Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich teile Ihnen mit, daß nach Mitteilung der Fraktion der SPD vom 8. Juni 1972 der Abgeordnete Dr. Müller seit dem 17. Mai 1972 nicht mehr Mitglied der Fraktion der SPD ist.
Ich teile ferner mit, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste bezeichnete Vorlage ergänzt werden soll:
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Sozialberichts 1972
— Drucksache VI/3432 —
Überweisungswunsch: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist die Tagesordnung so beschlossen. Der Sozialbericht wird im Rahmen der verbundenen Debatte bei Punkt 20 als Punkt 20 d) aufgerufen werden.
Ich teile ferner mit, daß die Fraktion der CDU/ CSU mit Schreiben vom 13. Juni 1972 für den ausgeschiedenen Abgeordneten Köppler die Abgeordnete Frau Berger als stellvertretendes Mitglied im Wahlprüfungsausschuß benannt hat. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Abgeordnete Frau Berger als stellvertretendes Mitglied im Wahlprüfungsausschuß gewählt.
Weiterhin habe ich bekanntzugeben: zwischen den Fraktionen ist vereinbart worden, daß wegen dringend notwendiger Ausschußberatungen des Rechts- und des Innenausschusses während des Plenums nach dem Punkt 3 der Tagesordnung sofort Punkt 12 sowie die Punkte 14 bis 18 aufgerufen werden. Ich werde im Aufruf entsprechend verfahren.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Vorsitzende des Ausschusses für Wirtschaft hat mit Schreiben vom 8. Juni 1972 mitgeteilt, daß gegen die nachstehenden, inzwischen verkündeten EG-Vorlagen keine Bedenken erhoben werden:
Verordnung des Rates über Sondermaßnahmen zur Förderung der Seidenraupenzucht
— Drucksache VI/2759 —
Verordnung Nr. 686/72 des Rates vom 5. April 1972 betreffend die Durchführung des Beschlusses Nr. 2/72 des Assoziationsrates, der im Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Vereinigten Republik Tansania, der Republik Uganda und der Republik Kenia vorgesehen ist, sowie Beschluß Nr. 2/72 des Assoziationsrates zur Änderung des Beschlusses Nr. 1/71 des Assoziationsrates über die Begriffsbestimmung für „Erzeugnisse mit Ursprung in . . " oder „Ursprungserzeugnisse" im Sinne des Titels I des Assoziierungsabkommens und über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen
Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 13. Juni 1972 mitgeteilt, daß gegen die nachstehende, inzwischen verkündete Vorlage keine Bedenken erhoben wurden:
Verordnung Nr. 600/72 des Rates vom 23. März 1972 zur Angleichung der Berichtigungskoeffizienten auf die Dienst- und Versorgungsbezüge der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften
Wir kommen dann zur Tagesordnung. Ich rufe Punkt 2 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache VI/3233 —
Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/3503 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Huber
Ich danke der Berichterstatterin. Wird von der Berichterstatterin noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die zweite Beratung. Wortmeldungen? — Herr Staatssekretär Offergeld!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht vom 23. Juni 1964 über die Wettbewerbsverzerrungen aus der Ausnutzung des internationalen Steuergefälles — unter der Bezeichnung „Steueroasenbericht" allgemein bekanntgeworden — festgestellt, 1. daß der Umfang der Einkommens- und Vermögensverlagerung ins
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11142 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld steuerbegünstigte Ausland in einem Maße zugenommen hat, daß Wettbewerbsverzerrungen und schwerwiegende Ungleichmäßigkeiten in der Besteuerung zu befürchten sind; 2. daß die ungerechtfertigten Steuervorteile durch unangemessene Ausnutzung der internationalen Doppelbesteuerungsabkommen noch erheblich verstärkt werden. Dies war 1964 eine Feststellung der Bundesregierung.Schon für den Zeitpunkt der damaligen Berichterstattung hat die Bundesregierung die Lage als besorgniserregend bezeichnet und deshalb gesetzgeberische Maßnahmen gegen unangemessene Steuervorteile im internationalen Bereich gefordert. Sie hat weiterhin die Notwendigkeit unterstrichen, die internationalen Steuerabkommen so zu revidieren, daß sie sich auf die Beseitigung echter diskriminierender Doppelbesteuerung beschränken und nicht zur Erzielung unangemessener Steuervorteile genutzt werden können.Die angesprochenen Erscheinungen sind, wie gleichfalls schon im „Steueroasenbericht" von 1964 ausgeführt, zu einer Sorge aller Staaten geworden, die sich zu internationaler Freizügigkeit des zwischenstaatlichen Kapitalverkehrs bekennen. Gerade die Sorge, daß die internationale Freizügigkeit durch steuerlichen Mißbrauch bedroht werden könnte, macht es dringend erforderlich, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um ungerechtfertigte Steuervorteile aus Einkommens- und Vermögensauslagerungen ins Ausland einzudämmen.Diese Aufgabe ist für unser Land von zu großer Bedeutung, als daß sie mit polemischen Hinweisen auf die interne deutsche Besteuerung abgewertet werden könnte, wie dies der Sprecher der Opposition bei der ersten Lesung des Vertragswerkes getan hat. Wer so spricht, läßt fast die Vorstellung aufkommen, als ob die Flucht vor der Besteuerung im eigenen Land eine gute Sache sei. Wir bekennen uns dazu, daß die Steuerlast, die unser Gemeinwesen uns allen auferlegt, auch jene, deren Interessen über die Grenzen laufen, nach den Maßstäben der steuerlichen Gerechtigkeit und der steuerlichen Wettbewerbsneutralität treffen muß.Diese Bundesregierung hat sich der Aufgabe gestellt, die Forderungen des Oasenberichts durch eine neue Außensteuergesetzgebung und die Revision des deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens in die Wirklichkeit umzusetzen. Nachdem bis zu ihrer Amtsübernahme jahrelange Verhandlungen mit der Schweiz ohne Ergebnis geblieben waren, hat sie in kurzer Zeit eine durchgreifende Revision des deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens verwirklichen können. Dieser Vertrag liegt dem Hohen Hause nunmehr zur abschließenden Genehmigung vor.Die Vertragsrevision hat die gesetzten Ziele voll erfüllt: Die deutsch-schweizerischen Steuerbeziehungen wurden nach den Maßstäben moderner Abkommensgestaltung ausgerichtet, wie sie namentlich im OECD-Musterabkommen niedergelegt sind;der Doppelbesteuerungsschutz wurde für die angestammten Wirtschaftsinteressen der beiden Staaten gestärkt. Gleichzeitig aber hat der neue Vertrag durch ausgewogene Regelungen den Raum für die innerdeutsche Gesetzgebung zur Bekämpfung unangemessener Steuervorteile im internationalen Bereich freigelegt. Er bringt alle Maßnahmen des neuen Außensteuergesetzes auch im Verhältnis zur Schweiz zur Geltung. Damit ist sichergestellt, daß die Abkommensvorteile nicht mehr wie bisher in ungerechtfertigter Weise ausgenutzt werden können. Sie werden künftig auf den Bereich beschränkt bleiben, in dem echte diskriminierende Doppelbesteuerungen zu besorgen sind.Man wird der Abkommensrevision nicht gerecht, wenn man — wie der Sprecher der Opposition in der ersten Lesung — von Befürchtungen eines „steuerpolitischen Protektionismus" spricht. Diese Bundesregierung betreibt keinen Protektionismus, allerdings auch nicht zugunsten von Steuerflüchtlingen. Das Abkommen leistet einen nachhaltigen Beitrag zur Neugestaltung unseres Außensteuerrechts, indem es die Steuerbeziehungen zu einem unserer Nachbarländer, mit dem wir wirtschaftlich besonders eng verbunden sind, nach den modernen Grundsätzen des internationalen Steuerrechts ausrichtet.Ein solcher Vertrag kann — wie schon die Bundesregierung 1964 erklärt hat — „seine Funktion, den zwischenstaatlichen Wirtschaftsbeziehungen eine sichere Steuergrundlage zu bieten, nur dann wirkungsvoll erfüllen, wenn er in seiner Wirksamkeit nicht durch eine unangemessene Inanspruchnahme beeinträchtigt wird". Auch diese zentrale Aufgabe ist im Zuge unserer Bemühungen, die sogenannte internationale Steuerflucht zu bekämpfen, wirkungsvoll gelöst worden: Unangemessene Steuervorteile durch Auswanderung, Doppelwohnsitz, Einschaltung von Basisgesellschaften und Aufspaltung von Beteiligungen sind versperrt worden. Die Steuererleichterungen des Abkommens wurden auf die Fälle eingeschränkt, in denen sie zur Wahrung der steuerlichen Wettbewerbsbelange unserer aktiv tätigen Außenwirtschaft gerechtfertigt sind. Außerdem konnte im Vertrag eine steuerliche Auskunftsklausel verankert werden, der ich besonderes politisches Gewicht beimesse.Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß gerade auf dem Gebiet der Besteuerung die Offenheit unseres Landes zur internationalen Welt zu wahren ist, gleichzeitig aber auch Störungen einer gerechten und wettbewerbsneutralen Besteuerung aus internationalen Zusammenhängen verhindert werden müssen. Diese Aufgabe verlangt über alle entgegengesetzten Interessen hinweg auch die Verständigung mit unseren Nachbarstaaten — eine Verständigung, für die ich unserem Vertragspartner Schweiz besonders danke. Ich stelle fest, daß es dieser Bundesregierung gelungen ist, ihre Politik gleichmäßiger, wettbewerbsneutraler und sozial gerechter Besteuerung auch in ihren internationalen Beziehungen durch eine umfassende Revision des
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Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens zur Geltung zu bringen.
Zur Abgabe einer Erklärung hat die Frau Abgeordnete Huber das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung von Doppelbesteuerungsabkommen wird einmal von der Dichte der wirtschaftlichen Beziehungen bestimmt, die sich zwischen zwei Staaten entwickelt haben, und zum anderen durch die steuerlichen Bestimmungen und Gestaltungsmöglichkeiten, die aus den Abkommen selbst resultieren und die unter gewissen Voraussetzungen natürlich nicht ohne Einfluß auf das Ausmaß bestimmter wirtschaftlicher Beziehungen sind. So gesehen ist das deutsch-schweizerische eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Doppelbesteuerungsabkommen für die Bundesrepublik Deutschland überhaupt.
Das neue, uns nunmehr vorliegende Abkommen, welches die Bundesregierung nach langen Verhandlungen am 11. August 1971 mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft abgeschlossen hat, hat zwei Ziele, nämlich einmal die Wettbewerbsposition bei aktiver Wirtschaftstätigkeit in der Schweiz steuerlich zu verbessern, zum anderen aber Gestaltungsmöglichkeiten zu beseitigen, aus denen bisher ungerechtfertigte Steuervorteile gezogen werden konnten.
Fast ein Jahrzehnt lang, nämlich seit dem Oasenbericht der Bundesregierung von 1964, ist Kritik daran laut geworden, daß das alte, einige Male revidierte deutsch-schweizerische Doppelbesteuerungsabkommen von 1931 Möglichkeiten zu erheblicher Steuerersparnis oder völliger Steuerumgehung durch Gründung von Basis- oder Zwischengesellschaften, durch Wohnsitzverlagerung oder durch Doppelwohnsitz bot. Hier schafft das neue Gesetz erheblichen Wandel, indem es einerseits doppelte Besteuerung noch stärker dort vermeidet, wo dies unangemessen wäre, andererseits aber — ohne hier noch einmal auf die schon bei der ersten Lesung vorgetragenen Einzelheiten eingehen zu wollen — nicht vertretbare Vorteile bei Basisgesellschaften ausräumt, an denen überwiegend Nichtschweizer interessiert sind, Auswanderer noch für eine Übergangszeit in der deutschen beschränkten Steuerpflicht beläßt und Steuerpflichtige mit Doppelwohnsitz unter Anrechnung der Schweizer Steuer so in die Besteuerung einbezieht, als wären sie nur in der Bundesrepublik Deutschland ansässig. Das GmbH-Privileg und die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten bei Zinsen, Lizenzgebühren und Veräußerungsgewinnen von Nichtschweizer Gesellschaften entfallen.
Das Abkommen entspricht mit den neu verankerten Möglichkeiten der Gewinnberichtigung und der richtigen Gewinnzurechnung, vor allem aber mit der erweiterten beschränkten Steuerpflicht den Regelungen des demnächst hier zu behandelnden Außensteuergesetzes. Es enthält außerdem eine Vereinbarung über einen gegenseitigen Auskunftsaustausch als Hilfe zur verbesserten Realisierung der neuen Abmachungen.
Die Einteilung des Abkommens ist klar. Nach einer Reihe wichtiger Definitionen setzen Art. 6 bis 23 den Rahmen, in welchem der Quellen- oder Belegenheitsstaat wichtige Einkünfte und Vermögen besteuern darf. Art. 24 enthält die verbesserten Regelungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung. Art. 25 bis 33 schließlich regeln den Schutz vor Diskriminierungen und die zur Durchführung des Abkommens notwendige Zusammenarbeit der Vertragsstaaten.
Das Doppelbesteuerungsabkommen ist am OECD-Mustervertrag orientiert und in diesem Sinne auslegungsfähig. Es berücksichtigt die moderne internationale Vertragspraxis und hat jenseits der Grenzen viel Beachtung gefunden. Zweifellos wird es ein Musterfall für die EWG werden. Der Finanzausschuß konnte sich während seiner Beratungen von der Komplexität der Materie überzeugen und zugleich die Schwierigkeiten erkennen, durch welche die langen Verhandlungen mit der Schweiz unumgänglich gekennzeichnet waren.
Im Namen meiner Fraktion möchte ich daher den Vertretern der Regierung für den erfolgreichen Abschluß dieser schwierigen Verhandlungen herzlich danken. Wir folgen dem einstimmigen Votum des Finanzausschusses und bitten um Zustimmung zu dem Abkommen und dem dazugehörigen Ratifikationsgesetzentwurf.
Wir fahren in der Abgabe von Erklärungen fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kreile.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Steuerpolitik muß, wenn sie erfolgreich sein will, ein Element der politischen Kontinuität sein. Darüber hat diese Legislaturperiode so manchen belehrt. Darüber belehrt uns auch das vorliegende neue deutsch-schweizerische Doppelbesteuerungsabkommen. Als Teilstück der Außensteuerreform wird es zusammen mit dem Außensteuergesetz das einzige Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode sein, das man als einen punktuellen Ansatz zu einer Steuerreform bezeichnen könnte.Dieser Ansatz aber erklärt sich gerade daraus, daß wir es hier mit einem Stück Kontinuität zu tun haben, nämlich mit einem Verhandlungsergebnis, an dem Minister aller in diesem Haus vertretenen Fraktionen beteiligt waren, von Minister Dahlgrün über Minister Franz Josef Strauß bis zu Minister Möller und dem jetzigen Finanzminister Schiller. Es ist also das Verdienst der von der CDU/CSU und der FDP getragenen Bundesregierung, dann der von der CDU/CSU und der SPD getragenen Bundesregierung
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Dr. Kreileund dann der nunmehr von der SPD und FDP getragenen Bundesregierung, daß diese Verhandlungen — ich muß dabei sagen: ohne daß sich hier eine der Bundesregierungen aus parteipolitischem Ehrgeiz ein größeres Verdienst zurechnen könnte als eine ihrer Vorgängerinnen — mit der Schweiz gereift und zu einem guten Ende gekommen sind. Daß solche Verhandlungen, weil gut' Ding gut' Weile haben muß, ihren wohlbemessenen Zentraum benötigen, weiß jeder, der internationale Verhandlungen geführt hat und zu einem guten Abschluß bringen wollte.Diese Kontinuität findet ihren besonderen Ausdruck auch in der Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion, die in der gegenwärtigen politischen Situation die Verabschiedung der Außensteuervorlagen überhaupt erst möglich macht. Diese Zustimmung steht am Ende einer ausgiebigen Beratung im Finanzausschuß. Ich hatte sie bereits bei der ersten Lesung des Doppelbesteuerungsabkommens angekündigt und seinerzeit ausgeführt — was ich heute wiederhole —: Die CDU/CSU-Fraktion mißt dem Anliegen, die echte und mißbräuchliche Steuerflucht zu bekämpfen, hohen Rang bei. Das Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz, das so gründlich, ausgiebig und mit sehr viel Verständnis von beiden Seiten behandelt worden ist, ist hierzu ein beachtenswerter Ansatzpunkt.Meine damaligen Ausführungen enthielten einen Vorbehalt, der nach den Auseinandersetzungen in der juristischen Fachliteratur zu einigen Fragen des Abkommens sozusagen zur Sorgfaltspflicht des Parlaments und insbesondere des Finanzausschusses gehörte. Ich machte unsere Zustimmung nämlich davon abhängig, daß die Auskünfte der Bundesregierung und ihrer Vertreter während der damals anstehenden Beratung eindeutig genug sein würden, um Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit bei der Anwendung des Abkommens im Rahmen des neuen Außensteuerrechts zu gewährleisten. Herr Kollege Professor Dr. Schäfer hat diesen selbstverständlichen Vorbehalt — den wir in den Beratungen des dazu berufenen Finanzausschusses gemeinsam ausgeräumt haben — in der Haushaltsdebatte mit offenbar unüberlegten Formulierungen beanstandet. Ich weiß nicht, was der seinerzeitige Vorwurf sollte. Ist es denn nicht unser aller Aufgabe — so frage ich —, für Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit zu sorgen?An diese Aufgabe mußte erinnert werden, als die Diskussion zum Thema Steuerflucht bedauerlicherweise zunehmend der Emotionalisierung verfiel. An diese Aufgabe müssen wir uns erinnern, wenn wir der Finanzverwaltung für die Zukunft nun Verantwortlichkeiten aufbürden, die schwierigste Anforderungen stellen werden.Die dramatisierte Steuerfluchtdiskussion scheint mir durch dieses Doppelbesteuerungsabkommen und durch das nicht zuletzt auf Betreiben der CDU/CSU im Zusammenhang damit beratene Außensteuergesetz beendet zu sein. Jetzt gilt es, in der Gesetzesanwendung wieder und allein nüchternen Sachverstand und kluge Abgewogenheit walten zu lassen. Ich bin mir sicher, daß die Finanzverwaltung bei der bekannten hohen Qualität ihrer persönlichen Ausstattung hierzu alle Voraussetzungen erfüllt. Ich möchte aber trotzdem und erneut betonen, wie groß das Vertrauen des Gesetzgebers auf diese Integrität gerade bei der Verabschiedung der Außensteuerreformvorhaben ist. Dieses Haus wird in der Zukunft eher noch als früher dazu aufgerufen sein, seine Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der Finanzverwaltung und dafür zu erkennen, daß politisch gemachte Gesetze in der wohltuend unpolitischen Distanz einer abgewogenen Verwaltungspraxis zum echten Ausdruck steuerlicher Gerechtigkeit werden.Wir dürfen auch nicht übersehen, daß die Verwirklichung der Außensteuerreform, nämlich ihre Anwendung in der Praxis, nur dank des Verständnisses der Schweiz für unsere besonderen Probleme möglich gemacht wird. Wir haben dieses Verständnis, das Anerkennung verdient, durch unbedachte Äußerungen zeitweilig hart auf die Probe gestellt. Ich gehe für die CDU/CSU davon aus, daß dieses Verständnis bei der Ausführung des Abkommens und bei der Regelung offener Fragen durch unsere zuständigen Stellen die richtige Würdigung erfahren wird, kurzum, daß unsere grenznachbarliche Verbundenheit auf dieser neuen Grundlage intensiviert und gestärkt wird.Ich habe mehrfach betont, daß die Emotionalisierung der Steuerfluchtdebatte besonders genaue und nüchterne Beratungen erforderlich machte. Dies gilt gerade auch für die untrennbar mit dem Doppelbesteuerungsabkommen verbundene Außensteuergesetz-Vorlage.Wir wissen um die Neigung dieser Bundesregierung und der sie tragenden Parteien, feierlich verabschiedete Steuereckwerte kurzerhand wieder umzustoßen. Es würde die Außensteuerreform insgesamt gefährden, wenn eine längst ausformulierte Gesetzesvorlage zum Außensteuergesetz das Schicksal der Eckwerte teilte, wenn also die Regierung ihre eigene Vorlage wieder in Zweifel zöge, denn dann würde nicht zuletzt das heute zu verabschiedende Doppelbesteuerungsabkommen, das auf dem Außensteuergesetz aufbaut und es bereits einbezieht, gegenstandslos.Es hieße die Sorgfaltspflicht des Parlaments mißachten, wenn diesem sozusagen in der letzten Minute zugemutet würde, ganz neue Konzeptionen hier hineinzunehmen, von denen während der vergangenen zwei Jahre intensiver Diskussion über das Außensteuerrecht keine Rede war und die sich in der Gesetzesvorlage bisher nicht niedergeschlagen haben.Die CDU/CSU-Fraktion — ich darf dies ankündigen — stimmt der Novellierung des Außensteuerrechts — heute dem Doppelbesteuerungsabkommen als dem ersten Teilstück — nach der verantwortlichen Prüfung, zu der dieses Parlament hier allen Anlaß hatte, zu.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11145
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat der Herr Abgeordnete Opitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Ausführungen meiner Vorredner kann ich mich relativ kurz fassen und im Namen der Fraktion der Freien Demokraten folgende Erklärung zur Ratifizierung des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft abgeben.
Wir Freien Demokraten werden dem Doppelbesteuerungsabkommen zustimmen, weil wir mit ihm einen Schritt weiterkommen auf dem Wege zur Steuergerechtigkeit, zur Wettbewerbsneutralität und zur internationalen Kapitalmobilität. Dieses Abkommen verhindert die unangemessene Nutzung des zwischen beiden Staaten bestehenden Steuergefälles. Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt, daß durch dieses Abkommen die Möglichkeit geschaffen wird, wirtschaftliche Vorteile abzubauen, die durch geschickte juristische Wohnsitzkonstruktionen gegeben waren.
Sichergestellt ist — und das war unsere Grundforderung —, daß durch dieses Abkommen den normalen geschäftlichen Betätigungen keine Schwierigkeiten bereitet werden, daß also deutsche Firmen, die in der Schweiz produzieren und dort auch absetzen, die also dort aktiv geschäftlich tätig sind, selbstverständlich nur nach Schweizer Gesetzen besteuert werden. Damit ist also die Freizügigkeit des Kapitalverkehrs gewährleistet.
Gleichzeitig wird Wettbewerbsneutralität zwischen allen Firmen, die innerhalb eines der beiden Vertragsstaaten tätig sind, hergestellt. Wir meinen, daß durch das Abkommen gleiche wirtschaftliche Tatbestände zu einer gleichen steuerlichen Belastung geführt werden.
