Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir müssen versuchen, eine politisierte Debatte in europäischen Parlamenten und anderswo zu vermeiden.
Trotzdem wagt die Bundesregierung diese Debatte. Woher nimmt sie den Mut zu diesem Risiko, das man ihr bei der Nachrüstungsdebatte 1983 erst abringen mußte? Nun, diese Regierung macht sich Mut, indem sie es sich — wie so oft — sehr einfach macht. Sie sagt: Auf Grund des Aufenthaltsvertrags von 1954 hätten die Amerikaner sowieso das Recht, Modernisierungen ihrer C-Waffen-Bestände hier ohne Konsultationen durchzuführen. Nun haben der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister — so hören wir — in Gesprächen und in Briefwechseln — natürlich geheim, so daß es nicht nachprüfbar ist — mit dem US-Präsidenten erreicht, daß die alten Bestände abgebaut werden, daß keine Stationierung neuer binärer Waffen erfolgt, daß eine solche im Eventualfall nur mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgen könne.
Ich lese das Wort „Bitte". Ich möchte fragen: Für wie dumm halten Sie uns eigentlich, daß Sie uns weismachen wollen, irgendein Aufnahmestaat würde um chemische Waffen zur Verwendung auf dem eigenen Territorium bitten? Was machen Sie eigentlich mit der Bevölkerung, mit solchen Briefwechseln, mit solchen Texten? Ich kann nur sagen: Man kann nur mit dem Kopf schütteln; das ist fast schon pervers.
Herr Lamers hat erklärt: Souveränitätsgewinn plus Abrüstung — ein totaler Erfolg, sollte man meinen, ein Erfolg, der sowohl das zähe Verhandlungsgeschick des Bundeskanzlers als auch die Abrüstungswilligkeit der USA beweisen soll, die doch immerhin — so Herr Todenhöfer und jetzt auch Herr Wörner — als einseitige Vorleistung 17 Jahre lang keine weiteren C-Waffen produziert hätten.
Herr Todenhöfer, Sie haben gestern im Ausschuß gesagt — das ist wohl nicht geheim; ich glaube, er ist gar nicht da, ich vermisse ihn im Moment —, es gebe das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" von Alexander Mitscherlich. Er hat dann an die Adresse der Opposition gesagt, offensichtlich gebe es bei uns auch die Unfähigkeit, sich zu freuen. Ich sage Ihnen: Es gibt bei ihm und der Regierungskoalition die Unfähigkeit, die volle Wahrheit zu sagen, wahrhaftig zu sein. Sonst müßte man sehen, daß diese alten Bestände nicht aus irgendwelchen Abrüstungsgedanken heraus abgebaut werden, sondern deshalb, weil diese Bestände völlig unsicher sind. Ich darf hier nur den demokratischen Senator Jackson zitieren, der am 17. September 1980 in der Senatsdebatte über die Einführung binärer Nervenkampfstoffe gesagt hat:
Wir haben gegenwärtig 4 000 Undichtigkeiten pro Jahr, toxische Lecks.
Das heißt also, wenn der Westen aus solchen Gründen abrüstet, weil alte chemische Waffen zu einer Gefahr für ihre Bewacher werden, dann gestatten Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, leise Zweifel an der konsequenten Abrüstungswilligkeit derer, die diese Waffen abziehen. Chemische Entsorgung ist keine chemische Abrüstung, zumal wenn sie mit chemischer Modernisierung einhergeht.
Nein, es geht nicht um Abrüstung, sondern um klammheimliche Strategieveränderung innerhalb
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 216. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Mai 1986 16683
Lange
der NATO. Ich darf hier den amerikanischen Heeresminister Marsh zitieren. Während eines Kongreß-Hearings hat er gesagt — ich bitte Sie, genau zuzuhören, weil das von Ihrer Seite aus immer wieder ignoriert wird, obwohl Sie sehr genau wissen, worum es bei dieser Modernisierung geht —:
Wir müssen obsolete, potentiell unsichere Munition demilitarisieren, um spätere Probleme mit ihr zu vermeiden. Die Modernisierung mit Binärwaffen ist notwendig, um eine glaubwürdige Fähigkeit zur Vergeltung zu besitzen, die mit dem Air/Land-Battle-Konzept vereinbar ist.
Hier sind wir beim Kern der Debatte; denn:
Beweglich eingesetzte Luft- und Bodenstreitkräfte, konventioneller, atomarer und chemischer Beschuß, subversive Kriegsführung, aktive Aufklärung, Überwachung und Zielerfas-, sungsbemühungen sowie die elektronische Kampfführung werden alle auf den Frontbereich und die rückwärtigen Gebiete beider Kombattanten gerichtet sein.
Dies ist nur ein Zitat aus dem Field-Manual 100/5, dem Air/Land-Battle-Konzept, nach dem die amerikanischen Streitkräfte bereits jetzt auch auf dem Boden der Bundesrepublik ausgebildet werden. Das ist der Kern der Angelegenheit. Es geht um die Komplettierung, um diè klammheimliche Strategieveränderung innerhalb der NATO! Da führt man in der Öffentlichkeit ein Scheingefecht und geriert sich gar noch mit einem Abrüstungswillen. Dies ist der Einstieg der Bundesrepublik und der NATO in die Air/Land-Battle-Konzeption der USA. Dies ist die schleichende Aushöhlung der jetzigen NATOStrategie.
