Rede von
Karsten D.
Voigt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Bundesaußenminister, zuerst einmal stehen Sie hier auf dem Prüfstand. Sie haben offenkundig versucht, mit besonders lauter Stimme Ihre eigenen inneren Zweifel an Ihrer Position zu übertönen.
Wir wollen, daß Europa auf Dauer chemiewaffenfrei bleibt. Sie öffnen mit Ihrer Entscheidung heute das Tor für eine weltweite Aufrüstung mit neuen binären chemischen Waffen. Unser Vorschlag für eine chemiewaffenfreie Zone heute in Europa, um schrittweise die Welt insgesamt von der Geißel des chemischen Todes zu befreien,
ist ein begrenzter Schritt, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie aber mißbrauchen hier die Genfer Verhandlungen als Alibi für eine Zustimmung zur Herstellung neuer chemischer Kampfstoffe durch die Vereinigten Staaten. Das ist der klassische Weg, um durch Hinweis auf Verhandlungen, die laufen und von denen Sie selber sagen, sie werden nicht so schnell zum Abschluß geführt werden können, neue eigene Rüstungsentscheidungen zu legitimieren. Also: Abrüstungsverhandlungen als legitimatorisches Instrument für Aufrüstungsentscheidungen.
Wir wollen Mitteleuropa in Ost und West überprüfbar, auf Dauer und völkerrechtlich verbindlich von chemischen Waffen freihalten. Ihre Position führt dazu, daß die Sowjetunion in Osteuropa ein Monopol für chemische Waffen aufrechterhält. Wenn Sie diesen Zustand nicht hinnehmen wollen - und dazu sind Sie sicherheitspolitisch ja gar nicht bereit —, bedeutet dies, daß Sie spätestens im Krisenfall Ihr heute gegebenes Versprechen brechen werden und dann zur Stationierung neuer chemischer Waffen bereit sind.
Sie sagen, daß Sie ein Vetorecht gegen die Stationierung neuer chemischer Waffen ausgehandelt haben. Dies begrüßen wir. Aber wir sagen, daß wir die-
16688 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986
Voigt
ses Vetorecht heute bereits ausüben wollen. Heute bereits wollen wir sagen, daß wir gegen die Stationierung neuer chemischer Kampfstoffe in Europa sind, und zwar unter allen Umständen sind.
Daß Sie hierzu nicht bereit sind, weckt nicht nur unser Mißtrauen, sondern auch das Mißtrauen der deutschen Öffentlichkeit.
Sie sagen: Es gibt noch keine Eventualplanung für chemische Waffen und ihre Stationierung. Dies ist bestenfalls die Halbwahrheit. Sie wissen, daß amerikanische Militärs bereits vor einigen Monaten in Europa und später in den Vereinigten Staaten mit solchen Eventualplanungen begonnen haben und daß solche Eventualplanungen — für Europa und auch für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich -- spätestens bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen werden sollen.
Sie wissen dies, und Sie wissen, daß ich die Wahrheit sage
und daß Sie in dieser Beziehung die Wahrheit verschweigen.
Trotzdem erwecken Sie wider besseres Wissen den Eindruck, als ginge es heute nur um den Abzug und nicht auch um Pläne für eine künftige Stationierung in Europa.
Sie wissen genau, daß der Begriff der Krise, den Sie verwenden, im Grundgesetz nicht vorkommt und daß die Verwendung dieses Begriffs deshalb ein Instrument ist, um in einem solchen militärischen Zustand den Bundestag zu umgehen und unter Umgehung des Bundestages eine Stationierung möglich zu machen.
Dies verurteilen wir, dies kritisieren wir.
Sie sagen, daß eine chemische Vergeltungsstrategie deutschen Interessen widerspricht. Dies stimmt; denn vom Einsatz chemischer Waffen wären insbesondere deutsche Zivilisten in Ost und West und nicht primär sowjetische und amerikanische Soldaten, die sich dagegen schützen können, betroffen. Aber Sie bereiten den Weg für eben diese chemische Vergeltungsstrategie, von der Sie sagen, daß sie deutschen Interessen widerspricht. Denn was anderes ist es, wenn Sie den Weg für binäre chemische Munition ebnen, die leichter transportierbar und damit auch leichter einsetzbar ist? Was anderes ist es, wenn in den Vereinigten Staaten bereits heute Raketenwerfer für chemische Munition, Cruise Missiles mit chemischer Munition und weiterreichende Flugzeuge, also weiterreichende Systeme mit chemischer Munition geplant werden? Was anderes als eine Legitimierung einer neuen Strategie ist es, wenn Sie angesichts dieser Tatsache zur Produktion neuer chemischer Kampfstoffe trotzdem j a sagen?