Die FDP dankt allen Verhandlungspartnern auf schweizerischer wie auf deutscher Seite für die ausgezeichnete steuerrechtliche und politische Arbeit, die sie geleistet haben. Die FDP-Fraktion stimmt dem Abkommen zu.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in zweiter Beratung. Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung, also zur Schlußabstimmung. Ich darf diejenigen Kollegen, die noch stehen, bitten, zur Abstimmung Platz zu nehmen. Ich mache außerdem darauf aufmerksam, daß anschließend eine Abstimmung stattfindet, bei der die absolute Mehrheit von 249 Stimmen erreicht werden muß. Es ist nach meinem Dafürhalten bisher noch nicht ganz sichergestellt, daß diese Zahl erreicht werden kann. Ich darf die Fraktionsgeschäftsführer bitten, dafür Sorge zu tragen, daß die Kollegen herbeigebeten werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich darf Sie nochmals bitten, Platz zu nehmen. Wir können nicht abstimmen, wenn einige Kollegen noch stehen.
Ich rufe die Art. 1, 2 und 3 — Einleitung und Überschrift — auf und komme zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz zustimmt, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der gemeinsamen Marktorganisationen
— Drucksache VI/2553 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache VI/3269
Berichterstatter: Abgeordneter Schollmeyer
b) Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen VI/3223, zu VI/3223 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Siemer
Ich danke den Berichterstattern. Ich frage, ob diese das Wort wünschen. — Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache zur zweiten Lesung. Wortmeldungen zur allgemeinen Aussprache liegen nicht vor. Die Wortmeldungen bei den Änderungsanträgen werde ich dann aufrufen.
Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe die §§ 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29 und 30 auf. Wer diesen §§ 1 bis 30 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Ich rufe den § 31 und hierzu zunächst den Umdruck 291 *) auf. Wird dazu das Wort gewünscht? — Zur Begründung des Umdrucks 291 Herr Abgeordneter Dürr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl dieser Änderungsantrag nur wenige Unterschriften von Abgeordneten aus einer Fraktion trägt, bin ich sicher, daß er die Zustimmung des gesamten Hohen Hauses finden wird. Wäre es möglich gewesen, das Problem zwischen den Fraktionen früher zu diskutieren, so wäre daraus sicher ein interfraktioneller Änderungsantrag geworden. Um was geht es?Das Marktorganisationsgesetz erklärt für Zuwiderhandlungen gegen dessen Vorschriften das Steuer-*) Siehe Anlage 2
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11146 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Dürrstrafrecht für anwendbar. Im Steuerstrafrecht sind aber auch Vorschriften über die strafbefreiende Selbstanzeige als „goldene Brücke" enthalten. Nun gibt es Wirtschaftskriminelle, die sich zunächst von der öffentlichen Hand Leistungen, oft in Millionenhöhe, erschleichen. Wäre ihnen die „goldene Brücke" der Selbstanzeige gegeben, dann hätten sie die Möglichkeit, wenn sie bemerken, daß sich ein Gewitter über ihrem Haupt zusammenbraut, reuig Selbstanzeige zu üben und versprechen, das erschlichene Geld wieder zurückzuzahlen. Das wäre das Schlimmste, was ihnen passieren könnte. Die verdiente Bestrafung würde sie nicht erreichen. Damit dies nicht geschieht, müssen wir diesen Änderungsantrag annehmen.Wer also Geld vom Staat oder von einer Staatengemeinschaft erschlichen hat, soll das Risiko auf sich nehmen, auch bestraft zu werden, ohne daß er vorher durch reuige Miene eine Bestrafung mit Sicherheit abwenden kann. Nun gibt es beim Marktorganisationsgesetz drei Gruppen. Eine davon sind die Abgaben. Die Abgaben im EWG-Rahmen sind den Steuern im nationalen Rahmen sehr ähnlich. Wir sind deshalb der Meinung, man solle sie wie unsere eigenen Steuern behandeln, d. h. für Zuwiderhandlungen gegen die Abgabevorschriften der Gemeinschaft die Selbstanzeige auch weiterhin so in Gültigkeit lassen, wie das in unserem nationalen Steuerrecht unbestritten der Fall ist. Bei den Vergünstigungen und Interventionen aber — das sind nicht Gelder, die man an die öffentliche Hand bezahlen muß, sondern das sind Gelder, die man von der öffentlich Hand erhält — soll im Fall der Erschleichung die Selbstanzeige mit strafbefreiender Wirkung ausgeschlossen sein.Ich bitte das Hohe Haus, dem Abänderungsantrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/CSU möchte ich ausdrücklich erklären, daß wir diesem Änderungsantrag zustimmen.
Wären wir rechtzeitig genug und an den richtigen Stellen mit dieser Materie befaßt worden, wäre dieser Änderungsantrag heute überhaupt nicht erforderlich gewesen. Man könnte sagen, das liegt daran, daß immer alles so schnell gehen muß und daß die zuständigen Fachausschüsse nicht beteiligt werden. Wenn man sie beteiligt hätte, wäre das nicht passiert.
Selbstverständlich sind auch wir der Auffassung, daß die Betrüger nicht zusätzlich honoriert werden dürfen. Deshalb stimmen wir dem Antrag zu.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag Umdruck 291.
Wer ihm zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich lasse über § 31 mit dieser Änderung abstimmen, ferner über §§ 32, 33, 34, 35 — hier mache ich auf die Berichtigung zu Drucksache VI/3223 aufmerksam —, 36 und 37. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.
Nach dem Änderungsantrag Umdruck 289 *) soll ein neuer § 37 a eingefügt werden. Wird dieser Antrag begründet? — Herr Abgeordneter Welslau zur Begründung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Änderungsantrag Umdruck 289 handelt es sich um einen Antrag aller drei Fraktionen. Als Berichterstatter bin ich beauftragt worden. diesen Antrag einzubringen.
Durch die Einfügung des § 37 a in das Marktorganisationsgesetz soll dem Bundesernährungsminister die Möglichkeit gegeben werden, Vorschriften des EWG-Rechts im Verordnungswege in das nationale Recht zu übernehmen, soweit dies notwendig ist.
Ich bitte Sie im Namen aller drei Fraktionen, dem Änderungsantrag Ihre Zustimmung zu geben.
Das Wort wird weiter nicht gewünscht. Ich lasse über den Änderungsantrag Umdruck 289 abstimmen. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe die §§ 38, 39, 40, 41 — auch hier mache ich auf die Berichtigung zu Drucksache VI/3223 aufmerksam —, 42, 43, 44, 45, 46 und 47 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten Beratung.Eine Aussprache in der dritten Lesung wird nicht gewünscht.Ich mache darauf aufmerksam, daß dieses Gesetz die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Hauses, d. h. 249 Stimmen haben muß. Wir haben rechtzeitig geklingelt, so daß die Kollegen da sein müßten, und ich glaube, das Haus ist gut besetzt.Wir kommen zur Schlußabstimmung in dritter Lesung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmt, den*) Siehe Anlage 3
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11147
Präsident von Hasselbitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen. Ich stelle angesichts der Besetzung des Hauses fest, daß damit auch die verfassungsrechtlich erforderliche Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erreicht ist.Ich rufe den Punkt 12 unserer Tagesordnung auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes— Drucksache VI/3421 —Im Ältestenrat haben wir vereinbart, daß dazu Erklärungen abgegeben werden. Das Wort wird vom Abgeordneten Brück gewünscht.
— Darf ich diejenigen, die den weiteren Beratungen nicht folgen können, weil sie andere Obliegenheiten oder Ausschußsitzungen haben, bitten, die Verhandlung hier nicht zu stören. Darf ich Sie bitten, in den Hintergrund zu gehen und dort Ihre Gespräche zu führen. Darf ich Sie bitten, etwas Ruhe eintreten zu lassen.Das Wort hat der Abgeordnete Brück.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine sehr geehrten Herren! Für die Bundestagsfraktion der CDU/CSU gebe ich folgende Erklärung ab. Wir begrüßen den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes, Drucksache VI/3421, der vom Bundesrat eingebracht wurde und zu dem die Bundesregierung einige Ergänzungsvorschläge vorgelegt hat. Unsere innere Verbundenheit gilt der gesamten Polizei, vor allem aber denen, die durch ihre Pflichterfüllung schwere körperliche Schäden davongetragen haben bzw. ihr Leben für uns alle im Dienste der Allgemeinheit verloren haben. Unsere besondere Anteilnahme gilt den Hinterbliebenen.
Ich muß allerdings in diesem Zusammenhang, ohne die parlamentarische Beratung des Gesetzentwurfs blockieren zu wollen, eine Frage anschneiden, die möglichst bald einer neuen Regelung zugeführt werden muß. Ich meine die Frühpensionierung im öffentlichen Dienst. Gemeint sind solche Personen, bei denen der Versorgungsfall infolge Dienstunfähigkeit vorzeitig eingetreten ist. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet von der Bundesregierung, daß sie unsere Anregung aufgreift, damit wir recht bald zu einem positiven Ergebnis kommen. Im Innenausschuß des Bundestages werden wir diese Frage erneut zur Sprache bringen, um einen für das ganze Haus gangbaren Weg zu finden.
Das Wort hat der Abgeordnete Liedtke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion wird in
der Weiterberatung der Besoldung auch das Problem der Frühpensionierung mit Ihnen, Herr Kollege Brück, weiter verfolgen. Ich darf daran erinnern, daß wir nicht unwesentliche Verbesserungen, was die Mindestpension angeht, bereits im 1. BesVNG vorgesehen haben.
Nun zu diesem Gesetzentwurf. Meine Fraktion begrüßt den Initiativentwurf des Bundesrates. Es ist nicht einmal nur im weiteren, sogar im engeren Sinne auch ein Gesetz zur inneren Sicherheit. Wir haben das Vierergespann der Gesetze zum Komplex der inneren Sicherheit zur Zeit in Beratung, und die Erklärungen aller Fraktionen dieses Hauses liegen vor, daß die Verabschiedung noch vor der Sommerpause erfolgen soll. Das stellt sich in diesem Bereich dann etwa so dar: Nach dem durchgeführten Sofortprogramm zeichnet sich das Schwerpunktprogramm zur inneren Sicherheit schon sehr deutlich ab. Das mit den Ländern abzustimmende Gesamtkonzept zur inneren Sicherheit hat bereits zu einem ersten Entwurf geführt. Das Bundesgrenzschutzgesetz, das wir in der nächsten Woche verabschieden wollen, ist ein erstes konkretes Gesetz zum Gesamtkomplex innere Sicherheit.
Ich möchte feststellen, daß Bundestag, Regierung und Länder umfassend und zielsicher Gesetze erlassen und Konzeptionen erarbeitet haben, die die Sicherheit in diesem Lande auch in Zukunft gewährleisten. Mit diesen Gesetzen regeln wir Rechtsverhältnisse, Befugnisse, Organisationsfragen, Techniken, Einsatzformen, Zusammenarbeit und dergleichen Dinge mehr. Das ist freilich nur die eine Seite. Die andere Seite sind die Menschen, die in diesen Sicherheitsorganen tätig sind. Ihre Arbeit ist ohne Zweifel gefährlicher geworden. Das erfordert eine erhöhte Fürsorgepflicht. Polizeivollzugsbeamte sind in Hamburg und in Kaiserslautern erschossen worden, andere sind beim Einsatz gegen Kriminelle durch schwere Verletzungen dauernd dienstunfähig geworden. Da es sich erfahrungsgemäß in den meisten Fällen um jüngere Beamte handelt, ist die Versorgung noch nicht sehr hoch. Das vorliegende Gesetz stellt den betroffenen Beamten, im Todesfall seine Hinterbliebenen, versorgungsrechtlich in etwa so, als habe er ein erfülltes Dienstleben hinter sich.
In der Sicherheitsdebatte der letzten Woche hat die SPD-Fraktion ihren Respekt vor den Leistungen der Polizei zum Ausdruck gebracht; sie hat ihren Dank für die mutigen Einsätze der letzten Wochen bekundet. Mit der Zustimmung zu diesem Gesetz bekennt sie sich zu der Konsequenz einer erhöhten Fürsorgepflicht.
Bevor ich das Wort weitergebe, habe ich die Ehre, den Vorsitzenden der Sektion der Parlamentarischen Gruppe der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken für die parlamentarischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Minister Leonid Mitrofanowitsch Samjatin, und eine Delegation zu be-grüßen.
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11148 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Präsident von HasselEs ist uns eine besondere Freude, zum erstenmal Parlamentarier aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Deutschen Bundestag und in unserem Lande offiziell willkommen zu heißen.Bevor ich fortfahre, darf ich zur Geschäftslage folgendes sagen. Wir fahren nach Abschluß des Tagensordnungspunktes 12 in der Reihenfolge mit den Punkten 14, 15, 16, 17, 18 fort und kehren dann zu Punkt 4 und den folgenden Punkten zurück. Ich darf Sie, damit wir zügig verhandeln können, bitten, Ihre Wortmeldungen rechtzeitig heraufzugeben.Zur Abgabe einer Erklärung zum Tagesordnungspunkt 12 erteile ich dem Herrn Abgeordneten Krall das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der Freien Demokraten begrüße ich die Initiative des Bundesrates mit dieser Drucksache, die dem Ziel dient, das Problem der sozialen Sicherung der Hinterbliebenen von im Dienst für die Allgemeinheit zu Tode gekommenen Polizeibeamten zu lösen. Die von der Bundesregierung angestrebte weitergehende Regelung wird von uns ebenfalls begrüßt. Ich darf für meine Fraktion versichern, daß wir in der Ausschußberatung diesen Vorschlag der Bundesregierung unterstützen werden, damit ein einheitliches Versorgungsrecht für alle im Dienst der Polizei stehenden Beamten möglich wird.
In der Sicherheitsdebatte der vergangenen Woche habe ich für meine Fraktion von dieser Stelle aus die Einsatzbereitschaft und die Leistungen der Polizei im Zusammenhang mit den Geschehnissen der letzten Wochen hinreichend gewürdigt. Wir vollziehen hier eine Maßnahme nach, die wir für Soldaten bereits im Soldatenversorgungsgesetz getroffen haben. Darin werden diejenigen, die unter besonders schweren und besonders gefährlichen Bedingungen Einsätze leisten, in ähnlicher Art und Weise geschützt, wie es jetzt für die Polizeibeamten des Bundes und der Länder vorgesehen ist.
Die Fraktion der Freien Demokraten stimmt dem Überweisungsantrag zu.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung in erster Lesung.
Es ist begehrt worden, die Vorlage dem Innenausschuß und dem Haushaltsausschuß nach § 96 unserer Geschäftsordnung zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
— Drucksachen VI/911, VI/1076 —
Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache VI/3264
Berichterstatter: Abgeordnete Frau Dr. Kuchtner
Abgeordneter Metzger
Ich darf den Berichterstattern für ihren Bericht danken. Sie wünschen das Wort nicht mehr.
Ich eröffne die Aussprache in der zweiten Lesung. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schober.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine kleine Urheberrechtsnovelle. Nur die Punkte, die nach der übereinstimmenden Meinung aller Fraktionen dieses Hauses unbedingt und dringend geändert werden müssen, stehen heute zur Debatte.Wir haben seit zwei Jahren an diesem Gesetzentwurf gearbeitet. Zunächst lag ein Gruppenantrag von Abgeordneten der CDU/CSU vor, und etwas später kam ein Antrag der Koalition mit etwa demselben Ziel. Beide Entwürfe haben eines gemeinsam: es soll ein umfassenderer Rechtsschutz und eine materielle Besserstellung der bildenden Künstler und der Schriftsteller oder — wie das nicht schöne Wort heißt — der Worturheber, vor allen Dingen im Hinblick auf das Alter und auf wirtschaftliche Notfälle, erreicht werden. Beide Vorlagen wurden in den zuständigen Ausschüssen behandelt, und aus den beiden Vorlagen ist der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf gemacht worden.Ich glaube, daß wir mit diesem Gesetz einem kleinen Personenkreis unseres Volkes und unserer Gesellschaft einen wichtigen Dienst leisten. Wir haben schon in der ersten Lesung der beiden Entwürfe auf die prekäre Lage der Schriftsteller, der bildenden Künstler und anderer Künstlerberufe hingewiesen. Wir haben im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf auch zwei Sozialenqueten beantragt, die zum Teil laufen, zum Teil aber auch schon vorliegen. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Dieses Gesetz, das die bildenden Künstler und die Schriftsteller berücksichtigt, ist also nur ein erster Schritt in einer Kette von Maßnahmen, die wir zugunsten der künstlerisch tätigen Menschen in unserem Lande treffen wollen. Ich freue mich ganz besonders darüber, daß insoweit die Fraktionen in allen wesentlichen Fragen einer Meinung sind.Erlauben Sie mir nun, meine Damen und Herren, einige Ausführungen zu den hauptsächlich zur Debatte stehenden Bestimmungen. Es sind die §§ 26, 27 und 46 des Urheberrechts.Zunächst zu § 26! Nach § 26 des vorliegenden Entwurfs soll das sogenannte Folgerecht für bildende Künstler verstärkt werden. Das Urheberrecht sieht seit der Novelle von 1965 vor, daß bei der Weiterveräußerung eines Originals der bildenden Kunst durch einen Kunsthändler oder Versteigerer dem Urheber ein Anteil von 1 % des Verkaufserlöses zu zahlen ist, wenn der Verkaufspreis mindestens 500 DM beträgt. Diese Bestimmung hat sich in der Praxis aber fast nicht ausgewirkt. Abgesehen von der geringen Höhe der anfallenden Beträge lag der Grund dafür vor allem in der Berufung der Kunsthändler auf die Verschwiegenheitspflicht gegenüber ihren Auftraggebern. Wir meinen nun, daß man das Folgerecht verbessern sollte, und zwar erstens durch
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11149
Dr. Schobereine wesentliche Anhebung des Anteils der Urheber am Verkaufspreis und zweitens durch eine gesetzliche Regelung des Auskunftsanspruchs des Urhebers. Der Grundgedanke ist, daß der Künstler bei jedem weiteren Verkauf an der Wertsteigerung des Kunstwerks teilhaben soll. Wir halten das für gerechtfertigt. Es gibt natürlich auch Zweifel, es gibt natürlich auch Bedenken dagegen. Mein Fraktionskollege, Herr Professor Stein, wird nachher einige Bemerkungen dazu machen. Wir meinen aber, meine Damen und Herren — das hat auch die Mehrheit der Ausschüsse so gesehen —, daß der Künstler ein wenig billig abgefunden wird, wenn er das Folgerecht nicht in vollem Umfang genießt. Das Gesetz sieht daher einen Anteil des Künstlers an jedem Weiterverkauf in Höhe von 5 % und eine Herabsetzung des Mindesterlöses von 500 DM auf 100 DM vor.Ich halte es für richtig, daß der Auskunftsanspruch des Urhebers nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden kann. Ich halte es ferner für richtig, daß bei begründeten Zweifeln an der Richtigkeit der Auskunft ein Wirtschaftsprüfer nach der Wahl des Auskunftspflichtigen, also des Kunsthändlers oder des Versteigerers, einzuschalten ist. Damit ist, wie ich meine, einem berechtigten Interesse der Kunsthändler Rechnung getragen worden. Es ist üblich und war zunächst auch vorgesehen, daß ein Wirtschaftsprüfer nach der Wahl des Künstlers, des Antragstellers also, gewählt werden solle, wir meinen aber, daß hier doch ein Schutzbedürfnis) des Kunsthändlers vorliegt.Meine Damen und Herren, der Zahlungsanspruch nach § 26 Abs. 1 ist im Gegensatz zum Auskunftsanspruch nicht an eine Verwertungsgesellschaft gebunden. Der Verzicht darauf bedeutet aber nicht, daß Verwertungsgesellschaften, die der Künstler mit der Geltendmachung der Auskunftsansprüche beauftragt, durch ihre Satzung nicht auch die Ermächtigung zur Wahrnehmung des Zahlungsanspruches verlangen können, um zu einer pauschalierten Abrechnung zu kommen. Wie ich höre, ist etwa der Bund der Landesverbände der bildenden Künstler mit seinen 8000 Mitgliedern bereit, einen solchen Weg der pauschalierten Abrechnung zu gehen.Der Kunsthandel hat gegen den § 26 in der vorliegenden Form Bedenken angemeldet. Er hat z. B. auf die Möglichkeit hingewiesen, daß durch die starke Belastung, die er nun zu tragen habe, ein Teil der Menschen, die in diesem Beruf tätig sind, ins Ausland abwandern würde. Ich meine aber — und auch die Ausschüsse sind zu dieser Überzeugung gekommen —, daß der Standortvorteil im Inland durch die Mehrbelastung des Kunsthandels nicht entscheidend beeinträchtigt wird. Ich möchte jedoch noch einmal darauf hinweisen, daß zu diesem Punkte mein Kollege, Herr Professor Stein, noch einige kritische Worte sagen wird. Ich räume ein, daß man hier durchaus geteilter Meinung sein kann. Durchschlagender ist aber, wie ich meine, das Argument des Schutzes des Künstlers, d. h. der Beteiligung des Künstlers an jedem Weiterverkauf und seine dadurch erfolgende materielle Besserstellung.Meine Damen und Herren, wir haben auf jeden Fall — und das möchte ich Ihnen ausdrücklich sagen — die Bedenken des Kunsthandels in einer Anhörung sorgfältig geprüft und abgewogen. Wir sind dann aber zu diesem Ergebnis gekommen, das, wie ich meine, auch für den Kunsthandel tragbar ist.§ 27 sieht vor, die Vergütungspflicht für das Vermieten und Verleihen urheberrechtlich geschützter Werke von den bisher schon betroffenen gewerblichen Leihbüchereien auf öffentliche und andere nicht Erwerbszwecken dienende Bibliotheken auszudehnen. Es handelt sich hier um den in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren so heftig diskutierten „Bibliotheksgroschen". Dieser Bibliotheksgroschen, der besonders energisch von den im Verband deutscher Schrftsteller zusammengeschlossenen Schriftstellern gefordert wird, soll es den Urhebern ermöglichen, einen Sozialfonds zu gründen und dadurch für das Alter und für Notfälle Vorsorge zu treffen. Dieses sozialpolitische Ziel hat bei Kritikern des vorliegenden Entwurfs zu der Forderung geführt, statt der urheberrechtlichen lieber eine sozialrechtliche Lösung zu suchen. Ich möchte aber ganz klar sagen, daß der sozialpolitische Zweck der Alterssicherung nicht allein gesehen werden kann. Zuerst geht es um den urheberrechtlich begründeten Anspruch des Schriftstellers, für die Nutzung seines Werkes durch die .Ausleihe, die einen sehr großen Personenkreis umfassen kann, ein angemessenes Entgelt zu erhalten. Ein Nachteil einer sozialrechtlichen Lösung wäre auch, daß sie noch lange auf sich warten ließe. Zwar steht die Öffnung der Sozialversicherung für die Selbständigen an, aber wir wissen nicht, wann sie kommt. Hier haben wir eine Lösung, die sich bald realisieren läßt.Wichtig und auch richtig scheint mir zu sein, daß der Anspruch nach § 27 nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden kann. Es ist beabsichtigt, daß etwa 50 % des aufkommenden Geldes individuell an die berechtigten Schriftsteller verteilt werden und daß 50 % an einen Altersfonds gehen.Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit der hier vorgeschlagenen Maßnahme schien vor einigen Wochen durch Vorausmeldungen in der Presse über den „Autorenreport" in Frage gestellt worden zu sein, den Frau Karla Fohrbeck und Herr Andreas Wiesand nach einer Enquete im Auftrag des „Spiegel" geschrieben haben. Es entstand damals in der Öffentlichkeit der Eindruck, daß es den Schriftstellern so schlecht, wie man immer meine, gar nicht gehe. Nachdem ich aber dieses sehr gründliche und, wie ich meine, auch grundlegende Buch gelesen habe, komme ich zu dem Ergebnis, daß unsere Alternative in bezug auf den Bibliotheksgroschen richtig war.Zu den Einkommen der freien Autoren ermittelten die beiden Verfasser, daß 40 % der freien deutschen Schriftsteller weniger als 2000 DM monatlich verdienen. Bei den mehr als 60jährigen Schriftstellern sind es sogar 55 %.Zur Alterssicherung dieses Personenkreises, also der freien Autoren in unserer Gesellschaft, schreiben
