Juristen abzuqualifizieren ist lächerlich. Wer dies tut, der will in Wirklichkeit verhindern, daß die Wahrheit ans Licht kommt.
Die CDU/CSU fordert den DGB auf: Legen Sie von sich aus die Karten auf den Tisch. Liefern Sie ein vernünftiges Sanierungskonzept. Behandeln Sie den gemeinnützigen Teil — sprich: die Mieter — genauso wie den nicht gemeinnützigen Teil — sprich: die Hotels —. Stellen Sie zusätzliches Kapital zur Verfügung. Weder die Mieter noch die Steuerzahler dürfen das ausbaden, was Sie angerichtet haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition hat diese Debatte ausgelöst, um Wahlkampf zu machen und um die Gewerkschaften attackieren zu können.
Es geht Ihnen nicht um die Mieter. Es geht Ihnen auch nicht um die wohnungspolitischen Sorgen der Städte und Gemeinden. Es geht Ihnen nicht einmal mehr um die Neue Heimat. Die Neue Heimat hat für die CDU/CSU/FDP längst die Funktion des Mediums.Ihnen geht es heute um zweierlei: erstens um den Rachefeldzug der Dreggers und Lambsdorffs gegen die unbotmäßigen Gewerkschaften
und zweitens um den Versuch der Koalition, von den Peinlichkeiten und Versäumnissen ihrer Politik abzulenken.
Wer in der Debatte um die Neue Heimat bisher noch Illusionen hinsichtlich der Motive der Koalition hatte, der wurde gestern per Presse eines anderen belehrt. Dort steht der „Fahrplan" aus dem Büro Dregger schwarz auf weiß:1. Einbringung einer Großen Anfrage durch die Fraktion am 15.4. 1988 mit einer Präsentation .. .2. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage drei Wochen später, .. .Befehl ausgeführt, Herr Minister!3. Ausführliche Debatte über die Große Anfrage in der Mai-Sitzungswoche, d. h. am 15./16.5. 1986.MünteferingEs wird deutlich: Für die Koalition ist das Thema Neue Heimat Wahlkampffutter, mit Akribie geplant, nichts sonst.
Was ist das für ein armseliger Bauminister, der sich vom Büro Dregger am 8. April vorschreiben läßt, daß er eine Große Anfrage
mit 26 schwierigen Fragen bitte schön innerhalb von drei Wochen zu beantworten habe.
Als wir im vergangenen Jahr gefragt haben, wie es denn aussehe mit dem Problem der Zahlungsfähigkeit von Mietern, mit der Mietpreisentwicklung überhaupt, hat er 9, hat er 15 Wochen gebraucht. Nun kommt das Kommando von Dregger: Die Antwort muß in drei Wochen vorliegen. Die Antwort liegt vor. Sie ist so schlecht geworden, wie sie angesichts der Bearbeitungszeit von drei Wochen werden mußte, Herr Minister.Was ist das für eine pharisäerhafte Entrüstung bei dieser Koalition! Sie empört sich über tatsächliche und unterstellte Fehler und Verfehlungen bei der Neuen Heimat, und gleichzeitig tut sie ohne Rücksicht auf Mieter und betroffene Kommunen alles,
um die Probleme noch zu verschärfen und die Lösungen zu verschleppen.Es ist wahr: Bei der Neuen Heimat — bei ihrer Geschäftsführung und ihrer Unternehmenspolitik — hat sich bis Anfang der 80er Jahre eine Menge Mist angesammelt. Es ist schlimm, daß dies bei einem gemeinnützigen Unternehmen passiert. Es ist doppelt schlimm, daß dies bei einem gewerkschaftlich bestimmten Unternehmen passierte. Das ist keine Frage. Aber Sie, meine Damen und Herren, sind doch nicht besser. Wer im Jahre 1986 kaltblütig den Dreck der Vergangenheit aufrührt und nichts tut, als auf dem Feuer der Neuen Heimat sein Wahlkampfsüppchen zu kochen, der handelt unverantwortlich.
Wer im Jahre 1986 feixend zusieht, wie eine neue Mannschaft bei der NH versucht und wie Länder und Kommunen versuchen, im Interesse der Mieter und des gesamten Wohnungsmarktes den Riesentanker NH nicht stranden zu lassen, der handelt so verantwortungslos wie diejenigen, die in den 60er und 70er Jahren diesen untauglichen Riesentanker NH bastelten und ihn auf fragwürdigen Kurs brachten. Sie, Herr Minister Schneider, werden Ihrer Aufgabe als Wohnungs- und Städtebauminister in der Diskussion über die Probleme der Neuen Heimat nicht gerecht. Sie lassen sich vor den Wahlkampfkarren Ihrer Fraktion spannen.Die Antwort, die Sie auf die Große Anfrage gegeben haben, unterstreicht Ihr Versagen. Gleich auf der Seite 1 beschreiben Sie ganz offen, auf was es bei diesem Thema Ihrer Meinung nach besonders ankommt: Wer hat die unternehmerischen Fehler der NH zu verantworten, wer trägt die Verluste, und wer übernimmt die Kosten für die Sanierung des Unternehmens?
Das sind Ihre Stichworte. Die Mieter kommen bei diesen wichtigsten Stichworten nicht vor. Die. Sorgen der kommunalen Wohnungspolitiker kommen da auch nicht vor. Auch die Mitarbeiter kommen nicht vor.
Der Bauminister hat sich so festgelegt auf die Strafaktion gegen Neue Heimat und Gewerkschaften, daß er wohl selbst nicht mehr merkt, wie verräterisch seine Antwort auf die Große Anfrage ist. Um bis zur Bundestagswahl im Januar 1987 ein dankbares Thema zu haben, redet der Bundesbauminister in Sachen Neue Heimat über gestern und vorgestern und verweigert sich den dringend erforderlichen konstruktiven Lösungen.
Schnelle Lösungen sind aber nötig. Die Sache verträgt keinen Aufschub. Um im Bild zu bleiben: Wenn der Riesentanker zu sinken droht, muß man die Rettungsboote ausfahren und darf sich nicht damit aufhalten, die Blamage der Schiffsbauer zu beschreien, die vor zehn Jahren schwere Fehler gemacht haben.
Übrigens, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten Herr Minister, Sie sind auf diesem Tanker dabei. Wenn das Ende der Neuen Heimat unrühmlich werden sollte, werden Sie wegen unterlassener Hilfeleistung als „Neue-Heimat-Minister" in die wohnungspolitische Geschichte dieses Landes eingehen.
Es gab eine Phase in der Diskussion, da habe ich von dieser Stelle aus über Ihre Rolle, Herr Minister, nachweislich anders geredet. Man konnte da noch Hoffnung haben. Aber was Sie in den vergangenen Monaten und jetzt mit dieser Antwort zum Thema beigetragen haben und wie Sie das tun, ist ärgerlich. Es drängt sich die Frage auf, Herr Minister: Sie sind jetzt dreieinhalb Jahre im Amt. Wenn es, wie Sie schreiben, zahlreiche Anhaltspunkte und Hinweise gegen die Neue Heimat gibt, seit wann kennen Sie diese? Warum haben Sie nicht den Bundes-
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16606 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Münteferingtag oder wenigstens den zuständigen Bundestagsfachausschuß ins Bild gesetzt?
Oder haben Sie als Bundesbauminister nicht bemerkt, daß die Neue Heimat sich seit 1981/82 in einer schwierigen Konsolidierungs- und Umstrukturierungsphase befand?
Ihre Antwort, Herr Minister, hat, zugegeben, auch eine schöne Seite. Da singen Sie ein großes Loblied auf das Mietrecht; auf das Mietrecht, das Sozialdemokraten vor 15 Jahren erkämpft haben und das in dieser Situation in der Tat hilfreich ist. Nur verschweigen Sie, daß Sie Arm in Arm mit Herrn Lambsdorff verhindert haben und bis heute verhindern, daß auch die leider noch vorhandenen Löcher im Mieterschutz geschlossen werden. So beruhigt, wie Sie es sich wünschen und vorstellen, können die Mieter der Neuen Heimat denn doch nicht sein. Dazu zwei Beispiele.Ein Teil der Neue-Heimat-Wohnungen hat keine Sozialbindung. Sie sind nur, aber immerhin, als gemeinnützige Wohnungen der Mietpreisbindung unterworfen. Entfällt aber die Gemeinnützigkeit durch Verkauf an nicht gemeinnützige Eigentümer oder durch Aberkennung der Gemeinnützigkeit, so entfällt auch diese Bindung.
Statt der Kostenmiete gilt dann die Vergleichsmiete, und die darf laut Gesetz alle drei Jahre um bis zu 30 % steigen. Sie ignorieren die Bedeutung der Gemeinnützigkeit schlichtweg, und Sie weigern sich bisher, unserer Forderung zuzustimmen, die zulässige Erhöhungsmarge von 30 % drastisch zu reduzieren.Ein zweiter Fall.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Möller?
Bitte schön.
Herr Kollege Müntefering, wäre es nicht angemessen, wenn Sie auch zu Ihren eigenen Anträgen mal Stellung nehmen würden und nicht nur zu Attacken auf die Bundesregierung kommen würden? In Ihrem eigenen Antrag sprechen Sie von „rechtswidrigen Machenschaften" und vom „In-die-eigene-Tasche-Wirtschaften" der Neuen Heimat. Dazu sollten Sie etwas sagen.
Das haben wir aufgeschrieben, damit es schwarz auf weiß da steht und jeder unsere Meinung dazu kennt. Wenn Sie eben genau zugehört hätten, dann hätten Sie mitbekommen, daß meine Vorwürfe in dieser Richtung sehr schwerwiegend gewesen sind.
Aber das ist keine Entschuldigung für das, was Sie jetzt wieder versuchen, nämlich über gestern und vorgestern zu reden und sich den konkreten Lösungen, die jetzt anstehen, zu verweigern. Das ist Ihr Problem, mit dem Sie fertigwerden müssen.
Ich will Ihnen einen zweiten Fall aufzeigen, wo ebenfalls die Sicherheit der Mieter nicht so ist, wie Sie sich das wünschen und darstellen. Für nicht wenige Wohnungen bewegt sich die Restförderung in einer Größenordnung, die bei neuen Eigentümern schnell zu freiwilligen, vorgezogenen Rückzahlungen führen kann. Das aber bedeutet gebietsweise den baldigen Verfall der Mietpreis- und Belegungsbindungen.
Die Folge: Der Mieter hat bei Umwandlung in Einzeleigentum kein Vorkaufsrecht, und er hat keine achtjährige Schutzzeit mehr gegen Eigenbedarfkündigung. Wir wollten das längst gesetzlich klären. Sie weigern sich. Aber Sie werden noch Gelegenheit haben, im Deutschen Bundestag abzustimmen und zu zeigen, wie mieterfreundlich Sie nun tatsächlich sind. Dann wird deutlich werden, daß alles, was Sie zu den Mietern sagen, Schaum ist; denn im Ausschuß wurde längst deutlich, daß Sie dem nicht zustimmen,
was wir an zusätzlichem Mieterschutz wollen.Nun verwenden Sie das Argument, meine Damen und Herren von der Koalition, wir hätten einen Überhang an Wohnungen, und schon deshalb werde den Mietern nichts passieren. Dieser Überhang sei der beste Mieterschutz. Da ist etwas dran.Übrigens — eingeschoben — wenn die von Ihnen beschimpfte Neue Heimat, die sich nicht nur draußen in der Welt engagiert hat, sondern die in der Bundesrepublik 500 000 Wohnungen gebaut hat, diese 500 000 Wohnungen nicht gebaut hätte, wäre das mit der Bedarfsdeckung in den Bedarfsschwerpunkten weit weniger gut.
Aber in der Tat ist die allgemeine Wohnungslage beruhigend; wohlgemerkt: die allgemeine. Es ist Unsinn, sich hier hinter Bundesdurchschnittszahlen zu verstecken. Leerstände in Ostfriesland und im Bayerischen Wald helfen nichts, wenn in Bremen die 40 000 Wohnungen der NH schlagartig in die falschen Hände kommen würden oder die ähnliche große Zahl in Hamburg. Die Mieter können nicht alle ausweichen, sie können nicht alle dem neuen Vermieter sagen: Wir suchen uns eine neue Wohnung, wenn du mit deinen Forderungen unverschämt wirst.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16607
MünteferingSie, Herr Minister, ignorieren die regionalspezifischen Besonderheiten der Neue-Heimat-Problematik, wie Sie in Ihren Antworten auch behaupten, der Verkauf von Wohnungen der Neuen Heimat sei keine Gefahr für die Immobilienpreise, keine Gefahr für selbstnutzende Eigentümer, habe auch keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung in der Bauindustrie. So viel Ahnungslosigkeit, Herr Bauminister, kann man Ihnen nicht zutrauen, und die Absicht, die mit solchen Behauptungen verbunden ist, ist offenkundig; denn wenn der Verkauf von 60 000, 100 000 oder aller 240 000 Wohnungen der Neuen Heimat wirklich kein Problem ist — so behaupten Sie —, dann muß sich der Minister auch keine Gedanken über Probleme machen und kann sich weiter um längst zurückliegende Managementfehler kümmern.Sie haben deshalb, Herr Minister, anscheinend auch noch gar nicht bemerkt, daß es längst nicht mehr um die Sanierung der Neuen Heimat geht, daß es natürlich nicht um Hilfen für die Neue Heimat geht, daß es nicht um die Rettung oder Konsolidierung der Neuen Heimat geht, wie Sie in Ihrer Antwort immer noch anführen. Es geht vielmehr darum, einer Million Menschen, Mietern und Angehörigen, Sorge und Angst um ihre Wohnungen zu nehmen.
Und es geht darum, soziale und gemeinnützige Bindungen von Wohnungen mit dem Ziel zu erhalten, diese Wohnungen weiterhin zur Sicherung der Wohnbedürfnisse breiter Schichten der Bevölkerung einzusetzen. Dieses Ziel ist nur mit einer schnellen, mit einer regional gezielten, mit einer politisch gestützten und finanziell unterstützten, mit einer im wesentlichen vom Eigentümer und den Banken finanzierten Lösung denkbar.Aber die Rolle, die die öffentliche Hand dabei zu spielen hat, ist nicht zu unterschätzen. Haben Sie davon nichts gehört, Herr Bauminister, daß diese Notwendigkeit eines Eingehens auf die besonderen regionalen Bedürfnisse und Problematiken im Vordergrund aller Überlegungen stehen muß? Zwar kommt in Ihrer Antwort auch die Formel wieder vor, die wir bereits seit dem 5. Februar 1986 kennen, daß die Bundesregierung sich „begleitenden Ermessensentscheidungen im Interesse der Mieter nicht versagen will". Das sind bis heute nichts als leere Worte; denn in gleichem Atemzug spricht sich der Minister wieder dagegen aus, „die betreffenden Wohnungen ein zweites Mal mit Mitteln öffentlicher Hand zu fördern" — ein zweites Mal. Wohnungen der Bauherrenmodelle sind nur einmal gefördert, mit durchschnittlich 120 000 bis 150 000 DM je Wohnung.
Die 500 000 Wohnungen, die die Neue Heimat gebaut hat, wurden auch einmal gefördert, und zwar mit durchschnittlich 20 000 DM.
Was ist das für ein Quatsch, ohne konkrete Zahlen von der ersten, zweiten oder wievielten Förderung auch immer zu sprechen!
Das kommunale Wohngeld, das manche unserer großen Städte, unter welchem Namen auch immer, zahlen, der Härteausgleich, den einige Bundesländer zahlen, die Streckung degressiver Aufwendungsbeihilfen, die üblich geworden sind, die Hilfen für in Not geratene selbstnutzende Wohnungseigentümer, — das sind doch alles Nachsubventionierungen, seien es zweite oder dritte, für die wir in der Bundesrepublik inzwischen Hunderte von Millionen DM, jährlich ausgeben. Das geschieht mit gutem Grund, von Ihnen nicht beanstandet, von uns gefordert. Aber, bitte schön, gleiches Recht für alle. Wo ist denn der prinzipielle Unterschied zu unserer Forderung, Hilfestellung bei der Übernahme bisheriger NH-Wohnungen durch neue Eigentümer zu geben? Nein; auch hier ist offensichtlich: Weil die Neue Heimat im Eigentum der Gewerkschaften ist und weil die bestraft werden sollen und weil das eine günstige Gelegenheit ist, sozialdemokratische Gewerkschaftler zu treffen, wird die Nachsubventionierung kategorisch abgelehnt. Die Bundesregierung wird nicht bestreiten, daß die anderen von mir genannten Methoden der Nachsubventionierung sinnvoll sind. Denn es ist sinnvoll, bereits gebaute, bedarfsgerechte Wohnungen zu erhalten und finanzierbar zu erhalten.Und weil das so ist, geht es nicht um die Sanierung der Neuen Heimat,
sondern um die Sicherung preiswerten Wohnens für die Menschen und darum, daß bisherige NHWohnungen bald in die Hände anderer, gemeinnütziger, genossenschaftlicher oder auch privater Eigentümer kommen, die nicht mit diesen Wohnungen spekulieren,
sondern die solide Vermieter sind.Ich fordere Sie auf, Herr Minister, Ihre Wahlkampfstrategie zu stoppen und sich endlich mit Ihrer Aufgabe zu befassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ziel aller Bundesregierungen der Nachkriegszeit war es, durch Subventionen einerseits preiswerte Wohnungen für sozial bedürftige Mieter zu sichern und durch langfristige Bindungen Mietsicherheit zu erhalten und damit den Menschen, insbesondere den Familien, ein Gefühl der Geborgenheit im heimatlichen Umfeld16608 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986Grünbeckzu geben. Das Unternehmen Neue Heimat mit dem Eigentümer Deutscher Gewerkschaftsbund hat zweifelsohne wie alle gemeinnützigen und insbesondere auch frei finanzierten Wohnungsbaugesellschaften in der Bundesrepublik in der Aufbauphase Wesentliches für dieses Ziel geleistet. Aber das Unternehmen Neue Heimat hat mit seinen Managern und Aufsichtsräten, durchweg Gewerkschaftsfunktionären, in einem Anflug von Maßlosigkeit bis hin zum Größenwahn, von visionären Fehlprognosen bis hin zu spekulativen Fehlentscheidungen das Unternehmen zugrunde gerichtet,
einen riesigen volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet und einen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern auch das Ansehen der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft insgesamt schwer geschädigt, das Vertrauen der Mieter zerschlagen und das Vertrauen der Banken und damit der Sparer, aber auch das Vertrauen der Steuerzahler mißbraucht.
Dabei muß man dem DGB, aber auch der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten, der ständig nach dem Anstand und der Wahrheit ruft, in Erinnerung bringen, welche Ziele und welche Grundsätze die Gewerkschaften zur Bewirtschaftung ihrer eigenen gemeinnützigen Unternehmen selbst beschlossen haben. Da heißt es wörtlich:Den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht verhindern! Die Politik der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen unterliegt der Kontrolle durch die Gewerkschaften, die Beschäftigten der Unternehmen und auch der Konsumgenossenschaftep. Dadurch ist institutionell gewährleistet, daß die zugunsten von Arbeitnehmern und Verbrauchern— in unserem Falle also der Mieter —erbrachten Leistungen dauerhaft erbracht werden.Und in den Grundsätzen von 1972 findet sich der bemerkenswerte Satz:Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung an, die die Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Offenlegung aller Daten ermöglicht.Dies alles sind Phrasen. Die Wahrheit sieht anders aus. Die Kontrolle beim gewerkschaftseigenen Konzern Neue Heimat hat versagt. Die Fachleute sind sich in diesem Urteil durchweg einig. Nicht der Sachverstand, sondern die Funktionäre im Aufsichtsrat mit dem richtigen Parteibuch hatten das Sagen. Herr Breit war 14 Jahre im Aufsichtsrat, davon die letzten Jahre als Vorsitzender der Neuen Heimat tätig.
Es ist nicht zu fassen, daß bei seinen Ansprüchen,die er gegenüber anderen in Sachen Verantwortungstellt, dieses Gremium gerade in den letzten Jahren als Kontrollorgan versagt hat.
Klangvolle Namen finden sich in der Liste des Aufsichtsrats. Neben Frau Dr. Wulf-Mathies habe ich auch Herrn Steinkühler gefunden. Dieser Herr hat kürzlich öffentlich diese Bundesregierung als ein „Kabinett des Kapitals" bezeichnet: eine unverschämte Diffamierung der Mitglieder dieser Bundesregierung aus vordergründigen politischen Motiven.
Welche Note hätte sich denn eigentlich der Herr Steinkühler in seiner Eigenschaft als Aufsichtsrat der Neuen Heimat verdient? Entweder hat der Aufsichtsrat von der Entwicklung gewußt und hat aus seiner falsch verstandenen Kumpanei geschwiegen und damit die Fehlentwicklung bewußt geduldet,
oder er hat nichts gewußt, weil der Einblick, der Durchblick und der Ausblick gefehlt haben. Dann hatten aber die Herrschaften im Aufsichtsrat eines Konzerns dieser Größenordnung nichts zu suchen.
Es ist nahezu ein Beleg dafür, daß bei der Verfilzung von Neuer Heimat, DGB und SPD das Funktionärsprädikat mehr gilt als jeglicher Sachverstand.
Ob das eine oder das andere zutrifft, meine Damen und Herren, kann man heute noch nicht sagen, aber beide Möglichkeiten sind von Übel. Wenn die SPD und ihr Kanzlerkandidat dies alles tolerieren, kann man nicht andere ermuntern, den Anstand zu wahren, sondern dann ist alles aufgerufen, erst das eigene Haus in Ordnung zu bringen.
Ich halte es für dringend notwendig, daß Herr Breit mit seinem gesamten Aufsichtsrat zurücktritt, weil er in alle die unseligen Entwicklungen durch seine langjährige Tätigkeit selbst mit verstrickt ist und eine unabhängige Kontrolle nicht mehr ermöglicht. Die geschmacklose Bemerkung von Herrn Breit, man werde das Tafelsilber des DGB nicht zur Sanierung bereitstellen,
paßt in diese Betrachtungen.
Wir haben mit der Großen Anfrage an die Bundesregierung einen Versuch unternommen, die Weiterentwicklung der Neuen Heimat einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Was dabei von SPD, von Funktionären des DGB und von Managern der Neuen Heimat alles in die Öffentlichkeit kommt, wirkt abstoßend, weil es von einer ungeheuren Ar-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16609
Grünbeckroganz und Ignoranz gegenüber dem Steuerzahler, dem Sparer und vor allen Dingen gegenüber den Mietern zeugt und weil es an jeglicher Selbstkritik mangelt.Man darf die Ereignisse doch noch einmal kurz skizzieren.Erstens. Herr Breit, der Aufsichtsratsvorsitzende, und Herr Dr. Hoffmann, der Vorstandsvorsitzende, schreiben einen Hilfebrief an den Bundeskanzler und bitten dringend um ein Gespräch mit der Möglichkeit, zu prüfen, ob neue Finanzmittel für das Unternehmen Neue Heimat bereitgestellt werden können, obwohl bereits 10 Milliarden DM an Subventionen geflossen sind.Zweiter Akt: Der Bundesbauminister organisiert ein Gespräch mit den zuständigen Länderministern, den Vertretern der Neuen Heimat und den Banken, um zu sondieren, welche Möglichkeiten gegeben sind. Anläßlich dieses Gespräches kommt eine Vereinbarung zustande, wonach die Neue Heimat durch eine neutrale Stelle eine Bestandsaufnahme über ihr gesamtes Vermögen durchführen läßt, womit eine solide Ausgangsbasis für weitere Maßnahmen gegeben wäre.Dritter Akt: Unabhängig von dieser Vereinbarung veräußert die Neue Heimat ständig — manchmal zu nicht vertretbaren Schleuderpreisen — Wohnungen, schiebt laut „Spiegel"
ständig Gewinne und Verluste innerhalb. der Tochtergesellschaften hin und her und ermöglicht damit nicht die dringend notwendige Bestandsaufnahme.Vierter Akt: Plötzlich verweigert die Neue Heimat die Bucheinsicht und das Gutachten und verstößt damit gegen ihre eigenen Grundsätze sowie gegen die getroffenen Vereinbarungen
und erstellt ein eigenes Memorandum, das aber nicht nachgeprüft werden kann.Fünftens. Als die Bundesregierung die Offenlegung der Bücher als Voraussetzung für alle weiteren Gespräche und mögliche Hilfeleistungen festschreibt, äußert Herr Lappas, Chefmanager der Tochtergesellschaft BGAG sinngemäß: Unsere Vermögensverhältnisse sind so gut, wir sind so reich, daß wir uns aus eigener Kraft retten können.
Meine Damen und Herren, dann muß doch die Frage gestattet sein, warum denn der Hilferuf eigentlich ergangen ist.
Es gibt eigentlich keinen anderen Schluß, als daß dieser Hilferuf an den Bundeskanzler eine arglistige Täuschung war, um an weitere öffentliche Gelder heranzukommen und die Gewerkschaftskasse zu schonen und zu sanieren.
Dennoch bleibt natürlich die Frage der Konsolidierung im Raum. Denn es zeigt sich ja, daß die Kraftsprüche von Herrn Lappas wenig genutzt haben. Wer die Bilanzen der Neuen Heimat aus den letzten vier Jahren liest, kann einen Satz immer wieder finden: „Im Mittelpunkt unserer Bemühungen stand und steht die Konsolidierung des Unternehmens." Die Frage stellt sich, ob überhaupt ein Konzept zur Konsolidierung vorliegt und, wenn ja, warum man dann täglich anders handelt, als man es sich vorgenommen hat.Man nehme aus dem Bericht der Bundesregierung nur einmal folgende Zahlen: Bereits jetzt sind mehr als 63 000 Wohnungen verkauft. Zum Teil sind es die besten Bestände, die - um schnell an Liquidität zu kommen — verkauft wurden. Pro Wohnung wurde nach dem Bericht der Bundesregierung ein Durchschnittspreis von 70 000 bis 130 000 DM erzielt; das wären also im Durchschnitt etwa 100 000 DM pro Wohnung. Damit müßten eigentlich jetzt schon 6 Milliarden DM an zusätzlicher Liquidität erlöst worden sein. Es taucht aber in der Öffentlichkeit, insbesondere in der Finanzwirtschaft, immer mehr die Frage auf, ob denn diese verkauften Wohnungen von den Erwerbern — zu einem beachtlichen Teil sind es ja wiederum gewerkschaftseigene Käufer wie die BGI — auch tatsächlich bezahlt wurden. Bei der Kapitaldecke der BGI z. B. ist zu befürchten, daß sich die Schulden dort drastisch erhöhen und die Bilanzen der Neuen Heimat entsprechend entlastet, d. h. geschönt werden. Das ist natürlich keine seriöse Konsolidierung.In diesem Zusammenhang taucht auch die Frage auf, inwieweit dies alles für den Deutschen Bundestag wichtig ist. Der Bericht der Bundesregierung sagt u. a., daß durch landesverbürgte Darlehen unmittelbare Konsequenzen auf die Ausgabenseite des Bundes in seiner Eigenschaft als Rückbürge entstehen können. Im Einzelfall kann dies bis zu 50 % des Bürgschaftsvolumens sein.Wenn dem so ist, meine Damen und Herren, dann halte ich es für eine Unverschämtheit, wenn die Neue Heimat ankündigt, daß die Länder ein Gutachten über die Vermögenslage der Neuen Heimat erhalten werden, dem Bund aber die Bucheinsicht bei dieser Rechtslage weiterhin verweigert wird.
Nun sollen j a weitere 60 000 Wohnungen zu ähnlichen Preisen verkauft werden, ohne daß etwa das Konsolidierungskonzept des DGB als Eigentümer oder ein Konzept der Neuen-Heimat-Manager vorliegt. Der hektische Verkauf oft weit unter Marktpreis ist ohnedies ein volkswirtschaftliches Vergehen, das nicht zu verantworten ist. Schließlich wurde j a hier mit erheblichen Subventionen ein sozialpolitisches Ziel verfolgt, das jetzt, um Gewerkschaftskassen zu schonen, rigoros geopfert wird.Dabei verdient im Rahmen dieser Betrachtungen der Konsolidierung die Entwicklung des Personalbestandes bei der Neuen Heimat Beachtung.Meine Damen und Herren, das, was hier vollzogen wurde, sollte man sich wirklich einmal anhören. 4 982 Personen waren 1980 gemäß dem Bericht
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16610 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Grünbeckder Bundesregierung beschäftigt. Jetzt sind es noch 3 500. Über 1 400 Mitarbeiter haben also ihren Arbeitsplatz bereits verloren. Die restlichen Mitarbeiter haben kaum Aussicht auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.Was wird von vielen DGB-Funktionären und SPD-Kollegen bis hin zum Kanzlerkandidaten Rau ständig gewettert, wenn in Betrieben rationalisiert wird, um wettbewerbsfähig zu bleiben! Hier aber verlieren die Menschen ihren Arbeitsplatz nicht durch Rationalisierung, sondern deshalb, weil DGB-Funktionäre und Neue-Heimat-Manager in verantwortungsloser Art und Weise die Arbeitsplätze buchstäblich verschlampert haben und damit den Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren haben.
Und wenn dies dann noch von der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten toleriert wird, dann ist es auch mit ihrer Glaubwürdigkeit restlos zu Ende.Schließlich noch eines: Nach dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz hätte der regierende Bürgermeister von Hamburg das Recht — und nach den Ergebnissen auch die Pflicht —, eine sofortige Prüfung durch eine neutrale Aufsichtsbehörde in Auftrag zu geben zu Lasten des Unternehmens Neue Heimat. Nachdem sich Herr von Dohnanyi lange zu Recht geweigert hat, Bestände der Neuen Heimat zu kaufen und sich jetzt auf Grund des Druckes seiner SPD-Basis eines anderen besinnen mußte, wäre es eigentlich an der Zeit, daß er seinen Pflichten im Sinne des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes nachkommt, zumal ihm jetzt der Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der Hamburger Bürgerschaft vorliegt, worüber der „Spiegel" in seiner Ausgabe vom 21. April 1986 ausführlich berichtet.Da ist die Rede davon, daß die Firma Neue Heimat fast zwangsläufig verrotten mußte, daß sie nun vor dem Ende steht. Der Konzern habe sich schon lange immer an der Grenze des Erlaubten, mal diesseits und mal jenseits, bewegt. Ober Jahre hinweg — so der „Spiegel" — wurden die Bilanzen manipuliert, um die ernste Lage zu verschleiern. Da wurden Querverkäufe zu der Konzernzentrale und den einzelnen Regionalgesellschaften abgewickelt, um „die Aktivierung stiller Reserven zur Abdeckung von Verlusten, Verringerung oder zur Gewinnabführung" zu inszenieren. Als interne Schieberei bezeichnet der „Spiegel", daß die Neue Heimat bei ihren einzelnen Firmen ganz nach Bedarf Gewinne oder Verluste buchen konnte. Es heißt wörtlich: „So verschaffte sich der Konzern zwischen 1974 und 1983" — in dieser Zeit war Herr Breit Aufsichtsratsvorsitzender — „Scheingewinne in Höhe von insgesamt 620 Millionen DM. Die Neue Heimat kassierte bei diesen Querverkäufen sogar Vermittlungsprovisionen". So der „Spiegel".Wir werden sicher den Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses aus Hamburg noch näher ansehen und möglicherweise auch darauf zurückkommen.Ich möchte aber heute noch einmal besonders auf die Lage der Mieter der Neuen Heimat eingehen.Im Bericht zur Lage des Konzerns von 1981 heißt es unter dem Titel „Mieterbetreuung und Kontaktpflege" wörtlich — das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen —, ich zitiere:Hauptproblem der Mieterbetreuung ist der Abbau der Anonymität eines Großunternehmens gegenüber dem einzelnen Mieter. Um dies zu erreichen, ist die Unternehmensgruppe bemüht, fortlaufend die Organisation mieternäher zu gestalten, den Informationsfluß zu verbessern, auf die Beschwerden und Anregungen der Mieter oder ihrer Interessenvertreter unverzüglich einzugehen sowie für Einzelhilfen und Gemeinwesenarbeit Sozialarbeiter einzusetzen.Welche frommen Sprüche! Und wie sieht die Wirklichkeit aus?Die Bundesregierung hat die Rechtslage der Mieter in der Antwort auf unsere Große Anfrage eindeutig geklärt. Wir Freien Demokraten nehmen das zur Kenntnis. Der Bundeswohnungsbauminister hat einen Leitfaden für die Mieter der Neuen Heimat angekündigt, worin aufgezeigt wird, wie sie ihre Rechte wahren können. Ich bitte Sie, Herr Minister, ausdrücklich, in diesen Leitfaden auch die Kontrolle über die Mieten und die Mietnebenkosten durch die Mieter aufzuzeigen und sehr deutlich darzustellen, welche Rechte die Mieter haben. Ich halte das für besonders wichtig, weil ich durch viele Briefe, Gespräche und Telefonate in meiner Überzeugung ständig bestärkt werde, daß die Abrechnungen über die Mieten und Mietnebenkosten nicht korrekt und seriös durchgeführt werden. Dabei werden die Mieter oder deren Interessenvertreter durch die Manager der Neuen Heimat vor Ort oft nicht gut behandelt. Viele Vorgänge werden verzögert und verschleiert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Wenn mir das auf die Redezeit nicht angerechnet wird.
Bitte sehr. Ich rechne das nicht an.
Herr Kollege, da Sie die Mieterrechte so begrüßen: Sind Sie -- auch in der Konsequenz der Debatte, die wir jetzt führen — bereit, mit uns ein Gesetz zu verabschieden, mit dem die Mieterrechte in den eben von mir aufgezeigten Punkten verbessert werden?
Herr Kollege Müntefering, wir sind bereit, Mieterschutz zu betreiben, aber nicht so, wie Sie es wollen, nämlich ganz zu Lasten der Eigentümer alles zu arrangieren. Wir werden auch die Eigentumsrechte wahren.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16611
GrünbeckBeides muß gewahrt bleiben.
Ich weiß, daß „Eigentum" für Sie fast ein Fremdwort geworden ist.
Der ehemalige Justizminister und heutige Präsident des Mieterbundes, Herr Jahn, hat einmal wörtlich erklärt
— er ist ja leider wieder einmal nicht da; ich zitiere ihn —:Niemand muß Unrecht hinnehmen. Sind einem Mieter Unterlagen und Unregelmäßigkeiten seitens des Vermieters bekanntgeworden und er nimmt sie nicht zur Kenntnis und prangert sie nicht an, so macht er sich an der Sache mitschuldig.So Herr Jahn.Die Welt dieser Menschen, die den Aufruf von Herrn Jahn wahrmachen wollten, sieht anders aus. Sie werden vielfach schikaniert, bis zum Auszug gezwungen und vor Gericht gezerrt. In einigen Gesprächen und Telefonaten, aber auch aus Briefen äußert sich die große Sorge, daß auch manche Funktionäre des Mieterbundes in einer falschen Solidarität zur SPD und zum DGB gerade im Falle Neue Heimat nicht immer mit aller Entschlossenheit die Rechte der Mieter wahrnehmen, wie sie es in anderen Fällen getan haben.Ich habe heute drei Bürger zu dieser Sitzung eingeladen und freue mich, daß zwei von ihnen gekommen sind. Sie haben sich besonders engagiert und können mir das alles bestätigen. Frau Margit Warnecke aus Hannover hat in jahrelanger Arbeit gegenüber der NWDS, einem Tochterunternehmen der Neuen Heimat, erstritten, daß einer Mietergemeinschaft mit 280 Mietern in Hannover 130 000 DM an zuviel berechneten Gebühren zurückgezahlt werden mußten. Frau Warnecke hat weder gerichtliche Auseinandersetzungen noch Kosten, noch persönliche Diskriminierungen gescheut, um für ihre Mietergemeinschaft dieses Ergebnis zu erstreiten. Was sie mir an Belegen vorgelegt hat, an Ereignissen geschildert hat, ist unbeschreiblich. Aber es zeigt, daß wir in den Reihen der Mieter der Neuen Heimat sehr aufmerksame Mitbürger brauchen, die sich gegen die Mißbrauchserscheinungen zur Wehr setzen.
Herr Klaus Piper aus Frankfurt hat insbesondere die Neue Heimat Südwest im kritischen Visier. Da wurden u. a. 23 Jahre lang Instandhaltungskosten über die Miete erhoben, ohne daß dringende Reparaturen durchgeführt wurden wie etwa an undichten Fenstern, die im Winter mit Decken abgedichtet werden mußten. Das sind keine mieterfreundlichen Handlungen.Besonders tragisch erscheint mir das Schicksal von Herrn Prohl aus Wehrl — er kann heute leider nicht kommen —, der einen jahrelangen Streit mit der Neuen Heimat damit bezahlt hat, daß er ausziehen und ins Altersheim ziehen mußte. Das ist eine schlechte Sozialpolitik.
Die Landschaft der Mieter und ihres Vermieters Neue Heimat ist geprägt von Streit und Rechtsauseinandersetzungen in allen Bundesländern. Dennoch sollte man nicht bei dieser Betrachtung bleiben. Ich glaube, daß aus alldem auch Konsequenzen zu ziehen sind. Sicher ist es notwendig, daß die Bundesregierung — das zeigt ja auch die Antwort auf unsere Große Anfrage — auf eine Entrümpelung der unzähligen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften innerhalb des Mietrechts drängen sollte.
Der Mieter kann sich selbst nicht mehr helfen. Die Wirtschaftlichkeitsberechnungen, Grundlage der Miete und der Mietnebenkosten, sind ein unüberschaubares Instrument geworden, das vielfach mißbraucht wird, ohne daß es der Mieter überhaupt feststellen kann. Ich empfehle den Mietern der Neuen Heimat, entweder ihre Mietervereine oder andere Interessenvertreter zu finden, die genau nicht nur die Wirtschaftlichkeitsberechnungen prüfen, sondern auch die Belege dafür kontrollieren und unter gegebenen Umständen revidieren und möglicherweise zuviel gezahlte Beträge zurückfordern.
Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß noch eine Bemerkung machen: Die Neue Heimat ist mit einem Namen angetreten, der einen hohen ethischen Wert in sich birgt. Heimat ist für viele Menschen ihre Wohnung oder ihr Heim und das dazugehörige Umfeld. Das Wort Heimat hat durch eine verfilzte Mißwirtschaft von Funktionären und Managern viel von dieser Ethik verloren. Aber wir werden dieses Thema und die gesamte Problematik auf der Tagesordnung belassen, im Interesse der Mieter, aber auch im öffentlichen Interesse aller Bürger, bis wir Klarheit über die weitere Finanzierung und die weitere Bestandssicherung haben. Es bleibt auf der Tagesordnung, bis wir Klarheit haben, wer die Verantwortung und die Schuld für diese Fehlentwicklung trägt. Es bleibt auf der Tagesordnung, damit wir die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen können und damit möglicher Schaden ersetzt wird.Wenn ich abschließend, Herr Müntefering, noch eines zu Ihren Ausführungen sagen darf, die in einer selten konfusen Art und Weise die Verantwortung an den Bundesbauminister adressiert haben, dann kann ich nur sagen, wenn sich die SPD bei der Wohnungspolitik, bei der Sicherheitspolitik, bei Farthmannscher Wirtschaftspolitik, bei der Energiepolitik und bei der Sozialpolitik weiterhin auf diesem Untugendpfad bewegt, dann wird, wie mir neulich ein Kollege aus Ihren Reihen gesagt hat, mit Kontinuität etwas wahr werden: daß aus der Sozialdemokratischen Partei eine sozialdesolatische Partei wird.
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16612 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
GrünbeckIch danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es ja schon seit Monaten gewußt, brauchten gar nicht die Aufdeckung durch die „Frankfurter Rundschau" von gestern: Die Koalition macht hemmungslos Wahlkampf
mit dem Thema Neue Heimat, und damit treibt sie Schindluder mit der Angst von Mietern,
wie ich schon in der Aktuellen Stunde zur Neuen Heimat am 14. März hier gesagt habe. Das Ganze ist ein Lehrstück in Demagogie. Nur ein ganz kleines Beispiel: In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen erklärt die Bundesregierung unter anderem, Hilfen für die Neue Heimat würden dem Umweltschutz die notwendigen Mittel entziehen.Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen wird durch Ihre Politik in Sachen Neue Heimat arg strapaziert. Es hätte Ihnen zu denken geben sollen, daß in Teilen der Medien in, der Berichterstattung über die letzte Aktuelle Stunde zur Neuen Heimat — das war schon der dritte Aufguß des Grafen — die GRÜNEN so gut wegkamen. Da hieß es z. B. im Norddeutschen Rundfunk,
daß die GRÜNEN mit ihrem Konzept zur Sanierung der Neuen Heimat den einzigen konstruktiven Beitrag in dieser Stunde hier geleistet hätten. Die Bürger sind es leid, hier immer nur Polemik zu hören.
Dieses Rednerpult hier immer nur als Gockelkampfplatz der Nation zu benutzen und zu erleben,
das sind die Leute leid. Hier müßten die Debatten stattfinden, die diese Republik wirklich nötig hat,
und nicht diese Scheingefechte mit dem Hintergedanken, über das Fernsehen ein paar Wähler zu beeinflussen. Die Sorgen der Mieter der Neuen Heimat sind es wirklich wert, daß wir uns ohne Polemik mit ihnen befassen.In der Antwort auf die Große Anfrage wird mit keinem Wort erwähnt, daß es eine Verantwortlichkeit des Bundes für die Wohnungsbauförderung, für die Wohnungsbaugesetze oder für das Wohnungsbindungsgesetz gibt. Alles Bemühen der Bundesregierung ist ausschließlich darauf gerichtet, die Neue Heimat als den Alleinschuldigen darzustellen. Unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit wird hier versucht, den gesamten sozialen Wohnungsbau auszuhebeln, als antiquiert und nicht mehr zeitgemäß hinzustellen.
Der Wohnungsbauminister wird ja nicht müde, vom angeblichen Mietermarkt zu reden. Da zittern offenbar die armen Hausbesitzer vor der Allmacht der Mieter, die aber Quadratmetermieten von 12 DM und mehr gar nicht zahlen können.
Wir GRÜNEN machen dieses miese politische Geschäft mit der Angst der Mieter nicht mit. Wir fordern vielmehr: Nehmt den Mietern die Angst und der Neuen Heimat die Wohnungen!
Wir meinen, daß die Wohnungen der Neuen Heimat endlich einer demokratischen Selbstverwaltung der Mieter übergeben werden müssen.
Wir GRÜNEN sind hier nicht in der Position, das grobe Fehlverhalten der Verantwortlichen der Neuen Heimat verteidigen zu wollen oder zu müssen. Für solches Fehlverhalten bis hin zur Wirtschaftskriminalität müssen klare Verantwortlichkeiten und auch Schadensersatzansprüche festgestellt werden, wie das in Hamburg bereits mit einem Untersuchungsausschuß begonnen wurde.
Unabhängig davon ist die Verantwortlichkeit der öffentlichen Hand für das Fortbestehen der sozial-und preisgebundenen Wohnungsbestände der Neuen Heimat zu sehen. Ich will hier nicht nochmals unser Konzept zur Sanierung darstellen; es liegt Ihnen als Drucksache vor, und ich habe es an diesem Platz auch schon einmal dargestellt. Aber ich will einmal auf das Verhältnis zwischen der öffentlichen Hand und der Neuen Heimat eingehen.Folgt man der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, dann ist die Neue Heimat nur eine ganz normale Firma, die öffentliche Zuschüsse erhielt und mit diesen Geldern Mißwirtschafttrieb. Wir GRÜNEN sehen das grundsätzlich anders. Aus unserer Sicht hat die Neue Heimat in der Vergangenheit einen sozialen Treuhandauftrag übernommen, und das bedeutet für die jetzige Situation, daß die vorhandenen Probleme der Neuen Heimat nicht so gelöst werden können wie bei einem ganz normalen Unternehmen der sogenannten freien Wirtschaft.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16613
Werner
Die Neue Heimat hat mit Hilfe von öffentlichen Subventionen Sozialwohnungen erbaut.
Die 10 Milliarden DM öffentliche Mittel, die sie dazu erhielt, waren Gelder, auf die sie nach geltenden Gesetzen einen Anspruch hatte, und einen solchen Anspruch hat noch heute jeder Investor, der für gleiche Zwecke Sozialwohnungen baut und dabei eine entsprechende Eigenleistung erbringen kann. Diese Eigenleistungen werden bekanntlich von den Genehmigungsbehörden überprüft. Wie diese Überprüfung lief, werden wir demnächst wohl vom Hamburger Untersuchungsausschuß näher erfahren.Der sozialpolitische Treuhandauftrag bedeutet aus unserer Sicht, daß die Wohnungen in ihrer Gesamtheit und mit ihren Bindungen erhalten bleiben müssen. Sie dürfen nicht über den Markt an Spekulanten geschoben werden. Das Treuhandverhältnis legt die Rechte und Pflichten fest. Der Treuhandauftrag bedeutet z. B., daß sich der Treugeber, die öffentliche Hand, mit den Folgen insoweit befassen muß, als diese wirtschaftlichen Folgen durch den Treugeber selbst mit verursacht worden sind; denn: die Verantwortlichkeit des Bundes für die gesetzlichen Grundlagen des sozialen Wohnungsbaus, die systematische Austrocknung der Mietwohnungsbauförderung
und die ebenso systematische Bevorzugung der besser verdienenden Eigenheimbesitzer, das System der Kostenmiete, die zu unbezahlbaren Mieten für neue Sozialwohnungen führte, all dies hat der Bund, hat die öffentliche Hand mit zu verantworten, und all dies rechtfertigt es aus unserer Sicht, auch von einer Treuepflicht des Treugebers auszugehen, und das heißt, auch die öffentliche Hand muß einen finanziellen Sanierungsbeitrag leisten.Aber auch die Pflichten des Treuhänders, der Neuen Heimat, sind klar zu definieren. Auch der DGB mit seinen Einzelgewerkschaften, der Eigentümer der Neuen Heimat, muß Gelder in die Sanierung der Neuen Heimat einbringen.Die Neue Heimat selbst hat sicher mit umfangreichem Fehlverhalten ihren Beitrag zu ihrer eigenen Krise geleistet: Mißmanagement,
kriminelle Spekulation mit Strohmännern — ist das eine Verharmlosung? —, dubiose konzerninterne Geschäfte zwischen Konzernmutter und Regionalgesellschaften, ungeklärte illegale Spenden an Parteien und Stiftungen, Kapitaltransaktionen zwischen der gemeinnützigen Neuen Heimat und der nicht gemeinnützigen Gesellschaft mit dem fast gleichen Namen, Gesellschaften, die kaum ein Kommunalpolitiker auseinanderhalten konnte; und diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig. Das bedeutet natürlich, daß auch die Eigentümer derNeuen Heimat ihren Anteil zur Finanzsanierung der Neuen Heimat beizutragen haben.
Andererseits bedeutet das auch, daß der noch fortgeltende Treuhandvertrag es der Neuen Heimat verbieten muß, jetzt ihre Wohnungen zu Marktpreisen zu verkaufen; denn sie hatte ja gerade einen öffentlichen sozialpolitischen Treuhandvertrag zur Errichtung .und Erhaltung von Sozialmietwohnungen geschlossen.Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Erstens. Die Neue Heimat hat nach unserer Auffassung in der Vergangenheit eine öffentliche Aufgabe treuhänderisch übernommen.Zweitens. Die Fehler in der Subventionspolitik der öffentlichen Hand lassen den Bund als Treugeber weiter in der Pflicht stehen.Drittens. Mißmanagement und Wirtschaftskriminalität verpflichten den Eigentümer der Neuen Heimat, den DGB, als Treuhänder zu Schadenersatz.Nicht zuletzt viertens: Die Banken haben an den Sozialmietern dank öffentlicher Bürgschaften blendend verdient; auch sie haben durch Zinsverzichte o. ä. ihren Beitrag zu leisten.Nur in einer solchen Gesamtlösung, wie wir sie vorgeschlagen haben, lassen sich die jetzt drohenden Folgen eines völligen Zusammenbruchs der Neuen Heimat vermeiden. Solche Folgen wären: Nur die besseren Wohnungen ließen sich verkaufen, die schwer vermietbaren würden letztlich der öffentlichen Hand zur Last fallen, und zwar durch erneut nötige Nachsubventionierung, durch erhöhtes Wohngeld, durch erhöhte Leistungen für Sozialhilfeträger usw.Vor allem aber sollte an das Schicksal der verunsicherten Mieter gedacht werden. Leider scheint der Regierung hier jedoch nur das kurzfristige Wahlkampfgeschäft wichtig. Die Entlarvung der zynischen Wahlkampftaktik der Koalition auf dem Rücken verunsicherter Mieter führte gestern in unserem Fachausschuß bei der Mehrheitsfraktion zum allgemeinen Gemurmel und zu Klagen über „Ausspionieren", soweit ich das von meinem Sitzplatz aus hören konnte.
Ich empfehle der Koalition als Gegenmittel gegen solche Enttäuschungen die Offenheit von Fraktionsbeschlüssen, wie sie z. B. durch die bei uns praktizierte jederzeitige Öffentlichkeit von Fraktionssitzungen gewährleistet ist. Besuchen Sie uns ruhig einmal auf einer Fraktionssitzung; Sie dürfen dort sogar mitreden.
Vielleicht erfahren Sie dadurch auch, daß der Versuch, die GRÜNEN durch Geheimdienste auszu-16614 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986Werner
spionieren, eine völlig untaugliche Unternehmung ist und zudem völlig überflüssig.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dr. Schneider.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt die Gelegenheit, im Rahmen dieser Aussprache ihre Position zu diesen unerfreulichen Entwicklungen erneut darstellen und bekräftigen zu können. Sie will Tatsachen klären, Licht in die vielfach verworrenen und dunklen Zusammenhänge bringen; sie war und ist weiterhin bestrebt, Schaden für Mieter und Geschäftspartner der Neuen Heimat zu verhindern oder zu mindern.Von diesen Leitgedanken ließ ich mich bereits in meinem Bericht an den Herrn Bundeskanzler am 22. Oktober 1985 leiten. Niemand hat jemals Anlaß gehabt, die Korrektheit und Verläßlichkeit dieser Darstellungen anzuzweifeln.Die Bundesregierung war auch bemüht, die Große Anfrage, soweit ihr das nach den ihr zugänglichen Unterlagen möglich erschien, mit sachlichem Ernst und objektiven Maßstäben zu beantworten.
Aus der Antwort ersehen Sie aber, daß die Bundesregierung nicht alle Fragen vollständig und in allen Einzelheiten beantworten konnte. Neue Heimat und DGB haben wenig dazu getan, ihre wirtschaftliche Lage zu erhellen und einer fach- und sachgerechten Beurteilung zugänglich zu machen.
Die wirtschaftliche Lage des Gesamtkonzerns liegt weiter im Dunkeln. Die Bundesregierung wurde bisher jeder Einblick in die Gesamtzusammenhänge verwehrt. Das, meine Damen und Herren, gilt weithin auch für die Bundesländer.Nun haben Sie, Herr Kollege Müntefering, die Frage nach der Rechtsaufsicht — etwas anderes konnten Sie auch nicht gemeint haben — wohl im Zusammenhang mit Art. 84 des Grundgesetzes aufgeworfen. Sie wissen, daß die Länder die Bundesgesetze in eigener Verantwortung auszuführen haben. Das heißt, auch das Land Hamburg war für den Vollzug dieser Gésetze voll verantwortlich. Ausweislich der einstimmigen Feststellungen im Hamburger Untersuchungsausschuß haben die Hamburger Behörden ihrer Aufsichts- und Kontrollpflicht nicht genügt. Die Länder sind in diesem Fall die Bewilligungsbehörden. Sie führen die Aufsicht, sie kontrollieren. Die Länder allein haben nach § 26 des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes das Recht, jederzeit eine Sonderprüfung durch ein neutrales Wirtschaftsprüfungsinstitut durchführen zu lassen.
Dies ist nicht geschehen. Was hätten Sie wohl gesagt, wenn ich 1983 einen Bundeskommissar zur Überprüfung der Vorgänge in Hamburg dorthin in Marsch gesetzt hätte? Dazu waren die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben. Ich möchte aber entschieden feststellen: Der Skandal Neue Heimat entwickelte sich in den 70er Jahren, und damals regierten andere. Wenn es eine konkrete Verantwortung für die Aufsichtspflicht gegeben hätte, soweit es eine solche überhaupt gibt — in diesem konkreten Zusammenhang bestreite ich sie —, dann hätte sie bei den damaligen Justiz- und Bauministern gelegen.
— Ich sage, ich bestreite das; wenn es sie überhaupt gegeben hätte. Man sollte einen solchen Gedanken gar nicht erst aussprechen.
Meine Damen und Herren, auch die Länder haben keinen ausreichenden Überblick über die Gesamtlage des Konzerns. Aus dieser Erkenntnis haben mich meine Länderkollegen am 19. Dezember 1985 gebeten, ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Geschäftsführung der Neuen Heimat zu vermitteln und zu koordinieren. Das Gespräch sollte ausschließlich den Informationsstand verbessern und Gelegenheit zu einem informellen Gedankenaustausch bieten. Ich habe dieser Bitte entsprochen, weil die Geschäftslage der Neuen Heimat bundesweite und grundsätzliche wohnungs- und gesellschaftspolitische Fragen aufwirft. Mir ging es darum, die Diskussion zu versachlichen, Gefahren abzuwenden und umfassende Informationen für mögliche gesetzgeberische Maßnahmen zu erhalten.Das Gespräch der Bauminister mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Geschäftsführung der Neuen Heimat am 5. Februar 1986 brachte nicht die erhofften zusätzlichen Informationen über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens. Dennoch habe ich es begrüßt, daß alle Beteiligten zu weiteren Gesprächen bereit waren. Die Neue Heimat und der DGB erklärten sich bereit, ein Gutachten bei der Treuarbeit AG in Frankfurt zu folgenden Punkten in Auftrag zu geben: Bewertung des Vermögens, Gesamtbestand der Verbindlichkeiten, Struktur und Fälligkeit der Verbindlichkeiten, Leistungsverflechtungen sowie haftungsrechtliche Verflechtungen innerhalb des Gesamtkonzerns. Es wurde festgelegt: Sobald dieses Gutachten und ein Sanierungskonzept der Neuen Heimat vorgelegt werden, sollen weitere Gespräche stattfinden.Für mich gänzlich unerwartet, ganz und gar überraschend, zog der Deutsche Gewerkschaftsbund amBundesminister Dr. Schneider20. März 1986 seine Zusage, ein neutrales Gutachten erstellen zu lassen, zurück. Die dafür vorgebrachten Gründe sind nicht überzeugend. Die Bundesregierung wertet sie als Schutzbehauptungen. Alles, was Neue Heimat und Deutscher Gewerkschaftsbund an Stelle dieses Gutachtens vorgelegt haben, erweist sich als unzulänglich, unergiebig, unvollständig und letztlich wertlos für die Begutachtung der gesamten Konzernlage.Meine Damen und Herren, am 24. April habe ich nach einem weiteren Gespräch mit meinen Kollegen aus den SPD-regierten Ländern die Gewißheit gewonnen, daß die politischen Voraussetzungen für eine gemeinsame und einheitliche Haltung gegenüber der Neuen Heimat und dem DGB nicht mehr gegeben sind; vielleicht sind sie niemals gegeben gewesen. Einige Länder sind inzwischen den Weg gegangen, öffentliche Mittel zur Sanierung der Neuen Heimat einzusetzen oder in Aussicht zu stellen. Damit werden Verluste übernommen und wirtschaftliches Fehlverhalten mit Steuergeldern ausgeglichen. Dies ist keine soziale Wohltat für die Mieter; das kommt einer Subvention des Deutschen Gewerkschaftsbundes gleich.
Die Bundesregierung bleibt dabei, daß sie keine Steuermittel für die Neue Heimat zur Verfügung stellen wird.
Die Schwierigkeiten der Neuen Heimat sind nicht nur ein wirtschaftlicher Vorgang. Sie sind von schwerwiegender sozialpolitischer und gesellschaftspolitischer Bedeutung. Die Verkäufe von fast 70 000 Mietwohnungen und die Ankündigung weiterer Wohnungsverkäufe, deren Umfang bisher noch nicht abzusehen ist, haben die Mieter und die Beschäftigten der Neuen Heimat verunsichert. Die Mieter und Mitarbeiter der Neuen Heimat stellen die Frage nach der sozialen Glaubwürdigkeit des DGB.
Die Gewerkschaftsmitglieder zweifeln an der Gemeinwirtschaft und an den unternehmerischen Fähigkeiten des DGB und der verantwortlich Handelnden dort.Das unternehmerische Versagen hat weitreichende Folgen. Die Folgen sind nicht regional begrenzbar. Die zuständigen Aufsichtsbehörden in den Ländern sind zum Teil überfordert, den überregionalen Mammutkonzern Neue Heimat wirksam zu kontrollieren.Bundesregierung und Bundesgesetzgeber müssen prüfen, ob Konzerne in dieser Größe und mit derart undurchsichtigen Verflechtungen einen gemeinnützigen Auftrag überhaupt erfüllen können. Die Neue Heimat hat rund 10 Milliarden DM an öffentlichen Mitteln erhalten und zahlt als gemeinnütziges Unternehmen keine Steuern. Bund, Länder und Gemeinden müssen fürchten, daß dieses Sozialkapital verlorengeht.Dieser Vorgang ist ein Alarmzeichen für den Bundesgesetzgeber. Er hat zu prüfen, ob das Förderrecht und das Wohnungsgemeinnützigkeitsrecht zu ändern sind. Soziale Leistungen des Staates müssen den bedürftigen Mieter entlasten. Sie dürfen nicht durch Bodenspekulationen und unternehmerisches Fehlverhalten verwirtschaftet werden.
— Vielen Dank.Die Bundesregierung wird nicht tatenlos zuschauen, wie gemeinnützigkeitsrechtliche Bindungen aufgegeben werden. Es darf auf keinen Fall hingenommen werden, daß der Mieter gemeinnütziger Gesellschaften häufig teurer wohnt als der Mieter in der freien Wohnungswirtschaft. Das ist nicht nur eine Folge der falschen Förderpolitik in den 70er Jahren, der unsoliden degressiven Förderung, der ungezügelten Expansion ohne finanzielle Absicherung. Bei der NeuenHeimat sind öffentliche Gelder teilweise gar nicht dem Mieter zugute gekommen. Sie wurden zum Aufbau eines gigantischen und verschwenderischen Konzerns mißbraucht.
Wir werden die Vorgänge bei der Neuen Heimat genau untersuchen. Wir werden Konsequenzen im Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz ziehen. Wir müssen uns mit dem Prüfungswesen befassen und dabei insbesondere der Frage nachgehen, warum das wirtschaftliche Unwesen der Neuen Heimat weder von den Verbandsprüfern noch von den Aufsichtsbehörden gestoppt wurde. Wir müssen uns mit der Frage nach einer stärkeren Kontrolle durch gesetzliche Regelungen oder öffentliche Verwaltungen oder durch stärkeren marktwirtschaftlichen Wettbewerb stellen. Dafür ist die von mir geforderte umfassende Information über die Vorgänge bei der Neuen Heimat und über die Ursachen der Schwierigkeiten erforderlich.Lassen Sie mich an die Adresse der Mieter der Neuen Heimat sagen: Ich verstehe Ihre Sorgen. Ich halte sie aber nicht für begründet. Die Mieter sind in einer guten rechtlichen und wirtschaftlichen Position.Das bedeutet: Beim Verkauf einer vermieteten Wohnung tritt der Erwerber mit allen Rechten und Pflichten in den zwischen dem Mieter und der Neuen Heimat bestehenden Mietvertrag ein. Der Käufer von Sozialwohnungen hat grundsätzlich keinen Einfluß auf die aus der öffentlichen Förderung folgenden Sozialbindungen. Die gesetzlich vorgeschriebene Kostenmiete und die Belegungsbindung hat jeder Eigentümer in gleicher Weise zu beachten wie sein Vorgänger. Auch eine Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und deren anschließende Veräußerung läßt alle gesetzlichen und vertraglichen Schutzrechte der Mieter unberührt. Auch der Schutz des Mieters gegen überzogene Mieterhöhungen wird nicht eingeschränkt. Der Erwerber der Wohnungen kann die Miete nur unter den Voraussetzungen erhöhen, die auch seinen Rechtsvorgänger zu einer Mieterhöhung berechtigt hätten. Bei preisgebundenen Sozialwohnungen ist er zu einer Mieterhöhung nur berechtigt, wenn sich
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16616 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Bundesminister Dr. Schneiderdie laufenden Aufwendungen erhöhen und er dies nicht zu vertreten hat.
Bei nicht preisgebundenen Wohnungen kann der Vermieter grundsätzlich eine Anpassung der Miete an die ortsübliche Vergleichsmiete vornehmen, sofern er nicht die gemeinnützigkeitsrechtliche Kostenmiete beachten muß. Dabei darf die Erhöhung innerhalb von drei Jahren insgesamt nicht mehr als 30 % betragen. Das gilt auch in den Fällen, in denen hierdurch die ortsübliche Vergleichsmiete nicht erreicht wird.Die Mieter sind nicht nur in einer guten rechtlichen, sondern auch in einer hervorragenden wirtschaftlichen Position. Der beste Mieterschutz ist das derzeitige reichliche Angebot an Mietwohnungen.Meine Damen und Herren, die Entwicklung der Mieten bewegt sich — auch hier darf ich an die bittere und reichlich polemisch,
verlogen geführte Mietrechtsdiskussion zur Zeit der Wende, 1982/83, erinnern —
zwischen 1,6 % im freifinanzierten Wohnungsbau und 2,9 % im Altbaubestand bis 1948.
— Ja.
In meinem Haus ist ein für jeden Mieter verständliches Merkblatt erstellt worden, in dem die Schutzrechte der Mieter zusammengefaßt sind.
— Sie dürfen das soziale Engagement dieser Bundesregierung für die Mieter niemals unterschätzen.
Der Deutsche Mieterbund hat allerdings monatelang tatenlos zugesehen.
Auch in seinen jüngsten Stellungnahmen ist wenig von seinem früheren kämpferischen Engagement für die Mieter zu spüren. Das wäre die Stunde des Deutschen Mieterbundes gewesen. Er hat sie nicht genutzt!
Aber, meine Damen und Herren, die Neue Heimat ist nicht gleichzusetzen mit der übrigen gemeinnützigen Wohnungswirtschaft.
Mehr als 1 800 gemeinnützige Wohnungsunternehmen setzen sich in vorbildlicher Weise für die Mieter ein und richten sich bei ihren Handlungen nach den Grundsätzen der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft.
Ich sehe es als meine Aufgabe an, Schaden von der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft und vor allem von deren Mietern abzuwenden.Ich bedaure es sehr, daß meine Kollegen aus den SPD-regierten Ländern einerseits das Verhalten des DGB und der Neuen Heimat zwar heftig kritisieren — das macht auch die- Bundestagsfraktion; das haben auch Sie, sehr geehrter Kollege Vogel, mehrfach getan, und Sie sparen auch nicht mit Vorwürfen an deren Adresse —, andererseits machen Sie aber immer wieder den Versuch, dieses skandalöse Fehlverhalten politisch zu decken.
Unter dem Vorwand, die Mieter schützen zu wollen, stellen Sie unmittelbar oder mittelbar Gelder aus öffentlichen Kassen für den Ankauf von Wohnungen der Neuen Heimat zur Verfügung. Ich denke an gewisse Bundesländer — —
— Bayern hat nie eine Steuer-Mark zur Verfügung gestellt.
Unter Hinweis auf die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auftrag, bei der ich, Herr Kollege Vogel, ja bekanntlich den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn zu beachten habe, darf ich sagen: Bayern wird niemals eine SteuerMark für den DGB, für die Neue Heimat bereitstellen.
Die Bundesregierung hält diesen Weg für falsch; er ist vor dem Steuerzahler nicht vertretbar.Sie bleibt dabei, daß für das unternehmerische Schicksal der Neuen Heimat ausschließlich der DGB mit seinen Einzelgewerkschaften verantwortlich ist.
Sie sind die wirtschaftlichen Eigentümer des Unternehmens. Ihre Spitzenfunktionäre sind als Vertreter in den Aufsichtsrat entsandt worden, dessen Vorsitzender traditionell der Vorsitzende des DGB ist. Führende Gewerkschaftsvertreter sind darüberDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16617Bundesminister Dr. Schneiderhinaus als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des paritätisch mitbestimmten Unternehmens zu finden. Diese Aufsichtsräte haben die Geschäftsführung der Neuen Heimat berufen, kontrolliert und entlastet und tragen dafür auch die volle Verantwortung.
Auch für die Gesellschafterversammlungen bestand seit jeher eine vollständige Kontrolle des Unternehmens durch die DGB-Gewerkschaften. Diese gewerkschaftliche Kontrolle durch Selbstkontrolle hat kläglich versagt.
Die Gewerkschaften haben es zugelassen, daß ein polypenartiges Konzernsystem entstanden ist, das an seiner Maßlosigkeit zugrundezugehen droht.Ich fasse zusammen: Nach Ansicht der Bundesregierung haben im wesentlichen vier Gründe zu dem in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einmaligen Fall Neue Heimat geführt:Erstens, eine maßlose Expansion ohne Rücksicht auf finanzielle Grenzen und eine undurchschaubare Konzernkonstruktion.Zweitens, eine zu geringe Kapitalausstattung der Neuen Heimat durch die Gewerkschaften.Drittens, eine Bodenspekulation über mehrere Kontinente hinweg.
Viertens, eine Geschäftspolitik, die die Grundsätze der Wohnungsgemeinnützigkeit und der Gemeinwirtschaft außer acht ließ und alle herkömmlichen Grundsätze des ordentlichen Kaufmanns verletzte.
DGB und Neue Heimat sind daher aufgefordert, vor den Mietern und Mitarbeitern der Neuen Heimat ihre verlorene soziale Glaubwürdigkeit wieder herzustellen.
Der Eigentümer DGB muß seinen Neue HeimatGesellschaften wenigstens nachträglich ein angemessenes Eigenkapital zur Verfügung stellen. Wir fordern den DGB auf, seinen eigenen sozialen und gemeinwirtschaftlichen Maßstäben gerecht zu werden.
Die soziale Wohnungspolitik der Bundesregierung Kohl darf nicht an den kapitalistischen Unternehmerpraktiken des Deutschen Gewerkschaftsbundes scheitern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitt .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesbauminister hat wieder einmal deutlich gemacht, daß er zum Thema Neue Heimat
— das beweist nicht nur sein Vortrag, sondern das beweisen auch seine Antworten — erstens keinen Überblick hat.
Er hat uns Antworten geliefert, die die CDU/CSUFraktion bestellt hat. Er hat zweitens erklärt, daß er keine Zuständigkeit des Bundes sieht. Drittens hat er erklärt, daß keine Steuermark für die Neue Heimat -- für die Mieter, das steht dann in Klammern dahinter — bereitgestellt wird.
— Sie wollen das nicht gern hören. Aber so ist es. Man muß doch den ganzen Wust auseinanderhalten und zu den Fakten kommen. Außer einem Leitfaden, in dem er sich noch auf Mieterrechte, die von der sozialliberalen Koalition geschaffen worden sind und die Sie beeinträchtigt haben, beruft, haben Mieter vom Bundesbauminister nicht zu erwarten.
Die Debatte, das, was die Koalition und der Bundesbauminister hier vorgetragen haben, macht doch deutlich: die Mieter der Neuen Heimat, die 260 000 Familien mit über eine Million Menschen, haben von der Koalition und von der Bundesregierung nichts anderes zu erwarten, als Thema zum Wahlkampf zu sein, und zwar in einem zynischen Kalkül Ihrer psychologischen Kriegsführung gegen DGB und SPD.
Ihre Strategen haben es j a offenbar gemacht: Es kommt Ihnen allein darauf an, daß die allseits bekannten und auch von uns zu Recht kritisierten Fehlleistungen der Neuen Heimat öffentlichkeitswirksam für die Koalition und die Bundesregierung genutzt werden, und damit wollen Sie von Ihren eigenen Fehlleistungen — ich denke nur an die Bauskandale in Berlin — ablenken.
Aber, meine Damen und Herren, Ihre Polemik versperrt den Blick für die Realitäten und verhindert Lösungsmöglichkeiten. Sie geben den Mietern, die in Sorge sind, nur die Antwort, daß Sie die Sorge haben, was aus den Neue-Heimat-Diskussionen an den Parteifreunden Grundmann, Katzer und Späth hängenbleiben könnte, die ins Gerede kommen.
16618 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Schmitt
Aber Sorgen für die Mieter werden in dem, was Sie von sich geben, in keiner Weise deutlich.
Dem, meine Damen und Herren, stellen wir Sozialdemokraten ein Konzept
in unserer Vorlage gegenüber, in dem wir nach gründlicher Analyse und Bewertung die Dinge offen beim Namen nennen, Fehlleistungen und Versäumnisse — das bestätigen Sie mir, Herr Möller — beim Namen nennen, aber nicht nur aufzeigen und kritisieren,
sondern Wege aus der Notlage weisen; denn uns kommt es darauf an, die Sozialwohnungen der Neuen Heimat für die Mieter zu erhalten. Dies allein ist unsere politische Aufgabe.
Uns geht es nicht mehr um die Erhaltung des Unternehmens Neue Heimat. Die Neue Heimat wird sich aus der Wohnungswirtschaft verabschieden,
und wir wollen noch einmal feststellen: die Verantwortlichen der Neuen Heimat bis zum Jahre 1982 haben der Gemeinwirtschaft und der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft einen Bärendienst erwiesen, und sie haben unser Vertrauen enttäuscht.
Aber Kritik und Verurteilung — darin unterscheiden wir uns — helfen nicht weiter; denn immerhin sind 500 000 Wohnungen nach dem Krieg von der Neuen Heimat errichtet worden, und damit hat die Neue Heimat einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung der Wohnungsnot nach dem Krieg geleistet. Jetzt, nach all den Schwierigkeiten, kommt es darauf an, daß die verbliebenen 260 000 Wohnungen — dies ist für uns der entscheidende Punkt — in der Gemeinnützigkeit verbleiben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Grünbeck?
Ja, wenn das nicht von meiner Redezeit abgeht.
Natürlich nicht.
Herr Kollege Schmitt, Sie haben gerade den Satz gesagt: Die Neue Heimat wird sich aus der Wohnungswirtschaft zurückziehen. Darf ich mir die Frage erlauben, womit Sie dies begründen, denn von der Neuen Heimat gibt es eine derartige Erklärung bislang noch nicht.
Ich gehe davon aus, daß sich mit unserer Hilfe Lösungsmöglichkeiten abzeichnen, die eine Regionalisierung und eine Überführung der Wohnungsbestände auf andere gemeinnützige Träger vorsehen, und daß deshalb die
Neue Heimat als Konzern für die Wohnungswirtschaft entbehrlich wird.
Aber es kommt darauf an, meine Damen und Herren, daß wir die verbleibenden Wohnungen der NH nicht der Spekulation opfern,
sondern daß unsere Städte und Gemeinden auch in Zukunft Partner für ihre Wohnungsnachfrage finden, bei denen auch einkommensschwache Familien eine menschenwürdige Wohnung finden können.
Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Gemeinnützigkeit den Mietern den stärksten sozialen Schutz gibt, mehr als Leitfäden, Versprechungen des Bundesbauministers und mehr als das Mietrecht, das Sie zu verantworten haben. Deswegen meinen wir — Sie lehnen das ab, aber wir meinen, daß der Bund hier nicht beiseite stehen kann —, daß Länder und Gemeinden für die Erhaltung der Gemeinnützigkeit, für die Sicherung der sozialen Bindungen auch öffentliche Mittel einsetzen müssen.
Meine Damen und Herren, wenn der Steuerzahler für eine neue Sozialwohnung
— jetzt nicht, Herr Link, ich muß das jetzt mal ausführen — immerhin etwa 5 000 DM pro Jahr aufbringen muß, dann ist es in unserem Sinne gerechtfertigt und wird von uns begrüßt, wenn man mit einem Aufwand von 500 DM pro Jahr und Wohnung, wie es die Regierung in Nordrhein-Westfalen ja erreicht hat, letzten Endes auch für die Zukunft preiswerte Sozialwohnungen erhält. Wer — nach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung getroffenen Feststellungen — bei Verlusten aus Vermietung und Verpachtung jährlich 30 Milliarden DM Steuerausfälle hinnimmt, wer steuerliche Erleichterungen für Eigentümer von Eigenheimen, die wir im Grunde auch unterstützen, hinnimmt und bis zu 60 000 DM für eine Wohnung auch für Gutverdienende bereitstellt, der muß zur Sicherung der Wohnungen für sozial schwache Schichten unserer Bevölkerung auch bereit sein, die Sozialwohnungen in der Zukunft zu sichern. Deshalb ist auch der Einsatz öffentlicher Mittel auch in diesem Sinne gerechtfertigt.
Bitte schön, Herr Link.
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Link.
Herr Kollege Schmitt, ich frage Sie: Stimmen Sie mit mir überein, daß die Gemeinnützigkeit und die Sozialwohnungen beim DGB, bei der Neuen Heimat voll er-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16619
Link
halten werden können, wenn der DGB als mehrfacher Milliardär, als Eigentümer der BfG mit einer Bilanzsumme von über 60 Milliarden DM, als Eigentümer der Volksfürsorge mit einer Vertragssumme von fast mehr als 65 Milliarden DM, als Eigentümer anderer Unternehmungen mit Milliardenumsätzen, für den Schaden selber eintritt und die Verluste abdeckt, die er bei den Spekulationsgeschäften, die nicht dem sozialen Wohnungsbau unterliegen, abgedeckt hat? Er braucht nur seine vielen Milliarden DM mit zur Sanierung einzusetzen.
Ich denke beim DGB nicht an Milliarden DM, sondern ich denke an die Millionen von Arbeitnehmern, die vom DGB ein soziales Verhalten erwarten können, und dazu werde ich noch etwas sagen.
Wir begrüßen die Entscheidungen der Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen, aber auch die Bereitschaft von Bayern und Baden-Württemberg, zu pragmatischen und vernünftigen Lösungen zu kommen. Wir stellen hier den Unterschied zwischen der Bereitschaft, zu handeln und zu helfen, und Ihnen, Herr Bundesbauminister, fest, der Sie auch heute wieder die Rolle des Wahlhelfers der CDU/CSU gespielt haben und nicht als Moderator tätig waren. Hier muß man sagen: Wir handeln, wir schlagen vor; Sie agitieren.
Obwohl Sie hier zugestehen müssen, daß Sie — Sie haben das beklagt — in Bereichen der Gemeinnützigkeit eine unmittelbare Bundeszuständigkeit sehen, haben Sie seit 1983 keinen Handlungsbedarf gesehen, Herr Minister. Seit 1983 liegen Vorschläge, die sich aus den Problemen der Neuen Heimat ergeben haben, der Bund-Länder-Kommission vor, in denen neue Wege zu besseren Prüfverfahren gewiesen sind. Aber Sie haben erklärt: Sie sehen keinen Handlungsbedarf. Sie haben nichts getan. Das heißt: Sie reden nur. Sie fügen sich in das ein, was wir die Agitation gegen die Neue Heimat nennen.
Wir müssen noch einmal festhalten: Das soziale Mietrecht muß wiederhergestellt und verbessert werden. Die Probleme bei der Neuen Heimat machen uns deutlich: Das Vorkaufrecht für Mieter im Fall der Umwandlung in Eigentum auch für nicht öffentlich geförderte Wohnungen, der achtjährige Schutz gegen Eigentumskündigung im Fall der Umwandlung und ein verbesserter Schutz gegen Luxus-Modernisierung sind dringend erforderlich.
In einem anderen Punkt sind Sie noch nicht einmal bereit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Wir kritisieren mit Ihnen und nehmen es nicht hin, daß die Mieter aus der Mietabrechnung erfahren, wer ihr neuer Eigentümer ist. Aber dann schreiben Sie doch ins BGB hinein, daß Vermieter und Eigentümer verpflichtet werden, ihren Mietern mitzuteilen, daß sie deren Wohnungen verkaufen und wer der neue Eigentümer ist.
Aber nicht einmal das wollen Sie. Das zeigt, daß die Diskussion über die Neue Heimat für Sie lediglich ein Wahlkampfthema ist. Ihnen kommt es auf die eigentlichen Probleme nicht an.
Wir meinen — ich komme auf das zurück, was Sie, Herr Link, gesagt haben —, daß selbstverständlich auch der DGB einen eigenen Beitrag im Interesse der Mieter und vieler seiner Mitglieder zu leisten hat. Der DGB ist dazu j a im Grundsatz bereit. Wir sind aber auch der Meinung, daß die Banken, die jahrelang die Neue Heimat als gute Adresse hofiert und in der Neuen Heimat einen Partner gesehen haben, ebenfalls einen konstruktiven Beitrag leisten müssen und sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen und einfach sagen dürfen: Das sollen die anderen machen.
Wir brauchen hier also eine Kooperation der Gutwilligen mit den öffentlichen Körperschaften. Von Ihnen, Herr Minister, und der Koalition können die Mieter nichts erwarten. Wir erwarten aber, daß die SPD-Länder, der DGB, die Banken, die Kommunen Sorge dafür tragen, daß der soziale Wohnungsbestand gesichert wird und erhalten bleibt. Was jetzt gefordert ist, sind Bauleute, die Fundamente sichern, Stützen einziehen und die 260 000 Wohnungen für die Sozialmieter erhalten.
Deshalb beantragen wir, über unseren Entschließungsantrag auf Drucksache 10/5479 schon heute abzustimmen, damit wir nicht beim allgemeinen Gerede bleiben, sondern damit Sie Farbe bekennen müssen, worauf es Ihnen ankommt.
Sie wollen Wahlkampf, wir wollen den Mietern helfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Niegel.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Flaggschiff der Gemeinwirtschaft ist schwerstens angeschlagen: der DGB-gewerkschaftseigene gemeinnützige Wohnungskonzern Neue Heimat. Der DGB und seine 17 Gewerkschaften, als größter Wohnungseigentümer West-Europas, kommen aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus.
Die Flagge ist der Pleitegeier. Trotz 100 %iger Mitbestimmung — wir haben hier die Superparität; im Aufsichtsrat und im Vorstand der Muttergesellschaft sitzen nur DGB-Kollegen und SPD-Genossen
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Niegel- wurde ein haarsträubendes Ergebnis erwirtschaftet:
17 Milliarden DM Schulden, jährlich 1,1 Milliarden DM Zinsen.
Und jetzt soll der Staat helfen.
Die bisherigen Bemühungen, den Offenbarungseid abzuwenden, die Mieter und die übrige Wohnungswirtschaft vor Schaden zu bewahren, lassen nur einen Schluß zu: Der DGB als Eigentümer der Neuen Heimat versucht, sich seiner unternehmerischen Verantwortung, für die Folgen der Mißwirtschaft dieses Unternehmens einzustehen, zu entziehen. Auch wenn Sie sich, Herr Müntefering, drehen und wenden: Das geht nur nach dem Motto, das der DGB und die SPD früher kritisiert haben: Gewinne privatisieren und Verluste sozialisieren.
Und es ist doch ein Witz, hier von unterlassener Hilfeleistung zu sprechen. Das ist so ähnlich, wie wenn sich ein Kind piötzlich darüber ärgert, daß es an den Händen friert, und sagt: Meiner Mutter geschieht es recht, daß es mich an den Händen friert, wenn sie mir keine Handschuhe strickt.