Militärische Planer in Ost und West beginnen bereits heute, ihre Phantasie für neue chemische Kriegsführungsstrategien zu beflügeln. Dies kann man nur dadurch blockieren, daß man heute zu einer chemiewaffenfreien Zone in Europa ja sagt, daß man heute zu solchen Verhandlungen über eine solche Zone ja sagt.
Die Bundesregierung behauptet, daß die Entscheidung über die Herstellung chemischer Waffen ausschließlich eine nationale Entscheidung der Vereinigten Staaten sei.
Auch dies ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Denn der amerikanische Kongreß hat uns ein Vetorecht übertragen, und dafür bin ich ihm dankbar. Aber dieses Vetorecht auszuüben, bedeutet auch, jetzt Position zu beziehen. Wir beziehen Position mit einem klaren Nein, und ein solches klares Nein ist für die transatlantischen Beziehungen besser ais ein Ausweichen vor einer klaren Entscheidung.
Ich habe gestern einen Brief von einem amerikanischen Kongreß-Abgeordneten aus Illinois erhalten, in dem es heißt, daß die Europäer einem amerikanischen Kraftziel — er meint damit: Streitkräfteziel —, einschließlich eines eventuellen Kampfeinsatzes, zustimmen müßten.
Und er fragt, was eigentlich die gegenwärtige Politik der westdeutschen Bundesregierung hinsichtlich der Bestimmung eines NATO-Streitkräftezieles sei,
wobei die Herstellung der neuen chemischen Waffen genehmigt werden kann und gleichzeitig die Vorschriften des US-Kongresses eingehalten werden können. Wörtlich: „Genauer gefragt: Wie steht die Bundesregierung zur Aufnahme dieses Streitkräfteziels, und wäre sie bereit, den Kampfeinsatz von solchen Waffen in Europa zu genehmigen?"
Auch ich bin — wie dieser amerikanische KongreßAbgeordnete — der Meinung, daß die Bundesregierung diese Fragen heute klar beantworten muß.
— Nein, weil er kein Vertrauen in die Bundesregierung hat, schreibt er an mich; so ist der Tatbestand:
Er schreibt an mich, weil wir nämlich gute Beziehungen zum amerikanischen Kongreß haben, während Sie offensichtlich nicht wissen, was dort beschlossen worden ist und gedacht wird.
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Voigt
Wir meinen, daß Sie in Wirklichkeit diesen entscheidenden Fragen auszuweichen versuchen. Sie wollen keinen Vertrag über eine chemiewaffenfreie Zone, weil Sie sich völkerrechtlich die Option auf eine Stationierung von chemischen Waffen offenhalten wollen. Dies ist Ihr eigentlicher Einwand, und alle anderen Einwände in bezug auf Verifikation, die Ausdehnung der Zone sind vorgeschobene Argumente, sind Alibis, weil Sie sich in Wirklichkeit eine künftige Stationierung offenhalten wollen
und weil Sie hier jetzt erst ja sagen wollen oder den Weg für eine Herstellung von binären Waffen ebnen wollen.
Später, zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie meinen, daß sich die deutsche Öffentlichkeit beruhigt hat, wollen Sie schließlich zu einer Stationierung ja sagen. Das ist ein abgekartetes Spiel,
aber ein abgekartetes Spiel, das wir hier nicht hinnehmen können.
Wenn man so wie Herr Todenhöfer prinzipiell gegen militärisch verdünnte Zonen in Europa und damit auch gegen chemiewaffenfreie Zonen ist, dann wird man auch nie die spezifische Bedrohung Mitteleuropas verhindern und abbauen können. Wer nicht einmal bereit ist, den ersten Schritt in Richtung auf eine militärische Verdünnung in Mitteleuropa, in Richtung auf eine chemiewaffenfreie Zone zu gehen, der wird auch nie den langen Weg zu einer europäischen Friedensordnung erfolgreich beginnen können; er wird dieses Ziel auch nie erreichen.
Ich frage Sie, ob Sie in Wirklichkeit die weltweite Abrüstung und eine europäische Friedensordnung nicht immer nur deshalb verlangen, weil Sie damit ablenken wollen, daß Sie jeden konkreten Schritt, der heute in Europa in Richtung auf dieses Ziel möglich ist, blockieren und untergraben wollen.