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11150 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Dr. Schoberdie beiden Forscher das Folgende — ich darf mit der Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:Erklärlich wird, warum 62 % der über 60- bis 30jährigen und 47% der über 30jährigen freien Autoren die Autorentätigkeit noch als ihre Haupteinkommensquelle angeben, auch wenn die Höhe dieser Einkünfte gegenüber den jüngeren stark zurückgegangen ist: Ihre Finanzlage ist — selbst wenn sie kleinere Renten beziehen — oft derart, daß sie sich einen Ruhestand gar nicht erlauben können. Dies gilt besonders für jene 18 % unter den über 60jährigen „Freien", die über keinerlei Altersversicherung verfügen . Für einen Teil der älteren Wortproduzenten erscheint damit das Spitzweg-„Idyll vom armen Poeten" nicht abwegig, allerdings auch nicht gerade idyllisch. Dies gilt selbst dann, wenn man neben den Versicherungen und der Autorentätigkeit andere Einkommensquellen in Rechnung stellt.Ich glaube, diese Passage aus dem „Autorenreport" zeigt deutlich, daß wir mit unserer Initiative hier auf dem richtigen Wege sind; denn 26% der freien Autoren haben keinerlei Altersversicherung.Ich kann hier im übrigen auf die vielfältigen Probleme des Buches nicht eingehen. Es wird sicherlich alle diejenigen, die es angeht und interessiert, in den nächsten Wochen und Monaten, ja vielleicht Jahren noch sehr stark beschäftigen.Lassen Sie mich nun zu einem Hauptproblem desBibliotheksgroschens kommen, meine Damen und Herren, zur Frage nämlich: Wer soll ihn denn eigentlich aufbringen? Wer soll ihn denn tragen? Da die meisten öffentlichen Bibliotheken zur kostenfreien Ausleihe übergegangen sind, richtet sich der Anspruch im Gesetz gegen den Bibliotheksträger. Rechtssystematisch ist das auch nicht anders möglich. Alle Fraktionen dieses Hauses sind sich aber darüber im klaren, daß diese Belastung keineswegs zu Lasten des Bibliotheksetats gehen darf. Es ist daher im Einvernehmen mit allen beteiligten Ausschüssen dem Gesetz eine Entschließung beigefügt worden, die ich verlesen möchte, weil sie im Zusammenhang mit dem Gesetz eine erhebliche Bedeutung hat. Diese gemeinsame Entschließung lautet wie folgt:Der Entwurf sieht aus urheberrechtlichen Gründen entsprechend der bisher für gewerbliche Leihbüchereien geltenden Regelung auch für die Ausleihe von Werken durch öffentliche Büchereien einen Vergütungsanspruch der Urheber gegen die einzelnen Büchereien vor. Der Deutsche Bundestag geht jedoch davon aus, daß der Vergütungsanspruch auf Grund entsprechender Vereinbarungen mit der zuständigen Verwertungsgesellschaft der Urheber pauschal durch die Träger der Büchereien in einer Weise abgegolten wird, die nicht zu einer Beschränkung der für die Anschaffung von Büchern zur Verfügung stehenden Mittel oder zu einer Abwälzung der Vergütung auf die Benutzer der Büchereien führt.Der Deutsche Bundestag gibt der Erwartung Ausdruck, daß Bund und Länder innerhalb der durch die Finanzverfassung gezogenen Grenzen die notwendige Finanzierung so rechtzeitig sicherstellen, daß den Trägern der Büchereien für eine solche Abgeltung des Vergütungsanspruchs ausreichende Mittel zur Verfügung stehen.Ich hoffe, daß sich Bund und Länder auf einer tragbaren Basis einigen. Es darf auf keinen Fall dazu kommen, daß die Bibliotheksetats geschädigt werden.Wir haben — lassen Sie mich das zum Abschluß sagen — in § 27 Abs. 2 das Problem der Werkbüchereien. Es ist vorgesehen, daß auch die Werkbüchereien abgabepflichtig sind. Aber auch hier sollte man berücksichtigen — das wäre eine Erleichterung für die Werkbüchereien —, daß der Begriff „Arbeits- oder Dienstverhältnis" nach dem Willen aller, die an diesem Gesetz gearbeitet haben, weit ausgelegt werden soll. Es sollte nicht nur das darunter fallen, was ursprünglich und unmittelbar als Arbeits- und Ausbildungsliteratur verstanden wird, sondern überhaupt die Literatur, die an Betriebsangehörige ausgegeben wird, die in der Berufsausbildung stehen, auch etwa an die Betriebsräte oder an Mitglieder der Jugendvertretungen.In dem letzen Paragraphen, dem § 46, den ich hier nennen möchte — er heißt „Sammlungen für den Kirchen-, Schul- und Unterrichtsgebrauch", der sogenannte „Lesebuch-Paragraph" —, haben wir die Vergütungspflicht eingeführt. Das ist nicht streitig und braucht hier nicht diskutiert zu werden.Wir haben — damit lassen Sie mich schließen —, wie ich meine, mit dieser Initiative eine wichtige Novellierung vorgenommen. Es ist das Anliegen des gesamten Hohen Hauses — das hat sich in allen Ausschußberatungen gezeigt —, daß wir den Schriftstellern und bildenden Künstlern durch dieses Gesetz die Möglichkeit einer Besserstellung ihrer materiellen Situation geben. Alle diese Menschen haben wichtige Aufgaben in unserer Gesellschaft zu erfüllen. Ich glaube, darüber braucht hier gar nicht mehr gesprochen zu werden; das ist in der ersten Lesung auch gesagt worden. Der Deutsche Bundestag kann für sich sagen, daß er das Verhältnis Kunst und Politik oder Literatur und Politik, jedenfalls materiell an einem wesentlichen Teile zu einem befriedigenderen Ergebnis geführt hat, als wir es bisher verzeichnen konnten.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der SPD begrüßt die Änderung des Urheberrechts, die nach langen und nicht immer einfachen Beratungen heute im Bundestag verabschiedet werden soll. Herr Kollege Dr. Schober hat bereits darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser Reform nur um einen ersten Schritt han-
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Metzgerdein kann. Weitere Schritte müssen folgen. Herr Dr. Schober hat auch bereits die Schwerpunkte dieser Novelle hervorgehoben und die Einzelbestimmungen des Gesetzes gewürdigt. Lassen Sie mich hierzu noch einige ergänzende Ausführungen machen.In den Ausschußberatungen und im Verlaufe des Anhörungsverfahrens, das der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft durchgeführt hat, wurden erhebliche Interessengegensätze der unmittelbar, aber auch der mittelbar Betroffenen deutlich, die nicht nur die Schwierigkeiten bei der Regelung der behandelten Probleme aufzeigten, sondern auch eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung ausschlossen. Ziel der Gesetzesnovelle — auch darauf hat Herr Kollege Dr. Schober bereits hingewiesen, und das sollten die Begünstigten anerkennen — sind eine materielle Besserstellung und ein wirkungsvollerer und umfassenderer Rechtsschutz.Dabei geht es um zwei Bereiche. Erstens geht es um eine Verbesserung des Rechts der Urheber bei der Weiterveräußerung eines Werkes der bildenden Künste unter Beteiligung eines Kunsthändlers oder eines Versteigerers durch Erhöhung des Anteils am Veräußerungserlös von 1 % auf 5% und durch die gesetzliche Festlegung eines Auskunftsanspruches gegenüber Versteigerer und Kunsthändler, die bei der bisherigen Regelung nicht bereit waren, diesen Auskunftsanspruch anzuerkennen.Zweitens geht es um die Gewährung eines Vergütungsanspruchs für Schriftsteller bei dem Vermieten und dem Verleihen von Werken durch gewerbliche oder öffentliche Büchereien — das ist neu —, und zwar auch dann, wenn sie für den Kirchen-, Schul- und Unterrichtsgebrauch verwendet werden.Mit dieser Regelung soll nicht nur eine gewisse Beschränkung der Rechtsstellung des Urhebers aufgehoben werden, die er zum Teil im Interesse der Allgemeinheit tragen mußte; es geht auch um die Beseitigung eines ungerechten Zustandes, der darin bestand, daß die Schriftsteller gegenüber den allgemeinen Interessen besondere materielle Opfer bringen mußten.Bei der materiellen Besserstellung — auch hierauf hat der Kollege Dr. Schober hingewiesen — spielte der Gedanke eine Rolle, den bildenden Künstlern und den Schriftstellern die Möglichkeit anzubieten, in gewissem Umfang für Alter und Notfälle Vorsorge zu treffen, nachdem bisher nur die Urheber musikalischer Werke eine Vorsorge- und Unterstützungseinrichtung geschaffen hatten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, auf Grund der Erfahrungen, die wir im Verlaufe der Ausschußberatungen in zahlreichen Gesprächen mit Urhebern und Verwertern von Urheberrechten machen konnten bzw. mußten, stehen einer erfolgversprechenden Regelung nicht nur handfeste materielle Interessen von Einzelpersonen und Gruppen, sondern bisweilen auch — das sollte man ganz offen sagen — eine gewisse Eigenbrötelei der Begünstigten entgegen. Wir glauben deshalb auch, daß nurdurch die Inanspruchnahme einer Verwertungsgesellschaft die materiellen Verbesserungen dieses Gesetzes voll ausgeschöpft werden können. Es wäre uns, der sozialdemokratischen Fraktion, deshalb auch sympathischer gewesen — auch das sage ich mit aller Offenheit —, wenn der Anteil an dem Veräußerungserlös eines Werkes der bildenden Künste nach § 26 nur durch eine Verwertungsgesellschaft hätte geltend gemacht werden können. Diese Regelung ist bei dem Vergütungsanspruch, der den Schriftstellern bei dem Vermieten oder Verleihen ihrer Bücher zusteht, vorgesehen. Leider fand diese Auffassung nicht die Mehrheit im federführenden Ausschuß.Der Rechtsausschuß war aber einmütig der Auffassung — das kommt auch in dem Schriftlichen Bericht zum Ausdruck —, daß eine Verwertungsgesellschaft mit der Geltendmachung des Veräußerungserlöses beauftragt oder eine pauschalierte Abgeltung von Folgerechtsansprüchen zwischen einer Verwertungsgesellschaft und Kunsthändler oder Versteigerer vereinbart werden kann.Wir sind uns darüber im klaren, daß die angestrebte Sicherung für Alter und Notfälle ein Anfang, ein erster Schritt und keineswegs eine Optimallösung ist. Von verschiedenen Seiten wurde deshalb auch eine sozialversicherungsrechtliche Lösung dieses Problems gefordert. Wenn man diese Forderung erhebt, muß man aber wissen, daß eine solche Lösung nicht im Rahmen des Urheberrechts erfolgen kann. Ich will jetzt nicht auf die Probleme der Öffnung der Rentenversicherung und auf ähnliche Probleme eingehen; das ist Sache der Sozialpolitiker. Mit Sicherheit bedarf es aber für den Personenkreis, der unter das Urheberrecht fällt, einer Sonderregelung, die eingehende Untersuchungen und die Berücksichtigung zahlreicher Besonderheiten notwendig macht.Eines möchte ich in diesem Zusammenhang noch feststellen, um immer wieder geäußerte Bedenken auszuräumen. Sollte irgendwann eine sozialversicherungsrechtliche Lösung möglich sein, dann steht die jetzt getroffene Regelung einer solchen Lösung nicht im Wege.Herr Kollege Dr. Schober hat auch auf das Problem der finanziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Bibliotheksgroschen hingewiesen und den Entschließungsantrag hier im Wortlaut vorgelesen. Die SPD-Fraktion ist der Meinung, daß die zusätzlichen Ausgaben und Unkosten, die durch diesen Bibliotheksgroschen zwangsläufig entstehen, auf keinen Fall zu Lasten der Bibliotheksträger oder gar der Benutzer dieser Büchereien gehen dürfen. Wir möchten deshalb — und ich tue das mit allem Nachdruck — einen Appell an die Länder und die Länderregierungen richten, sie mögen ihre Bereitschaft erklären, ihren Anteil zur Übernahme dieser Kosten, die sich in einer Größenordnung von schätzungsweise 10 bis 15 Millionen DM bewegen werden, im Interesse der Schriftsteller zu tragen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird sowohl diesem Gesetz als auch dem Entschließungsantrag zustimmen.
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11152 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die beiden Herren Vorredner haben, wie das bei der in den Beratungen erzielten Einmütigkeit unter allen drei Fraktionen des Hauses nicht anders zu erwarten war, den Gegenstand im wesentlichen ausgeschöpft. Wir Freien Demokraten begrüßen dieses Gesetz gleichfalls.
Ich möchte im Hinblick darauf, daß die Dinge hier durchaus mit unserer Zustimmung bereits sachlich dargestellt worden sind, noch einmal auf die besonderen Schwierigkeiten hinweisen, die dieser Gesetzentwurf von der Anlage, von der Grundidee her bereitet. Wir haben ja — das klang auch bei den Vorrednern durch — ein ganz eigentümliches Spannungsverhältnis: einerseits eine zunächst rein privatrechtliche Fortentwicklung im Bereich des Urheberrechts — eine Lösung, die die Rechte der Worturheber z. B. einfach mit den Rechten gleichstellt, die die Musikurheber schon längst hatten; man hatte früher nur technische Schwierigkeiten gescheut, um da konsequent vorzugehen —; andererseits aber klingt immer wieder durch, daß es hier auch um soziale Komponenten geht. Sie sind mit den Mitteln einer solchen Fortschreibung des Privatrechts natürlich nicht oder nur äußerst schwierig zu erreichen. Ich fürchte, die jetzt gefundene Lösung führt dazu, daß zwar diejenigen Schriftsteller,
die erfolgreich sind, die weit oberhalb der von Herrn Schober genannten Einkommensgrenze liegen, einen zusätzlichen Zufluß an Mitteln aus dem Verleih ihrer Werke bekommen werden, aber diejenigen, die mangels Verkaufserfolgs ihrer Werke sehr schlecht dastehen, vermutlich auch im Verleih ihrer Werke keine besonderen Umsätze zu verzeichnen haben werden und von daher auch keine Besserung ihrer materiellen Lage erwarten können. Das ist die große Schwierigkeit.
Wir alle haben die Hoffnung, daß wenigstens eine Milderung sozialer Härten bei dem angesprochenen Personenkreis eintritt. Wir müssen aber wohl befürchten, daß das nur in einem sehr geringen Umfang der Fall sein wird.
Dann kämen wir allerdings gleich in die nächste Schwierigkeit — das sage ich zu dem Zukunftsausblick, den Herr Metzger hier gewagt hat —: Sobald wir einer sozialpolitischen Lösung zusteuern, entsteht die große Schwierigkeit, festzustellen, wer z. B. Schriftsteller ist, wer Künstler ist. Woran erkennt man das? Bestimmt er das selbst? Und was muß er vielleicht tun? Wieviel Bilder muß er mindestens malen, oder wie gut müssen sie sein? Wer stellt das fest, damit man den Betreffenden in diese oder jene Kategorie einordnen kann? Da wird die Geschichte noch schwieriger. Vielleicht ist das — wenn wir unser Gewissen einmal recht erforschen — einer der Gründe, weshalb wir es jetzt mit dieser urheberrechtlichen Lösung erst einmal versucht haben: daß wir mit der anderen Lösung in noch viel größere Schwierigkeiten geraten können.
Es ist gewiß mutig von uns allen, daß wir diesen Versuch überhaupt gemacht haben, daß wir uns dem Problem gestellt haben. Wir müssen aber bestimmt weiter intensiv darüber nachdenken und müssen auch — damit komme ich zum letzten Punkt — sehr genau beobachten, was auf Grund dieses Gesetzes passiert. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, mir ist sehr unbehaglich beim Gedanken an die vorgesehenen Verwertungsgesellschaften. Ich weiß nicht, wie sie entstehen; ich weiß auch nicht, auf welche demokratische Weise sie von denen kontrolliert werden, deren Interessen sie vertreten sollen. Wir haben in anderen Bereichen etwas Ähnliches; wir haben z. B., begünstigt durch gewisse Bestimmungen des Wettbewerbsgesetzes, neuerdings Verbraucherschutzgesellschaften, die aus dem Boden schießen wie die Schwammerln nach dem Regen. Ich habe den dringenden Verdacht, daß ein großer Teil dieser Gesellschaften keineswegs Verbraucher —, wohl aber ganz beachtliche materielle Interessen der Vorstandsmitglieder schützt oder jedenfalls fördert. Im Bereich der Verwertungsgesellschaften ist Ähnliches zumindest nicht von vornherein auszuschließen.
Wenn im Laufe der Beratungen der Gedanke aufgetaucht ist, man könnte die Abgabe z. B. ja auch durch die Finanzämter einziehen, so macht dies klar, wie weit diese Gesellschaften, diese rein privaten Vereine, die da entstanden sind und vielleicht noch entstehen, mit dem, was sie tun, schon in die Nähe hoheitlichen Handels gerückt sind. Man muß meiner Ansicht nach — ohne daß ich dazu konkrete Vorschläge machen möchte; dazu ist die Sache zuwenig überprüft und durchdacht — mindestens dem Verhalten dieser Gesellschaften größte Aufmerksamkeit widmen und für die Zukunft überlegen, ob nicht der Übertragung so wichtigen, so in die Nähe staatlicher, öffentlicher Aufgaben gehenden Handelns bei späterer Gelegenheit auch eine stärkere Kontrolle entsprechen müßte und ob da nicht irgendwelche Beaufsichtigungen erforderlich werden, zumal wenn, wie zu erwarten ist, die Beträge, die dort bewegt werden, immer größeren Umfang annehmen.
Das alles sollten wir durchaus im Auge behalten, wenn wir nicht in den Verdacht geraten wollen, als Wunschträumer gemeint zu haben, gute Dinge zu tun, und wenn wir nicht wollen, daß die Betroffenen eines Tages zu uns kommen und sagen: ihr mögt ja allerlei Gutes getan haben, aber für die, die ihr eigentlich im Auge hattet, habt ihr nichts Gutes getan. — Lassen Sie uns also gemeinsam darauf achten, daß aus dem, was wir hier Gutes gewollt haben, auch wirklich etwas Gutes wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Stein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr vieles von dem, was ich zu diesem Problem aus meiner Sicht sagen möchte, hat der Herr Vorredner schon gesagt. Wir beschreiten mit diesem Gesetzentwurf
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Stein
Neuland. Wir wagen den Versuch, obschon die Erfahrungen, die in anderen Ländern mit dieser Art der Regelung gemacht worden sind, nicht ermutigend sind. Lediglich in Belgien sind gewisse Erfolge zu verzeichnen, doch liegt das an der Übersichtlichkeit und an der Beschränktheit des belgischen Kunstmarktes. In allen anderen europäischen Ländern sind die Erfahrungen in dieser Sache nicht erfolgversprechend. Dennoch bin ich persönlich der Ansicht — und darin unterstütze ich den Herrn Vorredner —, daß wir den Weg des Gesetzes gehen sollten.Dabei müssen wir aber — und hier wende ich mich insbesondere dem Problem der bildenden Kunst zu — ganz besondere Vorsichtsmaßnahmen treffen und auch Aspekte berücksichtigen, die sich aus der Entwicklung des Verhältnisses des Künstlers zum Kunstvermittler, also zum Kunsthandel, ergeben haben.Unsere Absicht ist es — und das ist die Absicht des ganzen Hauses —, die Position der jungen Künstler in ihrem Verhältnis zu ihren Auftraggebern und zum Markte, wenn Sie so wollen, einmal zu stärken und die Chancen ihres Fortkommens zu erweitern. Nun wissen wir alle, daß das einerseits naturgemäß eine Frage der Qualität ist, natürlich aber auch eine Frage des Interesses und des Glaubens, den der Kunstvermittler an das künstlerische Schaffen desjenigen hat, den er vertreten will.Es hat sich in diesem Zusammenhang ein Usus ergeben, der durchaus nicht immer genügend ist und der nicht immer ohne Kritik sein wird. Es handelt sich um die Tatsache, daß der Kunsthändler junge Künstler unter Vertrag nimmt, ihnen für einen bestimmten Zeitraum ihres Schaffens vorschußweise eine Unterstützung gewährt, später die Bilder verkauft und dann auf Grund des Verkaufserlöses über Jahre hinaus die entsprechende Abrechnung vornimmt.Wir alle wissen, daß eine Reihe von jungen Künstlern auf dieses Verhältnis zum Kunsthändler essentiell angewiesen ist und daß es keineswegs so ist, daß hier etwa der Ursprung eines Ausnutzens gegeben wäre. Natürlich gibt es auch hier wie in allen menschlichen Bereichen unterschiedliche Tatbestände und unterschiedliche Beurteilungen. Aber insgesamt müssen wir anerkennen — und derjenige, der sich mit der modernen Kunst befaßt, weiß das —, daß die Kunstvermittler in hohem Maße nicht nur am Fortkommen der jungen Künstlerschaft interessiert sind, sondern auch unzweifelhaft ihre Verdienste haben. Dieses Verhältnis des jungen Künstlers zum Kunstvermittler darf nicht gestört werden. Es darf nicht so sein, daß sich nachher dieses Verhältnis auf Grund der Tatsache der Schaffung von Verwertungsgesellschaften in der Praxis heißläuft und damit im Grunde genommen nur ein Nachteil für den bildenden Künstler eintritt.Das ist die erste Frage, und dies ist das erste Moment, das ich hier in die Diskussion bringen möchte. Wir sind also in der Durchführung des Gesetzes auf eine enge Zusammenarbeit der Kunstvermittler mit den Künstlern und den Verwertungsgesellschaften angewiesen.