Meine Damen und Herren, die gesamte staatskapitalistische und planifikationsgefährdete linke Seite dieses Hauses
hat in der Vergangenheit vergeblich versucht, die Probleme und Skandale der Neuen Heimat mit der Diskussion über § 116 AFG unter den Teppich zu kehren. Die Neue Heimat selbst betreibt die Rettung des Konzerns mit den gleichen rüden Bankrotteurmethoden, mit denen sie ihn aufgebaut hat. Hier hat sie mit Grundstücken und Immobilien — mit Hilfe ihrer sozialdemokratischen, roten Glaubensbrüder in den Rathäusern — spekuliert und alle Register spätkapitalistischer Vorgehensweise
— von der politischen Korrumpierung bis zur Zahlung von Schmiergeldern — gezogen, um ihr Ziel zu erreichen.Heute spekuliert sie mit Wissen und Duldung des Strategiestabes der Düsseldorfer Heeresleitung, der DGB-Verantwortlichen mit den Interessen ihrer Mieter, um die öffentlichen Hände wieder gefügig zu machen und zusätzlich zu den verpulverten 10 Milliarden DM, die sie bereits an Subventionen erhalten hat, weitere Subventionen in Milliardenhöhe zum Ausgleich ihrer Spekulationsverluste aus der Staatskasse zu erhalten. Was heißt hier „Interessen der Mieter"? Wo ist denn der Präsident des Mieterbundes, Herr Kollege Jahn?
Die Verächtlichkeit und Dreistigkeit, mit denen sich der DGB über die tragenden Grundsätze unserer wirtschaftlichen Ordnung hinwegsetzen will, kommen in der Bemerkung seines Vorsitzenden Breit zum Ausdruck, dem DGB könne nicht zugemutet werden, für die Rettung der Neuen Heimat sein Familiensilber zu verscherbeln.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Ich lasse jetzt keine zu. —
Daß die Rechnung des DGB, die Neue Heimat auf Kosten des Steuerzahlers zu sanieren, aufzugehen scheint, wenn er die Sache nur lange genug treiben läßt, beweist die jüngste Entwicklung in Nordrhein-Westfalen. Der vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, dem Barmer Ersatzkanzler Johannes,
mit dem Ankauf der neuen Wohnungen verfolgte Zweck dient nicht dem Schutz der Mieter, wie hier immer wieder vorgegeben wird, sondern den Kassen der sogenannten gemeinwirtschaftlichen Unternehmung des DGB.
Warum weigern sich denn jetzt die verantwortlichen Kollegen und Genossen der Neuen Heimat, ein neutrales Gutachten, einen neutralen Prüfungsbericht der Treuarbeit, wie seinerzeit im Gespräch mit Bundesbauminister Dr. Schneider zugestanden, erstellen zu lassen?
Wahrscheinlich deswegen, damit nicht solche Dinge wie Spekulationen und Genossenfilz, wie es bei der Errichtung der Trabantensiedlung Neuperlach bei München Anfang der 60er Jahre durch die Gründung der NH-Tochter Terrafinanz geschehen ist, ans Tageslicht kommen.In diesem Zusammenhang muß auch ein führender Genosse, nämlich der frühere Münchener Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel, heute Fraktionsvorsitzender der SPD, unter dessen Verantwortung dies dort geschehen ist, erwähnt werden. Wegen der Trabantensiedlung Neuperlach, die die Neue Heimat als Bauträger im Auftrag der Stadt München — wiederum verantwortlich: Oberbürgermeister Dr. Vogel — errichtete — nebenbei bemerkt: ohne Ausschreibung, so daß sich keine andere Bauträgergesellschaft beteiligen konnte —, wurde eigens die Immobiliengesellschaft Terrafinanz als Tochter der Neuen Heimat gegründet.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16621
NiegelNach dem Buch von Franz Busch „Macht, Profit und Kollegen" hätte die Neue Heimat die Grundstücke von 160 Grundstückseigentümern auch selbst erwerben können. Der gemeinnützigen Neuen Heimat ist nach dem Gutachten der Treuarbeit in Neuperlach ein Verlust von 49,2 Millionen DM entstanden, der als Profit auf die nichtgemeinnützige Terrafinanz transferiert wurde.
Das muß man einmal sagen.
Oder verweigert die Neue Heimat die neutrale Prüfung auch deswegen, damit nicht das bekannt wird, was die „Welt" an diesem Montag unter der Überschrift „Das süße Leben auf der Vorstandsetage der Neuen Heimat" beschreibt, wo nämlich von verschwenderischen, luxuriösen Kontakttreffen der Neuen Heimat mit den Spitzenfunktionären des DGB, von Geschäftsführerkonferenzen, feudalen Geburtstagsfeiern, kostspieligen Privatpartys bis zu feucht-fröhlichen Grundsteinlegungen die Rede ist, wobei Kosten in Höhe von 206 000, 63 000, 55 000, 36 000 und 108 000 DM genannt werden? Ich weise Sie — ich könnte es vorlesen, aus zeitökonomischen Gründen mache ich es jetzt nicht — auf § 12, Wirtschaftlichkeit des Geschäftsbetriebes, des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes hin. Man muß auch fragen, wo hier die Aufsichtsbehörden der Länder sind. Und wenn jetzt zwar in der EntschlieBuñg der SPD die Rede davon ist, daß rechtswidrige Machenschaften von Neue Heimat-Managern, die in die eigene Tasche wirtschafteten, oder von Unternehmensführungen, die die zukünftige Entwicklung nicht erkannt haben, die Rede ist, so muß man doch fragen, wer denn die Kontrolle verantwortlich ausgeübt hat. Im Aufsichtsrat saßen lauter SPDGenossen
und hohe DGB-Spitzenfunktionäre. Das muß ich eindeutig sagen. Ich kann Ihnen vorlesen: Heinz Oskar Vetter,
Ernst Breit, Günter Döding, Heinz Klunker, Eugen Loderer, Kollege Adolf Schmidt aus diesem Hause, Philipp Seibert, früher in diesem Hause, Rudolf Sperner, Franz Steinkühler und Frau Monika Wulf-Mathies. Ich glaube, das genügt doch. Sie wollen alle die Wirtschaft kontrollieren und sind nicht einmal in der Lage, ihren eigenen Laden in Ordnung zu halten.
Die DGB-Mitbestimmung war also hundertprozentig geregelt. Dann hätte es, wenn das System logisch und erfolgreich ist, mit der Verwirklichung der gemeinwirtschaftlichen Ziele keine Schwierigkeiten geben dürfen. Diese Ziele hat der DGB 1972 so aufgestellt:Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung an, die die Erkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Offenlegung aller Daten ermöglicht.Und weiter:Die Politik der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen unterliegt der Kontrolle der Gewerkschaften und der Beschäftigten der Unternehmen.Und weiter:Dadurch ist institutionell gewährleistet, daß die zugunsten von Arbeitnehmern und Verbrauchern— also hier den Mietern —erbrachten Leistungen dauerhaft erbracht werden.Meine Damen und Herren, so weit das Zitat.Die institutionelle Gewährleistung hat also nicht funktioniert. Liegt das auch an der alten Erfahrung, daß die Genossen mit dem Geld nicht umgehen können?
Daneben hat der Aufsichtsrat seine Pflichten sträflich verletzt und muß deshalb haftbar gemacht werden. Aber auch die Prüfungsverbände, die staatlichen Stellen haben ihre Aufsichtspflicht verletzt.Wie sieht es mit der Gemeinnützigkeit aus? Ein führender Sozialdemokrat in administrativer Funktion hat vor nicht allzu langer Zeit erklärt, die Gemeinnützigkeit hätte man längst aberkennen müssen. Hier frage ich die Steuerbehörden: Wo bleibt hier letztlich die Steuerfahndung? Wir müssen demnächst das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz novellieren.Von interessierter Seite wird auch eingewendet, daß für die sozialen Bindungen vors Sozialwohnungen — wir haben es ja heute von Herrn Schmidt gehört — noch eine Leistung erbracht werden müsse. Dann muß man dem entgegenhalten, daß die öffentliche Hand bereits einmal gezahlt hat. Wir können jetzt nicht noch einmal für diese Leistungen zahlen.Neue Heimat, DGB und SPD fordern eine Beteiligung des Staates unter dem Vorwand des Schutzes des Mieters. Kommt das nicht einer Erpressung gleich? Oder anders ausgedrückt: Meine Damen und Herren, will man die Mieter als Geiseln mißbrauchen?
Ich meine, der DGB hat nicht nur eine haftungsrechtliche, eine gemeinwirtschaftliche und gemeinnützige, sondern auch eine moralische und soziale Verantwortung für die Sanierung der Neuen Heimat. Der DGB und sein Aufsichtsrat sind voll für die Neue Heimat verantwortlich. Sie müssen in die Pflicht genommen werden.
Bevor ich das Wort dem Herrn Minister Dr. Zöpel, Nordrhein-Westfalen, erteile,
darf ich dem Hohen Haus mitteilen — damit nicht wieder dieselben Fragen gestellt werden —, daß Herr Jahn nicht anwesend sein kann, weil der Untersuchungsausschuß tagt und er Vorsitzender dieses Gremiums ist.
Das ist dem Haus mitgeteilt worden.
Bitte, Herr Dr. Zöpel, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kansy, Sie' haben schon im April — Herr Kollege Niegel, Sie haben es eben wiederholt — behauptet, die Neue Heimat nehme die Mieter als Geisel. Wenn Sie diese Behauptung und die damit verbundene Wertung ernst nehmen, sage ich Ihnen: An dieser Geiselnahme partizipieren die Bundesregierung, die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion. Sie betreiben einen Poker, bei dem es Ihnen in keiner Weise darum geht, das Problem irgendwie einer Lösung näher zu bringen. Vielmehr geht es Ihnen ausschließlich darum, es am Kochen zu halten. Sie hoffen, daß eine Lösung nicht gefunden wird.
— Zur Wahrheit kommen wir noch, Herr Kollege.
Ich stehe nicht an zu sagen, daß ich tief traurig bin über das, was die Neue Heimat mit ihren Mietern macht.
— Das ist so.
— Im Gegensatz zu Lothar Späth habe ich mit dieser Gesellschaft nie etwas zu tun gehabt.
Das ist die Wahrheit.
— Sie müssen sich einmal beruhigen.
Ich bin über das, was die Neue Heimat mit ihren Mietern macht, tief traurig. Den Mietern muß geholfen werden. Ihnen wird nicht geholfen, Herr Bundesbauminister,
wenn Sie über die Rechtsverhältnisse der Mieter bei der Neuen Heimat nicht die Wahrheit verbreiten; denn die Mieter sind gefährdet.
Die Mieter sind gefährdet, weil ihnen Mieterhöhungen ins Haus stehen, wenn die Wohnungen an nicht gemeinnützige Unternehmen, die die Bindung zurückgeben, verkauft werden.
— Ich kann Ihnen einen Bericht der Stadt Düsseldorf vorlegen, unterschrieben vom Stadtdirektor Mayweg . Das muß ja wohl Wahrheitsbeweis genug sein.
— Wenn Sie da skeptisch sind, akzeptiere ich das. Aber ich bemühe mich zur Zeit, mich mit den Herren rechts von Ihnen über Wahrheit zu verständigen.
— In letzter Zeit haben nur Herren Zwischenrufe gemacht. Sonst hätte ich auch die Damen einbezogen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Grünbeck?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen Augenblick bitte. Ich möchte diesen Fall zu Ende darstellen, Frau Präsidentin.
Bei von der Neuen Heimat in Düsseldorf an die Firma Westbau verkauften Wohnungen sind sofort die öffentlichen Mittel zurückgezahlt worden. Dafür mußten Kapitalmarktmittel aufgenommen werden. Die Zinsen können auf die Miete aufgeschlagen werden.
— Darauf komme ich gleich. —
Die Miete hat sich damit um 74 Pfennige pro Quadratmeter und Monat erhöht.
Damit ist die Behauptung unrichtig, Herr Bundesbauminister, daß den Mietern in dem Fall nichts passiere. Unterlassen Sie diese Behauptungen. Ich gehe davon aus, Sie haben sich vorher nicht richtig informiert. Etwas anderes will ich Ihnen nicht unterstellen.
Die Beruhigung, die Sie ausstreuen, dient natürlich der Kaschierung Ihres Nichtstuns. Dem diente auch die ganze Veranstaltung, die Sie mit den Bau-
Minister Dr. Zöpel
ministern der Länder und mit der Neuen Heimat inszeniert haben.
Ich glaube, es war zuerst der Kollege Franke, Berlin — er ist leider nicht mehr im Amt —, der auf Grund der berechtigten Sorge darum bat, daß sich die Bauminister der Länder mit Ihnen zusammensetzen, um darüber zu sprechen, was man gemeinsam tun kann. Darüber hätte man sich verständigen sollen. Dann haben Sie den Wunsch gehabt, daß die neue Heimat dem Bund ein Gutachten durch eine Prüfungsgesellschaft ermöglicht. Ich habe schon damals gesagt, dies ist aus der Sicht der Länder nicht nötig, weil wir solche Gutachten jederzeit haben und bekommen, aber wir hatten auch nichts dagegen. Dann haben Sie sich mit der Neuen Heimat nicht verständigen können, vermutlich weil Ihnen die Erfahrung fehlt, mit diesem harten Konzern richtig umzugehen.
Ich sage Ihnen das, so ist es. Und dann haben wir in der zweiten Sitzung — wir, die Minister und Senatoren der Länder — gesagt, wenn Sie uns auch nur sagen würden, wie es denn weitergeht, wenn das Gutachten da ist — wir haben nicht gesagt, daß Sie Steuermittel einsetzen sollen —, dann würde ich mit Ihnen persönlich noch einmal dorthin gehen und dafür sorgen, daß das Gutachten kommt. Das gehört nicht zu den Meisterleistungen, daß die das Gutachten nicht herausgegeben haben.
Herr Minister, es gab zwei Wünsche nach Zwischenfragen, einmal von Herrn Abgeordneten Grünbeck und einmal von Frau Hürland. Würden Sie beide zulassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jawohl, Frau Präsidentin.
Darf ich der Dame erst die Möglichkeit geben? — Frau Hürland, bitte.
Herr Minister Zöpel, Sie haben gestern im Wohnungsbauausschuß des Landtages Nordrhein-Westfalen folgende Äußerung getan: Sie haben gesagt, daß die Neue Heimat ein unerträgliches Pokerspiel getrieben und dabei die Mieter als Geiseln benutzt habe. Auf Grund welcher Tatsache haben Sie das gesagt, und welche Folgerung würden Sie aus dieser Ihrer Äußerung denn ziehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ich habe zu Beginn meiner Ausführung im Grunde genau Ihre Frage beantwortet.
Das mit den Geiseln war ein Zitat, das Zitat von Herrn Kansy. Ich habe das heute wie gestern zitiert, was Herr Kansy geschrieben hat, und ich habe auch gesagt: Wenn Sie den Poker, der dort abläuft, so qualifizieren, beteiligt sich die Bundesregierung an diesem Poker, weil Ihnen beiden zur Zeit egal ist, was aus den Mietern wird. So habe ich es gestern gemeint, und so wiederhole ich es heute.
Eine weitere Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Grünbeck.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident, ich wollte noch den letzten Satz der Antwort formulieren.
Verzeihen Sie.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Konsequenz daraus ist, daß Nordrhein-Westfalen das Pokern beendet und zu handeln begonnen hat. Das ist unsere Konsequenz.
Herr Abgeordneter Grünbeck!
Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, daß es einem rational-ökonomischen Handeln entsprechen würde, wenn man erst einmal das Gutachten vorlegt und dann über Hilfsmaßnahmen spricht, und nicht, wie Sie eben jetzt erwähnten, erst die Hilfsmaßnahmen besprochen haben will und dann erst das Gutachten vorgelegt werden soll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Grünbeck, man kann nur handeln, wenn man Indikatoren dafür hat, daß man richtig handelt. Für den Einstieg in unser Handeln hatten wir einen zureichenden Indikator, nämlich den Kaufpreis, den eine private Investorengruppe gezahlt hätte. Da braucht man kein Gutachten mehr.
Ich kehre zurück zu dem, Herr Bundesbauminister, was Sie dort inszeniert haben. Es hat uns Zeit gekostet, und solange Sie uns nicht sagen, wie es weitergeht, ist mir die Zeit zu schade, mich daran zu beteiligen. Wir müssen vielmehr etwas tun, damit wir den Mietern helfen können.
Minister Dr. Zöpel
Ich füge aber eines hinzu: Wenn irgendein anderes Unternehmen in der Bundesrepublik, das in Not geraten ist — und jedes Unternehmen, das in Not gerät, hat irgendwelche Dinge gemacht, die man nicht für richtig hält; überall gibt es auch Auslandsinvestitionen und anderes —, wenn AEG oder Krupp oder Thyssen oder Hoesch öffentlich so behandelt würden wie die Neue Heimat, wären sie auch alle pleite. Die Neue Heimat hat gar keine Chance, aus der Situation herauszukommen.
Die Neue Heimat hat gar keine Chance, weil Sie ihr keine Chance lassen.
Meine Damen und Herren, einen Moment bitte. Zwischenrufe sind wie immer das Salz in der Suppe, aber nicht so, daß man die Antworten nicht mehr hören kann. Es könnte jemanden geben, der diese Antworten hören möchte. Ich bitte wirklich um etwas Mäßigung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist völlig klar, meine Damen und Herren von der Mehrheitsseite, daß es Ihnen unerträglich ist, daß das Problem gelöst werden könnte. Das ist das eigentlich Unerträgliche.
Damit komme ich zu dem, was wir in Nordrhein-Westfalen getan haben und weiter tun werden und worüber Sie, Herr Bundesbauminister, trotz besseren Wissens in der Antwort auf die Große Anfrage die Unwahrheit verbreiten.
Unser erstes Ziel war es, die Verkäufe von Wohnungen der Neuen Heimat an Private zu stoppen. Dies ist gelungen. Seit Beginn dieses Jahres hat die Neue Heimat an keinen Privaten mehr verkauft. Das ist die erste Beruhigung für die Mieter.
— An die ist in Nordrhein-Westfalen noch nie verkauft worden! Informieren Sie sich besser, bevor Sie anderen Vorwürfe machen.Dann lag uns ein Paket vor, für das eine private Investorengruppe den Kaufpreis ausgehandelt hatte. Wenn es einen Kaufpreis gibt, den man als halbwegs objektiv bezeichnen kann, dann ist es ganz sicher der, den eine private Investorengruppe zahlen will.
Sie wollte ihn zahlen, weil sie beabsichtigte, sofort die Bindungen zurückzugeben, damit sie sofort die Mieten erhöhen konnte und sich nach acht Jahren endgültig aus dem sozialen Wohnungsbau verabschieden konnte. Wir hatten also für dieses erste Geschäft einen objektiven Indikator des Privatkapitalismus, wenn Sie so wollen, und auf diesen Preis hin haben wir mit der Neuen Heimat zu verhandeln begonnen. Sie hat dann auf knapp 9 Millionen DM als Abschlag von diesem Kaufpreis verzichtet. Das wissen Sie; das schreiben Sie nur nicht in Ihrer Antwort, weil Sie die Wahrheit um jeden Preis unterdrücken wollen,
weil Sie nur und ausschließlich Schlechtes schreiben wollen.
So ist das: Weil Sie ausschließlich Schlechtes schreiben wollen, unterdrücken Sie die Wahrheit.
Wir sind durch dieses erste Geschäft zu einem Handlungsmodell gelangt, das sich meines Erachtens übertragen läßt und das vor allem -- worum es Ihnen ja geht — eines sicherstellt: daß die Eigentümer der Neuen Heimat sich beteiligen, wie Sie es ja immer fordern. Ein freiwilliger Abschlag von knapp 9 Millionen DM von einem Kaufpreis von 142 Millionen ist der Beitrag, den die Eigentümer der Neuen Heimat leisten.
Die Neue Heimat hat bei diesem Geschäft auf Geld verzichtet, das sie sonst bekommen hätte. Das sollten Sie doch einmal anerkennen.
— Ja, es kann für Sie nichts Unerträglicheres geben, als daß sich die Gewerkschaften einmal so verhalten, wie Sie es von ihnen fordern. Nun tun sie es, und da brechen Sie in Verzweiflung aus. Das ist in Wahrheit Ihre Haltung!
Die deutschen Gewerkschaften haben also mit diesem Verzicht auf 9 Millionen DM ihren Beitrag zur Lösung des Problems geleistet. Das wissen Sie, aber das unterschlagen Sie in offiziellen Dokumenten der Bundesregierung. Das macht Sie, Herr Kollege Bauminister, als Verhandlungspartner in jeder Beziehung ungeeignet.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16625
Minister Dr. Zöpel
Die Neue Heimat verzichtet — ich sage es noch einmal auf 9 Millionen DM, weil nach dem Wohnungsgemeinnützigkeitsrecht und nach dem Wohnungsbindungsrecht und nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz niemand einen Eigentümer von öffentlich geförderten Wohnungen daran hindern kann, an jeden zu verkaufen.
Daß das geht, halte ich für einen schlimmen Fehler in diesen Gesetzen, aber dieser Fehler besteht in einem Gesetz, das überwiegend 1960 gemacht wurde und das man ändern sollte, um zu unterbinden, daß das geht. Solange aber diese Möglichkeit besteht, können Sie bestenfalls moralische Vorwürfe erheben. Ich als Sozialdemokrat täte das; bei Ihnen aber sind diese Vorwürfe nichts als Häme,
denn bei allen anderen finden Sie es ja gut, wenn Bindungen zurückgezahlt werden.
— Sie müssen Quasselwasser getrunken haben, so viel reden Sie dazwischen!
Nun komme ich zu dem Beitrag des Landes Nordrhein-Westfalen. Hier geht es nicht um die Frage, was Steuermittel sind — —
— Was meinen Sie, bitte?
— Ja, der schreibt oft etwas.
— Ich weiß nicht, was Sie jetzt meinen.
— Wenn ich wüßte, was Sie meinen, würde ich etwas dazu sagen. Mein Bereich ist sehr, sehr groß. Wir müssen verwalten und haben nicht — wie Sie — die Chance, nur herumzureden.Nun also zu dem Beitrag des Landes Nordrhein-Westfalen. Dieses sind ganz sicher Mittel der Wohnungsbauförderungsanstalt, mit denen man auch etwas anderes tun könnte.
Es ist unstreitig: Es waren in einem Jahr bis jetzt 1,2 Millionen DM. Damit könnte man beispielsweise -- da will ich Ihnen gar nicht widersprechen — zwölf im ersten Förderweg geförderte Eigenheime bauen. Das stelle ich ausdrücklich fest. Das ginge mit den Mitteln, die das in einem Jahr kostet.Nur: Dies von seiten der Bundesregierung und von seiten der Mehrheit dieses Hauses als Argument vorzubringen halte ich für eine Scheinheiligkeit sondergleichen,
wenn im selben Jahr die Bundesregierung ihre Mittel zur Förderung der öffentlich geförderten Eigenheime um 120 Millionen DM gekürzt und damit verhindert hat, daß 1200 Eigenheime hätten gefördert werden können. Hören Sie doch damit auf!
Sie kennen Ihren eigenen Haushalt nicht, Herr Reddemann.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Möller?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja. Vizepräsident Frau Renger: Bitte, Herr Dr. Möller.
Herr Minister, ist es denn richtig, daß Sie entgegen der Absicht und den Erklärungen Ihrer Regierung im vergangenen Jahr, 22 000 Wohnungen zu fördern, jetzt nur noch 14 000 Wohnungen fördern? Ist es richtig, daß Sie von den 6 433 Altenwohnungen, bei denen die Förderung beantragt ist, nur noch 300 fördern? Ja oder nein? Ist das richtig?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Möller, das Geschäft der LEG hat keinen Einfluß auf die Höhe der Wohnungsbauförderung in Nordrhein-Westfalen.
Die Kürzungen im Bereich des öffentlich geförderten Wohnungsbaus haben ausschließlich mit der Haushaltslage des Landes Nordrhein-Westfalen zu tun.
— Die hat mit der Neuen Heimat überhaupt nichts zu tun,
weil die Neue Heimat nachweislich noch nicht einer einzigen Forderung von Stellen des Landes Nordrhein-Westfalen im weitesten Sinne nicht immer sofort nachgekommen ist. Es gibt keinen Verzug bei den Rückzahlungen bei der WFA. Es gibt auch keinen Steuerverzug.
16626 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Minister Dr. Zöpel
Hören Sie bitte auf — bei aller Kritik, die ich ja auch an diesem Konzern übe —, unablässig ein Unternehmen zu verleumden und ihm damit jede Chance zu nehmen, aus den Schwierigkeiten herauszukommen. Das ist doch das Problem.
— Ach, Kinderchen!
Ich bleibe dabei: Wir haben hier ein Modell erarbeitet, zu dem die Gewerkschaften, die Eigentümer der Neuen Heimat, einen nennenswerten Beitrag geleistet haben. Ich halte diesen Weg für übertragenswert. Wir haben es vor allem deshalb erarbeitet, weil es uns um etwas geht, um das es Ihnen sichtlich nicht geht: dauerhaft die Bindungen der Sozialwohnungen in Nordrhein-Westfalen zu erhalten. Es geht uns nicht allein und vorrangig — aber auch — um den jeweils dort im Augenblick wohnenden Mieter. Dieser wird bei unserem Konzept automatisch mit gesichert. Es geht uns darum, den Bestand an öffentlich geförderten Wohnungen zu erschwinglichen Mieten dauerhaft zu sichern.
Da würde es uns absolut nicht passen — das sage ich sehr offen —, wenn mit einem Schlag 40 000 Wohnungen dieser Art aus der Bindung kämen. In Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Grünbeck, haben wir dazu eine ehrliche Debatte mit Ihren Kollegen von der FDP. Diese sagen mir nämlich, das, was ich machte, sei falsch. Sie kommen zu dieser Auffassung, weil sie den sozialen Wohnungsbau nicht mehr für nötig halten. Deshalb sei der Verlust der Bindung richtig. Das tragen mir die FDP-Kollegen im Düsseldorfer Landtag vor.
Ich finde das ein ehrliches und gutes Konzept. Deshalb nehme ich Ihren Kollegen die Kritik ab. Wer die Bindung nicht will, wer die völlige Liberalisierung des Markts der öffentlich geförderten Wohnungen will, der muß mich kritisieren, weil er eine andere Grundsatzposition vertritt.
Nur: Wer behauptet, er wolle auf Dauer an den öffentlich geförderten Wohnungen festhalten, und mich dann kritisiert, der kocht sein Süppchen ausschließlich deshalb, um die Gewerkschaften zu diffamieren. Er ist unglaubwürdig.
Es mag freilich sein, Sie verfolgen eine ganz andere Strategie. Sie verfolgen vielleicht die Strategie: Das ist ja phantastisch, hier können wir die Gewerkschaften prügeln! Bei der Prügelei geht der öffentlich geförderte Wohnungsbau kaputt, und das ist ja schließlich auch wünschenswert.
Das ist möglicherweise Ihre Doppelstrategie, die ich Ihnen hier unterstellen will. Deshalb das ganze Theater, das Sie Woche für Woche hier inszenieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reddemann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.
Herr Kollege Zöpel, nachdem Sie der Koalition und der Bundesregierung dauernd alle möglichen Unterstellungen in die Schuhe schieben wollen: Könnten Sie sich nicht auch vorstellen, daß es für uns entsetzlich ist, daß sich eine große Wohnungsbaugruppe, die von uns lange mit sehr vielen öffentlichen Mitteln unterstützt und gefördert wurde, derartig schäbig benommen hat und ihre Mieter jetzt in eine derart unerquickliche Situation bringt und daß sich unsere Kritik darauf aufbaut?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Reddemann, ich habe schon andernorts und hier gesagt, daß ich als Sozialdemokrat und Gewerkschafter tieftraurig bin über das, was bei der Neuen Heimat passiert ist. Jetzt will ich Ihnen eines dazusagen: Ich wäre durchaus bereit, mich viel offener — auch öffentlich — an der Analyse dieses Fehlverhaltens zu beteiligen, wenn ich in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage und in Ihren Debattenbeiträgen auch nur einen einzigen Schimmer gesehen hätte, einmal objektiv etwas zu würdigen.
Sie üben aber nur Kritik, und wenn wir objektiv würdigen, dann ist das völlig falsch. So kann man nicht diskutieren.
Entweder wägen wir beide ab, Herr Kollege Reddemann — okay! — oder aber ich verteidige hier das Gute an den Gewerkschaften und auch an der Neuen Heimat, wenn selbst in einem offiziellen Dokument der Bundesregierung durch fahrlässigste Auslassungen die Wahrheit unterschlagen wird.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Möller?
Herr Minister, um noch einmal zurückzukommen auf die vorige Frage, die ich gestellt hatte: Warum sagen Sie hier heute auf meine Frage etwas anderes, als Sie am 26. Februar im Städtebauausschuß Ihres Landtages gesagt haben, nämlich daß die Mittel, die vom Land für den Ankauf der Wohnungen bereitgestellt werden müs-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16627
Dr. Möllersen, den allgemeinen Wohnungsbauförderungsmitteln des Landes verlorengehen? Warum sagen Sie hier etwas anderes als im Ausschuß?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Möller, ich habe dies dort überhaupt nicht gesagt.
Am Wohnungsbauprogramm 1986 ändert sich durch die 1,2 Millionen DM Aufwendungsdarlehen, die die LEG bekommen muß, gar nichts. Dies wird über Kreditaufnahmen der WFA erledigt. Es ändert sich an dem Programm gar nichts. Das habe ich in jeder bisherigen Sitzung und auch hier so gesagt.
Herr Minister, wir hatten eine Redezeit vereinbart. Wären Sie in der Lage, sich dem Ende zu nähern?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ich hatte die Absicht, fertig zu werden. Ich wäre schon fertig, wenn die Zwischenfragen nicht gekommen wären. Ich bin aber nicht am Ende, sondern wir in Nordrhein-Westfalen stehen am Anfang,
trotz allen Bestürmens, trotz aller Diffamierungen von Ihnen, trotz aller Querschüsse einer versagenden Bundesregierung, den Mietern der Neuen Heimat zu helfen. Wir werden das im Laufe dieses Jahres schaffen.
Darin kann uns nichts beirren, nicht einmal Ihr Geschrei hier.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Staatssekretär Dr. Rosenbauer, Freistaat Bayern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Möchten Sie einen Kurs in bayerischem Staatsrecht bei mir nehmen? Ich nehme das nicht an. Gestatten Sie, daß ich aus der Sicht eines weiteren, zugegebenermaßen anderen Bundeslandes ein paar Sätze zu diesem Komplex hier vortrage. Meine Damen und Herren, es setzt sich eigentlich auch in der heutigen Debatte das fort, was die letzten Wochen und Monate beherrscht hat. Wir haben häufig eine Flut von relativ starken Worten der sozialdemokratisch regierten Länder gehört, haben dann aber sehr schnell, um nicht zu sagen: spornstreichs auch wieder erleben müssen, daß der Mantel der christlichen oder der sozialistischen Nächstenliebe überdas gedeckt wurde, was man aufgedeckt hatte. So, meine ich, war auch die heutige Debatte eigentlich ein schlagender Beweis dafür, daß sehr häufig nach der Methode „Haltet den Dieb" vorgegangen wurde, um von eigenen Versäumnissen abzulenken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen jedenfalls — das läßt sich schlicht und einfach nicht leugnen — sowohl im Bund als auch in den Ländern vor den Ergebnissen einer jahrelangen Mißwirtschaft der Neuen Heimat, die auch zum heutigen Zeitpunkt zu meinem größten Erstaunen noch von einem großen Teil der Bundesländer gedeckt wird. Ich war schon sehr merkwürdig berührt, als hier heute ausgerechnet ein Betrag von sage und schreibe 9 Millionen DM in die Debatte eingeführt worden ist. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Willy Brandt, würde sagen: Dabei handelt es sich nicht einmal um Petitessen. — Ich meine wirklich, es kann keine ernsthafte Debatte sein, wenn wir hier über 9 Millionen DM reden, da es in Wahrheit über ganz andere Dimensionen zu reden gilt.Sei dem, wie dem sei, meine Damen und Herren. Die Öffentlichkeit und auch die Mieter der Neuen Heimat — der Herr Bundeswohnungsbauminister hat das deutlich gemacht — sind darüber verunsichert und beunruhigt, was sie als Ergebnis einer jahrelangen Mißwirtschaft heute auf dem Tisch haben. Dabei gibt das geltende Mietrecht zwar selbst für den Fall des Konkurses einen weitgehenden Schutz. Das ist sicherlich richtig. Immerhin könnte aber auch dann, wenn im Konkurs z. B. Wohnungen verkauft werden, ein Erwerber gegenüber dem Mieter kündigen. Schon deswegen — das sage ich in aller Ernsthaftigkeit — kann niemandem daran gelegen sein, den Konkurs der Neuen Heimat sozusagen freudestrahlend zu beklatschen oder auch nur mit Augenzwinkern zu begrüßen. Ich sage das wirklich in aller Ernsthaftigkeit.In dieser Lage, meine Damen und Herren, hätte wohl jeder unbefangene Beobachter — so meine ich, wenn ich versuche, unbefangen zu sein — die Gewerkschaften als die Kapitalgeber der Neuen Heimat, der betroffenen Gesellschaft also, am Zuge gesehen. Das wäre das Natürlichste der Welt gewesen. Aber nein, die Gewerkschaften weigern sich, ihr Unternehmen zu stützen, auch wenn das hundertmal die moralische Pflicht eines jeden Eigentümers gewesen wäre.
Und dabei sind die Gewerkschaften auch noch mit dem Anspruch der Gemeinwirtschaft aufgetreten. Welch ein bedrückender Widerspruch besteht dann zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn man auf der einen Seite so tut, als ob man die Fahne der Gemeinwirtschaft ganz hoch hängen könnte, und sich auf der anderen Seite weigert, als Eigentümer dieser Gesellschaft für dahingegangenes Vermögen geradezustehen. Dann rühmt man sich hier noch der Sorge um den Mieter.
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16628 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Staatssekretär Dr. Rosenbauer
Ich behaupte schlicht und einfach, die Gewerkschaften versuchen sich um ihre moralische Verantwortung herumzudrücken.
Das ist das eigentliche Politikum.
Obwohl sich die Gewerkschaften um diese moralische Verantwortung zu drücken versuchen, trafen sich die Wohnungsbauminister von Bund und Ländern am 5. Februar zusammen mit dem DGB-Chef Ernst Breit und den Geschäftsführern der Neuen Heimat, um die Probleme zu besprechen. Am Ende dieses Gesprächs erklärten Bund und Länder gemeinsam — nicht nur die Länder der einen Seite —, sie wollten sich um Lösungen bemühen, bei denen für die Wohnungen der Neuen Heimat die Sozialbindungen erhalten bleiben. Dies setze allerdings voraus — so war es einheitliche Meinung —, daß man einen klaren Einblick in die wirtschaftliche Lage des Konzerns bekäme. Man höre und staune: Der DGB und die Gesellschaft, also die Neue Heimat, erklärten sich in dieser Besprechung bereit, von einer neutralen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die wirtschaftliche Lage des Konzerns überprüfen und dabei u. a. auch das Vermögen bewerten zu lassen und alle Verbindlichkeiten offenzulegen.Was danach geschah, wissen wir. Die Neue Heimat erteilte zunächst diesen Auftrag. Aber nach einigen Wochen zog sie ihn zurück. Was war das? Das war schlicht und einfach der Bruch dessen, was man am 5. Februar gemeinsam vereinbart hatte. Ob man das den Bruch eines Versprechens oder den Bruch einer vertraglich eingegangenen Bindung oder das Abgehen von einer Zusage nennt, ist Geschmackssache. Es war jedenfalls ein Abgehen von der gemeinsamen Position am 5. Februar dieses Jahres.
Statt dessen — was wir erwartet hatten, war klar — legte man ein Papierchen relativ großen Umfangs vor, das den hochtrabenden Titel „Memorandum" führte, aber eigentlich nichts anderes war als die selbstgestrickte Rechtfertigung für das, was sich in den vergangenen Jahren im Konzern abgespielt hatte.Jetzt hören wir den Einwand, meine Damen und Herren, der Bund sei für die Überwachung der Wohnungsgemeinnützigkeitsaufsicht überhaupt nicht zuständig.
Jetzt muß ich eines sagen: Sie werden keinen überzeugteren Förderalisten finden als einen bayerischen Staatssekretär, schon qua Amt.
Eines ist doch deutlich. Wenn elf Länder und der Bund zusammensitzen und gemeinsam ein solches Gutachten erwarten und zugesichert bekommen, dann ist es zweifelsfrei keine Überschreitung der Bundeszuständigkeit, wenn der Bundeswohnungsbauminister darauf besteht, daß dieses Gutachten vorgelegt wird.
Meine Damen und Herren, dem haben doch alle Länder am 5. Februar ausdrücklich zugestimmt. Aber dieses merkwürdige Memorandum — es ist ja recht putzig zu lesen, wenn man sich die Mühe macht — ist doch zweifelsfrei keine neutrale Arbeit. Es ist trotz allen Umfangs unvollständig, und es ist wegen dieses Umfangs widersprüchlich, ja es vernebelt sogar eine Menge und läßt den Leser am Ende eigentlich ziemlich ratlos zurück,
wie ich befürchte auch einen Zuhörer in dieser Debatte vor meinem Beitrag.
Meine Damen und Herren, warum eigentlich wollen DGB und Neue Heimat — diese Frage müssen wir doch einmal stellen — und auch die Wohnungsbauminister der SPD-geführten Länder als ihre treuen Schützenhelfer nicht einsehen, daß jede Krisenbewältigung, zu der wir doch bereit sind, Herr Bundeswohnungsbauminister — die Bayerische Staatsregierung steht an Ihrer Seite,
will Ihnen an die Seite treten, nicht in die Seite treten —, damit beginnen muß, eine neutrale Bestandsaufnahme vorzunehmen? Das ist doch eigentlich das Natürlichste von der Welt. Wenn die Eigentümer, also die Gewerkschaften, schon andere um Hilfe bitten, wie geschehen — mit Tremolo in der Stimme und Tränen in den Augen und viel Publizität —, dann müßten sie doch eigentlich zunächst einmal sagen, zu welchen Opfern sie selbst bei der Sanierung dieses Konzerns bereit sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist auch keine theoretische Überlegung, keine Wirtschaftstheorie im weiteren oder im engeren Sinne. Die Frage geht eigentlich auch in eine andere Richtung, nämlich dahin: Wie eigentlich wollen sich die Gewerkschaften und auch die SPD im Bund oder in den Ländern ernsthaft als die Hüter einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik darstellen, wenn das das Ergebnis der Politik der Neuen Heimat in den vergangenen Jahren gewesen ist?
— Ich bin ja dankbar dafür, daß Sie bei der Nennung von zehn anderen Namen auch zehnmal den Namen Späth nennen durften. Ich muß schon gestehen, daß dieser Hinweis langsam, aber sicher absurd wird.
Wie die Bundesregierung — dies möchte ich in aller Deutlichkeit betonen — wird auch die Bayeri-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16629Staatssekretär Dr. Rosenbauer
sche Staatsregierung dabei bleiben, daß sie keine Steuermittel für die Sanierung der Neuen Heimat oder für den Ankauf ihrer Wohnungen gewähren wird. Es wäre nach unserer Meinung unverantwortlich, die Verluste dieses Unternehmens am Ende eines Leidensweges auch noch zu sozialisieren.
Die Bayerische Staatsregierung kann allenfalls versuchen — auch dies erkläre ich hier wie am 5. Februar —, beim Herauslösen des bayerischen Teils, also der bayerischen Tochter der Neuen Heimat, aus dem Konzern — Sie haben auch davon gesprochen — vermittelnd mitzuwirken.
Aber auch eine solche Vermittlung — ich darf das ebenfalls in aller Deutlichkeit sagen — ist wirklich nur dann möglich und für uns nur dann denkbar, wenn die Gewerkschaften zu ihrer Verantwortung stehen und wenn die Geschäftsführer der Neuen Heimat aber auch den letzten Schleier über der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens samt allen Haftungsverpflichtungen lüften. Niemand sollte den Fehler begehen ab heute oder ab Bekanntwerden dieses Skandals alle gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften mit der Neuen Heimat in einen Topf zu werfen.
Das hätte fatale Folgen, die wir Gott sei Dank alle nicht wollen. Ich meine, das haben auch die 2 000 anderen Unternehmen, die, soweit wir es heute beurteilen können, ohne Fehl und Tadel gearbeitet haben, wahrlich nicht verdient.Dieser Skandal um die Neue Heimat hat aber auch deutlich gezeigt, Herr Bundeswohnungsbauminister, meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages, wie reformbedürftig heutzutage auch das Recht der gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen ist. Der Bundesgesetzgeber muß deshalb Sicherungen dagegen finden, daß ein Unternehmen grobe Mißwirtschaft treibt und sich dabei auch noch nicht gemeinnützig verhält. Der Skandal, den es um die Neue Heimat gegeben hat, darf sich bei keinem der anderen 2000 Unternehmen wiederholen. Das heißt: Der Gesetzgeber ist gefordert. Ich meine, er ist um so mehr gefordert, als sich die Gewerkschaften in dem heutigen Skandal immer noch um ihre Verantwortung für die Gesellschaft und für die Mieter herumzudrücken versuchen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es scheint sich hier einzuschleichen, daß Länderminister das Wort in Debatten ergreifen. Ich frage mich, wo das enden soll.
— Içh wußte, das sind Pawlow-Effekte, die man hier erzielen kann.
— Das geht zu weit, ja.Der Komplex Neue Heimat ist die Geschichte eines Mammutkonzerns, der einmal in sozialer Absicht Wohnungen baute und dann im bürokratischen und insbesondere begehrlichen Filz von sozialdemokratischen Parteifunktionen versackt ist.
— Ich bedanke mich für den Beifall von der CDU/CSU. Ich habe den Eindruck, daß die Debatte, die Sie hier führen, von Neid geprägt ist. Auch Sie hätten gern an diesem Tropf gehangen.
Ich möchte nicht wissen, wieviel sozialdemokratische Parteikarrieren auf der Gehaltsliste der Neuen Heimat begonnen haben. Was ich aber angesichts des Neue-Heimat-Skandals wissen möchte, ist, was denn nun eigentlich die Konsequenzen sind und wie das bezüglich des Endes dieser Karrieren ausschaut; denn Verantwortlichkeit ist hier wirklich gefragt.
Denn eines ist deutlich geworden, wenn man in Listen der Betroffenen sieht, wie es hier so schön heißt: Eine ganze Politikergeneration der Sozialdemokratie ist in den Neue-Heimat-Skandal verwebt. Ein Blick in die Liste für Aufsichtsräte macht deutlich: Die Nachkriegsaufbaugeneration der Sozialdemokratie hat sich hier gütlich auf Aufsichtsratsmandaten ausgeruht und ihre Aufsichtspflicht gegenüber genossenschaftlichen und gewerkschaftlichen Geldern auf das Gröblichste vernachlässigt.
Hier ist nicht nur mit den Mietern, sondern auch mit dem sozialpolitischen Engagement Schindluder getrieben worden.Besonders groß ist natürlich der Schaden für den Genossenschaftsgedanken, den ich hier in den Vordergrund stellen will.
In einer Wirtschaftskrise, meine Herren von der Sozialdemokratie, wo viele Arbeitslose gerade in den Genossenschaften eine Chance sehen, wo auch eine wirtschaftspolitische Perspektive zu sehen ist, ist ein Neue-Heimat-Skandal Wasser auf die Mühle aller derjenigen, die jede Form von Selbstverwaltung aus durchsichtigen Gründen verhindern wollen. Das ist der sozialpolitische Schaden, den Sie u. a. mit dieser Art und Weise der Verwaltung der Neuen Heimat angerichtet haben.Nun kann es aber nicht unsere Aufgabe hier sein, einzig und allein darüber zu diskutieren: Wie ist dieser Skandal verursacht worden?Und zu Ihnen, Herr Minister Schneider: Wenn Sie hier sagen, daß keine Steuergelder zur Sanierung der Neuen Heimat zur Verfügung stehen und dieses
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16630 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Dr. Müller
in die Worte kleiden, es gehe hier nicht um die Subventionierung der Gewerkschaften, dann machen Sie einen entscheidenden Fehler. Sie machen den Fehler, daß Sie die Neue Heimat und ihre Bewohner mit den Gewerkschaften identisch setzen, die Sie natürlich treffen wollen. Das ist unlauter angesichts des Schicksals der Mieter, die jetzt durch Privatisierung bedroht sind.Es geht doch darum, Bundesmittel zur Verfügung zu stellen, um gemeinnütziges Eigentum, gemeinnützige Wohnungen zu retten. Es ist klar, daß sich daran Gewerkschaften, Banken, aber auch Bund und Länder zu beteiligen haben.Sollte im Bundestag von seiten der CDU ein Untersuchungsausschuß beantragt werden, dann ist das Ziel so eines Untersuchungsausschusses doch gleichermaßen, die Ursachen für den Skandal als auch die Lösung zu erforschen, d. h., sich die Frage zu stellen: Wieviel Geld ist notwendig, um die Mieter aus ihrer Situation, in die sie geraten sind, zu befreien? Das wäre für mich das Entscheidende.Wer allerdings in diese Debatte geht und sagt, öffentliche Gelder sind überhaupt nicht drin, der betreibt genau das, was man Ihnen hier vorwerfen muß, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nämlich sozialpolitische Geiselnahme. Sie wollen Ihren Wahlkampf mit der Geiselnahme der Mieter führen, weil Ihnen in der augenblicklichen Situation angesichts eines Kanzlers, mit dem weiß Gott kein Staat zu machen ist — mit Ausnahme eines Atomstaates, wie wir gestern gesehen haben —, nichts einfällt.
— Genau das ist es: sozialpolitische Geiselnahme. Das ist der einzige Begriff, der dafür paßt, wenn Sie auf diese Art und Weise versuchen, mit dem NeueHeimat-Skandal Wahlkampf zu machen.
Sie sind da absolut unglaubwürdig. Das heißt, Sie wollen sich auf Kosten der Mieter, auf Kosten der Gemeinden, selbstverständlich auch auf Kosten der Gewerkschaften einen Wahlkampf schneidern.
Ich halte das auch deswegen für unlauter, weil dies natürlich den Gedanken der Gemeinwirtschaftlichkeit und der Leistung derer, die diese Wohnungen gebaut haben, natürlich noch weiter zerstören wird, und das kann und wird nicht unser Ziel sein.Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Vogel, Beifall geklatscht hat, als wir hier betont haben, daß sich auch die Gewerkschaften, der DGB, finanziell an der Sanierung beteiligen müssen. Ich finde das richtig.
— Das ist nicht neu; aber ich finde es deswegenwichtig, das zu betonen, weil hier natürlich Verantwortlichkeiten in den Vordergrund gestellt werden, die eindeutig bestehen. Dazu muß man sich — verdammt noch mal -- bekennen. Das muß auch öffentlich sein, und das muß gerade dann deutlich gemacht werden, wenn man Steuergelder haben will und dringend benötigt, wobei wir der Meinung sind, daß auch die Banken, die ja hier kräftig zugelangt haben, sich an dieser Sanierung zu beteiligen haben. Hier kann ein Konzept entstehen, das auch die finanzielle Verantwortung an diejenigen gibt, die hier nach dem Verursacherprinzip etwas zu geben haben.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Doss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer ist das eigentlich, der DGB? Einer der größten und mächtigsten Unternehmer im Land. Der DGB: kapitalstarkes Wirtschaftsimperium in der Bundesrepublik Deutschland. Der DGB: Eigentümer der sechstgrößten Privatbank mit 63 Milliarden DM Bilanzsumme. Der DGB: Miteigentümer der zweitgrößten privaten Bausparkasse mit 4,03 Millionen Verträgen über 163 Milliarden DM. Der DGB: Eigentümer der drittgrößten Versicherung mit 5,8 Millionen Verträgen über 65,6 Milliarden DM Versicherungssumme. Der DGB: Eigentümer der co op AG mit 1900 Filialen, 39 000 Mitarbeitern und 1,034 Milliarden DM Umsatz im Jahr 1984. Und last not least der DGB: Besitzer des größten Wohnungsbauunternehmens der Bundesrepublik Deutschland, ja von Gesamteuropa, mit 270 000 Wohnungen, mit 5 000 Beschäftigten, mit 6 Milliarden DM Umsatz jährlich. Die Neue Heimat ist das Stiefkind des DGB, das schwarze Schaf der Familie, das aus der Art geschlagen ist; denn während die anderen DGB-Töchter erfolgreich sind, der Konzernspitze viel Freude bereiten, erwirtschaftet die Neue Heimat seit Jahren nichts anderes als Verluste.
1982 stand die private Neue Heimat Städtebau vor dem Ruin. Fehlspekulationen in großem Umfang, Mißwirtschaft und Selbstbedienung führten zum großen Knall. Der Eigentümer DGB verhinderte damals den völligen Zusammenbruch, indem er mit einem Teil seines Milliardenvermögens, insgesamt 1,5 Milliarden DM, gleich 160 DM pro Mitglied, die Schulden der Tochter beglich. In diesem Fall erwies sich der DGB als verantwortungsbewußter Unternehmer. Er bekannte sich zu dem Risiko, das mit unternehmerischer Tätigkeit verbunden ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Dr. Möller?
Sehr gern.
Herr Kollege, Sie haben gerade von Selbstbedienung gesprochen. Wie beur-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 15. Mai 1986 16631
Dr. Möller
teilen Sie die Feststellung des Hamburger Untersuchungsausschusses, daß die Neue Heimat Hamburg dadurch eklatant gegen Vorschriften verstoßen hat, daß sie für die Betreuung von Bauten bei namhaften, bekannten Genossen statt der gesetzlich vorgesehenen Gebühr von 8 oder 7 % nur 3 % und bei einem ganz bekannten Namen, bei Helmut Schmidt, nur eine Gebühr von 1,5 % verlangt hat?
Herr Dr. Möller, ich kann dies nicht bestätigen. Nur bin ich sicher, daß die Behandlung dieses Themas noch eine ganze Reihe unerfreulicher Tatsachen — nicht für uns, sondern für die, die hier Verantwortung tragen — ans Tageslicht fördern wird. Deshalb: Vor die Therapie gehört die Diagnose, das Aufdecken, was hier ist. Deswegen fordere ich alle auf, daran mitzuwirken. Das muß unser gemeinsames Anliegen im Interesse der Mieter sein.
Der .DGB stand damals in Sachen Neue Heimat Städtebau für den Schaden ein. Er schluckte die Kröte und vertrat diese Entscheidung auch gegenüber seinen eigenen Mitgliedern, von denen allein 1982 über 110 000 dem DGB den Rücken kehrten. 1982 machte der DGB die Erfahrung, was es wirklich bedeutet, Unternehmer zu sein. Unternehmer sein heißt eben nicht, Profite scheffeln und sich vom Mehrwert, der von den ausgebeuteten Lohnabhängigen erwirtschaftet wird, einen schönen Lenz machen. Unternehmer sein heißt in erster Linie Verpflichtung, Verantwortung und Haftung.
Diese Erfahrung machen Jahr für Jahr Tausende von Selbständigen, die dem Wettbewerb nicht standhalten können und in Konkurs gehen.
19 000mal stellte sich 1985 die Frage nach der Verantwortlichkeit
— selbstverständlich ein Teil der Erblast, lieber Kollege! —,
und in der Regel waren es die Betriebsinhaber, die die Antworten geben mußten.Das Prinzip der persönlichen Haftung, das insbesondere unter kleinen und mittleren Unternehmen verbreitet ist, macht die Verantwortung am Unternehmer fest, der im Konkursfall nicht nur seinen Betrieb, sondern meist auch sein privates Vermögen verliert und darüber hinaus in der Regel für den Rest seines Lebens haftet.
Diese Lektion in Sachen Marktwirtschaft schien der Unternehmer DGB 1982 begriffen zu haben. Heute aber, da der gemeinnützige Teil der NeuenHeimat vor dem Ruin steht, will der DGB sich drükken. Er will sich seiner Verantwortung als Unternehmer entziehen. Den Pleitegeier, der über der Neuen Heimat Wohnungsbau kreist, sollen andere vertreiben. Ein Unternehmen, das von seinem Eigentümer mit lächerlichen 3')/0 Eigenkapital ausgestattet wurde, das keine Steuern zahlt, das mit 10 Milliarden DM vom Staat gestützt wurde und das dennoch einen gigantischen Schuldenberg von 18 Milliarden DM auftürmte, dieses Unternehmen ruft jetzt nach öffentlichen Mitteln. Die Frage nach der Verpflichtung des Eigentümers, die Frage nach der Verantwortung des Unternehmers DGB wird verdrängt. Nach dem Prinzip: „Gewinne einstecken, Verluste sozialisieren" versucht der DGB, das Problem zu lösen.
Der Unternehmer DGB hat die Lektion von 1982 rasch verlernt. Er muß wieder an volks- und betriebswirtschaftliche Grundbegriffe erinnert werden. Die Neue Heimat ist eins von 1 800 gemeinnützigen Wohnungsunternehmen. Statt der in dieser Branche üblichen 15 bis 20 % Eigenkapital besitzt die Neue Heimat nur 3 %.
97 % des Firmenkapitals gehören insgesamt 60 Banken, denen der gute Name des DGB als Sicherheit ausreichte, um ihre Finanzierung zuzusagen. Dieser „gute Name" ist heute die Hypothek des DGB, die er einlösen muß.Er hat dabei zwei Möglichkeiten.Erste Möglichkeit: Der DGB überläßt die Neue Heimat sich selbst. Die Neue Heimat müßte 200 000 Wohnungen verkaufen, um die Pleite abzuwenden. Das wäre ein Totalausverkauf, den die Neue Heimat nicht überleben würde.Zweite Möglichkeit: Der DGB saniert sein Tochterunternehmen. Sollte er dabei Hilfe benötigen, muß er zunächst die Karten auf den Tisch legen. Er muß Auskunft geben über die Höhe des Betriebsvermögens, über die Höhe der Verbindlichkeiten, über die Fälligkeitsfristen, über die Verpflichtungsverflechtungen innerhalb des Konzerns und über die Haftungsverflechtungen innerhalb des Konzerns. Schließlich muß der DGB verbindlich erklären, ob und in welcher Höhe er bereit ist nachzufinanzieren. Erst dann wird erkennbar, ob eine Sanierung möglich ist.Daß diese Auskünfte bis heute nicht vorliegen, stimmt bedenklich. Birgt die Finanz-, Verschuldens-und Vermögenslage der Neuen Heimat Vorgänge und Sachverhalte, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen? Man muß dies vermuten.Ist der DGB überhaupt an einer Sanierung mit Selbstbeteiligung interessiert? Erwartet der DGB ernsthaft, daß sein Tochterunternehmen, das sich über Jahre als Quasimonopolist betätigte und als solcher den Markt abräumte, die Architekten, Bauunternehmern und Handwerkern die Bedingungen diktierten, jetzt aus deren Steueraufkommen saniert werden? Glaubt die Neue Heimat ernsthaft, sich dem Offenbarungseid durch verwirrende
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16632 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
DossTransaktionen und Kreislaufgeschäfte entziehen zu können? Glaubt Ministerpräsident Rau, die milliardenschwere Stützungsaktion für den schwankenden Riesen gegenüber den steuerzahlenden Bürgern verantworten zu können? Leiten die Aufsichtsräte und Vorstände der Neuen Heimat aus ihrer Position im Vergleich zu mittelständischen Unternehmen und deren Familien eine privilegierte Behandlung in Fragen der persönlichen Haftung ab?Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht durch platte Forderungen nach öffentlichen Mitteln ersetzt werden.
Wir fordern den DGB auf, seinen Verpflichtungen gegenüber Geldgebern, Beschäftigten und Mietern der Neuen Heimat endlich nachzukommen.Wir ersuchen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, diese Forderung mitzutragen. Lassen Sie uns als Anwalt der Mieter und der anderen Neue-Heimat-Geschädigten gemeinsam auf den DGB einwirken, um ihn zu einem verantwortungsbewußten Unternehmerverhalten zu bewegen!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sperling.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gedenke keine Zwischenfragen zuzulassen, jedenfalls so lange nicht, bis ich das, was 'mir in dieser Debatte entscheidend ist, übergebracht habe.
— Nein, nein, das kann, wenn Sie sich vernünftig verhalten, nach zehn Minuten passieren. —
Das, was hier passiert, ist ein Rachefeldzug aus unchristlichem Geist.
An dem nimmt die FDP munter teil. Daß der Kollege Lambsdorff heute im Gerichtssaal und nicht im Plenarsaal sitzt, ist der Strategiefehler der Strategen aus dem Büro Dregger.
Und er sitzt im Gerichtssaal, weil das Ausmisten in der Tat nötig ist.
Das Ausmisten ist allerdings auch in Sachen Neue Heimat nötig. Und wenn es ums Ausmisten geht, dann werden Sie feststellen: Wir sind dafür, auch wenn es um unseren eigenen Mist geht. Sie werden dies in dem von Herrn Möller zitierten Ausschußbericht aus Hamburg kontrollieren können. Als ich in den Zeitungen gelesen habe, der Hamburger Untersuchungsausschuß „Neue Heimat" habe seine Untersuchungen abgeschlossen, habe ich dort gefragt: Wann kann ich den Bericht kriegen? Da haben die mir gesagt: Der wird 1 500 Seiten lang sein; das wird etwa Mitte Juni erscheinen; vorher kannst du nichts kriegen. — Dann habe ich gefragt: Es wird dann aber doch einen Minderheitsbericht der GAL dort geben? — Da haben die gesagt: Nee, gibt's nicht. Ich hatte gedacht, daß die GAL, die wirklich kein Freund der Hamburger Sozialdemokraten ist, da schon etwas nachliefern würde. — Dann habe ich gefragt: Und was ist mit einem Minderheitsbericht der CDU? — Da haben die mir gesagt: Den gibt's auch nicht. — Also: der Untersuchungsausschuß in Hamburg hat einstimmig abgeschlossen.Nach dem, was ich in Zeitungen gelesen und aus Andeutungen gehört habe, ist das, was in diesem Bericht steht, verheerend,
und es ist unter Führung von Sozialdemokraten zustande gekommen: ein verheerendes Urteil über die Neue Heimat.
Wenn ausgemistet werden muß und soll, bin ich dabei. Wenn meine Gewerkschaft mich daran hindern sollte, dann werde ich der Bescheid sagen und durch Basisbeschlüsse meiner Gewerkschaft dafür sorgen, daß sie mich beim Ausmisten nicht behindert. Ich bin dafür, daß Gewerkschaftsvorstände die Beschlüsse der Basis einhalten. Wenn das, was der Kollege Link gefordert hat, von den Gewerkschaften gemacht werden soll: Herr Kollege Link, warum kämpfen Sie nicht an der Basis Ihrer eigenen Gewerkschaft dafür, daß das von der Gewerkschaft beschlossen wird?
Gehen Sie daran!Also, ausmisten werden Sie mit uns können. Aber bitte, überlegen Sie dann mit uns auch, was inzwischen passiert. Denn die Welt bleibt nicht unverändert, während man den Mist ausräumt.
Es könnte sein, daß sich durch Unachtsamkeit und Nicht-Hingucken Dinge anhäufen, die man nachher wieder als Mist zu beseitigen hat, weil man nicht gehandelt hat.
Deswegen lohnt die Frage: Was passiert denn eigentlich — unabhängig von der bösen Vergangenheit der Neuen Heimat — jetzt? Da kommt die Bayerische Staatsregierung dankenswerterweise als Vermittler zur Neuen Heimat oder die Neue HeimatDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16633Dr. Sperlingdankenswerterweise zur Bayerischen Staatsregierung als Vermittler, und die bayerischen Wohnungen der Neuen Heimat werden inzwischen verkauft, während wir hier ausmisten. Dasselbe macht Lothar Späth für die baden-württembergische Landesregierung. Er vermittelt den Verkauf des Wohnungsbestandes der baden-württembergischen Gesellschaft in irgendwelche Hände. Beides wird inzwischen passieren, ohne daß die Bindungen erhalten bleiben. Die Bindungen sowohl gemeinnütziger wie sonstiger Art werden durch die neuen Eigentümer nicht aufrechterhalten werden, sondern nach den gesetzlichen Tatbeständen zu Ende gehen. Inzwischen wird in Hessen nach meinem Eindruck etwas Ähnliches passieren. Dort werden die Bindungen aufrechterhalten werden und in Nordrhein-Westfalen nach meinem Eindruck auch. Dann haben wir die Neue Heimat im süddeutschen Raum — und da ist der Norden schon recht kurz betrachtet, er endet dann mit Niedersachsen — sozusagen ohne eigene Wohnungen.Das heißt, wir befinden uns bereits auf dem Wege zu einem Wohnungsbaukonzern oder Wohnungskonzern ohne Wohnungen. Deswegen geht es schon gar nicht mehr um die Sanierung der Neuen Heimat. Die wird ja beendet, das sieht man ja; der Ausverkauf findet doch längst statt. Die Frage ist nicht: Soll man die Neue Heimat sanieren — das geht so oder so zu Ende —, sondern: Was kann man tun, um die Wohnungen, die früher einmal — so werden wir in einem Jahr sagen — der Neuen Heimat gehört haben, für kommunalpolitische Verantwortung zur Verfügung zu haben für die Einkommensgruppen, die sie brauchen.
Wir müssen den Kommunalpolitikern helfen und den zukünftigen Mietern, die auf preisgünstige Wohnungen angewiesen sind, nicht nur den jetzigen Mietern in den Wohnungen. Deswegen — nicht zur Sanierung der Neuen Heimat — ist gefordert, daß man mit politischen Maßnahmen etwas tut, notfalls auch in die öffentlichen Kassen greift.Warum kann man denn auch ruhig in die öffentlichen Kassen greifen? Meine Damen und Herren, weil der Griff in die öffentlichen Kassen unweigerlich passieren wird. Den kann niemand verhindern.
Denn wenn die Neue Heimat verkauft — und sie wird verkaufen; und wenn sie nicht verkauft, dann wird im schlimmsten Fall sogar ein Konkursrichter verkaufen —, dann werden diese Wohnungen auf dem Markt sein, und mit dem Erwerbermodell, der anderen Variante des Bauherrenmodells, werden den öffentlichen Händen mehr Gelder aus der Tasche gezogen als nach Subventionierung der bisher bei der Neuen Heimat befindlichen Wohnungen.
Dies kommt teurer für die öffentlichen Hände als das, was man jetzt für 500 DM je Wohnung pro Jahr tun könnte, um die Bindungen zu erhalten. Wenn das passiert, dann ziehen sich nicht nur die Erwerbermodellsteuerspekulanten die Wohnungen der Neuen Heimat an Land, sondern dann wird in diesen Wohnungen auch noch erhöhtes Wohngeld bezahlt werden müssen.
Noch einmal werden die öffentlichen Hände dran sein. Für diejenigen, die die billigen Wohnungen nötig haben und für die es keine mehr geben wird, muß dann Wohngeld gezahlt werden und gegebenenfalls, wenn das nicht reicht, Sozialhilfe.Das heißt: Wer ein Interesse daran hat, die Kommunen davor zu bewahren, die Folgen des Laufenlassens übernehmen zu müssen, und den einkommensschwachen Gruppen in diesem Land preiswerten Wohnraum zu erhalten, und wer dagegen ist, daß Steuerspekulanten dies als billige Masse kriegen, die sie obendrein durch Steuerspekulation als Kostenmasse auf die öffentlichen Hände abwälzen, der muß jetzt etwas tun.
Herr Schneider, als Bundesbauminister haben Sie nicht einmal die Fähigkeit, zu sehen, was passiert, wenn alles so weitergeht, sondern Sie wollen auch nur Vergangenheitsbewältigung beim DGB betreiben.
Diese Haltung ist unverantwortlich.
Deswegen kümmern Sie sich darum, was passiert, während ausgemistet wird, damit wenigstens Vorkehrung getroffen ist, daß nicht nachher der Skandal noch größer ist als jetzt schon.Nun möchte ich zu ein paar Punkten kommen. Sie sagen, die Wohnungen der Neuen Heimat seien bereits mit 10 Milliarden DM subventioniert worden. Das kann man so sehen. Aber man kann auch sagen: Die 10 Milliarden DM sind zum erheblichen Teil bisher den Mietern der Neuen Heimat zugute gekommen. Sie haben nicht der Vermögensbildung beim DGB gedient, sondern sie sind in ermäßigten Mieten den Mietern der Neuen Heimat zugute gekommen. Wenn man nun danach fragt, ob denn die 10 Milliarden DM auch noch in Zukunft Mietern zugute kommen sollen, dann muß man das bedenken, was ich eben gesagt habe. Deswegen lohnt es nicht, sich darüber aufzuregen und zu sagen, 10 Milliarden DM seien verwirtschaftet worden. So ist es nicht. Sie sind in erheblichem Ausmaß abgewohnt und genutzt worden von Mietern. Das war eine anständige sozialpolitische Leistung, der sich niemand zu schämen hat. Aber wenn man die Wohnungen für die Zukunft zur Verfügung behalten will, kann man vielleicht mit ein paar Millionen D-Mark an zusätzlichem öffentlichen Aufwand diese Wohnungsvermögensmasse für den sozialpolitischen Zweck retten.16634 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986Dr. SperlingDas Reden über die 10 Milliarden DM und das Fingerzeigen auf den DGB ist beim Retten überhaupt nicht hilfreich. Das kann man immer noch machen. Aber vorher sollte man etwas gerettet haben.
Herr Schneider, wenn man von der Neuen Heimat Auskünfte haben will, kann man sie ja kriegen. Aber man muß sich dann auch entsprechend verhalten. Jetzt will ich einmal beschreiben, wie ich Ihre Rolle in der Vergangenheit sehe. Sie haben gesagt: Ich möchte von der Neuen Heimat ein unabhängiges Gutachten. Dieses Gutachten soll Aufschluß geben. Das entspricht der Haltung eines Arztes, der von einem Patienten um Hilfe angegangen wird, weil sich der Patient nicht wohl fühlt, und der diesem Patienten sagt: Schreibe deinen bisherigen Lebenslauf einmal auf, gucke einmal nach, welche polizeilichen Führungszeugnisse du hast, und gib sie mir, gucke mal nach, was du ansonsten über die Krankheitsgeschichte deiner Familie hast, und gib mir die Nachweise,
und dann komme, ziehe dich aus und lasse dich fotografieren, gehe unter das Röntgengerät und lasse dich durchleuchten.
Und eins verspreche ich dir: Was ich Abträgliches über dich erfahre, werde ich sofort dem Springer-Konzern mitteilen, damit die nachteiligsten Fotos von dir in der Presse erscheinen. Das sage ich dir obendrein: Hilfe kriegst du nicht.
Das ist das Verhalten des Bundesbauministers gegenüber dem jetzigen Vorstand der Neuen Heimat. Das ist sicher unfair; denn er hat all die üblen Machenschaften nicht getan, die man der Neuen Heimat ansonsten vorwirft.
Wenn die Neue Heimat oder die gewerkschaftlichen Vorstandsmitglieder, die sich darum gekümmert haben, vom Bundesbauminister so behandelt werden, dann ist doch sehr die Frage, warum sie denn eigentlich mit diesem Untersuchungsergebnis bei Ihnen aufwarten sollen. Die Zusammenarbeit zwischen Landesregierungen und Landesorganisationen der Neuen Heimat, geführt durch die Hamburger Muttergesellschaft, klappt vorzüglich. Das ist der eigentlich erstaunliche Tatbestand: Von den Landesregierungen gibt es keine Klage darüber, daß die Landesgesellschaften oder aber die Muttergesellschaft in Hamburg über die Landesgesellschaften irgendeine Auskunft verweigern.Herr Bauminister, Sie werden in einer Anzeige aufgefordert, in Hamburg anzurufen. Machen Sie das! Dann können Sie erfahren, warum Ihnen eigentlich nicht mehr das Vertrauen entgegengebracht wird, warum das größte Wohnungsbauunternehmen der Bundesrepublik — das es nach wie vor ist — die nach meiner Ansicht berechtigte Sorge hat, daß das, wozu Sie sich nach dem Strategiepapier des Herrn Dregger hergegeben haben, in der Tat zur weiteren Verschlechterung der Position dieses Unternehmens, das sich selber zu retten versucht, beiträgt.
Deswegen ist es Ihre Sache, zu erkennen, daß mit Ihrem Verhalten im Grunde genommen kein Vertrauen mehr herstellbar ist, das dazu führen wird, daß die Neue Heimat Ihnen ein Gutachten beschafft.Nun können Sie natürlich darangehen und ganz mühelos eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Landesbauminister herstellen; denn wenn Sie die Gutachten aus elf Ländern zusammen haben, haben Sie genau das, was Sie wollen. Nur, Sie haben das nicht mit dem öffentlichen Theater. Solange das mit dem öffentlichen Theater begleitet wird, ohne daß jemand sagt: wir sind zur Hilfe bereit — nicht unter jeder Bedingung, d. h. es muß angedeutet werden, unter welchen Bedingungen —, solange macht das ja auch keinen Sinn.Nun gebe ich Ihnen zu: Sie finden auch in den Reihen der CDU Leute, die sagen: Wir sind zur Hilfe bereit. Der Statthalter des Kanzlers in Nordrhein-Westfalen, Herr Worms, hat Ende April 1986 im nordrhein-westfälischen Landtag tatsächlich versprochen, der Bund werde etwas tun. Nun, Bund, ist die Bereitschaft da, die Versprechen von Herrn Worms einzulösen, oder ist das mit seinen Versprechen so wie früher, d. h. der Bund garantiert nichts von dem, was Herr Worms gesagt hat?
Wenn Sie also darangehen wollen, tatsächlich die Wohnungen, die Bindungen — nicht die Neue Heimat — zu retten, dann müssen Sie etwas anderes sagen als bisher.Im übrigen finde ich die Einlassung der Bundesregierung alles andere als überzeugend. Entweder besteht Grund zur Sorge, dann muß man etwas tun, oder es besteht kein Grund zur Sorge, dann braucht man auch nichts zu tun. Dann ist aber auch kein Anlaß gegeben, in dieser Art und Weise die Geschichte zu behandeln. Dann kann man einfach sagen: Wir brauchen das Ausmisten der Vergangenheit, und ansonsten braucht nichts zu geschehen. Nur muß man dann wissen: Inzwischen werden die Wohnungen dennoch verkauft, und dann tritt all das ein, was ich Ihnen gesagt habe.Sie können uns natürlich dazu kriegen, daß wir sagen, wir schaffen das Erwerbermodell im steuerrechtlichen Bereich ab, das es da immer noch als Praxismöglichkeit gibt und das immer noch wirkt. Wenn Sie das wollten, könnten Sie das mit uns im Schnellverfahren sofort machen. Dann wäre den Steuersparspekulanten dieser Weg des Greifens in die Tasche des Staates für Wohnungen der Neuen Heimat in Zukunft verbaut. Sie können uns sofort an der Seite haben, wir würden das sofort mitmachen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16635
Dr. SperlingStatt dessen, so fürchte ich, werden wir von Ihnen erleben, daß Sie eigentlich nur danach fragen: Was kann man bei der Neuen Heimat, beim DGB an böser Vergangenheit herauswühlen? An der Stelle will ich Ihnen sagen: Diese Vergangenheit ist offensichtlich sehr böse. Es ist noch nie in der Geschichte des Wohnungswesens passiert, daß einem Prüfungsverband die Eignung und Fähigkeit zum Prüfen der Unternehmen abgesprochen wurde. Dies ist beim Hamburger Untersuchungsausschuß gegenüber dem Prüfungsverband geschehen. Da kann man nur vermuten, daß es bei diesem Prüfungsverband, dessen Gutachten vorliegen müssen, bevor sich die Anerkennungsbehörde damit auseinandersetzt und sich dann der Aufsichtsrat des Unternehmens mit beiden auseinandersetzt,
mit Jahresabschlüssen, die vom Prüfungsverband und von der Ankennungsbehörde behandelt worden sind — dann kommt der Aufsichtsrat —, etwas gegeben haben muß wie eine systematische Verschleierung im Interesse der Mißmanager der Neuen Heimat. Wenn das der Fall sein sollte, daß dort ein Prüfungsverband systematisch Verschleierung betrieben hat und die Anerkennungsbehörden dies möglicherweise mit einzelnen Mitarbeitern auch noch gestützt haben, dann ist die Frage, warum Lothar Späth und andere im Aufsichtsrat bestimmte Dinge nicht erkennen konnten, natürlich auch etwas leichter zu beantworten.
— Er war Vorstand in einer Regionalgesellschaft.
— Er war im Aufsichtsrat, und er war kurze Zeit auch dort.Aber die Frage, wieso ein Unternehmen in der Bundesrepublik, das nicht von Gewerkschaftern geführt wird, sondern wo im Aufsichtsrat Bankenvertreter, die ganze Creme des Bankenwesens, gesessen und akribisch alles mögliche untersucht haben, dennoch Konkurs machte, wird man auch stellen dürfen, wenn man so sehr über ein Unternehmen herzieht, in dessen Aufsichtsrat Gewerkschafter aller Arten gesessen haben. Konkurse, Mißmanagement, Fehlwirtschaft eines Unternehmens, großer Unternehmen hat es an vielen Stellen gegeben. Dies ist nie ein Ruhmesblatt für die Aufsichtsräte. Vielleicht müssen wir nicht nur das Gemeinnützigkeitsgesetz ändern, sondern auch das Aktienrecht, weil wir uns wirklich fragen müssen, ob das noch funktionieren kann bei solch großen Unternehmen und der Neigung, Dinge möglicherweise für den Namen, für den Ruf des Unternehmens zu verschleiern und dann Dinge vor sich hin wuchern zu lassen, obwohl etwas bekannt ist; das ist nicht nur eine Geschichte der Neuen Heimat.Fragen Sie doch einmal nach, was z. B. im EschKonzern passiert ist und wie die niedersächsische Landesregierung bei der Hanomag reagiert hat. Vielleicht kriegen wir in Niedersachsen einen Untersuchungsausschuß dazu. Man kann nicht wissen, wen das alles trifft.Dies ist leider kein Alleingut eines gewerkschaftlichen Unternehmens. Und weil das so ist, meine ich, daß das Lauthals-Schreien über mangelnde Aufsicht durch die Gewerkschaften über die Neue Heimat im Grunde genommen auch deswegen so unfair ist, weil man doch weiß, daß da anders als bei anderen Unternehmen, die in Probleme gekommen sind, zwei Aufsichtsinstanzen vorher da waren, nämlich der Prüfungsverband und dies.
Es gab eine Verfilzung, wie sie zwischen Banken und anderen in Konkurs gegangenen Unternehmen und vielleicht sogar zwischen Parteipolitikern und anderen inzwischen in Konkurs gegangenen Unternehmen bestanden hat.Meine Damen und Herren, zum Ausmisten sind wir jederzeit bereit, aber wir möchten, daß inzwischen etwas passiert, was für die Kommunen und für die Mieter nützlich ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Ruf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit den Skandalen und der Mißwirtschaft der Neuen Heimat sowie mit dem völligen Versagen des DGB-SPD-verfilzten Aufsichtsrats — Breit, Steinkühler, Wulf-Mathies und Genossen — ist eine große Unruhe unter den Mietern entstanden.
— Nicht jeder, Herr Kollege Conradi, der Unsinn redet, ist ein Komiker!Die Mieter hatten sich wie die Mitarbeiter in den DGB-eigenen Unternehmen auf das verlassen, was in den Grundthesen des DGB-Bundesvorstandes über Ziele und Funktionen der gemeinwirtschaftlichen Unternehmen vom 24. Mai 1972 mit einem hohen moralischen und gesellschaftspolitischen Anspruch dokumentiert ist. Ich zitiere:Die Gemeinwirtschaft und dabei auch die Wohnungswirtschaft unter dem Dach der Neuen Heimat soll beispielhaft-- ich wiederhole: beispielhaft —sozial- und gesellschaftspolitische Forderungen der Gewerkschaften verwirklichen. Sie soll die wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeitnehmer verbessern,' Mißstände beseitigen— ich wiederhole: Mißstände beseitigen — — jawohl, Miststände —
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16636 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Rufund die positiven Wirkungen einer auf die Arbeitnehmer ausgerichteten Unternehmenspolitik demonstrieren.Es geht aber mit den Thesen des DGB aus dem Jahre 1972 noch weiter. Ich zitiere wieder:Die Gewerkschaften streben eine Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung an, die die Erkenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge durch Offenlegen aller Daten ermöglicht.Der Herr Kollege Niegel hat das Zitat bereits im gesamten Wortlaut vorgetragen.
— Nein, ich habe es nicht wiederholt; ich habe es nur gesagt. — Das sind die hochtrabenden Sprüche der Sozialapostel und Umverteilungsstrategen vom Genossenfilz aus dem Jahre 1972.
Wie sieht die Bilanz 1986 aus? Fast täglich neue Schreckensmeldungen über den finanziellen Zustand, über die merkwürdigen und dubiosen Geschäftspraktiken und den Steuer- und Subventionsbetrug des gewerkschaftseigenen Wohnungsbaukonzerns Neue Heimat — teure Heimat —, die im einzelnen mit Daten und Fakten bereits vorgetragen wurden und deshalb von mir nicht wiederholt werden müssen.Tatsache ist, daß erstens wie bei fast allen gewerkschaftseigenen Unternehmen des DGB exakte Informationen über Beteiligungen, Verflechtungen, Gewinnverwendung und Geschäftspolitik nur bruchstückhaft zu erhalten sind;
daß zweitens Gewerkschaftsunternehmen unübersichtlich und miteinander verschachtelt sind und kaum Informationen preisgeben; daß drittens Gewerkschaftsunternehmen unsozial und mieterfeindlich sind.Sie sind unsozial. Dazu verweise ich u. a. auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts 3 Az R 100/83 — es ist ganz neu, es ist vom 22. April 1986 — im Zusammenhang mit den skandalösen Rentenkürzungen der DGB-Unterstützungskasse für DGB-Mitarbeiter und der Verweigerung der 38,5-Stunden-Wöche für die Angestellten beim DGB in Hessen.
So klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander!Sie sind mieterfeindlich, weil durch die undurchsichtigen Finanz- und Spekulationsgeschäfte überhöhte Kostenmieten manipuliert, die Instandhaltungspflichten des Vermieters gröblich vernachlässigt
und die Mieter mit unangemessenen Neben- und Verwaltungskosten wie Weihnachtsgänse ausgenommen wurden.
Sie sind mieterfeindlich, weil auf schamlose Weise über die Köpfe der Mieter hinweg in Nacht-und Nebel-Aktionen Wohnungen — in Frankfurt, Bremen, Hamburg, Düsseldorf und München — verscherbelt wurden.
Für die Darstellung der Einzelheiten reicht meine Redezeit leider nicht aus.
Den verunsicherten Mietern sitzt die Angst im Nacken, aber auch Wut und Entsetzen sind bundesweit die Reaktionen in den betroffenen Siedlungen der Neuen Heimat.Ein langjähriges DGB-Mitglied, seit 1947 im DGB, schrieb an den Kollegen Breit — ich zitiere —:Noch nie habe ich innerhalb des DGB und seiner gemeinwirtschaftlichen Unternehmen ein so beispielloses, miserables und unsoziales Verhalten erlebt wie gegenwärtig durch den DGBeigenen Konzern Neue Heimat, deren Aufsichtsratsvorsitzender Sie sind und der mit seinem Ausverkauf von 100 000 Sozialwohnungen in den Ballungsräumen Angst und Schrecken unter den Mietern verbreitet. Für mich als DGB-Mitglied ist es beschämend und empörend zugleich, daß Sie als DGB-Vorsitzender diesen massenhaften Ausverkauf von Sozialwohnungen auch noch billigen.
Meine Damen und Herren, Unverständnis besteht aber auch darüber, daß die DGB-Funktionäre mit 1,5 Milliarden DM den Beinahe-Konkurs der nicht gemeinnützigen Neuen Heimat Städtebau abgewendet haben und keine Hemmungen hatten, für Spielbanken und Luxushotels in Monte Carlo, Paris, Venezuela und Mexiko etwa 160 DM je Gewerkschaftsmitglied von unten nach oben umzuverteilen und die Streikkassen zu plündern.