Zur Haltung der Bundesregierung: Der Bundeskanzler hat auf der Pressekonferenz am 11. April gesagt, es handle sich um eine nationale Entscheidung der amerikanischen Regierung. Es werde keine Stationierung neuer binärer chemischer Waffen in der Bundesrepublik geben. Sie wissen, dies ist falsch, irreführend und gefährlich. Falsch ist es, da die Kongreß-Resolution die Produktionsaufnahme an eine formelle NATO-Rats-Entscheidung bindet. Der Kanzler verschweigt, daß mit deutscher Zustimmung bereits am 17. Februar der Militärausschuß der NATO das Streitkräfteziel „neue chemische Waffen" billigte. Die letztlich politisch bindende Entscheidung aber fällt am 22. Mai im NATO-Rat. Hier ist die Bundesregierung gefordert, ein klares Nein zu sagen, wenn sie es wirklich ernst mit der Abrüstung meint.
Keine Stationierung, sagte er, und implizierte: in Friedenszeiten. Aber ich darf zitieren:
Wenn wir sie erst bauen, dann wird der Druck auf die NATO-Alliierten so groß sein, eine Stationierung auf eigenem Boden zu akzeptieren, besonders auf die Bundesrepublik, wo es sie ja heute auch gibt.
So Duncan Hunter vom US-Verteidigungsausschuß. Oder ein anderes Zitat:
Es geht dabei nicht um eine Stationierung in Krisenzeiten. Wir gehen davon aus, daß die Waffen in den USA und in Europa gelagert werden.
So John Porter vom US-Haushaltsausschuß. Ich frage mich: Was gilt nun, die Wunschvorstellung der Bundesregierung, mit der sie hier vor die Öffentlichkeit tritt, oder die realistische Einschätzung von US-Experten in Kenntnis der Abläufe?
Krisen-/Eventualfall: Wer definiert den Krisenfall? Der Begriff kennt keine grundgesetzliche Entsprechung. Was ist ein Eventualfall? Wer definiert die Kriterien dafür? Unsere Befürchtung ist: Die Definitionsmacht liegt beim amerikanischen Präsidenten. Wo ist dann die Souveränität geblieben, auf die Sie hier heute so stolz hingewiesen haben?
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. Wenn die Bundesregierung dem Streitkräfteziel „neue chemische Waffen" auf der NATO-Rats-Tagung zustimmt, dann bedeutet das faktisch ihre Zustimmung zur Produktion der binären chemischen Waffen. Damit macht sich die Bundesregierung entscheidend mitverantwortlich für erstens eine neue Aufrüstungsrunde, diesmal auf dem Gebiet der chemischen Waffen, zweitens eine schleichende Strategieveränderung der NATO in Richtung auf offensive Air/Land-Battle-Kriegsführungsstrategien auf dem mitteleuropäischen Schlachtfeld, drittens eine Änderung der Sichtweise über die Funktion von C-Waffen als Repressalie hin zu Kriegsführungswaffen und viertens für einen weiteren moralischen Verfall von politischer Kultur dadurch,
daß die Wertegemeinschaft NATO sich nicht scheut, bereit zu sein, im Krieg Mittel einzusetzen, die nichts anderes sind als materialisierte Lebensverachtung. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, auf der NATO-Rats-Tagung am 22. Mai in Brüssel ein klares Nein zur Produktion von C-Waffen durch die USA zu sagen. Sie hat hier eine Schlüsselrolle und sollte sich dieser Rolle endlich einmal friedenspolitisch konstruktiv bewußt sein.
Ich möchte Ihnen zum Schluß noch etwas zum Nachdenken mitgeben, vor allen Dingen jenen, die vielleicht auf ihre Hartgesottenheit stolz sind: In was für eine Zukunft lassen Sie uns und kommende Generationen eigentlich hineinwachsen? Da verstrahlen unsere Luft, unsere Erde, unsere Lungen radioaktiv, und Sie setzen weiter unbeirrt auf Atomenergie. Sie sind für mehr konventionelle Rüstung, für immer gefährlichere Atomwaffen und für die Stationierung — wann auch immer und wie auch immer — von chemischen Waffen. Sie, die Sie immer von Frieden in Freiheit reden, merken gar nicht mehr, wie diese Worte zur hohlen Phrase gerinnen, weil die Menschen das hier nicht mehr als friedlich und frei empfinden. Es ist keine lebens-
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werte Zukunft mehr, die uns durch Ihre Politik in Aussicht steht.
— Das zeigt nur, daß Sie an der Bevölkerung vorbeileben. Gehen Sie einmal raus und fragen Sie die Leute, was sie denken.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie suchen sich ein neues Volk, das Ihre kalte Politik mitmacht, oder die Bürger hier suchen sich eine neue Regierung.
Für die erste Möglichkeit möchte ich Ihnen viel Glück wünschen. Für die zweite Möglichkeit werden wir uns massiv einsetzen.
Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag, der lautet: weg mit den alten C-Waffen, keine neuen C-Waffen, wie auch immer und wo auch immer und wann auch immer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.