Das ist das entscheidende Moment, und gerade dieses Verhältnis und diese Entwicklung müssen wir — da stimme ich dem Herrn Vorredner, aber auch dem Kollegen Schober zu — im Auge behalten und beobachten.Das zweite, was meiner Ansicht nach unabdingbar in dieses Gesetz hineingehört, aber zum Teil wohl auch schon ausgesprochen worden ist, ist, daß der Künstler in der Wahl der Verwertungsgesellschaft frei sein muß. Es ist meiner Ansicht nach völlig ausgeschlossen, daß wir eine einzige „Monopol"verwertungsgesellschaft etwa hinnehmen oder sie gar gründen; denn dann entstünde mit Sicherheit ein Verhältnis, das spannungsreich wäre und sich in der Praxis nicht bewähren würde.Das dritte Problem sehe ich darin, daß wir mit der jetzigen Gesetzgebung nur eine nationale Regelung treffen können. Wer aber den Kunstmarkt in den letzten Jahren verfolgt hat, weiß, daß er sich absolut ins Internationale ausgeweitet hat, daß wir also im Grunde genommen in Deutschland — Sie brauchen nur die letzte Versteigerung von Hauswedell zu betrachten oder die Kataloge von Kornfeld zu sehen — vollständig einen europäischen Kunstmarkt haben, der dann natürlich unter Umständen einer unterschiedlichen Behandlung unterworfen wird.Das Ergebnis ist in diesem Zusammenhange natürlich — das ist angesprochen worden, und ich möchte diesem Problem nicht dadurch, daß ich es hier aufgreife, ein besonderes Schwergewicht verleihen —: Wenn sich im Rahmen des Verhältnisses der Kunstvermittler zu den Verwertungsgesellschaften Differenzen und Schwierigkeiten ergeben, so wird der Kunsthandel bei der Internationalität des Kunstmarktes, die wir in der ganzen Welt und auch in Deutschland in zunehmendem Maße haben, auf ausländische Künstler ausweichen, weil er dort den Schwierigkeiten beim Verkauf oder bei der Versteigerung entgeht.Herr Schober hat gesagt, die Standortfrage werde sich hier zugunsten des deutschen Künstlers lösen. Ich glaube das in diesem Umfang nicht, denn ich fürchte, daß sich bei der insbesondere in Deutschland vorhandenen Neigung, sich ausländische Kunstwerke zuzulegen, dieser Standortvorteil nicht entscheidend zugunsten der deutschen Kunst auswirken wird. Jedenfalls sehe ich hier eine große Gefahr. Wann und in welchem Maße wir zu einer Harmonisierung des Nachfolgerechts in der EWG kommen werden, ist natürlich von besonderer Bedeutung. Nur dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben, daß sich etwa auf diesem Gebiet die deutsche Perfektion, die wir auch mit diesem Gesetz anstreben, in anderen Ländern ohne weiteres durch- und fortsetzen wird. Nach den Erfahrungen, die ich selbst in anderen Ländern gerade bei der Prüfung dieses Gesetzes gemacht habe, bin ich persönlich der Ansicht, daß wir uns hier einer Illusion hingäben, wenn wir glaubten, daß sich hier im Laufe
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Stein
von wenigen Jahren durch die Harmonisierung eine gemeinsame europäische Regelung ermöglichen ließe.Dies alles sage ich nur, um zu warnen und vor allen Dingen auch deshalb, um meine Anregungen entsprechend zu präzisieren. Es ist notwendig, uns über die möglichen Auswirkungen dieses Gesetzes im klaren zu sein und das Verhältnis der Verwertungsgesellschaften zu den Kunstvermittlern genau zu überprüfen. Ich möchte von mir aus anregen, daß vielleicht der federführende Ausschuß noch einmal erwägt, nach einer bestimmten Zeit den Erfolg dieses Gesetzes zu überprüfen
und die Entwicklung der Verwertungsgesellschaften zu beobachten.Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zur sozialen Situation sagen. In der Entwicklung der Kunst ist es heute so, daß wir einen weiten Bereich arrivierter Künstler haben, die im Grunde genommen die Verkaufsgrundlage der Kunstvermittler darstellen, über ein entsprechend hohes Einkommen verfügen und durch diese Regelung des Nachfolgerechts unter Umständen noch zu weiteren Vorteilen kommen, die auf Grund der sozialen Lage, in der sie sich befinden, nicht gerechtfertigt sind.Demgegenüber steht eine gewisse Zahl von Künstlern, die natürlich nicht diesen Erfolg hat, die sich durch dieses Gesetz Erfolge verspricht, die sich aber sicherlich nicht einstellen werden, so daß dadurch bei ihnen eine Enttäuschung hervorgerufen wird. Denn nicht das Gesetz kann diesen jungen Künstlern helfen, sondern nur ihre eigene Qualität, ihr qualitatives Schaffen. Deshalb kann durchaus die Situation eintreten, daß sich die guten Künstlerich möchte sie mit einem Schlagwort die arrivierten Künstler nennen — zu eigenen Verwertungsgesellschaften zusammenschließen und daß sie die Erträge, die sie aus diesem Gesetz erzielen, selbst verwalten wollen. Dann träte das ein, was wir vermeiden wollen: daß die Reichen noch reicher werden und die anderen aus diesen Beträgen karitative Unterstützung bekommen. Nach meinen Erfahrungen glaube ich sagen zu müssen, daß nichts der Entwicklung des jungen Künstlers mehr schadet, als wenn er das Gefühl hat, auf eine karitative Unterstützung irgendwelcher Kreise — vielleicht sogar seiner Kollegen — angewiesen zu sein. Deshalb sehe ich mit großer Besorgnis der Situation entgegen, daß die Beträge, die hier zusammenkommen, zwar den betreffenden Künstlern zufließen, daß aber die soziale Grundlage derjenigen, denen unsere Bemühungen gelten, nicht ausreichend verbessert wird. Deshalb, glaube ich, kann die Konsequenz dieses Gesetzes nur sein, auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der Sozialversicherung der Künstlerschaft einen Weg zu eröffnen, der sie beispielsweise durch Öffnung der Rentenversicherung bei rechtzeitiger Einzahlung auch das erreichen läßt, was wir mit diesem Gesetz erreichen wollen: die Grundlage einer entsprechenden Altersversicherung, die Grundlage dafür, daß der Künstler in demBewußtsein arbeiten kann, daß sein Alter gesichert ist. Das wird aber nicht durch dieses Gesetz ermöglicht werden, sondern hier müssen wir neue Wege gehen.Ich bitte den zuständigen Ausschuß, auch noch einmal in Erwägung zu ziehen, ob nicht ähnlich wie beim Bibliotheksgroschen unter Umständen dem Gedanken des Museumsgroschens Rechnung getragen werden kann, und zwar in der Form, daß der Besucher eines Museums zusätzlich zum Eintrittsgeld z. B. 0,10 DM bezahlen muß. Dieser Betrag sollte dann einem sozialen Fonds zugeführt werden. Erst dann, wenn wir solche Beträge, die vom Individualrecht des Künstlers losgelöst sind, für Verwertungsgesellschaften und soziale Einrichtungen von der Allgemeinheit bekommen, ist die Grundlage geschaffen, um ein wirkliches Sozialrecht für den bildenden Künstler ins Leben zu rufen, ein Sozialrecht, auf das er wie alle Teile des Volkes Anspruch hat und an dem mitzuwirken wir uns alle verpflichtet fühlen.
Es liegt noch die Wortmeldung des Abgeordneten Dr. Kreile vor.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kleinert hat bezweifelt, daß die demokratische Kontrolle der Verwertungsgesellschaften gewährleistet ist. Ich finde, daß diese Zweifel
— die Infragestellung einen solchen Angriff und eine solche Unterstellung in globaler Weise in sich tragen, daß hier doch wohl ein berichtigendes Wort erforderlich ist. Die Verwertungsgesellschaften sind die Treuhänder der Künstler, die Treuhänder der individuellen Anspruchsberechtigten. Die Künstler schaffen sich ihre Verwertungsgesellschaften, und die Künstler legen großen Wert darauf — dies ist bei den bisherigen Verwertungsgesellschaften hervorragend gewährleistet —, daß wirklich ein demokratisches Prinzip herrscht.
— Ich möchte dies von der GEMA sagen, wo sich die Anspruchsberechtigten bei den Abstimmungen in Fragen jeglicher Art hervorragend zu einem gemeinsamen, demokratischen Consensus zusammenfinden. Ich möchte dies ebenfalls von der zweiten Verwertungsgesellschaft — Verwertungsgesellschaft „Wort" —, die bisher eine gewisse Rolle spielte und deren Vorsitzender des Aufsichtsrats ein Mitglied unseres Hauses, ein SPD-Abgeordneter, ist, sagen.Der Zweifel an der demokratischen Selsbstkontrolle der Verwertungsgesellschaften erscheint mir nicht gerechtfertigt. Ich hoffe, ihn mit diesen wenigen Worten ganz behoben zu haben.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11155
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in der zweiten Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung. Ich rufe Art. 1, 2, 3, 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die dritte Beratung.
Wer dem Gesetz zustimmt, möge sich erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist bei zwei Gegenstimmen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ausschußantrag. Der Ausschuß hat die Entschließung vorgeschlagen, die Ihnen soeben vorgelesen wurde. Sie finden sie auf Seite 8 der Drucksache. Wer dieser Entschließung zustimmt, gebe bitte das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Entschließung ist angenommen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
— Drucksache VI/3426 —
Ich eröffne die Beratung in erster Lesung. Das Wort wird nicht gewünscht. Ich schließe die Beratung. Es wird vorgeschlagen, diese Vorlage dem Rechtsausschuß zu überweisen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters
— Drucksache VI/3450 —
Das Wort zu diesem Gesetzentwurf hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Der Ihnen von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters ist das Ergebnis von Überlegungen, wie die in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu beobachtende Beschleunigung in der biologischen, geistigen und sozialen Entwicklung der jungen Menschen unter 21 Jahren und ihre damit verbundene weitgehende tatsächliche Teilnahme am wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Geschehen in unserer Gesellschaft mit der Rechtsordnung in Übereinstimmunggebracht werden können. Ein erster Schritt auf diesem Wege war die von diesem Hohen Hause vor fast zwei Jahren ohne Gegenstimmen beschlossene Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 18 Jahre. Damit haben wir der jungen Generation eine frühere Mitverantwortung für das Schicksal unseres Volkes und Staates durch politische Mitentscheidung und Mitbestimmung gegeben. Jetzt geht es darum, ob und inwieweit wir diesen jungen Menschen auch die frühere Verantwortung der Entscheidung für ihr eigenes persönliches Leben uneingeschränkt übertragen sollen, ohne den Schutz, den die Rechtsordnung geben muß, unangemessen zu verkürzen.Die Bundesregierung ist nach Prüfung aller zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen und empirischen Erkenntnisquellen zu der Auffassung gelangt, daß den Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren eine unbeschränkte Teilnahme am Rechts- und Wirtschaftsleben ermöglicht werden sollte. Dies rechtfertigt es, ihnen die Rechte für eine vollverantwortliche Teilnahme am Rechts- und Wirtschaftsverkehr zuzubilligen, ihnen aber auch die Verantwortung aufzuerlegen, die mit ihrer Herausnahme aus den zum Schutz von Minderjährigen erlassenen Rechtsvorschriften verbunden ist.Die Entscheidung über den Vorschlag der Bundesregierung, das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre herabzusetzen, ist vor allem eine solche rechtspolitischer Art. In diesem Punkte stimmt die Regierungsvorlage mit dem entsprechenden Initiativantrag der CDU/CSU-Fraktion überein. Aus dieser Gemeinsamkeit ergibt sich bereits, daß nach weithin vorhandener Überzeugung, die auch in den parlamentarischen Beratungen über die Herabsetzung des aktiven Wahlalters in den Erklärungen von Vertretern aller drei Fraktionen ihren Niederschlag gefunden hat, das geltende Recht der veränderten Position der Jugendlichen in unserem sozialen und wirtschaftlichen Gefüge angepaßt werden sollte. Der mit dem früheren Erreichen der Volljährigkeit verbundene Erwerb der vollen Geschäftsfähigkeit gibt den Betroffenen die Möglichkeit, kraft eigener Entscheidung und ohne Beteiligung eines gesetzlichen Vertreters Verträge abzuschließen oder sonstige Rechtsgeschäfte vorzunehmen. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß die 18- bis 21 jährigen der mit der Ausdehnung ihrer rechtlichen Befugnisse gestiegenen Verantwortung für sich und andere in gleicher Weise wie die bereits nach geltendem Recht Volljährigen gerecht zu werden vermögen.Nach der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters unterstehen die 18- bis 21jährigen nicht mehr dem elterlichen Erziehungsrecht. Damit endet die Möglichkeit des Staates, dieses Erziehungsrecht durch Maßnahmen nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz zu ergänzen oder zu ersetzen. Diese rechtliche Folge trägt der tatsächlich bereits vollzogenen Emanzipation dieser Jugendlichen Rechnung. Gleichwohl werden die Möglichkeiten, auch volljährigen jungen Menschen Hilfen der Jugendwohlfahrt anzubieten, zu prüfen sein.Infolge der im Grundgesetz bestimmten Verknüpfung von Volljährigkeit und passivem Wahlrecht
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11156 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Bundesminister Jahnwird die Neuregelung zur Folge haben, daß die Wählbarkeit als Abgeordneter des Deutschen Bundestages bereits mit Vollendung des 18. Lebensjahres beginnt. Damit wird der jungen Generation ein weiteres, besonders wichtiges politisches Betätigungsfeld eröffnet. Gleichzeitig kommt darin zum Ausdruck, wie hoch die Gemeinschaft politisches Engagement und Verantwortung der Jugend für das Gemeinwohl einschätzt und daß sie bereit ist, ihre Stimme auch dort zu hören, wo sie am wirksamsten zur Geltung kommt.Neben der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters schlägt der Entwurf eine Neuregelung der Ehemündigkeit des Mannes vor. Diese soll dem neuen Volljährigkeitsalter angeglichen werden. Die Ehemündigkeit der Frau soll wie bisher mit der Vollendung des 16. Lebensjahres beginnen.Der Entwurf sieht weiterhin vor, die Altersgrenze in verschiedenen Gesetzen im Hinblick auf das neue Volljährigkeitsalter zu ändern. Diese Änderungen sollten jedoch nur in dem Umfang erfolgen, in dem dies wegen der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters unbedingt geboten erscheint. Dies gilt insbesondere auch für die Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes. Der Entwurf sieht daher nicht vor, die 18- bis 21jährigen generell dem Erwachsenenstrafrecht zu unterstellen.Die vom Bundestag zu treffende rechtspolitische Entscheidung wird für die Integration unserer Jugend in die rechtliche, wirtschaftliche und politische Ordnung unseres Gemeinwesens von großer Bedeutung sein. Ich hoffe, daß diese Entscheidung den Vorschlägen der Bundesregierung folgen wird.
Ich eröffne die Aussprache in erster Lesung. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stark .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion darf ich zu dem Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters — Drucksache N/3450 — vom 24. Mai 1972 folgende Erklärung abgeben:Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt es, daß nunmehr auch die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters dem Hause zur Beratung vorlegt, nachdem die CDU/CSU-Fraktion selbst bereits vor anderthalb Jahren, nämlich im November 1970, mit der Drucksache VI/1410 einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und des Ehemündigkeitsalters des Mannes hier in diesem Hause eingebracht hat.
Die sachlichen Gründe, die nach unserer Auffassung für eine Neuregelung des Volljährigkeitsalters und des Ehemündigkeitsalters des Mannes sprechen, hat mein Kollege Rollmann bei der Einbringung unseres Gesetzentwurfs am 4. Dezember 1970 dem Hauseausführlich und, wie ich meine, auch überzeugenddargelegt, so daß ich es mir heute ersparen kann,nochmals im einzelnen auf diese Gründe einzugehen.
— Zum Verfahren in dieser Sache, Herr Wehner, und zum Zeitpunkt der Initiative der Bundesregierung lassen Sie mich aber doch einige kritische Anmerkungen machen.
Die CDU/CSU-Fraktion hätte es sehr begrüßt, wenn die Bundesregierung in dieser für die Stellung, das Selbstwertbewußtsein und die Verantwortungsfreude der jungen Generation wichtigen Frage nicht erst in einem Zeitpunkt initiativ geworden wäre, in dem es allein schon wegen der Zeit, die die Beratung dieses wichtigen Reformvorhabens erfordert, sehr fraglich ist, ob dieser Bundestag dieses Gesetz noch verabschieden kann.Auf Grund unseres im November 1970 eingebrachten Gesetzentwurfs hat der Rechtsausschuß bereits im Dezember 1970 eine Befragung der Vormundschaftsgerichte zur Problematik der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und des Ehemündigkeitsalters des Mannes angeregt und beschlossen. Da das Ergebnis dieser Befragung der Bundesregierung schon seit Mitte des vergangenen Jahres vorliegt, ist es für uns unverständlich, warum sich die Bundesregierung mit dieser Vorlage so viel Zeit gelassen hat.
Wir bekommen langsam den Eindruck, daß der steigende Reformeifer dieser Bundesregierung im umgekehrten Verhältnis zu der Zeit steht, die ihr noch zur Verfügung stehen wird.
Meines Erachtens liegt auch hier ein Problem der falschen Prioritäten in der Rechtspolitik dieser Bundesregierung und des Bundesjustizministers vor. Es muß deshalb angesprochen werden.Wenn sich die Bundesregierung aber schon zweieinhalb Jahre Zeit genommen hat, um ihrem Versprechen in der Regierungserklärung vom 29. Oktober 1969 auf diesem Gebiet nachzukommen, so hätte man doch von ihr erwarten können, daß sie dem Hause einen voll ausgereiften Entwurf zu diesem Problem vorlegen würde, der sich nicht indirekt vom Bundesrat den Vorwurf gefallen lassen muß, ohne echte wissenschaftliche Entscheidungsgrundlage erstellt worden zu sein.
Auch wir verkennen nicht, Herr Bundesjustizminister, daß die Materie, die hier neu zu regeln ist, nicht einfach und, weil sie von großer Tragweite ist, nicht völlig unumstritten ist.
— Aber bei einer Vorbereitungszeit von zweieinhalb Jahren, Herr Wehner, und den Unterlagen, dieder Bundesregierung inzwischen vorliegen, hätte
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11157
Dr. Stark
dieses Haus einen ausgereifteren Gesetzentwurf erwarten können und dürfen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß dem Hause versichern, daß die CDU/CSU-Fraktion an einer gründlichen, aber auch zügigen Beratung der dem Hause vorliegenden Gesetzentwürfe zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und des Ehemündigkeitsalters des Mannes im Interesse der weiteren Integration der jungen Generation in unseren demokratischen Staat interessiert ist.
Auch die Herabsetzung des Wahlalters ist auf Grund unserer Initiative erfolgt. Die Tatsache, daß wir der Regierung auch hier nahezu ein Jahr voraus waren,
Herr Wehner, zeigt, daß diese Regierung ständig nur von Reformen spricht, aber keine Reformen zustande bringt,
während die angeblich alternativlose Opposition zu allen Gebieten Alternativen vorlegt.
— Jetzt wollen Sie ablenken, Herr Wehner. Bleiben Sie doch beim Thema!
Diese Alternativen der Opposition auf wichtigen Reformgebieten konnten einfach nicht beraten werden, solange Sie die Mehrheit in diesem Hause hatten. Diese Mehrheit haben Sie im Augenblick nicht mehr.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß den Wunsch äußern, daß wir im Interesse der jungen Generation, im Interesse der Stärkung ihrer Verantwortungsfreude und ihres Selbstwertbewußtseins sehr bald an die Beratung dieses sehr wichtigen Reformvorhabens herangehen sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem Punkt stimme ich Herrn Kollegen Stark zu. Er hat hier vorgetragen, daß wir bei der ersten Lesung des Entwurfs der CDU/CSU-Fraktion zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und zur Herabsetzung des Ehemündigkeitsalters des Mannes bereits die Grundfragen, die Grundprobleme angesprochen haben. Es ging bei der Rede des Kollegen Stark auch gar nicht mehr um die Grundfragen, sondern einfach um die Frage des Erstgeburtsrechts
— sehr richtig: des Urheberrechts.
In diesem Zusammenhang ist auf folgendes hinzuweisen. Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Regierungserklärung Ende 1969 die Überprüfung der Frage der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters angekündigt, und der Bundesminister der Justiz hat im Januar 1970 in der Beratenden Versammlung des Europarats dieses Problem ebenfalls angesprochen. Damals bestand in der Beratenden Versammlung des Europarats bereits Einigkeit darüber, daß diese Fragen vorrangig geprüft werden sollten, um den Versuch zu unternehmen, in Europa zu einer einheitlichen Regelung zu kommen. Ich möchte noch einmal betonen, daß eine solche einheitliche Regelung gerade auf diesem Gebiet in Europa vordringlich wäre. Ich bedaure, daß es aus Gründen, die nicht bei uns zu suchen sind,
nicht zu einer solchen einheitlichen Regelung — wenigstens nicht in absehbarer Zeit — kommen kann.Wenn hier nun ein Wettlauf in der Frage des Erstgeburtsrechts oder des Urheberrechts gemacht werden soll, sehr geehrter Herr Kollege Stark, so muß man doch feststellen, daß dieser Wettlauf, der vor anderthalb Jahren von Ihnen begonnen wurde,
zu Lasten und auf Kosten der Gründlichkeit und der Vollständigkeit gegangen ist.
— Herr Kollege Vogel, vielleicht sind Sie so freundlich und hören mir einmal zu.Es genügt nicht — wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf getan haben —, einfach die unmittelbar betroffenen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches oder des Ehegesetzes zu ändern; es ist erforderlich, eine ganze Reihe anderer Bestimmungen, die Altersgrenzen enthalten, welche zur Volljährigkeit in Beziehung stehen, ebenfalls zu ändern.Ich möchte hier einige Beispiele aufführen. Wir können das aus dem Entwurf der Bundesregierung sehen. Es geht um eine Änderung des Rechtspflegergesetzes, eine Änderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, eine Änderung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt, eine Änderung des Strafgesetzbuches, eine Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und andere Vorschriften. Bei der Änderung des Jugendgerichtsgesetzes möchte ich an einem Beispiel deutlich machen, wie mangelhaft und schluderig der Entwurf der CDU/ CSU-Fraktion hingepfeffert worden ist.
Im Jugendgerichtsgesetz ist festgelegt, daß die Fürsorgeerziehung bei Heranwachsenden bis zur Volljährigkeit angeordnet werden kann. Es ist klar, daß das nach der Herabsetzung der Volljährigkeit auf 18 Jahre nicht mehr möglich ist. Wir wären deshalb,
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Metzgerwenn wir Ihrem Gesetzentwurf gefolgt wären, zu unmöglichen Ergebnissen gekommen.
Deshalb ist es notwendig, daß hier ein ausgereifter Gesetzentwurf vorgelegt wird, der Grundlage einer sachlichen Beratung in dem zuständigen Ausschuß oder in den zuständigen Ausschüssen sein kann.
Die Tatsache, Herr Kollege Stark, daß der Vorsitzende des Rechtsausschusses, der ja Ihrer Fraktion angehört, anderthalb Jahre diesen Ihren Gesetzentwurf nicht auf die Tagesordnung setzte, macht doch deutlich, daß Sie selbst nicht den Mut hatten, auf der Grundlage Ihres Entwurfes die Beratungen im Rechtsausschuß zu beginnen und die Beratungen abzuschließen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vogel?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Ich bin mit meinen Ausführungen gleich am Ende.
— Aber er ist nicht beraten worden.