Deshalb will man weiterhin mit § 116 alter Fassung auf die Kasse in Nürnberg zurückgreifen können.Davon und von den nicht zu überhörenden Mieterprotesten war bei den Klassenkampfreden und Hetzparolen gegen die Bundesregierung am 1. Mai leider nichts zu hören.
Die Unruhe unter den Mietern hat aber auch den bisher auf Tauchstation befindlichen Präsidenten des Deutschen Mieterbunds, den Abgeordneten Jahn, SPD — wir haben gehört: Er ist heute entschuldigt —,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16637
Rufveranlaßt, wahrscheinlich aber gezwungen, Farbe zu bekennen. Herr Jahn hat auf dem Verbandstag der hessichen Mietervereine in Offenbach Anfang Mai die Neue-Heimat-Geschäftspraktiken als unerträglich bezeichnet und festgestellt, daß der gewerkschaftseigene Konzern Wohnungen an obskure Aufkäufer veräußert, die Mieter im unklaren gelassen und getäuscht habe.Man kann ausnahmsweise auch Herrn Farthmann zustimmen, wenn er sagte: Die Neue Heimat ist die offene Flanke für die Glaubwürdigkeit der Arbeiterbewegung.Welche Konsequenzen ziehen die Neue Heimat und deren alleiniger Eigentümer, der steinreiche Deutsche Gewerkschaftsbund, seine Einzelgewerkschaften und seine der SPD angehörenden Spitzenfunktionäre im Aufsichtsrat aus den skandalösen Vorgängen? Zunächst wird nach wir vor taktiert und gemogelt. Weiterhin wird gefordert, daß der drohende Konkurs der gemeinnützigen Neuen Heimat, ohne das versprochene neutrale Gutachten und ein Sanierungskonzept vorzulegen, mit öffentlichen Geldern abgewendet werden soll. Für das Mißmanagement von DGB/SPD-Spitzenfunktionären in Vorstand und Aufsichtsrat sollen jetzt also die Steuerzahler einspringen.Herr Dr. Hoffmann begründete diese Forderungen in der ARD-Sendung „Schlag auf Schlag" am 8. Mai 1986 — Herr Minister Dr. Schneider, Sie haben sich übrigens in dieser Sendung „Schlag auf Schlag" hervorragend geschlagen; meine Anerkennung dafür —
mit der sensationellen Behauptung, die Neue Heimat Städtebau hätte theoretisch Gewinne in unbegrenzter Höhe machen können — sie hat es allerdings nicht gemacht -, während die Neue Heimat als gemeinnütziges Unternehmen nicht mehr als 4 % Gewinn machen dürfe.In welcher kapitalistischen Traumwelt lebt Herr Dr. Hoffmann mit seinem Jahresgehalt von 550 000 DM eigentlich?
Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Herr Dr. Hoffmann scheint auch keine Ahnung von den Gewinnspannen in der deutschen Wirtschaft zu haben. Die Gewinnspanne lag in der deutschen Industrie im vergangenen Jahr — hören Sie gut zu — bei 2,3%, d. h. 2,30 DM bei 100 DM Umsatz.Interessant ist, daß Anfang April 1986 der Chef der gewerkschaftseigenen Beteiligungsgesellschaft für Gemeinwirtschaft, Herr Lappas, wörtlich erklärte: Wir pfeifen auf jede Hilfe aus Bonn.
Inzwischen pfeift die Neue Heimat auf dem letztenLoch und will wieder Hilfe aus Bonn, es sei denn,der große Augias der SPD, Herr Dr. Sperling, findetbeim Ausmisten einen verborgenen DGB-Schatz unter dem Genossenmist im Stall.
Ich habe absichtlich nicht „Saustall" gesagt; sonst hätte ich einen Ordnungsruf riskiert.Herr Dr. Sperling, von Ihnen möchte ich aber auch nicht als Arzt kuriert werden. Ihre Methoden stellen die des Dr. Eisenbart in den Schatten.
Nachdem Herr Breit erklären ließ „Die Gewerkschaften sind nicht für die Neue Heimat da, sondern die Neue Heimat ist für die Gewerkschaften da", können sich die Mieter ausrechnen, von wem sie Hilfe erwarten können; mit Sicherheit nicht vom SPD-DGB-Filz und seinen Funktionären, die sich, wie der parlamentarische Untersuchungsausschuß der Hamburger Bürgerschaft ergeben haben soll, von der teuren Heimat u. a. Auslandsreisen mit überwiegend touristischen Teiien und ausgedehnten Damenprogrammen, Belustigungsveranstaltungen und Privatfeten bezahlen ließen. Von der unzulässigen Spendenpraxis der Neuen Heimat und der Mißachtung der Steuergesetze wird noch zu sprechen sein, hoffentlich in einem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages.
Hilfe für die Mieter, Herr Kollege Schmitt, ist nur von der CDU/CSU-FDP-Koalition zu erwarten, die trotz des Verschuldens von DGB und SPD an dem größten Mieter- und Wohnungsskandal, dem größten Gewerkschaftsskandal und damit dem größten gesellschaftspolitischen Skandal seit Bestehen der Bundesrepublik die Mieter in den Sozialwohnungen der Neuen Heimat nicht im Stich läßt und dafür sorgen wird, daß die Sozialbindung der Wohnungen erhalten bleibt und der Mieterschutz nicht angetastet wird. Die Mieter in den Wohnungen der Neuen Heimat brauchen sich keine Sorgen zu machen und können nachts wieder ruhig schlafen.Die Neue Heimat muß allerdings jetzt ihre Zusagen einlösen und auch endlich Geld in ihr gemeinnütziges Unternehmen Neue Heimat stecken. Sie darf sich nicht aus der Verantwortung davonstehlen, nicht zuletzt im Interesse der Mieter; sonst gilt wie bisher für den DGB und die Neue Heimat: Eigennutz geht vor Gemeinnutz. Dazu sagen wir: „Nein danke".„Nein danke" sagen wir aber auch zu dem Entschließungsantrag der SPD und der GRÜNEN.Ich wollte jetzt noch etwas aus diesem Buch vorlesen.
Aber die Redezeit ist zu Ende!
Aber es hat bereits geblinkt; ich kann es daher leider nicht tun. Ich bedanke mich.
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16638 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte hat eines klargemacht: Der Neue-Heimat-Skandal ist ein Gewerkschaftsskandal, ein SPD-Skandal, und das zu Lasten der Mieter und zu Lasten der Steuerzahler.
Erstens. Der Skandal Neue Heimat ist ein DGBSkandal; denn der DGB als Unternehmer entzieht sich seiner Verantwortung.
Meine Damen und Herren, wer 1,5 Milliarden DM zur Sanierung des nichtgemeinnützigen Teils Neue Heimat Städtebau zur Verfügung stellt, muß sich fragen lassen, wie es eigentlich um seine soziale Verantwortung bestellt ist, wenn es um die Sanierung des gemeinnützigen Bereichs geht, dort, wo die Mieter betroffen sind.
Der normale Bürger, der beim Sozialamt anklopft, wird dort gefragt, wie seine Vermögensverhältnisse sind. Hat er Vermögen, wird ihm zugemutet, zunächst sein Vermögen in Anspruch zu nehmen und dann nach dem Steuerzahler zu rufen. Was diesem kleinen Mann in unserer Bundesrepublik zugemutet wird, das können wir erst recht vom vermögenden Deutschen Gewerkschaftsbund verlangen.
Zweitens. Der Skandal Neue Heimat ist ein SPDSkandal. In den Aufsichtsräten sitzen nahezu ausnahmslos SPD-Mitglieder: Herr Breit, Herr Steinkühler und viele andere.
Herr Minister Zöpel, es gibt genügend Prüfungsbeanstandungen aus den 70er Jahren. In diesen Prüfungsbemerkungen aus Nordrhein-Westfalen heißt es — man muß sich das einmal vorstellen —: Je unverkäuflicher die Wohnungen werden, so schreiben die Prüfer, desto höher wird ihr Bilanzwert. Trotz unserer sehr deutlichen Feststellungen wurden auch 1974 wieder Zinsen als Ertrag ausgewiesen, der die entscheidende Quelle des Bilanzgewinns war. Gegen alle Übungen empfahl die Geschäftsführung, diesen Gewinn mindestens zu Teilen als Dividende auszuschütten.
— Von 1975!
Dann heißt es: Die hier vorliegenden Probleme sind so beachtlich, daß wir eine grundsätzliche Klärung von einer neutralen Stelle für erforderlich halten.
Dieses Schreiben ging an die Neue Heimat. Es ist nicht ersichtlich, daß diese neutrale Prüfung bis heute stattgefunden hat.
Es gab eine weitere Prüfungsfeststellung, Herr Minister Zöpel. 1984 schreibt die Großbetriebsprüfungsstelle Düsseldorf an die Neue Heimat, man möge auf Prüfungsfeststellungen antworten. Die Antwort lautet: „Zu den von Ihnen getroffenen Prüfungsfeststellungen zur Gemeinnützigkeit möchten wir Ihnen mitteilen, daß unser Unternehmen zur Zeit nicht zu einer Stellungnahme bereit ist."
Dann kommt heute diese Anzeige, die da lautet:
Sehr geehrter Herr Bundesbauminister! Die Neue Heimat hat nichts zu verschweigen. Rufen Sie uns an.
Ich appelliere von dieser Stelle an die Neue Heimat: Herr Hoffmann, lassen Sie neutrale Prüfer ins Haus, und verletzen Sie nicht die alte Geschäftsgrundlage.
Herr Sperling, Sie stellen die Dinge auf den Kopf.
Es ist sinnvoll, erst ein Gesamtkonzept zu haben,
dann ein neutrales Gutachten und dann die Bundesregierung nach flankierenden Maßnahmen im Interesse der Mieter zu fragen. Diese gemeinsame Geschäftsgrundlage, Herr Kollege Sperling, hat nicht der Bundesbauminister verlassen, sondern der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Neue Heimat gemeinsam mit den SPD-regierten Bundesländern.
Drittens: Skandal Neue Heimat zu Lasten der Mieter. Herr Minister Zöpel, die Mieter sind nicht gefährdet
wegen des geltenden Mieterschutzes, wohl aber wegen der Praktiken der Neuen Heimat, wie es im Untersuchungsbericht von Hamburg steht.
Herr Kollege Roth, ich empfehle Ihnen diesen Untersuchungsbericht. Dann werden Sie feststellen, daß in ungeahntem Ausmaß Gelder vom gemeinnützigen Bereich der Wohnungswirtschaft in den nicht gemeinnützigen Bereich rechtswidrig geflossen sind — daran gibt es nichts zu beschönigen —,
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16639
Parl. Staatssekretär Dr. Jahn und das zu Lasten der Mieter.
Viertens: Neue-Heimat-Skandal zu Lasten des Steuerzahlers. Meine verehrten Kollegen von der Sozialdemokratie, Sie haben heute einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Darin identifizieren Sie sich mit den Praktiken der Wohnungsverkäufe im Lande Nordrhein-Westfalen. Denn es heißt dort, daß das Engagement in Nordrhein-Westfalen begrüßt wird.
Was da läuft, ist eine verschleierte Subventionierung auf Kosten des Steuerzahlers in dreifacher Hinsicht.
Subventionstatbestand Nummer 1: Die West-LB gewährte der Wohnungsbauförderungsanstalt ein Darlehen von 59 Millionen DM. Der vereinbarte Zinssatz beträgt 5,5%. Er ist um einen Prozentpunkt niedriger als der Marktzins, der sonst nur erstklassigen Schuldnern gewährt wird. Hier handelt es sich um eine Subventionierung durch das Land.
Subventionierungstatbestand Nummer 2: Darüber hinaus gewährte die Wohnungsbauförderungsanstalt für zehn Jahre einen jährlichen Kredit von 1,2 Millionen DM über eine Laufzeit von 15 Jahren zins- und tilgungsfrei. Dadurch erhält die LEG insgesamt 18 Millionen DM. Diese 18 Millionen DM fehlen an anderer Stelle bei der Förderung des Wohnungsbaus in Nordrhein-Westfalen.
Subventionstatbestand Nummer 3: Minister Zöpel schreibt der Landesentwicklungsgesellschaft am 26. Februar 1986:
Die Landesseite erklärt sich außerdem bereit, spätestens nach sieben Jahren auf Grund einer Überprüfung der Hausbewirtschaftungsergebnisse dieser Objekte auf geeignete Weise dazu beizutragen, daß die Übernahme der Wohnungen durch die Landesentwicklungsgesellschaft ergebnisneutral bleibt.
Meine Damen und Herren, das sind Verpflichtungen in unbestimmter Höhe zu Lasten des Steuerzahlers. Der eigentliche Subventionstatbestand wird verschleiert und ein Wechsel auf die Zukunft gezogen, und das, Herr Minister, in einem Land, in dem man heute davon redet, daß es in diesen Tagen, vielleicht schon heute, die nächsten 20 000 Wohnungen nach demselben Strickmuster durch die LEG kaufen will. Der Kaufpreis soll, wie man aus der Presse erfährt, 2,8 Milliarden DM betragen, und der Zinssatz soll — dem Vernehmen nach — nochmals um einen Prozentpunkt gesenkt werden.
Das Land Nordrhein-Westfalen mit seiner alarmierenden Finanzlage und der höchsten Neuverschuldung aller Bundesländer geht so mit dem Geld des Steuerzahlers um.
Einer der maßgeblichen Gründe wird hier vom Land Nordrhein-Westfalen bewußt verschwiegen. Es liegt dort ein Antrag vor, der Neuen Heimat rückwirkend die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. Das würde nach vorläufigen Berechnungen mindestens 1 Milliarde DM an Steuerrückzahlungen bedeuten. Man geht jetzt den Weg, die Neue Heimat möglichst schnell nicht mehr vorzufinden. Denn dem, den es nicht mehr gibt, kann man nichts mehr aberkennen. Das ist ein Weg, der mitgesehen werden muß.
Meine Damen und Herren, es ist grotesk: Dieselbe Landesregierung, nämlich die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die durch ihre Finanzverwaltung — sprich: die Oberfinanzdirektion Düsseldorf — beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf den Antrag stellt, der Neuen Heimat in Nordrhein-Westfalen rückwirkend die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, in eineinhalb Jahren nicht darauf eingeht und bis heute unbeantwortet läßt, geht durch ihren Wohnungsbauminister hin und erklärt, hier werde auf Kosten des Steuerzahlers saniert.
Herr Kollege Sperling, Sie haben gesagt, zum Ausmisten gehörten objektive Fakten, und ich sage: auch ein Gutachten von neutraler Stelle.
Herr Kollege Zöpel, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich — wie in diesen Tagen geschehen — in bezug auf Fragen, die die Bundesregierung zu all den Fakten um die Neue Heimat hat, nicht auf das Bankgeheimnis stützten und sagten, Sie verwiesen darauf, daß das Bankgeheimnis eingehalten werden müsse.
— Herr Kollege Roth, der Empfänger öffentlicher Subventionen kann sich unserer Auffassung nach nicht wie ein Bankkunde, der private Geschäfte mit einer Bank tätigt, auf das Bankgeheimnis berufen.
Wer Subventionen aus Steuermitteln bezieht, muß auch über die Verwendung dieser Mittel Rechnung legen und sich Kontrollen unterziehen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke schön.Ich komme zum Schluß. Herr Minister Zöpel beruft sich gegenüber dem Untersuchungsausschuß zum Thema Neue Heimat in Düsseldorf auf das
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16640 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Parl. Staatssekretär Dr. JahnSteuergeheimnis, gegenüber der Bundesregierung auf das Bankgeheimnis
und erklärt gleichzeitig die Leistungen der Bundesregierung zum Staatsgeheimnis.Wir sind der Auffassung — damit möchte ich schließen, meine Damen und Herren Gefragt — das hat der Bundesbauminister immer wieder betont — ist jetzt nicht nur die haftungsrechtliche, die gemeinwirtschaftliche, die gemeinnützige Verpflichtung, gefragt ist vor allem die soziale Verantwortung des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Sanierung seines Unternehmens Neue Heimat, zumal eine Aktionswoche des DGB im letzten Jahr unter der Überschrift: „Solidarität ist unsere Stärke" stand.
An diesen Maßstäben sollte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund auch messen lassen.
Herr Minister Zöpel hat noch um das Wort zu einer kurzen Erwiderung gebeten. Ich nehme an, daß es noch kurz mit in die Redezeit eingebunden wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, mit der Redezeit auszukommen. Ich muß allerdings angesichts von Behauptungen eines Vertreters der Bundesregierung — in bezug auf die ich nur sagen kann: ich als Mitglied einer Regierung schäme mich, daß ein Mitglied einer anderen Regierung so mit der Wahrheit umgeht — hier einiges klarstellen.
Herr Kollege Reddemann, der Zwischenruf, den Sie soeben gemacht haben, zeigt, daß Sie nicht einmal mehr die Gewaltenteilung in diesem Staate kennen.
Jetzt lassen Sie mich zur Sache kommen. — Frau Präsidentin, hier sind Behauptungen aufgestellt worden, die ich in Ruhe klarstellen möchte.
Herr Minister, wir haben eine Verabredung. Ich bitte Sie, sich möglichst daran zu halten; sonst geht die Diskussion einfach weiter, es tut mir leid. Fassen Sie sich kurz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ich habe die herzliche Bitte, hier mein verfassungsmäßiges Recht wahrnehmen zu dürfen, um diese Dinge für die nordrhein-westfälische Landesregierung darstellen zu können.
Je mehr Ruhe ich dafür habe, um so schneller wird es gehen.
Meine Damen und Herren, ich beginne mit den Behauptungen des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs hinsichtlich der Prüfung von Vorgängen bei der Neuen Heimat durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen.
Erstens. Eine Oberfinanzdirektion untersteht — genau wie ein Regierungspräsident — der ganzen Landesregierung. Die Oberfinanzdirektion hat im Namen der Landesregierung all das ermittelt, was Sie hier feststellen. Damit hat die Landesregierung korrekt gehandelt.
Hinsichtlich der Gemeinnützigkeitsprüfung hat dann der Regierungspräsident zu prüfen.
Es ist genau der Regierungspräsident, der bereits bisher nach sorgfältigster Prüfung im Namen der Landesregierung festgestellt hat, daß Gewinnabführungen zwischen den Töchtern und der Mutter, der Neuen Heimat, gegen die Gemeinnützigkeit verstoßen haben; mit einer Sorgfalt, die diese Feststellungen dauerhaft gerichtsfest gemacht haben. Es ist derselbe Regierungspräsident, der auch festgestellt hat--
Meine Damen und Herren, damit wir vorankommen, bitte ich beide Seiten des Hauses um Zurückhaltung. Bitte, Herr Minister, fassen Sie sich so kurz wie möglich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ich muß hier das verfassungsmäßige Recht einer Landesregierung wahrnehmen, solche Dinge zurückzuweisen.
Es ist derselbe Regierungspräsident, der auch Begünstigungen des Aufsichtsratsmitglieds Konrad Grundmann beanstandet hat. Derselbe Regierungspräsident wird mit aller Sorgfalt — dazu habe ich ihn aufgefordert — auch diesen Feststellungen der OFD nachgehen und dann zu einem Urteil kommen.
Ich erwarte von diesem Regierungspräsidenten vor
allem, wie in dem ersten Fall, daß er zu gerichtsfe-
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Minister Dr. Zöpel
sten Feststellungen kommt; denn käme er zu welchen, müssen solche Feststellungen durch drei Gerichtsinstanzen Bestand haben. Ich kann es nicht begreifen, wie ein Mitglied einer Regierung ohne diese im Gesetz vorgeschriebenen Prüfungen zu Vorverurteilungen kommen kann, wie Sie das tun.
Der Regierungspräsident ist im übrigen von mir angewiesen, bis Ende dieses Monats dazu einen Zwischenbericht vorzulegen, damit wir Erkenntnisse haben. — Das zu diesem Zusammenhang.
— Die Prüfungen dauern etwas über ein Jahr, seitdem sie aufgenommen wurden, und nicht elf Jahre.
Ich muß eindeutig feststellen,
daß die Landesregierung hinsichtlich der Kontrolle der Neuen Heimat sowohl was die Verantwortung im Bereich des Finanzministers, der Oberfinanzdirektion, betrifft, wie was die Verantwortung meines Ministeriums, hier den Regierungspräsidenten betrifft,
mit großem Erfolg, wie die Feststellungen hinsichtlich der Gewinnabführung und auch die Aufklärung hinsichtlich Konrad Grundmanns ergeben haben, immer korrekt tätig war, und das wird auch so bleiben. Es stünde einer Regierung gut an, hier nicht vorzuverurteilen.
Nun zu Ihren Wiederholungen der bisherigen Hilfen des Landes Nordrhein-Westfalen für die Geschäfte der LEG mit der Neuen Heimat. Wir haben hier alles offengelegt.
Wir haben die Bundesregierung vollständig informiert. Es fällt einem allmählich schwer, die Bundesregierung korrekt zu informieren, weil sie diese Information dazu benutzt, die Landesregierung zu diffamieren. Aber ich werde weiter berichten. Wir haben vollständig über das informiert, was vorliegt. Sie können j a solche Zitate nur bringen, weil wir Ihnen freiwillig alle Dokumente schicken,
weil wir nichts zu verbergen haben — sonst könnten Sie hier so etwas gar nicht erzählen, Herr Staatssekretär, was Sie getan haben —,
weil wir völlig freiwillig jeden Vorgang offenlegen. Die Ausgaben der öffentlichen Hand für den Ankauf der rund 2 400 Wohnungen sind nachweislich niedriger als die Steuerausfälle, die eingetreten wären, wenn andere Erwerber über Verlustabschreibungen in diesem Geschäft tätig geworden wären.
Über die Zusammenhänge, die Sie nicht wegreden können, daß Wertberichtigungen bei der Wohnungsbauförderungsanstalt anstehen könnten, brauchen wir hier nicht zu reden. Diese Aktionen, die wir hier machen, helfen nicht nur den Mietern, sie sind der nach unseren sorgfältigen Prüfungen wirtschaftlichste Weg für die Verwendung öffentlicher Mittel.
Jeder andere Weg würde teuer kommen. Herr Kollege Sperling hat das j a ausgeführt.
Ich komme zu dem dritten Punkt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zu Ihrer waghalsigen Behauptung, die Landesregierung würde der Bundesregierung, die j a im Ausschuß — verfassungsmäßig völlig richtig — berichten will, hier Auskünfte verweigern. Fast alle Fragen, die der Haushaltsausschuß dieses Hauses völlig zu Recht stellt hinsichtlich öffentlicher Mittel und anderer Mittel an die Neue Heimat, müssen dahin gehend überprüft werden, ob solche Auskünfte dem Bankgeheimnis unterliegen. So sind wir bei ähnlichen Fragen verfahren, die der Haushaltsausschuß des Landtags Nordrhein-Westfalen gestellt hat. Da haben wir das geprüft.
— Ich spreche zunächst einmal von Auskunftsbegehren eines Ausschusses eines Parlaments. In solchen Auskunftsbegehren können Fragen sein, die das Bankgeheimnis berühren. In einem solchen Fall ist die Landesregierung verantwortlich,
dafür zuständig, zu prüfen, wie sie damit umgeht. Im Fall entsprechender Informationen im Landtag von Nordrhein-Westfalen haben uns die Eigentümer der Neuen Heimat, diese Gesellschaft selbst, immer vom Bankgeheimnis entbunden. Den gleichen korrekten Weg möchten wir bei den Bitten gehen, die der Deutsche Bundestag stellt.
Ich kann Ihnen hier mitteilen: Über diese Regelung mit der Neuen Heimat Nordrhein-Westfalen hinaus haben wir uns heute gerade — dies ist der friedlichste Weg — mit dem für die Städtebaumittel zuständigen Eigentümer, nämlich dem Institut für
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Minister Dr. Zöpel Bodenordnung, geeinigt, daß sie uns hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen vorn Bankgeheimnis befreit. Ich glaube, dies ist der einfachste und korrekteste Weg, wenn ein solches Problem auftaucht, dies zu regeln.
Wenn sich zwischenzeitlich korrekterweise ein Mitarbeiter meines Hauses, der gleichzeitig noch die Aufsicht über die WfA wahrnimmt, also auch darüber zu wachen hat, daß dieses Institut das Bankgeheimnis wahrt, mit seinen Beamtenkollegen beim Bundesbauminister in Verbindung setzt, um sich auszutauschen, wie das Bankgeheimnis gewahrt werden kann, dann der Bundesbauminister an die Öffentlichkeit geht und behauptet, Nordrhein-Westfalen verweigere Informationen, das grenzt, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, daran, daß Sie einen Beamten zu Fehlverhalten auffordern.
Ich kann Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, versichern, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen über den Bundesbauminister Ihnen alle Auskünfte, die der Haushaltsausschuß haben will, zur Verfügung stellt. Wir möchten das hinsichtlich des Bankgeheimnisses auf dem Wege tun, der der unproblematischste ist, nämlich mit Zustimmung der Betroffenen vom Bankgeheimnis befreit zu sein. Das ist der unproblematischste Weg.
Zum Grundsatz will ich gern eine Bemerkung machen.
Mir als Sozialdemokraten sind Überlegungen, wie sie in Schweden Recht geworden sind, nämlich von vielen angeblichen Geheimnissen zu befreien, durchaus angenehm; aber es ist gerade eine bürgerliche Position, daß man Bankgeheimnis und Steuergeheimnis hat,
und wir werden auch gegenüber der Neuen Heimat damit nicht anders als auch gegenüber jedem anderen verfahren. Aber Sie bekommen diese Auskünfte, darauf können Sie sich verlassen. Ich finde es traurig, daß zwischen Beamten einer Bundes- und einer Landesregierung so etwas nicht mehr sachgemäß geklärt werden kann.
Frau Präsidentin, ich mußte diese Redezeit zu Feststellungen eines Mitglieds der Bundesregierung in Anspruch nehmen.
Ich glaube, hier ist das in einem Rechtsstaat gebotene Maß an Fairneß des Umgangs zwischen Regierungen verletzt.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden verstehen, daß ich nach dieser Intervention einige Feststellungen treffen möchte.
Erstens: Bei allen unterschiedlichen politischen Auffassungen stelle ich fest, daß das, was ich hier vorgetragen habe, beweiskräftig ist — dafür stehe ich —, und zweitens, daß der Minister Zöpel nicht einen der Punkte, die ich hier vorgetragen habe, widerlegt hat.
Das zweite. Ich habe Prüfungsmitteilungen von 1975 vorgetragen, bei denen bis heute nicht ersichtlich ist, daß die Aufsichtsräte im Lande Nordrhein-Westfalen gehandelt hätten. Der Minister hat in der Erwiderung hierauf nicht geantwortet.
Drittens. Der Minister hat vorgetragen, es müsse geprüft werden, wie das Bankgeheimnis eingehalten wird. Der Schriftwechsel bezieht sich auf eine ganz andere Frage, nämlich ob das Bankgeheimnis einzuhalten ist. Ich zitiere:Die von Ihnen erbetenen Daten unterliegen weitestgehend dem Bankgeheimnis. Bevor ich Ihnen die für Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Daten, soweit sie mir vorliegen, mitteile, bitte ich um Bestätigung, daß diese Daten von Ihnen nur so verwandt werden, daß das Bankgeheimnis nicht verletzt wird.Hier geht die Landesregierung davon aus, daß ein Bankgeheimnis zu beachten ist. Ich habe die Auffassung vertreten, daß man sich unseres Erachtens, wenn es um das Geld des Steuerzahlers geht, nicht auf das Bankgeheimnis zurückziehen kann. Das ist eine unterschiedliche Position.
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Parl. Staatssekretär Dr. JahnDadurch sollten wir uns aber nicht zu gegenteiligen Bemerkungen hier, die Ehrabschneidung beinhalten, hinreißen lassen.
Die vierte und letzte Bemerkung. Ich habe festgestellt: Dieselbe Landesregierung, die durch ihre Finanzverwaltung beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf den Antrag gestellt hat, der Neuen Heimat in Nordrhein-Westfalen rückwirkend die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, hierüber aber seit Oktober 1984 nicht entschieden hat, will jetzt zur Sanierung dieses Bereichs über den Bauminister des Landes Nordrhein-Westfalen tätig werden. Ich habe das als grotesk bezeichnet. Dazu stehe ich. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Einen Augenblick! Wir haben hier eine Verabredung, die die Regierung einschließt. Darauf darf man erst mal aufmerksam machen. Selbstverständlich wird jedem verfassungsmäßigen Recht hier entsprochen. Ich bitte, mich hier nicht zu maßregeln.
Herr Minister Zöpel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin!
Herr Minister Zöpel, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, da es hier nicht nur um politische Auseinandersetzung geht, sondern auch um das Verhältnis zwischen Regierungen, bin ich gern bereit, den ersten Fall, nämlich Information des Bundesbauministers zwecks Weitergabe an den Haushaltsausschuß, hier zu einem korrekten, für beide Seiten erträglichen Ende zu bringen.
- Das ist überhaupt kein Rückzieher.Dr. Möller [CDU/CSU]: Natürlich!)Das, was Sie von meinem Beamten eben vorgelesen haben, war ein aus meiner Sicht korrekter Brief. Wenn der für die Wohnungsbauförderungsanstalt und ihre Aufsicht zuständige Beamte sich vergewissert, daß das Bankgeheimnis in einem Fall, wo es betroffen ist, gewahrt bleibt, halte ich das für einenkorrekten Vorgang. Aus meiner Sicht wäre die Antwort der Bundesregierung, daß diese Auskünfte an den Haushaltsausschuß in vertraulicher Sitzung behandelt werden, wie es in Nordrhein-Westfalen mit Zustimmung aller Fraktionen geschehen ist, zufriedenstellend gewesen.Den zweiten Punkt, Herr Staatssekretär, daß grundsätzlich jede Subvention nicht dem Bankgeheimnis unterliege, auch wenn sie über Banken und Wohnungsbauförderungsanstalten vermittelt wird, sollten wir uns gemeinsam überlegen. Sowenig die Neue Heimat angesichts der vielen Dinge dafür ein besonders angenehmes Objekt ist, sollten wir uns gemeinsam überlegen, ob es eine richtige Position wäre, daß jede staatliche Subvention
— das haben Sie eben gesagt, Herr Staatssekretär —, die über ein Kreditinstitut abgewickelt wird, nicht mehr dem Bankgeheimnis unterliegt.
Ich glaube, darüber sollten wir gemeinsam nachdenken.
Aber ich sage Ihnen sehr deutlich: Wenn der Weg zu gehen ist, den ich geschildert habe, nämlich daß uns die Eigentümer vom Bankgeheimnis befreien, ist der Brief faktisch gegenstandslos, den mein Beamter Ihrem Haus geschickt hat. Ich hoffe, da kommen wir hin.
Ich mache mir Sorgen, wie in diesem Lande von der Mehrheit dieses Hauses mit Rechten der Bürger, z. B. dem Bankgeheimnis, umgegangen wird.
Alles andere, Herr Staatssekretär, waren Wertungen.
— 52 % der Wähler in Nordrhein-Westfalen — wenn es Sie interessiert.
Alle Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen, die an der Prüfung der Gemeinnützigkeit beteiligt sind, haben immer korrekt gehandelt und tun das auch im jetzigen Fall — das habe ich soeben belegt — und das bleibt so. Ich weise jede Verdächtigung zurück, daß hier nicht korrekt vorgegangen wird. Ein derartig schwerwiegender Fall ist einmalig — es gibt keine Vorerfahrung mit einer solchen Prüfung —, das braucht daher seine Zeit. An der Korrektheit besteht kein Zweifel.
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Minister Dr. Zöpel
Und ein Ergebnis muß gerichtsfest sein. Ich weise die Wertung zurück.Als letztes stelle ich hier etwas fest, was ich schon an vielen Stellen festgestellt habe: Es ist eine Unterstellung — und wenn es von der Bundesregierung kommt, für mich nicht ganz nachvollziehbar —,
daß die Landesregierung Nordrhein-Westfalen den Verkauf von Wohnungen der Neuen Heimat an von uns gewünschte Erwerber vermittelt und die Erwerber unterstützt, weil wir die Neue Heimat aus den Verpflichtungen der Gemeinnützigkeit entlassen wollen. Ich wiederhole hier — sonst werden die Protokolle ja immer sorgfältigst gelesen —, was ich bereits vor Gremien des Landtages erklärt habe:
Es wird zu solchen Geschäften in Nordrhein-Westfalen nicht kommen, wenn rechtlich nicht eindeutig sichergestellt ist, daß auch im Zusammenhang mit diesem Verfahren dem Land Nordrhein-Westfalen oder anderen öffentlichen Anspruchsgegnern der Neuen Heimat kein Schaden entsteht. Dies habe ich im Landtag erklärt, dies wiederhole ich hier, weil ich das für eine Selbstverständlichkeit halte. Ich würde zunächst einmal erwarten, daß sich Regierungen untereinander Selbstverständlichkeiten zugestehen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5479. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — SPD, bitte ein Handzeichen! —
Gegenprobe! — Enthaltungen! — Der Antrag ist abgelehnt.
Zu Tagesordnungspunkt 3 b schlägt der Ältestenrat Überweisung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5228 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein und setzen die Beratung um 14 Uhr mit der Fragestunde fort. Nach der Fragestunde werden die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b aufgerufen.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung. Wir fahren fort mit dem Tagesordnungspunkt,
Fragestunde
— Drucksache 10/5456 —
und zwar bei dem gestern abgebrochenen Teil des Geschäftsbereichs des Bundesministers der Finanzen. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Voss steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 77 des Abgeordneten Schlatter wird auf seinen Wunsch hin schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 78 des Abgeordneten Poß auf:
Was sind die Gründe dafür, daß die von der Bundesregierung für die nächste Legislaturperiode geplante Steuersenkung nur ein Volumen von netto 20 Milliarden DM bis 25 Milliarden DM haben soll, während sich nach der von Bundesminister Dr. Stoltenberg vorgelegten Studie bereits für 1992 ohne Berücksichtigung der sogenannten heimlichen Steuererhöhungen ein Steuersenkungsspielraum von ca. 30 Milliarden DM ergibt?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Poß, in der Modellrechnung der Studie des Bundesministeriums der Finanzen „Aufgaben und Ziele einer neuen Finanzpolitik — Grenzen staatlicher Verschuldung" wird bewußt darauf verzichtet, das sich unter bestimmten genau erläuterten Annahmen bis 1995 ergebende Steuerentlastungsvolumen von rund 60 Milliarden DM auf einzelne Jahre festzulegen. In der Studie heißt es dazu:
Die politische Frage, wann die entsprechenden Entlastungsschritte vorgenommen werden, bleibt hier natürlich offen. Bei diesen Entscheidungen ist vor allem der jeweils erreichte Konsolidierungsstand zu berücksichtigen. Zu beachten ist auch, daß schon ein geringfügig höherer Ausgabenpfad oder eine etwas ungünstigere wirtschaftliche Entwicklung das mögliche Entlastungsvolumen erheblich verringern würde.
Da in der Modellrechnung kein Entlastungsvolumen für bestimmte Jahre innerhalb des Untersuchungszeitraums genannt wird, kann sich auch kein erklärungsbedürftiger Widerspruch zu den derzeit diskutierten Vorschlägen zur Steuerentlastung in der nächsten Legislaturperiode ergeben. Im übrigen sind die in der Modellrechnung genannten 60 Milliarden DM nicht als konkretes Entlastungsprogramm, sondern vielmehr als beispielhaftes Ergebnis der entworfenen finanzpolitischen Strategie zu verstehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Poß.
Herr Staatssekretär, wenn es aber so ist — und es ist so —, daß nach den letzten Steuer-
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Poß
Schätzungen im Jahre 1989 das Steueraufkommen stärker als das nominale Bruttosozialprodukt steigt und sich dies in den Jahren 1990, 1991 und 1992 zwangsläufig fortsetzt, dann steigt also die Steuer-lastquote. Damit wird der Steuersenkungsspielraum größer, als er in der Modellrechnung — natürlich nur in der Modellrechnung — ausgewiesen ist, denn die Modellrechnung geht ja von einer gleichbleibenden Steuerquote aus. Ich frage Sie also: Wie hoch wird die Steuerquote 1992 sein, wenn bei der großen Steuerreform die Steuern um rund 25 Milliarden DM netto gesenkt werden sollen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poß, Sie wissen, wie man mit Steuerschätzungen umzugehen hat — nämlich vorsichtig —, weil Sie auch wissen, daß das, was geschätzt worden ist, unter vielen Kautelen steht, die man im vorhinein nicht so festlegen kann, um zu einer Schätzung zu kommen, die man als letztlich verbindlich ansehen könnte. Aber ich kann Ihnen soviel sagen, daß nach den Plänen der Bundesregierung und nach der Steuerentlastung, die für die nächste Legislaturperiode vorgesehen ist, die Steuerbelastung jährlich um 0,3 bis 0,2% zurückgehen wird, so daß die gesamte Steuerentlastung, wenn sie durchgeführt werden wird, zu einer deutlichen Herabsetzung des Steuerbelastungsgrades führen wird.
Herr Poß, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Nein.
Herr Dr. Apel möchte eine Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie in der ersten Antwort die Studie — wie ich denke — zu Recht sehr relativiert haben, frage ich Sie, wieso Sie dann eigentlich in der Lage sind, in der zweiten Antwort so konkrete Aussagen darüber zu machen, wie sich die Steuerbelastungsquote entwickeln wird.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, ich habe eben gesagt, daß die Steuerschätzung und damit ja das Volumen, das für eine Entlastung zur Verfügung stehen wird, zur Zeit nicht genau zu umfassen ist. Es sind eine Reihe von Voraussetzungen notwendig, die eintreten müssen, um die jetzige Schätzung in ihrem Volumen zu erreichen. Aber gehen wir einmal davon aus, daß das der Fall sein wird. Dann ist der Plan, daß der jetzige Steuerbelastungsgrad durch die Entlastung entsprechend reduziert wird. Nur, ich kann Ihnen jetzt lediglich die Zielrichtung angeben. Ich kann Ihnen nicht verbindlich sagen: Das wird mit Sicherheit soundso viel Prozent sein. Das, was wir hier debattieren, reicht weit in die Zukunft. Von daher sind aus Vorsichtsgründen halt viele Unsicherheitsfaktoren mit einzukalkulieren.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Spöri.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Voss, wird die Bundesregierung aus dem geplanten Gesamtvolumen der Steuerentlastung in der nächsten Legislaturperiode außerhalb des Körperschaftsteuerbereichs noch zusätzliche Steuererleichterungsmaßnahmen für Unternehmen finanzieren? Ich meine hier speziell z. B. die Finanzierung des Abbaus der Gewerbesteuer.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Sie wissen, Herr Kollege Spöri, wie es mit dem Abbau der Gewerbesteuer steht. Die Bundesregierung hat erklärt, daß die jetzige Gewerbesteuer in ihrem Kern erhalten bleiben wird, solange kein brauchbares, auf allgemeines Einverständnis stoßendes neues Modell existiert. Die Modelle, die es bislang für einen Ersatz der Gewerbesteuer gibt, sind alle mehr oder weniger nicht brauchbar. Das brauche ich Ihnen an dieser Stelle nicht näher auseinanderzulegen.
Einer der Hauptpunkte bei der Entlastung der Unternehmenssteuern betrifft das, was wir bereits besprochen haben, nämlich die Senkung des Satzes um eine Größe, die ich jetzt, im Moment nicht konkretisieren kann, da die Entscheidungen nicht gefallen sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung eine Nettoentlastung von 25 Milliarden DM bei einer Bruttoentlastung von 45 Milliarden DM vornehmen will, ist es dann nicht zwangsläufig, daß diese Differenz durch kompensatorische Maßnahmen gedeckt werden muß, z. B. durch eine Erhöhung der Umsatzsteuer?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das ist nicht zwingend und nicht denknotwendig, Herr Kollege. Wenn man mehrere Milliarden DM über das hinausgeht, was man als Nettoentlastung hat, muß man natürlich darüber nachdenken, wo eine entsprechende Kompensation möglich ist. Aber es ist bei weitem nicht denknotwendig, die Kompensation in dem Bereich zu suchen, den Sie gerade genannt haben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, ich möchte Sie im Anschluß an den zweiten Teil dessen, was Herr Kollege Spöri gefragt hat, fragen: Können Sie ausschließen, daß es neben der diskutierten möglichen Senkung der Körperschaftsteuer und des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer weitere Felder der Unternehmensbesteuerung gibt, auf denen Sie eine Senkung vorhaben oder nicht ausschließen?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, ich habe das gestern schon gesagt: Im jetzigen Zeitpunkt und auch rein denknotwendig kann man überhaupt nichts ausschließen. Wir haben einen großen Bereich, über den debattiert wird, der geprüft werden muß. Nachher müssen dann Entscheidungen getroffen werden. Von daher ist es mir nicht möglich, zu sagen, dieser Bereich wird absolut nicht in die Überlegungen einbezogen. Das wäre irreal. Ich glaube, daß das auch nicht dem Problem
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Parl. Staatssekretär Dr. Vossgerecht werden würde; denn die Steuerreform der nächsten Legislaturperiode hat den Sinn, unser Steuersystem zu verbessern und zu gerechteren Belastungen zu kommen, als wir sie heute haben.
Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Poß auf:
Geht die von der Bundesregierung für die nächste Legislaturperiode geplante große Steuerreform mit einem Nettovolumen von 20 Milliarden DM bis 25 Milliarden DM über die Rückgabe der von Jahr zu Jahr eintretenden sogenannten heimlichen Steuererhöhungen hinaus, und wird diese Steuerreform zu einer Absenkung der Steuerquote führen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Durch die Erfolge ihrer stabilitätsausgerichteten Haushaltspolitik hat die Bundesregierung wesentlich zum Abbau der Inflation und damit der heimlichen Steuererhöhungen beigetragen. Bei der erreichten Preisniveaustabilität entstehen keine heimlichen Steuererhöhungen mehr.
Den finanzpolitischen Spielraum, den die Bundesregierung durch ihre Konsolidierungspolitik gewinnt, setzt sie zur steuerlichen Entlastung der Bürger ein. Bei der Aufrechterhaltung der Preisstabilität können die für die nächste Wahlperiode angestrebten Entlastungen zu einer realen Steuersenkung mit weiterer Abflachung der Einkommensteuerprogression, Erhöhung des Grundfreibetrages und Entlastung der Familien sowie Absenkung der volkswirtschaftlichen Steuerquote führen.
Eine konsequente Politik der Inflationsbekämpfung hält die Bundesregierung für erfolgversprechender und sozialer als nachträgliche Maßnahmen zur Milderung schädlicher Inflationsfolgen.
Zusatzfrage, Herr Poß.
Herr Staatssekretär, ich habe nicht nach der Preissteigerungsrate dieses Jahres gefragt, sondern im Zusammenhang mit der anderen Frage und den Modellrechnungen nach den Jahren 1990/92, also den Jahren, für die die Bundesregierung in ihren mittelfristigen Projektionen selbst von 2,5 v. H. Preissteigerungen ausgeht. Da wollen Sie jetzt heimliche Steuererhöhungen leugnen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das kommt natürlich auf die tatsächliche Entwicklung an. Es ist durchaus möglich, daß der' Satz, der hier in der Modellrechnung als Inflationsrate genannt ist, de facto nicht eintreten wird. Nach dem sehr wohltuenden und erfreulichen Rückgang des Inflationsgrades besteht durchaus die Hoffnung, daß sich dies in den späteren Jahren, wenn auch nicht zu 100 %, so doch in etwa fortsetzen wird, so daß im Moment — und nur vom Moment kann ich reden — das Problem der heimlichen Steuererhöhungen nicht gegeben ist.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Poß.
Herr Staatssekretär, wenn Sie jetzt entgegen der Polemik aus Ihrer Oppositionszeit heimliche Steuererhöhungen zu leugnen versuchen, frage ich Sie, wie Sie denn den Umstand beurteilen, daß nach Ihren eigenen Zahlenangaben sowohl die Grenz- als auch die Durchschnittsbelastung der durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer nach dem Steuersenkungsgesetz höher sein wird als beispielsweise 1982.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, polemisch habe ich nicht zu antworten versucht.
— Was in unserer Oppositionszeit genannt und gesagt worden ist, war auch keine Polemik, denn zu der Zeit gab es wirklich heimliche Steuererhöhungen, weil es nämlich sehr hohe Inflationsraten gab. Nachdem die Politik der Bundesregierung jetzt schon zu einem Ergebnis geführt hat, Herr Kollege Poß, das im Jahre 1982 niemand auch nur annähernd für möglich gehalten hat, gehe ich davon aus, daß sich die mit dieser Politik verbundene positive Entwicklung auch in den Folgejahren fortsetzen wird, so daß das Problem der heimlichen Steuererhöhungen von daher, wenn nicht ganz weggebracht, so doch erheblich gemindert wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, wie lange meint eigentlich die Bundesregierung die von Ihnen hier demonstrierte Haltung noch durchhalten zu können, die darin besteht, daß Sie auf der einen Seite den Bürgerinnen und Bürgern nach Ihrer gescheiterten Steuersenkungspolitik 1986/88 weitere 45 Milliarden DM Steuersenkungen vorgaukeln, ohne bereit zu sein, hier im Deutschen Bundestag und damit der Öffentlichkeit zu sagen, wie das finanziert werden soll, wann Sie welche Steuern senken wollen, ob Sie z. B. die Gewerbesteuer und viele andere Steuern antasten wollen? Halten Sie dieses für eine dem Parlament und der Öffentlichkeit angemessene Antwort, die Sie uns hier permanent im Stile eines Anrufbeantworters nach der Melodie „Kein Anschluß unter dieser Nummer" anbieten?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, jene unter unseren Bürgern — und ich hoffe, daß das eine große Zahl ist —, die sich mit der Materie befassen und die etwas in der Materie bewandert sind, wissen, daß sie von Ihnen und Ihrer Partei, Herr Kollege Apel, Steuersenkungen überhaupt nie zu erwarten hätten;
denn wenn man einmal Ihre Stimmen hört, dann weiß man, daß für Sie nur Steuererhöhungspläne
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Part. Staatssekretär Dr. Vossoder die Rückgängigmachung von bereits erfolgten Steuervergünstigungen und Steuersenkungen zur Debatte stehen. Von daher kann ich mit sehr gutem Recht, Herr Kollege Apel, etwas, was für die nächste Legislaturperiode geplant ist und was hier der Öffentlichkeit in einem Modell vorgeführt wird, in dem Maße vertreten, wie ich es hier tue.
Herr Kollege Dr. Apel, das geht nicht. Das war ein Zwischenruf, der für uns unakzeptabel ist. Ich muß Sie zur Ordnung rufen.
Die nächste Zusatzfrage hat Herr Dr. Spöri.
Herr Kollege Voss, wenn der Kollege Poß eben nach der Durchschnittssteuerbelastung des Bürgers gefragt hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie bestätigen können, daß die Lohnsteuerquote, d. h. der Maßstab für die steuerliche Belastung des Arbeitnehmers, seit 1982 gewachsen ist -
entgegen den Ankündigungen von Ihnen, daß Sie die Abgabenlast, die Steuerlast des Bürgers senken wollen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das stimmt in dieser Allgemeinheit, wie Sie es sagen, nicht. Es gibt einige Bereiche, wo die Lohnsteuer etwas stärker, als es uns lieb gewesen wäre, gestiegen ist. Aber im Prinzip ist die Belastung nicht so gewachsen, wie Sie es darstellen, und es gehört j a zu den Plänen, die wir für weitere Steuerentlastungen haben, auch und insbesondere im Bereich der Lohnsteuer dem Steuerbürger das zurückzugeben, worauf er Anspruch hat, wenn sich seine Leistung noch lohnen soll.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lennartz.
Herr Staatssekretär, bestreiten Sie die Angabe des Mitgliedes des Vorstandes der Deutschen Bundesbank Emminger, daß die Preissteigerungsrate in der Bundesrepublik Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne den Ölpreissturz bei 1,7 % liegen würde?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es ist eine hypothetische Aussage, die da gemacht worden ist, eine Aussage nach dem Muster: Wenn etwas nicht der Fall wäre, wäre es so ... Im Moment habe ich es mit einem Faktum zu tun, und dieses Faktum habe ich hier entsprechend zu werten, wie ich es getan habe.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie sich hoffentlich wieder ein bißchen beruhigt haben, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Können Sie bestätigen, daß entgegen Ihren Aussagen von vorhin durch mehrfache große Steuersenkungspakete in den Jahren von 1969 bis 1982 die Steuerquote konstant gehalten worden ist, was j a bei vorhandenen heimlichen Steuererhöhungen heißt, daß die Steuern immer wieder, und zwar massiv, gesenkt worden sind, und müssen Sie nicht bestätigen — selbst wenn Sie es nicht glauben oder wenn es Ihnen nicht paßt —, daß das Programm der SPD entgegen Ihrer Behauptung, wir wollten Steuersenkungen rückgängig machen, nicht etwa vorsieht, Ihre Senkung von 1988 ohne Ausgleich rückgängig zu machen, sondern ausdrücklich vorsieht, die Senkung von 1988 in der gleichen Höhe vorzunehmen, nur mit dem Unterschied, daß Sie die großen, wir aber die kleinen und die mittleren Leute entlasten?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus, ich muß mich an das halten, was ich von Autoritäten Ihrer Partei wie von Herrn Farthmann und von Herrn Rau höre
und was ich dem Programm der SPD entnehmen muß.
Dort wird definitiv gesagt, daß bestimmte Steuervergünstigungen, die bereits bestehen, aber auch solche, die erst noch kommen, zurückgenommen werden sollen. Das kann nichts anderes bedeuten, als daß es im Ergebnis zu einer Steuererhöhung kommt.
Zwar sind in der Vergangenheit in den Fällen, die Sie genannt haben, Versuche gemacht worden, die Steuern zu ermäßigen, aber Sie sagen ja selbst, daß die Steuerquote konstant geblieben ist:
Es sind also letztlich keine Steuersenkungen in dem Maße vollzogen worden, wie Sie immer behauptet haben.
Sie können aber davon ausgehen, daß dann, wenn die Programme, die diese Bundesregierung durchführt und in Zukunft durchführen will, zum Tragen gekommen sind, sich die Steuerquote gegenüber dem heutigen Stand entsprechend ermäßigt hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Immer.
Herr Staatssekretär, Sie haben immer auf die sogenannte Inflationsrate hingewiesen. Ich möchte Sie fragen, ob Ihnen klar ist, daß diese Inflationsrate
sehr verschiedenartig auf die Einkommen wirkt.
Wenn man bedenkt, daß die Inflationsrate im we-
sentlichen durch die Senkung der Kosten für das Öl
16648 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Immer
so gering geworden ist, daß aber etwa die Gebühren den einzelnen Bürger erheblich mehr belasten, wenn man etwa bedenkt, daß in einem Landkreis die Abfallbeseitigungsgebühren in diesem Jahr um 30% angehoben werden und die Wassergebühren ebenfalls angehoben werden, frage ich Sie doch, ob das nicht ebenfalls eine Überbelastung der kleinen Steuerzahler bedeutet, die Sie über eine Steuerreform nicht ausgleichen können.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist mir bekannt, daß eine Inflationsrate, wie wir sie jetzt haben, die an sich bei Null ist oder sogar ins Negative hineingeht,
von vielen Faktoren abhängt. Ich kann mich jetzt natürlich der Arbeit hingeben, herauszufinden, wie diese Inflationsrate wäre, wenn dieser oder jener Sachverhalt anders wäre, als er heute ist. Das wäre eine akademisch und theoretisch durchaus ansprechende Arbeit. Ich gehe aber davon aus, daß die bisherige Konsolidierungs- und Stabilitätspolitik einen sehr großen Anteil an der jetzigen Stabilität hat. Und ich gehe davon aus, daß bei Fortführung der Konsolidierung, die diese Regierung fest in ihr Programm einbezieht, damit gerechnet werden kann, daß diese positive — um es vorsichtig zu sagen —, nach Null tendierende Inflationsrate auch in Zukunft erhalten bleibt.
Von daher werden all die kleinen Bürger, die jetzt durch irgendwelche kommunalen Maßnahmen stärker belastet sind, auf Dauer einen besseren Zustand erleben, als sie ihn zu Ihrer Regierungszeit erlebt haben, als es hohe Inflationsraten gab und durch Lohnerhöhungen und andere Maßnahmen dies nicht kompensiert werden konnte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, können Sie durch Nennung der Steuerlastquoten der Jahre 1982, 1986 und — geschätzt — 1988 bestätigen, daß die Steuerquote auch nach Inkrafttreten der zweiten Stufe Ihres Steuersenkungsgesetzes im Jahre 1988 nicht niedriger sein wird, als sie 1982 war?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen bestätigen, Herr Kollege Huonker, daß die Steuerlastquote in den 70er Jahren, als Sie die politische Verantwortung trugen, zumindest 1% höher war, als sie in den 60er Jahren war.
Ich kann Ihnen weiterhin bestätigen, daß wir mit
den Maßnahmen, die wir ergreifen und die wir bereits ergriffen haben, dazu kommen werden, daß
sich die Steuerlastquote, wenn auch gering, vermindern wird.
Meine Damen und Herren, die Regierung ist frei, zu antworten, was sie will.
Der Abgeordnete Kübler hat die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich noch einmal die Frage wiederholen, ob die Lohnsteuerlastquote 1988 nach der zweiten Phase höher sein wird als 1982.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das wird davon abhängen, wie sich die Verhältnisse bis 1988 im einzelnen entwickelt haben.
Das, was wir zur Zeit darüber sagen, ist zwar ein deutlicher Anhaltspunkt; aber ob das nach Ablauf des Jahres 1988 — erst dann können Sie die definitive Lohnsteuerquote feststellen — der Fall sein wird, müssen wir abwarten.
Zu dieser Frage die letzte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, wenn Sie schon die unnachahmbare Fähigkeit haben, auf Fragen mit dem zu antworten, was gestern war, aber die Fragen nicht so zu beantworten, wie sie Ihnen gestellt wurden, darf ich Sie fragen, ob die Lohnsteuerquote gegenwärtig nicht die höchste ist, die wir je hatten.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: In dieser Form vermag ich die Frage nicht zu bestätigen, Herr Kollege.
Die Frage 80 des Abgeordneten Dr. Wieczorek und die Fragen 81 und 82 des Abgeordneten Rapp werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet., Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 83 der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier auf:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16649
Vizepräsident WestphalBeabsichtigt die Bundesregierung, bei einer Senkung des Körperschaftsteuersatzes, die nach den Ausführungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Voss in der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 17. April 1986 beabsichtigt ist, nur den Regelsteuersatz für Kapitalgesellschaften oder auch den Ausschüttungssteuersatz, den Steuersatz für sonstige Körperschaften und den speziellen Steuersatz für das Zweite Deutsche Fernsehen zu senken?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: In der Fragestunde des Deutschen Bundestages vom 17. April 1986 habe ich auf die Ausführungen des Jahreswirtschaftsberichts 1986 hingewiesen, wonach eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes angestrebt werden soll. Steuerpolitische Beschlüsse für die 90er Jahre werden in der nächsten Legislaturperiode zu fassen sein. Das gilt insbesondere auch für die in Ihrer Frage enthaltenen Einzelheiten zum Tarifgefüge des Körperschaftsteuergesetzes.
Zusatzfrage, Frau Matthäus.
Nachdem in diesen Tagen in der Zeitung immer wieder zu lesen ist, daß das Ministerium eine steuerfreie Investitionsrücklage für kleine und mittlere Betriebe ablehnt, obwohl gerade der Mittelstand bis weit hinein in ihre Fraktion diese Investitionsrücklage einer Senkung des Spitzensteuersatzes vorziehen würde: Wieso können Sie diese Frage schon als entschieden betrachten, nachdem Sie gerade gesagt haben, daß Sie das alles in der nächsten Legislaturperiode machen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Matthäus, es ist im jetzigen Zeitpunkt nicht zu behaupten, daß die Diskussion über die steuerfreie Investitionsrücklage bereits abgeschlossen sei. Hier gibt es ein großes Lager, das für diese steuerfreie Investitionsrücklage plädiert. Es gibt ein anderes Lager, das unter Hinweis auf die Gefahren dieser steuerfreien Investitionsrücklage davon abrät. Welche Seite sich nachher im Gesamtkontext der Beratungen über die Steuerreform der nächsten Legislaturperiode durchsetzen wird, vermag ich im jetzigen Zeitpunkt nicht definitiv zu sagen.
Zusatzfrage, Frau Matthäus.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wäre eine steuerfreie Investitionsrücklage nicht angesichts der knappen Kassen eine Alternative zu einer Senkung des Spitzensteuersatzes, weil man beides nicht haben kann? Wäre das nicht für den Mittelstand günstiger?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus, was man als Alternative ansieht, hängt von dem jeweiligen Standpunkt und von dem Geschmack ab, den man hat.
Zusatzfrage des Abgeordneten Huonker.
Zurück zur Körperschaftsteuer, Herr Staatssekretär: Ich darf in Ihre Erinnerung rufen, daß Sie gestern in der Fragestunde ausgeführt haben, daß in bezug auf die Differenz zwischen Körperschaftsteuersatz und Spitzensteuersatz eine Marge von vielleicht 3 % akzeptabel wäre, und schließe daran die Frage, ob Sie nach den Gesetzen der Logik bestätigen können, daß diese Aussage bedeutet, daß dann, wenn der Körperschaftsteuersatz um mehr als 3 % gesenkt würde — es wären dann immer noch 53 % —, jedenfalls sozusagen politisch-automatisch eine Senkung des Spitzensteuersatzes aus Gründen der Ökonomie und der Rechtsformengleichheit des Steuerrechts erfolgen müßte.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, ich erinnere mich sehr gut daran, was ich gestern gesagt habe. Ich erinnere mich auch daran, daß ich Ihnen bereits gestern auf eine entsprechende Frage . gesagt habe, daß diese Schlußfolgerung nicht zwingend ist, weil ich lediglich davon geredet habe, was mir aus jetziger Sicht als Differenz zwischen den beiden Spitzensteuersätzen akzeptabel erscheint. Man wird überlegen und genau prüfen müssen, ob das die Marge ist. Es könnte durchaus sein, daß man zu dem Ergebnis käme, hier ist überhaupt keine Differenz erträglich, ebenso wie man zu dem Ergebnis kommen könnte, hier ist eine größere Differenz erträglich. Ich habe Ihnen gestern nur einmal griffweise ein paar Prozentpunkte genannt, die man eventuell als erträglich ansehen könnte. Aber verbindlich ist das im jetzigen Zeitpunkt nicht. Wir debattieren hier doch über ein Modell der nächsten Legislaturperiode. Sie setzen alle Inbrunst darein, hier einzelne Punkte festzuklopfen und damit dieses Modell sofort zu dem zu machen, was es' gar nicht sein kann. Das ist hier eine strategische Überlegung, und diese strategische Überlegung muß in politische Entscheidungen umgesetzt werden. Das wird erst in der nächsten Legislaturperiode in dem Maße geschehen, wie Sie das heute bereits von mir fordern.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Spöri.
Herr Kollege Voss, Sie haben in Ihrer Antwort auf die Frage meiner Kollegin Matthäus-Maier nach einer steuerfreien Investitionsrücklage als Alternative zur Senkung des Körperschaftsteuersatzes von zwei Lagern gesprochen, von zwei Interessenlagern oder Interessengruppen. Nun ist es aus meiner Sicht nicht Aufgabe dieser Fragestunde, von Ihnen zu hören, wie Sie die einzelnen Lager einschätzen, sondern es ist Aufgabe der Fragestunde, von Ihnen zu erfahren, was Sie zu dieser steuerfreien Investitionsrücklage für eine Auffassung haben.
Ich frage Sie: Welche Meinung hat die Bundesregierung zur steuerfreien Investitionsrücklage?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spöri, es handelt sich um die steuerfreie Investitionsrücklage, nicht um eine Zulage; Sie haben es gerade im
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16650 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Parl. Staatssekretär Dr. Vossletzten Satz selbst gesagt. Die Bundesregierung ist in diesem Punkte der Meinung, daß es eine Reihe von Gefahrenpunkten gibt, obwohl es — das werden Sie wissen — die steuerfreie Investitionsrücklage in bestimmten Bereichen bereits gibt, nämlich im Zonenrandgebiet unter bestimmten Kautelen. Von daher ist die Bundesregierung bei ihren gegenwärtigen Überlegungen der Meinung, daß die Nachteile sehr deutlich gesehen werden müssen. Aber das heißt nicht, Herr Kollege Spöri, daß nicht im Zusammenhang mit den Überlegungen, die in der nächsten Legislaturperiode anzustellen sind, auch eine andere Entscheidung getroffen werden kann.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie eben im Hinblick auf die steuerfreie Investitionsrücklage von Nachteilen gesprochen haben — mich verwundert das ein bißchen, weil dies ja eine Forderung der Mittelstandsvereinigung der CDU ist, die wir genauso erheben —, möchte ich Sie bitten — ich gehe davon aus, daß Sie das können —, uns einige der Nachteile einer steuerfreien Investitionsrücklage hier im Rahmen der Fragestunde darzustellen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Apel, Sie wissen ganz genau, daß es kaum eine Maßnahme gibt, die nur Vorteile hat, und kaum eine Maßnahme, die nur Nachteile hat. Bei der steuerfreien Investitionsrücklage besteht beispielsweise die Gefahr, daß es auf Grund der Steuerermäßigung, die damit zusammenhängt, zu Fehlinvestitionen kommt, die steuerinduziert sind. Das ist eine Sache, die Sie volkswirtschaftlich nicht als Quantité négligeable behandeln können, Herr Kollege Apel. Von daher ist das einer der Punkte, die genau überlegt werden wollen. Sie wissen auch, daß ein mittelständisches Unternehmen, das die steuerfreie Investitionsrücklage gebildet hat und sich nicht in der Lage sieht, die geplante Investition durchzuführen, vor dem Tatbestand der Nachversteuerung steht. Hier kann es sehr leicht passieren, daß dieses Unternehmen auf Grund dieses Umstands in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten kommt. Das sind nur zwei Beispiele, die ich jetzt aus dem Stegreif sagen darf.
Die nächste Zusatzfrage hat der Abgeordnete Jäger .
Herr Staatssekretär, wenn Sie so intensiv nach der Investitionsrücklage oder nach der Senkung des Körperschaftsteuersatzes von seiten der Opposition gefragt werden,
drängt sich dann nicht wie mir der Eindruck auf, daß diese Opposition längst alle Hoffnung hat fahren lassen, sie könnte in der nächsten Legislaturperiode bestimmen, wie die Steuerpolitik auszusehen hat, sondern sich bereits damit abgefunden hat, daß
es diese Koalition ist, die bestimmen wird, wie die Steuergesetze in der nächsten Legislaturperiode aussehen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich stimme Ihnen durchaus zu, Herr Kollege, daß sich alle diejenigen in diesem Lande, die auf eine Ermäßigung der Steuerbelastung — die zugegebenermaßen zum jetzigen Zeitpunkt zu hoch ist — Wert legen, nur auf die jetzige Koalition verlassen können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Poß.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihren Ausführungen zur steuerfreien Investitionsrücklage entnehmen, daß Sie unseren Mittelständlern nicht zutrauen, mit diesem Instrument umzugehen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, im Gegensatz zu vielen in Ihrer Partei traue ich den Mittelständlern sehr viel zu.
Denn ich weiß, einen wie weiten Bereich unserer Wirtschaft sie verantwortlich tragen und was sie für das Wachstum unseres Bruttosozialprodukts leisten. Von daher ist das keine Frage des Zutrauens oder Nichtzutrauens. Hier ist es die Frage, ob ich ein steuerliches Institut, von dem ich weiß, daß es auch eine negative Seite hat, einführe und damit auch den Mittelständlern eine Gefahr zumute, die vielleicht vermeidbar ist. Aber, wie gesagt, man muß die Vorteile und Nachteile abwägen. Wenn die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen, wird man ein derartiges Institut einführen. Wenn man meint, die Nachteile sind größer als die Vorteile, wird man es nicht einführen können.
Meine Damen und Herren, wir bewegen uns weit von der Ursprungsfrage weg. Ich lasse noch zwei Zusatzfragen zu. Dann geht es zur nächsten Frage über.
Herr Kübler ist jetzt dran.
Herr Staatssekretär, ich möchte eine konkrete Frage in diesem Zusammenhang stellen. Geht die Bundesregierung davon aus, daß bei der Körperschaftsteuer die Spanne zwischen dem Regelsteuersatz und dem Ausschüttungssteuersatz wie bisher mindestens 20 Prozentpunkte betragen muß, und welche Folgen hätte eine Minderung dieser Spanne z. B. für die Erhebung der Kapitalertragsteuer?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich gehe zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, daß diese Spanne nicht in der Größenordnung, wie sie jetzt besteht, erhalten bleiben muß. Wenn eine Senkung erfolgt, wird sie nur bei den 56 % erfolgen und nicht bei den 36%.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16651
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, hat der Bürger draußen im Lande nicht ein Anrecht, von der gegenwärtig amtierenden Regierung zu erfahren, wie deren Steuerpläne aussehen, und müßten Sie als Staatssekretär nicht in der Lage sein, dieses hier in der Fragestunde einem normalen Abgeordneten so deutlich darzulegen, daß er außer dem Fachchinesisch, das Sie hier verbreiten, ein paar konkrete Anhaltspunkte hat, was Sie in concreto tun wollen, oder wollen Sie das möglicherweise einem Steuerkommentar überlassen, den Sie noch schreiben wollen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin ganz sicher, daß der Steuerbürger unter einer früheren Bundesregierung im vorhinein nie so viel an Zeilrichtung bekommen hat, wie er heute bekommt. Er weiß heute, daß daran gearbeitet wird,
den Progressionstarif linear sanft ansteigen zu lassen. Er weiß, daß der Grundfreibetrag erhöht werden soll. Er weiß, daß die Kinderfreibeträge erhöht werden sollen. Nur, in welchem Maße das erfolgen wird, hängt natürlich von Komponenten ab, die jetzt noch nicht klar genannt werden können. Aber ich meine, daß frühere Bundesregierungen nie in der Lage und bereit waren, ihr strategisches Konzept so darzulegen, wie es diese Bundesregierung in der Broschüre, auf der die Fragen hier aufbauen, getan hat.
Ich rufe nunmehr Frage 84 der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier auf:
Wie verändert sich der maximale Splitting-Vorteil für Verheiratete, der derzeit 16 433 DM beträgt, bei der vom Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Voss mit 26,3 Milliarden DM Steuerausfall angegebenen Linearisierung der Progressions-zone?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Eine Anhebung des Grundfreibetrages, eine Senkung des Steuersatzes in der unteren Proportionalzone oder eine Abflachung der Tarifprogression ohne Änderung des Spitzensteuersatzes führen zu einem Anstieg des Splittingvorteils. Bei Einführung eines linear-progressiven Tarifs ohne Änderung des Spitzensteuersatzes von 56 v. H. würde sich der maximale Splittingvorteil auf rund 26 000 DM erhöhen. Bei allen bisherigen Tarifentlastungen seit 1975 hat sich der maximale Splittingvorteil erhöht.
Zusatzfrage, Frau Matthäus.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß sich bei einer Familie ohne Kinder, wenn ein Ehepartner ein besonders hohes Einkommen hat, während der andere nicht erwerbstätig ist, bei einem progressiv-linearen Tarif ohne Absenkung des Spitzensteuersatzes ein Steuervorteil von 26 000 DM ergeben kann und daß ein Empfänger von Kindergeld mit vielen, vielen
Kindern diesen Betrag nie im Leben erreichen kann?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus, ich darf Sie darauf hinweisen, daß das Ehegattensplitting nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Steuervergünstigung ist, sondern einé an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare ausgerichtete sachgerechte Besteuerung darstellt.
Sie haben noch eine Zusatzfrage. •
Kann ich daraus schließen, daß Sie die Reformüberlegungen, die diese Koalition zu Beginn dieser Legislaturperiode angestellt hatte — an der Spitze Herr Stoltenberg; sie wurden übrigens auch von Herrn Dregger geteilt —, denen zufolge man beim Splitting etwas tun müsse, weil es nicht angehe, daß Ehepaare ohne Kinder heute einen Vorteil von bis zu 18 500 DM hätten — einen Betrag, den sie mit Kindergeld und Kinderfreibeträgen nie erreichen können —, endgültig aufgegeben haben?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Nein, Frau Kollegin Matthäus, das können Sie daraus nicht schließen. Ich habe Ihnen jetzt lediglich den jetzigen Stand mitgeteilt und gesagt, was geschehen würde, wenn die Dinge, die ich Ihnen genannt habe, einträten. Ob es dabei bleibt oder ob eine Möglichkeit gefunden wird, das zu vermindern, ist wiederum eine Entscheidung, die in der nächsten Legislaturperiode getroffen werden wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, da ich — obwohl ich nach Ihren Antworten zunehmende Zweifel habe — davon ausgehe, daß Sie in der Lage sind, die Veröffentlichungen des BMF zu lesen, frage ich Sie erneut: Sind Sie bereit zu bestätigen, daß die Lohnsteuerquote von 1982 bis 1988
trotz zweimaliger Senkung der Lohn- und Einkommensteuer deutlich angestiegen ist?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich sehe überhaupt keinen Zusammenhang zu dieser Frage.
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16652 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Parl. Staatssekretär Dr. VossDie Frage haben wir soeben bereits behandelt. Wir müssen uns hier an den Kontext halten.
In diesem Falle hat der Staatssekretär recht. Ein Zusammenhang zu der Frage ist nicht herstellbar, Herr Dr. Apel.
Herr Huonker hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben soeben ausgeführt, daß bei der Einführung des linear-progressiven Tarifs ohne Senkung des Spitzensteuersatzes des Splittingvorteils von heute maximal 16 000 DM Auf dann maximal 26 000 DM steigen würde. Teilen Sie die Ansicht derer, die unter dem Stichwort: Leistung muß sich wieder lohnen die Meinung vertreten, daß ein verheirateter alleinverdienender Spitzenverdiener durch die Einführung des linear-progressiven Tarifs einen Steuervorteil von monatlich rund 900 DM bekommen soll — das sind im Jahr also 10 000 DM —, obwohl dies gut der Hälfte des Nettoeinkommens eines durchschnittlich verdienenden Facharbeiters im Monat entspricht?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, ich muß Sie berichtigen, der Splittingvorteil beträgt bereits 18 000 DM und nicht, wie in der Frage angegeben ist, nur 16 433 DM.
Herr Kollege Huonker, wenn Sie dieses Institut der Besteuerung und des Splittings aufrechterhalten wollen,
treten dann natürlich gewisse Folgerungen automatisch ein.
Ob diese Folgerungen so beibehalten werden, wie es hier nach dem Denkmodell, das ich Ihnen eben geschildert habe, vorliegen und eintreten würde, das ist auch eine Entscheidung, die in der nächsten Legislaturperiode im Kontext zu fassen sein wird. Ich gebe Ihnen gern zu, daß Sie auf Grund Ihres Standpunktes eine andere Haltung einnehmen, als das viele in der Bundesregierung tun werden.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Spöri.
Herr Kollege Voss, Sie haben für die Bundesregierung angekündigt, daß diese die Einführung eines linear-progressiven Tarifs plant. Wie hoch sind die Steuerausfälle bei Einführung eines linear-progressiven Tarifs z. B. mit 49 % Spitzensteuersatz, und wieviel Prozent der Steuerzahler erhalten aus dieser Steuersenkungsmaßnahme einen steuerlichen Vorteil?
Herr Kollege Dr. Spöri, der Zusammenhang zur Frage ist nicht herstellbar. Sie müssen schon bei dem bleiben, was wir jeweils vorhaben.
Ob der Parlamentarische Staatssekretär diese Frage beantworten will oder nicht, muß er selbst entscheiden.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Diese Frage habe ich bereits in einer früheren Fragestunde beantwortet. Ich habe Ihnen damals gesagt, daß bei Abschaffung des sogenannten Mittelstandsbauchs die Begradigung des Progressionstarifs etwa 26 Milliarden DM kosten wird, und daß, wenn man von 56 % auf 49 % herabgehen wird, noch mal runde 10 Milliarden DM erforderlich sein werden.
Aber sie steht nicht im Zusammenhang. Es tut mir leid. Wir müssen bei unserer Ordnung bleiben. — Es gibt noch eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler.
Herr Staatssekretär, ich habe eine ganz einfache Frage, die vielleicht auch mit Ja oder Nein beantwortbar werden könnte. Würden Sie — wieder zurückkommend auf die Splittingfrage — diese Entwicklung im Bereich der Splittingvergünstigung für eine gerechte Steuerentwicklung halten?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kübler, das ist eine Entwicklung, die auf Grund von Maßnahmen, die vorgesehen sind, sehr kritisch betrachtet werden muß. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß Maßnahmen getroffen werden, um das nicht in der Form eintreten zu lassen, wie ich es soeben geschildert habe.
Herr Oostergetelo.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie sich vorstellen können, daß die von uns geschilderten negativen Folgen nicht eintreten können? Darf ich fragen, ob die Bundesregierung etwas tun wird, damit das nicht eintritt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird in der nächsten Legislaturperiode, Herr Kollege Oostergetelo, eine gerechte und brauchbare Entscheidung treffen.
Da der amtierende Präsident von hier oben seine eigenen Fragen nicht abfragen und keine Zusatzfragen stellen kann, habe ich um schriftliche Beantwortung meiner Frage 85 gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen zur Frage 86 des Abgeordneten Lennartz:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16653
Vizepräsident WestphalAuf welche Höhe und für welches Jahr plant die Bundesregierung die vom Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Voss, im Deutschen Bundestag am 17. April 1986 angekündigte Senkung des Körperschaftsteuersatzes?Bitte schön, Herr Staatssekretär.Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Lennartz, die Bundesregierung hat ihre steuerpolitischen Ziele für die kommenden Jahre im Text Ziffer 26 des Jahreswirtschaftsberichts 1986 dargelegt. Aussagen über Höhe und Zeitpunkte der angestrebten Steuersenkungen, einschließlich der Senkung des Körperschaftsteuersatzes, sind darin nicht enthalten. Solche Aussagen gehören nach Auffassung der Bundesregierung nicht in einen allgemeinen Zielsetzungskatalog, sondern in den Gesamtzusammenhang der steuerpolitischen Grundentscheidungen, die in der nächsten Legislaturperiode zu treffen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Lennartz.
Herr Staatssekretär, kann ich daraus schließen, daß Sie mir auch keine Antwort darauf geben können, welcher Anteil am gesamten Steuerentlastungsvolumen auf die Senkung der Körperschaftsteuer entfallen soll?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich habe Sie rein akustisch nicht verstehen können.
Können Sie mir vielleicht sagen, Herr Staatssekretär, welcher Anteil am gesamten Steuerentlastungsvolumen auf die Senkung der Körperschaftsteuer entfallen soll?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Frage können Sie sich selbst beantworten. Nach dem, was ich Ihnen gesagt habe,
kann man zum jetzigen Zeitpunkt hier noch kein Volumen nennen. Wie sollte ich denn in der Lage sein, just in dieser Frage ein Volumen zu nennen, wenn ich die Voraussetzungen für andere Dinge im jetzigen Zeitpunkt nicht nennen kann? Das ist doch denknotwendig so.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Lennartz.
Herr Staatssekretär, unter welchem Gesichtspunkt würden Sie Ihren Vorlagen das Prädikat „Seriosität" verleihen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Sie können sicher sein, Herr Kollege, daß die Entscheidungen, die diese Bundesregierung treffen wird, in puncto Seriosität allen Entscheidungen, die Sie vorher getroffen haben, standhalten werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Huonker.
Herr Staatssekretär, ich spreche Ihren steuerpolitischen Sachverstand an und frage
Sie, ob Sie eine Senkung des 56 %igen Körperschaftsteuersatzes um weniger als 4% für eine überhaupt erwägenswerte, sinnvolle steuerpolitische Gesetzgebungsmaßnahme halten würden?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Huonker, ich könnte mir durchaus eine etwas geringere Senkung, beispielsweise um 3 %, vorstellen; aber ob das im Vergleich zu den Staaten, die ihre Körperschaftsteuer sehr deutlich reduziert haben, und die Entwicklungen, die sich bis dahin ergeben haben, sinnvoll ist, muß später entschieden werden.
Ich rufe die Frage 87 des Abgeordneten Lennartz auf:
Kann die Bundesregierung ausschließen, daß sie im Rahmen der für die nächste Legislaturperiode geplanten großen Steuerreform die Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit abschaffen wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es gibt keine Entscheidungen über die Abschaffung von Steuervergünstigungen, auch nicht über Änderungen bei der Steuerfreiheit von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Die steuerpolitischen Grundentscheidungen werden im Rahmen des Gesamtkonzepts in der nächsten Legislaturperiode zu treffen sein. Dabei wird sich die Bundesregierung auch zum Abbau von steuerlichen Ausnahmeregelungen äußern. Im übrigen beabsichtigt diese Bundesregierung eine steuerliche Entlastung und keine steuerliche Belastung der Bürger.
Eine Zusatzfrage, Herr Lennartz.
Herr Staatssekretär, Ihre Antwort lädt ja richtig zu Interpretationen ein.
Sie müssen fragen.
Entschuldigung. Herr Staatssekretär, können Sie auf Grund Ihrer interpretationsfähigen Antworten verbindlich erklären, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, in der nächsten Legislaturperiode die für die Besteuerung von Arbeitnehmern geltenden Sonderregelungen einzuschränken, zu denen ich neben der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit auch z. B. den Arbeitnehmerfreibetrag und den Weihnachtsfreibetrag rechne?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen bestätigen, Herr Kollege, daß es keinesfalls eintreten wird, daß der arbeitende Bürger in diesem Lande in der nächsten Legislaturperiode steuerlich stärker belastet wird, als er es jetzt ist.
Wenn ich Ihnen einmal erklären darf, wie ich mir vorstelle, wie man Steuervergünstigungen abbaut, dann wäre der Idealfall der, daß die Bereiche, die jetzt von Steuervergünstigungen betroffen sind — der Abbau einer Steuervergünstigung bedeutet ja notwendigerweise eine Steuererhöhung —, bei den steuerlichen Maßnahmen um so stärker berück-
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16654 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Pari. Staatssekretär Dr. Vosssichtigt werden, damit daß ein theoretischer Wegfall einzelner Steuervergünstigungen — das sage ich deutlich: theoretischer Wegfall — sie nicht treffen würde. Das heißt, sie hätten insgesamt nicht höhere Steuern, sondern niedrigere Steuern zu zahlen. Das ist das Ziel der Bundesregierung.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Lennartz.
Herr Staatssekretär, können Sie bei Ihren wieder sehr starken interpretationsfähigen Antworten ausschließen, daß die angekündigte große Steuerreform bereits durch kompensatorische Maßnahmen bei der Lohnsteuer für einzelne Arbeitnehmer zu einer höheren Lohnsteuerbelastung als nach geltendem Recht führt?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe soeben bereits gesagt: Denknotwendig kann ich nichts ausschließen. Ich sage Ihnen nur noch einmal, daß die Bundesregierung bei ihren Plänen die soziale Ausgeglichenheit und die soziale Gerechtigkeit der steuerlichen Belastung in einem Ausmaß im Auge haben wird, daß hier keine Beeinträchtigungen des jetzigen Zustands zu verzeichnen sein werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Poß.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht wirklich auch, daß es an diesem Punkt nicht ein Gebot der Redlichkeit wäre, wenn die jetzige Bundesregierung den Wählern klar sagen würde, was sie denn in der Steuerpolitik zu erwarten haben für den natürlich unwahrscheinlichen Fall, daß Sie diese Wahlen gewinnen werden? Das muß doch wohl erwartet werden. Was wollen Sie den Leuten draußen sagen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Der Steuerbürger kann nur sehr zufrieden sein, wenn die jetzige Bundesregierung — wovon ich fest ausgehe — diese Wahl gewinnen wird. Denn dann weiß der Bürger, daß er es mit einer geringeren Steuerbelastung zu tun haben wird.