Aber wenn Sie, Herr Kollege Vogel und Herr Kollege Stark, die übrigens unbewiesene Behauptung aufstellen, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht voll ausgereift sei, muß ich die Frage vorlegen: Was ist denn dann mit Ihrem Gesetzentwurf? Der ist dann ein Nichts, der ist dann nur eine Seifenblase.
Man muß sich diesen Entwurf einmal ansehen und in Vergleich zu dem setzen, was jetzt im Entwurf der Bundesregierung enthalten ist. Wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, begrüßen, daß die Bundesregierung diesen Entwurf vorgelegt hat. Wir sind der Überzeugung, daß dieser Entwurf eine gute Arbeitsgrundlage für die weiteren Beratungen und Beschlußfassungen im Ausschuß sein wird.
Weitere Wortmeldungen?
— Ja, ich sehe es ein bißchen spät. Sehr gut! Ich gratuliere Ihnen! Bitte schön, Herr Abgeordneter Kleinert!
Herr Vogel, Sie haben das ja so gewollt. Der Ältestenrat meinte, es ginge ohne Debatte. Außerdem scheint mir die Tagesordnung furchtbar durcheinandergeraten zu sein. Ich dachte, wir seien mit dem Urheberrecht fertig; aber jetzt geht es erst richtig los.
Wenn wir uns nun von Ihnen in eine solche an sich nicht vorgesehene Einlage hineinbitten lassen, Herr Vogel, möchte ich natürlich nicht verfehlen, darauf hinzuweisen, daß in der 5. Legislaturperiode die Fraktion der Freien Demokraten den Reigen dieser Auseinandersetzungen damit eröffnet hat,
daß sie einen Antrag auf Herabsetzung zunächst einmal vernünftigerweise des Wahlalters eingebracht hat. Dieser Antrag konnte sich wegen des Widerstandes der Fraktion der CDU/CSU in der vergangenen Legislaturperiode nicht durchsetzen.
Nachdem Sie damals noch so restriktiv waren, noch nicht einmal an die Änderung des Wahlrechts herangehen zu wollen, haben Sie Ihren Nachholbedarf auf die Weise zu decken versucht, daß Sie mit ganz heißer Nadel ein Ding zusammengenäht haben, von dem Herr Stark eben zwar nicht wörtlich, aber hinweisend — man kann das daraus schließen — schlüssig dargelegt hat, wie man eigentlich sagen kann, daß es natürlich gar nichts war.
Mein Vorredner hat schon darauf hingewiesen: Wenn schon der Regierungsentwurf solche Mängel haben sollte, wie Sie behaupten — ich sehe diese Mängel nicht —,
kann an Ihrem Entwurf wirklich fast nichts dran sein. Wir haben doch auf Ihre Bitte hin die empirischen Untersuchungen eingeleitet.
Herr Stark, Sie haben hier die Entgegnung des Bundesrates zitiert. Nützlich ist es, auch den zweiten und den dritten Satz zu lesen. Der Bundesrat war nämlich der Meinung, daß die empirische Methode, die angewendet worden ist — das ist nämlich das Verfahren, das im Rechtsausschuß auf Ihren Antrag hin beschlossen worden war, z. B. einmal die Vormundschaftsrichter zu befragen —, nicht ausreichend ist und daß man wissenschaftlich-analytisch an die Aufklärung der Entwicklungsvorgänge herangehen müßte. Das ist aber das, was wir im Rechtsausschuß — ich gebe zu, auf beiden Seiten — nicht gesehen und nicht beschlossen haben, und das ist das einzige, was der Bundesrat nunmehr zur Kritik anführt. Es ist gut, wenn Sie das nachlesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz?
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Aber bitte sehr!
Herr Kollege Kleinert, ich bitte um Nachsicht; der Punkt erschien schon vor zwei Minuten in Ihrer Rede. Sie sprachen von dem Urheberrecht. Würden Sie nicht mit mir der Meinung sein, daß die Regelung des französischen Rechts, die da sagt: „Die Nachsuche nach der Vaterschaft ist verboten", in manchen Fällen auch in Deutschland zweckmäßig wäre?
Wenn man, Herr Lenz, davon absieht, daß nicht das französische Recht die Urheberschaft dieses Satzes hat, sondern das römische — pater semper incertus —, dann stimme ich in der Sache mit Ihnen überein.
Herr Stark, ich glaube, wir sollten uns, um die Dinge bei der Bedeutung des Themas nicht zu sehr abgleiten zu lassen, darauf verständigen, auf der erheblich besseren Basis, die der Regierungsentwurf gegenüber Ihrem ersten Antippen des Problems geboten hat, auf Grund der Arbeit in allen Fraktionen jetzt weiterzuarbeiten. Es ist wirklich furchtbar schwierig, aus einer Sache, die wir zum Schluß quer durch die Fraktionen verabschieden werden, einen echten Streit zu entwickeln. Ich meine auch, wir haben so viel zu tun, daß wir es an dieser Stelle dabei bewenden lassen sollten.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung dieses Gesetzentwurfs an den Rechtsausschuß — federführend — und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zur Mitberatung vor. — Es ist so beschlossen, da ich keinen Widerspruch sehe.
Ich rufe den Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts — Gesetz zur Neuordnung der Zuständigkeiten und des Verfahrens in familienrechtlichen Angelegenheiten —
— Drucksache VI/3453 —
Das Wort zur Einbringung hat der Bundesminister der Justiz, Herr Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Bereits bei der Vorlage des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts habe ich namens der Bundesregierung angekündigt, daß die vorgesehenen weitreichenden Änderungen des materiellen Scheidungs- und Scheidungsfolgenrechts eine grundlegende Überarbeitung auch des Verfahrensrechts bedingen und deshalb als Ergänzung desersten ein zweites Gesetz alsbald folgen werde. Die damals angekündigten Vorschläge zur Neuregelung des Verfahrens in Ehesachen bilden das Kernstück des Ihnen heute vorliegenden Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts. Mit ihm liegen Ihnen nunmehr die Vorstellungen der Bundesregierung zur umfassenden Neuordnung des Eherechts vor. Die Schwerpunkte dieses Entwurfs lassen sich mit den Stichworten „Einführung des Familiengerichts" und „Entscheidungskonzentration" kennzeichnen.Nach geltendem Recht besteht für die Scheidung und die durch sie ausgelösten Folgeverfahren keine einheitliche gerichtliche Zuständigkeit. Die Verfahren werden teilweise von den Landgerichten, im übrigen von den Amtsgerichten in erster Instanz erledigt. Dabei wird das Amtsgericht noch in verschiedenen Funktionen tätig, und zwar als Prozeßgericht, als Vormundschaftsgericht oder in den besonderen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Der vielfältigen erstinstanzlichen Zuständigkeit entsprechen unterschiedliche Rechtsmittelzüge mit der Zuständigkeit verschiedener Rechtsmittelgerichte.Diese verfahrensrechtliche Aufspaltung und Zersplitterung eines nach dem Lebenssachverhalt unmittelbar zusammenhängenden Rechtskomplexes wird seit langem allgemein als unbefriedigend und für die betroffenen Parteien belastend empfunden. Der Entwurf faßt deshalb die Zuständigkeiten für die Scheidungssache und ihre Folgeregelungen zusammen und weist die Verfahren einheitlich einem besonderen neuen Spruchkörper, dem Familiengericht, zu.
Ausgedehnt wird diese Regelung auf den verwandten Bereich der sonstigen Ehesachen einschließlich ihrer Nebenverfahren. Damit wird die seit langem erhobene Forderung, familienrechtliche Angelegenheiten durch ein besonderes Gericht als Familiengericht erledigen zu lassen, für. den wichtigen Bereich der Ehesachen und ihrer Nebenverfahren und damit vor allem für Scheidungssachen und für die Scheidungsfolgenregelungen verwirklicht.Zum ersten Mal können diese Angelegenheiten, die nach dem Lebenssachverhalt so eng zusammenhängen, von einem Gericht erledigt werden, das auf Grund seines Überblicks über den Gesamtzusammenhang zu einer sachgerechten und ausgewogenen Lösung kommen kann. Darüber hinaus wird mit dem Familiengericht ein Gericht zur Verfügung gestellt, das auf Grund seiner Zuständigkeit in den ausschließlich ihm anvertrauten Angelegenheiten über eine weitreichende Erfahrung und besondere Sachkunde verfügt, so daß von ihm auch allgemein eine besonders ausgereifte und dem Charakter dieser Verfahren angemessene Entscheidungsfindung erwartet werden kann. Damit wird zugleich ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der Rechtspflege in familienrechtlichen Angelegenheiten getan.Der zersplitterten Zuständigkeitsregelung des geltenden Rechts für die Scheidungssache und ihre
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11160 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Bundesminister JahnFolgeregelungen entspricht die verfahrensmäßige Behandlung der Angelegenheiten. Sie werden bisher nicht nur durch verschiedene Gerichte, sondern auch ohne zeitlichen Zusammenhang mit der Scheidung erledigt. Nicht selten dauert deshalb der Streit um die Scheidungsfolgen noch Monate oder sogar Jahre nach Abschluß des Scheidungs-Verfahrens an. Nach dem vorgesehenen Grundsatz der Entscheidungskonzentration als zweitem Schwerpunkt des Entwurfs wird sich dies ändern. Der Entwurf stellt durch besondere verfahrensrechtliche Maßnahmen sicher, daß die Scheidungssache und die mit zur Entscheidung des Gerichts gestellten Scheidungsfolgeregelungen gleichzeitig verhandelt und grundsätzlich auch gleichzeitig entschieden werden.Nur ausnahmsweise soll eine Regelung der Scheidungsfolgen zur gesonderten späteren Erledigung abgetrennt werden können. Machen die Ehegatten von der ihnen durch das neue materielle Recht eröffneten Möglichkeit Gebrauch, sich nach einjähriger Trennung im gegenseitigen Einverständnis scheiden zu lassen, so müssen sie sich vorher über die wichtigsten Scheidungsfolgen einigen und diese Einigung dem Gericht nachweisen.Durch die Entscheidungskonzentration wird als Ergebnis erreicht, daß die wichtigsten Scheidungsfolgen bereits im Zeitpunkt der Scheidung gerichtlich geklärt sind. Das führt einmal zu einer erstrebenswerten Gesamtbereinigung der Verhältnisse der Ehegatten zueinander. Gleichzeitig werden die Ehegatten bereits während des Scheidungsverfahrens gezwungen, sich mit der vollen Tragweite ihresSchrittes auseinanderzusetzen. Das kann voreiligen Schritten zur Trennung in sinnvoller Weise begegnen. Vor allem aber wird dem Ehegatten, der an der Ehe festhalten möchte, und insbesondere einem sozial schwächeren Partner ein wichtiger Schutz gewährt. Er braucht eine Scheidung so lange nicht hinzunehmen, als nicht die regelungsbedürftigen Scheidungsfolgen gerichtlich geklärt sind.Um den angemessenen Schutz vor allem eines unerfahrenen oder weniger gewandten Partners in der besonderen Situation einer Scheidung ist der Entwurf auch durch verschiedene weitere Einzelmaßnahmen bemüht. Ebenso wie seine materiellen Rechte kann ein Ehegatte die aufgezeigten Vorteile der Entscheidungskonzentration im Scheidungsverfahren nur dann wahrnehmen, wenn er sie kennt. Eine umfassende fachkundige Beratung der Ehegatten über die ihnen zustehenden Rechte und Möglichkeiten ihrer Durchsetzung ist deshalb besonders wichtig. Der Entwurf versucht, sie zunächst dadurch zu erreichen, daß er außer der Scheidungssache über das geltende Recht hinaus auch alle gleichzeitig betriebenen Folgeverfahren dem Anwaltszwang unterstellt. Für den Regelfall kann daher davon ausgegangen werden, daß die Ehegatten umfassend anwaltlich beraten sind.Der Entwurf geht aber noch einen Schritt weiter. Soweit ein Ehegatte die an sich gebotene Einschaltung eines Rechtsanwaltes umgeht, was in der gegenwärtigen Praxis häufig aus vordergründigen Kostenerwägungen geschieht, muß er entweder durch dasGericht beraten werden, oder aber es wird ihm bei besonderer Dringlichkeit ein Rechtsanwalt von Amts wegen beigeordnet. Damit ist sichergestellt, daß jeder Ehegatte auch dann, wenn er von sich aus keinen Rechtsanwalt einschaltet, über die Tragweite der Scheidung und ihrer Folgen sowie über die ihm zustehenden Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt wird. Ob ein Ehegatte nach erfolgter Beratung von seinen Rechten auch tatsächlich Gebrauch macht, indem er insbesondere eine gerichtliche Klärung der ihm günstigen Scheidungsfolgen herbeiführt, soll dagegen wie nach geltendem Recht grundsätzlich der Initiative des Betroffenen überlassen bleiben.Diese Regelung hat zum Teil den Widerspruch des Bundesrats gefunden. In Fällen, in denen es die Ehegatten — aus welchen Motiven auch immer — ablehnen, die besonders wichtige Frage des Kindesunterhalts zur Entscheidung des Gerichts zu stellen, möchte der Bundesrat nicht über eine notfalls erzwungene anwaltliche Beratung auf die Ehegatten einwirken, sondern die Entscheidung über den Kindesunterhalt durch die Einleitung und Abwicklung des Verfahrens auch gegen den Willen der Ehegatten sicherstellen.Die Bundesregierung hat diesem Änderungsvorschlag nicht zugestimmt. Sie hält es für angemessen und ausreichend, daß eine gründliche Beratung jedes Partners durch seinen Rechtsanwalt oder notfalls auch durch das Gericht gewährleistet ist. Den Ehegatten mit der erzwungenen Einleitung des Verfahrens über den Kindesunterhalt gegen ihren Willen einen Rechtsschutz aufzudrängen, den sie trotz Aufklärung über die Tragweite ihres Schrittes — unter Umständen aus berechtigten Gründen — ausdrücklich ablehnen, erscheint zu weitgehend und kann im Einzelfall dem Wohl des Kindes zuwiderlaufen.Bei den Änderungen zum Sozialversicherungsrecht handelt es sich vorwiegend um technische Ergänzungen des Rechtsgebiets. Sie sind Folgeänderungen zu der Grundregelung über den Ausgleich der von den Ehegatten während ihrer Ehe erworbenen Versorgungsanrechte, die in dem Entwurf des Ersten Eherechtsreformgesetzes enthalten ist. Entsprechende Maßnahmen auf dem Gebiet des Beamtenrechts werden Gegenstand eines besonderen Gesetzentwurfs sein.Abgesehen von den erwähnten Meinungsverschiedenheiten hat der Entwurf in allen grundsätzlichen Punkten allgemeine Zustimmung, auch von seiten des Bundesrats, gefunden. Ich bin zuversichtlich, daß die offen und strittig gebliebenen Fragen im Gesetzgebungsverfahren einer befriedigenden Lösung zugeführt werden können.
Das Wort hat der Abgeordnete Erhard .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Minister hat mit Recht auf eine Reihe von
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11161
Erhard
offenen Fragen hingewiesen, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch zu klären sein werden. Es handelt sich um ein ganzes Bündel solcher Fragen, das in der ersten Lesung nicht einmal einigermaßen erschöpfend angesprochen werden kann. Wir befinden uns im übrigen nicht nur heute, sondern mit unseren ganzen Beratungen in diesem Parlament in einem gewissen Zeitzwang, so daß wir uns auch in dieser Debatte auf das Wesentliche zu beschränken versuchen.Wir werden davon ausgehen müssen, daß dieses Gesetz in dieser Legislaturperiode nicht mehr wird verabschiedet werden können. Ich glaube, das ist auch die Überzeugung des Herrn Justizministers und der Regierung. Daß aber der Entwurf vorliegt, ist grundsätzlich gut; wir begrüßen dies. Wir sind froh darüber, daß wir hier zumindest im Entwurf eine Materie zur Beratung vor uns haben, die zusammen mit den Änderungen des Ehescheidungsrechtes — ich will gar nicht von Reformen sprechen — zu der notwendigen Lösung führen muß.Das Wesentliche, für das eine Lösung gefunden werden muß, wollen wir nicht aus dem Auge verlieren: Es sind die Unterhaltsprobleme der geschiedenen Ehefrauen,
deren Lösung nach dem Ersten Gesetz über die Neuregelung des Ehe- und des Scheidungsrechtes nach übereinstimmender Meinung zwingend notwendig erscheint.Wir begrüßen die Grundkonzeption des Entwurfs, soweit sie das Verfahren betrifft, nämlich die Entscheidungskonzentration bei einem Spruchkörper. Ich will bewußt nicht sagen: „bei einem Richter", obwohl das die Konzeption ist. Im Grunde ist diese Konzentration richtig und gut. Das Familiengericht soll durch einen Direktor repräsentiert werden. Eine hochinteressante Figur, wenn man die sonstigen Vorstellungen zur Justizreform, zur Richterbesoldung, zur Stellung der Richter, die von dieser Regierung bisher bekanntgeworden sind, damit in Vergleich setzt!
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lenz?
Herr Kollege Erhard, sehen Sie zwischen dieser Konstruktion und der von den Koalitionsparteien vertretenen Auffassung der Gleichwertigkeit aller Richterämter einen inneren Zusammenhang?
Ich sehe darin den Umstand, daß die rechte Seite nicht weiß, was die linke tut. Das paßt überhaupt nicht zusammen, Herr Kollege Dr. Lenz.
Im übrigen hat, da das Ganze auf die Amtsgerichte verlagert werden soll, vielleicht eine Vorstellung der Justizreform Pate gestanden; das ist aber nicht so ganz sicher.Jedenfalls hat der Bundesrat bei dieser Konstruktion mit Recht verfassungsrechtliche Bedenken in nicht unerheblichem Ausmaß geltend gemacht. Er hat außerdem besoldungsrechtliche — nicht besoldungspolitische — und personalpolitische Bedenken geltend gemacht, die von höchster Bedeutung sind und die wir bei den weiteren Beratungen sehr ernst prüfen und erörtern müssen.Die Konstruktion ist sicher sehr bedenklich. Es ist bedauerlich, wenn gerade vom Justizministerium bezüglich der Justizorganisation und der Zuständigkeiten Vorschläge gemacht werden, denen gleich mehrere verfassungsgerichtliche Entscheidungen entgegengesetzt werden können und müssen, wie es durch den Bundesrat geschehen ist.Wenn diese Konstruktion Gesetz würde, so ist überhaupt nicht zu erkennen, wie man besonders qualifizierte und erfahrene Richter für diese Ämter gewinnen könnte. Denn wenn es sich nur um Einzelrichter handelt, und zwar Direktoren, werden jüngere Richter, die noch nicht Direktoren sind, gar keine Gelegenheit haben, in dem gesamten familienrechtlichen Bereich überhaupt tätig zu werden, weder in der freiwilligen Gerichtsbarkeit noch sonstwo, allenfalls in den Beschwerde- oder Berufungskammern oder -senaten, die dann über Rechtsmittel zu entscheiden haben. Das scheint mir aber nicht die richtige Instanz zu sein, um Erfahrungen zu sammeln; denn die Erfahrung muß in der ersten Instanz mit den dort konkret verhandelnden Parteien entstehen. Das wird absolut nicht gesehen und ist nicht entsprechend geregelt.
Sie meinten, Herr Minister, das Konzentrationsverfahren werde einheitlich durchgeführt. Ich muß leider anmerken, daß die Rechtsmittel nicht einheitlich geregelt sind. Deswegen werden in der zweiten Instanz für die verschiedenen Fragen verschiedene Kammern oder Senate zuständig. Auch das muß anders geregelt werden. Auch in der zweiten Instanz muß das einheitlich sein. Die gesamten Rechtsmittel — sofortige Beschwerden oder einfache Beschwerden — müssen hier einheitlich eingebunden werden. Das Ganze, was hier vorliegt, ist ein Teilversuch; aber er ist leider recht lückenhaft.Die Kostenverteilung ist generell so geregelt, daß beide Parteien die Kosten zu tragen haben. Das erste Reformgesetz geht ja davon aus, daß es ein Verschulden an der Scheidung künftig nicht mehr gibt. Also gibt es auch keine Kostenlast auf Grund der Tatsache, daß man einen Prozeß verliert. Der Prozeß ist nicht mehr wegen Verschuldens zu verlieren. Man wird ihn also mit und ohne Verschulden gewinnen.
Deswegen gibt es also auch diese merkwürdigeKostenregelung, die dazu noch so unübersichtlichgefaßt ist, daß niemand mehr weiß, wen schließlich
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Erhard
die Kostenlast trifft. Genau das führt nicht zur besseren Durchsichtigkeit unserer Justiz und ihrer Verfahren. Es widerspricht allem, was wir für konkrete Rechtssicherheit brauchen, nämlich die Erkennbarkeit des Endes eines Rechtsstreits.Im übrigen ist auch bei der Kostenverteilung keine lückenlose Übereinstimmung mit dem ersten Eherechtsreformgesetz vorhanden. Darauf hat der Bundesrat hingewiesen.Der nächste Gedanke! Einige Streitteile, z. B. das Problem des Kindeswohls, sollten nicht nur von der Verhandlungsmaxime und der Parteimaxime getragen sein, sondern hier muß ein entsprechend stärkeres Element der Amtsmaxime gelten. Wir könnten da an die derzeitige Rechtssituation lückenlos anknüpfen.Dasselbe gilt meines Erachtens für den Versorgungsausgleich. Bei ihm darf es sich nicht einfach nur um ein Vortragselement der Parteien handeln, weil er viel zu kompliziert ist. Hier ist man nach unserer Überzeugung ebenfalls auf die Amtshilfe durch das Gericht angewiesen.Weiterhin möchte ich etwas über die Regelung der Verfahrensbestimmungen über die Zuständigkeit in § 621 a ZPO neuer Fassung bemerken. Diese Regelung bedeutet, daß man viele Verweisungen lesen, viele Bestimmungen mit den jeweiligen Ausnahmen vergleichen muß, um überhaupt zu wissen, welches konkrete Verfahren im Einzelfall gilt. Der Bundesrat hat meines Erachtens mit Recht die Auffassung geäußert, daß eine derartige Regelung über das jeweils geltende Verfahren nicht zu vertreten ist. Es fehlt jegliche Durchsichtigkeit und Klarheit. Das geht nach Auffassung des Bundesrats so weit, daß der zuständige Richter unter Umständen gar nicht weiß, welches Verfahren er anwenden muß. Wenn schon der Richter nicht weiß, welches Verfahren von ihm im Einzelfall anzuwenden ist, wie sollen es dann die Parteien wissen?!Diese Unklarheiten, Kompliziertheiten, Unübersichtlichkeiten finden sich an vielen Stellen des Entwurfs. So wird z. B. auch das Prinzip der Konzentration in zu starkem Maße durchlöchert, Herr Minister, und zwar durch eine Fülle von Generalklauseln. Wer mit der Gerichtspraxis ein wenig Erfahrung hat, weiß, daß Generalklauseln, die nicht auf ein einheitlich durchzuführendes Verfahren abzielen, natürlich in höchstem Maße Veranlassung geben, das Verfahren nicht einheitlich zu betreiben: der schwierigere Teil wird dann zurückgestellt, ausgeklammert usw. Soweit ich feststellen konnte, stehen die Richter der ersten Instanz durchweg auf dem Standpunkt, daß die Konzentration nicht dienlich sei, weil sie nämlich denen, die heute mit dem Verfahren befaßt sind, die Aufgaben auferlegt, die sie nur allzu gerne an die Amtsrichter abgegeben haben, und weil da auch einige Dinge auftauchen, die schwieriger sind als nur die Prüfung der Frage, welches der schuldige Teil ist. Wer diese — durchaus menschliche — Tendenz kennt, der weiß, daß die Durchlöcherung des Konzentrationsprinzips dazu führen wird, daß gerade das Gegenteil einer Konzentration eintritt.Des weiteren möchte ich mich mit einigen Fragen des Versorgungsausgleichs, soweit er seinen Niederschlag im BGB finden soll, beschäftigen. Meines Erachtens sollte man hinsichtlich der materiellen Ansprüche gleichartige Elemente in der Gesetzgebung vorsehen. Bei der vorliegenden Neuregelung sollte man also z. B. das, was hinsichtlich der Zugewinngemeinschaft gilt, nicht unberücksichtigt lassen. Der Stichtag, von dem ab der Zugewinn zu berechnen ist, sollte nicht anders geregelt werden als der für den Ausgleich der Renten usw. Es sollte also ein einheitlicher Stichtag — der wahrscheinlich am richtigsten auf den Zeitpunkt der Erhebung der Scheidungsklage festgesetzt wird — gelten.Wie soll z. B. der von der Bundesregierung ebenfalls vorgeschlagene — nicht in diesem Gesetz — Zuschlag für das Babyjahr in diese Berechnungen einbezogen werden? Meines Erachtens schmeißt er die ganze Vorstellung, die hier entwickelt ist, über den Haufen, weil dabei andere, zusätzliche Elemente berücksichtigt werden, wodurch derjenige, der die entsprechenden Beiträge gezahlt hat, in eine andere Situation kommt. Hier ist nicht zu erkennen, wie eine Regelung im Sinne des Ausgleichs zweier gleichberechtigter, gleichgerichteter Ansprüche erfolgen soll. Das müßte im weiteren Gesetzgebungsverfahren geprüft werden.
— Vielleicht werden wir es erfahren, Herr Minister.Wie sollen die Parteien und die Gerichte gewisse Ansprüche, über die zu befinden ist, überhaupt feststellen? Herr Minister, einige Bestimmungen mußte ich mehrfach lesen, um sie überhaupt dem Wortlaut nach zu verstehen. Offenbar hat aber mein Gehirn nicht ausgereicht, um sie wirklich unterzubringen. Welche Mängel in dieser Beziehung der Gesetzentwurf aufweist, möchte ich Ihnen am Beispiel des Art. 6, der Änderungen des BGB vorsieht, zeigen. Danach soll u. a. eine Regelung, die erst mit dem 1. Eherechtsreformgesetz eingeführt worden ist, wieder geändert werden. In dem Zusammenhang soll in § 1587 b ein Absatz 2 a eingefügt werden. Ich will diese Bestimmung gar nicht vorlesen; sie umfaßt nämlich 21 Zeilen ohne Punkt. Dieser eine Satz ist so kompliziert, daß effektiv niemand erkennen kann, welche Ansprüche sich daraus ergeben. Genau die aber sollen maßgeblich sein für das ganze Problem des Vermögensausgleichs zwischen Ehegatten.Ich glaube, der Bundesrat hat hier einen klugen Vorschlag gemacht. Er hat nämlich gesagt: das ist eine Bestimmung, die ist so miserabel, die ist so unübersichtlich, die ist so kompliziert und so auf eine jährliche Rechtsverordnung des Arbeitsministers abgestellt, daß man sie ersatzlos streichen sollte. Ersatzlose Streichung wäre hier besser als diese Regelung. Herr Minister, das ist eine sehr harte Kritik, die der Bundesrat meines Erachtens mit Recht angebracht hat.
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Herr Minister, sagen Sie mir, sagen Sie uns, sagen Sie der Öffentlichkeit bitte nicht, welche schönen Grundvorstellungen Sie haben — in denen wir wahrscheinlich sogar übereinstimmen —, sondern wie Sie diese — z. B. mit Ihrem § 1587 s — konkret in die Wirklichkeit umsetzen wollen. Wie soll denn ein Notar künftig überhaupt scheidungswillige Eheleute beraten können, ob sie einen Wertausgleich oder den schuldrechtlichen Versorgungsausgleich wählen sollen? Das muß ja beurkundet werden. Wie soll denn das überhaupt möglich sein? Glauben Sie, daß unsere Notare — einmal unterstellt, sie wären dazu gewillt — in der Lage wären, sich zu Spezialberatern im Rentenrecht zu entwicklen? Das ist ausgeschlossen! Es ist Utopie, sich auch nur vorstellen zu wollen, daß das ginge.Sehen Sie, bei den übrigen Vorschlägen in diesem Artikelgesetz, wo es dann nicht mehr nur um die Änderung des bürgerlichen Rechts, der Kostenbestimmungen und des Verfahrensrechts, sondern um die Änderungen der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften geht, genügt eigentlich ein erster Blick auf diesen Entwurf, bei dem man dann seitenlange Absätze und Paragraphen — seitenlang jeder einzelne Paragraph! — liest, um festzustellen, daß hier Regelungen vorgeschlagen werden, zu denen ich einmal — mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß das von mir nur symptomatisch gemeint ist — eine ganz böse Bemerkung machen möchte.
Ich könnte mir denken, daß diese Vorschriften von Leuten hineingenommen worden sind, die den Versorgungsausgleich dadurch torpedieren wollen. So sieht das für mich aus. Bitte, wer das innerhalb der Regierung zu verantworten hat, mag das selber beurteilen. Aber so sieht das aus. Praktikabel ist das nicht.Es wird zu erwägen sein, Herr Minister, wie die Vorlage zu gestalten ist, damit gegenüber dem geltenden Recht keine Verschlechterung — und um solche geht es, wenigstens soweit ich, und nicht nur ich, die Bestimmungen verstehen kann — der Rechtsposition der geschiedenen Frau eintreten, die nicht berufstätig war und unterhaltsberechtigt ist. Andernfalls muß es beim geltenden Recht bleiben. Der Besitzstand sollte auf jeden Fall gewahrt werden, und wir sollten uns sehr, sehr hüten, gerade für die geschiedene unterhaltsberechtigte Frau, die es auch künftig geben wird, Verschlechterungen ihrer Rechtsposition herbeizuführen.
Im ganzen, Herr Minister: Die Grundkonzeption für das Verfahren dürfte nach unserer Auffassung richtig sein. Aber viele Einzelheiten sind alles andere als übernahmefähig, als gesetzgebungsreif. Ich meine, wir werden diese Regelung des Versorgungsausgleichs sehr, sehr sorgfältig prüfen müssen. Sie ist zu kompliziert, sie ist in vielen Bestimmungen zu unübersichtlich und dadurch leider in vielen Bereichen, wenn wir wirklich die Reformbekommen und verabschieden sollten, nicht praktikabel.
Das auszugleichen, wird eine Sysiphusarbeit der beteiligten Ausschüsse, vor allen Dingen des Rechtsausschusses sein, und ich möchte mir beinahe wünschen, wenn das beraten wird, nicht Mitglied des Rechtsausschusses sein zu müssen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schimschock.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Rahmen der ersten Lesung sollen nach der Geschäftsordnung die allgemeinen Grundsätze eines Gesetzes behandelt werden. Im Gegensatz zu Herrn Kollegen Erhard möchte ich mich daran halten.Im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gebe ich die folgende Erklärung ab. Das neue, im ersten Ehereformgesetz geregelte Recht über die Wirkungen der Ehe, der Ehescheidung und der Scheidungsfolgen erfordert zwingend eine Neuordnung des Scheidungsverfahrens. Nach der Zielsetzung des Ersten Eherechtsreformgesetzes soll sichergestellt werden, daß mit dem Ausspruch der Scheidung grundsätzlich die wichtigsten Scheidungsfolgen geregelt werden. Im Interesse der betroffenen Menschen begrüßen wir Sozialdemokraten dieses sehr. Den Ehegatten sollen damit die Konsequenzen der Scheidung frühzeitig bewußt gemacht werden, damit übereilte Schritte vermieden werden.Der Entwurf sieht eine einheitliche Zuständigkeit für Ehesachen und ehebezogene Verfahren vor. Hierbei handelt es sich z. B. um das Sorgerechtsverfahren bei gemeinschaftlichen Kindern, um das Verfahren auf Herausgabe eines Kindes, um die Regelung des Verkehrsrechts, um die Festsetzung des Kindesunterhalts sowie um den Ehegattenunterhalt, um die Durchführung des Versorgungsausgleichs, um die güterrechtliche Auseinandersetzung, um die Regelung der Hausratsangelegenheiten und auch um allgemeine Vermögensstreitigkeiten.Außer der Zusammenfassung der Zuständigkeiten sieht der Entwurf die Bildung von Spezialspruchkörpern für Ehesachen und ehebezogene Verfahren vor und verwirklicht damit in gewissem Sinne den Gedanken eines Familiengerichts. In Übereinstimmung mit den Plänen zur Einführung eines dreistufigen Gerichtsaufbaus soll das Familiengericht als Spezialspruchkörper bei den Amtsgerichten in Form von besonderen Abteilungen für Familiensachen eingerichtet werden und nur mit einem Einzelrichter, dem Familienrichter, besetzt werden. Dieser Richter wird besonders qualifiziert und damit in der Lage sein müssen, der menschlichen Problematik zu begegnen, die mit der Ehescheidung immer verbunden ist. Lebensnähe und Lebenserfahrung werden seine Entscheidung kennzeichnen müssen.
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Frau SchimschokHervorgehoben werden soll hier noch einmal der besonders wichtige Punkt des Entwurfs, nämlich die Sicherstellung der gleichzeitigen Erledigung der Scheidungssachen und der wichtigsten Folgesachen. Dieses wird bei streitiger Scheidung durch sogenannte Entscheidungskonzentration erreicht, d. h. durch die gleichzeitige Verhandlung und Entscheidung der Verfahren. Für die Fälle einer einverständlichen Scheidung wird der Scheidungsanspruch davon abhängig gemacht, daß die Ehegatten über die wichtigsten Scheidungsfolgen eine einverständliche Regelung herbeigeführt haben.Mit den eigentlichen Folgen einer Scheidung, beispielsweise mit denen des Unterhalts, sollen die Beteiligten rechtzeitig konfrontiert werden. Der wirtschaftlich Schwächere und der Scheidung widerstrebende Teil soll in seinen berechtigten Interessen geschützt werden. Im Sorgerechtsverfahren sieht der Entwurf sogar vor, daß das Gericht vorab entscheiden muß, wenn es einem gemeinsamen Vorschlag der Ehegatten nicht folgt. Damit erhalten die Ehegatten Gelegenheit, ihr Prozeßverhalten rechtzeitig umzustellen, wenn diesem z. B. mit einer von ihrem Vorschlag abweichenden Regelung des Sorgerechts durch das Gericht die Grundlage entzogen wird.Besonders begrüßen möchten wir, daß das Familiengericht bei der Entscheidung über die elterliche Gewalt deutlicher als bisher allein auf das Wohl des Kindes abstellt und den Eltern nahelegt, einen Vorschlag zu machen, ihn bei einverständlicher Scheidung nach Jahresfrist sogar fordert. Betont werden soll auch, daß infolge der Aufgabe des Verschuldensprinzips die Einleitung des Scheidungsverfahrens nicht mehr wie bisher durch Klage, sondern durch Antrag geschieht.Um die anwaltliche Beratung der Ehegatten sicherzustellen, ist nicht nur die Einführung des Anwaltzwanges vorgesehen, sondern auch die Möglichkeit, daß das Gericht den Antraggegner auf die Bedeutung der Folgesachen hinzuweisen hat und ihm für die Scheidungssachen und das Sorgerechts-verfahren von Amts wegen einen Rechtsanwalt beiordnet, wenn er nicht von sich aus einen Prozeßbevollmächtigten bestellt. Die Einschaltung eines Rechtsanwalts auch gegen den Willen des Betroffenen für den Fall, daß das Gericht eine anwaltliche Beratung für unabweisbar hält, ist deshalb so wichtig, weil in Scheidungsverfahren für die Ehegatten sehr viel auf dem Spiel steht und man verhindern will, daß einer der Beteiligten übervorteilt wird.Die Ersetzung des Schuldprinzips durch das Zerrüttungsprinzip führt auch zu einer Neugestaltung der Kostenregelung. Auf der Grundlage des Zerrüttungsprinzips gibt es nähmlich kein Unterliegen im eigentlichen Sinne mehr. Auf die Ursachen der Scheidung kommt es nicht mehr an; beide Ehegatten können die Scheidung beantragen. Deshalb sieht der Entwurf vor, die Kosten grundsätzlich gegeneinander aufzuheben, wenn dem Antrag auf Scheidung stattgegeben wird. Allerdings ist auch die Möglichkeit vorgesehen, daß das Gericht die Kosten in der Scheidungssache und in den Folgesachen anderweitig verteilt, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse der Ehegatten dieses angezeigt erscheinen lassen.Besonders zu erwähnen ist auch die im Entwurf enthaltene großzügige Aussetzungsmöglichkeit des Verfahrens durch den Scheidungsrichter. Hiermit ist eine ausführliche Anhörung des der Scheidung widersprechenden Ehegatten gewährleistet und eine Bedenkzeit dort eingeräumt, wo sie erforderlich ist.Zu betonen ist weiterhin, daß einige offene Fragen des Namensrechts jetzt ihre Erledigung finden und darüber hinaus auch in Ausführung des Ersten Eherechtsreformgesetzes zum Versorgungsausgleich, Herr Kollege Erhard, nun die rentenversicherungsrechtlichen Bestimmungen getroffen werden. Eine Verschlechterung der Rechtsposition der geschiedenen Frau, wie sie Herr Kollege Erhard ankündigte, wird auf keinen Fall eintreten. Dafür werden die Sozialdemokraten sorgen. Denn die Sozialdemokraten, Herr Kollege Erhard, haben bisher immer auf der Seite der sozial Schwächeren gestanden. Dies wird auch in diesem Zusammenhang bei der Frau so sein, weil die Frau im Moment noch die sozial Schwächere ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erhard?
Nein, ich möchte zum Schluß kommen. Dies ist eine Erklärung.
— Herr Kollege Erhard, diese Beratungen können im Ausschuß erfolgen.
Ich möchte die mit der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs beauftragten Damen und Herren sehr herzlich bitten, die Arbeit an diesem bedeutungsvollen Gesetz im Zusammenhang mit dem Ersten Eherechtsreformgesetz zügig und effektiv aufzunehmen. Lassen Sie uns bitte nicht vergessen, daß Tausende von Mitbürgern auf die Reform des Eherechts warten.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Diemer-Nicolaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Das Erfreuliche ist wieder einmal voranzustellen. Das Erfreuliche ist, daß die Opposition auch bejaht, daß dieses Gesetz trotz der Ungewißheit beraten wird, ob der Bundestag seine volle Legislaturperiode ausschöpft. Sie wissen, daß wir Freien Demokraten für eine Neuwahl spätestens in diesem Herbst sind.
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Frau Dr. Diemer-Nicolaus— Dann können Sie aber nicht sehr viele Zeitungen gelesen haben!
Es ist gut, daß dieses Gesetz hier vorgelegt wird, auch wenn fraglich ist, wie weit wir es noch werden beraten können.Das andere Erfreuliche ist, daß nicht nur im Plenum, sondern auch im Ausschuß wahrscheinlich eine sehr sachliche Diskussion stattfinden wird, und zwar deshalb, weil Koalition und Opposition in den Grundprinzipien übereinstimmen. Natürlich werden mit diesem Gesetz eine ganze Reihe schwieriger juristischer Fragen aufgeworfen, und in dieser Hinsicht wird teilweise juristisches Neuland beschritten. Das muß man als solches erkennen.Eine der wichtigsten Forderungen von uns allen ist der Grundsatz, daß gleichzeitig mit dem Ausspruch der Scheidung über die Scheidungsfolgen mit entschieden werden soll. Aber bereits da gibt es natürlich schon einige Differenzen, und zwar insofern, als die Eherechtskommission, der ich angehöre, in mancher Hinsicht etwas andere Vorstellungen hat als die Regierung. Sie hat die Regelungen der Scheidungsfolgen bei der Konzentrationsmaxime, die auch sie vertritt, begrenzt: 1. auf die einverständliche Scheidung, 2. auf die Fälle, in denen es sich um die Regelung des Sorgerechts und Rechtes zum Verkehr mit den Kindern handelt. Sie hat aber die Unterhaltsfrage nicht mit einbezogen, während die Eherechtskommission mit Mehrheit der Auffassung war, daß bei allen Scheidungen, auch bei den nicht einverständlichen, nach Möglichkeit alle Scheidungsfolgen mit geregelt werden sollen. Nur bei der Vermögensauseinandersetzung hat sie dies offengelassen, weil eine Vermögensauseinandersetzung manchmal ein langwieriger und nicht so schnell zu realisierender Vorgang ist. Ich bitte, bei den Beratungen im Ausschuß auch die Berichte der Eherechtskommission heranzuziehen.Das gilt auch für eine andere wichtige Frage. Wir sind uns grundsätzlich einig, daß Familiengerichte gebildet werden sollen. Aber wie soll die Zuständigkeit der Familiengerichte sein? Und wo soll das Familiengericht sein, soll es beim Landgericht oder soll es beim Amtsgericht sein? Ich habe durchaus Verständnis dafür, daß die Regierung die Vorschläge zu diesem Verfahrensgesetz angepaßt hat erstens ihren Vorstellungen zum Justizreformgesetz und zweitens auch ihren Vorstellungen zu dem Gesetz zur Änderung des Revisionsrechtes, über das wir kürzlich hier diskutiert haben. Nach meiner Meinung sollte die Entscheidung darüber aber nicht jetzt in diesem Verfahrensgesetz im Zusammenhang mit der Scheidungsreform fallen, sondern diese grundlegende Entscheidung muß bei den entsprechenden grundlegenden Gesetzen fallen. Wir müssen also im Zusammenhang mit dem ersten Justizreformgesetz darüber entscheiden, ob der Instanzenzug drei- oder vierstufig sein soll. Dementsprechend stellt sich nachher natürlich wieder neu die Frage: Wo soll das Familiengericht sein? In der Eherechtskommission war ich bei der Mehrheit, diedafür war, daß das Familiengericht nicht beim Amtsgericht ist, sondern daß die Kammer beim Landgericht entscheiden soll.
— Ich war für die Zuständigkeit der Kammer und bin auch jetzt dafür. Das möchte ich Ihnen in aller Offenheit sagen. In der letzten Nummer der monatlichen Beilage „Zeitschrift für Rechtspolitik" der „Neuen Juristischen Wochenschrift" habe ich mit Interesse die Ausführungen von Herrn Bender über die Rechtstatsachenforschung hinsichtlich der Prozeßdauer bei den Kammern und beim Einzelrichter beim Amtsgericht gelesen. Aber diese Fragen gehören in das erste Justizreformgesetz, und dieses Verfahrensgesetz zur Scheidungsreform muß sich nachher den anderen Entscheidungen anlehnen.Das gilt auch für die so wichtige Frage der Rechtsmittel. Wie wir feststellen müssen, werden nach der Konzentration der verschiedenen Verfahren nun in einem weiteren Umfang als bisher Rechtsmittel gegeben, und zwar auch die Revision zum Bundesgerichtshof. Man muß sich wieder überlegen, wieweit das Verfahren, wie es jetzt vorgezeichnet ist, mit dem Bestreben harmonisiert, den Bundesgerichtshof mehr zu entlasten. Es gibt also Zusammenhänge zwischen diesem Gesetz und einem anderen grundlegenden Gesetz in unserem Rechtswesen, nämlich dem zur Reform des Revisionsrechts,Sehr begrüße ich natürlich, daß entsprechend den Vorschlägen der Eherechtskommission der Anwaltszwang in einem weiteren Umfang eingeführt wird. Wir haben uns in der Eherechtskommission auch dafür ausgesprochen, daß, wenn kein Anwalt bestellt wird, gegebenenfalls von Amts wegen ein Anwalt beigeordnet werden soll. Das bringt natürlich erhebliche juristische Probleme mit sich, über die im Ausschuß diskutiert werden muß. Es geht dabei auch um die Frage, wer nachher den Anwalt bezahlt. Der Anwalt sollte immer ein Anwalt des Vertrauens sein. Auch die Frage, ob dann der Anwalt gewechselt werden kann, gehört zu den Problemen, die der Ausschuß nach meiner Auffassung noch eingehend behandeln muß.Noch ein Wort zum Sorgerecht. Ich bin der Meinung — vorhin wurde das Wohl des Kindes angesprochen —, daß das Wohl des Kindes immer, sowohl im Verfahren als auch im materiellen Recht, dem Elternrecht vorgehen muß. Deswegen ist z. B. die Eherechtskommission hinsichtlich der Frage, wann ein Kind vom Gericht gehört werden soll, wenn darüber entschieden wird, bei welchem Elternteil es verbleiben soll, weiter gegangen als der Regierungsentwurf. Wir haben in der Eherechtskommission bestimmte Altersgrenzen genannt, von denen an das Kind immer gehört werden sollte. Dagegen ist es nach dem Regierungsentwurf vor allem in das Ermessen des Richters gestellt, ob er ein Kind hört oder nicht. Bei einem zwei- oder gar einjährigen Kind spielt diese Frage natürlich keine große Rolle. Aber soll man Kinder, die herangewachsen sind, Kinder im Alter von 10, 12, 14 oder 16 Jahren, gegen ihren Willen einem anderen Elternteil zu-
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Frau Dr. Diemer-Nicolaussprechen? Die Entscheidung darüber muß sich doch immer nach dem Wohl des Kindes richten.Eine andere Frage betrifft den Versorgungsausgleich. Wir Freien Demokraten haben uns immer besonders dafür eingesetzt, daß das Problem der Versorgung nach einer Scheidung besser gelöst wird als bisher. Wir begrüßen deshalb den Versorgungsausgleich. Wir begrüßen ferner, daß dieses wichtige sozialversicherungsrechtliche Problem sowohl im materiellen Ehescheidungsrecht als auch im Verfahrensrecht angesprochen ist. Herr Kollege Erhard, wenn man die Paragraphen liest, in denen es um sozialversicherungsrechtliche Fragen geht, fällt es einem immer außerordentlich schwer, diese zu verstehen.
Das hängt wahrscheinlich mit der Materie zusammen. Aufgabe des Ausschusses wird es sein zu prüfen, ob eine andere Fassung erstellt werden kann, die leichter verständlich ist.
— Herr Anwaltskollege Erhard, es kommt natürlich noch hinzu, daß sich jetzt die Anwälte und Notare in stärkerem Umfang mit Sozialversicherungsrecht vertraut machen müssen, als sie es bisher tun mußten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Kalinke?
Ja, gern, Frau Kalinke.