Wenn Ihre Partei dagegen die Wahl gewönne, Herr Kollege, dann — ich habe es ja verschiedentlich gesagt — ständen nur Steuererhöhungen bzw. Abbau von jetzigen Steuererleichterungen ins Haus.
Zusatzfrage des Abgeordneten Spöri.
Herr Staatssekretär Voss, ist es nicht ein merkwürdiger Vorgang, daß Sie hier den Arbeitnehmern vor der Bundestagswahl nicht zusichern können, daß die Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit steuerfrei bleiben, während Sie auf der anderen Seite sehr wohl zusichern können, daß der Körperschaftsteuersatz nach der Wahl gesenkt wird?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Spöri, was Sie als merkwürdig oder nicht merkwürdig qualifizieren, ist Ihre Sache. Aber ich habe weder zugesagt, daß der Körperschaftsteuersatz gesenkt wird, noch habe ich etwas in die Richtung gesagt, die Sie hier unterstellen. Sie arbeiten permanent mit Unterstellungen.
Ich weiß doch, welche Richtung Sie anstreben, Herr Kollege Spöri. Ich brauche doch nur Ihre Presseerklärungen anzusehen. Das, was ich gesagt habe, gilt in dem Maße, wie ich es gesagt habe, und ist einer Interpretation, wie Sie sie vornehmen, nicht fähig.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, daß Sie gerade erklärt haben, das, was Sie erklärt haben, gelte in demselben Maße, wie Sie es gesagt haben, frage ich Sie: Was soll der Bürger im Grund genommen von Ihnen erwarten? Sagen Sie mir doch bitte mal konkret, wo die Lohnsteuerquote entlastet wird — weil Sie erklärt haben, der Bürger werde entlastet und nicht belastet —, und sagen Sie mir bitte, wie hoch diese Entlastungen in Prozent bei der Lohnsteuerquote sind, und zwar möglichst durch das ausgedrückt, was in DM herauskommt. Das kann der Bürger draußen verstehen, aber nicht das, was Sie erzählen.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Erstens ist das, was Sie sagen, Herr Kollege, nicht im Zusammenhang mit dieser Frage.
Aber ich will Ihnen sehr einfach sagen, daß der Bürger sich ausrechnen kann, daß bei einer entsprechenden Erhöhung des Grundfreibetrages, bei einer entsprechend anderen Führung des jetzt progressiven Tarifs — indem der Mittelstandsbauch wegfällt — und bei erhöhten Kinderfreibeträgen seine Steuerbelastung deutlich niedriger sein mull und sein wird, als sie heute ist. Ich glaube, das versteht jeder Bürger. Und wenn Sie das nicht verstehen, tut mir das leid.
— Ihnen steht das aber zu?
Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger .
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Bundesregierung nicht im geringsten daran gedacht hat, die von dem Kollegen Lennartz hier angesprochenen Steuervergünstigungen für Arbeitnèhmer anzutasten, während man aus dem Mund von SPD-Steuerreformern
Jäger
ja Vorschläge zur Abschaffung des Arbeitnehmerfreibetrags oder des Weihnachtsfreibetrags hört?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Es trifft zu, Herr Kollege, daß die Bundesregierung bisher in diese Richtung keine Beschlüsse getroffen hat und auch nicht Beschlüsse in diese Richtung zu treffen gedenkt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Immer.
Ich verzichte.
Jetzt kommt die Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Apel.
Ich verzichte.
Nun die Zusatzfrage des Abgeordneten Kübler.
Ich verzichte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Huonker.
Herr Staatssekretär, da Sie die Abschaffung dieser Zuschläge nicht ausschließen wollen, sondern sagen, möglicherweise wird dann der Tarif so gesenkt, daß durch die Abschaffung dieser Zuschläge eine Steuererhöhung nicht stattfindet, können Sie mir sagen, um wie viele Milliarden der progressive Tarif teurer würde, wenn Sie einen Chemiefacharbeiter steuerlich so stellen wollen wie heute durch den Tarif, wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge abschaffen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Auch Sie unterstellen etwas, Herr Kollege Huonker, was ich nicht gesagt habe. Ich habe Ihnen soeben gesagt, daß der Idealfall — ob er in der Praxis erreichbar ist, wird noch zu prüfen sein — der wäre, daß überall dort, wo eine Steuervergünstigung wegfällt, was eine Steuererhöhung zur Folge hat, durch andere Steuersenkungen kompensiert werden muß, etwa durch Erhöhung des Grundfreibetrags oder der Linearisierung des Progressionstarifs.
Die Frage 88 des Abgeordneten Dr. Mertens und die Frage 89 des Abgeordneten Dr. Weng (Gerlingen) sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 90 des Abgeordneten Gansel:
Mit welchen Maßnahmen wird die Bundesregierung — gegebenenfalls in Abstimmung mit der schleswig-holsteinischen Landesregierung — die Arbeitsplätze bei der im öffentlichen Eigentum befindlichen Kieler Großwerft HDW über die Termine der bevorstehenden Bundes- und Landtagswahlen hinaus sichern, und ist die Bundesregierung zu der verbindlichen Erklärung bereit, daß der Verkauf oder die Überlassung an einen privaten Erwerber ausgeschlossen ist?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, unternehmenspolitische Entscheidungen der
Howaldtswerke-Deutsche Werft AG, Kiel sind primär Aufgaben des für die Unternehmensführung verantwortlichen Vorstandes. Er unternimmt, unabhängig von Wahlterminen, alles in seinen Kräften stehende, um die Beschäftigung der Werft nachhaltig zu sichern. In Wahrnehmung der Eigentümerfunktion wird er dabei von der Bundesregierung unterstützt.
Für einen Verkauf von HDW Kiel oder eine Überlassung an einen privaten Erwerber bestehen bei der Bundesregierung keine Pläne.
Zusatzfrage, Herr Gansel.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung ausschließen, daß im Vorstand ein neues Unternehmenskonzept erarbeitet wird, das weitere 2 000 Entlassungen vorsieht?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, ich wiederhole mich ungern. Aber ich habe in dieser Fragestunde bereits viele Male gesagt, daß es rein logisch und denknotwendig nicht möglich ist, etwas auszuschließen. Ich habe soeben in meiner Antwort auf die Frage erklärt, daß es Aufgabe der Unternehmensführung ist,
Konzepte zu entwickeln, die für eine langfristige Sicherung der Arbeitsplätze sorgen.
Ich gehe davon aus, daß die Unternehmensführung das -- in diesem Fall auch mit Unterstützung der Bundesregierung — tun wird.
Zweite Zusatzfrage, Herr Gansel.
Ist dem Bundesfinanzministerium bekannt, daß im Vorstand ein neues Unternehmenskonzept in Fortschreibung des '83er-Unternehmenskonzepts entwickelt wird, das die Entlassung von 2000 Arbeitnehmern vorsieht, und wie werden sich die Vertreter der Bundesregierung und die Bundesregierung in ihrer Eigentümerverantwortlichkeit dazu stellen?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Zuständigkeit alles tun, um die Arbeitsplätze zukünftig zu sichern, und dafür sorgen, daß Unternehmenskonzepte erarbeitet werden, die eine Gewähr dafür bieten, daß die vorhandenen Arbeitsplätze in dem möglichen Maße gesichert werden.
Zusatzfrage des Abgeordneten Stutzer.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß HDW in Kiel hinsichtlich des Sonderschiffbaus — Kriegsschiffbaus — weltweit
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16656 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Stutzereinen hervorragenden Ruf hat, daß diese Werft ohne diesen Sonderschiffbau auch für ausländische Auftraggeber noch wesentlich mehr Arbeitsplätze als bisher verloren hätte und daß jeder Politiker, der diesen Sonderschiffbau abbauen oder einschränken will, weitere Arbeitsplätze in Gefahr bringt?Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Das kann ich durchaus bestätigen, Herr Kollege. Ich kann zusätzlich noch sagen, daß mir bekannt ist, daß die Qualifikation dieser Werft, insbesondere in dem von Ihnen genannten Bereich, sehr, sehr hoch ist und allgemein anerkannt wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Poß.
Herr Staatssekretär, ich frage Sie: Ist denn dem Hause, dem Bundesfinanzministerium, bekannt, ob ein solches Unternehmenskonzept, von dem Herr Gansel hier sprach, besteht,
das den Abbau von 2 000 Arbeitsplätzen vorsieht?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es kommt nicht darauf an, welche Pläne und welche Konzepte mal da und dort debattiert werden.
— Herr Kollege Gansel, es kommt darauf an, was bei einem Konzept letztlich herauskommt. Und hier wird die Bundesregierung alles tun, um die vorhandenen Arbeitsplätze zu sichern, und zwar nicht nur für den jetzigen Zeitpunkt, sondern auch für die Zukunft.
Also, Herr Abgeordneter Gansel, ich kann nicht qualifizieren, ob der Begriff, den Sie hier verwendet haben, rügefähig ist. Aber ich finde jedenfalls, daß er hier nicht eingeführt werden sollte.
Ich rufe nunmehr die Frage 91 des Abgeordneten Gansel auf:
Ist es zutreffend, daß sich die finanzielle Lage der Großwerft HDW in Kiel u. a. dadurch verschlechtert hat, daß die peruanische Regierung sich geweigert hat, eine ausstehende Restzahlung aus einem Waffengeschäft in Höhe von 64 Millionen DM zu begleichen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Aus allgemeinen geschäftspolitischen Rücksichten ist die Bundesregierung nicht in der Lage, interne Unternehmenszahlen zu bestätigen oder zu kommentieren. Ich bitte Sie für diesen Hinweis um Ihr Verständnis. Im übrigen wird selbstverständlich davon ausgegangen, daß jeder Besteller seinen Verpflichtungen nachkommt.
Zusatzfrage, Herr Gansel.
Ist die Bundesregierung, die sich — wie soeben noch Sie — über die wirtschaftliche Zukunft des Sonderschiffbaus in positivsten Tönen geäußert hat, in der Lage und bereit, dem Parlament mitzuteilen — oder will sie es ihm verheimlichen? —, daß allein bei der Lieferung von zwei UBooten an Peru im Endpreis 64 Millionen DM offengeblieben sind?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, aus den hier eben genannten Gründen kann ich zu diesem Einzelfall — wie auch zu anderen Einzelfällen — keine Stellung nehmen.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Gansel.
An welcher Stelle und in welcher Form wird die Bundesregierung Abgeordnete darüber informieren, ob diese Geschäfte von Unternehmen, die im Bundeseigentum stehen, mit Waren, die einer besonderen Kontrolle, nämlich nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, unterliegen, mit dem üblichen geschäftlichen Ergebnis oder mit Millionenverlusten wie in diesem Fall, wo es einen Verlust von 64 Millionen DM gegeben haben soll, abgeschlossen worden sind? Wo, verdammt noch mal, wird uns diese Bundesregierung informieren?
Dr. Voss, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Gansel, die Bundesregierung ist in ihrer Informationspolitik an gesetzliche Regelungen gehalten. Sie können von der Bundesregierung nicht verlangen, daß sie diese gesetzlichen Regelungen und Vorschriften verletzt.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Fragestunde. Die Fragen, die nicht aufgerufen werden konnten, werden entsprechend der Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 92 und 93 des Abg. Urbaniak und 114 des Abg. Stutzer sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Wir kommen nun entsprechend der Vereinbarung vor der Pause zu Tagesordnungspunkt 4:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksache 10/5025 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache 10/5410 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil Frau Odendahl
Neuhausen
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Vizepräsident Westphal
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/5411 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Dr. Diederich Dr. Müller (Bremen)
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sechster Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
— Drucksachen 10/4617, 10/5410 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil Frau Odendahl
Neuhausen
Zu Tagesordnungspunkt 4 a liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5462 sowie ein Entschließungs- und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/5480 und 10/5481 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. -- Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat Frau Pack.
Frau 'Pack : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich die erste Rednerin bin, möchte ich eingangs gerne schon dem widersprechen, was hier sicherlich nachher vehement wiederholt werden wird, nämlich dem Vorwurf, wonach diese Bundesregierung für den Rückgang der Quote der durch BAföG geförderten Studenten verantwortlich sei. Dies trifft nicht zu! Der Rückgang ist das Ergebnis sozialliberaler Regierungspolitik, insbesondere hervorgerufen durch die siebte BAföG-Änderungsnovelle und das 2. Haushaltsstrukturgesetz, die beide im Jahre 1981 verabschiedet wurden.
Unter der SPD-Regierung wurden beim BAföG u. a. folgende drastische Verschlechterungen beschlossen: erstens Eingrenzung der Förderung einer weiteren Ausbildung, wenn man bereits einen berufsqualifizierenden Abschluß erreicht hat, zweitens Wegfall der rückwirkenden Leistung von Ausbildungsförderung, drittens die Änderung des Einkommensbegriffs, viertens die Senkung der prozentualen Sozialpauschale, fünftens die Begrenzung des Freibetrages für Kinder und sechstens die Minderung der Freibeträge bei elternunabhängiger Förderung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, die siebte BAföG-Änderungsnovelle ist Ursache des Rückgangs der Quote der Geförderten. Hinzu kommt das von Ihnen 1981 verabschiedete 2. Haushaltsstrukturgesetz, das seit dem Herbst 1983 wirksam geworden ist und das die negativen Einflüsse noch potenzierte. Hierzu zählen insbesondere, daß erstens, wenn beide Elternteile über ein Einkommen verfügen, eine Senkung des zusätzlichen Freibetrages durchgeführt worden ist, daß zweitens die Leistungen für Fahrtkosten, für Studienfahrten, Lern- und Arbeitsmittel wegfallen und daß drittens — das ist das Wesentliche - keinerlei Erhöhung der für 1982 fälligen Freibeträge und Bedarfssätze durchgeführt wurde. Das heißt, es entstanden Realeinbußen bei den Zuwendungen für Schüler und Studenten. Erst durch die von uns vorgenommene Umstellung der Studentenförderung auf Darlehen ist uns die Option eröffnet worden, 1984, 1985 und auch in diesem Jahr mit der zehnten BAföG-Änderungsnovelle reale Verbesserungen durchzuführen und den Trend der Verschlechterung der Zuweisungen zu stoppen.
Wir haben nicht wie Sie von der SPD den Studenten salamitaktikähnlich von Mal zu Mal das BAföG gekürzt. Vielmehr ist es durch die erfolgte Umstellung auf Darlehen und dem damit geleisteten Konsolidierungsbeitrag möglich geworden, Verbesserungen überhaupt erst in Angriff zu nehmen.
So darf ich daran erinnern, daß wir erstens die Bedarfssätze und Freibeträge von Elterneinkommen zum 1. August 1984 um durchschnittlich 4 % und die Freibeträge zum Herbst 1985 um durchschnittlich 2 % angehoben haben; daß wir zweitens die Härten und Unstimmigkeiten, die durch das Haushaltsbegleitgesetz von 1983 und die neunte BAföG-Änderungsnovelle entstanden sind, gemildert haben. Ich darf daran erinnern, daß wir die Zahlung von BAföG an Schüler für den Monat August eingeführt haben; daß wir die Ausweitung der Übergangsregelung für die Grundwehr- und Zivildienstleistenden eingeführt haben; daß wir die Einbeziehung von Auszubildenden, die ein Kind im eigenen Haushalt betreuen, in die BAföG-Leistungen bewirkt haben.
In dem uns heute vorliegenden Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ist neben der Förderung des außereuropäischen Studiums und der Auslandspraktika eine Anhebung der Bedarfssätze um durchschnittlich 3 % und der Freibeträge um durchschnittlich 2 % zum Herbst 1986 und zum Herbst 1987 vorgesehen. So ist die Lage: Wir haben durch Konsolidierung und antiinflationäre Politik den finanziellen Spielraum geschaffen, der notwendig war, um überhaupt sozialpolitische Verbesserungen durchzuführen.
Auf Grund dieser Zielbestimmung und der Ergebnisse der öffentlichen Anhörung, die wir zur BAföGNovelle durchgeführt haben, haben wir aber wei-
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Frau Pack
tere notwendige Verbesserungen durchgesetzt. Erstens. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen ist die von vielen behinderten Studenten und Studentinnen in Anspruch genommene Möglichkeit einer Verlängerung der Förderungshöchstdauer nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 dergestalt verbessert worden, daß einem behinderten Studenten auf Antrag das über die Förderungshöchstdauer hinaus gezahlte Darlehen erlassen wird.
Zweitens. Ausländische Schüler und Studenten, deren Eltern in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, bekommen über den bereits begonnenen Ausbildungsabschnitt hinaus BAföG. Damit ist eine wesentliche Härte für die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger der zweiten Generation beseitigt worden.
Drittens. Ebenfalls auf Antrag der Koalitionsfraktionen ist dafür Sorge getragen worden, daß verheiratete Auszubildende mit denjenigen gleichgestellt werden, die mit einem Kind zusammenleben, auch wenn von der Wohnung der Eltern aus eine geeignete Ausbildungsstätte erreichbar wäre.
Die Koalitionsfraktionen haben sich dann auch mit der Frage beschäftigt, ob bei fehlender ElternKind-Beziehung eine auswärtige Unterbringung ermöglicht werden soll. Anlaß hierfür war eine Beschlußfassung des Bayerischen Landtags. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP fordern die Bundesregierung auf, zunächst eingehend zu prüfen, ob diesem Anliegen Bayerns durch eine Änderung der entsprechenden Verwaltungsvorschriften Rechnung getragen werden kann. Falls das aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist, wird die Bundesregierung gebeten, dieses Anliegen im Rahmen der elften BAföG-Änderungsnovelle aufzunehmen.
Nicht alles, was wünschenswert wäre, kann in dieser Novelle durchgeführt werden. So weisen wir heute bereits darauf hin, daß in der nächsten Legislaturperiode durch die elfte BAföG-Änderungsnovelle in weiteren Bereichen Verbesserungen durchgesetzt werden müssen. Erstens. Aus der öffentlichen Anhörung zur zehnten BAföG-Änderungsnovelle ist deutlich hervorgegangen, daß das staatliche Transfersystem auf der einen und das Steuerrecht auf der anderen Seite viele Familien in ein sogenanntes „Mittelstandsloch" fallen läßt. Der Präsident des Deutschen Studentenwerks Professor Folz hat in der Anhörung deutlich gemacht, daß Familien, die zwischen 40 000 und 50 000 DM brutto verdienen, einerseits kaum in der Lage sind, das Studium ihrer Kinder zu finanzieren, und andererseits, selbst wenn es ihnen gelänge, eine Steigerung des jährlichen Einkommens um 10 000 DM zu erzielen, von diesem Betrag nur noch 1 000 DM verblieben, weil nämlich gleichzeitig Sozialleistungen wegfallen und die Steuerprogression zugreift. Hier kann eine Erhöhung der Ausbildungsleistungen allein nicht helfen. Doch im Verbund mit einer gezielten deutlichen Steuerentlastung für Familien mit Kindern, die soziologisch zur unteren Mittelschicht gerechnet werden, können die enormen finanziellen Belastungen für die Ausbildung ihrer Kinder gemildert werden. Die Bundesregierung wird in diesem Zusammenhang aufgefordert, die wirtschaftliche
Situation der Familien detailliert zu analysieren, Modellrechnungen zur Entlastung durch steuerliche Maßnahmen vorzunehmen und dem Deutschen Bundestag über das Ergebnis dieser Untersuchung bis zum 31. Mai 1987 zu berichten und einen Lösungsvorschlag vorzulegen.
Zweitens. Von allen Seiten wurde in der öffentlichen Anhörung auch das Problem des Auseinanderklaffens der Förderungshöchstdauer und der tatsächlichen Studiendauer vor Augen geführt. Wir können uns nicht mit dem Hinweis auf die ausbleibende Studienreform mit dem Ziel der Verkürzung der Studienzeiten berufen, wenn es gilt, die Examenszeit, die in fast allen Fällen außerhalb der Förderungshöchstdauer liegt, in die Förderung mit einzubeziehen. Hier müssen wir differenzierte Lösungen anstreben, die eine flexible Neuordnung der Förderungshöchstdauer zum Ziele haben.
Des weiteren fordern wir die Bundesregierung auf, bei der nächsten Novelle Lösungen für die Förderung von Postgraduierten-Studiengängen zu entwickeln.
Hinsichtlich der bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtung sollten die Auswirkungen einer zeitlichen Begrenzung der Verpflichtung zur Gewährung von Ausbildungsunterhalt auf das vollendete 27. Lebensjahr des Unterhaltsberechtigten mit einer großzügigen Ausnahmeregelung untersucht und dargestellt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wir haben es nicht nötig, uns hinsichtlich der erreichten Steigerungen beim BAföG sozialpolitisches Fehlverhalten vorwerfen zu lassen. Dies ist zuerst einmal an Ihre eigene Adresse zu richten. Ich habe bereits aufgelistet, was durch die siebte BAföG-Änderungsnovelle und das 2. Haushaltsstrukturgesetz unter einem SPD-Kanzler für Schüler und Studenten vorgenommen worden ist. Auch Ihr neuer Kanzlerkandidat, der ja in Nordrhein-Westfalen regieren muß, und demzufolge dort ablesbar ist, wie er das macht, hat den Haushaltsansatz für die Ausbildungsförderung von Schülern von 360 Millionen DM um 50 % auf heute 133 Millionen DM reduziert.
Wenn schon das böse Wort vom BAföG-Kahlschlag immer von Ihnen in den Mund genommen wird, dann trifft dies zuallererst auf die sozialdemokratische Landesregierung in Düsseldorf zu.
Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß wir mit der heute vorgelegten zehnten Novelle zum BAföG wieder eine Erhöhung durchgesetzt haben, die dritte Erhöhung in den vier Jahren, seit wir regieren.
Durch die Koalitionsfraktionen sind weitere Verbesserungen vorgenommen worden, die wichtig waren und die in der Anhörung gefordert wurden. Wir erwarten, daß mit der elften Novelle im Jahre 1987
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Frau Pack
auch die von mir vorhin genannten Probleme noch gelöst werden.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Odendahl.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der Tat, Frau Kollegin Pack, die Diskussionen der BAföG-Novellen der letzten drei Jahre haben alle eine gemeinsame Debattenstrategie: Die Regierung stellt mit einiger Selbstzufriedenheit ihre Verbesserungen vor, und wir müssen Sie von der Regierungskoalition jedesmal darauf hinweisen, daß Sie sich von Jahr zu Jahr weiter von unserer gemeinsamen Zielsetzung des Jahres 1971 entfernen, durch die Gewährung individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken. Sie können es drehen und wenden — und im Wenden sind Sie ja Spezialist —, wie Sie wollen, die Gefördertenquote ist von 1981 bis 1984 von 37 % auf 25% zurückgegangen. Die gesamten BAföG-Aufwendungen des Bundes gehen laufend zurück. Nach Ihrem Kahlschlag beim Schüler-BAföG gehen Sie also Jahr für Jahr auch bei den Studenten auf die Null-Lösung zu. Letztlich bleibt jede BAföG-Novelle Flickwerk, wenn Sie nicht endlich den Willen und die Kraft aufbringen, die alle zwei Jahre vorgeschriebene Anpassung zu einer ernsthaften Kurskorrektur gegen Ihren BAföG-Kahlschlag zu nutzen.
Denn wie das bei Flickwerk so ist — davon sollten Sie auch etwas verstehen, Frau Kollegin —: Man stopft die Löcher und übersieht dabei meist, daß die Ränder längst ausgefranst sind.
Die soziale Lage der Studenten hat sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert. Die deutlichen Fakten der 11. Sozialerhebung konnten Sie auch mit Ihrem Coup der Allensbach-Umfrage nicht entkräften; alle Experten haben das bei der durchgeführten Anhörung noch einmal bestätigt.Ich möchte hier jetzt den Streit, ob nun das Deutsche Studentenwerk oder Frau Noelle-Neumann die wirtschaftliche Lage der Studierenden besser beurteilen kann, nicht wieder aufwärmen. Es lohnt sich nicht, mit Ihnen darüber zu streiten, ob nun die Studenten zwar weniger fürs Essen, so doch aber drei Mark mehr für Körperpflege ausgeben. Tatsache ist, daß heute, wenn man das Jahr 1971 zum Ausgangspunkt nimmt, zwischen dem Index der Förderungshöchstsätze und der, Preisentwicklung bereits eine Schere von 23% klafft.
Und jetzt kommt das, worauf Sie so dringend warten: Nach Ihrer schon bekannten Debattenstrategie werden Sie ganz sicher wieder — Frau Pack hat es schon getan auf die Einschnitte der siebten BAföG-Novelle verweisen,
die wir — unter damals äußerst angespannter Haushaltslage — zu verantworten haben.
Aber das zieht heute schon deshalb nicht mehr,
weil Sie ja nun schon zweimal hinreichend Gelegenheit gehabt hätten, dies wieder zu verbessern,
vor allem angesichts der günstigen Wirtschaftsdaten, auf die Sie sich ja immer wieder berufen.
Mit der Erhöhung der Bedarfssätze um magere 3 % und mit ihrer dürftigen Erhöhung der Freibeträge bleibt die Regierung selbst hinter dem zurück, was finanzpolitisch ohne weiteres möglich wäre. Sie drückt sich damit um eine generelle Verbesserung der BAföG-Förderung und vertröstet — auch das ist schon Methode — auf die nächste, die elfte Reparaturnovelle.Der heute vorgelegte Entschließungsantrag der SPD-Fraktion greift die angesprochenen Probleme auf. Er enthält einen konkreten Stufenplan, mit dem in drei Schritten innerhalb der nächsten sechs Jahre auf der Grundlage der kommenden BAföGÄnderungsgesetze die Bedarfssätze und die Freibeträge so erhöht werden sollen, daß die BAföG-Förderung wieder den Lebenshaltungskosten entspricht, daß also die Schere wieder geschlossen wird und die Quote der insgesamt geförderten Studenten wieder auf etwa 40% ansteigt.
Außerdem verlangen wir eine flexiblere Handhabung — für Flexibilität sind Sie doch meistens —
der Förderungshöchstdauer, die den Realitäten an den Hochschulen angesichts der Überlast durch die geburtenstarken Jahrgänge entspricht. Durch diesen Stufenplan soll das BAföG wieder zu einem wesentlichen Instrument der Chancengleichheit werden.Darüber hinaus fordern wir die sofortige Wiederaufnahme der Förderung aller Schüler ab Klasse 11, wie sie bis zum Dezember 1982 gegolten hat, und die Rückkehr zum Teildarlehen bei der Studentenförderung, also die Abkehr vom BAföG-Kahlschlag.
Lassen Sie mich nun zu den einzelnen „Reparaturmaßnahmen" kommen. Die von der SPD-Fraktion angeregten Anträge für eine elternunabhängige Förderung für alle verheirateten Schüler und
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Frau Odendahlfür die Förderung der ausländischen Jugendlichen, deren Eltern in die Heimat zurückgekehrt sind, haben Sie inzwischen übernommen.
Was die Verbesserungen für die behinderten Studenten angeht, so ist es schließlich nur unserem Drängen zuzuschreiben, daß sie überhaupt von Ihnen aufgenommen wurden. Es war schon beschämend, wie Sie sich bei den Vorbereitungen zur BAföG-Anhörung dagegen wehrten, eine Interessengruppe der Behinderten überhaupt anzuhören.
Und es kommt noch etwas: Wir hatten beantragt, für Behinderte, deren Erwerbsfähigkeit um mindestens 80 % gemindert ist, die Förderungshöchstdauer um 12 Monate zu erhöhen und die Ausbildungsförderung- über die Förderungshöchstdauer hinaus für diesen Personenkreis als Zuschuß zu gewähren. Wir halten es für unbillig, Studenten, die wegen ihrer Behinderung länger gefördert werden, auch noch mit einer zusätzlichen Darlehensschuld zu belasten und damit ihre ohnehin gegebene Benachteiligung noch zu verstärken.Ihr Antrag für diese Personengruppe hat einen ganz groben Schönheitsfehler:
Sie gewähren diese durch die Behinderung bedingte Mehrförderung nur dann als Zuschuß, wenn der erfolgreiche Studienabschluß nachgewiesen wird. Bei der von Ihnen vorgesehenen Mehrförderung für Auslandsstudien, die Sie jetzt auf Staaten außerhalb Europas ausdehnen, wird diese von vornherein als Zuschuß gewährt — ein Vertrauensvorschuß, den Sie ausgerechnet den Behinderten verweigern wollen.
Wir haben gegen erweiterte Studienmöglichkeiten im Ausland gar nichts einzuwenden,
wenn gewährleistet ist, daß die Bundesregierung für die dabei anfallenden Mehrkosten, wie z. B. Studiengebühren, die in den USA mancherorts mit gut 10 000 Dollar jährlich zu veranschlagen sind, zusätzliche Mittel bereitstellt und nicht durch ein sogenanntes BAföG de Luxe den ohnehin ständig schrumpfenden BAföG-Topf weiter schmälert. Für einen Skandal halten wir allerdings das zweierlei Maß, mit dem hier Behinderte und Studierende im Ausland gemessen werden.
Auch die von Ihnen vorgesehene Anhebung der Elternfreibeträge halten wir für unzureichend. Damit werden Sie das in der Anhörung von allen Beteiligten angesprochene Förderungsloch insbesondere für Mehrkinderfamilien mit mittlerem Einkommen, die in den letzten Jahren aus der BAföGFörderung herausgefallen sind, nicht schließen können. Der von Ihnen so lauthals angekündigte Familienlastenausgleich findet also hier nicht statt; der ständige Exodus aus dem BAföG geht weiter.Bei den Bedarfssätzen haben Sie die von uns geforderte erste Stufenanhebung von 6 % abgelehnt und sind bei Ihren mageren 3 % geblieben. Dabei können Sie sich noch so sehr auf Ihr günstiges Preisniveau berufen; die Studenten kommen kaum in den Genuß, weil ihre festliegenden Kosten wie Mieten usw. erheblich angestiegen sind und damit ihre Einkommenssituation viel mehr schmälern, als Sie sie gesundbeten können.
Nun fordert der Antrag der GRÜNEN zur Existenzsicherung ein Grundeinkommen von 1 000 DM pro Monat als Basis der Existenzsicherung für Studenten.
Dies würde Mehraufwendungen für den BAföG-Bereich von rund 10 Milliarden DM bedeuten.
Wir halten es grundsätzlich für den falschen Weg, in bestimmten gesellschaftlichen Sektoren ein Grundeinkommen zu verankern, nachdem in vielen Berufen — das kann man bedauern — die Tarifstrukturen noch darunterliegen, ganz abgesehen von der Einkommenssituation vieler Rentner.
Hierüber einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen dürfte derzeit nicht möglich sein.
Ganz unberücksichtigt bleibt die Tatsache, daß viele Studenten ihr Studium nicht mehr im Rahmen der vorgesehenen Förderungshöchstdauer abschließen können, sei es auf Grund der erschwerten Studienbedingungen angesichts der Überlast an den Hochschulen oder weil sie zur Sicherung ihrer Existenz während des Studiums arbeiten müssen.
Unseren Antrag, ihnen wenigstens für das Examen die Förderungshöchstdauer um sechs Monate zu verlängern, haben Sie nicht aufgenommen.Die Anträge der SPD-Fraktion umfassen ein Gesamtvolumen von rund 140 Millionen DM pro Jahr für den Bund.
Angesichts der in den letzten Jahren ständig zurückgegangenen BAföG-Aufwendungen, die nunmehr nur noch 1,6 Milliarden DM betragen, und einem Haushaltsrest aus dem letzten Jahr von rund 50 Millionen DM ist das keine unbillige Forderung. Die Regierungskoalition konnte bei ihrem Finanz-
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Frau Odendahlminister ganze 20 Millionen DM Mehraufwendungen für die Ausbildungsförderung locker machen, obwohl derzeit für nicht bildungspolitische Subventionen ganz andere Summen verteilt werden.
Der Entschließungsantrag von CDU/CSU und FDP zeigt, wohin die Reise gehen soll: Sie schieben die Probleme weiter vor sich her und vertrösten auf die nächste BAföG-Novelle, also auf Ihr nächstes Flickwerk. Damit haben Sie zu verantworten — jetzt sollten Sie zuhören, Frau Kollegin —, daß der soziale Numerus clausus an deutschen Hochschulen Einzug hält.
Die bildungspolitische Umkehr, die Rückkehr zur Chancengleichheit haben Sie wieder einmal verpaßt.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer das schwere Schicksal zu tragen hat, sich seit Jahren unter verschiedenen Vorzeichen mit BAföG zu beschäftigen, der weiß erstens, daß er immer „pater peccavi" sagen muß, und er weiß zweitens, daß die großen Worte natürlich jederzeit ausgewechselt werden können, früher und jetzt, und daß es eigentlich angebracht ist, zur Sache zurückzukehren. Wir wissen ja, meine Damen und Herren, daß den Hintergrund der ja schon in den ersten beiden Beiträgen deutlich gewordenen unterschiedlichen Meinungen ganz verschiedene Vorstellungen und Gesichtspunkte über die Höhe der vorgesehenen Anpassungssätze, über ihr Verhältnis zur allgemeinen Preisentwicklung und über den sich für die zu fördernden Schüler und Studenten ergebenden Bedarf, aber auch über ganz grundsätzliche strukturelle Fragen der Ausbildungsförderung bilden. Da gibt es auch im Hinblick auf die Vergangenheit und die Gegenwart immer das Spannungsverhältnis zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren. Jetzt ist als neue Variante noch der Streit der Demoskopen hinzugekommen. Das ist alles sehr belebend.Realistisch gesehen war es von vornherein klar, daß die finanziellen Rahmenbedingungen für diese zehnte Novelle keine solchen Ausweitungen zuließen, wie sie in manchen Forderungen enthalten waren. Wie im Bericht des Ausschusses vermerkt ist, hätte eine zusammenfassende Berücksichtigung aller in der Anhörung vorgetragenen Forderungen einen Finanzbedarf ergeben, der den bildungspolitischen Spielraum des Bundes und der Länder in einem nicht vertretbaren Umfang eingeschränkt hätte. Das ist realistisch gesehen der springende Punkt. Dennoch halte ich — leidgeprüft — die Diskussion und die Kritik — auch wenn die Kritik von Ihrer Seite als überzogen zu charakterisieren ist — im Prinzip für nützlich, weil sie immer wieder den Stachel im Fleisch hinterläßt, über den Tag hinauszudenken.Meine Damen und Herren, es soll nicht vergessen werden, daß natürlich nicht nur der Finanzrahmen, sondern auch der Zeitrahmen für die jetzige Novelle eine große Rolle spielt. Dieser Zeitrahmen soll ja dazu beitragen, daß die jetzt vorgesehenen Verbesserungen in diesem Jahr und im nächsten Jahr pünktlich und nicht mit Verzögerungen in Kraft treten können.
Meine Damen und Herren, nun kann man das alles, wenn man Opposition ist — mit Oppositionen habe ich ja Erfahrung —, um eines vermuteten Schaueffektes wegen überspielen und so tun, als wenn es diese realistischen Überlegungen nicht zu geben bräuchte, daß man nicht sehr viel längere Beratungszeiten bräuchte für strukturelle und andere Überlegungen, daß es keiner Abstimmungsprozesse mit den Ländern bedürfte usw. Glaubwürdig ist das natürlich alles nicht, vor allen Dingen dann nicht, wenn man sonst immer vor Schnellschüssen und ähnlichem warnt.
Wohin das im Extremfall führt, habe ich wieder mit Interesse von der Kollegin Odendahl gehört. Das war eine interessante Stellungnahme zu den Vorschlägen der GRÜNEN. Interessant war, daß Sie diese beziffert haben, während Sie das, was Sie für richtig halten, in Ihrer Rede in dem Maße nicht beziffert haben.Meine Damen und Herren, es dient der Sache überhaupt nicht, wenn man, wie zu lesen war, so tut, als ob sich die Lage der zu Fördernden durch die Novelle sogar verschlechtere. Die Sprache ist manchmal verräterisch. Da ist immer von einer Schere die Rede, die sich durch diese Novelle noch öffnen würde. Eine verblüffende Logik, wo es doch um Erhöhungen und Anpassungen geht!
Ich muß schon sagen, das ist sehr verwunderlich. Wir haben einige strukturelle Verbesserungen durchgeführt, für die Sie nun interessanterweise auch noch die Autorenschaft in Anspruch nehmen. Im gleichen Atemzug kritisieren Sie sie dann aber. Dazu gehört — das wurde schon erwähnt —, daß den behinderten Studenten auf Antrag ein Darlehensteil für ihre zusätzliche Studienzeit erlassen wird. Ich halte diese Regelung für eine gute Regelung. Den Streit über Zuschuß oder Darlehen halte ich für einen Streit um des Kaisers Bart.
Es kommt darauf an, daß die behinderten jungen Menschen eine Förderung erhalten. Eingeführt wird, daß hier aufgewachsene junge Ausländer künftig auch dann eine Förderung erhalten, wenn ihre Eltern in die Heimat zurückgekehrt sind, wofür sich im übrigen ebenfalls die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Liselotte Funcke, sehr intensiv eingesetzt hat. Eingeführt wird weiter, daß verheiratete Auszubildende in Zukunft auch dann eine Förderung erhalten, wenn sie von der Wohnung ihrer Eltern aus einer Ausbildungsstätte er-
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Neuhausenreichen können. Schließlich wird eingeführt — Sie haben es erwähnt; ich will nicht alle Einzelheiten wiederholen —, daß das Studium im außereuropäischen Ausland künftig in gleicher Weise wie das Studium in Europa gefördert wird.Wer das alles nicht anerkennt oder mit allzu kritischen und, so möchte ich fast sagen, scholastischen Randbemerkungen versieht, der setzt sich dem Verdacht aus, daß es ihm nicht um diese Verbesserungen geht, sondern er die weitergehenden Forderungen — wo gäbe es die nicht, die gibt es auch bei mir — nur als Mittel zur Vernebelung tatsächlicher Fortschritte benutzt.
Meine Damen und Herren, dafür ist mir, ist uns dieses Thema zu ernst.Der Bericht des Ausschusses stellt klar, daß das Thema der Ausbildungsförderung über diese Novelle hinaus auf der Tagesordnung bleibt. Insbesondere soll die Bundesregierung aufgefordert werden — das wurde erwähnt —, die wirtschaftliche Situation von Familien mit mittlerem Einkommen zu untersuchen. Auch soll über eine flexiblere Handhabung der Förderungshöchstdauer nachgedacht werden. Denn in der Tat wird damit ein Thema aufgegriffen, das im Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit der allgemein geforderten Verkürzung der Studienzeiten einerseits und der Tatsache steht, daß nicht in jedem Fall der Student für das Überschreiten dieser Höchstdauer verantwortlich zu machen ist.Ich möchte vor allem an den im Bericht enthaltenen Hinweis anknüpfen, daß die in der Beschlußempfehlung genannten Prüfungsaufträge keinen abschließenden Katalog der weiter in Diskussion stehenden Frage der Ausbildungsförderung darstellen. Wir — ich spreche für die FDP — halten weitere Schritte zur Neuordnung und Verbesserung der individuellen Ausbildungsförderung für Schüler, Berufsschüler und Studenten für notwendig. Ich hätte mir z. B. gewünscht, daß es schon jetzt möglich gewesen wäre, den beruflichen, den klassischen zweiten Bildungsweg in Berufsaufbauschulen und Fachoberschulen, die eine berufliche Ausbildung voraussetzen, der Ausbildung in Abendgymnasien und Kollegs gleichzustellen. Überhaupt bleibt die unterschiedliche Schülerförderung der Länder ein Problem, das den Wunsch nach einer besseren Abstimmung der Förderungskonzepte von Bund und Ländern immer wieder von sich aus auf die Tagesordnung bringt. Daß ich die Auswirkungen der Darlehensteilerlaßverordnung für Studenten ebenfalls für problematisch halte und das ganze Kapitel der Darlehensförderung noch Raum für gestaltende Phantasie läßt, brauche ich nicht zu verschweigen.Heute, meine Damen und Herren, geht es aber darum, das im Finanzrahmen und im Zeitraum und bei realistischer Beurteilung Machbare zu verwirklichen. Das begrüßen wir. Das unterstützen wir. Deshalb stimmen wir der 10. Novelle zu.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir Gäste haben. Auf der Ehrentribüne hat die Präsidentin der Abgeordnetenkammer der italienischen Republik, Frau Professor Dr. Leonilde Iotti, mit einer Delegation Platz genommen.
Ich habe die Ehre, Frau Präsidentin, Sie im Namen des Deutschen Bundestages herzlich willkommen zu heißen. Ihr Besuch in der Bundesrepublik Deutschland unterstreicht die traditionell freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern und unseren Parlamenten. Ich wünsche Ihnen nützliche Gespräche und Begegnungen in der Bundesrepublik Deutschland und einen angenehmen Aufenthalt in unserem Lande.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Zeitler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es erübrigt sich, zu dem Anpassungsgesetz der Bundesregierung etwas zu sagen.
Die Anhörung, die im Ausschuß dazu stattfand, war für die Regierung und die sie tragenden Parteien ein Trauerspiel. Nicht einmal die von ihnen selbst gewählten Gäste wollten sich bescheiden. Niemand aus der Runde der Experten, weder vom RCDS noch von der Westdeutschen Rektorenkonferenz, den Gewerkschaften oder dem VDS, will sich mit den momentanen BAföG-Regelungen zufriedengeben. Was gewünscht wird und was ich will, ist endlich einmal eine grundsätzliche Debatte. Hier ist auch die SPD gefordert. Sie sollte sich nicht immer auf Rückzugsgefechte einlassen.
Das große Lamentieren über die Haushaltskonsolidierung zieht nicht mehr. In den Mittelpunkt der Kritik ist die Elternabhängigkeit geraten. Denn nichts anderes wird kritisiert, wenn über Freibeträge geredet wird. Es ist auch ein Witz, wenn von sozialer Chancengleichheit durch BAföG geredet wird und jede Lohnerhöhung der Eltern nicht deren Etat aufbessert oder ausgleicht, sondern zum großen Teil auf das BAföG der Kinder angerechnet wird. Ebenso windig sind die Kinderfreibeträge in Höhe des Kindergelds. Das ist kein Freibetrag vom Elterneinkommen, sondern die Nichtanrechnung einer sozialen Unterstützungsleistung. Alles andere wäre eine Kürzung des Kindergelds als Strafe für Bildungshungrige. Im Grunde genommen ist die Elternabhängigkeit eine Regelung, die — egal wie man sie dreht und wendet — Ungerechtigkeit und Härten erzeugt. Außerdem hat sie in einer Gesellschaft wie der unseren auch kein traditionelles Fundament mehr.
Die Eltern-Kind-Abhängigkeit ist in einer uniformen Gesellschaft wie der unseren, in der jeder Er-
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Frau Zeitlerwachsene auf sich selbst gestellt ist und in der die soziale Absicherung weitgehend vergesellschaftet ist, ein Relikt.
Von den Jugendlichen wird erwartet, daß sie für einen Ausbildungsplatz die Stadt, ja, sogar das Bundesland wechseln. Spätestens wenn es um einen Studienplatz geht, wird Flexibilität und Unabhängigkeit erwartet. Andere Länder haben daraus schon längst den logischen Schluß gezogen, die Unterhaltspflicht der Eltern mit der Volljährigkeit enden zu lassen. Dieser Schritt steht auch in der Bundesrepublik an.
Deshalb ist unsere erste Forderung die nach elternunabhängiger Förderung.
Unsere zweite Forderung ist sehr existentieller Natur. Die permanenten Verweise auf die Finanzierbarkeit führen dazu, daß nicht mehr darüber geredet wird, wieviel Geld man braucht, um in unserer Gesellschaft, in der ja alles über Geld geregelt ist, zu überleben. Das Einkommen von sozial Abhängigen bemißt sich vielmehr danach, was im Haushaltsplan übrigbleibt. Einmal abgesehen von aller Kritik am Haushaltsplan wird hier das Pferd von hinten aufgezäumt. Ehrlich gesagt denke ich, daß diese abgehobene Haushaltsführung nur Abgeordneten und ähnlichen Leuten gelingt, die selbst nicht von den von ihnen beschlossenen Unterstützungsleistungen leben müssen.Nun ist ja beim BAföG ganz erheblich gekürzt worden. Nicht nur daß die Bedarfssätze ungenügend angehoben wurden, nämlich um 20 % weniger, als die Lebenshaltungskosten gestiegen sind, sondern es ist auch eine Streichung der Zusatzleistungen wie Familienheimfahrten, Studienfahrten, Zuschüsse für Lern- und Arbeitsmittel vorgenommen worden. Das sind Kürzungen der Studenteneinkommen. Für uns ist klar: Ob es um BAföG, Sozialhilfe oder Rente geht — unter 1 000 DM im Monat läuft in diesem Staat nichts mehr. Das Argument, es gebe Leute, die weniger als 1 000 DM im Monat verdienen, ist schlimm genug.
Es ist eine Schande, daß viele Leute in unserem Land nicht von ihrer Arbeit leben können.
Lassen Sie mich noch einen dritten Punkt anführen; die anderen bitte ich in unserem Antrag nachzulesen, denn meine Redezeit ist ja mehr als knapp. — Die Umstellung der Ausbildungsförderung auf die volle Darlehensregelung ist umgehend abzuändern. Sie ist bestimmt kein Beitrag zur Chancengleichheit, sondern sie ist sozial ungerecht. Es ist ungerecht gegenüber Studierenden aus finanziell schwächeren Einkommensschichten — denn diese bekommen j a BAföG —, daß sie zurückzahlen müssen, während mittlere und obere Einkommensschichten über den Familienlastenausgleich Unterstützung erhalten, die dann nicht rückzahlbar ist.
Außerdem sind Studierende die einzige Gruppe in unserer Gesellschaft, denen zugemutet wird, daß sie mehrere Jahre ihres Lebens auf Pump leben. Das heißt: Jeden Monat wächst ihr Schuldenberg, und das sind Leute, die nicht nach dem Motto leben können: Meine Kredite zahlt das Finanzamt. Diese Belastung, die sich in den schwindenden Förderquoten niederschlägt, muß geändert werden. Zumindest eine Zuschußförderung in Höhe eines durchschnittlichen Sozialhilfeeinkommens ist zu gewährleisten.Hinsichtlich der übrigen Punkte verweise ich Sie auf unseren Antrag.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogelsang.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe soeben von der Kollegin Zeitler gelernt, was Volkes Meinung ist: Über Geld redet man nicht, Geld hat man.
Sie müssen korrekterweise immerhin dazusagen, daß, wenn nur ein Teil Ihres Antrages, nämlich die elternunabhängige Förderung, verwirklicht würde, das den Steuerzahler pro Jahr allein 8,5 Milliarden DM kosten würde.
Ich wollte nur auf die Größenordnung hinweisen.
So ganz einfach ist es nicht. Ich habe von einem Punkt gesprochen. Wir sind uns schon einig, wir kennen das schon.Ich möchte noch einen kleinen Hinweis dem Kollegen Neuhausen geben. Herr Neuhausen, Frau Odendahl hat die Kosten unserer Anträge beziffert, nämlich 140 Millionen. Ich wollte das nur der Vollständigkeit halber erwähnen.Beginnen möchte ich mit einem Zitat — dabei kann mir am wenigsten passieren — von dem Vorsitzenden der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Herrn Professor Theodor Berchem, der gesagt hat:Der drastische, ja besorgniserregende Rückgang der Gefördertenquote von einem Drittel auf ein Viertel der Studenten wird vor allem als Folge der Ausgrenzung von Kindern aus Familien mit sogenanntem mittlerem Einkommen beurteilt.Nun haben wir uns eben schon darüber ausgetauscht: Bei wem liegt die Ursache? Aber es würdeja nun schon mal viel mehr helfen, wenn wir die
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16664 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
VogelsangBeurteilung teilten, daß in der Tat, wie Berchem sagt, dieser Rückgang besorgniserregend ist;
denn dann erst würden wir auch zu . Mitteln und Möglichkeiten finden, wie wir diesen Rückgang stoppen bzw. ihn rückgängig machen können. Daß Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsfraktion, das gleichermaßen beurteilen und das letzten Endes auch so sehen, wird ja aus dem Entschließungsantrag, den der Ausschuß mit Mehrheit gefaßt hat, deutlich. Nur wissen Sie auch, daß diese zehnte Novelle zu diesem Thema keinen Beitrag leistet;
denn wenn Sie einmal die finanzielle Vorausschau ansehen, dann stellen Sie fest, daß die finanziellen Aufwendungen in den nächsten Jahren nach der mittelfristigen Finanzplanung nicht steigen werden, trotz höherer Einzelleistungen. Das heißt also, der Kreis derer, die gefördert werden, wird eher kleiner als größer. Das ist ein Punkt, für den es der geistigen Anstrengung dieses Parlamentes bedürfte.Nun will ich noch zu einem anderen Punkt kommen, der in Ihrem Entschließungsantrag steht. Sie wollen die Ausweitung dieses Förderungskreises geprüft wissen, und der Bundesregierung erteilen Sie einen Auftrag — ich sage das deshalb so, weil wir diesem Bereich nicht zustimmen werden, und ich erkläre jetzt warum —, darüber nachzudenken bzw. Modelle zu entwickeln für indirekte, insbesondere steuerliche Maßnahmen, für direkte Leistungen sowie für Anreize und Hilfe zu eigener Vorsorge oder zu einer Kreditaufnahme. Nun ist ja BAföG sowieso schon eine Kreditaufnahme bei den Studenten. Sie müßten mal sagen: Wollen Sie von der direkten Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz weg, wollen Sie also zu einer wie auch immer gearteten Mischförderung, oder wollen Sie zu einer steuerlichen Entlastung kommen, deren Wirkung Sie im allgemeinen kennen, die auch wir kennen, die wir aber nicht wollen, weil Sie damit möglicherweise mittlere und höhere Einkommen entlasten, aber die niedrigen nicht?
Das sind Punkte, weshalb wir nicht in der Lage sind, diesem Teil der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Boroffka?
Bitte.
Herr Kollege, wie wollen Sie angesichts der Tatsache, daß fast ein Viertel aller Studierenden älter als 27 Jahre alt sind und nach der geltenden steuerlichen Regelung mit Vollendung des 27. Lebensjahres sämtliche steuerliche Erleichterungen grundsätzlich wegfallen, für diesen Personenkreis mit steuerlichen Erleichterungen arbeiten?
Was Sie hier fordern, ist hinsichtlich der steuerlichen Leistungen so undifferenziert, daß diese Detailfrage, die Sie stellen, und über die aus meiner Sicht bei diesem Personenkreis durchaus zu diskutieren ist, hieraus überhaupt nicht erkennbar wird. Wenn Sie nur die über 27jährigen meinen, dann wäre es zweckmäßig gewesen, Sie hätten dieses auch in dieser Deutlichkeit hineingeschrieben. Sie haben aber nur allgemein von steuerlichen Entlastungen gesprochen; ich habe Ihren Antrag soeben zitiert.Nun will ich noch zu einem anderen Teil kommen, den auch Professor Dr. Berchem angesprochen hat. Wir benötigen angesichts der durch die Überlastung und Sparpolitik der Länder bedingten erheblich erschwerten Studienbedingungen mehr Flexibilität in der Förderungsdauer. Ich verstehe nicht, warum Sie sich auf diesem Felde so unendlich schwertun. Natürlich ist es so, daß Sie in einem ganz kleinen Bereich etwas nachlassen; aber wer sich von einer Zuschußregelung beim BAföG völlig abwendet und zu einer Darlehensregelung kommt, muß auch vom Grundsatz überlegen, ob damit alle Einschränkungen, die bei einer Zuschußregelung noch rechtens und notwendig sind, bei einer Darlehensregelung noch sozial vertretbar bleiben. Ich verstehe nicht, warum Sie hier so eng sind und nicht auf die allgemein geforderte Verlängerung der Zuschußmöglichkeiten bzw. der Darlehensgewährungen hier eingehen; denn das ist auch in Ihrem Antrag enthalten, weil Sie da wohl selber ein schlechtes Gewissen haben. Sie fordern die Bundesregierung jetzt auf, darüber nachzudenken; Denken kann nie falsch sein. Wir sollten nicht so tun, als ob wir nicht alle eine Lösung dafür wüßten. Es handelt sich hier im Grunde um die Verzögerung der Lösung eines Problems, das wir alle kennen, dessen Lösung wir alle bejahen; aber Sie wollen sich zumindest Zeit verschaffen. Da frage ich noch einmal: Wieviel Zeit wollen Sie sich schaffen? Bezogen auf die mittelfristige Finanzplanung wollen Sie also auf diesem Feld vor 1989 nichts tun; denn dafür sind in der mittelfristigen Finanzplanung keine Mittel enthalten.Nun räume ich Ihnen ja ein: Natürlich enthält diese Zehnte Novelle Verbesserungen;
das ist doch selbstverständlich. Ich würde auch nicht jede Novelle, die bisher gemacht worden ist — das trifft mich dann sogar ein bißchen persönlich — als Reparaturwerk bezeichnen. Sie ergibt sich einfach auch aus veränderten Zahlen, Lebenshaltungskosten usw.
— Zu Ihrem Zwischenruf: Das verstehe ich auch. Die Kollegin Odendahl ist auf diesem Felde noch etwas mehr im Stande der Unschuld als ich, der ich von Anfang an alle Novellen mit vertreten habe — fast so wie Herr Neuhausen, der immer dabei ist, wenn es darum geht, die Novellen zu vertreten. Insoweit räume ich Ihnen auch gern ein: Es kann nie-
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Vogelsangmand, auch keine Regierung, so schlecht sein, daß ihr nicht auch irgend etwas Gutes gelingt.
Das Wort hat die Frau Minister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Zehnte BAföG-Änderungsgesetz, das die Bundesregierung vorgelegt hat, ist vom Deutschen Bundestag zügig und gründlich beraten worden; damit sind die Weichen dafür gestellt, daß das Gesetz so rechtzeitig in Kraft treten kann, daß Schüler und Studenten mit dem nächsten Schuljahr bzw. mit dem nächsten Semester in den Genuß der Leistungsverbesserungen kommen. Dafür möchte ich den herzlichen Dank an das Hohe Haus zum Ausdruck bringen, allen Mitgliedern, insbesondere den Mitgliedern des federführenden Ausschusses und der mitberatenden Ausschüsse.
Ich begrüße auch ausdrücklich die inhaltlichen Verbesserungen, die das Gesetz auf dem parlamentarischen Weg erfahren hat. Insgesamt sieht der Gesetzentwurf nunmehr folgende Verbesserungen für Schüler und Studenten vor:
Erstens. Die Bedarfssätze und die Elternfreibeträge werden jeweils um rund 4% angehoben. Die Pauschalen für die soziale Sicherung werden angepaßt.
Zweitens. Das Studium im außereuropäischen Ausland wird künftig in gleichem Umfang wie in Europa gefördert.
Drittens. Die Förderung der Auslandspraktika wird erweitert.
Viertens. Die Gewährung des Kinderteilerlasses bei der Darlehensrückzahlung wird erleichtert.
Fünftens. Behinderten Studentinnen und Studenten wird künftig der Förderungsbetrag erlassen, den sie während einer behinderungsbedingten Verlängerung ihres Studiums erhalten haben.
Sechstens. Junge Ausländer, die hier aufgewachsen und in unser Bildungssystem integriert sind, können künftig auch nach Rückkehr ihrer Eltern in ihr Heimatland Förderung für eine weitere Ausbildung erhalten.
Siebtens. Verheiratete Schüler können auch dann gefördert werden, wenn von der Wohnung ihrer Eltern aus eine geeignete Ausbildungsstätte erreichbar ist.
Ich glaube, es wäre wirklich verfehlt, hier nur von Reparaturen zu sprechen. Hier sind echte Leistungen festgelegt, die den jungen Menschen ab sofort zugute kommen.
Nun hat jeder von uns sicher auch noch Wünsche. Aber die 10. BAföG-Änderung kann nicht alle Wünsche erfüllen.
Die Vorschläge, die die Oppositionsfraktionen gemacht haben, gehen weit über das Maß dessen hinaus, was finanzierbar ist. Insoweit sollten Sie hier keine Wolkenkuckucksheime errichten. Insgesamt machen die Forderungen der Oppositionsfraktionen 8,7 Milliarden DM aus.
Herr Kollege Vogelsang, die Forderungen der SPDFraktion machen nicht nur 140 Millionen aus, sondern Sie haben gefordert, den alten Zustand von 1983 wiederherzustellen, was die Schüler- und Studentenförderung angeht. Das macht 900 Millionen plus 140 Millionen, insgesamt also über eine Milliarde allein seitens der SPD-Fraktion.
Nun habe ich mir mal die Mühe gemacht — das interessiert einen ja —, zu ermitteln, was 8,7 Milliarden DM Mehrausgaben bedeuten würden. Der Bund übernimmt zwei Drittel, die Länder übernehmen ein Drittel. Das würde bedeuten, daß allein das Land Nordrhein-Westfalen 800 Millionen zusätzlich tragen müßte. Ich frage das Land Nordrhein-Westfalen, ob es sich überhaupt in der Lage sieht, angesichts seiner desolaten Finanzsituation so etwas zu finanzieren. Ich frage das auch deshalb, weil das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 1980 163 Millionen für die Schülerförderung nach dem BAföG ausgegeben hat und heute für die Förderung nach dem BAföG und die Landesförderung insgesamt 60 Millionen ausgibt. Ich glaube also, wir sollten hier auch die Bundesländer nicht über die Maßen in Anspruch nehmen und keine Forderungen stellen, die die Bundesländer gar nicht erfüllen könnten, ganz davon abgesehen, daß in Nordrhein-Westfalen die Bedarfssätze und die Freibeträge der landeseigenen Schülerförderung bislang auf dem Niveau von 1983 festgeschrieben sind und hier keine Änderung in Sicht ist.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön.
Bitte schön.
Frau Minister Wilms, würden Sie uns auch sagen, wieviel Geld das Land Nordrhein-Westfalen für außerbetriebliche Ausbildungsplätze ausgeben muß, weil die Bundesregierung in diesem Bereich ihrer Verantwortung nicht ausreichend nachkommt?
Ich würde das gern tun. Ich habe die Zahl nicht präsent. Ich reiche es gern schriftlich nach. Wir haben jetzt eine Diskussion über die Schülerförderung, und dazu habe ich Ihnen die amtlichen Zahlen vorgetragen.
Im übrigen: Die Kritik, die Anhebungen der Bedarfssätze und Freibeträge seien zu gering, vermag ich überhaupt nicht zu teilen. Denn man muß diese 4 % jeweils vor dem Hintergrund der Preisstabilität in unserem Land sehen.
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Bundesminister Frau Dr. Wilms
Dem Regierungsentwurf vom Dezember 1985 lag noch die Annahme zugrunde, daß die Lebenshaltungskosten 1986 um 2% steigen werden. Nun haben wir eine vollkommene Preisstabilität. Ja, der Preisindex ist im April sogar zurückgegangen. Daher habe ich kein Verständnis dafür, daß die Opposition — jedenfalls im Ausschuß — der Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge nicht zugestimmt hat, obwohl dies eine echte Verbesserung für die Familien, für die jungen Menschen ist. Ich sage noch einmal: Die Anhebung von Freibeträgen und Bedarfssätzen muß immer vor dem Hintergrund des Preis-Kosten-Index gesehen werden.
Ich begrüße nun auf der anderen Seite den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zur weiteren Entwicklung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes sehr. Er erkennt an, daß die soziale Grundsicherung — darauf lege ich Wert, Herr Kollege Vogelsang; Sie haben soeben danach gefragt — durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz gegeben ist, und so soll es auch bleiben.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstützt mich auch in dem Anliegen, das bereits in dem Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf 1984 ausgesprochen worden ist, nämlich Instrumentarien nach dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe für Familien mit mittlerem Einkommen" zu entwikkeln. Herr Vogelsang, damit hier überhaupt keine Gerüchte aufkommen: Das BAföG bleibt als eine Hilfe für die Familien mit niedrigem Einkommen bestehen. Es geht jetzt darum, darüber hinaus weitere Instrumente für die Familien mit mittlerem Einkommen zu entwickeln. Ich begrüße deshalb die Aufforderung des Parlaments an die Bundesregierung, hier weitere Überlegungen anzustellen. Ich werde Ende Juni ein Symposion zu diesen Fragen einberufen, auf dem wir auch die Frage des Bildungssparens, der Ansparförderung und der verschiedenen steuerlichen Modelle
miteinander beraten werden.
Es geht darum, die Familien mit mittlerem Einkommen in ihrer Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Finanzierung. der Ausbildung ihrer Kinder stärker zu unterstützen.
Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen auch für ihre Unterstützung eines besonderen hochschulpolitischen Anliegens der Bundesregierung, das bereits im Regierungsentwurf eines 10. BAföGÄnderungsgesetzes in der Begründung erwähnt wird, nämlich in der nächsten Legislaturperiode eine erweiterte Förderung von Qualifikations- bzw. Postgraduiertenstudiengängen aufzugreifen. Ich glaube, das ist ein Thema, das uns in der nächsten Legislaturperiode sehr nachdrücklich beschäftigen sollte, weil wir den jungen Menschen damit verbesserte Chancen einräumen können, auch nach ihrem ersten Examen weitere wissenschaftliche Fortbildung zu betreiben.
Ich möchte abschließend bemerken, daß das 10. BAföG-Änderungsgesetz erheblich zur Sicherung und Verbesserung der Lebenssituation von Schülern und Studenten in Zeiten stabiler Preise beiträgt. Dafür bedanke ich mich.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zuerst zur Einzelberatung und Abstimmung über Tagesordnungspunkt 4 a, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 10/5025.Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5480 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Änderungsantrag mit Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltungen abgelehnt.Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist die aufgerufene Vorschrift in der Ausschußfassung mit Mehrheit bei einer größeren Anzahl von Enthaltungen angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist mit Mehrheit bei einer großen Anzahl von Stimmenthaltungen angenommen.Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt unter Ziffer 2 und 3 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 10/5410 weiter die Annahme von Entschließungen. Wer diesen Entschließungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —Damit sind die Entschließungen mit Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltungen angenommen.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5462 ab. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt worden.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5481. Wer dafür zu stimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Entschließungsan-
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Deutscher Bundestag -- 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16667
Vizepräsident Westphaltrag ist mit Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltungen abgelehnt worden.Meine Damen und Herren zu Tagesordnungspunkt 4 b stelle ich fest, daß der Deutsche Bundestag den Sechsten Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache 10/4617 zur Kenntnis genommen hat.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Postverwaltungsgesetzes— Drucksache 10/4491 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 10/5414 —Berichterstatter:Abgeordnete Paterna Pfeffermann
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5458 vor. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5458 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.Wer dem Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist die aufgerufene Vorschrift in der Ausschußfassung mit Mehrheit bei einer großen Anzahl von Enthaltungen angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 4 sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen sind die aufgerufenen Vorschriften mit Mehrheit angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist mit großer Mehrheit bei einer Reihe von Enthaltungen angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 8 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenHedrich, Feilcke, Graf von Waldburg-Zeil,Dr. Pinger, Repnik, Frau Fischer, Höffkes, Dr. Hüsch, Dr. Kunz , Dr. Kronenberg, Dr. Pohlmeier, Schreiber, Borchert, Herkenrath, Sauter (Epfendorf), von Hammerstein, Dr. Hornhues, Eigen, Dr. Hoffacker, Sauer (Salzgitter), Schwarz, Dr. Olderog, Jagoda, Engelsberger, Kalisch, Frau Roitzsch (Quickborn), Jung (Lörrach), Hornung, Müller (Wesseling), Dr. Jobst, Weiß, Schmitz (Baesweiler), Dr. Faltlhauser, Sauer (Stuttgart), Frau Männle, Ganz (St. Wendel), Austermann, Dr. Schroeder (Freiburg), Ruf und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Rumpf, Schäfer , Dr. Feldmann, Ertl, Frau Seiler-Albring und der Fraktion der FDPÜberwindung von Hunger und Not in Afrika — Drucksache 10/5488 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenEine Aussprache ist in diesem Fall nicht vorgesehen. Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Drucksache 10/5488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 bis 8 und Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes— Drucksache 10/5449 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1986
— Drucksache 10/5450 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie zum Protokoll betreffend die Auslegung dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof in der Fassung des Überein-
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Vizepräsident Westphalkommens über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland— Drucksache 10/5237 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: RechtsausschußZusatzpunkt 2:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1987
— Drucksache 10/5406 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen HaushaltsausschußEs handelt sich um die erste Beratung von Gesetzentwürfen, die von der Bundesregierung vorgelegt worden sind.Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/5449, 10/5450, 10/5237 und 10/5406 an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unter-richtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1986 bei Kap. 30 05 Tit. 683 26 — Förderung von Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Kernbrennstoffversorgung —— Drucksachen 10/4686, 10/5076 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Müller AustermannZanderDr. Weng
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen, aber der Berichterstatter Dr. Müller hat sich als Berichterstatter gemeldet. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, als Berichterstatter für den Einzelplan des Ministeriums für Forschung und Technologie eine kurze Bemerkung zu dem Vorgang, um den es sich hier handelt, zu machen.
Von 1969 bis 1973 kaufte das damals zuständige Ministerium für Forschungsangelegenheiten drei Tonnen Natururan und gründete einen Betrieb gewerblicher Art „An- und Verkauf von Uran". Mit Hilfe dieses Betriebes wurden anschließend für die Bundesuranreserve in Hanau im Rahmen der Devisenausgleichsabkommen aus den USA bis Mitte der siebziger Jahre 200 t angereichertes Uran gekauft.
Da diese Einkäufe im Rahmen eines Gewerbebetriebes stattfanden, wurde Einfuhrumsatzsteuer vom Finanzamt erstattet. Seit zehn Jahren gibt es keine Geschäftsaktivitäten mehr. Das Uran lagert auf dem Bundesgelände Hanau und wird von der Nukem bewacht. Die letzte Betriebsprüfung 1975 ergab keine besonderen Vorkommnisse.
Nun ist aber das Finanzamt auf die Idee gekommen, daß eigentlich von Anfang an gar keine seib-ständige wirtschaftliche Tätigkeit und Gewinnerzielungsabsicht bestanden und damit die Merkmale eines Gewerbebetriebs nicht erfüllt sind und folglich auch die Einfuhrumsatzsteuer zu Unrecht erstattét wurde.
Es könnte auch der Versuch vorliegen, das Parlament über die wirklichen Kosten des Aufbaus einer Uranreserve durch einen steuerlichen Trick hinwegzutäuschen. Immerhin handelt es sich um 17,5 Millionen DM zusätzliche Fördermittel, die nun im nachhinein erzwungen werden.
Nach Darstellung der beteiligten Ministerien handelt es sich um einen rein finanztechnischen Vorgang. Der Aufbau der Bundesuranreserve in Hanau fand zunächst im Rahmen eines Gewerbebetriebes statt.
Mir kommt dieser Vorgang doch ein wenig merkwürdig vor. Schließlich kommt es beim Aufbau einer Reserve in aller Regel nicht zu größeren Geschäftsaktivitäten, schon gar nicht, wenn sie in öffentlicher Hand liegt.
Ich gebe zu bedenken, angesichts des Vorfalls von Tschernobyl, der gerade im Parlament behandelt worden ist, Finanztransaktionen, die mit diesem Uran etwas zu tun haben, genau zu beobachten und die Frage zu stellen, ob es eigentlich angängig ist, daß uns im nachhinein abgezwungen wird, bestimmten Finanztransaktionen zuzustimmen, die eindeutig dem Aufbau von Reserven angereicherten Urans dienen.
Die letzte Betriebsprüfung 1975 ergab keine besonderen Vorkommnisse, d. h. daß diese Aktivitäten nichts anderes mit sich gebracht haben, als daß hier mit einer Reserve spekuliert wird oder etwas im Vorbehalt gehalten wird, um überhaupt Atomkraftwerke weiter betreiben zu können.
Angesichts der unübersehbaren Schäden, die auch kleinste Pannen in dieser Technologie der Energieerzeugung durch Kernspaltung anrichten können, ist das Parlament mehr denn je aufgerufen, sein Budgetbewilligungsrecht gegen die übermächtige Ministerialbürokratie und den Primat der Politik gegen scheinbare finanztechnische Sachzwänge zu verteidigen, wie sie hier wieder einmal ins Feld geführt werden.
Ich empfehle deswegen, diesem Vorgang wegen Undurchsichtigkeit nicht zuzustimmen.
Danke schön.
Herr Abgeordneter, Sie haben sich als Berichterstatter zu Wort gemeldet.
Deutscher Bundestag - 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16669
Vizepräsident Westphal
Darf ich Sie fragen, ob Sie im Namen aller Berichterstatter gesprochen haben, oder war das Ihre persönliche Meinung?
— Sie sind der Hauptberichterstatter für den Einzelplan, aber es gab im Haushaltsausschuß keine gemeinsame Auffassung zu dieser Frage? — Darf ich fragen, ob die anderen Berichterstatter das Wort wünschen. — Das läßt sich nicht erkennen; es sind keine da.
Dann kommen wir zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/5076, von der Unterrichtung Kenntnis zu nehmen. Erhebt sich hiergegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Eine seltsame Verfahrensweise.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 1985
— Drucksache 10/5132 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß
In diesem Fall ist eine Aussprache nicht vorgesehen. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage an den Verteidigungsausschuß vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Frage, welche Verhandlungen mit ausländischen Staaten geführt worden sind, um die Gegenseitigkeit bei der Kostenübernahme für Dolmetscher und Übersetzer in der Arbeitsgerichtsbarkeit sicherzustellen
— Drucksachen 10/966, 10/4986 —
Berichterstatter:
Abgeordneter Cronenberg
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 10/4986 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung der Sammelübersicht 146 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/5385 —
Eine Aussprache- ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen in der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses angenommen.
Ich rufe Punkt 13 sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Vollständige Abschaffung der chemischen Waffen
— Drucksachen 10/2027, 10/4201 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Voigt Lamers
Schäfer
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Keine Modernisierung der chemischen Kampfstoffe der NATO
— Drucksache 10/5378 — Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Borgmann, Lange, Dr. Schierholz und der Fraktion DIE GRÜNEN
Zustimmungsverweigerung zu neuen chemischen Waffen
— Drucksache 10/5461 — Zusatzpunkt 4:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Chemische Waffen
— Drucksache 10/5464 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Beratung des Punktes 13 sowie der Zusatzpunkte 3 und 4 der Tagesordnung und eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. — Dann ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung oder zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt dem Bundeskanzler sehr für die Verabredung, die er in Tokio mit dem amerikanischen Präsidenten über den Abzug der in der Bundesrepublik Deutschland lagernden chemischen Waffen getroffen hat. Sie ist in der Tat, wie die
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16670 Deutscher Bundestag - 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Lamers„Süddeutsche Zeitung", ein Blatt, das nicht a priori der Bundesregierung Lobgesänge spendet, schreibt, ein bedeutender außenpolitischer Erfolg. Diesen großen Erfolg haben einige Kollegen aus meiner Fraktion maßgeblich vorbereitet. Das gilt zunächst für Alfred Dregger, unseren Fraktionsvorsitzenden, der sein ganzes Gewicht in das Engagement des Kollegen Todenhöfer, der sich wie kein zweiter in dieser Frage engagiert, eingebracht hat. Ich möchte ihnen, diesen Kollegen, deswegen auch im Namen der Fraktion herzlich danken.
Sie haben recht behalten mit ihrem Optimismus, und sie haben recht behalten, daß die USA ihr Wort halten würden.
Das Ergebnis ist: Die alten Waffen kommen weg, und neue werden an ihrer Stelle in der Bundesrepublik Deutschland nicht gelagert.Meine Damen und Herren, jedem muß klar sein, die Annahme des SPD-Antrages würde hingegen bedeuten, daß die alten Bestände weiter hier blieben.Ebenso gut wie richtig ist die ins Auge gefaßte Regelung für den Eventualfall, falls sich die USA entscheiden, ihr C-Waffenpotential zu modernisieren. Das ist und bleibt notwendigerweise eine nationale Entscheidung der USA. Dazu steht nicht im Gegensatz, wenn die Bundesregierung im Rahmen der NATO dem Streitkräfteziel zustimmt, nachdem die USA 1987 bis 1992 binäre chemische Waffen verfügbar machen. Entscheidend ist, daß diese Waffen nicht in der Bundesrepublik gelagert werden und daß ihre zeitweilige Verbringung im Eventualfall nur auf Grund umfassender politischer Konsultationen in der NATO, nur bei Sicherstellung breiter Beteiligung der Bündnispartner, so daß nicht mehr nur ein einzelnes Land betroffen ist, wie das jetzt für die Bundesrepublik Deutschland zutrifft, und vor allem nur mit Billigung und auf Bitten der Aufnahmeländer erfolgen kann. Mit anderen Worten: Über unsere Köpfe hinweg kann nichts geschehen.Schlicht gesagt, meine Damen und Herren: Das ist die denkbar beste Lösung. Sie ist die Frucht des Vertrauens, das der Bundeskanzler im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten wiederbegründet hat.
Vor diesem Hintergrund ist die Zustimmung der Bundesregierung zu dem amerikanischen Streitkräfteziel nicht nur möglich, sondern auch erforderlich. Sie ist einmal aus Gründen militärischer Sicherheit erforderlich. Chemische Waffen haben lediglich die Aufgabe, einen möglichen Aggressor von einem völkerrechtswidrigen Ersteinsatz solcher Waffen abzuschrecken. Diese Funktion ist in dem NATO-Dokument MC 14/3 geregelt. Dieses Dokument haben frühere Bundesregierungen niemals in Frage gestellt. Insofern, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist die Behauptung in Ihrem Antrag schlicht falsch, frühere Bundesregierungen hätten die Haltung vertreten, daß die NATO chemische Waffen zur Implementierung der NATO-Strategie nicht brauche.Der jetzt in der NATO anstehende Beschluß ist aber auch aus abrüstungspolitischer Sicht notwendig. Ziel bleibt die vollständige Abschaffung aller chemischen Waffen auf der ganzen Welt. Auf die Dringlichkeit dieses Ziels weisen unsere Anträge noch einmal nachdrücklich hin. Es gibt dazu keine vernünftige und realistische Alternative.Zu seiner Erreichung wäre es aber falsch, auf den jetzt in der NATO anstehenden Beschluß zu verzichten. Das beweist die ganze Geschichte der Abrüstungsverhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion, und das beweist vor allem die traurige Tatsache, daß der einseitige Verzicht der USA - sie verzichten seit 1969 auf jegliche Produktion von chemischen Waffen - von der Sowjetunion nicht nur nicht mit einem ebensolchen Verzicht honoriert worden ist, sondern im Gegenteil mit einer beängstigenden chemischen Aufrüstung beantwortet wurde.
Die Parallele zur Situation im Bereich der Mittelstreckenraketen in Europa ist auffallend: Solange die Sowjetunion allein solche Waffen stationiert hatte, war sie zu keinem auch nur halbwegs verhandlungsfähigen Angebot bereit. Erst nachdem der Westen den zweiten Teil des NATO-Doppelbeschlusses realisiert hatte, unterbreitete Generalsekretär Gorbatschow den verhandlungsfähigen Vorschlag einer immerhin europäischen Null-Lösung, und er ging damit weit über das hinaus, was Sie, meine Damen und Herren von der SPD, zuvor der Sowjetunion einseitig zuzugestehen bereit waren.Man hätte nun annehmen können, die SPD hätte aus dieser für sie bitteren und peinlichen Erfahrung gelernt, aber das Gegenteil ist der Fall, meine Kolleginnen und Kollegen, und das zeigt der vorliegende Antrag der SPD. Dabei schien es übrigens noch im Dezember des vergangenen Jahres so, als wäre das Gebiet der chemischen Abrüstungspolitik zwischen sozialdemokratischer Opposition und Koalition eines der wenigen gemeinsamen.Warum also haben Sie diese gemeinsame Position verlassen, weshalb haben Sie, Herr Kollege Voigt, die unglaubliche Behauptung aufgestellt, der Bundeskanzler habe in der Pressekonferenz vom 11. April die Unwahrheit gesagt?
Warum haben Sie behauptet, die Bundesregierung rede hier anders als in Washington, ohne auch nur den Schatten eines Beweises für diese Behauptung zu haben?
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16671LamersIch fordere Sie wirklich auf, diese Behauptung in aller Form zurückzunehmen!
Die jetzt vorliegende Regelung widerlegt Sie nachdrücklich. Sie sagen die Unwahrheit, wenn Sie so tun, als gäbe es keinen Unterschied zwischen einer Stationierung und einer Verbringung im Eventualfall, und Sie tun deswegen so, weil Sie auch dieses Thema zu einer Wahlkampfmunition zurechtbiegen wollen. Das wird Ihnen nach dem jetzt vorliegenden Ergebnis ganz gewiß nicht gelingen.Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Grund für Ihren Positionswechsel. Laut einer ap/ADNMeldung vom 30. April ist die gemeinsame Arbeitsgruppe von SPD und SED zu der Auffassung gelangt, daß die Produktion neuartiger amerikanischer C-Waffen und ihre mögliche Stationierung in Europa vermieden werden müssen. Wohin sind die deutschen Sozialdemokraten abgeirrt, wenn sie sich gemeinsam mit der SED gegen moderne chemische Waffen der USA wenden, aber bei dieser Gelegenheit kein Wort gegen die bereits in der DDR gela gerten oder aus der Sowjetunion dorthin zu verbringenden Waffen dieser Art vorbringen?
Natürlich weiß ich, daß sich die SED mit Rücksicht auf die Sowjetunion so nicht äußern kann, selbst wenn sie so denken sollte; aber zeigt das nicht die ganze Problematik Ihrer Neben- und Als-ob-Außenpolitik?
Nicht daß Sie, meine Kollegen, mit der SED sprechen - das tun wir selbstverständlich auch —, sondern daß die Sie mit ihr verhandlungsähnliche Beziehungen pflegen, die Kommuniqués und andere Ergebnisse zeitigen, die sich fast unvermeidlicherweise gegen die Politik der NATO und vor allem der USA richten, das ist der Vorwurf. Dessen Berechtigung wird durch den jetzt vorliegenden Fall erneut und eindrücklich bestätigt.Das sind die unseligen Folgen dieser Pseudo-Außenpolitik, die Sie betreiben und die auch die trügerische Sumpfblüte der chemiewaffenfreien Zone Europa hervorgebracht hat, die sich in Ihrem Antrag wiederfindet.Dann entnehme ich einer ADN-Meldung vom 13. dieses Monats, daß die Kollegen Bahr und Voigt gemeinsam mit den Vertretern der SED und der tschechischen KP die Gespräche über die C-Waffenfreie Zone fortsetzen und diese auch erweitern wollen. Als ich diese Meldung las, erinnerte ich mich an den Ratschlag der Berater von Johannes Rau, diese Gespräche während der Wahlkampfzeit nicht weiterzuführen. Der Vorgang zeigt also, welche Rolle der Kanzlerkandidat der SPD spielt, wenn man nicht einmal mehr glaubt ihm zuliebe taktische Rücksichtnahme üben zu müssen.Sie haben oft gehört, welche Einwände wir gegen die Zonenkonzepte aus sicherheitspolitischer Sicht haben; ich will sie hier nicht im einzelnen wiederholen. Wie die Geschichte der INF-Abrüstungsverhandlungen nahelegt, ist es jedenfalls notwendig und richtig, wenn die USA jetzt den Beschluß zur Modernisierung chemischer Waffen fassen und gleichzeitig ihren Abrüstungsvorschlag von 1984 mit Nachdruck weiterverfolgen.
Der zeitlich gestaffelte, vom Umfang und von den Modalitäten her sehr maßvolle Modernisierungsplan verstärkt den auf der Sowjetunion liegenden Druck der Verantwortung für einen alsbaldigen Erfolg in Genf. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den einzelnen jetzt vorgesehenen Modernisierungsschritten der USA und dem Verhandlungsprozeß in Genf. Es liegt allein an der Sowjetunion, all diese Entscheidungen alsbald zu Makulatur werden zu lassen. Ob sie das so schnell wie wünschenswert tatsächlich tun wird, ist nach den Erfahrungen, die wir mit den vielversprechenden Ankündigungen von Generalsekretär Gorbatschow vor allem zur Verifikationsfrage gemacht haben, leider fraglich.Ich stelle hier nicht auf Tschernobyl ab, aber es heißt nicht, eine antisowjetische Keule schnitzen, wenn ich feststelle, daß die Informationspolitik der Sowjetunion nicht eben eine vertrauensbildende Maßnahme gewesen ist.