Frau Kollegin, würden Sie mir darin zustimmen, daß es nicht nur, so wichtig das auch ist, auf die Verständlichkeit sowohl für die Betroffenen — was an erster Stelle stehen müßte — als auch für die Rechtsanwälte, sondern vor allem auch auf die wirklichen Leistungen ankommt, die sich aus dem Rentensplitting im Versorgungsausgleich ergäben, und haben sich Ihre Freunde, die das so glühend verteidigen, schon einmal vorrechnen lassen, was in einem Scheidungsfall in der Regel herauskommt? Mir scheint — es wäre nützlich, wenn Sie dazu etwas sagen könnten —, daß das die Ausgangsbasis für eine bessere Versorgungsleistung ist.
Ich sehe das in den Vorschlägen noch nicht.
Frau Kollegin Kalinke, bei mir stoßen Sie damit offene Türen ein; das möchte ich Ihnen gleich sagen. Dennoch sollte man sich Mühe geben, die gewollte materielle Lösung bewußt, soweit das überhaupt möglich ist, in einer verständlichen Sprache darzustellen.
Wir haben uns in der Eherechtskommission vom Arbeits- und Sozialministerium eingehende Berechnungen zu verschiedenen Lösungsvorschlägen geben
lassen. Ich hoffe — das gehört allerdings nicht zum Verfahrensrecht —, daß im Zusammenhang mit dem Versorgungsausgleich nach dem Regierungsentwurf auch diejenigen Vorschläge mitbehandelt werden, die die Eherechtskommission gemacht hat. Es sind Übergangsregelungen. Das Endziel muß eine wirklich eigenständige Versorgung aller Frauen sein. Für dieses Fernziel werden wir uns immer einsetzen.
Herr Minister, ich möchte Ihnen dafür danken, daß dieser Regierungsentwurf uns heute hier vorgelegt wurde. Auch wenn wir ihn nicht zu Ende beraten können, ist es auf Grund dieses Regierungsentwurfs einem neuen Bundestag nachher um so leichter, diese so wichtigen Probleme sehr schnell wieder aufzugreifen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lenz .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur eine kurze Bemerkung zu der Kritik, die hier geübt worden ist, die allgemeinen Grundsätze der Geschäftsordnung seien angeblich nicht eingehalten worden. Erstens glaube ich, daß die weitere Aussprache die absolute Unerläßlichkeit erwiesen hat, hier in Einzelheiten des Gesetzes einzusteigen.
Zweitens möchte ich bemerken, daß es wohl nicht der Sinn der Geschäftsordnung sein kann, dem Plenum des Deutschen Bundestages die Kritik vorzuenthalten, die im Bundesrat an einem Gesetzentwurf geübt worden ist.
Wird das Wort noch begehrt? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Entwurf an den Rechtsausschuß — federführend sowie an die Ausschüsse für Jugend, Familie und Gesundheit und für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend zu überweisen. — Das Haus ist damit einverstanden; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts
— Drucksache VI/3478 —
Zur Begründung Herr Bundesminister Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vor. Dieser Entwurf ist einerseits ein wichtiges Teilstück des Schwerpunktprogramms der Bundesregierung zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung. Zugleich wird jedoch mit ihm ein Teilbereich der Ju-
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Bundesminister Jahnstizreform in Angriff genommen, nämlich die umfassende Reform des Strafverfahrensrechts. Deren Dringlichkeit hat dieses Hohe Haus bereits bei der dritten Lesung des Strafprozeßänderungsgesetzes 1964 am 24. Juni 1964 mit breiter Mehrheit betont.Die weitgespannten Vorarbeiten und Überlegungen, die für eine Gesamtreform des Strafverfahrensrechts unerläßlich sind, machten es unmöglich, schon in der Legislaturperiode den geschlossenen Entwurf einer neuen Strafprozeßordnung vorzulegen. Andererseits müssen wichtige rechtspolitische Vorhaben auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts schnell verwirklicht werden. Deshalb soll die Gesamtreform in einer Reihe aufeinander folgender Reformgesetze verwirklicht werden.Wichtigste Ziele dieses ersten Reformgesetzes, das gemeinschaftlich mit den Landesjustizverwaltungen bereits seit Frühjahr 1970 erarbeitet worden ist, sind die Beschleunigung und die Straffung des Verfahrens. Für die in dieser Form neuartige und besonders förderliche Bereitschaft der Landesjustizverwaltungen zur engen Zusammenarbeit danke ich an dieser Stelle besonders.Der Zeitpunkt des Beginns der Vorarbeiten und das Verfahren machen zugleich deutlich, welche besondere Bedeutung die Bundesregierung dieser Aufgabe von Anbeginn ihrer Arbeit an beigemessen hat. Mit seinen beiden Zielen wird den beiden einander häufig entgegenstehenden Aufgaben eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gedient, einerseits den Unschuldigen zu schützen und die Rechte des Beschuldigten zu wahren und andererseits ein wirksames Instrument zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu sein und damit dazu beizutragen, den inneren Frieden zu sichern.An einer Beschleunigung des Strafverfahrens muß abgesehen davon, daß sie auch dem wohlverstandenen Interesse des Beschuldigten dient, in erster Linie der Rechtsgemeinschaft gelegen sein. Durch sie wird ein wirksamerer und besserer Schutz der Allgemeinheit vor dem Verbrechen gewährleistet. Je schneller Strafverfahren beendet werden, desto weniger Straftaten werden begangen werden. Ihre rasche Ahndung erhöht die Abschreckungswirkung der Strafandrohung, die Wiederholungsgefahr wird verringert und die Chance der Resozialisierung vergrößert.Allerdings kann nicht Beschleunigung um jeden Preis das Ziel des Entwurfs sein. Es muß gesichert bleiben, daß ein gerechtes und der materiellen Wahrheit möglichst nahekommendes Urteil gesprochen wird. Der Verbesserung der Verbrechensbekämpfung würde es nicht dienen, wenn mit der Beschleunigung von Verfahren die Gefahr von Fehlurteilen steigen würde. Nur der Schuldige, dieser allerdings möglichst schnell, ist einer gerechten Strafe zuzuführen.Einige der wichtigsten Vorschläge des Entwurfs zur Beschleunigung des Verfahrens und zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung seien in ihren Grundzügen dargestellt. Sie beruhen auf mehreren Überlegungen. Die Wirksamkeit des Ermittlungsverfahrens muß stärker werden. In allen Verfahrensabschnitten ist überflüssiger Leerlauf zu vermeiden. Besonders gefährliche Formen des Verbrechens wie Wirtschaftskriminalität und Betäubungsmittelkriminalität bedürfen besonderer, auch strafverfahrensrechtlicher Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung und schließlich ist die Arbeitskraft von Strafverfolgungsbehörden und Gerichten auf die wichtigeren Aufgaben zu konzentrieren.Die Zuständigkeitsverteilung des geltenden Rechts zwischen Richter und Staatsanwalt im Ermittlungsverfahren bis zur Erhebung der Anklage wird den Bedürfnissen der Gegenwart insbesondere bei den großen Verfahren der Wirtschaftskriminalität, nicht mehr gerecht. Sie ist auch zum Schutze des Staatsbürgers nicht geboten. Schon nach geltendem Recht hat die Staatsanwaltschaft einen umfassenden Ermittlungsauftrag. Sie hat objektiv den Sachverhalt aufzuklären und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob gegen den Beschuldigten ein so hinreichender Tatverdacht besteht, daß Anklage zu erheben ist. Ihr fehlen aber für die Durchführung dieses Auftrages oft die entsprechenden Zwangsbefugnisse. Da Beschuldigte nicht zum Erscheinen, Zeugen und Sachverständige nicht zur Aussage vor der Staatsanwaltschaft verpflichtet sind, ist diese oft gerade in schwierigen Fällen genötigt, entweder eine gerichtliche Voruntersuchung zu beantragen oder den Ermittlungsrichter einzuschalten. Durch dieses Nebeneinander wird ein wirksamer Zugriff und eine rasche Durchführung des Ermittlungsverfahrens erschwert und die Qualität der Ermittlungen gefährdet.Der Entwurf stellt deshalb der Staatsanwaltschaft unter umfassender richterlicher Kontrolle die Zwangsbefugnisse zur Verfügung, die sie zur sachgerechten Durchführung des Ermittlungsverfahrens benötigt. Zeugen und Sachverständige sollen zum Erscheinen und zur wahrheitsgemäßen Aussage auch vor dem Staatsanwalt verpflichtet sein. Dies kann er mit Zwangsmitteln durchsetzen, gegen deren Anordnung der Richter angerufen werden kann. Die Anordnung freiheitsentziehender Maßnahmen bleibt in jedem Fall dem Richter vorbehalten. Auch für den Beschuldigten wird eine Erscheinenspflicht vor dem Staatsanwalt begründet, die allerdings sein fundamentales Recht zu schweigen ebensowenig berührt wie die jetzige Verpflichtung des Beschuldigten, vor dem Richter erscheinen zu müssen. Zusätzliche neue Kompetenzen für die Staatsanwaltschaft vervollständigen ihre für die umfassende Erfüllung ihres Auftrages erforderlichen Ermittlungsmöglichkeiten, wobei die Rechte des Betroffenen durch die jederzeit mögliche Anrufung des Richters stets gewahrt bleiben.Diese Neuregelungen im Ermittlungsverfahren machen es möglich, die gerichtliche Voruntersuchung abzuschaffen. Nach den Erfahrungen der Praxis hat sie, wo sie stattfand, die Verfahren erheblich verzögert, ohne bessere Aufklärungsmöglichkeiten zu geben oder den Beschuldigten besser zu schützen. Ihre Häufigkeit ist im Laufe der Zeit stark zurückgegangen. In das Richterbild des Grundgesetzes läßt sich das Amt des Untersuchungsrichters, bei dem richterliche und ermittelnde Tätigkeit miteinander vermengt werden, nur schwer einfügen.
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Bundesminister JahnDie richterliche Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren ordnet der Entwurf für die Fälle der überörtlichen Kriminalität neu. Während nach geltendem Recht für Beschlagnahme- und Durchsuchungsanordnungen in verschiedenen Gerichtsbezirken eine Vielzahl von Amtsrichtern zuständig ist, soll nach dem Vorschlag des Entwurfs ausschließlich der Amtsrichter am Sitz der Staatsanwaltschaft zuständig sein, wenn Ermittlungshandlungen in mehreren Amtsgerichtsbezirken erforderlich werden. Damit wird besonders die Bekämpfung der oft überörtlich auftretenden Wirtschafts- und Betäubungsmittelkriminalität gerade im ersten Zugriff erheblich erleichtert werden.Nach geltendem Recht hat die Staatsanwaltschaft vor Erhebung der Anklage dem Beschuldigten eine Schlußanhörung anzubieten und gegebenenfalls förmliches Schlußgehör zu gewähren. Zweck dieses durch das Strafprozeßänderungsgesetz 1964 geschaffenen Rechtsinstituts war es, Anklagen zu verhindern, die nicht zur Eröffnung des Hauptverfahrens oder — im Hauptverfahren — nicht zur Verurteilung führen. Dieses Ziel ist, wie inzwischen für die Mehrzahl aller Fallgruppen feststeht, nicht erreicht worden. Von der Schlußanhörung wird kaum Gebrauch gemacht; der Anteil der Verfahren, in denen sie die Erhebung der Anklage verhindert hat, ist ihrer geringen Zahl wegen kaum meßbar. Andererseits werden hierdurch alle Verfahren regelmäßig um mehrere Wochen verzögert, nicht selten um mehrere Monate. Nach dem Entwurf soll das Schlußgehör dort beseitigt werden, I wo der Mißerfolg durch Erfahrung der Praxis belegbar ist. Lediglich dort, wo zur Zeit die gerichtliche Voruntersuchung noch eine gewisse Bedeutung hat, soll es beibehalten werden; denn hier kann nicht ausgeschlossen werden, daß mit dem Wegfall der Voruntersuchung ein Bedürfnis für Schlußanhörung und Schlußgehör entstehen könnte. Der Entwurf will das Ziel, die Erhebung ungerechtfertigter Anklagen zu verhindern, auf weniger verzögerliche Weise so erreichen. Er sieht eine Erweiterung der Belehrungspflichten gegenüber dem Beschuldigten und eine Vorverlegung des Zeitpunktes vor, in dem dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt werden muß.Zur Zeit wird die wirksame Verfolgung gerade gewichtiger Straftaten auch dadurch behindert, daß die zahlreichen Fälle der kleinen Kriminalität die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte dazu zwingen, ihre Arbeitskraft zu verzetteln. Dabei hat sich schon jetzt die Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld als ein wirkungsvolles Mittel erwiesen, die Arbeitskraft den wirklich bedeutsamen Verfahren vorzubehalten. Der Entwurf erweitert die Einstellungsmöglichkeiten, indem er die Möglichkeit schafft, bei geringer Schuld Verfahren mit Zustimmung des Beschuldigten nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen — z. B. der Wiedergutmachung des Schadens, der Erfüllung von Unterhaltspflichten, der Zahlung von Geldbußen zugunsten eines gemeinnützigen Zweckes — einzustellen, um auch diejenigen kleineren Verfahren rationell zu erledigen, bei denen der Beschuldigte nicht ohne Denkzettel bleiben darf.Besonders bedrohlich ist in der letzten Zeit die Betäubungsmittelkriminalität angestiegen. Dieser neue und besonders gefährliche Bereich der Kriminalität erfordert auch neue und ungewohnte Mittel zu seiner wirksamen Bekämpfung. Nachdem schon die Neufassung des Betäubungsmittelgesetzes verschärfte Strafvorschriften gebracht hat, werden nunmehr die erforderlichen strafverfahrensrechtlichen Maßnahmen vorgeschlagen. Bei besonders schweren Taten dieser Art soll der Fernmeldeverkehr überwacht werden können. In Schlupfwinkeln des Rauschgifthandels werden Hausdurchsuchungen auch zur Nachtzeit möglich sein. Bei leichteren Taten soll von der Verfolgung abgesehen werden können, wenn der Beschuldigte zur Aufdeckung schwerer Betäubungsmitteldelikte beigetragen hat.Auch zur Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens enthält der Entwurf wichtige Vorschläge. Die verfahrensverzögernden Auswirkungen der Nebenklage werden weitgehend beseitigt. Die Höchstfrist für die Unterbrechung einer Hauptverhandlung wird für besonders umfangreiche Verfahren verlängert, damit überflüssige Wiederholungen derartiger Verfahren vermieden werden können. Für die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe sollen neue, zwingende Fristen eingeführt werden, damit der — wie aus statistischen Untersuchungen erkennbar — besonders große Mißstand auf diesem Gebiet beseitigt wird.Insgesamt werden die auf Beschleunigung und Straffung gerichteten Vorschläge des Entwurfs einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung liefern. Mit ihnen muß aber das Bemühen verbunden sein, durch eine großzügigere sachliche und personelle Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte auch die organisatorischen Voraussetzungen für einen beschleunigten Verfahrensabschluß zu schaffen. Das Schwerpunktprogramm der Bundesregierung zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung berücksichtigt diese Notwendigkeit für den Bereich des Bundes. Ich bin sicher, daß auch die Länder in ihrem Bereich das Erforderliche veranlassen werden.Der Erfolg dieser wie auch anderer Reformarbeiten wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die Stellung, die Ausbildung und die Fortbildung der Richter und Staatsanwälte mit den ständig steigenden Anforderungen in Einklang zu bringen. Einige Schritte hierzu sind bereits getan. So ermöglicht das im vergangenen Jahr von diesem Hohen Haus verabschiedete Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes eine exemplarisch vertiefte Ausbildung in den Kernbereichen der Rechtswissenschaft unter Einbeziehung der für die Rechtsprechung relevanten Sozialwissenschaften. Die Fortbildung, die immer mehr an Bedeutung gewinnt, wird durch die Ende dieses Jahres zu erwartende Fertigstellung der Deutschen Richterakademie wesentlich intensiviert werden können.In diesem Zusammenhang muß ich darauf hinweisen, daß die Stellung des Richters und des Staatsanwalts in unserer Gesellschaft der Bedeutung entsprechen muß, die das Grundgesetz der Dritten Gewalt zuweist. Hier sehe ich noch eine bedeutsame
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Bundesminister JahnAufgabe für uns alle, zu der ich das Hohe Haus nachdrücklich um seine Unterstützung bitte. Es geht nicht nur darum, ungerechte und einseitige Urteile über unsere Richter, die ihre schwere Aufgabe in der Regel vorbildlich erfüllen, abzuwehren. Das Vertrauen, das unsere Richter im Volke benötigen, sollen sie im Namen des Volkes Recht sprechen, muß sich auch im Parlament widerspiegeln und hier seinen Ausdruck finden. Qualifizierte Juristen in hinreichender Zahl für das Amt des Richters und des Staatsanwalts werden sich nur dann finden, wenn wir unseren Richtern den Rang in der Gesellschaft einräumen, der der Bedeutung ihres Auftrages gerecht wird. Dies wird auch zu bedenken sein, wenn in Kürze über die bereits in der Regierungserklärung im Jahre 1969 geforderte angemessene Besoldung der Richter und Staatsanwälte zu entscheiden sein wird. Auf die Dauer geht es nicht an, lediglich Forderungen an die Justiz zu stellen, darüber aber zu vergessen, daß sie nur so gut sein kann wie die Menschen, die sie mit Leben zu erfüllen und ihr zu dienen haben.Das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts beschränkt sich jedoch nicht darauf, Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens vorzusehen. Zwar sind diese Maßnahmen besonders dringlich. Aber auch darüber hinaus sind einige Reformmaßnahmen in der Strafprozeßordnung vorrangig. Hierzu gehört in erster Linie das Recht der Wiederaufnahme des Verfahrens; seine Reformbedürftigkeit ist seit langem nahezu unbestritten.Zwar kann der Entwurf eine umfassende Reformdes Wiederaufnahmerechts noch nicht verwirklichen, denn sie kann nicht losgelöst von der Reform der Rechtsmittel und des erstinstanzlichen Hauptverfahrens vorgenommen werden. Aber gerade deshalb ist es erforderlich, in abgrenzbaren Teilbereichen, insbesondere bei den mehr verfahrensrechtlichen Vorschriften, gesetzgeberische Vorwegmaßnahmen zu treffen. Dabei nimmt sich der Entwurf neben einigen anderen Änderungen insbesondere der Stellung desjenigen an, der sich das Material für einen erfolgreichen Wiederaufnahmeantrag erst beschaffen muß, weil dessen Rechtsposition vom geltenden Recht besonders schwach ausgestaltet ist. Der Entwurf sieht vor, daß der mittellose Verurteilte schon zur Vorbereitung eines aussichtsreichen Wiederaufnahmegesuchs einen Pflichtverteidiger erhalten kann, der ihn bei der Beschaffung des Materials unterstützt und sachgerecht darüber berät, ob dieses Material die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags überhaupt rechtfertigt. Ferner soll die Staatsanwaltschaft verpflichtet werden, den Verurteilten bei der Materialsammlung dadurch zu unterstützen, daß sie diejenigen aussichtsreichen Ermittlungen anstellt, die dem Verurteilten oder seinem Verteidiger nicht selbst zuzumuten sind.Mit seinen Vorschlägen im Bereich der Strafgerichtsverfassung will der Entwurf ebenfalls der Beschleunigung dienen, ferner Verwaltungsvereinfachungen ermöglichen und schließlich veränderten soziologischen Verhältnissen Rechnung tragen.Das Schwurgericht soll in einen ständig tagenden Spruchkörper des Landgerichts umgewandelt wer-den, da sich seine Organisation als periodisch tagender Spruchkörper nicht bewährt, sondern zu mannigfachen Verzögerungen und Schwierigkeiten geführt hat. Die Besetzung des Schwurgerichts soll durch eine Herabsetzung der Zahl der ehrenamtlichen Richter so geändert werden, daß dem Gedanken der gemeinsamen Willensbildung von Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern in der Schuld- und Straffrage voll Rechnung getragen wird.Bei der Änderung der Vorschriften über Auswahl und Bestellung der Schöffen wird der Erkenntnis Rechnung getragen, daß bei ihnen zur Zeit kein hinreichender Wechsel stattfindet und daß die Bevölkerung an der Strafrechtspflege nicht gleichmäßig mitwirkt. Deshalb sollen die ehrenamtlichen Richter künftig nicht länger als sechs Jahre ununterbrochen in der Strafrechtspflege tätig sein. Bei ihrer Auswahl sollen alle Gruppen der Bevölkerung angemessen berücksichtigt werden.
Der Ihnen vorliegende Entwurf kann nicht alle Probleme anfassen, die im Strafverfahrensrecht gelöst werden müssen. Wichtige Fragen, die bereits bei den Beratungen des Strafprozeßänderungsgesetzes 1964 eine große Rolle gespielt haben, müssen auch in diesem Entwurf zurückgestellt werden, damit die Verwirklichung der besonders vordringlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung jetzt in dieser Legislaturperiode ermöglicht wird.Das bedeutet nicht, daß die anderen Probleme auf die lange Bank geschoben werden. Im Bundesministerium der Justiz haben die Vorarbeiten für weitere Gesetze zur Reform des Strafverfahrensrechts bereits begonnen. Diese Gesetze werden unter anderem die notwendigen Verbesserungen des Hauptverfahrens im ersten Rechtszug und die seit langem als dringlich empfundene Reform des Rechtsmittelsystems in Strafsachen enthalten. Mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts wird der erste Schritt auf einem Weg getan, an dessen Ende ein neues Strafverfahrensrecht aus einem freiheitlichen Geist entstehen soll, das zugleich geeignet ist, als wirksames Mittel der Verbrechensbekämpfung dem Schutz unserer Bürger zu dienen und den Freiheitsraum des einzelnen Bürgers zu sichern.
Das Wort hat der Abgeordnete Kunz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Namens der Fraktion der CDU/ CSU möchte ich eine Erklärung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts abgeben. Es kann nicht Sinn dieser Erklärung sein, auf die vielen Bestimmungen, die in diesem Entwurf enthalten sind, einzugehen. Ich will nur auf einige Grundkonturen zu sprechen kommen.Es unterliegt keinerlei Zweifel, daß wir die Hauptforderung, das Strafverfahren zu straffen und zu beschleunigen, nachhaltig begrüßen. Dies ist ja ins-
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Kunzbesondere eine sehr alte Forderung von uns; sie gehört für uns zu dem Paket der inneren Sicherheit.