Ich wünsche inständig, daß dieses große Unglück diejenigen Kräfte in der sowjetischen Führung stärkt, welche die von Generalsekretär Gorbatschow versprochene größere Offenheit wirklich wollen. Ich wünsche von Herzen, daß sich das auch bald auf die von ihm oftmals in Aussicht gestellte Bereitschaft zur wirklichen Kontrolle von Abrüstungsschritten auswirkt.Leider — und darauf will ich abstellen — ist dies in zwei erst ganz kurz zurückliegenden Fällen überhaupt nicht der Fall gewesen. Der eine Fall betrifft die Wiener MBFR-Verhandlungen. Hier hat die Sowjetunion den westlichen Vorschlag vom Dezember, der ihr weit -- nach der Ansicht mancher zu weit -- entgegenkam, in einer Weise beantwortet, die selbst von den Kollegen der GRÜNEN als tief enttäuschend empfunden wurde. Der entscheidende Punkt ist die sowjetische Ablehnung eines unbedingt notwendigen Maßes an Kontrolle und — fast noch schlimmer — ihre Weigerung bezüglich eines Rechts auf Kontrolle. Wir werden sehen, ob sich die Andeutungen von östlicher Seite, das sei noch nicht das letzte Wort gewesen, bewahrheiten.Der zweite Fall von Ernüchterung ist die Konkretisierung der von Generalsekretär Gorbatschow groß angekündigten Initiative zur Abrüstung der chemischen Waffen. Was hierzu am 22. April von sowjetischer Seite vorgetragen wurde, ist eine veritable Enttäuschung. Die sieben Punkte von Botschafter Issraelyan betreffen im wesentlichen technische Randprobleme und keine Substanzfragen. Im wesentlichen ist der Zerstörungsvorgang chemischer Produktionsstätten angesprochen. Die hier
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Lamersvorgeschlagenen Kontrollen sind unbefriedigend. Vor allen Dingen ist keine Rede von einer ständigen internationalen Überwachung des ganzen Zerstörungsvorgangs.In Ziffer 7 wird die Verifikation künftiger Nichtproduktion von Chemiewaffen in der Zivilindustrie überhaupt nicht erwähnt. Ein Recht auf Verdachtskontrolle vor Ort wird von der Sowjetunion nach wie vor abgelehnt.So wird hier ein weiteres Mal deutlich, was auch in Wien erkennbar war: Die Sowjetunion macht bescheidene, in der Regel höchst bescheidene Angebote zur Kontrolle der Durchführung von Abrüstungsergebnissen. Zur Kontrolle ihrer Einhaltung ist sie hingegen nicht bereit. Wie soll da Vertrauen wachsen?Nehme ich hinzu, daß der sowjetische Vertreter seine Vorschläge zunächst der Presse übermittelte und sie mit heftigen Attacken gegen die USA versah, dann ist dem Verdacht, daß auch auf dem Feld der chemischen Abrüstung die Psychostrategie dem ernsthaften Bemühen um Abrüstung übergeordnet ist, nur schwer zu entkommen. Aber ich sage nachdrücklich: Ich möchte diesem Verdacht gern entkommen, und meine Feststellungen sind kein endgültiges Urteil. Dafür ist es zweifelsfrei zu früh. Aber es hilft nichts, die Dinge beim Namen zu nennen.Die Vorstellung, man könne im Westen leicht Erfolge ohne entsprechende Gegenleistungen erringen, schwächt diejenigen in der Sowjetunion, die wirklich von der Notwendigkeit einer neuen Sicht der Dinge, wie Generalsekretär Gorbatschow sagte, überzeugt sind. Wir müssen zuvor, glaube ich, Klarheit darüber gewinnen, ob diese Sicht denn wirklich in der Substanz neu ist oder nur eine neue wirkungsvolle Verpackung für eine alte und unverkäufliche Sache. Abrüstung darf nicht zu Lasten der Sicherheit der einen oder der anderen Seite gehen. Sie muß der Sicherheit dienen.Meine Fraktion, meine sehr verehrten Damen und Herren, tritt mit Nachdruck dafür ein, daß wir die sowjetischen Vorschläge nach wie vor mit langem Atem, mit viel Geduld und mit viel Nachdruck auf ihre Substanz hin überprüfen. Die Bundesregierung sollte sich auch von dem jüngsten sowjetischen Vorschlag in Genf nicht entmutigen lassen.Aber wir treten mit Nachdruck auch dafür ein, daß in der Zwischenzeit das Notwendige getan wird. Der lange Atem, den wir haben, meine Freunde, wird uns dazu befähigen, auch in Genf Erfolge zu haben. Es ist gut, daß dieser lange Atem nicht von einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung aufgebracht werden muß; denn Sozialdemokraten haben keinen langen Atem mehr, weil sie atemlos hinter jedem abrüstungspolitischen Irrlicht herlaufen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
In diesen Tagen wird über die Voraussetzungen entschieden, ob es zu einer neuen Runde der Rüstung mit einer neuen Art chemischer Waffen kommt. Die neuen, sogenannten binären chemischen Waffen unterscheiden sich von den alten dadurch, daß sie wirksamer sind, daß sie giftiger sind, wenn sie benutzt werden, daß Lagerung und Transport einfacher und weniger gefährlich sind, daß sie leichter zu zerstören sind als die alten und daß ihr Vorhandensein schwerer zu kontrollieren ist. Ihre militärische Anwendbarkeit wäre variabler, ihre Lagerung bedürfte nicht der besonderen Sicherheitsmaßnahmen, die heute in Ost und West für chemische Kampfstoffe nötig sind. Kurz, die neuen binären Waffen liegen ganz auf der Linie jener irregeleiteten Tendenz, Menschen wirksamer töten zu können, die Mittel dazu raffinierter zu machen und ihre Beherrschung zu erschweren.
Von der Miniaturisierung der Atomwaffen über die Neutronenbombe bis zu den neuen binären Waffen führt jene irregeleitete menschliche Logik,
die uns erklärt, wir wollen mehr Sicherheit, aber wir produzieren immer neue Unsicherheit.
Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik trägt die Bundesregierung eine Mitverantwortung für eine neue Rüstungsspirale. Denn zum erstenmal hat der amerikanische Kongreß seine Entscheidung über die Produktion der neuen Waffen von europäischer Zustimmung abhängig gemacht.Zwei Voraussetzungen hat der Kongreß formuliert:Erstens. Die Mitglieder der NATO müssen ein sogenanntes Streitkräfteziel beschließen, durch das sie diese neuen Waffen für nötig erklären.Zweitens. Es muß einen Plan dafür geben, wie diese Waffen gegebenenfalls nach Europa gebracht werden.Nun legt die Bundesregierung Wert auf die Ansicht, daß die eigentliche Entscheidung zur Produktion dieser neuen Waffen eine amerikanische bleibt. Das ist juristisch richtig, politisch falsch. Im bürokratischen Sinne kann der Kongreß eine solche Entscheidung ablehnen, selbst wenn die Europäer zustimmen. Aber diese naive Haltung wäre politische Spiegelfechterei. Der Versuch, die Verantwortung wieder über den Ozean zurückzuschieben, kann nicht gelingen. Es ist kein Zweifel: Wenn die Bundesregierung dieses Streitkräfteziel ablehnt, über das heute oder morgen entschieden werden soll, dann wird der Kongreß kein grünes Licht für die Produktion neuer binärer Waffen geben.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16673BahrDie Bundesregierung kann dieser Verantwortung nicht entfliehen. Wenn die Bundesregierung auf ihr Vetorecht verweist, was die Stationierung angeht, warum macht sie nicht von dem Vetorecht Gebrauch, wenn es um die Produktion geht?
Unvergleichbar zu den Mittelstreckenraketen ist unser Ja oder Nein nicht nur entscheidend für die Stationierung, sondern auch für die Produktion.Ich stelle fest: Die Bundesregierung hat ja gesagt. Sie hat von der Möglichkeit des Nein keinen Gebrauch gemacht. Sie hat damit auch Verantwortung für die Folgen zu tragen.
Bisher ist noch niemals die Produktion einer neuen Waffe nur einer Seite vorbehalten geblieben. Das Mitglied des Politbüros der SED Hermann Axen hat vor zwei Tagen in Prag von einer Rüstungsspirale gesprochen, die neu in Gang gesetzt werden könnte. Von der Möglichkeit, daß auch die Sowjetunion neue binäre Waffen produziert — leichter zu lagern, schwerer zu kontrollieren —, spricht die Bundesregierung nicht. Daß es eine Antwort der östlichen Seite geben kann, hat die Bundesregierung entweder nicht bedacht, oder sie verschweigt unserer Bevölkerung neue Risiken.
Es ist ohnehin bemerkenswert, daß das deutsche Ja zum Streitkräfteziel, vom Bundeskanzler dem amerikanischen Präsidenten in Tokio gegeben, ohne jede parlamentarische Beratung erfolgt ist. Es gab auch keine Ankündigung, auch nicht in den zuständigen Ausschüssen. Der Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle ist entgegen seiner einstimmigen Bitte, nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, gestern abend erstmals von den vollendeten Tatsachen unterrichtet worden.
Das ist ein neues Beispiel dafür, wie begrenzt die Achtung der Regierung vor dem Parlament ist.
Nun hat die Bundesregierung in allen Zeitungen nachlesbar einige Journalisten schon früher von ihrem Erfolg informiert, daß die amerikanischen alten chemischen Waffen bis zum Jahre 1992 aus der Bundesrepublik abgezogen werden sollen. Der Abzug der alten chemischen Waffen, die Beendigung des unannehmbaren Zustands, daß unter allen westeuropäischen NATO-Staaten allein in der Bundesrepublik amerikanische chemische Waffen gelagert sind, ist von allen Fraktionen dieses Hauses gewünscht worden. Daß dies nun geschehen soll, ist deshalb auch aus unserer Sicht zu begrüßen. Es wird Zeit, daß wir sie loswerden.
Aber wir sollen sie nur unter der Bedingung loswerden, daß wir der Produktion neuer zustimmen. Inkeinem Zusammenhang ist die Verantwortung der Bundesregierung für die Produktion der neuen so klar. Die alten gehen nur weg, wenn wir ja zu neuen sagen.
Aus diesem Ja will die Bundesregierung ein verhülltes Nein machen. Noch gibt es nicht die Planung, untér welchen Umständen die neuen Waffen nach Europa gebracht werden. Aber selbst dann würde dies nur erfolgen, wenn es eine breite Beteiligung anderer europäischer Verbündeter gäbe und wenn die Bundesregierung ihrerseits ihren Willen zur Verbringung ausdrücklich erklärt. Das ist praktisch ein Vetorecht.Nun sehe ich weit und breit keine europäische Regierung, die sich nach chemischen Waffen drängt. Im Gegenteil: In einer Zusammenkunft mit westeuropäischen sozialdemokratischen Partnern und Parteien am vergangenen Wochenende in Amsterdam wurde klar — wir machen das nicht nur nach Osten, sondern auch nach Westen, Herr Kollege Lamers —, daß kein Land diese Waffen haben will. Die konservativ geführten Regierungen von Dänemark und den Niederlanden haben schon erklärt, daß sie auch das Streitkräfteziel ablehnen,
geschweige denn der Stationierung zustimmen. Wir kümmern uns um Fragen der europäischen Sicherheit und diskutieren darüber sowohl mit westlichen Freunden wie mit östlichen Partnern. Das kann man von der Bundesregierung nicht sagen.
Sie hat sogar versäumt, einen gemeinsamen europäischen Standpunkt in der Allianz herbeizuführen.
Was bedeutet diese Lage gegenüber unserem Hauptverbündeten? Wir haben alle beklagt, gerade nach den Anschlägen der amerikanischen Luftwaffe gegen Libyen, in welcher Weise Sorgen und Gefühle der amerikanischen, der deutschen und der europäischen Bevölkerung auseinandergehen. Jetzt kann das gleiche noch einmal passieren. Diesmal läge die Schuld bei Europa.Was meine ich damit? Das europäische Ja zur Produktion wird mit einem europäischen Nein zur Stationierung verbunden. Amerika soll die Waffen produzieren, aber jedenfalls nicht dorthin bringen, wo allein sie benötigt würden. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!
Das ist Unlogik, wenn man es milde sagt, Feigheit, wenn man es offener formuliert.
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16674 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
BahrAufrichtiger wäre das Veto gegen die Produktion und nicht erst das Veto gegen die spätere Stationierung.
Die sozialdemokratische Fraktion macht sich nicht mitschuldig an der Irreführung unserer amerikanischen Kollegen. Wir sagen ihnen: Mit der Stationierung im Frieden ist nicht zu rechnen. Die Bundesregierung will wirklich von ihrem Vetorecht Gebrauch machen. Sie will wirklich Abzug und nicht Austausch. Eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung würde sogar erklären, daß das deutsche Veto verläßlich und sicher ist.
Niemand darf daran zweifeln, daß bei einer solchen Haltung der Bundesrepublik kaum ein anderer Staat eine andere Haltung einnehmen würde.
Die Bundesrepublik hat eine Schlüsselposition, auch eine Schlüsselverantwortung.
Lassen Sie uns einen Blick auf den von der Bundesregierung erwünschten herbeizuführenden Zustand werfen: Die alten amerikanischen Waffen gehen weg, neue kommen in Friedenszeiten nicht her. Da wir auf Frieden auch nach dem Jahre 1992 hoffen, entsteht dann folgende Lage: Es gibt eine chemiewaffenfreie Mini-Zone in Europa, die allein aus der Bundesrepublik Deutschland besteht. Die sowjetischen chemischen Waffen östlich unserer Grenze bleiben, wo sie sind. Alle Vorwürfe, die gegen unser Modell einer chemiewaffenfreien Zone in Europa erhoben worden sind — Kollege Lamers hat soeben noch einmal daran erinnert —, hat jedenfalls die Bundesregierung als Unsinn entlarvt. Dafür sind wir der Bundesregierung auch besonders dankbar. Es ist eben Unsinn, daß wir auf alle Fälle amerikanische Waffen hier brauchen, solange es sowjetische auf der anderen Seite gibt. Wir brauchen keine amerikanischen chemischen Waffen hier,
auch wenn es auf sowjetischer Seite sogar viel mehr gibt. Wir haben doch gehört: zehnmal mehr. Trotzdem brauchen wir keine amerikanischen bei uns. Das ist doch nun klar. Unsere Sicherheit wird nicht gefährdet, wenn es diese Waffen nur in Amerika gibt. Das ganze Gequatsche um die regionale Unsicherheit, wie schrecklich es ist, wenn amerikanische Waffen hinter den Ozean verschwinden und sowjetische nur in die Sowjetunion zurückgezogen werden, hat sich eben als Gequatsche entlarvt.
Die neue Erkenntnis der Bundesregierung stimmt nämlich, daß nicht in Kilometern zu messen ist, sondern in Zeitstunden, die nötig wären, um Waffen wieder dorthin zu bringen, wo sie benutzt werden sollen. Und das sind eben auf beiden Seiten nur wenige Stunden. Aber nicht einmal dieses Gleichgewicht ist neuerdings nötig. Die amerikanischen Waffen gehen über den Ozean, die sowjetischen gehen nicht in die Sowjetunion, sondern sie bleiben unmittelbar östlich unserer Grenze. Dies ist nicht die Haltung blauäugiger, unsicherer, weicher, gutgläubiger -Sozialdemokraten, sondern das ist die Haltung der Bundesregierung und wird uns hier als Erfolg dargestellt unter dem Motto: Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern?
Die Einwände gegen eine regionale Lösung sind ad absurdum geführt. Mehr noch: Die sozialdemokratische Alternative, unser Modell einer chemiewaffenfreien Zone in Mitteleuropa, bekommt neuen Auftrieb. Es ist wirklich besser, daß eben auch sowjetische chemische Waffen aus unserer Nachbarschaft im Osten verschwinden.
Ich habe übrigens keinen Zweifel, daß andere Regierungen in Ost und West zu gegebener Zeit bereit sein würden, Verpflichtungen zu übernehmen, daß auch auf ihrem Boden keine chemischen Waffen gelagert werden. Der Appell, den Vertreter unserer Bundestagsfraktion, der SED und der KPC vorgestern in Prag veröffentlicht haben, zeigt einen realistischen Weg für mehr Sicherheit in unserem europäischen Haus.Die Alternative zwischen der Haltung der SPD und der Bundesregierung ist heute auf diesem Gebiet klar: Wir wollen keine chemischen Waffen in Ost wie in West, und zwar für immer. Die Bundesregierung hält sich durch ihre einseitige Maßnahme die Tür für die Wiederkehr offen, und Herr Rühe ist sogar noch stolz darauf. Zeitweilig einseitig Nein gegen ein klares Ja für immer auf beiden Seiten, das ist unsere Alternative.
Bei der zu wählen wird unserer Bevölkerung nicht schwerfallen, auch nicht den Menschen in unseren Nachbarländern.Hierzu kommt eine grundsätzliche Kritik an der Politik der Bundesregierung. Wir haben gestern über Tschernobyl diskutiert. Wir haben von Tschernobyl gelernt, daß die Ergebnisse einer atomaren Katastrophe Kommunisten und Kapitalisten, Frauen und Männer, Junge und Alte, Arme und Reiche gleichermaßen treffen können. Wir haben erlebt, daß wir im europäischen Haus in gemeinsamer Unsicherheit leben, wenn etwas passiert, das nicht passieren durfte und angeblich auch nicht passieren konnte.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16675BahrDer Bundesaußenminister hat heute früh in einem Interview die konstruktiven Seiten der gestrigen Erklärung des sowjetischen Generalsekretärs herausgearbeitet, und ich stimme ihm ausdrücklich zu; auch als er von der Überlebensgemeinschaft und der notwendigen Erkenntnis sprach, daß man nur gemeinsam und in Partnerschaft die Vorkehrungen treffen kann, um Sicherheit zu erreichen. Tausend Bomben, tausend Tschernobyls, das wäre gemessen an den vorhandenen Arsenalen ein sehr kleiner, begrenzter atomarer Krieg. Die Folge wäre mehr als die Zerstörung der Bundesrepublik und der DDR. Niemand in unserem europäischen Haus könnte sich verstecken, auch nicht die Neutralen.Wenn zwischen der Bundesregierung und der sowjetischen Führung im Prinzip Einigkeit darüber besteht, daß aus Tschernobyl lernen heißt, gemeinsame Sicherheitsvorkehrungen zu organisieren, und der Bundeskanzler gestern sogar voller Stolz von einem entsprechenden Schritt in Moskau berichtet hat, warum dann nicht auch auf dem viel gefährlicheren Gebiet der Waffen?
Warum gibt es keinen Brief des Bundeskanzlers an den sowjetischen Generalsekretär, der eine Zusammenkunft vorschlägt, um zu verhindern, daß auf beiden Seiten ein neues Rennen um neue chemische Waffen beginnt?
Bei aller Anerkennung, daß wir die alten amerikanischen Waffen hier los werden, wäre es doch wichtiger, nicht nur, daß wir auch die alten sowjetischen loswerden, sondern daß die Produktion der neuen auf beiden Seiten verhindert wird.
Es ist schon bewiesen, daß einseitige Schritte nicht mehr Sicherheit schaffen. Die Bundesregierung setzt die falsche Politik einseitiger Rüstungsmaßnahmen fort.Dabei untergräbt sie ihre eigene Hoffnung,
nämlich den Erfolg der Genfer Abrüstungsverhandlungen zur weltweiten Ächtung chemischer Waffen. Ich habe schon gesagt, daß die neuen Waffen schwerer zu kontrollieren sind. Präziser: Keine der bisherigen Überlegungen der Experten hat zu einem westlichen Lösungsansatz geführt oder zu einer Verhandlungsgrundlage, wie die neuen Waffen in einem Rüstungskontrollabkommen beherrschbar würden. Wenn heute der Durchbruch in Genf erfolgte und ein Abkommen geschlossen würde und alle westlichen Kontrollvorschläge akzeptiert würden, dann müßte man morgen von neuem anfangen, wenn es morgen neue binäre Waffen gäbe.Nun ist klar, wenn es morgen einen Erfolg in Genf gibt, wird der Kongreß in Washington die Genehmigung zur Produktion neuer Waffen nicht mehr geben. Aber die Hoffnung der Bundesregierung auf einen Erfolg in Genf, bevor die neuen binären Waffen zusammengebaut werden, kann diese Verhandlungen auch erschweren und nicht erleichtern; denn die Frage der Kontrolle der alten Waffen hat Jahre gebraucht — sie ist noch immer ungelöst —, und die Lösung der schwierigen Frage der Kontrolle der neuen Waffen kann wieder Jahre brauchen. Der Beschluß zur Produktion neuer chemischer Waffen kann sich als Beschluß zur Torpedierung von Genf erweisen, und ich gestehe offen, daß meine Hoffnungen sich stärker auf Vernunft und Weitsicht des amerikanischen Kongresses richten als auf die meiner eigenen Regierung und stärker auch auf die Haltung unserer anderen europäischen NATO-Verbündeten. Ein Nein zu dem Streitkräfteziel wäre ein Nein zur Produktion neuer chemischer Waffen, und dies wäre, was Politik, Sicherheit und Rüstungskontrolle angeht, richtig.Die Vereinten Nationen haben das Jahr 1986 zum Jahr des Friedens erklärt. Der Beitrag der Bundesregierung besteht bisher darin, daß sie ja sagt zu SDI, ja sagt zu neuen chemischen Waffen und die Entwicklung neuer Waffensysteme gegen Raketen und Marschflugkörper plant.
Es ist wohl nicht übertrieben, wenn man es als die ernsthafte Politik dieser Bundesregierung bezeichnet: Frieden schaffen mit immer mehr Waffen.
Man kann für diese Politik argumentieren. Aber sie ist jedenfalls das Gegenteil von dem, womit diese Regierung angetreten ist.
Nicht neue chemische Waffen, sondern die Befreiung unseres Kontinents von den vorhandenen, das ist die Aufgabe, und das ist die reale Möglichkeit.
Es ist das bekannte Lied: Mit neuen Waffen werden wir die alten los; neue Waffen bringen mehr Sicherheit; neue Waffen fördern die Verhandlungen; neue Waffen sind geeignet, alte Waffen loszuwerden; zur Abrüstung brauchen wir erst Aufrüstung — wer glaubt eigentlich noch daran?
Jetzt wird eine neue Strophe zum alten Lied gedichtet; sie wird genauso falsch sein wie bisher. Wir haben es einfach satt, immer neue Gründe für neue Waffen zu hören.
Es muß einmal Schluß sein. Ein Anfang muß gemacht werden. Es muß einmal nein gesagt werden praktisch zum Streitkräfteziel, hinter dem dann wieder nur der Expertenstreit über die beste, perfekteste, unkomplizierteste Durchführung erfolgt.Stefan Zweig hat geschrieben: „Es muß einer den Frieden beginnen, wie einer den Krieg." Das ist wirklich am einfachsten bei den schrecklichsten Vernichtungswaffen, den chemischen. Die Chance16676 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986Bahrdazu ist noch nicht vertan. Unser Antrag ist ein Schritt dazu.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor der Kollege Bahr seine Ausführungen begann, bin ich von der Hoffnung ausgegangen, daß über der Debatte des heutigen Tages ein gemeinsames Motto stehen könnte, nämlich das Motto der weltweiten Ächtung und des überprüfbaren Verbots der Herstellung, Lagerung und Entwicklung chemischer Waffen. Ich wäre sehr froh gewesen, wenn das, was wir jetzt erreicht haben, Herr Kollege Bahr, in Ihren Ausführungen etwas deutlicher zum Ausdruck gekommen wäre. Ich will hier gar nicht zitieren, etwa aus Unterlagen, die Ihnen und mir zur Verfügung stehen.
Aber daß alles begrüßenswert ist, was dazu führt, daß die chemischen Waffen, die bei uns lagern, weggebracht werden, das werden Sie mir sicherlich zugestehen.
Vielleicht darf ich auch die GRÜNEN, die heute ebenfalls ihren Standpunkt hier darlegen werden, einmal daran erinnern, daß sie im Jahre 1983 eine Anfrage im Bundestag eingebracht haben, von der ich hier nur drei Punkte nennen will: Welche Schritte hat die Bundesregierung unternommen, um den Abzug der amerikanischen Giftgaskampfstoffvorräte aus der Bundesrepublik Deutschland zu erzwingen? Warum setzt — so heißt es dort — die Bundesregierung nicht nach dem Prinzip der Risikorotation gegenüber ihren NATO-Verbündeten durch, daß die in der Bundesrepublik Deutschland lagernden amerikanischen Giftgasvorräte nun zur Abwechslung einmal in ein anderes NATOLand verbracht werden? Mit welchen rechtlichen Mitteln bzw. mit dem Hinweis auf welche Verträge können sich die USA einer Aufforderung der Bundesregierung widersetzen, ihre Giftgasvorräte aus der Bundesrepublik Deutschland zu entfernen?
Das heißt, Sie haben mit diesen Anfragen genau das Ziel angepeilt, das jetzt erreicht wird.
Herr Kollege Bahr, das gilt auch für Sie: Ein Abzug der in der Bundesrepublik lagernden chemischen Waffen war das Ziel, das wir erreichen wollten. Wir wollten gleichzeitig erreichen, daß keine Stationierung neuer chemischer Waffen hier bei uns erfolgt. Deswegen wiederhole ich an dieser Stelle einmal das, was der Kollege Lamers vorhin erklärt hat, daß das, was wir jetzt in den Vereinbarungen mit den Vereinigten Staaten erreicht haben, ein großer Erfolg der Bundesregierung ist
und daß dies mehr ist, meine Damen und Herren von der Opposition, als wir alle in diesem Hohen Hause noch vor wenigen Tagen oder Wochen zu hoffen gewagt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lange?
Bitte sehr.
Herr Kollege Ronneburger, eine Frage: Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie uns unterstellen, daß wir auf den Abzug der alten Chemiewaffen unter Inkaufnahme der Produktion neuer Chemiewaffen gedrängt hätten? Glauben Sie wirklich, daß das unsere Absicht gewesen sei?
Das habe ich Ihnen nicht unterstellt, aber ich habe Ihnen unterstellt — dies bleibt aufrechterhalten —, daß Ihre Zielsetzung dahin ging, die hier lagernden Vorräte an chemischen Waffen aus der Bundesrepublik entfernen zu lassen und daß sie darüber hinaus nicht nur abgezogen, sondern vernichtet würden.Dies ist etwas, Herr Kollege Bahr, was ich Ihnen sagen muß: Chemiewaffenfreie Zonen, nuklearwaffenfreie Zonen gewinnen nach meiner festen Überzeugung ihren eigentlichen Sinn nicht dadurch, daß Waffen zurückgezogen, sondern daß sie beseitigt, daß sie vernichtet werden,
daß es nach Einrichtung einer solchen Zone, ob bei Nuklear- oder Chemiewaffen, nachher weniger Waffen gibt, als es vorher gegeben hat,
und genau dies ist, was wir erreichen wollten, und was jetzt erreicht wird.Wir haben einen Vorteil gegenüber dem bisherigen Zustand. Er drückt sich zum einen in einer größeren Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland für die Bevölkerung aus, weil diese veralteten und gefährlichen chemischen Waffen hier nicht mehr lagern werden. Spätestens Ende 1992 werden sie verschwunden sein — spätestens -, und wir werden keine Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in Friedenszeiten haben. Auch im Eventualfall wird die Verbringung solcher Waffen nur auf Grund umfassender politischer Konsultationen im Bündnis und nur bei Sicherstellung breiter Beteiligung des Bündnisses erfolgen, so daß kein Land, auch nicht die Bundesrepublik, singularisiert wird und nicht ohne vorherige Billigung der Aufnahmeländer vorgegangen wird. Das heißt, es kommt nicht auf unsere Weigerung an, sondern es wäre ein aktives Handeln der Bundesrepublik, der Bundesregierung jeweils nötig, um eine solche Verbringung zu ermöglichen und zuzulassen.Herr Kollege Bahr, lassen Sie sich das sagen: Keine Singularisierung! Das bedeutet sowohl im Bündnis wie auch bei der Stationierung oder der Verbringung von chemischen Waffen auf das Ge-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16677Ronneburgerbiet unseres Staates keine Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland.Wir alle haben darum gerungen, daß diese Waffen wegkommen. Lassen Sie uns doch nun nicht zerreden, was wir erreicht haben!
Lassen Sie uns deutlich sagen: Wir wollen einen Zustand, der hiermit angepeilt wird und der ja wohl Ihrer politischen Grundtendenz entspricht, nämlich durch einen solchen Vorgang zu erreichen, daß auch auf östlicher Seite das Nachdenken darüber vermehrt einsetzt, wie vernünftig es denn sein kann, chemische Waffen zu produzieren, zu lagern und zu entwickeln. Hier einen Schritt nach vorn zu kommen, dies sollte eigentlich in unserem gemeinsamen Interesse liegen: zu erreichen, daß mit der Entfernung dieser Waffen aus Europa nun auch auf östlicher Seite der Schritt vorbereitet und wahrscheinlicher gemacht wird, daß man auf chemische Waffen tatsächlich weltweit verzichtet, daß man sie ächtet, daß sie nicht mehr produziert werden.Es ist ja eine Unterstellung, Herr Kollege Bahr, daß die Produktion von binären Waffen schwerer zu kontrollieren sei als die Produktion von nicht binären Waffen. Die Möglichkeit der Überprüfung der Produktion solcher Waffen ist auch bei den binären Waffen gegeben. Wir selber, die Bundesrepublik Deutschland, haben ja entsprechende Vorschläge dazu gemacht, wie man kontrollieren kann. Wir wären sehr froh, wenn auf östlicher Seite — Herr Kollege Lamers, ich stimme Ihnen da völlig zu — endlich einmal die Bereitschaft sichtbar würde, z. B. auch Verdachtskontrollen zuzulassen
und damit die Möglichkeit zu schaffen, daß chemische Waffen, die ja im Grunde genommen die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten viel härter als jeden Kombattanten bedrohen, endlich aus den Arsenalen verschwinden und daß damit eine Lage eintritt, in der wir friedlicher und ruhiger miteinander leben können, als es bisher möglich ist.Ich sage noch einmal: Dies war ein Erfolg der Bundesregierung. Er war möglich, weil die Bundesrepublik Deutschland als leistungsfähiger und leistungswilliger Partner mit ihrem größten Bündnispartner verhandelt hat, statt sich auf das gefährliche Gelände einer Nebenaußenpolitik — ich will diesen Ausdruck hier einmal verwenden — zu begeben und mit Regierungen zu verhandeln, die über die auf ihrem Territorium lagernden C-Waffen keinerlei Verfügungsgewalt haben.
Aber ich füge hinzu: Auch für die Bundesregierung war zähes, geduldiges Verhandeln und Standfestigkeit im Sinn deutscher Sicherheitsinteressen und deutscher Souveränität erforderlich. Wer die Verhandlungen und Briefwechsel in dieser Frage verfolgt hat, wird dies ja wohl nur bestätigen können. Der Durchbruch wurde vom Bundesaußenminister erzielt, der — entgegen einem sehr viel restriktiveren US-Vorschlag — auf voller Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, auch in bezug auf Verbringung im Eventualfall, bestanden hat.
Dies war nicht ganz leicht. Ich meine, daß der Bundesaußenminister volle Anerkennung dafür verdient, daß er in dieser Weise nicht nur die Sicherheit in unserem Land und in Europa erhöht hat,
sondern auch ein Stück Mitbestimmung über unser eigenes Schicksal in einem Bereich erreicht hat, in dem die Bundesrepublik 1954 im Stationierungsvertrag auf ihr Mitspracherecht verzichtet hat. Hier haben wir jetzt ein Mitspracherecht. Dies aus der Welt zu reden, meine Damen und Herren, halte ich für völlig absurd und der gegebenen Lage überhaupt nicht angemessen.
Die SPD fordert ein Veto gegen die Produktion, aber die SPD sagt nicht, wie sie ein solches Veto durchsetzen will. Sie sagt auch nicht, auf welchem Wege sie, Herr Kollege Bahr, erreichen will, daß die hier vorhandenen chemischen Waffen verschwinden.
Denn das, was Sie über die rein amerikanische, nationale US-Entscheidung gesagt haben, ist ja nicht eine theoretische Darlegung oder Konstruktion der Bundesregierung, .dies ist eine eigene Aussage des amerikanischen Präsidenten, der diese Entscheidung über die binären chemischen Waffen in einer begrenzten Produktion als Repressalie gegenüber möglicher Anwendung von östlicher Seite her ausdrücklich als eine eigene nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten bezeichnet hat. Und dies ist ja wohl mehr, als ob wir uns darüber streiten, ob es national US-amerikanisch ist oder nicht.
Ich meine, daß wir allen Grund haben, diese Entwicklung zu fördern und von uns aus alles dafür zu tun, daß die Erfolge, die sich hier abzeichnen, in Zukunft auch tatsächlich erreicht werden können.Die SPD, meine Damen und Herren, hat auch in der Frage der Chemiewaffen-Problematik die Schmidt-Linie verlassen
auf der sie früher einmal gelegen hat. Die SPD fordert die Bundesregierung auf, dem amerikanischen Kongreß und der amerikanischen Administration unmißverständlich zu erklären, daß sie an der Haltung früherer Bundesregierungen festhält, daß die NATO chemische Waffen zur Implementierung der NATO-Strategien nicht braucht. Dies, meine Damen und Herren, ist falsch. Auch die sozialliberale Regierung hat — durch den Mund des damaligen Bun-
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16678 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Ronneburgerdesverteidigungsministers Apel, aber auch durch den Mund des damaligen Staatssekretärs Penner - ausdrücklich erklärt, daß ein gewisser Bestand an chemischen Waffen notwendig ist. Hier geht es nicht um eine Änderung der Strategie,
hier geht es um die Frage, in welcher Weise denn Abschreckung und Friedenssicherung auch auf diesem Gebiet durchgehalten werden können.
Die Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren, hat die Möglichkeit, ab 1992 von chemischen Waffen frei zu sein. Wer diese Möglichkeit nicht nutzt, der sollte sich einmal auch mit den Bürgern auseinandersetzen, die in der Nähe der heutigen Lagerstätten wohnen und die vor der Frage stehen, ob diese Waffen entfernt werden und damit das Gefühl der Gefährdung aus diesem Bereich von ihnen genommen wird oder nicht. Die Sowjetunion aber ist nun nach einer solchen Entscheidung gefordert, Worten auch Taten folgen zu lassen und unter Beweis zu stellen, daß ihre Abrüstungsvorschläge ernst gemeint sind. In den Genfer Verhandlungen muß sie in der Frage der zuverlässigen Verifizierung weiter entgegenkommen, klarer werden, was denn damit eigentlich gemeint ist, und dies gilt j a vor allen Dingen wohl für die Produktion chemischer Waffen. Wir haben — ich sage es noch einmal — Vorschläge dazu gemacht. Leider haben die sowjetischen Experten unserer Einladung damals keine Folge geleistet. Die Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Reagan ist ein wichtiger Schritt auf einem Wege, der zumindest zunächst auf dem Gebiet der chemischen Waffen zu deren vollständiger Beseitigung und weltweiter Ächtung führen kann. Er führt damit weiter, meine Damen und Herren, als das mit der Einführung einer chemiewaffenfreien Zone in Europa je erreicht werden könnte.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Wörner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Bundesregierung hat ein überragendes Interesse an einem weltweiten und verläßlich kontrollierbaren Verbot chemischer Waffen und an der Vernichtung solcher Waffen wie auch ihrer Produktionsstätten.Die Bundesrepublik Deutschland hat als bisher einziger Staat 1954 auf die Herstellung nicht nur atomarer und biologischer, sondern auch chemischer Waffen vertraglich verzichtet. Im Rahmen der Westeuropäischen Union hat sie außerdem internationalen Kontrollen dieses Verzichts zugestimmt. Diese Kontrollen werden bei uns in der Bundesrepublik Deutschland als einzigem Land durchgeführt.Niemand kann also einen Zweifel daran haben: Wir wollen, daß chemische Waffen aus dieser Welt verschwinden und auch in Zukunft nicht wieder produziert werden. Daher haben wir bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen die westlichen Vorschläge, die diesem Ziel dienen, nicht nur konsequent und energisch unterstützt, wir waren auch mit eigenen Beiträgen aktiv daran beteiligt und haben unsere Erfahrungen mit internationalen Ortsinspektionen im eigenen Land genützt, um — das wissen Sie doch, Herr Bahr — Lösungsvorschläge für eine vernünftige Kontrolle zu machen.Angesichts dieser Tatsache ist es wirklich eine Ungeheuerlichkeit, Herr Bahr, daß Sie sich hier hinstellen und den Eindruck erwecken wollen, als ob die Bundesregierung, die CDU/CSU oder die FDP ein Interesse an chemischen Waffen oder an mehr chemischen Waffen hätten. Das Gegenteil ist richtig! Sie wissen das.
Ich weise das in aller Schärfe zurück.
Auch die Amerikaner, Herr Bahr, wollen das weltweite Verbot chemischer Waffen.
Die Resolution im Kongreß vom 19. Dezember 1985 sagt ausdrücklich, daß die Endfertigung binärer chemischer Munition nur dann in Betracht komme, wenn es nicht gelinge, ein Verbotsabkommen zu erreichen.Ein Ergebnis der Verhandlungen, Herr Bahr, ist bisher an der Haltung der Sowjetunion in der Kontrollfrage gescheitert. Das wissen Sie auch. Warum sagen Sie das dann nicht hier? Ein Vertrag ohne Kontrolle vor Ort aber wäre wertlos. Darin stimmen Sie uns doch hoffentlich zu!Auch die jüngsten Vorschläge der Sowjetunion vom 22. April 1986 zur Kontrollproblematik betreffen ausschließlich die sogenannte Zerstörungsphase für chemische Waffen und Produktionsanlagen. Sie schweigen sich völlig zu dem eigentlichen Problem aus, nämlich zur Überwachung der Nichtproduktion und zu Verdachtskontrollen. Daher muß sich die Forderung der SPD — bitte schön — nicht an die Adresse der Amerikaner, sondern an die Adresse der Sowjetunion richten, Herr Bahr.
Im übrigen widerspreche ich auch Ihrer Feststellung, die schlichtweg falsch ist, daß neue binäre Waffen schwieriger zu kontrollieren wären als die alten.
Tatsache ist, nicht der Westen ist es, der die Verhandlungen blockiert; die Sowjets sind es. Die Sowjetunion muß endlich am Verhandlungstisch einlösen, was der Herr Gorbatschow öffentlich ankündigt: Wir wollen ihn dort beim Wort nehmen, und dort muß er zeigen, was seine Worte wert sind.
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Bundesminister Dr. WarnerDeswegen braucht der Bundeskanzler keinen Brief zu schreiben, Herr Bahr. Was sollte denn ein solcher Brief im Augenblick für einen Sinn machen? Wir verhandeln dort.Im übrigen, Herr Bahr: Sie sind so oft in Moskau. Ich wollte, Sie hätten ein einziges Mal die Sowjetunion aufgefordert, endlich mit der Produktion chemischer Waffen aufzuhören.
Sie wissen doch auch — aber Sie stellen sich hierhin und tun so, als ob das nicht so wäre —, daß die Amerikaner seit 17 Jahren einseitig auf die Produktion chemischer Waffen verzichtet haben. Amerika hat doch damit eine einseitige Vorleistung erbracht, 17 Jahre lang, und damit der chemisch gerüsteten Sowjetunion einen tatsächlichen Vertrauensvorschuß gewährt. Die Sowjetunion hat dies weder bei den Rüstungskontrollverhandlungen in Genf noch durch einen eigenen Produktionsstopp chemischer Waffen honoriert. Ganz im Gegenteil: In den vergangenen 17 Jahren produzierte und stationierte die Sowjetunion fortgesetzt chemische Waffen.Hören Sie gut zu: Experten schätzen den gelagerten Bestand chemischer Kampfmittel in der Sowjetunion inzwischen auf mehrere hunderttausend Tonnen. Das ist doch eine gewaltige Menge. Wissen Sie eigentlich, ob die Sowjets dabei nicht auch schon binäre Munition haben? Die sowjetischen Truppen üben während ihrer Manöver den Einsatz unter den Bedingungen chemischer Kampfführung.
Die Felddienstvorschrift der Streitkräfte der Sowjetunion erwähnt in insgesamt 27 Ziffern eigene C-Waffen für den Einsatz. In weiteren elf werden sie in allgemeiner Form angesprochen.
— Hören Sie gut zu, auch wenn es Ihnen unangenehm ist:
Sie schließen dauernd die Augen davor, was in der Sowjetunion passiert, und versuchen, die Amerikaner anzuklagen, obwohl die damit aufgehört haben.
— Hören Sie gut zu, Herr Bahr. Ich lasse jetzt keine Gegenfrage zu, weil ich das zu Ende führen will. Nach dieser Felddienstvorschrift der Sowjets ist der Einsatz chemischer Waffen u. a. in allen Gefechtsarten, gegen Reserven, zur Sicherung der Flanken, gegen Fliegerkräfte und Materiallager, Verkehrsknotenpunkte, gegen Engen und Ubersetzstellen vorgesehen. Es kann also kein Zweifel bestehen, daß chemische Waffen ein integraler Bestandteil der vorgesehenen sowjetischen Planung sind.Ich frage Sie: Warum sind die Sowjets dem amerikanischen Beispiel nicht gefolgt? Warum setzen sie auf chemische Waffen? Warum vermehren sie ihr Potential weit über jeden vorstellbaren Abschreckungszweck hinaus, und dies, obwohl seit 1980 über die Abschaffung chemischer Waffen verhandelt wird? Warum — ich wiederhole das — stellen Sie sich dann hin und klagen uns von der CDU an, wir sagten Ja zu mehr chemischen Waffen? „Frieden schaffen" — so haben Sie eben gesagt — „mit mehr Waffen", sei unser Motto.
Herr Bahr, Sie zwingen mich zu einer Entgegnung, die nicht in meinem Manuskript steht: Sie sagen Ja zu immer mehr sowjetischen Waffen, chemischen und Raketenwaffen. „Frieden schaffen mit mehr sowjetischen Waffen", ist Ihr Motto, meine Damen und Herren.
— Sehr gut, daß Sie sich jetzt aufregen, lieber Herr Bahr.
Wenn Sie die Demagogie in diesen Saal tragen, dürfen Sie nicht erwarten, daß wir zu einer solchen Polemik stillschweigen.
Wenn Sie von uns erwarten, daß wir ein Veto gegen die Produktion amerikanischer Waffen einlegen,
dann frage ich Sie: Warum dann kein Veto gegen die Produktion sowjetischer Waffen, und wie wollten Sie das durchsetzen, lieber Herr Bahr?
Meine Damen und Herren, die Zwischenrufe sind sicher das Salz der Debatte. Aber versalzen Sie sich die Suppe nicht!
Vorschläge für chemiewaffenfreie Zonen in Teilen Europas ist kein brauchbarer Ersatz für ein Ende der chemischen Rüstung durch ein Abkommen, das alle Arten, alle Lager und alle Produktionsstätten zuverlässig beseitigen würde. Sie sind es auch deshalb nicht, weil die chemischen Waffen der Sowjetunion wegen der kurzen Entfernung nach Mitteleuropa leicht und schnell in ein solches geräumtes Gebiet zurückgebracht werden könnten, weil sie über größere Entfernungen hinweg von Flugzeugen und Flugkörpern in ihre Ziele geworfen werden könnten.
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16680 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Bundesminister Dr. WörnerUnser Land und Mitteleuropa würde in einer solchen Zone nicht sicherer vor einer Bedrohung durch weiträumige Angriffe mit chemischen Waffen sein. Deswegen lenken solche Vorschläge nur vom wesentlichen ab. Sie lassen den harten Kern der Bedrohung in Reichweite zu Westeuropa bestehen und erwecken nur den trügerischen Schein f al-scher Sicherheit. Im übrigen: Wäre das vertraglich vereinbart, würden Sie die Stationierung sowjetischer chemischer Waffen in Polen und der UdSSR legitimieren müssen, und die Amerikaner verlören das Recht, in Krisenzeiten hier ihre Waffen zu stationieren.Solange es aber chemische Waffen gibt, kommt alles darauf an, deren Einsatz dadurch zu verhindere, daß von einem Rückgriff auf diese Waffen abgeschreckt wird. Dies ist seit dem Ende des Er- sten Weltkrieges in Europa gelungen. Für diesen Zweck — und nur für diesen Zweck — brauchen die Vereinigten Staaten von Amerika auch für die NATO eine begrenzte Anzahl chemischer Waffen — ausschließlich zur Vergeltung in begrenztem Umfang —, um nämlich die Sowjetunion davon abzuhalten, ihre Waffen gegen das westliche Bündnisgebiet einzusetzen oder damit zu drohen.Die Staaten des Warschauer Paktes dürfen im Ernstfall nicht darauf bauen können, sich durch den Einsatz chemischer Waffen gegen das NATOGebiet einen militärischen Vorteil zu verschaffen und die Bevölkerung Westeuropas durch die Drohung mit einem chemischen Kampfstoffangriff in Furcht und Schrecken jagen zu können.Um es noch einmal klar zu sagen: Die NATO wird chemische Waffen nur so lange beibehalten, wie die Sowjets nicht auf solche verzichten. Die Vereinigten Staaten von Amerika würden sie niemals als erste einsetzen. Wer aber auf die Mittel zur chemischen Vergeltung — und ich wiederhole noch einmal: in begrenztem Umfang — einseitig verzichtet, verurteilt sich selbst zur Wahl zwischen Hilflosigkeit und erzwungener automatischer nuklearer Reaktion.
Und davor kann ich nur mit allem Nachdruck und mit aller Eindringlichkeit warnen.Und ein anderes muß klargestellt werden: Chemische Waffen dienen auch nicht als eine selbständige Komponente der Eskalation. Nachdem die Amerikaner 17 Jahre lang keine chemischen Kampfstoffe mehr produziert haben, veralten ihre Bestände mehr und mehr. Das gilt auch für die hier lagernden.Wenn also die Sowjetunion zur Abschaffung chemischer Waffen weiterhin nicht bereit ist, sind die Amerikaner gezwungen, die Produktion binärer Waffen aufzunehmen. Daher hat die amerikanische Regierung dies beim Kongreß beantragt.
Und jetzt hören Sie gut zu: Eine Endfertigung binärer chemischer Waffen ist allerdings gemäß demBeschluß des amerikanischen Kongresses erst abDezember 1987 zulässig und steht unter dem Vorbehalt, daß es bis dahin nicht zu einem vertraglichen Verbot gekommen ist.Das heißt also: Die Sowjetunion hat es in der Hand, indem sie das gleiche tut, was die Amerikaner getan haben, indem sie sich endlich zu Kontrollmaßnahmen bereit findet. Dann wird es niemals zu einer solchen Produktion kommen. Und dazu fordern wir sie auf.
Darum ist es absurd und grotesk, Herr Bahr, wenn die SPD der amerikanischen Regierung vorwirft, sie eröffne eine neue Rüstungsrunde, drehe an der Rüstungsspirale und gefährde damit die in Genf stattfindenden Verhandlungen. Ja, wenn das so wäre, hätten die Sowjets über sechs Jahre hinweg die Verhandlungen gefährdet.
Sie, die Sowjets, sind es, die die Rüstungsspirale im chemischen Bereich ununterbrochen weiterdrehen, und nicht die Amerikaner. Deshalb ist die angekündigte Produktionsaufnahme eher ein Anreiz für die Sowjets, ihren Widerstand gegen Verdachtskontrollen aufzugeben.
Sie werden begreifen müssen, daß ihre Hoffnung trügt, die Verhandlungen so lange verschleppen zu können, bis schließlich eines Tages alle chemischen Waffen der Vereinigten Staaten von Amerika unbrauchbar werden.Schlichtweg falsch ist, was die SPD im Antrag zur Haltung früherer Bundesregierungen erklärt. Auch führere Bundesregierungen — Ihre Bundesregierungen — haben die Gültigkeit und Verbindlichkeit der NATO-Strategie MC 14/3 nie in Zweifel gezogen. Und darin sind chemische Waffen in Ergänzung der anderen Abschreckungsmittel ausdrücklich vorgesehen.
Die Strategie des Bündnisses sowie die dort beschriebene Rolle chemischer Waffen bleiben unverändert gültig.Noch am 13. Mai 1981 hat der frühere Parlamentarische Staatssekretär Dr. Penner, Ihr Parteimit- glied, in einer Fragestunde dieses Hauses erklärt, die Bundesregierung — wohlgemerkt, die von der SPD geführte Bundesregierung — beabsichtige nicht, die Vereinigten Staaten von Amerika aufzufordern, ihr in der Bundesrepublik Deutschland gelagertes chemisches Kampfstoffpotential abzuziehen. Da stellen Sie sich hier hin und sagen: Was schert uns unser dummes Geschwätz von gestern? Da kann ich nur sagen: Fassen Sie sich an die eigene Nase. Sie haben doch alles weggeworfen, was Ihr Bundeskanzler Schmidt noch für richtig gehalten hat.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16681
Bundesminister Dr. WörnerBundeskanzler Kohl hat in drei Punkten erreicht, was kein anderer deutscher Regierungschef vor ihm erreicht hat. Erstens. Die hier lagernden chemischen Waffen werden abgezogen. Zweitens. In Friedenszeiten werden keine chemischen Waffen bei uns stationiert. Auch im Eventualfall können sie nur mit unserer Zustimmung ins Land gebracht werden. Drittens. Auch in einem Eventualfall würde die Bundesrepublik Deutschland in Zukunft nicht mehr das einzige Land in Europa sein, in das amerikanische chemische Waffen gebracht würden. Das hat der amerikanische Präsident ausdrücklich zugesichert. In jedem Fall sind vor der Verbringung chemischer Kampfstoffe umfassende politische Konsultationen vorgesehen, die es uns erlauben, unsere Interessen auf der Grundlage ungeschmälerter Souveränität zu vertreten. Das zeigt im übrigen: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler Helmut Kohl hat im westlichen Bündnis Einfluß, und er nutzt diesen Einfluß im deutschen Interesse.
— Ihr Aufschrei zeigt doch nur, daß Sie im Grunde genommen bedauern, daß Sie es nicht waren, die das erreicht haben.
Was bedeutet das? Erstens. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden sich, was chemische Waffen angeht, nicht mehr auf ihre Rechte aus dem Aufenthaltsvertrag von 1954 berufen.
Dies ist ein beträchtlicher politischer Gewinn für unsere Souveränität, die aus dieser Verständigung mit den Vereinigten Staaten von Amerika gestärkt hervorgeht. Dies ist auch eine Aufwertung der deutschen Position im Bündnis und in Europa.Es bedeutet zweitens auch das Ende der Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland als des einzigen NATO-Landes in Europa, auf dessen Boden chemische Waffen gelagert sind. Das wird ein Ende haben!Schließlich werden die chemischen Waffen in der Bundesrepublik Deutschland ersatzlos — ich wiederhole: ersatzlos — bis spätestens 1992 aus der Bundesrepublik Deutschland abgezogen, falls die Endfertigung binärer Waffen in Amerika im Dezember 1987 beginnen kann.Aus all diesen Gründen liegt die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zum NATO-Streitkräfteziel für die nationale Entscheidung — ich wiederhole: die nationale Entscheidung — der Amerikaner zur Produktion binärer Kampfstoffe in unserem Interesse. Dann werden die chemischen Waffen von unserem Boden verschwinden, genau wie die nuklearen Sperrmittel von unserem Territorium abgezogen wurden; auch das war das Verdienst dieser Bundesregierung, nicht irgendeiner früheren.Würden wir Ihrem Antrag, dem Antrag der Opposition, folgen, blieben die chemischen Waffen in der Bundesrepublik Deutschland als einzigem NATOLand in Europa. Das ist die Alternative, Herr Bahr!
Herr Minister, der Abgeordnete Mann möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Nein!
Ich bedaure, Herr Abgeordneter.
Wir stünden dann schlechter da, als wir in Zukunft dastehen werden. Daher ist die Entscheidung der Bundesregierung im Bündnis konsequent und richtig, und sie liegt im Interesse unserer Bürger und ihrer Sicherheit.
Alles aber, was wir jetzt entscheiden, ändert nichts daran — das möchte ich mit aller Eindringlichkeit wiederholen —, daß diese Bundesregierung mit höchster Priorität das Ziel eines weltweiten Verbots chemischer Waffen weiterverfolgen wird.
Ein vollständiges Verbot aller Waffen chemischer Art entspräche unseren deutschen Sicherheitsinteressen wie denen aller Menschen dieser Welt am besten.
Es würde die Produktion neuer chemischer Waffen überflüssig machen. Ein durch einseitigen Verzicht entstehendes Monopol der Sowjetunion gefährdet unsere Sicherheitsinteressen.
Darum, meine Damen und Herren: So wie die Bundesrepublik Deutschland als einziges Land der Welt auf die chemischen Waffen verzichtet hat und sich vertraglich einer Kontrolle unterworfen hat, so wollen wir es weltweit haben. Chemische Waffen müssen von dieser Erde verbannt werden!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lange.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Wörner, es war immer so, und es wird wohl immer 'so bleiben, daß Sie Antikommunismus mit Politik verwechseln. Das ist lebensgefährlich, weil diese Politik uns in der Tat immer mehr Rüstung und immer mehr Gefahr beschert. Ich habe hier keinen Kollegen von der SPD zu verteidigen — das kann er selbst tun —, aber wenn Sie Herrn Bahr entgegenhalten, er sage zu sowjetischen chemischen Waffen ja, kann ich Ihnen nur antworten: Offensichtlich ist der Unterschied zwischen Herrn Bahr und Ihnen der, daß dieser Mann in den Mittelpunkt seiner politischen Tätig-
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Lange
keit gestellt hat — deswegen reist er so oft nach Moskau —, von dort Waffen jeder Art wegzubringen, während Sie so oft nach Washington reisen, um immer mehr Waffen hierherzubringen. Das ist der Unterschied, den wir sehen.
Worum geht es der Sache nach? Auch darüber ist heute zu reden. Es geht um Kampfmittel, die Nerven angreifen, Erstickungen und Atemstillstand zur Folge haben. Ätzende Wirkstoffe greifen die Atmungsorgane, Augen und Haut an. Schäden an Augen und Lunge entstehen rasch. Wirkstoffe, die das Blut angreifen, beeinträchtigen die Fähigkeit des Körpergewebes, besonders des Gehirns, Sauerstoff aus dem Blut zu absorbieren.
Auch darüber ist heute zu reden: Ob binär oder nicht, ob als Vergeltungswaffe oder als Kriegsführungsinstrument gedacht, die Bundesregierung ist bereit, sich mit solchen Mitteln zu verteidigen oder verteidigen zu lassen — wahrhaft eine moralische Wende in der Wertegemeinschaft NATO!
Ich könnte mir vorstellen, daß es solche bitteren Gedanken und Gefühle waren, die andere NATOStaaten zu anderen Einschätzungen und Konsequenzen kommen ließen, als es hierzulande durch unsere Regierung den Anschein hat. Dänemark ist gegen die Stationierung von C-Waffen, auch in Krisenzeiten. Die Regierung der Niederlande will unter keinen Umständen stationieren. In Belgien hat, obwohl sich die Regierung bisher nicht gegen die Stationierung ausgesprochen hatte, gestern abend die zuständige Parlamentskommission die Stationierung auch in Krisenzeiten abgelehnt. Alle Christdemokraten und ein Liberalkonservativer haben sich in diesem Sinne ausgesprochen.
— Alles Kommunisten. Uns wäre es schon recht, wenn sich alle Liberalkonservativen — Liberalprogressive gibt es j a schon nicht mehr — und nur ein Christdemokrat dagegen aussprächen. Das würde uns zahlenmäßig schon reichen.
Es gab ja auch gewichtige Stimmen im Vorfeld. David M. Abshire, der NATO-Botschafter der USA, sagte — ich zitiere ihn —:
Wir haben auch versucht, zu vermeiden, daß dieses Thema in Europa ebenso wie die Neutronenbombe zum politischen Spielball wird und ebenso wie diese dämonisiert wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen versuchen, eine politisierte Debatte in europäischen Parlamenten und anderswo zu vermeiden.
Trotzdem wagt die Bundesregierung diese Debatte. Woher nimmt sie den Mut zu diesem Risiko, das man ihr bei der Nachrüstungsdebatte 1983 erst abringen mußte? Nun, diese Regierung macht sich Mut, indem sie es sich — wie so oft — sehr einfach macht. Sie sagt: Auf Grund des Aufenthaltsvertrags von 1954 hätten die Amerikaner sowieso das Recht, Modernisierungen ihrer C-Waffen-Bestände hier ohne Konsultationen durchzuführen. Nun haben der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister — so hören wir — in Gesprächen und in Briefwechseln — natürlich geheim, so daß es nicht nachprüfbar ist — mit dem US-Präsidenten erreicht, daß die alten Bestände abgebaut werden, daß keine Stationierung neuer binärer Waffen erfolgt, daß eine solche im Eventualfall nur mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgen könne.
Ich lese das Wort „Bitte". Ich möchte fragen: Für wie dumm halten Sie uns eigentlich, daß Sie uns weismachen wollen, irgendein Aufnahmestaat würde um chemische Waffen zur Verwendung auf dem eigenen Territorium bitten? Was machen Sie eigentlich mit der Bevölkerung, mit solchen Briefwechseln, mit solchen Texten? Ich kann nur sagen: Man kann nur mit dem Kopf schütteln; das ist fast schon pervers.
Herr Lamers hat erklärt: Souveränitätsgewinn plus Abrüstung — ein totaler Erfolg, sollte man meinen, ein Erfolg, der sowohl das zähe Verhandlungsgeschick des Bundeskanzlers als auch die Abrüstungswilligkeit der USA beweisen soll, die doch immerhin — so Herr Todenhöfer und jetzt auch Herr Wörner — als einseitige Vorleistung 17 Jahre lang keine weiteren C-Waffen produziert hätten.
Herr Todenhöfer, Sie haben gestern im Ausschuß gesagt — das ist wohl nicht geheim; ich glaube, er ist gar nicht da, ich vermisse ihn im Moment —, es gebe das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" von Alexander Mitscherlich. Er hat dann an die Adresse der Opposition gesagt, offensichtlich gebe es bei uns auch die Unfähigkeit, sich zu freuen. Ich sage Ihnen: Es gibt bei ihm und der Regierungskoalition die Unfähigkeit, die volle Wahrheit zu sagen, wahrhaftig zu sein. Sonst müßte man sehen, daß diese alten Bestände nicht aus irgendwelchen Abrüstungsgedanken heraus abgebaut werden, sondern deshalb, weil diese Bestände völlig unsicher sind. Ich darf hier nur den demokratischen Senator Jackson zitieren, der am 17. September 1980 in der Senatsdebatte über die Einführung binärer Nervenkampfstoffe gesagt hat:
Wir haben gegenwärtig 4 000 Undichtigkeiten pro Jahr, toxische Lecks.
Das heißt also, wenn der Westen aus solchen Gründen abrüstet, weil alte chemische Waffen zu einer Gefahr für ihre Bewacher werden, dann gestatten Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, leise Zweifel an der konsequenten Abrüstungswilligkeit derer, die diese Waffen abziehen. Chemische Entsorgung ist keine chemische Abrüstung, zumal wenn sie mit chemischer Modernisierung einhergeht.
Nein, es geht nicht um Abrüstung, sondern um klammheimliche Strategieveränderung innerhalb
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der NATO. Ich darf hier den amerikanischen Heeresminister Marsh zitieren. Während eines Kongreß-Hearings hat er gesagt — ich bitte Sie, genau zuzuhören, weil das von Ihrer Seite aus immer wieder ignoriert wird, obwohl Sie sehr genau wissen, worum es bei dieser Modernisierung geht —:
Wir müssen obsolete, potentiell unsichere Munition demilitarisieren, um spätere Probleme mit ihr zu vermeiden. Die Modernisierung mit Binärwaffen ist notwendig, um eine glaubwürdige Fähigkeit zur Vergeltung zu besitzen, die mit dem Air/Land-Battle-Konzept vereinbar ist.
Hier sind wir beim Kern der Debatte; denn:
Beweglich eingesetzte Luft- und Bodenstreitkräfte, konventioneller, atomarer und chemischer Beschuß, subversive Kriegsführung, aktive Aufklärung, Überwachung und Zielerfas-, sungsbemühungen sowie die elektronische Kampfführung werden alle auf den Frontbereich und die rückwärtigen Gebiete beider Kombattanten gerichtet sein.
Dies ist nur ein Zitat aus dem Field-Manual 100/5, dem Air/Land-Battle-Konzept, nach dem die amerikanischen Streitkräfte bereits jetzt auch auf dem Boden der Bundesrepublik ausgebildet werden. Das ist der Kern der Angelegenheit. Es geht um die Komplettierung, um diè klammheimliche Strategieveränderung innerhalb der NATO! Da führt man in der Öffentlichkeit ein Scheingefecht und geriert sich gar noch mit einem Abrüstungswillen. Dies ist der Einstieg der Bundesrepublik und der NATO in die Air/Land-Battle-Konzeption der USA. Dies ist die schleichende Aushöhlung der jetzigen NATOStrategie.
Zur Haltung der Bundesregierung: Der Bundeskanzler hat auf der Pressekonferenz am 11. April gesagt, es handle sich um eine nationale Entscheidung der amerikanischen Regierung. Es werde keine Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in der Bundesrepublik geben. Sie wissen, dies ist falsch, irreführend und gefährlich. Falsch ist es, da die Kongreß-Resolution die Produktionsaufnahme an eine formelle NATO-Rats-Entscheidung bindet. Der Kanzler verschweigt, daß mit deutscher Zustimmung bereits am 17. Februar der Militärausschuß der NATO das Streitkräfteziel „neue chemische Waffen" billigte. Die letztlich politisch bindende Entscheidung aber fällt am 22. Mai im NATO-Rat. Hier ist die Bundesregierung gefordert, ein klares Nein zu sagen, wenn sie es wirklich ernst mit der Abrüstung meint.
Keine Stationierung, sagte er, und implizierte: in Friedenszeiten. Aber ich darf zitieren:
Wenn wir sie erst bauen, dann wird der Druck auf die NATO-Alliierten so groß sein, eine Stationierung auf eigenem Boden zu akzeptieren, besonders auf die Bundesrepublik, wo es sie ja heute auch gibt.
So Duncan Hunter vom US-Verteidigungsausschuß. Oder ein anderes Zitat:
Es geht dabei nicht um eine Stationierung in Krisenzeiten. Wir gehen davon aus, daß die Waffen in den USA und in Europa gelagert werden.
So John Porter vom US-Haushaltsausschuß. Ich frage mich: Was gilt nun, die Wunschvorstellung der Bundesregierung, mit der sie hier vor die Öffentlichkeit tritt, oder die realistische Einschätzung von US-Experten in Kenntnis der Abläufe?
Krisen-/Eventualfall: Wer definiert den Krisenfall? Der Begriff kennt keine grundgesetzliche Entsprechung. Was ist ein Eventualfall? Wer definiert die Kriterien dafür? Unsere Befürchtung ist: Die Definitionsmacht liegt beim amerikanischen Präsidenten. Wo ist dann die Souveränität geblieben, auf die Sie hier heute so stolz hingewiesen haben?
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wenn die Bundesregierung dem Streitkräfteziel „neue chemische Waffen" auf der NATO-Rats-Tagung zustimmt, dann bedeutet das faktisch ihre Zustimmung zur Produktion der binären chemischen Waffen. Damit macht sich die Bundesregierung entscheidend mitverantwortlich für erstens eine neue Aufrüstungsrunde, diesmal auf dem Gebiet der chemischen Waffen, zweitens eine schleichende Strategieveränderung der NATO in Richtung auf offensive Air/Land-Battle-Kriegsführungsstrategien auf dem mitteleuropäischen Schlachtfeld, drittens eine Änderung der Sichtweise über die Funktion von C-Waffen als Repressalie hin zu Kriegsführungswaffen und viertens für einen weiteren moralischen Verfall von politischer Kultur dadurch,
daß die Wertegemeinschaft NATO sich nicht scheut, bereit zu sein, im Krieg Mittel einzusetzen, die nichts anderes sind als materialisierte Lebensverachtung. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, auf der NATO-Rats-Tagung am 22. Mai in Brüssel ein klares Nein zur Produktion von C-Waffen durch die USA zu sagen. Sie hat hier eine Schlüsselrolle und sollte sich dieser Rolle endlich einmal friedenspolitisch konstruktiv bewußt sein.
Ich möchte Ihnen zum Schluß noch etwas zum Nachdenken mitgeben, vor allen Dingen jenen, die vielleicht auf ihre Hartgesottenheit stolz sind: In was für eine Zukunft lassen Sie uns und kommende Generationen eigentlich hineinwachsen? Da verstrahlen unsere Luft, unsere Erde, unsere Lungen radioaktiv, und Sie setzen weiter unbeirrt auf Atomenergie. Sie sind für mehr konventionelle Rüstung, für immer gefährlichere Atomwaffen und für die Stationierung — wann auch immer und wie auch immer — von chemischen Waffen. Sie, die Sie immer von Frieden in Freiheit reden, merken gar nicht mehr, wie diese Worte zur hohlen Phrase gerinnen, weil die Menschen das hier nicht mehr als friedlich und frei empfinden. Es ist keine lebens-
Lange
werte Zukunft mehr, die uns durch Ihre Politik in Aussicht steht.
— Das zeigt nur, daß Sie an der Bevölkerung vorbeileben. Gehen Sie einmal raus und fragen Sie die Leute, was sie denken.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie suchen sich ein neues Volk, das Ihre kalte Politik mitmacht, oder die Bürger hier suchen sich eine neue Regierung.
Für die erste Möglichkeit möchte ich Ihnen viel Glück wünschen. Für die zweite Möglichkeit werden wir uns massiv einsetzen.
Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, der lautet: weg mit den alten C-Waffen, keine neuen C-Waffen, wie auch immer und wo auch immer und wann auch immer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich heute vormittag, Herr Kollege Bahr, noch einmal das Protokoll des Unterausschusses, dem Sie vorzusitzen die Ehre haben, nachgelesen habe, hatte ich wie mein Kollege Ronneburger die Hoffnung auf eine sachliche Debatte. Denn was dort als wünschenswert von allen Seiten, die vertreten waren, betrachtet wurde, ist mehr als erfüllt worden.Ich kenne die unterschiedlichen Aufgaben, die Opposition und Regierungskoalition wahrzunehmen haben. Nicht immer muß der Gegensatz in der öffentlichen Debatte ein Nachteil für die Wahrnehmung der eigenen nationalen Interessen sein.Ich erinnere mich genau an das Jahr 1967, als die damalige Bundesregierung die Entscheidung über ihre Zustimmung zu dem NATO-Dokument MC 14/3 zu treffen hatte, in dem den chemischen Waffen ihre Funktion im Bereich der westlichen Sicherheitspolitik zugewiesen wurde. Da war uns völlig bewußt, daß der damalige Bundeskanzler Kiesinger, der damalige Verteidigungsminister Schröder und der damalige Außenminister Willy Brandt ganz sicher nicht leichten Herzens diesem Dokument zugestimmt haben. Wenn sie es trotzdem getan haben, dann, weil sie wußten, daß die Existenz chemischer Waffen auf der anderen Seite es erforderlich macht, daß eine begrenzte Anzahl von solchen Waffen hier vorhanden ist, um vom . Einsatz dieser gräßlichen Waffen abzuschrecken. Wir hätten es uns als Opposition damals leichtmachen können, der Regierung wegen der Zustimmung zu diesem Dokument Vorwürfe zu machen. Wir haben es nicht getan, weil wir der Meinung sind: auch in der unterschiedlichen Funktion gibt es gemeinsame Interessen. Das schlimmste, was man im politischen Leben tun kann, ist, der anderen Seite die böse Absicht zu unterstellen. Über den Weg kann man streiten. Die böse Absicht zu unterstellen vergiftet tatsächlich die politische Atmosphäre.
Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, daß wir über dieses ganz empfindliche Thema in Sachlichkeit miteinander reden können.Meine Damen und Herren, zu keiner Zeit ist über Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle in solcher Breite zwischen West und Ost und international verhandelt worden wie jetzt. Ja, die Tatsache, daß die Sowjetunion ihre Bereitschaft erklärt hat, auch über die konventionelle Stabilität in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, zu verhandeln — eine übrigens von uns lange erhobene Forderung —, ist eine zusätzliche Ermutigung. Dabei sind wir uns alle der Schwierigkeiten bewußt, die an den verschiedenen Verhandlungstischen substantiellen Ergebnissen noch entgegenstehen. Keines dieser Hindernisse ist unüberwindbar. Zu den Verhandlungen, in denen am schnellsten und am effektivsten ein substantielles Ergebnis erreicht werden kann, gehören die Verhandlungen über ein umfassendes und weltweites Verbot aller chemischen Waffen auf der Genfer Abrüstungskonferenz.
Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow haben das bei ihrer Begegnung in Genf noch einmal unterstrichen. Ein solches Abkommen soll die Herstellung, Entwicklung und Lagerung von C-Waffen, von chemischen Waffen, verbieten und alle Staaten zur Vernichtung der bestehenden Vorräte an chemischen Waffen und zum Abbau aller Produktionsstätten verpflichten.Für uns, für die Bundesregierung, hat das weltweite Verbot der chemischen Waffen höchste Priorität. Chemische Waffen gehören zu den schrecklichsten Vernichtungswaffen, die man sich vorstellen kann. Nicht nur hier, sondern überall in der Welt müssen sie verschwinden, um diese Geißel von der Menschheit zu nehmen, meine Damen und Herren.
Der Einsatz von chemischen Waffen in regionalen Konflikten in der Dritten Welt in jüngster Zeit unterstreicht doch, wie dringlich es ist, diese Waffen weltweit zu verbieten. Die Erfahrung zeigt leider, daß das Genfer Protokoll von 1925,
das nur den Einsatz von C-Waffen verbietet, aber den Besitz und die Herstellung erlaubt, eben nicht ausreicht.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16685Bundesminister GenscherMeine Damen und Herren, auch eigenes einseitiges Verhalten allein ist nicht in der Lage, die Gefahren zu beseitigen, die in der Existenz chemischer Waffen liegen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das einzige Land der Welt, das vertraglich auf die Herstellung von chemischen Waffen verzichtet hat. Wir unterwerfen uns internationalen Kontrollen. Aber wir müssen heute doch leider feststellen: Unser Beispiel hat eben keine Nachahmung gefunden. Das gehört auch zur Realität.
— Zur Weltmacht komme ich gleich, Herr Kollege. —Die erhoffte Nachahmung blieb auch aus, als die Vereinigten Staaten von Amerika 1969 die Produktion chemischer Kampfstoffe eingestellt haben. Hier ist die Sowjetunion seit 17 Jahren im Verzug.Ein uneingeschränktes weltweites Verbot aller chemischen Waffen, wie sie der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP verlangt, entspricht der Politik der Bundesrepublik Deutschland seit langem.Wir haben hier gestern über die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gesprochen. In dieser Debatte wurde deutlich, daß die Menschen nicht nur in unserem eigenen Lande, sondern daß sie in der ganzen Welt empfinden: unsere Welt ist kleiner geworden. Wir sind aufeinander angewiesen. Letztlich sind wir zu einer Überlebensgemeinschaft geworden. Nicht alles, was technisch möglich ist, ist Fortschritt. Die Gefahren vieler technischer Entwicklungen kennen keine Ländergrenzen. Genauso deutlich ist, daß die Sicherheit heute nicht mehr allein, nicht mehr autonom garantiert werden kann, sondern daß sie kooperativer Lösungen bedarf.
Das habe ich heute morgen gesagt.
Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, daß die Sicherheit nicht allein militärisch erreicht werden kann, daß dazu auch Dialog, Zusammenarbeit, vor allem aber Offenheit, Transparenz, Nachprüfbarkeit gehören, damit Mißtrauen beseitigt wird, das der größte Feind jeglicher Fortschritte bei der Abrüstung ist.
Die Forderung nach dem weltweiten Verbot der chemischen Waffen trägt der Erkenntnis Rechnung, daß unsere Welt kleiner geworden ist, daß das Verbot, hier chemische Waffen nicht haben zu dürfen, aber die Möglichkeit, sie an anderer Stelle doch zu besitzen und dann auch einsetzen zu können, eben keine Sicherheit gibt, sondern im Gegenteil Mißtrauen, Instabilität und Unsicherheit schafft. Deshalb ist ein weltweites Verbot eine unabdingbare Forderung, wenn wir die chemischen Waffen wirklich loswerden wollen.
Die Tatsache, daß bei regionalen Konflikten in der Dritten Welt chemische Waffen verwendet werden, zeigt, daß wir sie weltweit verbieten müssen und daß ein regionales Verbot nicht ausreichen würde.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Probleme reden, die heute einem Abkommen über das Verbot noch entgegenstehen, dann stellen wir fest, daß die Probleme doch nicht in der Forderung nach der weltweiten Geltung liegen. Im Gegenteil, die schwierigen Probleme der Verifikation, der Nachprüfbarkeit werden noch schwieriger, wenn sich das Verbot nur auf einen bestimmten Teil, auf eine bestimmte Region bezieht, aber für andere Teile der Welt nicht gelten soll. Das regionale Verbot ist schwerer und nicht leichter zu verwirklichen. Das ist die Wahrheit.
Wenn wir in der regionalen Beseitigung eine Gefährdung und keine Chance für das weltweite Verbot chemischer Waffen sehen, nutzen wir dennoch alle Möglichkeiten zu Gesprächen mit unseren unmittelbaren Nachbarn im Warschauer Pakt, also mit der DDR, mit der CSSR, um nach Lösungsmöglichkeiten für die noch offenen Fragen eines weltweiten Verbots zu suchen. Diese Gespräche finden auf unserem Vorschlag seit Beginn dieses Jahres in Genf statt. Daneben steht das Thema des Verbots der chemischen Waffen auf der Tagesordnung aller Begegnungen mit den Mitgliedern des Warschauer Pakts und auch der Abrüstungskonsultation mit diesen Ländern.Die Bundesregierung erwartet von allen Teilnehmerstaaten der Genfer Abrüstungskonferenz, daß gerade auch unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl in der im Juni beginnenden neuen Runde der Genfer Abrüstungskonferenz eine neue gemeinsame Anstrengung gemacht wird, mit der sich die Tragfähigkeit der Erklärungen allen Seiten am Verhandlungstisch erweisen muß. Nicht ein Brief ist jetzt geboten, Herr Kollege Bahr; dort am Verhandlungstisch wird jeder Farbe zu bekennen haben, jeder an diesem Verhandlungstisch, da wollen wir keinen besonders auf die Anklagebank setzen.Die Bereitschaft, bei der Lösung offener praktischer Fragen flexibel und kompromißbereit mitzuarbeiten, ist der Prüfstein für die Bereitschaft zur Rüstungskontrolle. Mit der weltweiten Abschaffung dieser ganzen Kategorie von schrecklichen Vernichtungswaffen würde ein Signal der Hoffnung gesetzt werden, daß es gelingt, dann auch mit anderen Kategorien weltweit Schluß zu machen, so wie wir das mit den Mittelstreckenraketen wollen. Die Zeit ist überreif. Das weltweite Verbot ist eben keine Utopie, sondern realistisches Ziel. In Wahrheit sind doch die Verhandlungen in Genf weit fortgeschritten. Aber Kern der offenen Probleme ist immer noch die Frage der Verifikation, der Nachprüfbarkeit.
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Bundesminister GenscherDie deutschen Beiträge haben sich seit Jahren auf diese Frage konzentriert. So hat die Bundesrepublik Deutschland ein Modell eingeführt, das die Kombination von Regelkontrollen mit einem Verfahren zur Überprüfung verdächtiger besonderer Vorkommnisse vorsieht. Aber es gibt auch Übereinstimmung im Bereich der Verifikation. Das betrifft insbesondere die systematische Kontrolle der Vernichtung der vorhandenen C-Waffen-Bestände und die Überprüfung der Beseitigung von Anlagen zur Herstellung von chemischen Waffen.Zu diesen beiden Punkten hat die Sowjetunion am 22. April 1986 in der Abrüstungskonferenz eine Ankündigung von Generalsekretär Gorbatschow vom 15. Januar 1986 verwirklicht. Sie erklärte sich zu internationalen Kontrollen bei der Vernichtung von C-Waffen-Beständen und -Herstellungsanlagen bereit, einschließlich der Inspektionen vor Ort. Wir begrüßen diesen Verhandlungsschritt als Beitrag zur Lösung. Aber damit sind eben nicht alle Fragen beantwortet.Ungelöst ist auch die Überwachung der chemischen Produktion. Hier kann es natürlich keinen Unterschied geben zwischen Produktionsstätten in staatlicher und privater Hand; das muß für beide geiten. Ungelöst ist die Frage der Verifikation im Falle des Verdachtes. Hier ist eine konstruktive Bewegung der Sowjetunion dringlich geboten. Inspektionen vor Ort, die nur mit Zustimmung des betreffenden Staates möglich sind, wären nicht sachgerecht und würden nicht die Kontrollfunktion erfüllen, die zur Vertrauensbildung notwendig ist.Das Bündnis hat bei der. Festlegung der geltenden Strategie der flexiblen Antwort in dem erwähnten Dokument MC 14/3 schon im Jahre 1967 festgelegt, daß, solange C-Waffen nicht gänzlich verboten sind, eine begrenzte Zahl davon bereitgehalten werden muß, um jeden Angreifer von dem völkerrechtswidrigen Einsatz chemischer Waffen abzuhalten, um ihn abzuhalten, chemische Waffen gegen uns einzusetzen. Das ist die Aufgabe. An dieser 1967 festgelegten Aufgabenstellung hat sich nichts geändert. Die amerikanischen chemischen Waffen sind in dem für diese Aufgabe für notwendig erachteten Umfang nur in der Bundesrepublik Deutschland gelagert.Meine Damen und Herren, was damit die Bundesrepublik Deutschland, vor allem aber die Bürger in den betroffenen Gebieten mit der Lagerung seit Jahrzehnten für die gemeinsamen Interessen des Bündnisses auf sich nehmen, sollte bei allen Bündnispartnern richtig eingeschätzt werden.
Deshalb teilt die Bundesregierung voll die von allen Fraktionen noch im Dezember 1985 getroffene Feststellung, daß alles begrüßenswert ist — ich betone: daß alles begrüßenswert ist —, was dazu führt, die auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelagerten Altbestände an chemischen Kampfstoffen wegzubringen. Darum haben wir uns bemüht,das wollen wir erreichen, und das werden wir durch die Zusagen erreichen, die wir bekommen haben.
Der vereinbarte Abzug dieser Bestände, der nicht später als 1992 abgeschlossen sein soll, entspricht nicht nur den Interessen der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. Ich empfehle einmal, mit den Bürgern dort zu sprechen und zu hören, was die dazu sagen, wenn wir hier die Gelegenheit verpassen würden, daß wir diese chemischen Waffen dort loswerden. Dort erwartet man von uns, daß wir alles tun, daß sie endlich von deutschem Boden verschwinden, und dafür setzen wir uns ein.
Meine Damen und Herren, dieser Abzug der chemischen Waffen beendet auch einen Zustand der Singularisierung der Bundesrepublik Deutschland unter den europäischen Partnern und dient damit der Einheit und der Geschlossenheit unseres Bündnisses. Es wird deshalb auch keine Austauschstationierung — neu gegen alt — geben. Der Bundeskanzler hat am 11. April 1986 erklärt: Es wird keine Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in der Bundesrepublik Deutschland geben. Wir sind uns mit den Vereinigten Staaten einig: Es wird in Friedenszeiten keine Verbringung binärer chemischer Waffen in die europäischen Mitgliedstaaten der NATO geben, auch nicht im Rahmen einer Eventualfallplanung, es sei denn, es wird vom Aufnahmeland eigens gewünscht und gebilligt. Wie Sie, Herr Kollege Lange von den GRÜNEN, diese Formulierung kritisieren können, ist mir gänzlich unverständlich. Wenn wir durchsetzen, daß die Voraussetzung einer Stationierung ist, daß ein europäisches Land es verlangen und billigen muß, dann betrachten sie das als eine Perversität. Für mich ist das die Herstellung eines natürlichen Rechtsanspruchs eines souveränen Staates, wie es die Bundesrepublik Deutschland ist. Darum geht es.
Das heißt, daß für uns wie für jedes andere NATO-Land klargestellt ist: Es bedarf unserer Zustimmung. Diese Feststellungen werden durch die Zusicherung des amerikanischen Präsidenten ergänzt, daß, wie dies bei allen anderen wichtigen Bündnisentscheidungen in Sicherheitsfragen der Fall ist, umfassende politische Konsultationen im Rahmen der NATO durchgeführt werden, bevor es zu einer Dislozierung binärer Waffen in einem Eventualfall kommt. Durch das mit der amerikanischen Seite erreichte Einvernehmen ist damit gewährleistet, daß die Bundesrepublik Deutschland für alle Eventualfälle ihre Interessen auf der Grundlage ihrer ungeschmälerten Souveränität wird vertreten können, und das ist ein ganz entscheidender Fortschritt für unser Land.Auch eine Singularisierung irgendeines Landes, auch der Bundesrepublik Deutschland, wird es nicht mehr geben. Das alles geht weit über das hinaus, was in einer intensiven und verantwortlichen Beratung in dem zuständigen Unterausschuß gegen
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Bundesminister GenscherEnde des letzten Jahres übereinstimmend als eine gemeinsame Position bezeichnet wurde. Das Einvernehmen mit den USA beendet die Singularisierung unseres Landes. Es entfernt durch die Billigung des Streitkräfteziels alle chemischen Waffen aus unserem Land, und es liegt in unserer Hand, ob es künftig zu einer Verbringung chemischer Waffen auf deutsches Gebiet kommen wird oder nicht.Die Produktion neuer chemischer Waffen ist und bleibt eine nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Frage, meine Damen und Herren, ob es überhaupt zur Produktion und Einsatzfähigkeit neuer binärer chemischer Waffen der Vereinigten Staaten kommen wird, liegt allerdings in der Verantwortung aller an den Verhandlungen der Abrüstungskonferenz in Genf beteiligten Staaten. Der amerikanische Kongreß hat die Endfertigung neuer chemischer Waffen bis zum 1. Dezember 1987 aufgeschoben und davon abhängig gemacht, daß es bis dahin noch kein umfassendes Abkommen über das Verbot chemischer Waffen gibt.Es gibt keinen Grund, ein solches Verbot nicht zeitgerecht zu erreichen, wenn alle in Genf Beteiligten ihren Worten jetzt Taten folgen lassen.
Ich wiederhole: Wir wollen keine chemischen Waffen. Wir wollen sie weltweit nicht. Deshalb hat für uns das weltweite Verbot die absolute Priorität.
Das ist nicht nur Ausdruck unseres Anspruchs auf unsere ungeschmälerte Souveränität. Das ist auch Ausdruck der Verantwortung, die wir im Bündnis tragen, und der Beiträge, die wir für die gemeinsame Sicherheit leisten.
Wir begründen den Anspruch, daß endlich alle Beteiligten in der Genfer Abrüstungskonferenz einem weltweiten nachprüfbaren Verbot chemischer Waffen zustimmen, auch aus der Tatsache, daß wir als einziges Land vertraglich auf die Herstellung chemischer Waffen verzichtet haben.
Herr Bundesminister — —
Das gibt uns ein zusätzliches Recht. Wir haben deshalb auch das Recht, von allen anderen ...
Herr Bundesminister — —
... die Bereitschaft zur Nachprüfbarkeit vor Ort zu fordern. Wir verlangen von niemandem mehr, als wir selber zu tun bereit sind.
Die Bundesrepublik Deutschland wird in der bevor-
stehenden Runde der Genfer Abrüstungskonferenz
mit ihrem ganzen Gewicht für ein konstruktives
Ergebnis eintreten. Sie wird dabei von jedem anderen Land gleiches Verhalten erwarten.
In Genf stehen jetzt alle Teilnehmerstaaten auf dem Prüfstand.
Danke schön.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bahr? — Nicht mehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt .
Herr Bundesaußenminister, zuerst einmal stehen Sie hier auf dem Prüfstand. Sie haben offenkundig versucht, mit besonders lauter Stimme Ihre eigenen inneren Zweifel an Ihrer Position zu übertönen.
Wir wollen, daß Europa auf Dauer chemiewaffenfrei bleibt. Sie öffnen mit Ihrer Entscheidung heute das Tor für eine weltweite Aufrüstung mit neuen binären chemischen Waffen. Unser Vorschlag für eine chemiewaffenfreie Zone heute in Europa, um schrittweise die Welt insgesamt von der Geißel des chemischen Todes zu befreien,
ist ein begrenzter Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie aber mißbrauchen hier die Genfer Verhandlungen als Alibi für eine Zustimmung zur Herstellung neuer chemischer Kampfstoffe durch die Vereinigten Staaten. Das ist der klassische Weg, um durch Hinweis auf Verhandlungen, die laufen und von denen Sie selber sagen, sie werden nicht so schnell zum Abschluß geführt werden können, neue eigene Rüstungsentscheidungen zu legitimieren. Also: Abrüstungsverhandlungen als legitimatorisches Instrument für Aufrüstungsentscheidungen.
Wir wollen Mitteleuropa in Ost und West überprüfbar, auf Dauer und völkerrechtlich verbindlich von chemischen Waffen freihalten. Ihre Position führt dazu, daß die Sowjetunion in Osteuropa ein Monopol für chemische Waffen aufrechterhält. Wenn Sie diesen Zustand nicht hinnehmen wollen - und dazu sind Sie sicherheitspolitisch ja gar nicht bereit —, bedeutet dies, daß Sie spätestens im Krisenfall Ihr heute gegebenes Versprechen brechen werden und dann zur Stationierung neuer chemischer Waffen bereit sind.
Sie sagen, daß Sie ein Vetorecht gegen die Stationierung neuer chemischer Waffen ausgehandelt haben. Dies begrüßen wir. Aber wir sagen, daß wir die-
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Voigt
ses Vetorecht heute bereits ausüben wollen. Heute bereits wollen wir sagen, daß wir gegen die Stationierung neuer chemischer Kampfstoffe in Europa sind, und zwar unter allen Umständen sind.
Daß Sie hierzu nicht bereit sind, weckt nicht nur unser Mißtrauen, sondern auch das Mißtrauen der deutschen Öffentlichkeit.
Sie sagen: Es gibt noch keine Eventualplanung für chemische Waffen und ihre Stationierung. Dies ist bestenfalls die Halbwahrheit. Sie wissen, daß amerikanische Militärs bereits vor einigen Monaten in Europa und später in den Vereinigten Staaten mit solchen Eventualplanungen begonnen haben und daß solche Eventualplanungen — für Europa und auch für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich -- spätestens bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen werden sollen.
Sie wissen dies, und Sie wissen, daß ich die Wahrheit sage
und daß Sie in dieser Beziehung die Wahrheit verschweigen.
Trotzdem erwecken Sie wider besseres Wissen den Eindruck, als ginge es heute nur um den Abzug und nicht auch um Pläne für eine künftige Stationierung in Europa.
Sie wissen genau, daß der Begriff der Krise, den Sie verwenden, im Grundgesetz nicht vorkommt und daß die Verwendung dieses Begriffs deshalb ein Instrument ist, um in einem solchen militärischen Zustand den Bundestag zu umgehen und unter Umgehung des Bundestages eine Stationierung möglich zu machen.
Dies verurteilen wir, dies kritisieren wir.
Sie sagen, daß eine chemische Vergeltungsstrategie deutschen Interessen widerspricht. Dies stimmt; denn vom Einsatz chemischer Waffen wären insbesondere deutsche Zivilisten in Ost und West und nicht primär sowjetische und amerikanische Soldaten, die sich dagegen schützen können, betroffen. Aber Sie bereiten den Weg für eben diese chemische Vergeltungsstrategie, von der Sie sagen, daß sie deutschen Interessen widerspricht. Denn was anderes ist es, wenn Sie den Weg für binäre chemische Munition ebnen, die leichter transportierbar und damit auch leichter einsetzbar ist? Was anderes ist es, wenn in den Vereinigten Staaten bereits heute Raketenwerfer für chemische Munition, Cruise Missiles mit chemischer Munition und weiterreichende Flugzeuge, also weiterreichende Systeme mit chemischer Munition geplant werden? Was anderes als eine Legitimierung einer neuen Strategie ist es, wenn Sie angesichts dieser Tatsache zur Produktion neuer chemischer Kampfstoffe trotzdem j a sagen?
Militärische Planer in Ost und West beginnen bereits heute, ihre Phantasie für neue chemische Kriegsführungsstrategien zu beflügeln. Dies kann man nur dadurch blockieren, daß man heute zu einer chemiewaffenfreien Zone in Europa ja sagt, daß man heute zu solchen Verhandlungen über eine solche Zone ja sagt.
Die Bundesregierung behauptet, daß die Entscheidung über die Herstellung chemischer Waffen ausschließlich eine nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten sei.
Auch dies ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Denn der amerikanische Kongreß hat uns ein Vetorecht übertragen, und dafür bin ich ihm dankbar. Aber dieses Vetorecht auszuüben, bedeutet auch, jetzt Position zu beziehen. Wir beziehen Position mit einem klaren Nein, und ein solches klares Nein ist für die transatlantischen Beziehungen besser ais ein Ausweichen vor einer klaren Entscheidung.
Ich habe gestern einen Brief von einem amerikanischen Kongreß-Abgeordneten aus Illinois erhalten, in dem es heißt, daß die Europäer einem amerikanischen Kraftziel — er meint damit: Streitkräfteziel —, einschließlich eines eventuellen Kampfeinsatzes, zustimmen müßten.
Und er fragt, was eigentlich die gegenwärtige Politik der westdeutschen Bundesregierung hinsichtlich der Bestimmung eines NATO-Streitkräftezieles sei,
wobei die Herstellung der neuen chemischen Waffen genehmigt werden kann und gleichzeitig die Vorschriften des US-Kongresses eingehalten werden können. Wörtlich: „Genauer gefragt: Wie steht die Bundesregierung zur Aufnahme dieses Streitkräfteziels, und wäre sie bereit, den Kampfeinsatz von solchen Waffen in Europa zu genehmigen?"
Auch ich bin — wie dieser amerikanische KongreßAbgeordnete — der Meinung, daß die Bundesregierung diese Fragen heute klar beantworten muß.
— Nein, weil er kein Vertrauen in die Bundesregierung hat, schreibt er an mich; so ist der Tatbestand:
Er schreibt an mich, weil wir nämlich gute Beziehungen zum amerikanischen Kongreß haben, während Sie offensichtlich nicht wissen, was dort beschlossen worden ist und gedacht wird.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16689
Voigt
Wir meinen, daß Sie in Wirklichkeit diesen entscheidenden Fragen auszuweichen versuchen. Sie wollen keinen Vertrag über eine chemiewaffenfreie Zone, weil Sie sich völkerrechtlich die Option auf eine Stationierung von chemischen Waffen offenhalten wollen. Dies ist Ihr eigentlicher Einwand, und alle anderen Einwände in bezug auf Verifikation, die Ausdehnung der Zone sind vorgeschobene Argumente, sind Alibis, weil Sie sich in Wirklichkeit eine künftige Stationierung offenhalten wollen
und weil Sie hier jetzt erst ja sagen wollen oder den Weg für eine Herstellung von binären Waffen ebnen wollen.
Später, zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie meinen, daß sich die deutsche Öffentlichkeit beruhigt hat, wollen Sie schließlich zu einer Stationierung ja sagen. Das ist ein abgekartetes Spiel,
aber ein abgekartetes Spiel, das wir hier nicht hinnehmen können.
Wenn man so wie Herr Todenhöfer prinzipiell gegen militärisch verdünnte Zonen in Europa und damit auch gegen chemiewaffenfreie Zonen ist, dann wird man auch nie die spezifische Bedrohung Mitteleuropas verhindern und abbauen können. Wer nicht einmal bereit ist, den ersten Schritt in Richtung auf eine militärische Verdünnung in Mitteleuropa, in Richtung auf eine chemiewaffenfreie Zone zu gehen, der wird auch nie den langen Weg zu einer europäischen Friedensordnung erfolgreich beginnen können; er wird dieses Ziel auch nie erreichen.
Ich frage Sie, ob Sie in Wirklichkeit die weltweite Abrüstung und eine europäische Friedensordnung nicht immer nur deshalb verlangen, weil Sie damit ablenken wollen, daß Sie jeden konkreten Schritt, der heute in Europa in Richtung auf dieses Ziel möglich ist, blockieren und untergraben wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Berger .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es eine Waffenkategorie gibt, die auch im antagonistischen System der Bündnisse ohne Sicherheitsverlust für beide Seiten sofort und vollständig abgeschafft werden kann, so ist es die der chemischen Waffen. Man kann mit ihnen weder einen Krieg führen noch ihn verhindern noch ihn gewinnen; sie sind grausam, menschenfeindlich, militärisch sinnlos.
Und dennoch werden und wurden sie eingesetzt — das ist vorhin zitiert worden —, etwa in Ländern der Dritten Welt, auch zur Zeit. Sie haben auch dort die Kriege weder verändert noch beendet. Ich sage noch einmal: Sie taugen weder für militärische Zwecke noch zur Abschreckung, d. h. zur Abhaltung von Krieg.
Aber es sind die infamsten Waffen der Menschheitsgeschichte. Wir müssen daher alles tun
— nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; die Zeit ist ohnehin schon verbraucht —, und zwar gemeinsam, um diese Geißel der Menschheit abzuschaffen. Das ist das eine Ziel. Darüber wird in Genf verhandelt.Wir sollten auch gemeinsam Positionen finden, um in Genf einen Verhandlungserfolg zu ermöglichen. Ich bin mit den Kollegen, die dies hier schon ausgeführt haben, der Meinung, daß regionale Ansätze für Genf nicht hilfreich sind, dort allenfalls stören können und deswegen kein geeignetes Mittel zur weltweiten Ächtung dieser Waffen sind. Das zu dem einen Ziel.Wir haben heute aber auch über ein zweites Ziel diskutiert, das vielleicht ein Stück Weg dorthin sein muß, das aber aus unserem Interesse heraus einen besonderen Wert hat, nämlich die Beseitigung der veralteten chemischen Waffen der Vereinigten Staaten von Amerika von unserem Territorium, und zwar ohne Sicherheitsverlust. Hier hat — das ist bereits deutlich geworden — die Bundesregierung, hat der Bundeskanzler, hat die Union mit vielen Einzelgesprächen einen großartigen Erfolg erzielt. Ich verstehe, daß Sie uns das neiden.
Aber Sie sollten doch soviel nationales Interesse haben, Herr Voigt, Herr Bahr, daß Sie uns wenigstens zu diesem Erfolg ohne Vorbehalte gratulieren.
Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt:
Kohl hat zwar die Entwicklung neuer „binärer" chemischer Waffen durch die USA nicht verhindert, aber der Versuch hätte ohnehin nicht in seiner Macht gestanden. Die SPD stellt die Sache auf den Kopf, wenn sie dies dem Bundeskanzler vorhält und Washington vorwirft, eine Aufrüstungsrunde bei C-Waffen einzuleiten.Und an anderer Stelle:Die Politik der SPD erweckt nur Hoffnungen in Moskau — einem weltweiten Verbot der C-Waffen könnte sie hinderlich sein.Soweit Schröder heute in einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung".Herr Kollege Bahr, ich habe die Ehre, seit einiger Zeit für meine Fraktion dem von Ihnen geleiteten Unterausschuß Abrüstung anzugehören. Ich habe
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Bergerimmer ein Stückchen bewundert, mit welcher Sachkenntnis, aber auch mit welcher Sachlichkeit Sie dort die Verhandlungen leiten.
Ich habe heute bei Ihnen einen seltenen Fall von Rabulistik erfahren.
Herr Kollege Bahr, darf ich Sie noch einmal fragen: Erstens. Ist es nicht auch Ihrer Meinung nach begrüßenswert, daß alles geschieht, was dazu führt, die auf. dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelagerten Altbestände an chemischen Kampfstoffen wegzubringen?
Zweitens. Ist nicht auch nach Ihrer Meinung Zurückhaltung im Hinblick auf die rein amerikanische Produktionsentscheidung für neue binäre Waffen geboten, um dieses Ziel nicht zu gefährden? Drittens. Sind Sie nicht gemeinsam mit mir der Meinung, daß die eventuelle Dislozierung neuer chemischer Kampfstoffe, wenn sie produziert werden, in Europa kein bilaterales, sondern ein im Allianzrahmen zu lösendes Problem darstellt?
Viertens. Ist nach Ihrer Meinung in Friedenszeiten eine Dislozierung neuer chemischer Kampfstoffe auf deutschem Boden auch dann auszuschließen, wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht einziger europäischer Aufnahmestaat im Bündnis bleiben sollte? Und schließlich fünftens: Im Krisenbzw. Spannungsfall kann eine Verbringung chemischer Kampfstoffe nur im Rahmen einer in der Allianz vereinbarten Krisenplanung erfolgen.Herr Kollege Bahr, ich erinnere mich noch lebhaft daran, daß Sie das in der letzten Sitzung unseres Unterausschusses vor Weihnachten als die gemeinsame Position des Ausschusses beschrieben haben. Ich erinnere mich noch daran — ich zitiere jetzt aus dem Protokoll —, daß Sie uns anschließend mit der Bitte in die Weihnachtspause verabschiedet haben, zu prüfen, ob das nicht die gemeinsame Position von Bundestag und Bundesregierung sein könnte. Und heute bewerten Sie einen Verhandlungserfolg der Bundesregierung, wobei diese fünf Punkte voll erfüllt werden, als einen Einstieg in eine neue Rüstungsrunde und verurteilen das. Wo bleibt in der Tat Ihre Glaubwürdigkeit?
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Scheer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf Herrn Wörner eingehen. Es ist kein Zweifel, Herr Wörner, daß das Verhalten der Sowjetunion unverantwortlich war und ist, nicht ebenso wie die USA seit 1969 die Produktion ihrer chemischen Waffen eingestellt zu haben. Das haben wir ebenso wie Sie immer betont und fordern das selbstverständlich von der Sowjetunion.Aber heute geht es um etwas anderes. Es geht um die Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung. Ihre Logik, Herr Wörner — wer in dieser Frage nicht für die Politik der Bundesregierung sei, sei für die Rüstung der Sowjetunion —, ist die Logik eines totalitären Staates und einer demokratischen Auseinandersetzung unwürdig.
Die zentrale Schlußfolgerung aus den Verlautbarungen von Regierung und Regierungsparteien in dieser Debatte ist: Der Öffentlichkeit soll weisgemacht werden, die Zustimmung zur Produktion neuer chemischer Waffen und ihre Aufnahme in das Streitkräftespektrum der NATO seien zwingende Voraussetzung für den Abzug der vorhandenen chemischen Waffen gewesen. Im Klartext behaupten Sie damit aber, daß Sie von der amerikanischen Regierung erfolgreich erpreßt worden seien, einen Abrüstungsschritt durch einen Aufrüstungssprung der NATO einzuhandeln. Das ist wohlgemerkt die Selbstinterpretation der Bundesregierung und der Regierungsparteien.
Die tatsächliche Auslegung — unsere Auslegung — lautet anders. Für uns steht fest, daß die seit Jahrzehnten vorhandenen chemischen Waffen, die veraltet und zum Teil verrostet sind, ohnehin hätten abgezogen werden müssen. Sie sind inzwischen schon in gelagertem Zustand eine nicht mehr tragbare Gefährdung für die Zivilbevölkerung und nicht zuletzt für das Streitkräftepersonal.Fest steht, daß der amerikanische Kongreß seine Zustimmung zur Wiederaufnahme der Produktion von chemischen Waffen definitiv davon abhängig gemacht hat, daß die NATO der Einbeziehung dieser Waffen in das Streitkräfteziel zustimmt. Mit anderen Worten: Es wäre selbstverständlich möglich gewesen, den Abzug der vorhandenen chemischen Waffen sicherzustellen und dennoch die Neuproduktion chemischer Waffen politisch zu verhindern. Darum geht es. Daß ein solcher Weg nicht zu beschreiten versucht wurde, hängt allein damit zusammen, daß sich die Bundesregierung — anders kann ich das nicht sehen — militärischen Forderungen nach verstärkter Einbeziehung chemischer Waffen wieder einmal gebeugt bzw. sich diese zu eigen gemacht hat, und sei es auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium.In dieser Entscheidung liegt der Start — das ist von uns hervorgehoben worden — zu einer chemischen Aufrüstung, die uns auch dann zentral betrifft, wenn die chemischen Sprengköpfe in Friedenszeiten in den USA lagern, denn tatsächlich sind wir damit lediglich knapp zehn Flugstunden von einer präsenten chemischen Rüstung entfernt, daDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16691Dr. Scheersich die entsprechenden Trägersysteme vor allem in der Bundesrepublik befinden, etwa die 155-mmArtilleriegeschosse oder die Mehrfachraketenwerfer vom Typ MLRS. Auf jeden Fall wird sich der Warschauer Pakt auf das jederzeit mögliche Vorhandensein chemischer Waffen bei der NATO weiterhin einstellen, d. h. er wird sich so verhalten — das ist ausrechenbar —, als seien die chemischen Waffen da. Damit sind Entwicklungen eingeleitet, die gleichzeitig die Bemühungen um eine weltweite Ächtung chemischer Waffen untergraben.Es ist praktisch kaum vorstellbar, daß dieselben militärischen Eliten, auf die ich gleich zu sprechen komme, die sich mit der Forderung nach chemischen Waffen für das Einsatzspektrum der NATO gerade durchgesetzt haben, nicht auch einflußreich genug wären, eine weltweite chemische Abrüstung auf die lange Bank zu schieben. Sie werden sich die Waffen nicht ohne weiteres wieder nehmen lassen wollen, die sie aus klar erkennbaren Gründen jetzt bekommen. Diese Gründe liegen in Versuchungen, die Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen glaubwürdiger, wie es heißt, zu machen. Diese atomare Abschreckung gilt seitens der Bundesrepublik als unglaubwürdig, solange sie allein auf Atomwaffen baut und damit die Selbstzerstörung des Landes riskiert. Seitens der USA gilt diese Abschreckung mit atomaren Gefechtsfeldwaffen als unglaubwürdig, solange die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß ein Atomwaffeneinsatz nicht auf das mitteleuropäische Territorium, also regional begrenzt gehalten werden kann und mithin zu einer unaufhaltsamen Eskalation bis zum weltweiten Atomkrieg führen könnte. Dies ist der Stand der Diskussion.Den Ausweg aus diesem Dilemma sehen zunehmend mehr Strategieexperten in der NATO in einer Ergänzung atomarer Gefechtsfeldwaffen durch einsatzfähige, also neue chemische Gefechtsfeldwaffen. Durch die Option für den Einsatz chemischer Waffen, so hofft man, ließe sich eine Abschreckung durch Massenvernichtungsmittel regional begrenzen. Seit längerer Zeit forderte deshalb NATO-Oberbefehlshaber General Rogers, der seinerzeitige Oberkommandierende des amerikanischen Heeres in Europa, General Kroesen, und sein Nachfolger, General Otis, chemische Waffen als Streitkräfteziel. Diese sollten die NATO dazu befähigen, mit chemischen Waffen Schläge in die Tiefe des gegnerischen Raumes vorzunehmen, insbesondere zur Lahmlegung von Flugplätzen oder Kommandozentralen. Als militärische Mindestforderung nannte General Kroesen am 21. März 1985 vor dem Streitkräfteausschuß des amerikanischen Senats, daß neue chemische Sprengköpfe in den USA gelagert sind, während die Trägermittel in Europa bereitgestellt sind. General Rogers forderte die Integrierung chemischer Waffen in das Streitkräfteziel der NATO. Was jetzt als aktuelle Vereinbarung im Rahmen des Weltwirtschaftsgipfels von Tokio erscheint, hat der Militärausschuß der NATO tatsächlich bereits am 13. Februar dieses Jahres einstimmig vorgeschlagen, also mit der Zustimmung des deutschen Vertreters. Am 10. April hat der amerikanische Vertreter in diesem Militärausschuß, General Merrit, vor dem Streitkräfteausschuß des Senats die damit verbundenen Absichten erläutert.
Damit würden die Möglichkeiten für eine begrenzte militärische Abschreckung der NATO im Rahmen der flexible response verbessert werden. -- Das war ein wörtliches Zitat. Chemische Waffen würden — wiederum wörtlich — den Ersteinsatz von Atomwaffen unwahrscheinlicher machen. Und wiederum wörtlich: Ohne dièse Waffen gäbe es eine schnellere atomare Eskalation und wäre die konventionelle Verteidigung der NATO geschwächt. Und schließlich ein weiteres wörtliches Zitat: Dieses Strategieziel wurde der NATO nie zuvor vorgelegt.Die chemische Waffe wird also damit erstmals als ein Abschreckungsmittel eingeführt, und das ist das Gegenteil dessen, was Sie behaupten, nämlich eine Kontinuität zur vorherigen Regierung oder gar zu Bundeskanzler Schmidt, der immer eindeutig erklärt hat, daß er die chemische Waffe als Abschrekkungsmittel ablehnt.Dieses alles wurde nun, wie gesagt, unter Umgehung
auch des deutschen Parlaments bereits am 13. Februar im Militärausschuß der NATO gebilligt,
wird heute vom Verteidigungsplanungsausschuß der NATO nochmals bestätigt und soll am 22. Mai, in einer Woche also, von den Ministern beschlossen werden. Das einzige, was aktuell in den letzten Tagen hinzugekommen ist, ist das Zustimmungsrecht der Bundesregierung, wenn es um das Einfliegen der Sprengköpfe geht. Dies will ich nicht unterschätzen, weil es natürlich ein Stück Souveränität ist. Aber es ändert nichts daran, daß die Bundesregierung der ganzen Angelegenheit der chemischen Aufrüstung und ihren militärstrategischen Ambitionen vollinhaltlich zugestimmt hat.Deren Ergebnis wäre, daß der Einsatz von Waffenvernichtungsmitteln in Mitteleuropa im Falle des Versagens einer Politik der Kriegsverhütung wahrscheinlicher denn je zuvor würde.Die Bundesregierung legt uns also kein Abrüstungspaket vor, sondern eine politische Mogelpakkung.
Dieses alles soll offenkundig zusätzlich durch ein neues Geheimabkommen zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung verborgen werden. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, der Öffentlichkeit, wenigstens aber dem Parlament den Inhalt der Vereinbarungen mit der amerikanischen Regierung vorzulegen.
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Dr. ScheerWenn alles so problemlos ist, wie es die Bundesregierung behauptet, dann dürften Sie auch nichts zu verbergen haben.
Tun Sie es aber doch, dann müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, eine Geheimdiplomatie gegen die eigene Bevölkerung zu betreiben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 13 a, die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 10/4201. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 10/2027 anzunehmen.
Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 13b, dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5378.
Meine Damen und Herren, entgegen der Ankündigung in der Tagesordnung ist für diesen Antrag nicht Ausschußüberweisung, sondern Abstimmung verlangt worden. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/5378 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt worden.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 10/5461 ab. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist dieser Antrag mit Mehrheit bei einer größeren Anzahl von Stimmenthaltungen abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 10/5464. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Antrag ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Borgmann, Frau Eid, Vogel und der Fraktion DIE GRÜNEN
Finanzierung der Apartheid in Südafrika und Namibia durch bundesdeutsche Banken
— Drucksachen 10/3309, 10/5297 —
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Eid.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Freiheitskampf der unterdrückten schwarzen Mehrheit in Südafrika und Namibia gegen das unmenschliche Apartheidregime ist in eine verschärfte Phase getreten: Seit September 1984 wird die Macht der weißen Minderheit durch den opferbereiten Widerstand der Menschen in den schwarzen Vorstädten, in den Industriezentren, aber auch in den ländlichen Regionen und den Bantustans erschüttert.
Auf diese Entwicklung reagiert das Botha-Regime mit offenem Terror und blutiger Unterdrükkung. Auch die Frontstaaten sind Opfer der aggressiven Apartheidpolitik. Durch militärische Überfälle, z. B. in Angola, Unterstützung z. B. der RNMRebellen in Mosambik und durch die wirtschaftliche Destabilisierung dieser Länder soll der Druck im Inneren Südafrikas unter Kontrolle gehalten werden. Das kriminelle Apartheidregime kann sich gegen den steigenden Widerstand im eigenen Land nur deshalb an der Macht halten, weil es vom westlichen Ausland militärisch, wirtschaftlich und politisch gestützt wird.
Die führenden Vertreterinnen und Vertreter der südafrikanischen Opposition, z. B. Winnie Mandela, Bischof Tutu und Oliver Tambo, haben in letzter Zeit wiederholt neben den USA und Großbritannien die Bundesrepublik Deutschland als Hauptstütze des Apartheidsystems vor der internationalen Offentlichkeit an den Pranger gestellt.
Einen Augenblick, Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Meine Herren hier vorne: Schöne Rücken sollen manchmal entzücken können. Das ist aber gerade dann, wenn die Rednerin eine Dame ist, nicht gerade die feine Art. Sie können auch draußen verhandeln, zumal Ihr Tagesordnungspunkt vorüber ist.
Frau Eid, Sie sind dran.
Danke schön.Diese Bundesregierung und weite Teile der bundesdeutschen Wirtschaft sind direkt mitverantwortlich für die Fortsetzung von Unterdrückung und staatlichem Terror in Südafrika und Namibia. Diesen Sachverhalt klagen wir GRÜNEN heute von dieser Stelle aus an.
In besonderer Weise ist das Apartheidsystem in letzter Zeit von Krediten aus dem Westen abhängig. Die Auslandsschulden Südafrikas sind innerhalb kurzer Zeit auf über 24 Milliarden US-Dollar gestiegen. Nachdem der innenpolitische Druck der Apartheidgegner in den USA die US-Banken zum Rückzug aus dem Südafrikageschäft gezwungen hat, sind vor allem die Banken aus der Bundesrepublik und der Schweiz in diese Lücke vorgestoßen. In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage hat die Bundesregierung die internationale Führungsrolle der bundesdeutschen Kreditinstitute bestätigt. „ImDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16693Frau EidZeitraum von- 1982 bis Herbst 1985" — ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung — „betrug der Anteil der unter Konsortialführung deutscher Banken gegebenen öffentlichen Anleihen rund 32 W. — Das ist wahrlich ein bemerkenswertes Eingeständnis. Ein Drittel aller Auslandsanleihen wurden maßgeblich von bundesdeutschen Kreditinstituten plaziert. Einen deutlicheren Beweis für die Schlüsselrolle der bundesdeutschen Banken bei der Finanzierung der Apartheid kann ich mir gar nicht vorstellen. Da nutzt es auch wenig, wenn die Bundesregierung die Wirkung dieser Zahlen durch den angeblich niedrigen bundesdeutschen Anteil an der direkten Kreditvergabe der Banken herunterzuspielen versucht.
Die Zahlen, welche die Bundesregierung an diese Stelle nennt, sind völlig uninteressant, da eingestandenermaßen die Kredite der ausländischen Töchter nicht erfaßt werden.Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage macht erneut deutlich, wie stark Anspruch und Realität in der Südafrikapolitik dieser Regierung auseinanderklaffen.
Auf der einen Seite betont die Bundesregierung immer wieder, daß auch sie die Apartheid ablehnt; auf der anderen Seite verteidigt sie offensiv die Kreditvergabe an das Apartheidregime und trägt somit entscheidend zú seinem weiteren Überleben bei.
Die bundesdeutschen Banken können sich jedenfalls durch diese Haltung der Bundesregierung in ihren Südafrikageschäften bestätigt fühlen. Und das genau ist ja auch von der Bundesregierung gewollt. Selbst die Kreditvergabe von Instituten mit Bundesbeteiligung wird von der Bundesregierung ausdrücklich gerechtfertigt. Schließlich geht es ja um die Exportinteressen der Wirtschaft. Und diese sind allemal höher zu bewerten als ein „paar tote Neger", um einmal die Denkweise unserer Wirtschaftskapitäne zu charakterisieren.Der Zynismus und die Grausamkeit dieser Regierungspolitik sind nicht mehr zu überbieten.
Beispielhaft wird uns hier vor Augen geführt, daß dieser Staat bei der Verfolgung von Außenwirtschaftsinteressen über Leichen geht. Der Überfluß in der Bundesrepublik — unser aller Wohlstand — ist erkauft mit dem Blut der Schwarzen in Südafrika und Namibia. Es schmerzt uns -- aber wir können es gut verstehen —, daß die unterdrückte schwarze Mehrheit in Südafrika und Namibia unser Land in ihrem Befreiungskampf als Hauptfeind betrachtet.Ich möchte noch einige Sätze zur Politik der SPD in der Frage der Südafrikakredite sagen.
Wir begrüßen es, daß sich die Haltung der Sozialdemokraten in den letzten Monaten vor dem Hintergrund des wachsenden Widerstands in Südafrika deutlich geändert hat. Auch von dieser Partei werden inzwischen — zumindest selektive — Wirtschaftssanktionen gefordert. Das geschieht zwar nicht — wie der südafrikanische Widerstand von uns erwartet — in Form eines umfassenden und verbindlichen Boykotts; aber immerhin werden konkrete Eingriffe in die Wirtschaftsbeziehungen befürwortet.Ich finde es bemerkenswert, daß im Antrag der SPD-Bundestagsfraktion vom letzten Oktober ausdrücklich — ich zitiere — der Stopp von Krediten jeglicher Art für Südafrika gefordert wird. Ich frage die SPD: Ist diese Forderung nur leeres Gerede? Oder gilt sie auch schon heute in den Fällen, in denen die SPD für die Kreditvergabe an Südafrika politisch verantwortlich ist?Ich habe vor mir eine Studie liegen, die im Oktober 1985 vom UNO-Zentrum gegen Apartheid in New York veröffentlicht wurde. Darin werden Kredite und Anleihen an Südafrika für den Zeitraum von Mitte 1982 bis Ende 1984 analysiert. Aus der Untersuchung geht hervor, daß auch die Landesbanken von SPD-geführten Bundesländern kräftig beim Kapitaltransfer an das Apartheidregime mitgemischt haben. Die Westdeutsche Landesbank — unter maßgeblicher Kontrolle der SPD-Landesregierung von Johannes Rau — steht sogar an fünfter Stelle in der Liste der bundesdeutschen Kreditgeber.Meiner Kenntnis nach hat sich die SPD bisher zu diesem Sachverhalt nicht geäußert, obwohl ich bei verschiedenen Gelegenheiten SPD-Politiker darauf aufmerksam gemacht habe.
— Ich bin gespannt. — Wir müssen deshalb davon ausgehen, daß die SPD weiterhin über die von ihr kontrollierten Landesbanken an der Finanzierung der Apartheid beteiligt ist.Ich fordere die SPD, Herr Verheugen, dringend auf, diese Mitverantwortung für die Unterstützung des Apartheidsystems sofort zu beenden und den Antrag der eigenen Bundestagsfraktion in die Realität umzusetzen.
Nicht nur in den USA, sondern auch bei uns sind die Kredite nach Südafrika zu einem wichtigen Thema in der öffentlichen Debatte geworden. Die heutige Debatte ist ein passender Auftakt für die Aktivitäten vieler Gruppen gegen die Südafrikageschäfte der Banken. Morgen, am 16. Mai, findet der diesjährige bundesweite Bankenaktionstag statt.
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16694 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Frau EidDies geschieht anläßlich der Hauptversammlung der Dresdner Bank in Köln. In über 80 bundesdeutschen und über 20 ausländischen Städten werden Menschen vor den Filialen dieser Bank protestieren und zur Kündigung der Konten bei den Großbanken auffordern.
Die Dresdner Bank wurde als vorrangiger Adressat dieser Kampagne ausgewählt, da sie bei Anleihen und Krediten nach Südafrika international eine Führungsrolle einnimmt. Außerdem hält die Dresdner Bank eine Mehrheitsbeteiligung an der Südwestafrikanischen Bank in Namibia. Auf diese Weise ist sie an der Ausplünderung der natürlichen Ressourcen der ehemals deutschen Kolonie beteiligt, entgegen dem Dekret Nummer 1 des von der UNO eingesetzten Rats für Namibia.Wir GRÜNEN verurteilen das völkerrechtswidrige Verhalten der Dresdner Bank in diesem Punkt. Es ist anzunehmen, daß die Dresdner Bank auch in die Exportfinanzierung von Uranlieferungen aus Namibia in die Bundesrepublik verwickelt ist und so zum Ausbau des Atomstaats beiträgt. Die GRÜNEN unterstützen diese Aktionen. Wir freuen uns und sind sehr ermutigt über die Tatsache, daß die Protestbewegung bei uns gegen die Unterstützung des Apartheidregimes immer breiter wird.Dem Werbeslogan der Dresdner Bank vom „grünen Band der Sympathie" setzen wir ein grünes Band der Antipathie und des Widerstands gegen Geschäfte mit dem Apartheidregime entgegen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hornhues.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung stellt in der Antwort auf die Große Anfrage u. a. fest, daß erstens von einer Finanzierung der Apartheid durch deutsche Banken in Südafrika und Namibia nicht gesprochen werden kann, zweitens die Intensivierung und Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung positive Auswirkungen auf das Wachstum und auf die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen hat, hier wie im südlichen Afrika — das gelte auch für die entsprechenden Engagements der Banken —, drittens alle Resolutionen und Absprachen der UN und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, die, im Consensus beschlossen, die Zustimmung der Bundesregierung erfahren haben und auf friedlichen und raschen Wandel im südlichen Afrika abzielen, von ihr respektiert werden, daß sie viertens nicht beabsichtige, Boykottmaßnahmen, die Banken betreffen, gegen Südafrika oder Namibia zu ergreifen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt diese Auffassung und begrüßt die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage in ihrer Gesamtheit.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Große Anfrage der GRÜNEN reiht sich in die Kette von Anträgen, Kleinen Anfragen und Entschließungen ein, die wir in den letzten Jahren in großer Zahl hier vorgelegt bekommen haben, die alle gemeinsam ein Ziel hatten, nämlich Boykott, Sanktionen gegen Südafrika mit dem Ziel, die Apartheid in Südafrika abzuschaffen.
Ich habe streckenweise feststellen müssen — ich bin gespannt, was heute kommt —, daß sich die SPD dieser Linie der GRÜNEN allmählich, Schritt um Schritt immer mehr anzupassen scheint.
Frau Kollegin Eid, Sie haben eine Menge gesagt. Aber auf einen Satz habe ich vergeblich gewartet — das war bisher das immer noch halbwegs Verbindende —, nämlich daß wir uns trotz allem Streit darüber, wie man was machen kann, darüber einig seien, daß wir den friedlichen Wandel wollten. Dieses Wort habe ich bei Ihnen vergeblich zu hören gehofft.
Ich unterstelle trotzdem, daß Sie das wollen, daß wir uns wenigstens darin noch einig sein können. Wenn dem so ist, dann stellen sich angesichts der von Ihnen immer wieder vorgebrachten Forderung nach Boykott und Sanktionen meiner Auffassung nach drei Fragen:Erstens. Wie steht es um Chancen zum Wandel, zur Abschaffung der Apartheid hin zu einer gesellschaftlichen und politischen. Ordnung, die von der Zustimmung aller Südafrikaner getragen werden kann? Geht der Weg dahin, oder wohin geht er?Die zweite Frage: Wie steht es um den friedlichen Weg dahin? Ist er noch erreichbar? Gibt es Hoffnung, daß er gegangen wird?Die dritte Frage, die sich stellt, ist: Können Boykott und Sanktionen ein Beitrag sein, diesem Ziel, nämlich dem friedlichen Wandel, zu dienen?
Wenn ich mir anschaue, was sich in den letzten Wochen, Monaten und Jahren in Südafrika entwikkelt hat, so muß ich — bei aller Skepsis und trotz der Widersprüche zwischen Wort und Tat in Südafrika — doch feststellen: Mit der Abschaffung der verhallten PaBgesetze, mit weiteren Maßnahmen, etwa mit der Ankündigung, der Group Areas Act— ein weiterer Eckpfeiler der Apartheid — sei nicht mehr tabu — so der Staatspräsident von Südafrika —, mit der Ankündigung, einen Rat für Verfassungsverhandlungen zu institutionalisieren, tut sich ein Weg auf, von dem man — bei aller Skepsis und bei allem Mißtrauen, die berechtigt sein mögen— mit Sicherheit sagen kann, daß er auf einen grundsätzlichen Wandel in Südafrika abzielt. Das heißt: Ich vertrete bei aller Skepsis die Auffassung, daß es in Südafrika einen Weg hin zu einem Wandel gibt. Das ist meine erste Feststellung.Meine sehr geehrten Damen und Herren, manche sind skeptisch. Ich kann das verstehen. Aber es gibt viele, die meinen, das, was dort langsam vor sich
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16695
Dr. Hornhuesgehe, wegwischen und für nicht existent erklären zu müssen. Wer dies leichtfertig tut und nicht versucht, die sich bietenden Möglichkeiten auch zu nutzen, der muß sich allerdings vorhalten lassen, daß er für die Konsequenzen verantwortlich ist. Er muß letztendlich in Kauf nehmen, daß Tausende mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen, daß man nicht jede Chance zu einem anderen Weg genutzt hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bei meiner bescheidenen Redezeit nein.
Die zweite Frage lautet: Wie sieht es aus mit dem friedlichen Wandel im südlichen Afrika? Wer angesichts der Toten von einem friedlichen Wandel spricht, der muß sich zweifelsohne fragen lassen: Ist es nicht schon ein Stück Zynismus, von einem friedlichen Wandel dort zu sprechen? Die Toten, die es gegeben hat und die es immer noch gibt, das sind die von der Polizei Erschossenen, das sind aber auch diejenigen Schwarzen — dies sollten wir nicht verschweigen —, die man einfachheitshalber zu Kollaborateuren macht und denen man eine Halskrause — so heißt das so schön — umhängt. Das ist ein Reifen, der mit Benzin angereichert wird und der dann in Brand gesteckt wird. Angesichts dieser Toten stellt sich die Frage: Gibt es den Weg noch? Alle Gewalt, Mord und Terror, die wir erleben, rechtfertigen es nicht, auch nur einen Millimeter von unserer Zielvorstellung abzuweichen, auf eine friedliche Veränderung hinzuwirken. Es kann für uns nichts anderes als einen friedlichen Wandel geben. Alle anderen Wege sollten für uns alle prinzipiell nicht akzeptabel sein.
Die dritte Frage: Können, wie ja immer behauptet wird, Boykott und Sanktionen ein Beitrag zum friedlichen Wandel sein? Viele postulieren immer wieder, das sei ein Beitrag zum friedlichen Wandel.
Ich will ganz deutlich sagen: Ich bin nicht um jeden Preis gegen jede Art von Boykott. Es gibt in der Politik auch eine ultima ratio, wenn man sich in einer Situation befindet, aus der man anders nicht mehr herauszukommen glaubt. Meine Analyse lautet: In dieser Situation in Südafrika sind Sanktionen kein Beitrag zum friedlichen Wandel, sondern sie tragen zur Eskalation der Gewalt bei. Sie unterstützen auf der einen Seite vor allen Dingen diejenigen, die auf die gewaltsame Abschaffung der Apartheid setzen. Das macht letztendlich auch einen Sinn. Betroffen sind alle im Lande, Weiße wie Schwarze, nach allen Erfahrungen in der Regel die Ärmeren härter als die Reicheren. Es macht dann j a auch einen Sinn, die Verelendung der Massen und dadurch revolutionäres Potential zu schaffen. Diejenigen, die relativ nachdrücklich auf die Veränderung durch Gewalt setzen, fordern dies von uns. Aber es gibt auch andere.
Auf der anderen Seite werden diejenigen in Südafrika unterstützt, die sich mit aller Gewalt gegen jegliche Veränderung stemmen.
Ich bitte Sie herzlich — wann immer Sie, in meinen Augen leichtfertig, hier mit so schönen Forderungen über den Tisch kommen —, das, was Sie fordern, wirklich einmal in aller Konsequenz zu Ende zu denken. Manche, die dies tun, haben mir gesagt: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Ich weigere mich, dies als Alternativen für unsere politischen Betrachtungen und Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Denn dies heißt: Ganz egal, was passiert, wir sind bereit, das Leben von Tausenden von Menschen in Kauf zu nehmen. Dies kann nicht Ziel unserer Politik sein.
Zusammengefaßt: Boykotte, Sanktionen in der gegenwärtigen Situation führen nicht zu dem, was Sie behaupten. Sie sind kein Beitrag zum friedlichen Wandel, sondern ein Beitrag zur Eskalation der Gewalt.
Wir sind der Auffassung, daß allerdings bei der Frage, was man tun kann, auf vielen Ebenen eine Fülle von Chancen — ich habe dies wiederholt hier erklärt und erkläre es erneut — bisher nicht hinreichend genutzt sind. Damit meine ich uns alle, ich meine die Bundesregierung, ich schließe niemanden aus bei dem Vorwurf, daß wir nicht das, was wir könnten, wirklich tun. Was wir nämlich tun müßten, ist, daß jeder da, wo er seinen Einfluß, seinen Kontakt, seine Möglichkeit hat, tatsächlich einmal nicht dem einen oder anderen applaudiert, weil es so schön ist, weil es einem in den Kram paßt, aus welchen Motiven auch immer, im Munde Partei zu nehmen, sondern die Parteien zu drängen, endlich das zu tun, vor dem alle $eiten behaupten, sie wollten dies, nämlich die Probleme durch Verhandlungen zu lösen.
'Leider habe ich die Gewißheit, daß wir auf diesem Gebiet bisher nicht das Menschenmögliche getan haben. Da sollten wir das tun, was Politikern zuerst zusteht, was uns allen zusteht: uns engagieren. Dann leisten wir tatsächlich Sinnvolles für die Abschaffung der Apartheid in Südafrika und nicht mit dieser Intention dieser Anträge.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Problematik der Finanzierung des südafrikanischen Apartheidsystems durch deutsche Kreditinstitute führt in eine Tabuzone. Das hat der Kollege Hornhues gerade wunderbar vorgeführt, weil er zur Thematik nämlich nichts gesagt hat. Darüber wird auch deshalb nicht gern gesprochen, weil man das volle Ausmaß der deutschen Beteiligung an der Deckung des südafrikanischen Finanzbedarfs kennt und deshalb weiß, warum es
Verheugen
den Betroffenen unangenehm ist, wenn darüber diskutiert wird.
Obwohl die Bundesregierung sich auch bei der Beantwortung dieser Großen Anfrage — wie immer, wenn es um Südafrika geht — um klare Positionen und Bewertungen herumdrückt, lassen die Antworten doch den Schluß zu, daß die Regierung der geistig-moralischen Erneuerung den Kapitalverkehr zwischen der Bundesrepublik und Südafrika für einen völlig normalen Vorgang hält. Sie beweist damit wieder einmal, daß ihr die Sensibilität für die Lage der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit in Südafrika fehlt und daß sie vor allen Dingen die Augen fest zudrückt, wenn es um die deutsche Verstrickung in die fortgesetzten, millionenfachen Menschenrechtsverletzungen in Südafrika geht.
Obwohl der Widerstand gegen die Rassendiskriminierung in Südafrika im Lande selbst und in der ganzen Welt lawinenartig gewachsen ist, hat die weiße Minderheitsregierung in Pretoria die Bereitschaft fehlen lassen, einen grundsätzlichen Wandel herbeizuführen und die volle Gleichberechtigung aller Menschen in Südafrika zu schaffen.
Das sage ich nicht vom Hörensagen, das ist das erschütternde Ergebnis des traurigsten Gesprächs, daß ich in meiner ganzen politischen Laufbahn miterlebt habe, nämlich des Gesprächs mit dem südafrikanischen Präsidenten Botha vor wenigen Wochen in Kapstadt. Dieser Mann ist nicht bereit und nicht in der Lage — das ist das Schlimme, was dabei herausgekommen ist —, einen friedlichen Übergang in Südafrika herbeizuführen.
— Das haben wir ihm gesagt. Aber der neigt nicht zum Zuhören, genausowenig wie Sie oft.
Es ist der südafrikanischen Propaganda und den Zensurmaßnahmen der Regierung Botha zwar gelungen, den Eindruck zu vermitteln, das Land befinde sich in einem Reformprozeß und die Lage habe sich beruhigt. Aber die Wirklichkeit ist ganz anders. Die „Reformen" sind kosmetische Korrekturen. Kollege Hornhues, in dem neuen Paß, den die Leute kriegen, wird drinstehen: white, black oder coloured. Können Sie mir sagen, wo da der Fortschritt ist? In Wirklichkeit sieht es so aus, daß die Minderheit die politische Kontrolle über die Mehrheit behalten will. Jede Reformbereitschaft hört auf, wenn die Machtfrage gestellt ist.
Zweitens. Die Minderheit will an der ungerechten Verteilung des Wohlstands und der Lebenschancen in Südafrika festhalten; ihre Reformbereitschaft hört auf, wenn es um ihre wirtschaftlichen Privilegien geht.
Es ist eine Illusion zu glauben, diese Regierung in Pretoria werde den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen können. Solange das Apartheid-System besteht, ist Gewalt die tägliche Wirklichkeit, und zwar deshalb, weil dieses System seiner Natur nach gewalttätig ist, und erst seine Abschaffung würde den
Weg zu einem gewaltfreien Wandel in Südafrika eröffnen.
Wenn die Bundesregierung ihre eigenen Worte von der Notwendigkeit des Dialogs, des Wandels und der Gewaltlosigkeit in Südafrika ernst nehmen würde, dann müßte sie alles ihr Mögliche tun, um zur Überwindung der Apartheid beizutragen;
aber sie tut genau das Gegenteil.
In voller Kenntnis der immer dringlicher vorgetragenen Appelle der Befreiungsbewegungen, der Kirchen, der Gewerkschaften, der Bürgerrechtsorganisationen in Südafrika, endlich wirksamen Druck auf Pretoria auszuüben, lehnt die Bundesregierung es ab, das einzig wirksame Instrument zu benutzen, nämlich die Reduzierung der Wirtschaftsbeziehungen.
Kollege Hornhues hat soeben einen neuen Akzent in diese Diskussion gebracht. Früher haben Sie immer gesagt, das sei prinzipiell nicht möglich. Jetzt sagen Sie: Prinzipiell geht es doch, aber im Falle Südafrika geht es nicht. Ich will Ihnen einmal ein interessantes neues Argument zitieren: „Selbst wenn wir die Wirksamkeit von Sanktionen in Zweifel ziehen, gibt es für ihre Verhängung bisweilen eine moralische Begründung. Möchten wir wirklich mit einer anderen Regierung zu tun haben, deren Verhalten wahrhaft verwerflich ist?" Jetzt dürfen Sie raten, wer das gesagt hat. Das hat der amerikanische Botschafter hier in Bonn, Burt, am 25. April dieses Jahres auf einer Veranstaltung in München gesagt. Ich kann Herrn Burt da wirklich nur zustimmen.
Der Widerspruch zwischen Worten und Taten in der Südafrika-Politik der Bundesregierung ist so massiv, daß ein solches Maß an Unredlichkeit schließlich doch auffallen muß. Ich möchte der Bundesregierung eines sehr ernst sagen: Was sie heute in Südafrika tut, wird für die Rolle entscheidend sein, die unser Land in einem befreiten Südafrika einmal spielen wird.
Die Führer der schwarzen Mehrheit sagen es jedem, der es hören will, daß sie sich dermaleinst daran erinnern werden, wer ihnen geholfen hat, frei zu werden, und wer auf der anderen Seite gestanden hat. Wir wollen hier rechtzeitig gewarnt haben.
Der Ruf der Bundesrepublik in der südafrikanischen Bevölkerungsmehrheit ist inzwischen verheerend, und nun gibt die Bundesregierung mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage wiederum ein falsches, ein deprimierendes Signal. Die rechtlose Mehrheit in Südafrika und immer mehr Menschen bei uns in den Kirchen, in den Gewerkschaften und anderen Gruppen warten darauf, daß die Bundesregierung endlich einmal sagt, woher der hohe Finanzbedarf Südafrikas stammt, und daß die bereit-
Verheugen
willige Deckung dieses Bedarfs durch deutsche Banken ökonomisch leichtsinnig, politisch instinktlos und moralisch verwerflich ist.
Die Bundesregierung schweigt sich aus, sie sagt nicht, was sie vom Geschäft mit der Apartheid hält, sie findet kein Wort der Kritik für Kreditinstitute, die mit der Finanzierung des Unterdrückungsapparats in Südafrika Geld verdienen wollen. Südafrika hat nämlich deshalb einen so hohen Finanzbedarf, weil es seinen eigenen Reichtum weitgehend dazu verwenden muß, die immensen Kosten des Apartheidsystems zu bezahlen. Die südafrikanische Regierung baut Polizei und Armee immer weiter aus, ihre staatlichen und halbstaatlichen Konzerne brauchen Geld, weil sie das Land in den strategisch wichtigen Bereichen von Auslandslieferungen unabhängig machen sollen. Unsummen verschlingt schließlich auch das auf der Rassentrennung beruhende hochkomplizierte und uneffektive Regierungs- und Verwaltungssystem.
Man könnte ja zu einem anderen Urteil kommen, wenn Anleihen und Kredite für Südafrika für arbeitsplatzschaffende Investitionen in der Privatwirtschaft hergegeben würden; aber das ist nicht der Fall. Kollegin Eid, die Zahlen sind noch viel schlimmer, als Sie sie hier zitiert haben; denn vom Juni 1982 bis zum April 1985 sind wertmäßig 92,1 aller südafrikanischen Anleihen mit Beteiligung deutscher Kreditinstitute entweder direkt an den südafrikanischen Staat oder von ihm kontrollierte Einrichtungen geflossen.
Die deutschen Banken haben eine zentrale Bedeutung für die Finanzierung des Apartheidsystems. Ich habe selbst im südafrikanischen Fernsehen nach der Verhängung des Ausnahmezustandes im vergangenen Jahr einen triumphierenden südafrikanischen Finanzminister erlebt, der noch auf dem Flughafen, aus Frankfurt zurückkommend, seinen Landsleuten erklärt hat, auf die Hilfe der deutschen Banken könnten sie auch weiterhin fest bauen.
Das Engagement der deutschen Banken in und für Südafrika ist genau in dem Umfang gewachsen, wie die internationale Kritik an Südafrika gewachsen ist. Die deutschen Banken haben den freiwilligen Rückzug zahlreicher amerikanischer Großbanken aus dem Südafrika-Geschäft dazu benutzt, ihr eigenes Geschäftsvolumen auszuweiten. Aber atlantische Solidarität darf man bei Banken wohl nicht erwarten.
Die deutschen Banken sind für Südafrika nicht nur als Kreditgeber bedeutsam. Ihre Hauptrolle besteht darin, die südafrikanischen Anleihen zu managen. Von Juni 1982 bis April 1985 haben deutsche Banken bei 18 Anleihen die Konsortialführung gehabt und damit 82,7 Prozent des Gesamtwerts aller öffentlichen Anleihen Südafrikas gemanagt.
Aber auch nach dem Zeitraum, für den mir verläßliche Unterlagen zur Verfügung stehen, haben deutsche Banken als Konsortialführer für südafrikanische Anleihen gewirkt, z. B. im Juni 1985 150
Millionen DM unter der Führung der Deutschen Bank und der Mitführung der Berliner Handels-und Frankfurter Bank, der Commerzbank, der Dresdner Bank, der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank und der Bayerischen Vereinsbank. Im Juli 1985 — also zum Zeitpunkt der Verhängung des Ausnahmezustands — waren es zwei Anleihen in Höhe von jeweils 100 Millionen DM, wiederum unter der Konsortialführung der Deutschen Bank und der Mitwirkung der Berliner Handels- und Frankfurter Bank, der Bayerischen Vereinsbank, der Commerzbank, der Dresdner Bank, der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank und der Bayerischen Landesbank Girozentrale.
Ich will Sie nicht mit Zahlen und Daten langweilen, aber eines möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: Unter den 20 am stärksten an Südafrika-Anleihen beteiligten Banken sind allein sechs deutsche Kreditinstitute: die Bayerische Vereinsbank, die Dresdner Bank, die Berliner Handels- und Frankfurter Bank, die Bayerische Landesbank Girozentrale, die Westdeutsche Landesbank Girozentrale und die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank. Daran fällt zweierlei auf: erstens das starke Engagement in München beheimateter Kreditinstitute, zweitens die Mitwirkung von gleich zwei Landesbanken. Die Bayerische Vereinsbank steht nicht zufällig an erster Stelle der Liste. Der Freistaat Bayern ist nämlich — das ist bezeichnend — Miteigentümer dieser Bank. In ihrem Aufsichtsrat sitzt der bekannte Afrikaspezialist Franz Josef Strauß.
Das alles ist schlimm genug, aber die bis in die jüngste Zeit hinein erfolgte Mitwirkung öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute an der Finanzierung des Apartheid-Systems ist ein Skandal. Wir appellieren an alle deutschen Banken und an die öffentlich-rechtlichen ganz besonders, sich aus dem Südafrika-Geschäft zurückzuziehen und damit dem Beispiel zahlreicher amerikanischer Großbanken zu folgen. An dem Geld, das mit Anleihen und Krediten für Südafrika und mit dem Goldmünzen-Handel verdient wird, klebt Blut. Unsere Banken verdienen ja wahrhaftig nicht schlecht. Der Verzicht auf Gewinne aus den Geschäften mit Südafrika ist ihnen zuzumuten.
Nun sind Sie dran, Herr Dr. Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um gleich einem Mißverständnis vorzubeugen, betone ich, daß meines Wissens alle Fraktionen in diesem Haus das Apartheidregime in Südafrika ablehnen und in keiner Weise gewillt sind, es politisch oder mit anderen Mitteln zu unterstützen.Worüber wir streiten, ist: Was kann eine erfolgreiche Einflußnahme
auf einen möglichst friedlichen politischen Wandelin Südafrika sein? In diesem Zusammenhang hatsich seit der letzten Debatte über dieses Thema am
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Dr. So1ms20. Februar kein neuer Gesichtspunkt ergeben. Wir haben keinen Anlaß, unsere Einstellung zu Wirtschaftssanktionen und Wirtschaftsboykottmaßnahmen zu ändern. Denn wir haben immer die klare Haltung vertreten: Wirtschaftsboykottmaßnahmen haben niemals politische Erfolge bewirkt und können sie in der Zukunft noch viel weniger bewirken, weil die Wirtschaftsräume immer stärker zusammenwachsen.Ginge es allein um die Sache, nämlich um die angebliche Finanzierung der Apartheid durch deutsche Banken, wie soeben vom Vorredner vorgetragen worden ist, so wäre das Thema rasch erledigt. Denn der Anteil der Kreditforderungen der deutschen Banken an den gesamten Kreditforderungen gegen Südafrika beträgt nur 4 % und sinkt. Der Anteil der Finanzierung der deutschen Banken ist also vom Volumen her nicht beträchtlich. Für die Politik und die Wirtschaftskraft Südafrikas spielen deutschen Banken keine entscheidende Rolle.
Das weiße Minderheitenregime in Südafrika bräche nicht zusammen, wenn sich die deutschen Banken ganz aus diesem Markt zurückzögen. Das ist aber nur eine Feststellung von Fakten, das ist nicht der Kern der Aussage, die ich hier treffen will.Die FDP vertritt eine konsequente Linie: Wirtschaftssanktionen sind kein taugliches Mittel und waren es nicht. Seit der Kontinentalsperre, seit dem Röhrenembargo, seit dem Boykott von Rhodesien wissen wir, daß sie immer umgangen werden können.
Auch das weltweite UN-Rüstungsembargo gegen Südafrika, das von der Bundesrepublik strikt eingehalten worden ist,
hat das weiße Gewaltregime in Südafrika nicht in die Knie zwingen, hat die Versorgung mit Waffen nicht behindern können. Wirtschaftssanktionen sind auch deswegen bedenklich, weil sie in den meisten Fällen nicht das Regime, sondern die Bevölkerung treffen, in deren Interesse man j a angeblich handelt, wenn man solche Boykottmaßnahmen fordert. Deswegen haben wir uns gegen wirtschaftliche Sanktionen auch gegen Libyen oder beispielsweise Nicaragua ausgesprochen, auch wenn wir uns dabei natürlich die Kritik unserer amerikanischen Bündnispartner zugezogen haben.In gleicher Weise lehnen wir jetzt Sanktionen gegen Südafrika ab. Deshalb kommt es für uns auch nicht in Betracht, den Banken Vorschriften für ihr Südafrika-Geschäft zu machen. Jedermann weiß nämlich, daß nichts schwieriger wäre, als so etwas zu kontrollieren. Denn Geld ist flüchtig und schwer kontrollierbar. Verbote und Beschränkungen wären überhaupt nur dann durchzusetzen, wenn wir die Freizügigkeit des Geld- und Kapitalverkehrs bei uns erheblich einschränken würden. Ein riesiger Kontrollapparat wäre erforderlich; auch um Hinter-und Mittelsmänner zu identifizieren und auszuschließen. Das Ergebnis wäre: Wir würden uns selbst schaden, die Politik der südafrikanischen Regierung aber in keiner Weise beeinflussen. Die Forderung nach Wirtschaftsboykott, gerade was die Kapitalmärkte betrifft, zeigt ein totales Unverständnis für die heute funktionierenden weltweiten Kapitalmärkte und Kapitalströme.
Sie sind eben überhaupt nicht zu kontrollieren. Wer sich das vorstellt, der muß dann dazusagen, daß wir in jede Bankniederlassung und in jede Bankzentrale Personen stellen müssen, die den Zahlungsverkehr überwachen. Wir müssen die Grenzen schließen und aufpassen, daß keine Transaktionen im Personenverkehr über die Grenzen stattfinden können — und das alles vor dem Hintergrund, daß die deutsche Wirtschaft zu einem guten Drittel in die Weltwirtschaft eingebettet ist und daß wir, mehr als irgendein anderes Land, auf freie Märkte, also auch auf freie Kapitalmärkte, angewiesen sind! Devisenkontrollen können wir nicht einführen. Das würde die Bundesrepublik stärker betreffen als irgend jemand anderen.Wer also das Wirtschaftssystem kennt, wer weiß, daß täglich 200 Milliarden DM im Telefon-Kapitalverkehr um die Welt fließen, die kein Mensch kontrollieren kann, kann sich nicht hinstellen und sagen: Wir aber wollen Wirtschaftsboykott, weil wir die Moralischen sind und damit etwas gegen Südafrika tun. Wenn man weiß, daß man nichts erreichen kann, sollte man diese Forderungen auch nicht öffentlich aufstellen.
Man sollte den Bürgern und Wählern nicht etwas vorgaukeln, was in Wirklichkeit nicht durchzusetzen ist.
Terror, Gewalt und Unterdrückung müssen politisch bekämpft werden;
das ist das Entscheidende. Hierüber haben wir auch innerhalb der EG inzwischen Übereinstimmung erzielt. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst des deutschen Außenministers und seines beharrlichen Eintretens für eine Linie der politischen Vernunft. Eine solche Politik ist keineswegs wirkungslos.Die Rolle der deutschen Banken bei den finanziellen Transaktionen der südafrikanischen Regierung ist weitgehend unbedeutend. Das hat seinen Grund: Ein Regime, das nur auf Gewalt beruht und damit langfristig seinen eigenen Untergang vorbereitet, ist kein Geschäftspartner, dem man Vertrauen entgegenbringt. Die Gesetze des Marktes sind lautlos, weniger spektakulär als politische Schauanträge, aber um so wirkungsvoller.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16699
Dr. SolmsUnser Ziel ist der friedliche Wandel in Südafrika. Für die Unternehmen, die in Südafrika tätig sind, ist im Rahmen der EG ein Verhaltenskodex vereinbart worden. Die Unternehmen sollen an Ort und Stelle darauf hinwirken, das System der Rassentrennung für den Bereich ihres Unternehmens zu beseitigen und allen Arbeitnehmern, unabhängig von ihrer Hautfarbe, die gleichen Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Das ist der richtige Weg, um sozialen Fortschritt in Südafrika zu bewerkstelligen. Gewalt und Blockaden, wie sie von den GRÜNEN auch heute gepredigt werden, taugen nichts.
Sie bewirken das Gegenteil; sie lassen Trotzreaktionen und falsche Solidarisierungen aufkommen. Die FDP hält diesen Weg für falsch. Wir unterstützen den Weg der Bundesregierung, mit politischen Mitteln gemeinsam mit unseren europäischen Bündnispartnern Einfluß auf einen friedlichen Wandel in Südafrika auszuüben. Ich glaube, daß es für diesen Weg keine glaubwürdige Alternative gibt.Ich danke für Ihre Geduld.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Voss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN, soweit möglich, die erbetenen Auskünfte und Zahlen geliefert. Sie hat zugleich betont, daß die Banken in eigener Verantwortung über ihre Geschäftspolitik entscheiden. Die Kreditinstitute bestimmen selbst, mit wem sie Geschäfte abschließen und ob sie dies unter ökonomischen und sonstigen Gründen vertreten wollen. Die Bundesregierung mischt sich in diese Entscheidungen nicht ein, weder bei den Banken noch bei sonstigen Unternehmen und bei Privatpersonen.
In der Großen Anfrage wird der Bundesregierung unterstellt, sie lasse es zu, daß die Ölembargo- und die Rüstungsembargo-Resolutionen der Vereinten Nationen und der Atomwaffensperrvertrag durch die Gewährung von Krediten an die Republik Südafrika und südafrikanische Unternehmen unterlaufen würden. Die Bundesregierung nimmt diese Resolutionen ernst und sorgt für ihre Einhaltung. Es ist eine grobe Fehlinterpretation dieser Resolutionen, wenn man auf sie gestützt den Abbruch der Finanzbeziehungen fordert. Die Finanzbeziehungen abzubrechen, würde einen Totalboykott der Republik Südafrika auf allen Wirtschaftsgebieten mit sich bringen, und das ist in diesen Resolutionen gerade nicht beschlossen worden, meine Damen und Herren.
Die Bundesregierung hielte daher den Abbruch der Finanzbeziehungen zu Südafrika für eine verfehlte Politik. Denn wo käme ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland hin, würde es die geschäftlichen Außenbeziehungen der Wirtschaft an der — sich möglicherweise rasch verändernden — innenpolitischen Situation anderer Staaten ausrichten? Ein Blick auf die politische Weltkarte zeigt, daß leider in vielen Ländern der Erde nicht demokratische Regierungen an der Macht sind, daß Menschenrechte verletzt und elementare Freiheiten nicht gewährt werden.
Wenn Sie Wirtschaftssanktionen gegenüber Südafrika fordern, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, dann müßten Sie konsequenterweise auch Sanktionen gegen zahlreiche andere Länder verlangen. Sie müßten dann auch verdeutlichen, welche Auswirkungen eine solche Politik auf unsere eigene Wirtschaft hätte, und zwar nicht nur unmittelbar durch Ausfall von Aufträgen aus den betreffenden Ländern, sondern insbesondere auch mittelbar; denn unser Ruf
als zuverlässiger Wirtschaftspartner stünde auf dem Spiel.
Im übrigen gibt es keine Wirtschaftssanktionen, die nicht umgangen werden, auch gerade von den Ländern, die selber Sanktionen gefordert haben. Die Erfahrungen mit in früheren Zeiten gegenüber anderen Ländern verhängten Wirtschaftssanktionen haben dies deutlich genug gezeigt. Wenn wir also daran mitwirken wollen, daß sich die Verhältnisse in Südafrika ändern, müssen wir in Südafrika, im Lande selbst ansetzen. Und hier hat die Bundesregierung durchaus Beachtliches vorzuweisen.
Als Beispiel nenne ich den mit unseren Partnern in den Europäischen Gemeinschaften erarbeiteten Verhaltenskodex für in Südafrika tätige Unternehmen. Jedes Unternehmen, das eine Exportbürgschaft des Bundes erhält, muß diesen Verhaltenskodex als für sich verbindlich ansehen. Der Kodex regelt insbesondere die innerbetrieblichen Beziehungen und die Rechte und Aufstiegsmöglichkeiten der schwarzen Arbeitnehmer. Der Verhaltenskodex hat die Bildung schwarzer Gewerkschaften begünstigt und dadurch die Voraussetzungen geschaffen, daß schwarze Arbeitnehmer ihre Interessen besser als bisher wahrnehmen können. Die Unternehmen, die den Verhaltenskodex anwenden, spielen eine Vorreiterrolle und bewirken auch bei anderen Unternehmen Veränderungen in den Beziehungen mit ihren schwarzen Arbeitnehmern.
Zusammenfassend stelle ich fest:
Erstens. Die Bundesregierung verfolgt im südlichen Afrika eine zielstrebige Friedenspolitik, mit der sie dazu beitragen will, die Konflikte zu entschärfen und die Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung zu schaffen.
Zweitens. Bei dieser Politik handelt die Bundesregierung gemäß den Grundsätzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Durchsetzung der Menschenrechte, des Gewaltverzichts, der Nicht-
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Parl. Staatssekretär Dr. Voss
einmischung sowie der Achtung und Souveränität und der territorialen Integrität der Staaten.
Drittens. Die Bundesregierung ist bestrebt, in Südafrika einen friedlichen Wandel zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu begünstigen. Sie unterstützt alle Bestrebungen, die das Ziel haben, auf friedlichem Wege die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsteile in Südafrika voranzubringen.
Viertens. Die Bundesregierung verfolgt ihre Ziele im südlichen Afrika in ständiger Abstimmung und engster Kooperation mit ihren westlichen Freunden und Verbündeten.
Fünftens. Die Bundesregierung hält jedoch Sanktionsmaßnahmen nicht für das geeignete Mittel, um die innenpolitischen Verhältnisse in Südafrika zu verändern. Unser Bestreben ist es, durch kritischen Dialog und über die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen einen positiven Einfluß auf die Entwicklung in diesem Land zu nehmen.
Sechstens. Die Bundesregierung hofft, daß es in Südafrika trotz der seit Jahren aufgestauten Emotionen gelingen wird, auf friedlichem Wege die Probleme zu überwinden.
Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung im Sinne einer direkten Erwiderung hat die Abgeordnete Frau Eid das Wort.
Ich möchte die Unterstellung des Herrn .Kollegen Solms zurückweisen, ich hätte Gewalt gepredigt. Er hat offenbar nicht zugehört.
Ich habe gesagt, daß das Regime in Südafrika in seiner Gewalt und in seiner Repression durch bundesdeutsche Banken unterstützt wird. In diesem Zusammenhang habe ich das Wort Gewalt verwendet.
Wir GRÜNEN sind immer dafür eingetreten — das haben wir auch getan, wenn wir hier darüber geredet haben —, in allen Konfliktregionen dieser Welt nach friedlichen politischen Lösungen zu suchen.
Damit ist die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt beendet.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts des Innenausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die sofortige Stillegung von
Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 10/1913, 10/5459 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Warrikoff Reuter
Dr. Hirsch
Schulte
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ich sehe keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schulte .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits seit über eineinhalb Jahren schmort das Atomsperrgesetz der Fraktion DIE GRÜNEN in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Als wir den Entwurf dieses Gesetzes über die sofortige Stillegung von Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland einbrachten, hatte keiner von uns auch nur ansatzweise geahnt, welche brisante Aktualität dieses Gesetz bekommen würde.
Die Begründung zu unserem Atomsperrgesetz wird eingeleitet mit einem Zitat von Albert Einstein. Ich zitiere:
Die entfesselte Gewalt des Atoms hat alles verändert, nur unsere Denkweise nicht, und so gleiten wir auf eine Katastrophe zu, die die Welt noch nicht gesehen hat.
Wie recht Herr Einstein hatte!
Mit Tschernobyl ist die Katastrophe da. Die entfesselte Gewalt des Atoms haben Millionen Menschen zu spüren bekommen. Große Teile Europas wurden radioaktiv verseucht. Tausende von Strahlenopfern werden das mit ihrem Leben bezahlen. Heute wissen wir: Eine friedliche Nutzung der Atomenergie gibt es nicht und kann es nicht geben.
Wer angesichts der schrecklichen Katastrophe von Tschernobyl weiterhin von einer friedlichen Nutzung der Atomenergie spricht, gehört zu den zynisch verlogenen Propagandisten der Atomlobby.
Tschernobyl hat endgültig bewiesen: Die Atomtechnologie ist die unsicherste, umweltschädlichste und menschenverachtendste Großtechnologie überhaupt. Ein Super-GAU kann sich jeden Tag wiederholen, auch in bundesdeutschen Atomkraftwerken. Deshalb müssen wir schleunigst raus aus dieser teuflischen Atomtechnik.
Das Atomsperrgesetz der GRÜNEN bietet hierzu die rechtliche Voraussetzung. Es beinhaltet sowohl die Aufhebung des derzeitigen Atomgesetzes als
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn,.Donnerstag, den 15. Mai 1986 16701
Schulte
auch einen Gesetzeserlaß, der die Stillegung aller Atomanlagen vorsieht.
Ein derartiges Atomsperrgesetz wurde übrigens bereits vor Jahren in einem Nachbarland verabschiedet. Im November 1978 votierte die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher in einem Volksentscheid gegen die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf. Seitdem können wir Österreich zum einzigen wirklich sicheren Atomkraftwerk gratulieren.
Hätten wir in der Bundesrepublik eine Möglichkeit, in einem Volksentscheid über unser Atomsperrgesetz abstimmen zu lassen, so würde sich heute ebenfalls eine breite Mehrheit für die Stillegung aller AKWs aussprechen.
Meine Damen und Herren, nach Tschernobyl stellt sich für viele die zentrale Frage: In welchem Zeitraum können die bundesdeutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden? Im Auftrag der GRÜNEN haben mehrere unabhängige Wissenschaftler Untersuchungen durchgeführt. Fazit: Der Abschied vom Atomstrom ist innerhalb von nur einem halben Jahr erstens technisch machbar, zweitens ein sicherer Beitrag zum Umweltschutz, drittens energiepolitisch und volkswirtschaftlich sinnvoll und viertens ein wesentlicher Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Ich möchte dies im einzelnen begründen, besonders auch deswegen im einzelnen begründen, weil zur Zeit die mächtige Atomlobby zusammen mit dieser Bundesregierung einen Propagandafeldzug begonnen hat. Nachdem die Statthalter der Atomindustrie, vorneweg Atomminister Zimmermann, mit ihren Beschwichtigungsversuchen keinen Erfolg bezüglich des wahren Ausmaßes der TschernobylKatastrophe hatten, versúchen sie nun, den Bundesbürgern weiszumachen, ein Ausstieg sei überhaupt nicht machbar. Dies ist erstunken und erlogen.
Richtig ist zwar, daß zur Zeit etwa ein Drittel des Stroms in Atommeilern produziert wird, richtig ist aber auch, daß wir auf Grund des überflüssigen Baus von Atomkraftwerken
inzwischen eine Überkapazität von ca. 30 000 MW erreicht haben.
Herr Präsident, könnte ich in Ruhe fortfahren?
Ich bin im Augenblick durch eine andere Frage abgehalten worden zuzuhören. Ich habe es nicht gehört. Ich werde mich bei den Stenographen erkundigen.
Bei einer Atomstromkapazität von 16 200 MW heißt das, wenn bestehende Kohle- und Mischfeuerungskraftwerke die Stromproduktion aller AKWs übernehmen, verbleibt immer noch eine Überschußreserve von 13 800 MW; das sind 23 % mehr als der Spitzenbedarf. Ein Ausstieg aus der Atomtechnologie ist also technisch machbar.
Wie sieht es nun aus mit der Behauptung, zusätzliche Emissionen von Stickoxiden und Schwefeldioxid wären die Folge? Mit einem umfassenden Maßnahmebündel ließe sich ein Anstieg dieser Luftschadstoffe vermeiden, ja, mittelfristig sogar unter das Niveau der Großfeuerungsanlagen-Verordnung absenken. Dazu gehören der Mehreinsatz von praktisch schwefelfreiem Erdgas, der vorübergehende Einsatz von Schwefel- und stickstoffarmer Importkohle, der sofortige Verzicht auf extrem schwefelhaltige Braunkohle sowie der schnellstmögliche Einbau von Rauchgasentschwefelungsanlagen und Entstickungsanlagen.
Selbstverständlich müssen alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, so viel Energie wie möglich einzusparen. Ich hoffe überhaupt, daß Tschernobyl dazu beiträgt, das unverantwortliche Energieverschwenden in den Industriestaaten endlich zu beenden.
Meine Damen und Herren, keiner wird behaupten können, ein Ausstieg aus der Atomenergie mit solch hohen Umweltschutzanforderungen sei zum Nulltarif zu haben, aber unabhängige Experten schätzen die Umstellungskosten auf ca. 2 Pfennig pro Kilowattstunde und den zusätzlichen Finanzbedarf für die Umweltschutzmaßnahmen auf nur 4 Pfennig pro Kilowattstunde.
Ich denke, das muß möglich sein. Diesen Preis, den wir alle für die Abkehr von einer falschen, einseitig auf die Atomtechnologie fixierten Energiepolitik zahlen müssen, hat im Prinzip diese Bundesregierung zu verantworten,
denn hätte man die dreistelligen Milliardensummen nicht in die Atomkraft, sondern gleich in Energieeinsparung und umweltfreundliche Kohletech-
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Schulte
nologien investiert, könnten wir heute sicherer, billiger und gesünder leben.
Ein Abschalten der Atomkraftwerke hätte aber auch — dies wird in der jetzigen Diskussion viel zuwenig berücksichtigt — enorm positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.Durch ein Energieeinsparprogramm und durch Umweltschutzmaßnahmen werden ca. 400 000 Arbeitsplätze gesichert oder neu geschaffen. Der Verzicht auf kapitalintensive Atomanlagen ist somit auch ein wesentlicher Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit.
Dabei müssen wir uns natürlich eines klarmachen: Der Ausstieg aus der Atomenergie kann nur der Beginn einer grundlegenden Wende in der Energiepolitik sein, der Beginn einer grundlegenden Neuorientierung und vor allen Dingen einer Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes.Meine Damen und Herren, ob wir diese Kurskorrektur, in Zukunft ohne Atomenergie zu leben, schaffen, hängt u. a. von der SPD ab, aber da habe ich in der Frage, wie ernst es Ihnen, meine Damen und Herren, mit dem Ausstieg wirklich ist, doch berechtigte Zweifel. Gestern haben mehrere Redner der Sozialdemokratie den Standpunkt vertreten: Es dürfen keine neuen AKWs ans Netz gehen. Aus der namentlichen Abstimmung über unseren Baustopp-Antrag zu Brokdorf, Ohu, Kalkar, Lingen und Neckarwestheim geht aber etwas ganz anderes hervor: Nur 16 von 202 SPDlern stimmten gegen die Inbetriebnahme neuer AKWs.
Wenn Sie noch nicht einmal in der Opposition zu Ihrem Wort stehen, wie soll das erst aussehen, wenn Sie wieder einmal an der Macht sind? Sie reden vom Ausstieg aus der Atomenergie, aber gleichzeitig stimmen 80 % von Ihnen für noch mehr Atomkraftwerke. Dieses Verhalten ist meiner Auffassung nach genauso verlogen wie das der Bundesregierung, die angeblich Frieden schaffen will mit immer weniger Waffen und gleichzeitig neue Mittelstreckenraketen stationiert.
Der Eiertanz der SPD macht eines deutlich: Dann, wenn wir aus der Atomenergie wirklich herauswollen, brauchen wir eine starke, eine sehr starke außerparlamentarische Bewegung. Die AntiAKW-Bewegung in den 70er Jahren hat den Zubau nicht aller AKWs verhindern können, aber sie steht jetzt vor der großen historischen Chance, das ganze Atomprogramm zu kippen.
Dazu brauchen wir viel Kraft, viel Mut und viel Phantasie.Im Namen der GRÜNEN fordere ich von dieser Stelle aus alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich mit der Anti-AKW-Bewegung zu solidarisieren. Unterstützt massiv das Volksbegehren, geht auf die Straße, beteiligt euch an Demonstrationen und Aktionen! Wir dürfen keine Ruhe mehr geben, bis das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet ist!
Herr Abgeordneter Schulte, Sie haben in Ihrer Rede Ausdrücke wie „erstunken und erlogen" verwendet. Dies ist unparlamentarisch.
Ich weise es zurück.
Ich finde, es ist eine Aufgabe für uns alle, hier im Stil des Redens eine Weise des Umgangs miteinander zu pflegen, die erträglich ist, auch für den, der diesen Stil sonst nicht pflegt.
Hier sorge ich jedenfalls mit dafür, es so nicht zu machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die GRÜNEN fordern in ihrem Gesetzentwurf die sofortige Stillegung aller Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland. Auf den Reaktorunfall von Tschernobyl reagieren sie hysterisch, radikal und unverantwortlich. Tschernobyl ist gerade nicht überall, wie sie in demagogischer Weise behaupten.
Tatsächlich hat Tschernobyl nichts mit der friedlichen Kernenergienutzung in unserem Land zu tun, nichts mit unseren Reaktorsystemen, nichts mit unserem hohen Sicherheitsstandard, nichts mit unserer Betriebsweise und unseren vielfältigen Kontrollen.
Tschernobyl ist der Inbegriff für die Unfähigkeit des sowjetischen Systems, moderne Industrie verantwortungsbewußt auszubauen.
Ein Bericht über die atomare Großbaustelle Tschernobyl, vier Wochen vor dem Desaster in der Zeitschrift des ukrainischen Schriftstellerverbands veröffentlicht, macht eines offensichtlich: Tschernobyl war der Ort haarsträubender Pfuscharbeit und Schlamperei.
Diesen Bericht empfehle ich Ihnen sehr zur Lektüre.
Herr Dr. Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schulte?
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Bitte schön.
Herr Laufs, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in der Fachzeitschrift „Atomwirtschaft" vom Dezember 1983 der Reaktortyp von Tschernobyl von unseren Experten noch als besonders sicher dargestellt wurde?
Dann müssen Sie sagen, wer das festgestellt hat und aus welchen Kenntnissen heraus er das festgestellt hat. Das war nicht die Auffassung etwa der Bundesregierung oder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich halte mich an den Augenzeugenbericht, der unmittelbar aus der Ukraine kommt. Den sollten Sie lesen, aber vorher Ihre grüne Brille abnehmen.
Herr Dr. Laufs, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfeffermann?
Bitte schön.
Herr Kollege Laufs, würden Sie bestätigen, daß das Zitat, das der Kollege eben gebraucht hat, nicht die Wiedergabe der Meinung und des Urteils eines Mitglieds der CDU-Fraktion, sondern lediglich die Wiedergabe der Beurteilung eines russischen Politikers gewesen ist
und unser Kollege dieses Urteil nur zitiert hat?
Wenn das so ist — ich kenne dieses Zitat nicht; ich habe aber keinen Zweifel daran, daß Sie das geprüft haben, Herr Kollege Pfeffermann —, dann sind die Zwischenfrage von Herrn Schulte und die Verbreitung auf Flugblättern in der Tat auch wieder eine Irreführung unserer deutschen Bevölkerung.
Bei uns selbstverständliche Sicherheitsvorkehrungen wie z. B. mehrere Notkühlsysteme und vor allem ein Stahl- und Beton-Containment waren nicht vorhanden, welche die Auswirkungen verhindert hätten, die uns in den vergangenen Wochen erreicht haben.
Die Bevölkerung der Bundesrepublik ist in ihrer Gesamtheit betroffen worden. Sie erwartet zu Recht von Bund und Ländern und ihren Abgeordneten, daß diese den Sorgen nach dem Unfall von Tschernobyl nachgehen.
Die Frage ist: Können wir in unserem Land die Technik der Kernenergienutzung verantworten? Unsere Antwort ist eindeutig und klar: Die Nutzung einer Technik, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen und die menschliche Gesundheit über Gene-
rationen hinweg nachhaltig schädigen und zerstören könnte, wäre nicht zu verantworten.
Seit der Entdeckung der Kernspaltung hat sich dieser Frage eine ganze Generation von Wissenschaftlern gestellt, und zwar weltweit. Die Antwort aller maßgeblichen Fachleute war und ist: Die Menschheit kann die Kernenergie zu friedlichen Zwecken, d. h. zur Energiegewinnung, nutzen, ohne den Menschen heute und unseren Kindern und Enkeln Schaden zufügen zu müssen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ströbele?
Nein danke.Die friedliche Nutzung der Kernenergie nach dem Stand von Wissenschaft und Technik so, wie wir sie betreiben, ist beherrschbar und keine unkalkulierbar gefährliche Technik.
Zwar können wir auch in unseren Kernkraftwerken technische Störungen und Störfälle nicht ausschließen, aber unser abgestuftes Mehrfachsicherungssystem wird nach menschlichem Ermessen eine Umweltkatastrophe mit Sicherheit verhindern.
Es sorgt insbesondere auch die hohe Qualität der in unseren Kernkraftwerken eingesetzten Komponenten für einen sicheren Betrieb. Sie unterliegen einer intensiven Überprüfung durch Hersteller, Anlagenbetreiber, Behörden und Sachverständige. Das kerntechnische Sicherheitskonzept ist nicht sakrosankt, sondern muß sich jeden Tag aufs neue wissenschaftlicher und auch öffentlicher Kritik stellen.Nun, Schadstoffe, ob radioaktiv oder nicht, machen vor Grenzen nicht halt. Was ist nun mit den Folgen von Tschernobyl? Was ist mit den Kindern, die auf dem Rasen bei 20 000 oder 30 000 Becquerel gespielt haben, radioaktiv belastete Milch getrunken, Blattgemüse mit 200 Becquerel gegessen haben? Was ist mit dem langlebigen Cäsium in unseren Böden? In den vergangenen Jahrzehnten ist keine Umweltbelastung intensiver erforscht worden als die Radioaktivität. Die sachlich begründete und sorgfältig geprüfte Antwort der Strahlenmedizin auf die Frage. nach den Auswirkungen von Tschernobyl im Bundesgebiet lautet: Die zusätzliche Strahlendosis, mit der wir insgesamt rechnen müssen, verschwindet in den Schwankungen der natürlichen Radioaktivität.
Die von der Strahlenschutzkommission und derBundesregierung empfohlenen Vorsorgemaßnahmen zum vorbeugenden Gesundheitsschutz haben
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Dr. Laufsdazu geführt, daß Schäden der menschlichen Gesundheit auszuschließen sind. In der Bundesrepublik ist im Interesse der Strahlenhygiene so schnell und so durchgreifend gehandelt worden wie in keinem anderen Land.
Es drohen keine Spätschäden.Weil es in bestimmten Bundesländern und Gemeinden verwirrende und unsinnige Empfehlungen vom Spielverbot in Sandkästen bis zur Absage von Fußballspielen gab, die man trotz aller Sorge beim besten Willen nicht begreifen kann, möchte ich das Ausmaß der tatsächlichen Belastung mit ein paar Vergleichen deutlich machen.
Herr Abgeordneter, sagen Sie mir bitte, ob Sie noch Zwischenfragen zulassen.
Nein!
Das heißt: für diese Rede generell nicht mehr.
An Granitplatten oder Trachytschiefern, mit denen wir unsere Gartenwege und Terrassen pflastern, lassen sich leicht Strahlungswerte von ständig 40 000 Becquerel pro Quadratmeter messen. An den Sandstränden der deutschen Nordseeinseln haben wir wegen der dort seit Jahrhunderten stattfindenden Schwermineralanreicherung noch vielfach höhere Werte. Es gibt auf einer berühmten dieser Inseln einen Strand für Kinderlandschulheime, an dem die Radioaktivität 400 000 bis 600 000 Becquerel pro Quadratmeter beträgt, also gut das Zehnfache der Werte, die man nach dem sowjetischen Reaktorunfall bei uns vorübergehend gemessen hat. Trotzdem ist die Körperdosis der Kinder, die sich dort wochenlang tummeln und erholen, im Bereich von wenigen Millirem so klein, daß sie in den Schwankungen der sonstigen natürlichen Strahlenbelastung völlig untergeht.
Die natürliche Strahlenbelastung schwankt in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 95 und 207 Millirem pro Jahr. Ein Umzug innerhalb des Bundesgebietes, etwa vom Bodensee nach Koblenz, kann also zur Verdoppelung der Strahlenbelastung führen. Eine äußerst genaue wissenschaftliche Forschung hat über Generationen hinweg nicht den geringsten Hinweis dafür erbracht, daß dadurch die Krebshäufigkeit oder die Zahl der Mißbildungen erhöht würde.
In unseren Wohnhäusern erreichen wir durch radioaktive Stoffe im Baumaterial effektive Strahlendosen von 100 Millirem pro Jahr, in Schweden sogar von 370 Millirem pro Jahr. Wer jährlich etwa 60 1 bestimmter deutscher Mineralwässer trinkt, setzt sich einer Strahlendosis von mehr als 300 Millirem aus. Ein mittlerer Raucher erreicht im Verlauf von 25 Jahren eine Belastung von ca. 20 000 Millirem.
Für die von der SPD und den GRÜNEN favorisierten Kohlekraftwerke hat die Strahlenschutzkommission festgestellt, daß — bezogen auf die gleiche Leistung — die Strahlenbelastung durch Kohlekraftwerke etwa ebenso groß ist wie die Strahlenexposition durch Kernkraftwerke, übrigens nur zwischen 0,1 und 1 Millirem pro Jahr.
Daß Sie all dies natürlich nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil es nicht in Ihre Ideologie paßt, wundert uns nicht.
Aber lassen Sie sich das mal in Ruhe sagen. Ich bringe diese Vergleiche, um den Bürgern zu verdeutlichen, daß die Angstkampagnen der GRÜNEN und von vielen in der SPD haltlos und unverantwortlich sind.
Wie wäre es übrigens, wenn die Dauerprotestler
einmal vor einer sowjetischen Botschaft aufträten?
Wo bleiben denn die Proteste gegen Herrn Gorbatschow, der sich erst nach 19 Tagen zu einer öffentlichen Äußerung bereitfindet und gänzlich ungerührt sein kritikwürdiges Atomprogramm weiter durchziehen will, so, als wäre nichts geschehen? Wir werden nicht aufhören, bohrende Fragen nach den Einzelheiten des Unfallablaufs zu stellen. Wir werden keine Ruhe geben,
bis die Sowjetunion ihre unsicheren Anlagen nachgerüstet hat.
Wir werden nicht nachlassen, von der Sowjetunion Schadenersatz einzufordern.
Der Unfall von Tschernobyl ist aber weder Anlaß zum sofortigen Abschalten unserer Kernkraftwerke noch zum Ausstieg aus der Kernenergie.
Die deutschen Kernkraftwerke gehören zu den sichersten der Welt. Was nützte uns der von SPD und GRÜNEN betriebene Ausstieg, wenn die Kernkraft in unseren Nachbarstaaten weiter genutzt und ausgebaut wird, woran nicht zu zweifeln ist?
Die SPD und die GRÜNEN sollten so viel Anstand haben, den Bürgern die Folgen dieses Aus-
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15.. Mai 1986 16705
Dr. Laufs
stiegs aus der modernen Industriegesellschaft zu nennen, nämlich Massenarbeitslosigkeit,
sozialer Abstieg und neue Armut.
Der Ausstieg aus der Kernenergie ist für unsere energieabhängige Industrienation ohne schwere Erschütterungen nicht machbar, er ist auch nicht nötig. Es geht vielmehr darum, den hohen Sicherheitsstandard unserer Kernkraftwerke fortzuentwickeln, ständig zu überprüfen und ihn durch internationale Zusammenarbeit zu einer weltweit verbindlichen Voraussetzung für die friedliche Nutzung der Kernenergie zu machen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, dies ist ein erregendes Thema. Manchmal gibt es Wechselwirkungen zwischen Rednern und Zuhörern. Aber trotzdem bitte ich darum, sich auf Zwischenrufe zu konzentrieren, die verständlich sind, und nicht auszuarten in eine Ruferei, die das Reden und das Zuhören stört.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
— Herr Abgeordneter, solche Vorwürfe in dieser Art und Weise hier zu machen, werde ich nicht akzeptieren. Ich rufe Sie zur Ordnung wegen solcher beleidigender Vorwürfe.
Das Wort hat der Abgeordnete Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Hause ist jeder zu etwas nutze, wenn auch nur als abschreckendes Beispiel. So, wie die Diskussion jetzt hier läuft, kann man die Probleme, die die Menschen unserer Republik bewegen, nicht bewältigen.
Nach der gestrigen mehrstündigen Debatte befassen wir uns heute erneut mit dem Thema Kernenergie. Das ist angesichts der Ereignisse der letzten Wochen sicherlich nicht verwunderlich. Wir Sozialdemokraten begrüßen es, daß die GRÜNEN ihr Recht nach § 62 der Geschäftsordnung in Anspruch genommen haben, die Aufsetzung dieses Gesetzentwurfs auf die Tagesordnung zu verlangen.Dies gibt mir, meine Damen und Herren, die Gelegenheit, noch einmal die seriöse und sachlich fundierte Position der Sozialdemokraten in dieser Frage zu verdeutlichen, obwohl dieses zugebenermaßen im schrillen Konzert der gegenwärtigen Debatte gar nicht so einfach ist.Ich habe die gestrigen Auseinandersetzungen hier in diesem Hause aufmerksam verfolgt und muß sagen, die teilweise vertretenen Extrempositionen, die Vereinfachung hochkomplexer Zusammenhänge und die teilweise vorgetragene Polemik haben mich erschreckt:
Auf der einen Seite die Gesundbeterei der Regierung, auf der anderen Seite die elitäre Arroganz derjenigen, die schon immer gewußt haben, daß das so ausgehen muß und daß alles falsch ist, was seither gemacht wurde.
— Das ist eine reine Nervensache, Herr Kollege. Ich erläutere Ihnen das nachher, wenn meine zehn Minuten zu Ende sind.Da gefallen sich die GRÜNEN, wie soeben wieder gehört, in Panikmache.
Sie versuchen verständlicherweise, für ihre weitergehenden politischen Zwecke Kapital aus der Katastrophe von Tschernobyl zu schlagen.
Unter dem Vorwand, den Sorgen der Betroffenen Rechnung zu tragen, operieren sie hier mit unverantwortlichen Zahlen
und helfen damit niemandem, sondern sie schüren lediglich die Ängste der Menschen in unserer Republik.
Gleichzeitig bezeichnen Sie alle diejenigen als verbrecherisch — dies tat z. B. die Kollegin Hönes gestern —, die im Bereich der Kernenergie nicht Ihrer Meinung sind.Da gefällt sich der Innenminister darin, Zwischenrufer in die Nähe von Terroristen zu rücken, und unser Bundeskanzler Helmut Kohl erklärt die Kernenergie mit treuherzigem Augenaufschlag für umweltfreundlich, weil sie unsere Luft nicht belaste.
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Reuter— Nur die Ruhe!Ob man die nun wahrhaben will oder nicht, Leugnen hat keinen Zweck: Die Kernenergie und ihre Beherrschbarkeit ist durch den Katastrophenfall in der Sowjetunion in ihre bisher schwerste Krise geraten. Diese Krise ist nicht auf die Sowjetunion beschränkt;
sie wirkt sich weltweit aus. Auch unsere Politik muß nach Antworten auf die Fragen suchen, die diese Katastrophe aufwirft.
— Das macht der immer.Ein Gesetz über die sofortige Stillegung von Atomanlagen in der Bundesrepublik Deutschland kann jetzt nicht die angemessene Antwort sein.
Wir Sozialdemokraten haben im Innenausschuß gegen diesen Gesetzentwurf gestimmt, weil er unrealistisch ist. Wir werden dies auch weiterhin tun.
Nach einer langen, intensiven und teilweise auch sehr schmerzlichen Diskussion in meiner Partei haben wir im Mai 1984 auf unserem Parteitag in Essen beschlossen, die Kernenergie nur als eine Übergangstechnologie zu nutzen mit dem Ziel, eine sichere und umweltverträgliche Energieversorgung ohne Kernenergie zu ermöglichen. Insoweit haben wir Sozialdemokraten keinen Grund, heute unsere Energiepolitik grundlegend zu ändern.Ich möchte jedoch durchaus selbstkritisch sagen: Wir haben in den letzten beiden Jahren zwar gegen die Weiterentwicklung der Kernenergienutzung in Richtung auf eine kommerzielle Plutoniumwirtschaft gekämpft. Unsere Anträge in diesem Hause zur Sicherung umweltfreundlicher Energieversorgung, gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und gegen die Schnellbrutreaktortechnologie belegen dies.
Herr Abgeordneter, da sind zwei Wünsche auf Fragen, vom Abgeordneten Schulte und vom Abgeordneten Bueb. Sind Sie bereit?
Ich habe nichts dagegen.
Also der Abgeordnete Schulte zu einer Zwischenfrage.
Herr Abgeordneter Reuter, können Sie den Anwesenden sagen, wie lange diese Übergangszeit dauert? Dauert sie, wie die Jusos in Bonn fordern, eineinhalb Jahre, dauert sie, wie sie Herr Janßen fordert, zehn Jahre oder, wie sie Herr Jochimsen fordert, 30 bis 50 Jahre?
Herr Kollege, wer heute behaupten würde, er wisse die Übergangszeit, würde die Bürger unserer Republik belügen. Wir streben das schnellstmöglich an.
— Das ist nicht die Frage des politischen Willens, sondern das ist die Frage, ob es auch gelingt. Sie brauchen doch, wenn Sie das durchsetzen wollen, sogar Zweidrittelmehrheiten. Wer diese Fragen lösen will, braucht einen breiten Konsens in diesem Hause. Wer allein mit dem Kopf durch die Wand will wie Sie, wird Null erreichen. Wir brauchen die Barger, die mitmachen, und wir müssen den Bürgern auch zeigen, welche Konsequenzen auf sie zukommen, wenn wir die Kernenergie abschalten. Dazu muß man eine Planung machen,
und dann sagen wir Ihnen auch — —
Jetzt hat Herr Bueb das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege, Sie haben gesagt, Sie wollten aus der Kernenergie einmal aussteigen. Können Sie mir sagen, wenn die Kernenergie zirka bis zum Jahre 2000 weiterläuft — so sind Ihre offiziellen Aussagen: bis 2010 —, was Sie mit dem Atommüll, der dann in der Menge verzwanzigfacht ist, anfangen wollen, wo es heute auf der ganzen Erde noch kein sicheres Atommüllendlager gibt, auch in der Bundesrepublik nicht, in Gorleben oder in Asse? Können Sie es verantworten, zu sagen, die Atomenergie müsse noch weiterlaufen, wenn Sie heute noch nicht einmal wissen, wo der Atommüll hin soll, wo er endgelagert werden soll?
Herr Kollege, Ihre Frage nach der Entsorgung will ich Ihnen folgendermaßen beantworten: Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß alle möglichen Endlagerstätten untersucht werden. Wir sind aber dagegen, daß Sie dort an der Basis die Leute gegen unsere Untersuchungen mobilisieren, wenn dort Endlagerstätten gefunden werden sollen. Das ist der Punkt.
Es gibt Möglichkeiten. Wir müssen da nur weitermachen und forschen. Sie können doch mir nicht vorwerfen, daß diese Technologie eingesetzt wurde. Das war doch vor meiner Zeit und vor Ihrer Zeit. Das sind Entwicklungen — —
— Also, ich stelle fest: Wer ideologisch verklemmt
und nicht bereit ist, Realitäten zu erkennen, wird
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16707
Reuter
auch nicht in der Lage sein, hier eine solche Diskussion sachlich zu führen.
Also, Herr Reuter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Ich muß allmählich darauf aufmerksam machen, daß die anderen zu anderen Tagesordnungspunkten heute abend auch noch reden wollen.
Herr Präsident, ich stelle mit Schrecken fest, daß meine Uhr weiterläuft.
Nein, ich habe zwischendurch immer wieder gebremst!
Sie ist von „4" auf „3" gesprungen. Vizepräsident Westphal: Sie wollen noch eine Zwischenfrage zulassen? — Frau Hönes, bitte schön! Frau Hönes : Also, mein Kompliment.
Sie sind sehr souverän.
Nein, nein! Hier wird gefragt, Frau Hönes.
Die Frage kommt gleich. Aber — —
Nein, sie muß jetzt kommen!
Aber man kann vielleicht auch mal ein Kompliment austeilen! — Wie stellen Sie sich zu der Prognose von Klaus Traube — das ist keine Prognose, sondern eine Feststellung; meine Frage zielt darauf ab, wie Sie sich dazu stellen —, der sagt, daß ein Abschalten heute noch möglich ist, daß es ökologisch und ökonomisch möglich ist und nur eine Frage des politischen Willens ist?
Ich komme im Laufe meiner Ausführungen noch zu dieser Frage. Es ist technisch möglich. Es wäre j a noch schöner, wenn es nicht ginge. Aber ob es verantwortbar ist, das ist die zentrale Frage. Sie müssen doch dann die Konsequenzen bedenken. Wie wollen Sie denn die Entschädigungsleistungen erbringen? In diesem Staat gibt es doch Recht und Gesetz! Sie können doch nicht einfach mit einem verbalen Kraftakt im Deutschen Bundestag alle Kernkraftwerke abschalten wollen.
— Also, ich habe den Eindruck, es wäre gut, wenn
Sie ein Seminar durchführen, bei dem Sie sich dar-
um bemühen, einmal zu ergründen, was noch alles
mit der Kernenergie zusammenhängt. Da werden Sie feststellen, welche — -
— Ja, nicht nur ...
— Ja, ja! Ist in Ordnung!
Jetzt läuft Ihre Zeit wieder weiter, Herr Kollege Reuter!
Ich will mit meinen Ausführungen fortfahren.Wir werden jedenfalls unsere Bemühungen verstärken. Aber im Gegensatz zu den GRÜNEN wollen wir vorher wissen, welchen Preis wir und unsere Mitbürger dafür zu zahlen haben. Deshalb hat die Sozialdemokratische Partei eine Kommission gebildet, die zu diesen Fragen Eckwerte vorlegen soll.
Angesichts des noch nicht ausgeschöpften Potentials energiesparender Technologien und des Vorhandenseins umweltfreundlicher Kohletechnologien für die Stromversorgung
sowie angesichts von Überkapazitäten im Bereich der Stromversorgung besteht sicherlich die Möglichkeit, den Anteil der Kernenergie an der Stromversorgung Zug um Zug zurückzunehmen. Ich betone: Zug um Zug!
Sicher ist es technisch möglich, alle Atomkraftwerke sofort abzuschalten. Es wäre nun auch wirklich schlimm, wenn das nicht so wäre. Ein Ausstieg aus der Kernenergie in einem hochindustrialisierten Land — zumal dann, wenn die anderen Industrieländer die Kernenergie weiter ausbauen — bedeutet jedoch ökonomische, strukturelle und auch soziale Umschichtungen und Brüche
— ich habe das Mikrofon, meine Damen und Herren! —, die man erst in ihren Dimensionen und in ihren Auswirkungen kennen muß, bevor man sie den Mitbürgern zumuten kann.
Nur ein Beispiel. Was sagen Sie denn den 12 000 Arbeitnehmern, die unmittelbar davon betroffen wären?
Das muß man erst erkennen, beraten und erläutern. Danach muß man vernünftige Wege aufzeigen.Die Energielandschaft in unserem Lande ist langfristig gewachsen.
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16708 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Reuter— Liebe Frau Hönes, meine mir angeborene Anständigkeit verbietet mir, Ihnen jetzt darauf zu antworten. Sie wollen j a nur stören!
— Ja, Sie wollen doch nur stören! Das ist doch Ihre ganze Methode!Ich kann Ihnen nur sagen: Es wird lange Jahre dauern — wenn wir heute den Willen haben auszusteigen —, bis wir das in die Tat umsetzen können. Einige Maßnahmen zum Einstieg in den Ausstieg können und wollen wir allerdings sofort ergreifen. Mit uns gibt es keine Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Mit uns gibt es keine SchnellbrutReaktoren. Mit uns wird der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung nicht weiter erhöht.
Mit uns werden alle kerntechnischen Anlagen in der Bundesrepublik erneut sicherheitsüberprüft und selbstverständlich stillgelegt, wenn sie den Sicherheitsanforderungen nicht genügen. Wir sorgen auch für eine gesicherte Erkenntnis. Zusätzlich werden wir uns natürlich darum bemühen, internationale, grenzüberschreitende Vereinbarungen zur Abwendung von Gefahren durch die Nutzung der Kernenergie nicht nur zwischen Ost und West, sondern mit allen europäischen Nachbarn zu erreichen.Bei allen diesbezüglichen Bemühungen werden wir die Bundesregierung unterstützen. Bei allem, was die unterschiedlichen politischen Kräfte in der Bundesrepublik gegenwärtig in dieser Frage trennt, möchte ich doch an dieser Stelle, auch wenn es zur Zeit gar nicht opportun ist, fragen, ob es nicht möglich ist, zumindest zu einem Grundkonsens in dieser Frage zu kommen. Die Opfer, die wir den Bürgern möglicherweise durch den notwendigen Verzicht auf Kernenergie zumuten, werden nur akzeptiert, wenn wir einen breiten politischen Konsens dafür finden können. Dies können wir aber nicht mit der Parole schaffen: „Augen zu und durch" und auch nicht mit der Parole: Haltet die Welt an, ich will aussteigen! Beide Positionen müssen sich aufeinander zubewegen, meine Damen und Herren.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Befürchtung, daß ich die Kollegen der GRÜNEN a uch nicht zufriedenstellen kann.
Politik muß ja mit Emotionen rechnen, aber sie muß sich davor hüten, sich von Emotionen überwältigen zu lassen.
Man muß versuchen, das Problem, das man lösen will,
zu analysieren, um es lösen zu können. Patentlösungen haben meistens den Pferdefuß, daß sie nicht funktionieren.Sie haben 1983 die Stillegung von Kohlekraftwerken verlangt,
Sie haben 1984 die Stillegung von Kernkraftwerken verlangt, und Sie vergessen, daß man, wenn man aussteigen will, woanders einsteigt.
Genau das sagen Sie nicht, wohin Sie eigentlich gehen wollen. Liest man Ihren Gesetzentwurf durch, dann erkennt man die Klippen, zu denen Sie unausweichlich gelangen.Das eine in Ihrem eigenen Gesetzentwurf ist das Problem der Entsorgung. Es muß auch dann gelöst werden, wenn man Ihnen folgen würde.
Ihr Gesetzentwurf begnügt sich mit der lakonischen Formulierung, daß die endgültige Lagerung radioaktiver Abfälle durch ein Bundesgesetz zu regeln sei. Tolle Feststellung! Sehr viel mehr erfährt man dazu auch aus der Begründung nicht. Herr Reuter hat schon gesagt, daß es auch nicht so geht, daß man sagt: Es muß endgelagert werden, aber da, wo untersucht wird, ob es geschehen soll, sind Sie auch dagegen.
Wer aussteigt, muß irgendwo einsteigen.
Die zweite Klippe ist die Frage, was an die Stelle der Kernenergie treten sollte. Auch dazu erfährt man in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs nicht vielmehr, als daß Sie, und zwar bezogen auf das Jahr 1983, der Auffassung sind, daß das damals bestehende Überangebot die Abschaltung unter Kapazitätsgesichtspunkten möglich macht. Irgendeine Perspektive für die weitere Zukunft entwickeln Sie nicht; ich habe sie auch in diesen Debatten nicht gehört.
— Doch, ich habe sehr genau zugehört; aber Sie haben hier offenbar niemanden überzeugen können.Ich bin nun wirklich nicht als ein leidenschaftlicher Befürworter der Kernenergie bekanntgeworden, im Gegenteil.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16709
Dr. HirschAber so geht es eben nicht. Die Freien Demokraten haben immer betont und auch danach gehandelt, daß die Sicherheit der Bevölkerung den Vorrang vor anderen Überlegungen haben muß und daß dementsprechend die Risiken der Kernenergie sowohl während des Betriebes der Kernkraftwerke als auch unter dem Gesichtspunkt der Entsorgung nicht nur beherrschbar sein, sondern tatsächlich beherrscht werden müssen.
Man kann in der Tat bei dem Risikopotential der modernen Technik nicht nach dem Motto handeln: „Augen zu, es wird schon gutgehen", sondern man muß sich immer wieder fragen, ob die Risiken bei der Fortführung einer Politik größer als die Risiken werden, die bei ihrem Abbruch entstehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tatge?
Nein, ich wollte eine Zwischenfrage von Herrn Mann akzeptieren.
Er hat sich aber später gemeldet.
Herr Kollege Mann, Sie waren der erste, bitte.
Da bin ich anderer Meinung, aber Sie sind es, der eine Zwischenfrage zulassen müßte.
Ich meine auch, der Präsident sollte entscheiden. — Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Hirsch, wenn ich die Vorbemerkung machen darf: Ich finde es selbstverständlich, daß Sie uns fragen müssen, welches unsere Konzepte sind.
Nein, Vorbemerkungen gibt es hier nicht, Herr Mann. Sie müssen fragen.
Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß z. B. gestern der frühere Kollege Fischer, jetzt Minister in Hessen,
auf hessische, Herr Kollege Schäfer, gemeinsam von SPD und GRÜNEN entwickelte Energiesparkonzepte und Förderungskonzepte vorgelegt hat, und sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
daß die ökologischen Forschungsinstitute, die kritischen Institute, seit einer Reihe von Jahren umfassende Energiekonzepte vorgelegt haben, die eine Fülle von Einsparmöglichkeiten beinhalten, und sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, — —
Eine Frage kann zweiteilig sein, Herr Mann, aber nun ist es genug.
Daß wir einen sehr hohen Stromüberschuß haben? — Ich bin am Ende!
Sie haben aber schon eine dreiteilige Frage gestellt, während hier nur zweiteilige zugelassen sind. Ein bißchen müssen Sie sich schon an unsere Regeln halten.
Herr Abgeordneter Hirsch.
Herr Kollege Mann, Ihrer letzten Bemerkung, daß Sie am Ende sind, möchte ich zustimmen. Den Eindruck habe auch ich.
Der Kollege Fischer hat sich ja gestern leider einer Diskussion entzogen. Ich habe mehrmals versucht, Fragen zu stellen. Er hat sie abgelehnt, abgewehrt.
— Sehr schade; sehr bedauerlich. — Er hat nicht einmal zu erkennen gegeben, ob er die Thesen, die er vertritt, für die hessische Landesregierung ver- tritt oder ob es seine eigenen sind.
So kann man nicht miteinander umgehen. Wenn man das Recht eines Mitglieds des Bundesrats in Anspruch nimmt, muß man — —
— Natürlich! Ich habe überhaupt nicht erkennen können, für wen er spricht, außer für sich selber. Ich bestreite entschieden, daß das, was er vorgetragen hat, die Meinung der hessischen Landesregierung ist. Er hat sich der Diskussion seiner Thesen in diesem Hause entzogen.
— Richtig! Völlig richtig! Ich komme auf die Frage des Einsparens zurück. Ich teile aber nicht die Meinung, daß Sie die Probleme der Energieversorgung allein mit Einsparen lösen können.
Ich habe also gesagt: Man muß sich entscheiden.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie trotzdem noch fragen ob auch der Herr Tatge, der sich vorhin gemeldet hat, die Erlaubnis bekommt, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich bin sicher, Herr Präsident, daß Sie die Uhr weiter anhalten.
Ja.
Bitte schön, Herr Kollege.
Ich bedanke mich, Herr Kollege. Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß DIE GRÜNEN im Bundestag in vielen Stellungnahmen, Flugblättern und Broschüren für den Aufbau und die Förderung von dezentralen Kohlekraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung und Wirbelschichtfeuerung, für den Aufbau von kleinen Windenergieanlagen, für die Nutzung von Sonnen-
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16710 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Tatgekollektoren, für das Energieeinsparungspotential und — für die Übergangszeit — für die Fernwärmeversorgung und die Gasversorgung eingetreten sind. Sind Sie bereit, das hier zur Kenntnis zu nehmen und dem Deutschen Bundestag zu bestätigen?
Verehrter Herr Kollege, dann frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik", schon lange bevor Sie Mitglied dieses Hauses waren, die Möglichkeiten von Einsparungen, Alternativenergien usw. untersucht und hier im einzelnen dargelegt hat, welche Konsequenzen sich aus dem einen und dem anderen Pfad ergeben.
Es war für alle Seiten des Hauses — ich wiederhole: längst bevor Sie hier sozusagen das Licht der Welt erblickt haben — völlig klar, daß die Position des totalen Verzichts außerordentlich einschneidende wirtschaftliche Folgen haben würde, so daß wir uns entschieden haben, Optionen offenzuhalten. Das ist die Sachlage. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Gut.
In der gestrigen Debatte ist sehr viel über die Probleme der Kernenergie im besonderen, aber auch über moderne Technologien generell gesagt worden. Ich will das hier nicht wiederholen. Es ist mehrmals darauf hingewiesen worden, daß auch auf Grund der Kernenergiedebatte in der Bundesrepublik der Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke in der Bundesrepublik außerordentlich hoch ist. Dem ist nichts Sachliches entgegengestellt worden. Wir sind der Überzeugung, daß eine Stillegung der in der Bundesrepublik betriebenen Kernenergieanlagen nicht verantwortet werden kann, sondern daß sie angesichts des beachtlichen Anteils der Kernenergie an unserer Versorgung außerordentlich schwerwiegende nachteilige Folgen hätte. Man kommt auch nicht an der Erkenntnis vorbei, daß sich an Tschernobyl und den Folgen nichts geändert hätte, wenn in der Bundesrepublik auch nicht ein einziges Kernkraftwerk betrieben worden wäre. Man kommt auch nicht an der Erkenntnis vorbei, daß der Ausstieg aus der Kernenergie immer zugleich der Einstieg in eine andere Energiequelle sein muß.
Dabei können wir zur Zeit realistisch — das zeigen alle Untersuchungen —
als Alternative nur an die fossilen Brennstoffe denken, deren ökologische Probleme offensichtlich sind. In Wirklichkeit liegt das Problem woanders. Eine immer weiter steigende Erzeugung elektrischer Energie wird bei der zur Zeit gegebenen Alternative immer größere ökologische Probleme erzeugen, und zwar unabhängig davon, welcher primärer Energiequellen wir uns bedienen. Darum löst Ihr Antrag in Wirklichkeit keines dieser bestehenden Probleme.
Lassen Sie mich ein paar persönliche Bemerkungen anschließen. Ich verstehe die Sorgen vieler Menschen bei der Nutzung der Kernenergie; ich teile sie. Wir haben kein natürliches Sinnesorgan dafür, Radioaktivität zu merken, Kontaminierung, wie es so schön heißt, zu erkennen und ihre Spätfolgen für einzelne unter uns hinreichend genau vorauszusagen. Niemand entgeht ihr: nicht das Wasser, nicht die Luft, nicht unsere Nahrung, nicht unsere Nachkommen, und das macht sie uns unheimlich.
Darum setzt die Nutzung der Kernenergie große und, wie wir gelernt haben, auch internationale Sicherheitssysteme voraus. Das ist der Grund, warum die Kernenergie nicht in der Lage sein wird, die enorme Energienachfrage zu befriedigen, die in den Ländern der Dritten Welt entstehen wird, die für sie notwendig ist, wenn sie ihren Lebensstandard auf ein auch nur einigermaßen vergleichbares Niveau anheben wollen. Kernenergie ist bei vertretbaren Risiken nur in Ländern mit einer außerordentlich gut entwickelten technischen Infrastruktur nutzbar. Darum stehen die Industrieländer vor einer doppelten Herausforderung: Wir müssen auf Dauer andere Energiequellen entwickeln, die einfacher nutzbar sind. Wir müssen solche Technologien den Ländern der Dritten Welt zur Verfügung stellen können, und wir müssen im eigenen Bereich wegen der wachsenden Umweltprobleme alles Denkbare tun, um den spezifischen Verbrauch der elektrischen Energie noch mehr vom Wachstum des Bruttosozialprodukts abzukoppeln.
Das ist der eigentliche Punkt. Die Zukunft der Industriegesellschaft, das industrielle Wachstum wird auf Dauer eben nicht nur davon abhängen, daß wir mehr Energie erzeugen,
sondern es wird in erster Linie davon abhängen, ob es uns gelingt, mehr Energie einzusparen
und von der Verschwendung der Energie, die wir betreiben, herunterzukommen. Wir müssen unser technisches Wissen, unsere finanziellen Möglichkeiten, unser Forschungspotential in verstärktem Maße auf diese großen Aufgaben ausrichten. Das sind die eigentlichen Probleme und Aufgaben, die sich uns stellen und die nicht gelöst sind.
Wir sind der Auffassung, daß wir die von Ihnen geforderte Stillegung der Atomenergieanlagen unter den gegebenen technischen und wirtschaftlichen Bedingungen in der Bundesrepublik nicht verantworten können. Wir werden aber unverändert alles tun, was notwendig ist, um der damit verbundenen Verantwortung zu entsprechen.
Meine Damen und Herren, bevor ich die Debatte schließe, möchte ich Ih-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16711
Vizepräsident Westphalnen sagen, daß ich als amtierender Präsident zwischendurch die Unterlage gelesen habe, die Grundlage unserer Debatte war. Das war nämlich die Anforderung eines Berichts nach § 62 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung. Einer der vier Berichterstatter— drei davon haben hier geredet — hat das Wort erwähnt, warum wir hier debattieren.Aber ich muß Ihnen den Inhalt vorlesen: Der Innenausschuß hat uns mitgeteilt, daß er diesen Gesetzentwurf am 12. März 1986 beraten und sogar darüber beschlossen hat. Dann heißt es wörtlich:Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses liegen wegen der vordringlichen Bearbeitung wichtiger Gesetzesvorlagen noch nicht vor.Ein amtierender Präsident darf auf so etwas wohl hinweisen und vielleicht auch den Vorsitzenden des Innenausschusses bitten, darauf hinzuwirken, daß Bericht und Beschlußempfehlung für das Plenum nach zwei Monaten fertiggestellt werden.
— Eine Wortmeldung des Ausschußvorsitzenden zur direkten Erwiderung nach § 30 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vorsitzender des Innenausschusses muß ich diese Bemerkung des Herrn Präsidenten aufgreifen.
Zur Information der Kolleginnen und Kollegen des Hauses und sicher auch derer, die hier als Zuhörer dabei sind: Wir haben eine Fülle von Vorlagen.
Bei mehr als 70 sind wir federführend, und genauso hoch ist die Zahl der Vorlagen, bei denen der Ausschuß mitberatend ist. Wir arbeiten in sitzungsfreien Wochen mit Anhörungen, Sondersitzungen. Das Personal des Ausschußsekretariats
— und darauf weise ich bei dieser Gelegenheit ganz besonders gerne hin — ist so knapp bemessen, daß wir nicht mehr in der Lage sind
— darauf habe ich das Präsidium und die Fraktionen seit Monaten hingewiesen —, unsere Arbeit ordnungsgemäß und zügig zu erfüllen.
Ich greife diese Anmerkung des Herrn Präsidenten deshalb sehr gerne auf und richte an die Spitze unseres Hauses, an das Präsidium den Appell und die Bitte, uns personell so auszustatten, daß wir unsere Arbeit, was die Zuarbeit durch die Verwaltung in diesem Bereich des Hauses, im Innenausschuß, angeht, bewältigen können.
Ich bin ihm insofern sehr dankbar; denn die Mitarbeiter des Ausschusses arbeiten zum Teil bis in die Nacht hinein, 16 und 18 Stunden. Hier muß sich dringend etwas ändern,
wenn unsere Arbeit auch in Zukunft noch ordnungsgemäß bewältigt werden soll.
Was den Bericht und die Beschlußempfehlung angeht, so werden wir uns gleichwohl darum bemühen, beides so schnell wie möglich dem Hause zuzuleiten. Das ist selbstverständlich.
Herzlichen Dank dafür, daß ich Gelegenheit hatte, ein dringliches Anliegen in dieser Form einmal einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren.
Das war die einzige erlaubte Form, wie man einem Präsidenten in diesem Hause widersprechen kann.
Im übrigen habe ich während meiner Tätigkeit hier schon Abgeordnete kennengelernt, die Berichte selbst geschrieben haben.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, habe ich noch eine unangenehme Pflicht. In der vorherigen Debatte, als der Kollege Cronenberg amtierender Präsident war, hat es zwei Zwischenrufe gegeben, die noch Ordnungsrufe erfordern. Der Abgeordnete Lange hat den Ordnungsruf verdient für „dummer Demagoge" und der Abgeordnete Dr. Scheer für zweimal „Verleumder". Ich rufe beide Abgeordnete zur Ordnung.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 16:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verhinderung des Mißbrauchs von Sendeanlagen— Drucksache 10/1618 —Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 10/5453 —Berichterstatter:Abgeordnete Linsmeier Bernrath
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16712 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Vizepräsident WestphalDer von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgelegte Änderungsantrag auf Drucksache 10/5474 ist zurückgezogen worden.Meine Damen und Herren, es gibt inzwischen eine Vereinbarung der Geschäftsführer, daß wir keine Debatte durchführen wollen. — Ich stelle fest, daß das übereinstimmende Auffassung ist. Ich akzeptiere, daß die Reden der Kollegen zu Protokoll gegeben werden.*) — Ich sehe dazu keinen Widerspruch.Ich schließe also die Aussprache, an der offensichtlich nur ich mich beteiligt habe.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe Art. 1 auf. Wer dem Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Art. 1 in der Ausschußfassung mit Mehrheit angenommen.Ich rufe die Art. 2 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind mit Mehrheit angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15c auf:a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur (Bestandsaufnahme und Digitalisierung)— Drucksachen 10/3334, 10/5144 —b) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur (Schmal- und breitbandige Fernmeldenetze und Endgeräte-markt)— Drucksachen 10/3335, 10/5145 —c) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur (Gesellschaftliche Auswirkungen)— Drucksachen 10/3336, 10/5146 —Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.*) Anlage 2Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Dann.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Großen Anfragen mit dem Ziel eingereicht, zu erfahren, welches Interesse hinter dem von der Bundesregierung betriebenen Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur steht. Die Antworten der Bundesregierung auf unsere drei großen Anfragen beweisen, daß der Bundespost die Auswirkungen dieser Technologie gleichgültig sind. Weder Bedarf noch Kosten noch gesellschaftliche und ökonomische Folgen der geplanten Infrastruktur wurden bisher abgeschätzt. Dennoch hält die Bundespost an ihrer einseitig nach Industrieinteressen orientierten Fernmeldepolitik fest.
Auch die militärischen Interessen an der Modernisierung des Fernmeldenetzes sind nicht zu unterschätzen. Planungen für das Sondernetz der USArmee in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten bereits 1978 zwischen den USA und der damaligen Bundesregierung.
In den Antworten wird wieder einmal der Stellenwert der fernmeldetechnischen Infrastruktur für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und für den Erhalt von Arbeitsplätzen betont. Doch kann die Bundesregierung diese Behauptung durch nichts belegen. Im Gegenteil: Aus einer Antwort geht sogar hervor, daß die Zahl der Arbeitsplätze in der Fernmeldeindustrie von 1981 bis 1984 rückläufig war. Das wird sogar vom posteigenen „Wissenschaftlichen Institut für Kommunikationsdienste" bestätigt. Dort heißt es in einem Beitrag vom November 1985:
In allen Herstellerbereichen waren 1983 60 000 Beschäftigte weniger tätig als noch 1975.
Das arbeitsplatzvernichtende Potential dieser Techniken in anderen Wirtschaftsbereichen ist dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Ein anderer Aspekt: Obwohl die Anschlußzahlen der deutschen Kabeldienste noch immer weit hinter den Erwartungen der Bundespost zurückbleiben und obwohl der Bundesrechnungshof in seinen jüngsten Stellungnahmen für den Haushaltsausschuß die Fehlkalkulationen bei der Breitbandverkabelung erneut kritisiert, sieht die Bundesregierung keinerlei Akzeptanz- und Rentabilitätsprobleme bei ihren Diensten.
Nun zum Datenschutz. Er war immer schon ein Stiefkind der Bundespost. Die Antworten der Bundesregierung beweisen aufs neue, daß die Technik mit ihren angeblichen „Sachzwängen" für die Bundespost absolute Priorität vor Datenschutzansprüchen der Netzteilnehmer hat.
Erstaunt sind wir zudem über die Behauptung der Bundesregierung, technischer Fortschritt ermögliche es erst, „dem Anspruch des mündigen Bürgers auf umfassende und vielfältige Informa-
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16713
Frau Dann
tion über die Grenzen hinweg" gerecht zu werden. Hierzu ist die jüngste Desinformationspolitik der Sowjetunion und der Bundesregierung ein makabres Beispiel.
Trotz modernster Informationsübertragungsmöglichkeiten ist die Bevölkerung ungenügend über die Auswirkungen des Atomunfalls in Tschernobyl informiert und aufgeklärt worden. Es zeigt sich: Nicht die technischen Möglichkeiten, sondern der politische Wille sind entscheidend für die Informationspolitik und für die größere Transparenz der Entscheidungsprozesse.
Andere Fragen, auf die wir gerne eine Antwort bekommen hätten, wurden nicht beantwortet. Ich denke, daß die Bundesregierung nicht weiß -- abgesehen von dem Arbeitsplatzargument, das ich eben widerlegt habe,
und auch der internationalen Konkurrenz —, was der eigentliche Hintergrund unserer Fragestellungen war.
Sie befürworten uneingeschränkt die neuen Technologien. Das kann man auch daran sehen, daß Sie einhellig die neuen Technologien in Abgeordnetenbüros befürworten. Auch in unseren Reihen gibt es Kollegen, die leuchtende Augen bekommen,
wenn sie vor den Computertasten stehen. Diese regressiven Verhaltensweisen versetzen besonders uns Frauen in Schrecken. Frauen spüren offensichtlich den Verlust an menschlicher Beziehung durch die neuen Technologien. Ich frage Sie, Herr Pfeffermann: Wann haben Sie das letztemal einen Brief mit der Hand geschrieben?
— Das war aber bestimmt kein Liebesbrief.
Der Verlust an menschlicher Kommunikation ist der Grund, weshalb wir eine andere Postpolitik wollen. Wir halten eine Kurskorrektur für unbedingt erforderlich. Wir meinen, daß erstens ein Parlamentsvorbehalt im Bereich der Telekommunikationspolitik realisiert werden muß. Das heißt, die wesentlichen Entscheidungen über neue Netze und Dienste der Bundespost müssen vom Parlament getroffen werden.
Die Kompetenzen des Postverwaltungsrates reichen für solche Eingriffe in grundlegende normative Bereiche nicht aus. Durch die Politik der Bundespost wird jedoch massiv in die Bereiche der Kommunikationsfreiheit und der Privatsphäre eingegriffen. Auch der Datenschutzbeauftragte hält in seinem achten Tätigkeitsbericht „eine Prüfung für
erforderlich, ob der § 14 des Postverwaltungsgesetzes als eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Einführung und Regelung solch neuer technischer Kommunikationsdienste anzusehen ist." Wir fordern die Bundespost und ihren Minister auf, nicht länger telekommunikationspolitische Fakten ohne gesetzliche Grundlage zu schaffen.
Zweitens. Den parlamentarischen Grundsatzentscheidungen über die Errichtung neuer Dienste muß eine umfassende gesellschaftspolitische Auseinandersetzung über deren Erforderlichkeit, Wünschbarkeit, Umwelt- und Sozialverträglichkeit vorangehen.
Drittens. Mit ihrer derzeitigen Fernmeldepolitik greift die Bundespost in medienpolitische Entscheidungen der Bundesländer ein. Dieser Eingriff in Länderkompetenzen ist verfassungswidrig. Deshalb fordern die GRÜNEN gesetzliche Regelungen und Verfahren, die die vom Grundgesetz gewollte Kompetenzverteilung wiederherstellen.
Wir prüfen zur Zeit, welche Schritte in diese Richtung wir über das Land Hessen unternehmen können.
Viertens. Der Haushalt der Deutschen Bundespost muß der parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden.
Wir haben heute nachmittag einen Änderungsantrag zum Postverwaltungsgesetz eingebracht. Dieser Antrag sollte bewirken, daß der Voranschlag für den Posthaushalt der Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates bedarf. Leider haben Sie den Antrag abgelehnt.
Fünftens. Für unabdinglich halten wir darüber hinaus eine Neuzusammensetzung des Postverwaltungsrates. Zur Zeit läßt er sich eher als Interessenkartell der Industrie denn als demokratisches Kontrollgremium kennzeichnen. Wir fordern Sitze und Stimmen im Verwaltungsrat für gesellschaftlich relevante Interessengruppen wie Postnutzer, Gewerkschaften, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, Verbraucher und die GRÜNEN, die aus dem Verwaltungsrat ausgesperrt werden.
Sechstens. Wir sind gegen eine Privatisierung oder Teilprivatisierung der Bundespost, wie es aus Wirtschaftskreisen und der Regierungskommission Fernmeldewesen gefordert wird. Wir wollen keine „Rosinenpickerei" der Fernmeldeindustrie, sondern eine dem Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge verpflichtete Bundespost. Auf diese Verpflichtung sollte sich die Bundespost dringend besinnen, statt lediglich industriellen und militärischen Interessen zu dienen!
Der Gemeinwohlverpflichtung widersprechen die Pläne für Gebührenerhöhungen, die bereits in den Schubladen des Postministeriums liegen. Nach diesen Plänen soll mal wieder den Kleinen genommen
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Frau Dann
und den Großen gegeben werden. Standardbriefe und Telefongespräche sollen verteuert werden, während neue Dienste der Geschäftskommunikation zu Schleuderpreisen angeboten werden. Wir fordern dagegen eine soziale Gestaltung der Gebührenstruktur, d. h. Dienste, die vor allem von den privaten Postkunden genutzt werden, sollen billiger werden, während vorwiegend gewerblich genutzte Dienste wie etwa Text- und Datenübertragung relativ teuer angeboten werden sollen. Statt den Datenverkehr auf den elektronischen Autobahnen durch die Gebühren- und Investitionspolitik der Bundespost weiter zu beschleunigen, fordern wir ein Ternpolimit bei der Einführung neuer Technologien und eine verantwortungsvolle Abwägung der Folgen.
Ich komme zum Schluß. Wir wollen keine Sozialverschmutzung, keine Zerstörung zwischenmenschlicher Kommunikation zugunsten eines fragwürdigen technischen Fortschritts.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pfeffermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, ich muß mich herzlich bedanken. Es war ja wohl ein verstecktes Kompliment, daß Sie mit Blick auf mich an einen Liebesbrief gedacht haben, und ich gebe das gerne zurück. Wenn ich Sie so wie jetzt lächeln sehe, kann einem diese Idee auch glatt kommen, und nun werden Sie bitte nicht gleich feministisch, wenn ich hinzufüge: Bei den Ausführungen, die dann folgten, ist mir der Gedanke an den Liebesbrief glatt wieder entfallen, und das war sicher auch Ihre Absicht.Nun also zur Sache: Das Errichten und Betreiben der für die Individualkommunikation erforderlichen Netze betrachtet die Bundesregierung als Aufgabe der Daseinsvorsorge. Ziel ist eine flächendekkende Versorgung, zu gleichen Bedingungen auch bei künftigen Netzgenerationen.
Die Bundesregierung beabsichtigt daher nicht, hier konkurrierende Netzträger zuzulassen.Mit dieser Festlegung, die die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 1986 erneut vorgenommen hat, hat sie der Deutschen Bundespost den Auftrag zugewiesen, das Fernmeldenetz der Deutschen Bundespost als Kernstück einer fernmeldetechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Maßstab für die Aufgaben einer Industrienation auszubauen. Dabei geht die Bundesregierung davon aus, daß einerseits keine konkurrierenden Netzträger zugelassen werden, andererseits aber ein wirksamer Wettbewerb bei den Fernmeldedienstleistungen im Netz der Deutschen Bundespost ermöglicht und durch den Wegfall einengender Reglementierungen größereFreiräume für Innovationen im Endgerätebereich geschaffen werden.Mit ihren Ausbauplänen zur Digitalisierung, zur Schaffung eines schmalbandigen integrierten Fernmeldenetzes ISDN und — danach folgend — einer Erweiterung zu einem breitbandigen integrierten Fernmeldenetz, hat die Deutsche Bundespost als erste Postverwaltung der Welt für diese Aufgabenstellung eine verbindliche Ausbauplanung vorgelegt, die die technischen Voraussetzungen für diese Aufgaben in der Zukunft schafft. Die Deutsche Bundespost hat dafür internationale Anerkennung gefunden. Sie hat darüber hinaus auch in guter Weise bei jedem einzelnen Schritt ohne die vorliegenden Anfragen und vor ihnen hinreichend informiert.Die parteipolitischen Kritiker der Deutschen Bundespost, besonders des Postministers, fordern einerseits, das Monopol der Deutschen Bundespost im gesamten Fernmeldebereich auszubauen; andererseits aber stellen sie die technisch notwendige Modernisierung des Fernmeldenetzes in Frage.Ganz auf dieser Linie liegen die Großen Anfragen der GRÜNEN zum Thema „Ausbau der fernmeldetechnischen Infrastruktur". Die mehr als 160 Einzelfragen sind ein Konglomerat aus technischem Vokabular und gezielter Verunsicherungsverbalistik. Schon die Frage nach der Legitimation der Deutschen Bundespost zum Ausbau der Fernmeldeinfrastruktur zeigt, daß die GRÜNEN das Postverwaltungsgesetz nur vom Hörensagen kennen.
Offensichtlich wäre es den GRÜNEN lieber gewesen, wenn die Post unter Mißachtung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Fernmeldeindustrie bei ihren analogen Übertragungswegen und beim elektromechanischen Wählsystem geblieben wäre, da ihnen offensichtlich die Anwendung der Mikroelektronik suspekt erscheint. Haben die GRÜNEN aus der Vergangenheit nichts gelernt, als wir von den USA und Japan in der Uhrenindustrie, bei den Kameras, bei Videorecordern und NC-Maschinen im Markt überrundet wurden und erst durch erhebliche Anstrengungen unsere internationale Konkurrenzfähigkeit wieder unter Beweis stellen konnten?Wer sich die Mühe macht, die Antworten auf die vielfältigen Fragen nachzulesen — aber, Frau Kollegin Dann, Ihre Ausführungen lassen mich bezweifeln, daß Sie wirklich diese Absicht und dieses Interesse haben —,
wird feststellen, daß die Deutsche Bundespost für die Anforderungen der Zukunft gerüstet ist. Das gilt für die wesentlich größeren Informationsmengen, die in Zukunft in kürzerer Zeit zu niedrigeren Kosten übertragen werden können,
für die Tatsache, daß alle heute erkennbarenDienste in einem Netz ermöglicht werden können,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16715
Pfeffermannwie für die schnelle und kostengünstige Einführung neuer Dienste.
— Frau Kollegin, das Brieftaubenzeitalter ist zumindest für die moderne Datentechnik ungeeignet.
Mit der Telekommunikationsordnung schafft die Deutsche Bundespost zur Zeit darüber hinaus eine Gebührenharmonisierung, die der technischen Entwicklung angepaßt ist. Die Deutsche Bundespost ist für den technischen Übergang ins nächste Jahrhundert gerüstet.Die von den GRÜNEN angezweifelte Digitaltechnik hat gegenüber der heutigen Ausrüstung eine wesentlich höhere Flexibilität zur Realisierung neuer Techniken und neuer Dienste. Der Preisvorteil der Digitaltechnik zeigt sich schon heute bei der Einführung dieser Technik. Er liegt bei der Fernsprechvermittlung bei zirka einem Drittel des Preises der bisher eingesetzten Technik. Bei doppelter Leistungsdichte haben wir nur ein Zehntel des Raumbedarfs, z. B. in den Vermittlungsstellen nur ein Drittel des Strombedarfs. Die jetzt verlegten Netze — hier meine ich die Kabel — können bis zur Erneuerung wesentlich mehr vom Markt gewünschten Fernmeldeverkehr transportieren. Wir haben einen kürzeren Verbindungsaufbau und eine höhere Übermittlungsqualität. Das sind Dinge, die Sie doch wirklich nicht bestreiten können, Frau Kollegin, wenn Sie einen Hauch von technischer Ahnung in diesem Bereich haben.Das künftige ISDN kann größere Informationsmengen in kürzerer Zeit zu niedrigeren Kosten übertragen.
— Aber darauf zielten Ihre Fragen ab. Wahrscheinlich haben Sie nicht einmal Ihre Fragen, schon gar nicht die Antworten gelesen.Die Deutsche Bundespost hat im Rahmen Ihres Auftrags die Bevölkerung, Industrie und Wirtschaft mit Kommunikationsleistungen des Post- und Fernmeldewesens zu versorgen.
Mit den eingeleiteten Maßnahmen wird sie erstens einen hohen Standard der Dienstleistung garantieren; zweitens die gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land sicherstellen; drittens durch die Beteiligung am Endgerätemarkt Fernmeldeleistungen auch auf dem flachen Land zu marktgerechten Bedingungen gewährleisten; viertens den internationalen Austausch von Fernmeldeleistungen auf hohem Standard gewährleisten; fünftens die Dienstleistungspalette ständig fortentwickeln können; sechstens die technische Innovation anregen.Siebtens. Sie muß dazu ihre Infrastruktur pflegen und nach technisch zeitgemäßen Gegebenheiten und wirtschaftlichen Bedingungen ausbauen.Achtens. Durch ihre Gebührenpolitik gleicht sie z. B. räumliche Benachteiligungen aus.Neuntens. Ausbau und Betrieb geschehen im Rahmen des Fernmeldegeheimnisses. Sie garantiert Datensicherheit und Datenschutz.
— Frau Kollegin, Sie sollten nicht so voreilig mit Ihren Zwischenbemerkungen sein. Die Immunität schützt Sie doch nicht davor, daß der Nachleser Ihrer Zwischenrufe die Ignoranz Ihrer Beiträge erkennt.
Die Entwicklung der neuen Technik stellt immer wieder die Frage nach der Beschäftigung bei der Deutschen Bundespost. Die Antworten auf die gestellten Anfragen weisen aus, daß in der Fernmeldeindustrie und im Fernmeldewesen der Deutschen Bundespost der eingeschlagene Weg neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Nur durch Realisierung des technischen Fortschritts werden neue Dienstleistungen möglich und erschlossen, wie die steigenden Produktions- und Exportzahlen in den Antworten zeigen.Dabei ist es Aufgabe der Deutschen Bundespost, zur Sicherung und Erschließung neuer Arbeitsplätze eine Vorreiterrolle bei der Einführung neuer Techniken zu übernehmen.
Auf Dauer finden nur Produkte im Ausland Absatz, auf deren erprobte Anwendung im Inland wir verweisen können. Würden wir den Infragestellern nachgeben, kämen wir auch nicht umhin, in absehbarer Zeit unsere Fernmeldenetze zu erneuern, dann aber mit Produkten aus den USA und Japan oder aus den Staaten, die in der Zwischenzeit ihre technische Erneuerung vollzogen haben.Bei der Antwort der Bundesregierung auf die Anfragen zeigt sich, daß die Deutsche Bundespost wieder auf dem richtigen Weg ist.
Das ist das Verdienst des jetzigen Postministers, der für die Deutsche Bundespost in der Frage der Erneuerung eine neue Bresche geschlagen hat.
Für die ausführlichen sachgerechten Antworten auf die Großen Anfragen, die den Mitarbeitern des Postministers eine ungeheure Mühe gemacht haben, möchte ich diesen meinen ausdrücklichen Dank abstatten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Paterna.
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16716 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pfeffermann, ich werde Ihnen nachher ein paar Beispiele für das geben, was Sie soeben als sachgerecht und ausführlich qualifiziert haben. Ich komme zu einer ganz anderen Bewertung und stelle fest, daß jedenfalls in den Teilen, in denen nach gesellschaftspolitischen Auswirkungen dieser Infrastrukturinvestitionen gefragt wird, die Antworten an Dürftigkeit nicht zu überbieten sind. Ich werde Ihnen dafür auch ein paar Belege geben.
Nun kann das zwei Ursachen haben. Entweder weiß die Bundesregierung wirklich nicht mehr, als sie da gesagt hat; das ist ja denkbar. Dann allerdings muß sie ihre Regierungsverantwortung so schnell wie möglich abgeben; denn auf einem so dürftigen Informationsstand sind Investitionen in der Größenordnung von mehr als 15 Milliarden DM jährlich nun wirklich nicht zu verantworten. Es gibt eine zweite Möglichkeit: Die Bundesregierung weiß mehr, als sie sagt. Dann aber stellen diese Antworten, jedenfalls in wesentlichen Teilen, eine Mißachtung des Parlaments dar. Das wiegt in diesem Fall besonders schwer, weil ja, wie Sie wissen, das Parlament wesentliche Entscheidungs- und Kontrollrechte auf den Postverwaltungsrat delegiert hat, wodurch natürlich die Informationsbedürfnisse des Parlaments besonders groß sind. Wenn dann eine solche durchaus sachkundige Große Anfrage, die zu erstellen sicherlich viel Mühe gemacht hat, in vielen wichtigen Punkten so lapidar beantwortet wird, dann halte ich das auch deshalb für leichtfertig, Herr Postminister, weil Sie natürlich denjenigen — das sind ja nicht nur die GRÜNEN, die so argumentieren —, die verlangen, die Beschlußrechte aus dem Postverwaltungsrat zurück ins Parlament zu verlegen, mit solchen unqualifizierten Antworten Vorschub leisten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Riedl?
Gern, wenn Sie die Uhr so lange anhalten, Herr Präsident.
Wenn Sie nicht zu lange angehalten werden muß, ja.
Bitte, Herr Kollege!
Danke schön, Herr Präsident. — Herr Kollege Paterna, wir beide sitzen ja im Postverwaltungsrat. Sind Sie bereit, zuzugeben und zu erklären, daß wir dort seit vielen Jahren ungewöhnlich viel Zeit zur Verfügung haben, um alle postalischen Fragen in Erfüllung der uns vom Parlament übertragenen Aufgabe, die wir dort wahrzunehmen haben, bis ins Detail zu stellen, zu klären und zu diskutieren, und daß es aus unserer Sicht jedwede Möglichkeit gibt, bei der Deutschen Bundespost bis zum letzten Hosenknopf alles zu erfahren?
Herr Kollege Riedl, ich bestätige Ihnen das um so lieber, als wir j a gerade gemeinsam eine zehnstündige Sitzung in diesem Gremium hinter uns haben. Ich kann in diesem Punkte auch die Abqualifzierung der Frau Kollegin Dann überhaupt nicht teilen. Da ich die Möglichkeit habe, das Niveau und die Sachkunde der Debatten im Verwaltungsrat einerseits und in Parlamentsausschüssen andererseits zu vergleichen, muß ich sagen — ich will das nicht zu genau bewerten —, daß sich der Postverwaltungsrat in diesem Punkt keineswegs zu verstecken braucht. Deswegen will ich j a gar nicht, daß dieser Tendenz Vorschub geleistet wird. Ich kritisiere nur, daß durch die Art dieser Beantwortung solch e Tendenzen Nahrung bekommen könnten. Wir sollten daran gemeinsam kein Interesse haben.Nun will ich meine sehr deutliche Kritik mit nur wenigen Stellen belegen. Erster Punkt: An zahlreichen Stellen wird in den Antworten behauptet, die Infrastrukturinvestitionen seien bedarfsgerecht. Das hört sich ja erst einmal gut an. Wenn aber präzise gefragt wird, wie denn dieser Bedarf ermittelt wird, dann ist regelmäßig Fehlanzeige. Dann wird ganz allgemein behauptet, Prognosen seien j a sowieso mit Unsicherheiten behaftet. Daß darin ein Widerspruch steckt, wird aber nirgendwo erörtert. Oder es werden einem Leerformeln angeboten, von denen ich Ihnen einmal eine zitieren will. In der Antwort auf Frage I 3.2.2 steht der bemerkenswerte Satz:Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Marktdurchdringung in Abhängigkeit von den Marktsektoren unterschiedlich verlaufen wird.Wer hätte das gedacht? Es ist nun wirklich geradezu dummdreist, solche Leerformeln dem Parlament anzubieten.
— Dann nehme ich das Wort „dummdreist" mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück und ersetze es durch „nichtssagendes Geschwätz", wenn Ihnen das lieber ist.
— Zweites Beispiel. In der Frage I 3.2.6 wird danach gefragt, ob die Digitalisierung der Fernsprechnetze nicht die Ballungsräume bevorzuge und die ländlichen Räume benachteilige. Die vollständige Antwort der Bundesregierung lautet:Nein. Die Digitalisierung bringt keine Standortdifferenzierung in Tarifen oder Diensten. Insoweit ergibt sich keine Bevorzugung oder Benachteiligung von Gebieten.Das ist in dieser Verkürzung natürlich nicht wahr. Tatsache ist, daß wir — das ist allerdings erst eingegangen, nachdem die Antwort fertig war — einen einstimmigen Beschluß der Länderwirtschaftsministerkonferenz haben, die genau diese Gebührenstrategie bei ISDN als die ländlichen Räume benachteiligend qualifiziert. Diese Bewer-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16717Paternatung muß man nicht teilen. Ich persönlich teile sie in dieser Absolutheit auch nicht. Aber daß es da eine Diskussion gibt, und nicht erst seit Wochen, das müßte der Bundesregierung eigentlich bekannt sein. Deswegen kann sie sich nicht derartig flapsig über eine durchaus berechtigte Frage hinwegsetzen.Drittes Beispiel — das ist besonders auffällig und ärgerlich — aus dem Problemkomplex Datenschutz. Da lautet z. B. die Frage III 1.1.8:Welche Überlegungen zu Erweiterungen des Datenschutzes und zur Präzisierung des Fernmeldegeheimnisses aufgrund dieser technischen Möglichkeiten gibt es?Die vollständige Antwort lautet:Einer Präzisierung der Verpflichtung zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses bedarf es nicht. Erforderliche Regelungen des Datenschutzes werden in die Benutzungsverordnungen des Fernmeldewesens aufgenommen.
— Verschwiegen wird, Herr Kollege Pfeffermann,
das müßten Sie miterlebt haben — ich habe die Antwort vollständig, nicht selektiv zitiert;
es ist kein Anlaß zur Kritik, wenn ich in der Beweisführung so sauber arbeite —, daß das Postministerium in den vergangenen drei Jahren von sich aus überhaupt nicht daran dachte, bereichsspezifische Regelungen vorzuschlagen. Erst in den letzten Monaten ist es da etwas lernfähiger geworden. Verschwiegen wird auch, daß es beim jüngsten Verordnungsentwurf, nämlich der Telekommunikationsordnung, zunächst einmal massive Kritik von seiten der Datenschützer gab. Inzwischen ist sie teilweise berücksichtigt worden. Verschwiegen wird schließlich — in diesem Punkt ist das, was die Kollegin Dann sagt, völlig richtig —, daß hier auf der Basis des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts der Parlamentsvorbehalt zunehmend reklamiert wird. Das kann man nicht so lapidar vom Tisch wischen.
Man muß dieses Argument wiederum nicht teilen. Ich teile es nicht. Beschimpfen Sie mich doch nicht. Nur kann man nicht so tun, als gäbe es diese Diskussion gar nicht.Ich will noch eine andere Antwort zitieren, weil ich die für ausgesprochen fahrlässig halte. Da wird auf eine entsprechende Fragestellung gesagt:Die Entscheidung zur Teilnahme an Fernmeldediensten der Deutschen Bundespost nach Form und Inhalt bleibt freiwillig.Wer so argumentiert, der setzt in der Tat das Fernmeldemonopol aufs Spiel. Ich würde als Postminister hier ganz anders herum argumentieren: daß es sich hier um Bereiche der Daseinsvorsorge handelt und daß deshalb natürlich die Bundespost die Belange des Schutzes persönlicher Daten besonders ernst nimmt. Man kann nicht so schlicht argumentieren: Wir setzen die Bedingungen fest; wem das nicht paßt, der schafft sich eben kein Telefon an.
So simpel kann es ja wohl nicht sein.Allerdings muß man dann auch anfügen, daß die Argumentation von Frau Dann, die da behauptet hat, der Datenschutz sei schon immer ein Stiefkind der Bundespost gewesen, natürlich grober Unfug ist. Daß der Schutz des Brief- und Fernmeldegeheimnisses bei der Bundespost traditionell in hervorragender anerkannter Hand ist, ist klar.
Vierter Punkt. Die möglichen Rationalisierungseffekte werden einfach geleugnet. Herr Dr. Schwarz-Schilling, Sie waren Vorsitzender der Enquetekommission. Ich habe immer gedacht, Ihre Mitarbeit hätte sich nicht auf das Worterteilen beschränkt. Sie können dem Kabinett doch nicht ernsthaft eine Antwort empfehlen, in der diese Rationalisierungseffekte per Saldo schlicht geleugnet werden. Das nimmt doch keiner mehr ernst.Wer — wie die SPD — die Chancen der neuen Informations- und Kommunikationstechniken geringer, die Risiken hingegen größer einschätzt, als die Bundesregierung das tut, der kommt deshalb noch nicht zu dem Schluß, man müsse diese Techniken ablehnen oder auch nur auf Verzögerungstaktiken sinnen, auch dann nicht, wenn man — wie wir — die Datenschutzprobleme und die Gefahr von Machtverschiebungen zugunsten des Staates und zu Lasten des Bürgers, zugunsten der Arbeitgeber und zu Lasten der Arbeitnehmer sehr ernst nimmt. Aber egal wie man diese Güterabwägung vornimmt: Ich glaube, alle Bürger können verlangen, daß eine Regierung und ein Parlament in seiner Mehrheit Vorsorge dafür treffen, daß die Chancen so groß wie möglich und die Risiken so gering wie möglich sind.Mit der Art von Problembewußtsein, wie sie hier in der Antwort dargestellt wird — ich könnte Ihnen eine Fülle weiterer Zitate als Belegstellen geben —, entlarvt sich diese Bundesregierung selbst. Sie stellt so unter Beweis, daß sie unfähig ist, Vorsorge dafür zu treffen, daß diese Technologien sozial verträglich gestaltet werden.Ich bin über diese Antwort sehr enttäuscht, und ich bin sehr gespannt, was der Postminister noch an Argumenten nachliefern kann.Vielen Dank.
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16718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit einiger Verwunderung ist festzustellen, daß SPD und GRÜNE in den letzten Monaten die Bundespost verstärkt zur Zielscheibe ihrer Kritik gemacht haben.
Dies ist ein ziemlich durchsichtiges Spiel. Sie wollen die Treibjagd gegen den Bundespostminister fortsetzen, und da Ihnen der Stoff für persönliche Angriffe ausgegangen ist, scheuen Sie nun nicht davor zurück, das Dienstleistungsunternehmen Deutsche Bundespost als Vehikel für Ihre Kritik zu mißbrauchen.
Dabei hat die Bundespost in dieser Legislaturperiode so erfolgreich wie seit langem nicht mehr gearbeitet. Erstmals ist es gelungen, in einer gesamten Legislaturperiode Gebührenerhöhungen der Deutschen Bundespost entbehrlich zu machen, und dies trotz eines Milliardenprogramms an Investitionen, das in seiner Anfangsphase natürlich mit erheblichen Anlaufverlusten verbunden ist.
Unter sozialdemokratischen Postministern hat es derartige Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen und sichern, nicht gegeben, dafür aber ständige und sehr drastische Gebührenerhöhungen.
Die Post ist auch nicht länger — was sie einmal unter sozialdemokratischen Ministern war — ein ausgesprochener Fortschritts- und Wachstumsbremser. Der Verkabelungsstopp, den die Sozialdemokraten der Post in ihrer Regierungszeit aufgenötigt hatten, schadete nicht nur der Post, sondern behinderte die Weiterentwicklung der deutschen Kommunikations- und Technologieindustrie insgesamt. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieses Wirtschaftszweiges, der für jede moderne fortschrittliche Volkswirtschaft immer bedeutsamer wird, ja, ohne den technischer Fortschritt auf Dauer undenkbar ist, war damals nachhaltig gefährdet. Die Post betreibt deshalb heute nicht mehr — wie zu sozialdemokratischen Zeiten — eine Medienblockade, die in klarem Widerspruch zu der grundgesetzlich garantierten Informationsfreiheit der Bürger steht. Erst seitdem die Deutsche Bundespost den Ausbau der modernen Kommunikationstechniken aktiv vorantreibt, kommen immer mehr Bürger in, den Genuß zusätzlicher Informationsangebote. Erst seitdem wird der grundgesetzliche Auftrag, jedem Bürger soviel Information wie möglich zugänglich zu machen, auch von der Deutschen Bundespost erfüllt.
Natürlich, meine Damen und Herren, gibt es von seiten der FDP auch Wünsche an die Bundespost. Wir sehen für die überschaubare Zukunft auf Grund der hervorragenden Gewinnsituation der Bundespost keinen Anlaß für Gebührenerhöhungen. Insbesondere im Fernmeldebereich erwirtschaftet die Bundespost solch hohe Überschüsse, daß nach unserer Auffassung Spielraum für weitere Gebührensenkungen vorhanden ist.
Vor allem wünschen wir uns von der Bundespost mehr und schnellere Privatisierung, einen konsequenteren Verzicht auf staatliche Vorrechte und eine stärkere Öffnung hin zu einem gleichberechtigten Wettbewerb mit privaten Anbietern. Insbesondere im Bereich des Endgerätemarktes muß die Unternehmenspolitik der Bundespost weiter liberalisiert, muß mehr Wettbewerb und mehr Marktwirtschaft geschaffen werden. Der Sachverständigenrat, der sich in seinem letzten Jahresgutachten kritisch mit der Politik der Bundespost auseinandergesetzt hat, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß an sich mögliche technische Innovationen durch mangelnde Flexibilität der Deutschen Bundespost behindert oder gar verhindert werden könnten. Dem gilt es zu wehren.
Völlig unverständlich ist es mir aber, daß die Opposition ausgerechnet Kritik an der Entscheidung des Bundespostministers übt, die Unternehmenspolitik durch unabhängige Gutachten überprüfen zu lassen. Die Post tut damit das, was man zu Recht von einem Großunternehmen erwartet, das seine Politik öffentlich rechtfertigen muß. Daß die Post neutrale Gutachter herangezogen hat, beweist, daß sie im Ergebnis nichts zu verbergen hat.
SPD und GRÜNE eifern offensichtlich nur deshalb so vehement gegen dieses Gutachten, weil damit ihrer irrationalen Kritik an der Post der Boden entzogen wird. Die SPD und vor allem der Deutsche Gewerkschaftsbund
sollten sich die Post in diesem Fall zum Vorbild nehmen und die Unternehmenspolitik der Neuen Heimat in gleicher Weise durch neutrale, unabhängige Gutachter überprüfen lassen.
Sie weigern sich gegenüber dieser nur zu berechtigten Forderung offenbar, weil es im Fall der Neuen Heimat, anders als bei der Bundespost, sehr viel zu verbergen gibt.
— Ich weiß, daß Ihnen dies unbequem ist, aber wir werden Ihnen dieses Thema nicht ersparen.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt die Einsetzung der hochrangigen Regierungskommission, die Vorschläge für ein modernes Unternehmenskonzept im Fernmeldebereich entwickeln soll. Die Post darf die Weiterentwicklung der modernen Kommunikations- und Informationstechniken nicht nur nicht behindern, sondern muß sie aktiv fördern. Die Post muß deshalb den alten Bürokratenkittel eines staatlichen Hoheitsträgers abstreifen und das mo-
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Bundesminister Dr. Schwarz-Schilling
Ihr Ziel — das haben Sie gesagt — ein entsprechendes Tempolimit ist, d. h. eine Benachteiligung der Bundesrepublik bezüglich des technischen Fortschritts auf dem Gebiet der Kommunikation gegenüber der USA, gegenüber Japan, also gegenüber unseren Wettbewerbern, dann frage ich mich: Wo wollen Sie eigentlich noch das Sozialprodukt produzieren, das es Ihnen ermöglicht, auch noch Ihre „Sozialknete" zu bekommen, die Sie auch immer wieder anfordern? Woher soll das eigentlich kommen?
Mir scheint, daß Sie hier eine ganz andere Zielsetzung haben, die letztlich auf die Zerstörung der Industriegesellschaft abzielt; anders kann man es wohl nicht bezeichnen.
Nun, meine Damen und Herren, weiter wurde von Ihnen die Frage gestellt: Wie wird die Kommunikationstechnologie in der Bundesrepublik Deutschland ausgebaut, und welche Wirkungen hat sie? Eine Auswirkung haben wir mit Sicherheit festzustellen, nämlich die, dezentral Entscheidungsmöglichkeiten zu verstärken. Denn Kommunikation, die nicht mehr nur über Zentralen möglich ist — früher hatten wir z. B. große Datenverarbeitungsanlagen —, sondern heute auch mittels Verkabelung für jeden mittleren und kleinen Betrieb die Nutzung ermöglicht, bringt unsere Gesellschaft in die Lage, daß Tausende und Hunderttausende von Bürgern unabhängig von Zentralen Entscheidungen treffen können.
Aus diesem Grunde ist gerade Kommunikation die Voraussetzung für eine demokratische und gesellschaftspolitisch erwünschte Entwicklung.
Meine Damen und Herren, Sie haben natürlich recht: Man kann alles auch mißbräuchlich benutzen.
Aber wir sind ja Gott sei Dank in der Lage, solange wie wir einen Rechtsstaat haben, Mißbräuche zu minimieren, Korrekturen vorzunehmen, wo Mißbräuche entstehen, und nicht das System als solches in Frage stellen zu müssen. Diese Infragestellung müßte man überall dort vornehmen, wo es keinen Rechtsstaat gibt. Da könnten Sie sich entsprechend betätigen.
Keine Frage ist, daß die Verhinderung des technischen Fortschritts in dieser Frage für uns eher größere Risiken bringt, als sie etwa Risiken minimieren würde. Das müssen besonders jene sehen, die sowohl gegen den technischen Fortschritt als auch für den Ausbau des Sozialstaates sind. Unseren Wohlstand erhalten und das soziale Netz finanzieren können wir nur, wenn wir auch technologisch weiterhin an der Spitze bleiben.
Ich glaube, wir stimmen alle überein, daß wir bei der Atomenergie viele Fragen haben, die Sicherheit an die erste Stelle setzen müssen. Nun frage ich Sie:
Wo werden Sie überhaupt noch moderne Technologien einsatzbereit sehen, wenn nicht in einem Bereich, wo Sie praktisch keine Umweltschädigung haben, keine Geräuschkulisse — —
— Menschenschädigungen? — Da würde ich Ihnen erst einmal sagen: Lassen wir doch diejenigen, die Nachfragebedarf nach solchen Diensten haben, selber entscheiden und unter keinen Umständen die autoritative Entscheidungskompetenz gerade Ihrer Fraktion an die Stelle der Entscheidung des Bürgers setzen.
Sie haben ja scheinbar ein völlig anderes Demokratieverständnis, indem Sie nämlich wollen, daß Sie entscheiden, was Millionen von Menschen sehen, an Dienstleistungen ergreifen oder nicht dürfen. Das wollen wir verhindern.
Wenn es überhaupt irgendwo einen Bereich gibt, in dem man von einem qualitativen Wachstum sprechen kann — das war ja der Slogan, den die SPD in den 70er Jahren als den eigentlich entscheidenden angesehen hat —, kann man sich nur vorstellen,
daß es die Kommunikationstechnologie ist, wo es dieses Wachstum gibt, was dezentral sowohl in der Fläche als auch in Ballungsgebieten die Möglichkeiten und Freiräume für den einzelnen Bürger erweitert. Das wäre, wenn man es überhaupt definieren wollte, qualitatives Wachstum.
Sie sagen nun, Herr Paterna, soweit wie die GRÜNEN wollten Sie nicht gehen, daß Sie sagen: Das wollen wir alles abbremsen. Ich glaube, Sie werden sich in fünf bis zehn Jahren auf dem gleichen Dampfer befinden. Das haben wir ja in anderen Bereichen zur Genüge festgestellt.
Deswegen rate ich Ihnen, am Anfang darüber nachzudenken und nicht erst am Ende.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ströbele?
Bitte schön!
Herr Bundesminister, Sie rühmen immer wieder die Möglichkeiten des Dezentralen, die sich hier eröffnen. Sehen Sie nicht auf der anderen Seite, daß die Kommunikationssysteme, die Sie fördern und immer weiter ausbauen, gerade
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16721
Ströbele
das Gegenteil ermöglichen und die Gefahren herbeiführen, daß dezentrale Entscheidungen, dezentrale Computer, dezentrale Systeme zentralisiert werden, daß also die Möglichkeiten und damit die Gefahren geschaffen werden, daß zentralisiert wird?
Genau das Umgekehrte ist der Fall, Herr Abgeordneter. Wir haben früher große Rechenzentren gehabt. Wir haben früher die Informationen nur an zentralen Stellen gehabt. Diese Kommunikationstechnologie ermöglicht es, daß zur gleichen Zeit, in der gleichen Sekunde, der einzelne Bürger durch Abfragen, durch entsprechendes Eingreifen in das Fernmeldenetz, durch Computerbefragung von seinem Platz aus — zu Hause oder im Amt — die gleiche Möglichkeit hat, wie sie vorher nur hohe administrative Stellen hatten, was früher bei Diktaturen entsprechend Zentralismus hervorrief, bei uns aber zur Demokratisierung dieser Möglichkeiten führt. Dezentralisierung ist das Entscheidende.
Nun darf ich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Herr Paterna, Sie sprachen davon, daß Bedarfsgerechtigkeit und Prognosen in einem entsprechenden Gegensatz stehen. Ich muß Ihnen sagen, daß Sie die modernen Prognosetechniken überhaupt nicht zu begreifen scheinen. Prognosen sind keine exakten Daten, auf die man auf lange Sicht bauen darf. Sie müssen jedes Jahr rollierend korrigiert werden. Aus diesem Grunde ist gerade die Bedarfsgerechtigkeit eine Funktion kurz-, mittel-und langfristiger Prognosen. Die kurzfristige Prognose hat allerdings schon den Charakter von Daten. Die mittel- und langfristigen Prognosen stellen eine Perspektive dar. Und wenn man nicht in der Lage ist, beides zu kombinieren, dann hat man weder eine richtige Prognose, noch haben Sie den Bedarf geschätzt. Das ist allerdings eine Binsenweisheit jedes Unternehmens, was Ihnen vielleicht ferne steht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Senfft?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich möchte jetzt zu Ende kommen, weil es doch schon relativ spät ist.
Ich darf noch eine Bemerkung zur Frage der Länderkompetenz machen. Meine Damen und Herren, ich möchte hier deutlich sagen, daß diese Bundespost erst die Möglichkeit eröffnet hat, daß die Länder ihre Politik durchsetzen können. Denn wir haben keine Barrieren und Blockaden gegen die Wünsche von Ländern errichtet, wie es bei der früheren Bundesregierung der Fall war.
Zuletzt komme ich zur Frage der Gebühren. Meine Damen und Herren, Sie wissen ja offensichtlich besser über meine Schubladen Bescheid als ich selber. Ich kann Ihnen noch mal versichern: Es gibt diese Vorlagen nicht, auch wenn Sie es zehnmal behaupten: Und ich würde Ihnen wünschen, daß die Bundesregierung auch im Verlaufe der nächsten vier Jahre eine so maßvolle Politik wie in dieser Legislaturperiode macht, in der wir null Prozent Gebührenerhöhung hatten. Ich glaube, das sollte Ihnen ein Beispiel und nicht Anlaß zur Kritik sein.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Dann rufe ich den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf:
— Drucksache 10/5209 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/5493 — Berichterstatter: Abgeordneter Pöppl
— Drucksache 10/5494 — Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler Strube
Frau Seiler-Albring
und Dr. Müller
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 10/5495 bis 10/5500 vor. Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat eine Aussprache von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart. Wenn das Haus damit einverstanden ist — ich höre keinen Widerspruch —, ist so beschlossen.
Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pöppl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz über die 15. Anpassung nach dem Bundesversorgungsgesetz wird erstmals wieder eine deutliche reale Einkommensverbesserung für die Kriegsopfer erreicht. Entsprechend dem Lohnanstieg der Arbeitnehmer im vergangenen Jahr steigen auch die Rentenleistungen vom 1. Juli 1986 brutto um 2,9 %. Das bedeutet für die Kriegsopfer eine Kaufkraftsteigerung aus den Rentenleistungen von real annähernd 2 %.An dieser Stelle muß noch einmal daran erinnert werden, daß die Kriegsopfer in den Jahren 1978 bis 1981 erheblich unter die Räder gekommen sind. Die
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16722 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
PöpplSPD hat nämlich im Jahr 1978 die Anpassung völlig ausfallen lassen. In den Jahren 1979 bis 1981 hat sie sich an der Lohnentwicklung überhaupt nicht orientiert, sondern die Kriegsopfer unter Berufung auf den Anpassungsverbund völlig im Regen stehenlassen.Die jetzt von verschiedenen Seiten geforderte Lösung des Anpassungsverbundes zielt darauf ab, den Abzug in Höhe von jeweils 0,7 % in den Jahren 1986 und 1987 zu vermeiden. Den Befürwortern eines solchen „Erfolges" gebe ich zu bedenken, daß der Preis für die Abkoppelung die Aufhebung der dynamischen Anpassung wäre. Es würde — wie vor 1970 — jedesmal ein großes Tauziehen im Hinblick darauf beginnen müssen, um wieviel und in welcher Weise die Rentenleistungen der Kriegsopfer überhaupt angepaßt werden. Mit den strukturellen Änderungsmaßnahmen des 15. Anpassungsgesetzes wird das Kriegsopferversorgungsrecht konsequent fortentwickelt, wobei auf die Stärkung des entschädigungsrechtlichen Grundprinzips besonders Wert gelegt wird. So dient insbesondere die Erhöhung der Abgeltungsquote beim Berufsschadensausgleich und Schadensausgleich auf 42,5 % ebenso wie die Anhebung der Ausgleichsrente dem Grundanliegen, den unmittelbaren Versorgungsteil des Kriegsopferrechts so zu gestalten, daß die Versorgungsberechtigten möglichst von ergänzenden Leistungen der Kriegsopferfürsorge unabhängig sind.Für die Versorgung der Kriegsopfer werden vom Bund seit Jahren jährlich über 12 Milliarden DM aufgewendet, obwohl in den letzten fünf Jahren die Zahl der Versorgungsberechtigten zwischenzeitlich um 17,7 % zurückgegangen ist. Dennoch besteht auch hier noch ein weiterer Handlungsbedarf.Ich will dabei z. B. auf unseren interfraktionellen Entschließungsantrag zur Auslandsversorgung hinweisen. Wir bitten darin die Bundesregierung, zu prüfen, wie die Lage der Versorgungsberechtigten im Ausland, die keine volle Versorgung erhalten, verbessert werden kann.In der Kriegsopferfürsorge wird die Abkopplung vom Recht der Sozialhilfe weitergeführt. Der Leistungsschwerpunkt der Kriegsopferfürsorge wird nunmehr eigenständig im BVG geregelt.Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht versäumen, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, in nächster Zeit nach Möglichkeit eine zeitangepaßte Fortschreibung des Leistungsrechts der Kriegsopferfürsorge anzugehen. Wir müssen der Verwaltung vernünftige Regelungen bei der mit zunehmendem Alter immer schwieriger zu prüfenden und zu beantwortenden Frage der Kausalität an die Hand geben.Ein besonderes Augenmerk sollten wir aber auch der Sonderfürsorge geben. Von den über 78 000 Sonderfürsorgeberechtigten haben im Jahre 1984 56% Leistungen der Kriegsopferfürsorge in Anspruch nehmen müssen. Das ist mehr als das Doppelte des entsprechenden Anteils der Kriegsopferfürsorgeempfänger an der Gesamtzahl der Versorgungsberechtigten überhaupt. Hier beweist sich einmal mehr, wie sehr die besonders schwer betroffenenKriegsopfer und Kriegsbeschädigten auf die materiellen, aber auch auf die persönlichen Hilfen der Kriegsopferfürsorge angewiesen sind.Den deutschen Hauptfürsorgestellen, denen die Betreuung der Sonderfürsorgeberechtigten obliegt, will ich von dieser Stelle aus für ihre außergewöhnlichen Leistungen bei der Bewältigung dieser sozialpolitisch wichtigen Aufgabe meine besondere Anerkennung aussprechen.
Die Hauptfürsorgestellen und die Kriegsopferfürsorgestellen haben in den mehr als 40 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tat Hervorragendes geleistet.Ich will nur noch kurz auf Äußerungen der Partei DIE GRÜNEN in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs eingehen. Herr Bueb, was Sie da fordern, ist schlicht und einfach die Streichung des Aufopferungstatbestandes, d. h. die Entrechtung der Kriegsopfer.
Sie wollen nicht einsehen
-- warten Sie nur! —, daß der Staat gegenüber jenen, die Leib und Leben und ihre Gesundheit für uns geopfert haben, ein besonderes Maß an Verpflichtung hat.
Sie bestreiten den Kriegsopfern schlichtweg eine ausreichende Versorgung, indem Sie ihnen die besondere Fürsorge des Staates verwehren wollen.
Wir sehen in dem sozialen Entschädigungsrecht und dem Schadenersatzrecht für Verkehrsopfer in der Tat unterschiedliche Pflichtgrößen des Staates.
Wir in der Regierungskoalition — das will ich hier deutlich aussprechen — werden uns nicht davon abhalten lassen,
unsere besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges auch weiterhin aufrechtzuerhalten. Ich möchte hier mit allem Nachdruck feststellen, daß der hervorgehobene Rang der Kriegsopferversorgung in der sozialen Sicherung unangetastet bleiben wird.Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Unionsfraktionen darf ich zusammenfassend zum Ausdruck bringen, daß wir die realen Verbesserungen der Renten und die strukturelle Weiterentwicklung im Interesse der Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen besonders begrüßen. Wir werden die Anträge der SPD ablehnen. Namens der CDU/CSUFraktion bitte ich Sie, dem Regierungsentwurf in der vom Ausschuß verabschiedeten Fassung zuzustimmen.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16723PöpplVielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten jetzt abschließend den Gesetzentwurf über die 15. Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz. Der Entwurf in seiner jetzigen Ausgestaltung, so wie er mit der Mehrheit des Ausschusses beschlossen worden ist, bedeutet für die Kriegsopfer doch eine ziemliche Enttäuschung. Er wird sowohl aus sozialpolitischer als auch aus entschädigungsrechtlicher Sicht der Bedarfssituation der Kriegsopfer nicht gerecht.
Lediglich um 2,15 % sollen die Kriegsopferrenten zum 1. Juli dieses Jahres angehoben werden. Auf das ganze Jahr 1986 umgerechnet ergibt sich danach gegenüber dem Vorjahr eine Rentenerhöhung um nur knapp 1,7 %. Das, meinen wir, ist dem Personenkreis der Kriegsopfer nicht zuzumuten; denn die Auswirkungen der mit den Haushaltsbegleitgesetzen 1983 und 1984 eingeführten Rentenkürzungsmechanismen haben schon dazu geführt, daß sich deren Rentenanpassung immer mehr zu einer Rentenminderung entwickelte.
Das Ergebnis ist, daß die Kriegsopferrenten heute real um 0,3 % niedriger sind als 1982, dem Beginn der Wende zum Schlechteren, wie wir alle wissen.
— Fragen Sie einmal die Arbeitslosen und die Behinderten, welche guten Sachen sie nicht mitbekommen haben.
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt. deshalb wie auch schon in den Ausschußberatungen den Antrag, die Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz um 2,9% anzuheben, und zwar ohne weiteren Abschlag in Höhe des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner. Wir stellen damit den von uns geschaffenen und bewährten Dynamisierungsverbund zwischen Kriegsopferversorgung und gesetzlicher Rentenversicherung nicht in Frage. Das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen. Es muß aber aufhören, daß dieser Dynamisierungsverbund als Vehikel dafür mißbraucht wird, den Kriegsopfern einen im Hinblick auf den für sie im Bundesversorgungsgesetz verankerten Grundsatz der kostenfreien medizinischen Rehabilitation systemwidrigen Krankenversicherungsbeitrag abzuverlangen.
Die heutige Einkommenssituation der Kriegsopfer macht deutlich, daß es eben nicht ausreicht, immer nur mit schönen Worten auf unsere besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges hinzuweisen und die Unantastbarkeit des hervorgehobenen Ranges der Kriegsopferversorgung in der sozialen Sicherung zu beschwören, wie es der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 z. B. getan hat. Er sagte damals — es lohnt sich, das einmal wieder anzuschauen —:
... wir haben eine besondere Verantwortung gegenüber den Opfern des Krieges ... Von speziellen Sparmaßnahmen bleiben die Kriegsopfer ausgenommen.
So der Bundeskanzler am 4. Mai 1983.
Solche Aussagen, Herr Kollege Eigen, bleiben eben leere Worthülsen, wenn nicht entsprechende Taten folgen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein erneuter Beweis dafür, wie groß der Widerspruch zwischen dem, was von Ihrer Seite gesagt wird und dem ist, was dann konkret getan wird. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die unzureichende Rentenanpassung. Das gilt auch und insbesondere für die nur geringfügigen strukturellen Verbesserungen, die Sie den Kriegsopfern anbieten und deren Inkrafttreten Sie auch noch auf den Anfang des nächsten Jahres hinausschieben.
Wenn Sie aber trotz der schweren Mängel, die Ihr Gesetzentwurf aufweist, diesen heute zum Anlaß nehmen, Ihre Leistungen für die Kriegsopfer hochzujubeln, dann fordern wir die Bundesregierung und Koalitionsmehrheit mit allem Nachdruck auf, den Kriegsopfern dabei nicht zu verschweigen, daß ihnen auch mit diesem Gesetz wieder wie schon im Vorjahr dringend notwendige strukturelle Verbesserungen unter Berufung auf fadenscheinige finanzielle Gründe verweigert werden.
Sagen Sie den Kriegsopfern, daß Sie ihnen z. B. weiterhin eine spürbare Anhebung der Entschädigungsquote beim Berufsschadens- und Schadensausgleich um ein Zehntel auf fünf Zehntel vorenthalten, daß Sie ihnen z. B. die überproportionale Anhebung der weit unter dem Niveau der Sozialhilfe liegenden Elternrenten weiterhin verweigern, obwohl sich die Zahl der Berechtigten seit 1980 bereits um über die Hälfte verringert hat, oder daß Sie z. B. die Verbesserung der Möglichkeiten, Kuren in Anspruch zu nehmen, insbesondere für Witwen in fortgeschrittenem Alter nicht für gerechtfertigt halten.
Wir haben zu den von mir genannten Punkten Änderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie diesen Änderungsanträgen zu, und werden Sie damit tatsächlich einem Stück unserer gemeinsamen Verantwortung gegenüber Kriegsopfern gerecht. Ich möchte Sie jedenfalls um Ihre Zustimmung bitten. Sollten Sie diesen Änderungsanträgen wider Erwarten nicht zustimmen — ich hoffe, Sie tun es trotz Ihrer Ausführungen; die Möglichkeit dazu haben Sie immer noch —, wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf in dritter Lesung gleichwohl zustimmen. Wir verweigern uns nicht einer Verbesserung, wenn sie auch erheblich hinter unseren Anträgen zurückbleibt.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kriegsopferversorgung ist kein Almosen, Kriegopferversorgung ist auch
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16724 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Cronenberg
nicht nur Sozialpolitik, sie ist vielmehr der Versuch, denen, die durch Krieg und Kriegseinwirkung Schaden erlitten haben, einen gewissen, zugegebenermaßen bescheidenen Ausgleich zu gewähren, wohl wissend, daß das, was die einzelnen zu ertragen und hinzunehmen hatten, nie vollständig ausgeglichen werden kann. Es ist selbstverständlich, daß immer mehr Wünsche laut werden, als die Begrenztheit der Mittel erfüllbar macht. Es ist verständlich und menschlich, es ist auch verständlich, daß einem das, was man nicht erhält, besser im Gedächtnis bleibt als Leistungsverbesserungen, die als selbstverständlich hingenommen werden. Es überrascht auch nicht, daß die Opposition, ich möchte fast sagen, in unseliger Kontinuität mehr verlangt, als die Regierung in der Lage ist zu geben, wenn sie verantwortlich handelt.
— Ich bedanke mich ausdrücklich für die Bestätigung, daß wir uns in der Kontinuität unserer Argumentation befinden, Herr Abgeordneter Kirschner, und halte das für ein wirklich notwendiges und richtiges Lob. Nichtsdestoweniger müssen Wunsch und Wirklichkeit in Übereinstimmung gebracht werden. Wir haben uns bemüht, dies auch bei diesem Gesetzentwurf zu tun.Ich bedanke mich bei der SPD ausdrücklich, daß sie den Anpassungsverbund hier noch einmal im Grundsatz bejaht hat. Ich halte das für dringend notwendig, denn wir haben das einmal gemeinsam mit den Verbänden erkämpft. Das heißt aber auch, wenn es geringe Erhöhungen gibt und wenn Beiträge der Rentner zur Krankenversicherung — einmal von uns gemeinsam konzipiert, Herr Kirschner — erhoben werden, daß dies auch bei den Kriegsopfern praktiziert werden muß. Man kann nicht nur bei den Vorteilen dabeisein und sich bei den Nachteilen abmelden. Deswegen ist unsere Haltung konsequent.
Meine Damen und Herren, es soll nicht vergessen werden, daß immerhin 12,3 Milliarden DM, letztendlich der zweitgrößte Posten im Sozialhaushalt, den Kriegopfern zukommen und daß nicht wenige strukturelle Verbesserungen erreicht worden sind: MdE von 50 auf 60 %, Anhebung der Abgeltungsquote beim Berufsschadens- und Schadensausgleich, was eine Erhöhung von 6,5 % — bei null Preissteigerung erwähnenswert — ausmacht und immerhin der Mühe und des Schweißes der Edlen wert war, die Ausdehnung der Witwenbeihilfe, die Verlängerung der Weiterzahlung der Elternpaarrente beim Tode eines Elternteils. Alles dies sind strukturelle Verbesserungen, um die wir uns redlich bemüht haben und die auch Ihre Zustimmung gefunden haben. Des weiteren wird, wie seit langem von den Kriegsopferverbänden gefordert, die Loslösung weiterer Hilfen der Kriegsopferfürsorge von der Sozialhilfe vorangetrieben. Natürlich können wir nicht alles auf einmal machen.Ich möchte aber noch die Orthopädie-Verordnung erwähnen, ebenso die Verbesserung der Zuschüsse für die Anschaffung und den Unterhalt von Kraftfahrzeugen, die sicher für diejenigen, denen dort geholfen wird, der Erwähnung wert sind.Meine Damen und Herren, es gibt allerdings auch einen Punkt, den ich mit einem Satz kritisch anmerken möchte: Es ist einfach unbefriedigend, daß Kriegsopfer in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung vor den Sozialgerichten von ihren Verbänden vertreten werden können, in Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge ist dies vor den Verwaltungsgerichten jedoch nicht möglich. Diese unterschiedliche Behandlung ist unserer Auffassung nach uneinsichtig. Wir müssen uns in Zukunft bemühen, dieses zu ändern.Zum Schluß möchte ich die Änderungsanträge der SPD, die wir im Ausschuß ausführlich diskutiert und abgelehnt haben, die aber hier im Plenum noch einmal gestellt worden sind, mit Verlaub mehr als Demonstration denn als aussichtsreiches Anliegen bezeichnen. Unsere Devise in der Kriegsopferversorgung wie in anderen Bereichen lautet — —
— Nein, nicht hochjubeln, wie eben gesagt, Herr Kollege. Wir bleiben da ganz schön auf dem Teppich. Unsere Devise lautet: Machbares solide finanzieren ist besser als Versprechungen vorbringen,
die letztlich nur auf Pump finanziert werden können. Das diente weder den Kriegsopfern noch dem Haushalt.
Lassen Sie uns wie in der Vergangenheit Schritt für Schritt fortfahren; dann tun wir gemeinsam Gutes für die Kriegsopfer.Ich gehe davon aus, daß trotz einiger Kritik im Detail heute abend im Plenum eine breite Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf erreicht wird, und für diese breite Zustimmung möchte ich mich im voraus herzlich bedanken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bueb.
Meine Damen und Herren! Wenn es in den letzten Monaten darum ging, die Renten, die Arbeitslosengelder, die Sozialhilfe oder, wie heute, die Leistungen der Kriegsopferversorgung anzupassen, zog die Bundesregierung den statistischen Zauberstab hervor: Seht her, die Preissteigerungsrate beträgt ca. 0,7 %, sie ist gering wie selten.
Die Versorgungsbezüge steigen angeblich um 2,3%; wir sagen: um 1,7 %, weil die niedrige Rate der Vorjahreserhöhung noch bis Mitte des Jahres läuft. Aber trotzdem, die Rentner erhalten real einige Brosamen mehr.
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Bueb
Die Abnahme der Inflation, die ja vor allem internationalen Einflüssen zu verdanken ist, wird von der Bundesregierung dann in den höchsten Tönen gepriesen, wenn es darum geht, den sozial Schwachen eine viel zu niedrige Anpassung ihrer Bezüge zu verkaufen. Daß die Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen, die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die Rentner und Rentenerinnen durch die Sozialkürzungen in den letzten Jahren erhebliche reale Einkommensverluste hinnehmen mußten, wird selbstverständlich verschwiegen.
Verschämt verschwiegen werden auch die Einkommenserhöhungen aus Unternehmertätigkeit. Der Vergleich zeigt die Auswirkungen Ihrer unsozialen Politik:
Während die Kriegsopfer- und die anderen Renten um 1,8% stiegen, stiegen die Einkommen der Unternehmer 1985 um 8,5%.
Wenn die Bundesregierung nun behauptet, eine ordentliche Erhöhung der Kriegsopferrenten sei nicht finanzierbar, halten wir dem entgegen: Wer über 100 Milliarden in den Straßenbau pumpt, wer für ein wahnwitziges Atomprogramm Milliardenbeträge lockermacht, wer Steuergeschenke für die Wohlhabenden anbietet und wem die Vermögenseinkommen der Besitzklasse heilig sind, der muß eben dort kürzen, wo wenig Widerstand zu erwarten ist.
Die Alten und Behinderten kann man, so denken die Herren von der Regierung, mit schönen Sprüchen abspeisen. Sie müssen sich nicht wundern, wenn die Alten und Behinderten langsam anfangen, rebellisch zu werden, weil sie sich diese andauernde Diskriminierung nicht mehr gefallen lassen.
Wir unterstützen sie dabei kräftig.
Wir haben ein Konzept einer bedarfsorientierten Grundsicherung in allen Lebenslagen vorgelegt. Dieses Konzept sieht eine Anhebung der unteren Einkommen auf einen Betrag von mindestens 1 000 bis 1200 DM für eine Person und von ca. 2 180 DM für ein Ehepaar vor. Wir haben nachgewiesen, daß dieses Konzept sofort möglich und finanzierbar wäre, wenn man auf Steuersenkungen für Privilegierte endlich verzichten würde. Darüber zu diskutieren werden wir in Kürze in diesem Hause Gelegenheit haben.
Der Vorschlag der SPD allerdings, die Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrages auszusetzen, ist, Herr Kollege Kirschner, nichts anderes als Kostenverschiebung. Sie wissen doch ganz genau, daß damit nur die Krankenkassen und somit letztlich die Arbeitnehmer belastet werden. An diesem lächerlichen Verschiebebahnhof, den die sozialliberale Koalition mit Vorliebe praktizierte, liegt uns nicht viel. Wir wollen die zur Kasse bitten, die eh schon genug haben.
Herr Pöppl, ich möchte noch kurz auf unseren zweiten Einwand gegen die heute vorgelegte Regelung eingehen. Es geht um die Loslösung weiterer Hilfen der Kriegsopferversorgung aus der Sozialhilfe. Natürlich sind wir dafür, daß den Kriegsopfern wie im übrigen auch den Verfolgten des Naziregimes, die nun auch ein Stück weit gleichgestellt werden, der Gang zum Sozialamt erspart bleibt und daß sie bessere Leistungen erhalten. Doch statt, wie die Fraktion DIE GRÜNEN es mit dem Entwurf eines Bundespflegegeldgesetzes schon vor längerer Zeit vorgeschlagen hat,
den Bereich der Pflegefinanzierung einheitlich für alle zu regeln, und zwar unabhängig vom Grund der Pflegebedürftigkeit, spalten Sie die Gruppe der Betroffenen auf unerträgliche Weise in gute und schlechte Alte, in gute und schlechte Behinderte auf. Wer im Krieg für den Staat ein Bein verlor, ist nach dieser Lesart mehr wert als beispielsweise das Verkehrsunfallopfer oder die von Geburt an Behinderten. Wir halten diese Logik für unmenschlich und eines modernen Sozialstaats für unwürdig.
Trotz dieser Kritik — das habe ich bereits in der ersten Lesung angekündigt — werden wir diesem Gesetz zustimmen müssen, da die Betroffenen selbst auf eine solche lächerliche Anpassung nicht verzichten können.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach aller Polemik, nach aller Diskussion und dem Austausch aller Argumente stelle ich fest, daß die Aussicht besteht, daß wir heute abend in diesem Hause die Kriegsopferversorgung einstimmig anpassen.
Ich finde es gut, daß dieses Haus bei allen Meinungsverschiedenheiten doch noch zu Übereinstimmungen fähig ist.Das haben die Kriegsopfer auch verdient.
1,6 Millionen Kriegsopfer, das sind 1,6 Millionen Schicksale.
— Ich habe Ihre Ankündigung so verstanden.Es sind 1,6 Millionen Schicksale. Wir erfüllen ihnen gegenüber eine Pflicht. Ich teile die Auffassung, die Herr Cronenberg geäußert hat, und wiederhole sie: Es handelt sich nicht um die klassische Sozialpolitik, sondern es handelt sich um die Pflicht der
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Bundesminister Dr. BlümAnerkennung der Opfer, die diese Generation für uns alle erbracht hat.
Das sind keine leeren Worte. Ich denke, daß Politik eben nicht nur aus materiellen Zuteilungen besteht,
sondern auch aus Anerkennung und Respekt. Beides hat diese Generation ganz besonders verdient.
Jetzt zum Anpassungssatz: Ich möchte das allen noch einmal ganz ausführlich zu erklären versuchen. Die Anpassung der Kriegsopferversorgung folgt der Anpassung der Renten. Es ist geradezu eine Errungenschaft, daß Kriegsopfer und Rentner bezüglich ihrer Anpassungssätze in einem Boot sitzen. Herr Bueb, in diesem Boot sitzt noch jemand, nämlich die Lohnempfänger. Keine Rente wird willkürlich, angepaßt, keine Kriegsopferversorgung wird willkürlich angepaßt. Keine Lohnerhöhung geht an der Rentenerhöhung vorbei. Die Rentenerhöhung folgt der Lohnerhöhung in einjährigem Abstand. Die Lohnerhöhung des Vorjahres ist der Maßstab für die Anpassung von Renten und Kriegsopferversorgung im folgenden Jahr.Ich möchte auf ein Mißverständnis hinweisen.
— Herr Bueb, lassen Sie es mich im Zusammenhang erklären. Ich habe sogar die Hoffnung, daß ich Sie mit Mathematik überzeugen kann; wenn schon nicht mit Grundsätzen, dann mit Mathematik.
Die Mathematik besteht in folgendem: Die Bruttolohnerhöhung ist zunächst einmal der Maßstab. Im letzten Jahr haben sich die Löhne beispielsweise um 2,9 % erhöht. Aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß diese Lohnerhöhung nicht vollkommen im Geldbeutel der Lohnempfänger landet; vorher kassieren Finanzamt, Sozialversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung. Die Lohnerhöhung betrug netto nicht 2,9 %, sondern im Durchschnitt zwischen 1,8 und 2 %. Die Rentner liegen also nicht unter dem, was die Arbeitnehmer im Vorjahr zu ihrer Verfügung hatten. Das sind die Nettolöhne.
Ich rede hier über die Anpassung der Renten und der Kriegsopferversorgung. Ich will die Aufmerksamkeit auf einen großen sozialpolitischen Erfolg lenken, den niemand hier wegreden kann: Preisstabilität ist eine Politik für die kleinen Leute.
An der Inflation haben die kleinen Leute nie verdient. Sie waren nie die Gewinner bei einer Inflation. Deshalb ist Preisstabilität die beste Rentnerpolitik, die beste Kriegsopferpolitik.
Von wegen statistischer Zauberstab. Ich frage den Rentner, die Rentnerin, den Kriegsopferempfänger, was sie von einer hohen Anpassung haben, wenn die Inflationsrate noch höher ist.
Die Preissteigerungsrate liegt um 5 % niedriger als in dem denkwürdigen Jahr 1982, dem Abschiedsjahr der damaligen Regierung. 5% weniger Inflation bedeuten 10 Milliarden DM mehr Kaufkraft für die Rentner. Da das eine solch große Zahl ist, daß sie niemand übersetzen kann, sage ich: Das bedeutet für den einzelnen Rentner und für den einzelnen Empfänger von Kriegsopferversorgung einen Kaufkraftgewinn von durchschnittlich 1 300 DM im Jahr. Wie zynisch sind Sie, wenn Sie sagen, das wäre ein statistischer Zauberstab. Das sind 1 300 DM mehr Kaufkraft. Das ist so viel wie mindestens drei Monatsmieten.
Ich will das noch einmal übersetzen. Nehmen Sie an, wir hätten beschlossen, drei Monatsmieten für die Kriegsopfer zu übernehmen. Dann hätten Sie doch auch hurra geschrien. Nun, wir haben es nicht beschlossen, wir haben es gemacht — durch Preisstabilität!
Jetzt will ich hier noch einmal die strukturellen Maßnahmen ansprechen.
— Hören Sie mir doch einen Augenblick zu. Man kann die Wahrheit nicht oft genug sagen. Wenn Sie es beim erstenmal nicht verstehen, werde ich es das nächste Mal noch einmal sagen. Ich mache darauf aufmerksam, in jeder Rede werde ich sagen: Preisstabilität ist eine Politik für die kleinen Leute. In jeder Rede!
Jetzt komme ich zu den strukturellen Maßnahmen. Meine verehrten Kollegen und Genossen von der SPD, wenn Ihnen das zu klein ist, warum haben Sie es dann nicht in Ihrer Zeit gemacht? Wenn Sie das gemacht hätten, was wir gemacht haben, brauchten wir das heute abend nicht zu beschließen.
— Regen Sie sich doch nicht auf. Sie hatten doch 13 Jahre Zeit. Wenn das zu wenig ist, hätten Sie das Wenige in den 13 Jahren machen sollen.
Erster Punkt: Wir koppeln die Kriegsopferfürsorgevon der Sozialhilfe ab. Dahinter steckt mehr als nur
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Bundesminister Dr. Blümeine Neuordnung von Leistungen. Dahinter steckt auch die Betonung des Entschädigungscharakters der Kriegsopferversorgung; Kriegsopferfürsorge ist etwas anderes als Fürsorge und Sozialhilfe. Immerhin ist das eine alte Forderung der Kriegsopferverbände, die heute erfüllt wird.Wir heben die Ausgleichsrenten für diejenigen an, die in der Gefahr stehen, daß sie unterhalb der Sozialhilfe bleiben. Das bedeutet eine Anhebung von bis zu 143 DM. Ist das nichts, 143 DM?
Das ist eine Anhebung für 15 000 Mitbürger.
Beim Berufsschadensausgleich tritt eine Verbesserung ein, die gerade von den Fraktionen eingebracht wurde, wofür ich ausdrücklich danke. Sie sehen, wir haben eine gute Zusammenarbeit zwischen Regierung und Fraktionen. Der Berufsschadensausgleich ist seit 1964 — rechnen Sie nach, wieviel Jahre das sind — auf 40 % festgehalten worden. Wir erhöhen ihn auf 42,5%.
Das ist, wie jeder nachrechnen kann, eine Anhebung um 6,25%, eine Anhebung um bis zu 156 DM. Ist das nichts, oder ist das etwas für die kleinen Leute?
Seien Sie nicht so arrogant zu glauben, 156 DM wären' nichts.
Und das für 200 000 Mitbürger!Wir verbessern die Witwen- und Waisenbeihilfen und auch die Elternrenten. Ich mache auch darauf aufmerksam, daß wir außerhalb dieses Gesetzes auch die orthopädische Versorgung verbessern. 100 000 Mitbürgern, die behindert sind, wird geholfen, z. B. bei der Anschaffung von Kraftfahrzeugen und bei der Umrüstung. Das ist, wie ich zugebe, nicht eine Sozialpolitik der großen Worte, sondern eine Sozialpolitik der konkreten Taten, und das ist unsere Sozialpolitik.
Wir haben im vergangenen Jahr die Kapitalabfindungen verbessert, eine Verdoppelung des Bestattungsgeldes und die Umstellung der Einkommensanrechnung durchgeführt. Wir brauchen unsere Kriegsopferpolitik nicht zu verstecken. Ich sage noch einmal: Niemand braucht sich dafür zu bedanken. Darauf haben Kriegsopfer Anspruch, daß wir ihre Lage anerkennen. Darauf, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten trotz der Sparnotwendigkeiten Verbesserungen für die Kriegsopfer eingeführt haben, können wir, wenn Sie mitmachen, alle gemeinsam stolz sein. Eine Politik nicht der großen Worte, eine Politik, die nicht Revolutionen verspricht, sondern eine Sozialpolitik, die einen Schrittnach dem anderen nach vorn macht, das soll das Ergebnis dieses Abends sein.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung.
Ich rufe Art. 1 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5495 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Anzahl von Enthaltungen ist dieser Antrag abgelehnt.
Wer Art. 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Bei einer Reihe von Enthaltungen ist die aufgerufene Vorschrift angenommen.
Ich rufe Art. 2 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegen auf den Drucksachen 10/5496 bis 10/5499 Änderungsanträge der Fraktion der SPD vor.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 10/5496 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 10/5497? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 10/5498? — Gegenprobe! — Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 10/5499 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist bei zwei Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.
Wer Art. 2 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die aufgerufene Vorschrift ist bei einer Reihe von Enthaltungen angenommen.
Ich rufe die Art. 3 und 4 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen sind die Art. 3 und 4 angenommen.
Ich rufe Art. 5 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 10/5500 ein Änderungs- antrag der Fraktion der SPD vor. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Änderungsantrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wer Art. 5 in der Ausschußassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ge-
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Vizepräsident Stücklen
genprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Reihe von Enthaltungen ist die aufgerufene Vorschrift angenommen.
Es bleibt noch über Einleitung und Überschrift abzustimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einleitung und Überschrift sind einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer ist dagegen? — Wer enthält sich? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Es ist noch über eine Entschließung abzustimmen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 10/5493 unter Nr. 2 die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung und einigen Gegenstimmen ist diese Entschließung angenommen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 7 zur Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über weitere Maßnahmen auf dem Gebiet des Versorgungsausgleichs
— Drucksache 10/5447 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Zusatzpunkt 7:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung von Regelungen über den Versorgungsausgleich
— Drucksache 10/5484 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind eine gemeinsame Beratung des Punktes 17 der Tagesordnung und des Zusatzpunktes 7 zur Tagesordnung und eine Aussprache von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Versorgungsausgleich beruht auf einem sehr einfachen Gedanken: Nach der Scheidung sollen die in der Ehezeit erworbenen Versorgungsrechte gleichmäßig auf die Ehegatten aufgeteilt werden. Die Umsetzung dieses Gedankens in die Praxis allerdings ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Probleme ergeben sich für die Familiengerichte ebenso wie für die Verfahrensbeteiligten, für den Gesetzgeber ebenso wie für das Bundesverfassungsgericht.
Hauptquelle der Schwierigkeiten ist die Forderung, bei der Verschiedenartigkeit der Versorgungssysteme zwischen den widerstreitenden Interessen der Ehegatten einen gerechten Ausgleich zu finden und zugleich die Belange der Versorgungsträger zu berücksichtigen.
Der bereits 1980 erhobenen Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach ergänzenden Härteregelungen ist die Koalition kurz nach Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Verabschiedung des Härteregelungsgesetzes bereits im Dezember 1982 nachgekommen. Sie ersetzte außerdem den für viele Verpflichtete und Berechtigte gleichermaßen unbefriedigenden Versorgungsausgleich durch Beitragszahlungen durch andere, weniger belastende Ausgleichsformen. In einem Teilbereich — insbesondere beim Ausgleich von Be- triebsrenten — wurde die Beitragszahlung durch den schwachen schuldrechtlichen Versorgungsausgleich abgelöst. Gerade die Schwäche dieses Systems des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs war ja u. a. Anlaß dafür, für die Befristung des Härteregelungsgesetzes einzutreten und dies auch so zu verwirklichen.
Schon damals hatte die Koalition angekündigt, daß die befristete Notlösung spätestens zum Auslaufen des Härteregelungsgesetzes per 1. Januar 1987 durch bessere Regelungen ersetzt werden soll. Der Ihnen jetzt vorliegende Entwurf setzt diese Ankündigung in die Tat um.
Er enthält folgende wesentliche Punkte.
Die durch das Härteregelungsgesetz geschaffenen neuen Ausgleichsmöglichkeiten werden Dauerrecht. Sie werden aber durch Ausgleichsmodalitäten ergänzt, die die Grenzen wirtschaftlicher Zumutbarkeit für die Betroffenen wahren und einen wesentlichen Teil der schuldrechtlichen Ausgleichsfälle von vornherein vermeiden. Das Verfahren wird dadurch auch vereinfacht.
Die Altersversorgung des berechtigten Ehegatten wird in den restlichen Fällen dadurch gesichert, daß er den schuldrechtlichen Ausgleich nach dem Tode des Verpflichteten vom Versorgungsträger verlangen kann, soweit dieser eine Hinterbliebenenrente vorsieht.
Zum weiteren: Für Altfälle, in denen eine rechtskräftig angeordnete Beitragszahlung nicht zur Begründung einer Rente für den Berechtigten geführt hat, besteht nunmehr die Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Versorgungsausgleich durchzuführen, soweit dessen Voraussetzungen vorliegen.
Mit diesen beiden Punkten trägt der Entwurf dem Gebot des Bundesverfassungsgerichts in seiner jüngsten Entscheidung vom 8. April dieses Jah-
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Bundesminister Engelhard
res nach stärkerer Absicherung des sozial schwächeren Ehegatten voll Rechnung. — Darüber hinaus wird den Härten, die infolge späterer Veränderung der Versorgungshöhe nach rechtskräftiger Durchführung des Versorgungsausgleichs für die Betroffenen auftreten können, dadurch begegnet, daß das Familiengericht seine Entscheidung abändern kann.
Schließlich enthält der Entwurf auch Verwaltungsvereinfachungen, worauf ich nochmals hinweisen möchte.
Ich will nun nicht behaupten, daß damit allen Wünschen befriedigend Rechnung getragen werden konnte. Dazu fehlt es an den erforderlichen finanziellen Mitteln, und deswegen war es überhaupt nötig, nun erneut die Härteregelungen zu befristen, um deren finanzielle Auswirkungen später besser abschätzen zu können. Insgesamt wird aber das Ziel eines gerechten Ausgleichs nach der Scheidung erreicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stiegler.
Nur keine Sorge, meine Damen und Herren, ich lese nicht das Sündenregister der Union in diesem Bereich vor, sondern es wird milder sein.Wenn ich an den Versorgungsausgleich denke, dann kommt mir der alte Terentianus Maurus in den Sinn, der mal gesagt hat „Habent sua fata libelli". Habent sua fata leges in dem Bereich. Ich muß daran erinnern — der Herr Minister war ganz unschuldig, er hat keine Vergangenheitsbewältigung gemacht —, daß wir alles das, was er jetzt reumütig machen muß, bereits einmal gemeinsam in einem Gesetz eingebracht haben, wir beide als letzte Berichterstatter der sozialliberalen Koalition, am denkwürdigen 1. Oktober des Jahres 1982. Nur, dann ist der Herr Minister gewendet worden, und schon ist er in die verfassungswidrige Richtung gewendet worden. Ich kann nicht verhehlen, was meine Kollegin Frau Renate Lepsius bei der dritten Lesung am 16. Dezember des Jahres 1982 vorgetragen hat. Da hat Renate Lepsius gesagt:Für meine Fraktion stelle ich fest, daß die neue Rechtskoalition über das Lebensschicksal dieser Frauen wie mit einem heißen Bügeleisen hinweggebügelt hat. Wir sehen in der von der neuen Mehrheit durchgesetzten Privilegiertenregelung einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Und sie sagt dann weiter: Dies muß vor dem Bundesverfassungsgericht enden.So hat sie geendet, und sie hat recht behalten.Ich kann Ihnen, Herr Minister, ein zweites Zitat nicht ersparen. In Ziffer 4 der Urteilsgründe auf Seite 29 der amtlichen Fassung heißt es:Die ausnahmslose Anordnung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs für die betriebliche Altersversorgung, die nicht im Wege derRealteilung oder des Quasi-Splittings auszugleichen sind, läßt sich auch deshalb nicht rechtfertigen, weil keine Gründe erkennbar sind, die den Gesetzgeber hindern, das erweiterte Splitting einzuführen, wie es im Entwurf der SPD- und FDP-Fraktionen zur Ergänzung von Regelungen über den Versorgungsausgleich vorgesehen war.Es kommt selten vor, daß von Karlsruhe der Mehrheit ein Entwurf der Minderheit vorgehalten wird, daß man es anders machen kann. Es kommt vom Fluch der bösen Tat der Wende, daß Sie sich dieses holen mußten.Aber das Ganze in Karlsruhe hat auch seinen Vorteil. Die CDU, zumindest der Kollege Erhard, war nie ein großer Liebhaber des Versorgungsausgleichs. Er hat ja manche Escape-Möglichkeiten gesucht. Die sind ihm jetzt zugemauert worden. Also dieses Loch ist zu. Man kann von dem Versorgungsausgleich nicht mehr abrücken. Insofern hat sozusagen diese Sünde auch ihr Gutes: daß Karlsruhe festgelegt hat, daß die eigenständige soziale Sicherung der Frau Verfassungsrang hat, wofür wir Sozialdemokraten eingetreten sind. Um dieses zu unterstreichen, haben wir unseren alten Entwurf wieder eingebracht, diese mühselige Arbeit. Ich habe das immer als Strafarbeit empfunden, als einziger Jurist unter lauter Sozialpolitikern dieses mit auskochen zu müssen. Wir hatten aber den richtigen Weg.Vieles, was damals insbesondere das Bundesarbeitsministerium nicht wollte, etwa die Abänderungsmöglichkeit, ist heute Konsens. Wie haben Sie sich damals angestellt, als wir gesagt haben: Wenn wir keine Abänderungsmöglichkeit zulassen, dann wird das Ganze verfassungswidrig! Da haben Sie uns für verrückt erklärt und gesagt: Das geht nicht. Heute ist es communis opinio. Auch dafür bin ich dankbar, daß hier ein gewisser Fortschritt im Rechtsbewußtsein erzielt werden konnte.Ich gebe zu, daß unsere Regelung vielleicht kompliziert erscheint. Wer aber diese vielen hundert Versorgungsträger umschreiben und den Frauen eine eigenständige Sicherung geben will, der muß dieses mühselige Geschäft in Kauf nehmen.Wir werden bei den Gesetzesberatungen eines noch nachschieben müssen. Sie haben mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1984 die Frage der Berufsunfähigkeitsrente und Erwerbsunfähigkeitsrente für Frauen verschlechtert, verschlimmbösert. Das bedeutet, daß die Anwartschaften, die bisher auf das Vollrecht abgestellt waren, nicht mehr stimmten. Ich glaube, hier haben wir auch für diesen Bereich einiges wiedergutzumachen, sei es in Form der Abänderungsklage, sei es in Form einer Kehrtwendung der anderen Regelung.Das heißt, wir haben miteinander eine Menge Arbeit zu leisten, und das Konzept, das wir Sozialdemokraten entwickelt haben, hat sich durchgesetzt, und darüber bin ich froh.Vielen Dank.
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16730 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Buschbom.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der vorliegende Entwurf bezweckt die weitere Verbesserung des Versorgungsausgleichs zugunsten des Versorgungsausgleichsberechtigten durch die Beseitigung von Mängeln, die das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich noch nicht ausmerzen konnte.
Die jüngere rechtspolitische Geschichte des Versorgungsausgleichs entbehrt nicht einer gewissen Dramatik, wie wir alle miterlebt haben. Bereits am 28. Februar 1980 hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, alsbald die Bestimmungen über die Übertragung und Begründung von Rentenanwartschaften in einer der gesetzlichen Rentenversicherungen durch verfassungskonforme Regeln zu ergänzen, um die erkennbar gewordenen Verfassungsverstöße beim Rentensplitting — das sind unverhältnismäßige Belastungen eines Ehepartners zugunsten des anderen oder des Rentenversicherungsträgers — zu beseitigen.
Zu den geforderten Ergänzungen war die damalige sozialliberale Koalition in den drei Jahren bis zu ihrer Ablösung trotz des Bemühens, der Leistungen und der Arbeit unseres lieben guten Kollegen nicht mehr im Stande. Ich habe damals Ihre Arbeit wirklich bewundert.
Am Ende der 9. Legislaturperiode, genau am 27. Januar 1983, hat das Bundesverfassungsgericht die Anordnung des Versorgungsausgleichs durch Beitragszahlung zur Begründung einer Rentenanwartschaft in einer gesetzlichen Rentenversicherung als unverhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig bezeichnet und die entsprechende Regelung für nichtig erklärt.
Durch diese beiden Entscheidungen war der Versorgungsausgleich in seiner Durchführungskonzeption gescheitert.
Es bestand dringender Handlungsbedarf. Diesem hat die neue Koalition innerhalb von nur drei Monaten durch das Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich genügt. Wegen des Handlungsdrucks und der Kürze der noch zur Verfügung stehenden Beratungszeit hat dieses Gesetz nicht alle erkennbar gewordenen Nachteile bei der Regelung des Versorgungsausgleichs beseitigen können. Es ist daher bewußt als zeitlich begrenztes Gesetz verabschiedet worden.
Die Folgezeit ist durch das Bemühen der Koalitionsfraktionen gekennzeichnet, die Mängel insbesondere des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs zu beseitigen. Diese Mängel sind strukturbedingt; sie beruhen darauf, daß die Durchführung des Versorgungsausgleichs an das System der gesetzlichen Rentenversicherung geknüpft ist, deren öffentlich-rechtliche Funktion mit dem Zweck der privatrechtlichen Abwicklung des durch die Ehe begründeten Privatrechtsverhältnisses nicht übereinstimmt. Ich nenne hier die Merkworte „Einbahnstraße bei der Auswahl des Versicherungsträgers" und „Momentaufnahme der Versorgungsanwartschaften".
Dieser Systembruch im derzeitigen Versorgungsausgleich läßt sich nicht von heute auf morgen beseitigen und auflösen, doch der Handlungsbedarf blieb, insbesondere wegen der Verbesserungsbedürftigkeit des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs. Die kürzliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 1986, die die ausnahmslose Anordnung des schuldrechtlichen Versorgungsausgleichs in § 2 des Härteregelungsgesetzes als nicht verfassungskonform bezeichnet hat, ist daher auf offene Türen gestoßen. Da die Rechtspraxis und die Gerichte im allgemeinen mit dem Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich keine Schwierigkeiten haben, ist beabsichtigt, die vorgesehenen Verbesserungen in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts durch eine Änderung dieses Gesetzes einzuführen. Die Einzelheiten sind bereits vorgetragen; sie sollten baldmöglichst in den zuständigen Ausschüssen sorgfältig beraten werden.
Es bleibt das wesentliche Anliegen der Vorlage, die Altersversorgung des sozial schwächeren Scheidungspartners sicherer zu machen und gerichtliche Entscheidungen über den Versorgungsausgleich abändern zu können, wenn wesentliche Veränderungen der der Entscheidung zugrunde gelegten Verhältnisse eingetreten sind, sofern sich diese Entscheidung als besondere wirtschaftliche Härte eines Scheidungspartners auswirkt.
Namens der CDU/CSU-Fraktion beantrage ich die Überweisung in die zuständigen Ausschüsse.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 heute ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu diesem weiteren Stück Reform der Reform machen.
Nach der schwierigen Geburt des Unterhaltsänderungsgesetzes und dem erfreulicherweise weitgehend gescheiterten Versuch, im Unterhaltsrecht durch die Hintertür das Schuldprinzip wieder einzuführen, steht jetzt mit dem Versorgungsausgleich ein Kernstück der Reform auf dem gesetzgeberischen Prüfstand. Allzu spät, Herr Minister und liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen, für eine sachgerechte Beratung legt die Koalition dem
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Mann
Bundestag ihren Gesetzentwurf vor. Wir sollen schon in wenigen Wochen im Rechtsausschuß möglichst abschließend darüber beraten.
Wie schon beim Gesetz zur Regelung von Härten im Versorgungsausgleich vom Februar 1983, das im Dezember 1986 ausläuft, handelt es sich um ein Gesetz auf Probe. Die meisten Bestimmungen sollen nämlich nur bis zum 31. Dezember 1994 gelten. Aber gerade im Familienrecht sollte eine derartige provisorische Gesetzgebung vermieden werden, Herr Kollege Erhard.
Trotzdem ist zu begrüßen, daß die Koalition ihren Plan aufgegeben hat, das wesentliche gesetzgeberische Ziel von 1977, nämlich eine eigenständige soziale Sicherung des ausgleichsberechtigten Ehegatten, also insbesondere der Ehefrau, zu verankern. Sie hatten j a mal etwas anderes vor, Herr Kollege Erhard. Ich glaube, der Kollege Stiegler hat das vorhin ganz bewußt angesprochen. Ich bin mir auch heute noch nicht ganz sicher, ob nicht hinter den schönen Begründungen für eine notwendige strukturelle Reform im Grunde die Absicht verborgen wird, den Versorgungsausgleich, die eigenständige soziale Sicherung der Frau, eigentlich rückgängig zu machen. Sie verweisen in der Begründung — das erwähne ich an dieser Stelle ausdrücklich — darauf, daß sich die Rechtsanwendung inzwischen mit dem geltenden Recht vertraut gemacht hat. Weiter heißt es in der Begründung: „Auch im Bewußtsein der Bevölkerung hat der Versorgungsausgleich in den acht Jahren seines Bestehens Wurzeln geschlagen." In der Tat: So ist es.
Bitte sehr, Herr Kollege Erhard.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard.
Herr Kollege Mann, hätten Sie vor der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit Sicherheit sagen können, daß bei Betriebsrenten die versorgungsberechtigte Witwe einen Anspruch gegen den Versorgungsträger haben dürfte, ohne daß in Art. 14 GG eingegriffen worden wäre?
Herr Kollege Erhard, ich gebe zu, daß wir — das ist hier heute schon gesagt worden — bei ausstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem schwierigen Rechtsgebiet im Grunde manches gar nicht voraussagen können. Das sollte uns aber nicht daran hindern — das möchte ich auch in dieser sehr kurzen Zeit hier noch einmal sagen —, auch Perspektiven zu entwikkeln, die wirklich weiter reichen als Ihr Gesetzentwurf,
oder aber — was in der „Richterzeitung` vorgeschlagen worden ist — es vielleicht wirklich bei der Nachbesserung bewenden zu lassen, z. B. nach dieser Entscheidung vom 8. April, und im übrigen das Härteregelungsgesetz von 1983 lediglich bis zum 31. Dezember 1994 zu verlängern.
Ich sage noch einen Satz — ich hoffe, die Zwischenfrage wurde mir nicht auf die Redezeit angerechnet, Herr Präsident: Was wirklich anstünde, wäre, sozialpolitisch und familienpolitisch im Zusammenhang — leider ist der Herr Bundesarbeitsminister nicht mehr da — mit den ausstehenden Überlegungen zu einer großen Rentenreform darüber nachzudenken, wie entsprechend den heutigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen, wonach eine Frau gleichermaßen wertige Arbeit leistet, ob sie Hausfrau oder erwerbstätig ist, hier eine wirkliche eigenständige Altersversorgung gesichert werden kann. Da ist zwar mit dem berühmten Baby-Jahr, mit dem Erziehungsjahr ein erster Einstieg gemacht worden, aber es ist unserer Meinung nach ein viel zu zaghafter Einstieg. In der Richtung, so meine ich, müssen wir den Versorgungsausgleich, der ein wirklich modernes Gesetz ist, weiterentwikkeln: hin zu einer eigenständigen Altersversorgung der Frauen auch für den Fall der Scheidung.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Frau Weyel! Meine Herren! Der hier von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf betrifft eine Regelungsmaterie, die, wie die Vielzahl der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Entscheidungen zeigt, sehr komplex und mit sehr vielen Unsicherheiten belastet ist, Unsicherheiten, die sich aus der teilweise rasanten Fortentwicklung der Rechtsprechung, aber auch aus der Fortentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme ergeben. Dies macht es für den Gesetzgeber sehr schwer, eine vorausschauende, vor allem aber eine der überwiegenden Mehrheit der Einzelfälle gerecht werdende Lösung zu finden. Ich glaube, das können wir auch gar nicht. Es wäre vermessen, zu behaupten, es gäbe eine abschließende, allumfassende Regelung, die alle bisher aufgetretenen Probleme quasi im Handstreich vom Tisch wischen könnte.Was die Einzelheiten der Regelung betrifft, so sollten wir, meine ich, diese Reform, die einen Eingriff in ein komplexes System von Vorschriften darstellt, mit äußerster Sorgfalt vornehmen.
Eine unausgewogene Regelung, die möglicherweise zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde, würde weder vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen noch zu einem gerechten Interessenausgleich führen können.Bei den anstehenden Änderungen müssen wir uns von dem Gedanken frei machen, alle Wunschvorstellungen — egal, wie die Neuregelung aussehen wird — verwirklichen und jeden denkbaren Einzelfall regeln zu können. Der Gesetzgeber ist gerade in diesem sensiblen Bereich der Regelung nachehelicher Ansprüche nicht in der Lage, allen Windungen und Verwicklungen der verschiedensten menschlichen Einzelschicksale seinen Gesetzesstempel aufzudrücken. Das wollen wir Liberalen
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Beckmannim übrigen auch gar nicht. Denn letztlich gilt auch hier, daß wir neue rechtliche Regelungen nur am äußerst Notwendigen orientieren und den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit der Bürger, der auch im Ehescheidungsfolgenrecht seine Bedeutung hat, wieder in den Vordergrund rücken wollen.Das Ei des Kolumbus im Bereich des Versorgungsausgleichsrechts ist noch nicht gefunden und wird auch in Zukunft schwer zu finden sein. Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Wir können uns entweder an eine Ideallösung im Rahmen der gegebenen Gesetzesmöglichkeiten Schritt für Schritt herantasten oder aber — sollten hierbei unüberwindliche Probleme auftauchen — eine generelle Reform des Versorgungsausgleichs vornehmen. Hier gebe ich zu bedenken, daß auch eine derartige, völlige Neuorientierung des Versorgungsausgleichsrechts die unvermeidliche Crux in sich trägt, nicht jeden Einzelfall, nicht jedes Einzelschicksal bedenken und dafür Vorsorge treffen zu können. Es muß deshalb sehr sorgfältig abgewogen werden, welche Vor-und Nachteile eine solche generelle Novellierung mit sich bringt. Ich bin der Überzeugung, daß die Schaffung eines völlig neuen Versorgungsausgleichs wenig Zweck hat, wenn damit nicht gleichzeitig eine Reform des Rentenversicherungsrechts verbunden wird. Wenn hier keine umfassende Abstimmung beider Bereiche untereinander erfolgt und die bisher bestehenden strukturellen Probleme nicht beseitigt werden können, sehe ich neue Problemfälle auf uns zukommen.Aber, meine verehrte Frau Kollegin, meine Herren, selbst wenn uns der große Wurf gelingen sollte, bin ich nicht sicher — und das wird uns auch niemand garantieren können —, daß die Fortschreibung der Alterssicherungssysteme oder späteres legislatives Handeln nicht wiederum neue Tatbestände und damit neue Unsicherheit schafft. Es kann deshalb niemand für sich reklamieren, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. Wer dies tut, wirkt unglaubwürdig, und er wird durch die Realitäten sehr schnell widerlegt werden.Aus all diesen Überlegungen, meine Damen und Herren, sind wir deshalb zu der Überzeugung gelangt, daß der hier eingeschlagene Weg in der augenblicklichen Situation der einzig gangbare ist. Insbesondere werden mit der hier gefundenen Lösung — der Herr Bundesminister der Justiz hat dies dargestellt — die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht zum Versorgungsausgleich aufgestellt hat, gewahrt.Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig festgestellt, daß sich aus dem Wesen der auf Lebenszeit angelegten Ehe, wie sie in Art. 6 des Grundgesetzes gewährleistet wird, eine Verpflichtung ergibt, die ähnlich dem Gedanken des Zugewinnsausgleichs — ich zitiere — „auch nach Trennung und Scheidung der Eheleute auf ihre Beziehungen hinsichtlich Unterhalt und Versorgung sowie die Aufteilung des früher ihnen gemeinsam zustehenden Vermögens wirkt".Der Zweck des Versorgungsausgleichs wird damit -- so das Bundesverfassungsgericht — durch die wirtschaftliche Sicherung des sozial schwächeren Ehegatten mittels Umverteilung von Werteinheiten bestimmt.Dieser grundsätzlichen Zielrichtung folgt die hier vorgeschlagene Regelung. Sie orientiert sich damit an den Aufträgen und Weisungen, Herr Kollege Stiegler, die das Bundesverfassungsgericht an den Bundesgesetzgeber gerichtet hat.
Deswegen wird meine Fraktion der Überweisung an den Rechtsausschuß gerne zustimmen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 10/5447 und 10/5484 an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Werden andere Vorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit sind die Überweisungsvorschläge beschlossen.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geschmacksmustergesetzes
— Drucksache 10/5346 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag von bis zu fünf Minuten je Fraktion vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; es ist damit so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Entwurf soll einige wesentliche Verfahrens-und Formvorschriften sowie das Gebührensystem des seit nunmehr 110 Jahren praktisch unverändert gebliebenen Geschmacksmustergesetzes ändern.
Die Hauptziele des Entwurfs sind erstens die Zentralisierung des Musterregisters beim Deutschen Patentamt und zweitens die Herbeiführung einer größeren Publizität der eingetragenen Muster oder Modelle durch eine Bildbekanntmachung.
Zentralisierung und Bildbekanntmachung sind die vordringlichen und notwendigen Aufgaben zur Modernisierung des Gesetzes. Sie heben dann das deutsche Geschmacksmusterrecht insoweit endlich auf das Niveau moderner ausländischer Regelungen. Das alte Gesetz verfolgte mit der dezentralen Hinterlegung und Registerführung sowie mit der Nichtbekanntmachung einer Abbildung ausgespro-
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Bundesminister Engelhard
chen protektionistische Ziele. Dies ist nun wirklich überholt.
Es kommt aber noch ein weiteres hinzu. Zentralisierung und Bildbekanntmachung sind unverzichtbare und notwendige Voraussetzungen für eine bessere Bekämpfung der Musterpiraterie. Indem sie jedermann einen Überblick über den Bestand an Schutzrechten ermöglichen, erleichtern sie die Verfolgung von Pirateriefällen. Der Einwand, das geschützte Muster gar nicht gekannt zu haben, wird dann abgeschnitten. Insoweit ist die Novelle auch ein wichtiger Bestandteil der Bemühungen der Bundesregierung, die Voraussetzungen für einen Schutz gegen Produktpiraterie zu verbessern.
Der Entwurf sieht keine umfassende Neuregelung im materiellen Recht vor. Hierfür wäre in der Tat die Zeit auch noch nicht reif. Die Zeit wird auch nicht ausreichen, in dieser Legislaturperiode dies umfassend neu zu regeln. Aber sie muß in den beiden wesentlichen von mir erwähnten Punkten dringend einer Änderung zugeführt werden.
Ich kann mit Genugtuung feststellen, daß der Bundesrat dem Gesetzesvorhaben grundsätzlich zugestimmt hat und insbesondere auch der Zentralisierung und der Bildbekanntmachung befürwortend gegenübersteht. In der Dienststelle Berlin des Deutschen Patentamts werden schon gegenwärtig die Geschmacksmusteranmeldungen von Personen bearbeitet, die in der Bundesrepublik Deutschland keinen Sitz und keinen Wohnsitz haben. Die Dienststelle Berlin wird daher in Zukunft die Bearbeitung aller Geschmacksmusteranmeldungen insgesamt sehr gut übernehmen können.
Der Übergang von Verwaltungsaufgaben, die bisher im Bereich der Amtsgerichte wahrgenommen worden sind, auf eine Bundesbehörde wird in gewissem Umfange den Bundeshaushalt mit Kosten belasten. Die Bundesregierung ist aber der Auffassung, daß dies hinnehmbar ist, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung der Markenpiraterie, die jährlich Schäden in vielfacher Millionenhöhe verursacht. Die Mehrbelastung des Haushalts wird im übrigen auch dadurch ausgeglichen, daß der Entwurf ebenso wie in allen anderen Bereichen des gewerblichen Rechtsschutzes auch für Geschmacksmustersachen kostendeckende Gebühren vorsieht.
In dieser Hinsicht — lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen — sind von einigen Bereichen der Wirtschaft Einwendungen erhoben worden. Diese Einwendungen sind — genau betrachtet — aber unbegründet, weil der Entwurf eine Reihe von Möglichkeiten vorsieht, die den Geschmacksmusteranmelder in die Lage versetzen, die unvermeidbaren Kostensteigerungen im Einzelfalle sehr wohl im Rahmen zu halten.
Mir ist klar, wie zu Ende der Legislaturperiode der federführende Rechtsausschuß, aber auch die anderen Ausschüsse mit Arbeit überlastet sind. Es ist aber meine dringende Bitte und mein Wunsch, daß dieser kleine, aber sehr wichtige Gesetzentwurf alsbald Ihre Aufmerksamkeit findet, beraten und
noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ministerialrat Kelbel hat in einer Festschrift für Ballhaus das Geschmacksmustergesetz das Aschenputtel des gewerblichen Rechtsschutzes genannt. Weil ich meiner kleinen Tochter so oft das Märchen vom Aschenputtel vorlesen muß, habe ich unseren Geschäftsführer, der mit Recht gesagt hat: „Machen wir Schluß, gehen wir heim!", bekniet, daß dieses Aschenputtel hier behandelt wird. Ich hätte den Minister übel beschimpft, wenn er es nicht für nötig befunden hätte, hier wenigstens ein paar Worte dazu zu sagen.Es handelt sich um ein Gesetz, das von der deutschen Gesetzgebung praktisch seit der Verabschiedung sträflich vernachlässigt worden ist. Es ist damals ein Maßnahmegesetz gewesen als Antwort auf eine Pleite bei der Wiener Weltausstellung. Als nicht tarifäres Handelshemmnis war es konzipiert, und dann hat sich kein Mensch mehr darum gekümmert, obwohl es in der Tat von einiger Bedeutung für die Wirtschaft und vor allem für viele ist, die schöpferisch tätig sind. Es ist verwandt mit dem Urheberrecht. Das haben wir in dieser Legislaturperiode ja auch in einer vernünftigen Weise weiterentwickelt.Wir sagen: Diese zentrale Hinterlegung dient Berlin. Wir stehen dafür ein, daß in Berlin zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden.Diese zentrale Hinterlegung bedeutet aber nicht nur Arbeitsplätze in Berlin, sie bedeutet auch die Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Geschmacksmustergesetzes. Wir werden eine Übersicht über den Stand der Formgebung bekommen. Wir werden Kriterien entwickeln, wie man objektive Neuheit bestimmt, um vielleicht eines Tages in einem weiteren Schritt der materiellen Weiterentwicklung die Frage der Sperrwirkung eines Geschmacksmusters beraten und auch Entsprechendes verabschieden zu können. Das heißt also: Dieser Schritt nach Berlin zur Zentralisierung hin stellt mehr als nur die Möglichkeit dar, Recherchen zu machen. Vielmehr ist er auch die Voraussetzung für eine spätere Weiterentwicklung.Ich möchte für die weiteren Beratungen nur noch auf zwei Punkte hinweisen. Es sind jetzt bei der Anmeldung fotografische und graphische Vorlagen vorgesehen. Aus den beteiligten Fachkreisen wird auch die Hinterlegung der Muster und Modelle — möglicherweise mit unterschiedlichen Schutzwirkungen — gefordert. Das sollten wir uns einmal im Kreise der Berichterstatter gründlich ansehen, um manchen — —
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Stiegler— Nein! Das können wir einmal privatissime et gratis besprechen. Denn die Zeit reicht nicht aus. Wir sollten also im Kreise der Berichterstatter und im Rechtsausschuß diese Frage gründlich erörtern. Auch sollten wir den Kostenbedenken nachgehen, die vor allem von der keramischen Industrie etwa der Oberpfalz, aber auch der aus anderen Bereichen vorgetragen werden. Und wir sollten auch, Herr Minister,
die Kosten bei Verlängerung der Schutzdauer bedenken. Es wird sicher kostenaufwendiger werden. Hier müssen wir Verfahren entwickeln, wie man für kurzlebige Geschmacksmuster zu kostensparenderen Modellen als bisher kommt. Ich glaube, da ist einiges drin.Herr Minister, wir müssen auch aufpassen, daß das, was Sie über Markenpiraterie gesagt haben, nicht zum Placebo wird. Denn es gibt Leute, die sagen — —
— Dabei handelt es sich um Pfefferminzbonbons gegen Kopfweh! Das ist Placebo.
Viele Leute aus Fachkreisen sagen, daß durch die zentrale Hinterlegung eine Piraterie erst möglich wird. Wir müssen durch die Ausgestaltung — indem man eben einen Teil des Geheimschutzes aufrechterhält und trotzdem eine Schutzwirkung, jedenfalls für kurzfristige Güter, erzielt — die Piraterie wirklich bekämpfen. Wir dürfen nicht glauben, das werde schon durch die Zentralisierung erreicht.Ich kann nur sagen: Wir waren durchaus bereit. Das Gebrauchsmuster-Urheberrecht haben wir verabschiedet. Im Rechtsausschuß steht man dieser Gelegenheit wohlgesonnen gegenüber. Und das Ministerium sollte hier aktiv mitziehen. Dabei muß es keine Kontroversen geben, sondern hier geht es um gute Lösungen für die Arbeitnehmer, die Gestalter und die Wirtschaft.Vielen Dank
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Saurin.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Nachdem der Herr Stiegler hier unbedingt noch diese Debatte führen wollte und angekündigt hatte, lichtvolle Ausführungen zu machen, muß ich, obwohl ich ihn sehr schätze, sagen, daß ich das — ich spreche von der Wertigkeit — nicht ganz nachvollziehen kann. Ludwig, da wir alle Berichterstattungen — zum geistigen Eigentum, zum Urheberrecht und jüngst zum Gebrauchsmustergesetz —sehr einvernehmlich, gütlich und sachgerecht über die Runden gebracht haben, gestatte mit die spitze Anmerkung, daß du vielleicht den Gesetzentwurf sorgfältig hättest lesen sollen, bevor du meintest, diese Zwei-Minuten-Debatte führen zu müssen. Du hast zum Beispiel — ich will das nur ganz kurz erwähnen — den Punkt eines gewissen Geheimschutzes aufgegriffen. Schon jetzt besteht die Möglichkeit, für einen Zeitraum von 18 Monaten überhaupt keine öffentliche Bekanntmachung vornehmen zu müssen.Ich will es ganz kurz machen, da ich hier nur fünf Minuten habe. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt diesen Gesetzentwurf. Er steht in einer sehr guten Reihe von Gesetzentwürfen dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Das beginnt mit dem am letzten Mittwoch verabschiedeten Urheberrecht sowie mit dem Gebrauchsmusterschutz. Heute geht es um das Geschmacksmuster. Ein Gesetzentwurf über Mikrochips wird folgen. Für das Jahresende ist ein Gesetzentwurf gegen Marken-und Produktpiraterie angekündigt.Damit ist eine Tradition geschaffen. Das heißt, wir kümmern uns wirklich um geistiges Eigentum, um schöpferische Leistungen und Ideen in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich glaube, daß die Bundesregierung am Ende der Legislaturperiode in diesem Bereich eine sehr erfolgreiche Bilanz wird vorlegen können.
Ich möchte kurz hervorheben, daß mir in bezug auf dieses Gesetz insbesondere wichtig erscheint, daß ein erster Schritt gemacht wird, um Produkt-und Markenpiraterie stärker bekämpfen zu können. Wer sich heute in interessierten Kreisen der Wirtschaft umschaut, der muß eigentlich mit wachsendem Entsetzen feststellen, daß es eine ständig ansteigende Flut von Nachbildungen und Nachahmungen von Markenprodukten durch Piraten gibt. Das sind Leute, die letztlich Unternehmen damit ganz erheblich schwächen und dem Verbraucher einen deutlichen Schaden zufügen, weil er statt der erwünschten Markenartikel minderwertige Plagiate bekommt.Wenn es möglich wird, über eine zentrale Hinterlegung in Berlin dem ehrlichen Händler, dem ehrlichen Kaufmann durch eine Bildbekanntmachung etwas an die Hand zu geben, so daß er unterscheiden kann, ob er ein Plagiat, eine Nachahmung, oder aber einen Markenartikel bekommt, so ist, glaube ich, schon etliches getan, um Markenpiraterie in der Bundesrepublik Deutschland, die zunehmend auch vom Ausland hereingetragen wird, zurückdrängen zu können.Ich kann der Beratung nicht vorgreifen, aber so, wie ich den Kollegen Stiegler kenne, bin ich sicher, daß wir in sachlicher Form diskutieren können und daß wir, Herr Minister, dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschieden werden, um ein rundes Gebilde von Urheberrechtsschutz und Schutz geistigen Eigentums als Bilanz am Ende dieser Koalition — —
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Saurin— Es freut mich ja, daß Sie schon solche Gelegenheiten aufgreifen müssen, weil Sie sonst in Wahrheit j a keine Chance haben, hier eine Änderung herbeizuführen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte etwas Wasser in den Wein der großen Koalition vermutlich von SPD und CDU und FDP schütten und möchte am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens einige kritische Fragen formulieren.
Herr Minister Engelhard, Sie haben davon gesprochen, die Länder seien mit diesem Gesetzentwurf einverstanden. Ich darf aus der Stellungnahme des Bundesrats zitieren. Der Bundesrat weist darauf hin, daß der Gesetzentwurf für die betroffenen Unternehmen, deren Schutzinteressen er gerade dienen soll, erhebliche Kostenbelastungen mit sich bringt. Weiter heißt es: Der Bundesrat hält es für erforderlich, im weiteren Gesetzgebungsverfahren die kostenmäßigen Auswirkungen aus dem Gesetz eingehend zu überprüfen und durch Modellrechnungen transparent zu machen.
Im übrigen spricht sich der Bundesrat vor allem im Interesse mittelständischer Unternehmen dafür aus, die Einführung eines eigenen Auskunftsanspruchs über das Vorliegen von Geschmacksmusteranmeldungen zu erwägen. Ich bin gespannt, ob wir bis zu der vorgesehenen Beratung am 19. Juni diese Rechnungen vorgelegt bekommen; ich habe da so meine Zweifel.
Ich möchte auch auf einen wesentlichen Punkt aus der Gesetzesbegründung hinweisen. Da wird j a nicht nur gesagt, daß es sich um ein 110 Jahre altes Gesetz handelt, sondern auch ausgeführt, daß Meinungsunterschiede über die Ausgestaltung des materiellrechtlichen Musterschutzes bestehen, und zwar national und international.
Herr Abgeordneter Mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Lieber Kollege Norbert Mann, könntest du in diesem Zusammenhang dem Hohen Hause noch etwas über die Keramikindustrie in der Oberpfalz sagen? Es wäre wichtig, dazu noch etwas zu erfahren.
Das war mir leider bis zu der Äußerung des Kollegen Stiegler eben nicht bekannt. Deswegen kann ich dazu jetzt leider nichts sagen. Ich will aber gern versuchen, mich vor der Beratung im Rechtsausschuß insoweit sachkundig zu machen.
Ich möchte also noch einmal auf das Problem hinweisen, daß hinsichtlich einer grundsätzlichen materiellrechtlichen Ausgestaltung ganz offensichtlich national und international große Diskussionen geführt werden und daß übrigens nach der Gesetzesbegründung auch in der Wirtschaft die Meinungen geteilt sind, daß Sie es aber trotzdem jetzt, kurz vor Ende der Legislaturperiode, für sinnvoll halten, am Verfahren etwas zu ändern, und zwar mit folgender Auswirkung — Herr Kollege Saurin, darauf möchte ich hier auch noch hinweisen —: Dieses schöne Wirtschaftsförderungsargument „Nun zentralisiert einmal schön, und dann nach Berlin" hat ja auch die Folge, daß bei den Amtsgerichten, wo zur Zeit hinterlegt wird, Arbeitsplätze wegfallen. Dazu heißt es ganz lapidar, daß das dann durch Umsetzungen ausgeglichen wird. Ich meine sehr wohl, daß man sich das überlegen sollte — und ich werde in der Beratung im Rechtsausschuß fordern —, daß man uns darüber aufklärt, ob man nicht dieses Flickwerk sehr wohl noch wenigstens für zwei oder drei Jahre — vielleicht kommen dann ja in der nächsten Wahlperiode Sie oder wir mit einer materiellrechtlichen Regelung über — aufschieben kann.
Gestatten Sie mir ganz zum Schluß noch eine Bemerkung. Abgesehen davon, daß hier — ich lerne auch immer dazu — dieses hübsche Rüschenhaubenurteil des Bundesgerichtshofs im 50. Band materiellrechtlich einige Fragen geklärt hat, möchte ich fragen: Warum soll eigentlich nicht das, was 110 Jahre lang so gegangen ist, noch weitere Jahre gehen?
Sie selbst haben einmal den Grundsatz für die Gesetzgebung postuliert, Sie wollten sich zurückhalten, Sie wollten zur Abschaffung der Bürokratie weniger Gesetze erlassen. Jetzt kommt hier wieder ein neues Gesetz mit, wie ich glaube, neun Buchstabenparagraphen, die zu einer weiteren Komplizierung des gewerblichen Rechtschutzes führen.
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das bisher so gelobte Gesetzeswerk tatsächlich auch von den beteiligten Kreisen, auf die Sie sich immer gern beziehen, gewünscht wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf ist nach meiner Auffassung ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Verbesserung und Intensivierung des Schutzes von gewerblichen Modellen und Mustern. Insbesondere die hier vorgesehene Zentralisierung des Musterregisters und die zur Regel erhobene Bildeintragung und -bekanntmachung werden mit dazu beitragen, die Abkehr von rechtswidrigen Zugriffen auf eingetragene Geschmacksmuster effektiver zu gestalten. Vor allen Dingen wird damit ein entscheidender Beitrag zur Bekämpfung einer immer stärker um sich greifenden Form der Wirtschaftskriminalität geleistet, nämlich der Produkt- und Markenpiraterie.
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16736 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
BeckmannDer volkswirtschaftliche Schaden, der durch die Markenpiraterie entsteht, ist gravierend und führt zu Folgen, die in ihrer letzten Konsequenz noch nicht absehbar sind. Deswegen sind wir aufgerufen, so meine ich, eine eindeutige gesetzliche Regelung herbeizuführen.Insofern unterstreicht auch meine Fraktion das Petitum, das der Bundesjustizminister kürzlich vorgetragen hat, und tritt für eine rasche Behandlung dieser Gesetzesvorlage im Ausschuß ein.
Es war leider noch nicht möglich, eine grundlegende Novellierung des Gebrauchsmusterrechts vorzuschlagen, da wir erst die gemeinschaftsweite Angleichung der Rechtsvorschriften in diesem Bereich abwarten müssen.Es bleibt letztlich auch der alte Streit ungeklärt, ob das Geschmacksmusterrecht eher dem Patentrecht oder eher dem Urheberrecht anzugleichen ist.
Wir sind jedoch der Auffassung, daß die bereits hier vorgenommenen Änderungen einen wesentlichen Fortschritt im Hinblick auf mehr Markensicherheit darstellen. Gerade der Vergleich mit ausländischen Geschmacksmustergesetzen hat gezeigt, daß das deutsche Recht, das — der Bundesjustizminister hat es bereits angedeutet — aus dem Jahre 1876 stammt, einer dringenden Überarbeitung bedarf.Neben den bereits erwähnten Änderungen sind weitere verfahrensrechtliche Vereinfachungen vorgenommen worden, die dazu beitragen werden, Anmeldung und Eintragung von Modellen und Mustern zu erleichtern, insbesondere, Herr Kollege Mann, zu entbürokratisieren.
Hinzu kommt, daß das Musterregister durch die geplante Zentralisierung, die verbesserte Klassifizierung und die erweiterte Möglichkeit der Bildbekanntmachung an Aussagewert erheblich zunehmen wird und damit als wirksames Instrument zur Verhinderung auch unbewußter Nachbildungen genutzt werden kann.Allerdings gilt es, trotz der von uns anerkannten Eilbedürftigkeit dieses Vorhabens in aller Ruhe und vor allem sorgfältig zu prüfen, welche Folgen diese registerrechtlichen Festlegungen für unsere Wirtschaft haben. Gerade die mittelständische Wirtschaft hat Einwände erhoben und beklagt, daß sie mit nicht kalkulierbaren und der Höhe nach nicht mehr tragbaren Geschmacksmustergebühren belastet würde.Dieser Einwand, meine Damen und Herren, kann sicherlich nicht damit abgetan werden, man verfolge schließlich ein allgemeindienliches Ziel, und wer mehr Produktschutz haben möchte, müsse sich dies auch etwas kosten lassen. Das wäre zu einfach. Wir denken aber, daß z. B. für den Bereich der Massenanmelder von Mustern und Modellen — wie beispielsweise in der Modebranche — die Möglichkeit der Sammelanmeldung die Kosten senken hilft und damit die Einwände teilweise auch ihre Grundlage verloren haben.Trotzdem wird meine Fraktion in den Ausschußberatungen darauf achten, daß gerade die Belange der mittleren und kleineren Betriebe gewahrt und keine neuen übertriebenen finanziellen Belastungen konstituiert werden.Ein letztes Wort noch zu dem möglichen Standort für die zentrale Hinterlegung und Registrierung von Mustern und Modellen. Die Dienststelle des Patentamtes in Berlin hat bereits heute einschlägige Erfahrungen in diesem Bereich sammeln können. Meiner Fraktion scheint deshalb die Stadt Berlin am ehesten geeignet zu sein, das geplante zentrale Musterregister aufzunehmen.Alles weitere werden die Ausschußberatungen ergeben müssen. Meine Fraktion wird der Überweisung an die Ausschüsse deswegen gern zustimmen.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 10/5346 an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Werden weitere Vorschläge gemacht? — Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
— Drucksache 10/5448 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Innenausschuß
Haushaltsausschuß
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Wortmeldungen liegen nicht vor*).
Meine Damen und Herren, damit komme ich zu den Überweisungsvorschlägen. Ist das Haus damit einverstanden? — Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wird sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Mai 1986, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.