Es wird zu prüfen sein, ob die Vorschläge, die diesbezüglich gemacht worden sind, vollauf geeignet sind, diese Tendenz zu verwirklichen. Ich meine, daß man in der Frage der Abgrenzung der Gerichte gegenüber den Staatsanwaltschaften sicherlich schon straffere Konsequenzen aus dem bisherigen Verfahrensrecht ziehen muß. Es erscheint mir deshalb richtig, daß erstrebt wird, der Staatsanwaltschaft auch die Sanktionsmaßnahmen zu geben, die sie braucht, um ihrer umfassenden Aufklärungs- und Ermittlungspflicht gerecht zu werden. Ob in diesem Zusammenhang die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung ohne weiteres so vor sich gehen kann, wird zu prüfen sein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß nicht zuletzt ein bestimmtes psychologisches Gewicht für den Beschuldigten, das hinter dieser Voruntersuchung steht, von Bedeutung sein kann.Ich komme nun auf die Einzelheiten zu sprechen. Auch in bin der Meinung, daß es wichtig erscheint, Zeuge und Sachverständigen mit einer Erscheinungs-und Aussagepflicht zu belasten. Es ist auch richtig, daß der Beschuldigte vor der Staatsanwaltschaft erscheinen soll. Eine Reihe von weiteren Fragen wird im Ausschuß noch zu klären sein.Herr Bundesjustizminister, in diesem Zusammenhang haben wir nun ja oft die Ehre, von Ihnen Begründungen der Art zu hören, daß man wieder einmal einen alten Zopf abschneiden müsse. Diesmal wird offensichtlich ein recht junger Zopf — wenn man überhaupt von einem Zopf reden kann — abgeschnitten. Es handelt sich um das Schlußgehör und die Schlußanhörung, die ja, glaube ich, gerade von Ihnen im Dezember 1964 sehr nachdrücklich vertreten wurden.
Nun, ich erinnere mich nicht an alles; ich war auch nicht dabei. Was ich nachgelesen habe, hat meine besondere nachdrückliche Unterstützung des jetzigen Herrn Bundesjustizministers ausgewiesen. Ich glaube, es ist sicher richtig, das Schlußgehör, die Schlußanhörung abzuschaffen; denn in der Praxis hat sich dies in der Tat nur in einem bewährt, nämlich in der Tendenz, das Verfahren recht lange zu verzögern. Eine irgendwie verfahrensbeschleunigende Wirkung kann sicherlich nur dadurch erreicht werden, daß man das Schlußgehör abschafft, und zwar möglichst konsequent.Was nun die sonstigen Punkte betrifft, insbesondere die Vorschläge zur Neuregelung der Einstellungsmöglichkeiten im Bereich der Kleinkriminalität, so scheint mir auch hier tendenziell eine Notwendigkeit vorzuliegen. Die Einzelheiten, nicht zuletzt auch auf Grund von Vorschlägen des Bundesrats, werden überprüft werden müssen.Herr Bundesjustizminister, Sie haben in diesen Entwurf einige Dinge eingearbeitet, deren Eignung,verfahrensbeschleunigend zu wirken, mir mehr als fraglich erscheint. Sicherlich ist es gut gemeint, wenn der Richter Abreden mit Sachverständigen darüber verbindlich treffen kann, bis wann ein Gutachten erstattet werden soll. Ob aber angesichts der Knappheit der Sachverständigen und angesichts des Umstands, daß diese ihre Tätigkeit zumeist nebenamtlich durchführen, dies in der Praxis überhaupt durchführbar ist, muß leider mehr als bezweifelt werden.Mir scheint noch kurz die Frage der Frist angesprochen werden zu müssen, weil es um die Beschleunigung als Oberbegriff geht. Ob die vorgeschlagene Regelung im Hinblick auf die Frist, die zwischen der Verkündung und der Absetzung von Urteilen vergehen kann, mit maximal fünf Wochen richtig bemessen ist, um zu beschleunigen, muß sehr dahingestellt werden. Ich fürchte, daß nunmehr auch bei Sachen, die durchaus kurzfristig abgesetzt werden könnten, von dieser Frist bis zu fünf Wochen Gebrauch gemacht werden könnte.Dann haben Sie sich bemüht, das Schwurgericht zu reformieren. Ich würde eigentlich meinen, daß von dem, was man Schwurgericht nennt, auf Grund dieser Vorschläge nicht mehr als der Name übrigbleibt.
Sollte allerdings doch ein bißchen mehr übrigbleiben, wäre das auf Grund der Ausarbeitungen, die wir hier vorliegen haben, geradezu eine sensationelle Überraschung.In diesem Zusammenhang wird auch zu ergründen sein, Herr Minister, was diese — wohlwollend ausgedrückt — sehr hochtrabende Formulierung „bei der Auswahl der Schöffen eine engere Verknüpfung der Bevölkerung mit der Strafrechtspflege angestrebt und soziologischen Veränderungen Rechnung getragen werden soll" überhaupt zum Inhalt hat.
— Ja eben. Es scheint mir eine Formulierung zu sein, deren Substanz erst noch ergründet werden muß.Nun noch einige abschließende Bemerkungen. Ich hebe nachdrücklich hervor, daß die einzelnen Landesjustizverwaltungen diesem Entwurf nicht nur eine große Unterstützung zuteil werden ließen, sondern ihn schlechterdings erst ermöglicht haben. Man muß sogar davon sprechen, daß dieser Entwurf quasi als Dokument Ihres Hauses hingestellt wurde, obwohl die Hauptarbeit woanders geleistet wurde. Ich glaube trotzdem, es ist notwendig — gerade weil die Tendenz zur Beschleunigung sehr zu begrüßen ist —, daß wir diesen Entwurf sehr zügig beraten. Wir müssen die Beratungen unmittelbar nach den Sommerferien wieder aufnehmen können und, um als Maßnahme der inneren Sicherheit wirklich eine Beschleunigung der Strafverfahren zu erzielen, zu einer Verabschiedung gelangen können.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dürr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich hätte die Aussprache über das 1. Strafverfahrensreformgesetz in die vorige Woche, also in zeitlichen Zusammenhang mit der Erörterung von Fragen der inneren Sicherheit gehört, weil zwischen innerer Sicherheit und diesem Gesetzentwurf ein sachlicher Zusammenhang besteht. Die Beschleunigung des Strafverfahrens, die Erhöhung seiner Effektivität sind kriminalpolitisch wirksame Maßnahmen. Ich wage sogar zu behaupten: die Verwirklichung der in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen trägt mehr zur Verbrechensbekämpfung bei als jede nur _denkbare Reform des Haftrechts.
Gestrafft und beschleunigt werden soll nach diesem Gesetzentwurf — und das begrüßen wir — insbesondere das Ermittlungsverfahren. Es hat nicht nur in einem bekannten Fall in München Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Befugnisse von Polizei und Staatsanwaltschaft gegeben. Das Problem ist außerordentlich vielschichtig und kann hier nicht in den Einzelheiten erörtert werden. Die Staatsanwälte haben sich mit Recht dagegen gewehrt, daß sie in die Rolle bloßer Aktenaufbereiter für die Gerichte abgedrängt zu werden schienen. Dieser Entwurf gibt die Cahnce, daß Staatsanwaltschaften und Kriminalpolizei sich auf die Ermittlungstätigkeit konzentrieren und dabei frühzeitig engen Kontakt halten. Die Gerichte erfahren, etwa durch die Abschaffung der Voruntersuchung, eine Entlastung und können sich mehr auf ihre eigentliche Aufgabe der Wahrheitsfindung konzentrieren. Die Staatsanwaltschaften müssen — und darauf wirken die Vorschläge in diesem Entwurf hin — noch mehr moderne und rationell arbeitende Behörden werden.Diese Reform muß im Zusammenhang mit der Verbesserung der personellen und sachlichen Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften gesehen werden, im Zusammenhang mit der Stellung, Ausbildung und Fortbildung der Richter und Staatsanwälte. Wir Sozialdemokraten sind dem Bundesjustizminister für seine Ausführungen zu diesem Komplex besonders dankbar.Von den zahlreichen Maßnahmen zur Beschleunigung und Straffung des Verfahrens will ich nur wenige erwähnen.Mit der Einschränkung des Schlußgehörs wird dieses Hohe Haus eine Regelung nachbessern, die 1964 geschaffen wurde. Mit der Regelung von 1964 hat der damalige Bundestag juristisches Neuland betreten. Er hat nicht hundertprozentig sicher voraussagen können, ob sich diese Regelung bewähren würde. Deshalb ist die Kritik, die Kollege Kunz ein wenig in der Attitüde des Bakkalaureus im „Faust II" vorgetragen hat, vielleicht doch ein bißchen zu pauschal gewesen und wird der Arbeit des Bundestages von 1964 nicht gerecht.Wichtig für die Praxis ist auch die Beschleunigung von Sachverständigengutachten. Es kommt doch gelegentlich vor, daß sich der Sachverständige mit dem Richter durchaus sehr frühzeitig in Verbindung setzt, aber insbesondere deshalb, um zu vereinbaren, daß seine Leistung nur mit den höchsten Sätzen der Gebührenordnung abgegolten wer- den könne. Bei diesem Gespräch stellt er vage einen Ablieferungstermin für das Gutachten in Aussicht, und dann wartet das Gericht geduldig und oft sehr lange. Meine Damen und Herren, dieses Problem muß im Strafprozeß wie im Zivilprozeß von uns auf die Hörner genommen und im Ausschuß eingehend beraten und einer Lösung zugeführt werden.Das Bemühen um Erhöhung der Effektivität des Strafverfahrens hat auch zur Folge, daß eine begrüßenswerte Maßnahme zur Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität in den Entwurf aufgenommen worden ist. Es ist doch ein Unding, daß bisher die Möglichkeit besteht, etwa bei Ermittlungen gegen Falschmünzer Telefongespräche abzuhören, nicht aber bei Ermittlungen gegen den größten Opiumgroßhändler. Diese Möglichkeit muß schleunigst, wie das hier vorgesehen ist, eröffnet werden.
Die Einstellung des Verfahrens unter Auflagen, die bisher gelegentlich ein Dasein am Rande der Legalität fristete, muß in eine rechtsstaatlich tragbare Form gebracht werden. Auch das sieht der Entwurf vor.Die Beschleunigung, die mit der Verwirklichung der Vorschläge in diesem Entwurf bezweckt wird, darf und wird aber nicht eine Schnellbleiche auf Kosten der Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit sein. Das zeigt insbesondere das, was in diesem Entwurf an Vorschlägen zur Verbesserung des Wiederaufnahmeverfahrens enthalten ist. Sie kennen die Fälle von Rohrbach über Lettenbauer bis Hetzel. Viele von Ihnen kennen die hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten von Peters zu diesem Problem. Es wird mit dieser Verbesserung des Wiederaufnahmeverfahrens ein Anliegen vieler jetziger und auch früherer Mitglieder dieses Hohen Hauses endlich einer Verwirklichung nähergeführt.Praktisch wichtig — und zwar auch für den kleinen Mann — ist die Verbesserung der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumnis. Wir kennen doch die Fälle, in denen sich Leute überlegten: Darf ich meinen wohlverdienten. Erholungsurlaub antreten, kann ich auf Geschäftsreise gehen, und dies nur, weil ich mich vor kurzem einmal im Straßenverkehr nicht ganz richtig benommen habe und Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren geworden bin? Die Probleme kennen wir; sie sollten einer praktikablen Lösung näher-gebracht werden.Dringend nötig ist auch die Änderung der Höchstfrist für die Unterbrechung langdauernder Strafverfahren. Wer das nicht glaubt, möge sich nur einmal mit einem hauptamtlichen oder ehrenamtlichen Richter, der im Contergan-Prozeß tätig gewesen ist, unterhalten.
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11172 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
DürrMeine Damen und Herren, weder vom Justizminister noch vom Rechtsausschuß wurden Gesetzentwürfe und ihre Beratungen im Ausschuß je als Staatsgeheimnis betrachtet. Im Gegeiteil, wir waren und sind für Mitarbeit aus Wissenschaft und Praxis dankbar, und wir werden im Rechtsausschuß auch entsprechende Einwände zu prüfen haben. Ernsthaft zu prüfen haben werden wir etwa den Einwand, man müsse sich überlegen, ob man Zeugenaussagen vor dem Statasanwalt eidesstattlich versichern lassen solle, weil dann die Gefahr bestehe, daß jemand, der vor dem Staatsanwalt ausgesagt und die Richtigkeit seiner Aussage eidesstattlich versichert hat, auf dieser Aussage vor Gericht auch dann bestehen würde, wenn eine Änderung seiner Aussage der Wahrheit näherkäme.Diese und andere Fragen werden wir im Rechtsausschuß zu erörtern haben. An uns werden allerdings auch Wünsche herangetragen werden, in denen es heißt: Wenn in diesem Entwurf schon so viele Einzelpunkte enthalten sind, dann, lieber Rechtsausschuß, behandle bitte auch noch mein strafprozessuales Steckenpferd, über das ich schon so viele Aufsätze in Fachzeitschriften geschrieben habe. Ich sage, weil das sicher auf uns zukommen wird, heute mit aller Deutlichkeit: sämtlichen dieser Wünsche werden wir nicht willfahren können.
Dieser Gesetzentwurf ist, auch wenn es die Opposition nicht gern hört, ein wichtiger weiterer Schritt auf dem Wege zu inneren Reformen, gegen dessen Inhalt die Opposition — man hat es an der Rede des Herrn Kollegen Kunz bemerkt — eigentlich nichts Nennenswertes vorzubringen hatte.
Und das spricht für das Bundesjustizministerium.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Justizminister, ich bin der Auffassung, daß dieser Entwurf, dieses Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts eine ausgezeichnete Leistung des Justizministeriums und der gesamten Regierung ist. Das möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen.
Ich habe die Begründung gelesen und ich habe mich darüber gefreut, wie außerordentlich sorgfältig und abgewogen die einzelnen Probleme behandelt werden. Das knüpft natürlich — Sie hatten selbst in Ihrer Rede darauf hingewiesen — an Arbeiten im Rechtsausschuß in der dritten und vierten Legislaturperiode an. Wir waren damals alle überzeugt, daß ein grundlegendes Überdenken und Überarbeiten unseres Strafverfahrens im Sinne des Grundgesetzes unbedingt notwendig ist. Ich habe immer bedauert, daß dies so außerordentlich lang gedauert hat. Im Zusammenhang mit der sogenannten kleinen Strafprozeßnovelle haben wir seinerzeit im Bundestag eine Entschließung gefaßt — soweit ich mich erinnere, einmütig —, in der gefordert wurde, eine große Strafverfahrenskommission einzusetzen, die aber dann nicht eingesetzt worden ist.
Mit Interesse habe ich gelesen, wie Sie bei Ihren Vorarbeiten — meiner Auffassung nach zu Recht — auch sofort die Länder mit herangezogen, also eine gemeinsame Kommission zwischen Bund und Ländern gebildet haben. Ich halte das für gut; aber dennoch hat mich folgendes dabei gestört. In der Begründung ist angeführt, das sowohl die Rechtsanwälte, die einen Strafrechtsausschuß bei der Bundesrechtsanwaltkammer haben, als auch die Richter manches gesagt haben, was bei dieser Kommission auf guten Boden gefallen ist.
Ich würde es aber begrüßen, Herr Justizminister, wenn Richter und Rechtsanwälte, die aus der Praxis kommen, bei der Vorbereitung eines derartigen Gesetzes in den entsprechenden Gremien nicht nur gehört werden, sondern in gleich verantwortlicher Weise in diesen Gremien mitarbeiten könnten. Ich glaube, das entspräche der Arbeit dieser Organisationen sowohl von der Seite der Bundesrechtsanwaltskammer als auch von der Seite der Richter.
Nun zu dem Gesetz selbst. Sie wissen, daß ich für die gesamte Fraktion der Freien Demokraten — und zwar immer im Zusammenhang mit der Verschärfung des Haftrechts — immer darauf hingewiesen habe, daß eine ganz wesentliche Einschränkung der Serienkriminalität zu erwarten ist, wenn das Verfahren wirklich beschleunigt wird, in einer abgewogenen Weise. Die Forderung, der Rechtssicherheit auf der einen Seite und der Unschuldsvermutung des Beschuldigten auf der anderen Seite Rechnung zu tragen, ist in diesem Entwurf gut gelöst.
Jetzt dürfen Sie eine Zwischenfrage stellen. — Bitte schön!
Gnädige Frau, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Beschleunigung des Strafverfahrens von allen Seiten dieses Hauses — ohne jede Ausnahme von rechts und links — während der ganzen Diskussion über die Verbrechensbekämpfung als ein wertvoller Beitrag dazu betrachtet worden ist?
Ja, Herr Kollege, das gebe ich Ihnen ohne weiteres zu. Aber Sie wissen, daß über die Frage, wann bei Serienkriminalität eine Untersuchungshaft verhängt werden kann, doch noch unterschiedliche Auffassungen bestehen und daß wir immer die Beschleunigung des Verfahrens als ein besonders wirksames Mittel in den Vordergrund gestellt haben, während andere glauben, mit einer schärferen Fassung der Untersuchungshaft diesem Problem eher begegnen zu können.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dürr.
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Frau Kollegin, teilen Sie meine Ansicht, daß die Opposition die Tatsache, daß auch sie die Beschleunigung des Verfahrens für besonders wichtig hält, dadurch mit dokumentieren könnte, daß sie über diese Frage in der Öffentlichkeit wenigstens halb so viel redet wie über die Probleme des Haftrechts, über das sie so viel redet, daß man meint, sie halte es für ein Allheilmittel?
Das ist leider so.
Noch eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Lenz.
Wären Sie bereit, verehrte Frau Kollegin, dem Herrn Kollegen Dürr diejenigen meiner öffentlichen Äußerungen zuzustellen, in denen die Gleichrangigkeit dieser Probleme behandelt worden ist?
Herr Dürr hat Ihnen unmittelbar geantwortet. Insofern brauche ich hier wohl keine Zwischenfunktion zu übernehmen.Auch in den Ausführungen des Kollegen Kunz kam erfreulicherweise zum Ausdruck, wie groß die Übereinstimmung aller Fraktionen in bezug auf diese Regierungsvorlage ist. Ich kann in vollem Umfang das unterstützen, was der Herr Bundesjustizminister und Herr Kollege Dürr bezüglich dieses Gesetzes gesagt haben.Vielleicht ergibt sich bei den Beratungen im Ausschuß, daß in der einen oder anderen Frage die Möglichkeit besteht, noch etwas mehr zu regeln, als es in diesem Entwurf geschehen ist. Als Beispiel darf ich das Problem der Aussageverweigerung herausgreifen, auf das bereits hingewiesen wurde. Wenn ich dem Staatsanwalt eine stärkere Position im Ermittlungsverfahren gebe — wir stimmen diesem Gedanken grundsätzlich zu —, muß natürlich eine erweiterte Belehrungspflicht bezüglich des Aussageverweigerungsrechts vorgesehen werden, Mit dem Aussageverweigerungsrecht hängt gegebenenfalls das Zeugnisverweigerungsrecht sehr eng zusammen. Daß das Zeugnisverweigerungsrecht als solches reformbedürftig ist, ist allgemein bekannt. Ich brauche nur auf die unterschiedliche Regelung des Zeugnisverweigerungsrechts der Presse in den verschiedenen Ländergesetzen hinzuweisen. In diesem Zusammenhang sollte man überlegen, ob man vielleicht nicht noch etwas weitergehen kann.Die grundsätzliche Frage ist natürlich die nach dem Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Richter. Ich halte es für zweckmäßig, daß die Staatsanwaltschaft Beschuldigte und Zeugen hören kann. Ich halte es aber für äußerst problematisch, wenn gegebenenfalls eine Beeidigung ins Auge gefaßt werden sollte. Die Frage, inwieweit die Eidesleistung in dem bisherigen Umfang richtig ist undaufrechterhalten werden soll, inwieweit sie eingeschränkt werden soll, inwieweit vielleicht überhaupt auf eine Eidesleistung verzichtet werden kann und sollte, ist seit Jahren in der juristischen Diskussion.Ich persönlich bin der Auffassung — das ist eine ganz grundsätzliche Frage —, daß, wenn überhaupt beeidigt wird, diese Beeidigung nur in der Hauptverhandlung geschehen sollte. Die Gefahren, die mit einer anderen Regelung der Eidesleistung verbunden sind, hat Herr Kollege Dürr bereits aufgezeigt.Von Ihnen, Herr Kollege Kunz, wurde das Schlußgehör angesprochen. Damals, in der 4. Legislaturperiode, wurde eine ganze Reihe Vorschläge gemacht. Dies kam mehr im Ausschuß als nachher in den Protokollen der Plenarsitzungen zum Ausdruck. Die Vorschläge bezogen sich auf die Frage, wie man einen Beschuldigten — er hat die Unschuldsvermutung für sich — vor der Anklage schützen könnte, die schon immer ein schwerer Eingriff ist. Der Grundgeganke war, daß man ihn nicht unnnötig mit einer Anklageerhebung ins Licht der Öffentlichkeit bringt. Ich erinnere mich noch sehr genau an das, was der leider verstorbene Kollege Dahs damals sagte, als er als Sachverständiger gehört wurde. Herr Kollege Dahs hat genau das vorausgesagt, was jetzt eingetreten ist. Er meinte damals: Das Schlußgehör ist schön und gut, aber ich werde als Verteidiger davon wahrscheinlich so wenig wie möglich Gebrauch machen. Ich bin nämlich nicht daran interessiert, das, was ich in der Hauptverhandlung an Verteidigungsmitteln habe, vorher auf den Tisch zu legen. — Genauso ist es nachher gelaufen.Gerade in einer sich so schnell verändernden Zeit sollte man, wenn man sieht, daß sich etwas nicht verwirklichen läßt oder wenn eine Reform sich nicht bewährt hat, bereit sein, davon abzugehen und die Reform zu beseitigen.Die Tatsache, daß sich unsere Zeiten so sehr ändern, wirkt sich gerade bei diesen Tatbeständen und bei den Verfahren, die mit dem Strafverfahren im Zusammenhang stehen, aus. Es hat sich gezeigt, daß sich die Kriminalität bei uns verändert hat. Als seinerzeit die Strafprozeßordnung geschaffen wurde, konnte niemand die Wirtschaftskriminalität voraussehen, mit der wir uns heute zu befassen haben. Damit hängt ganz eng zusammen, daß wir jetzt zu anderen Verfahrens- und Zuständigkeitsregelungen kommen müssen. Angesichts der weiten Beweglichkeit gerade bei der Wirtschaftskriminalität, aber auch bei anderen Delikten, und da Reisen so selbstverständlich ist, müssen wir zu der jetzt vorgeschlagenen Regelung kommen, daß nicht verschiedene Amtsgerichte angeschrieben werden müssen, sondern daß gegebenenfalls von einem Amtsgericht aus zentral die Ermittlungen geführt und entsprechende Anordnungen getroffen werden können. Das zeigt, wie alles im Fluß ist. Dem wird hier Rechnung getragen. Das Ermittlungsverfahren wird dadurch wesentlich beschleunigt.
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11174 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Frau Dr. Diemer-NicolausIch begrüße es auch, daß das Problem der kleineren Kriminalität angepackt wird. Wenn man unseren Rechtsstaat mit Fragezeichen versieht, wird gerne behauptet, die Aufklärungsquote vermindere sich von Jahr zu Jahr. Das wird pauschal gesagt, und es wird nicht unterschieden, wie sich die Kriminalität zusammensetzt. Die Aufklärungsquote bei der Schwerkriminalität ist außerordentlich hoch. Bei Warenhausdiebstählen, bei Diebstählen aus Autos, bei dieser kleineren Kriminalität ist sie natürlich gering. Durch die unzureichende Aufklärungsquote auf diesen Gebieten, die vielfach auch durch die Art der Tat bedingt ist, wird die gesamte Aufklärungsquote natürlich herabgedrückt. Deswegen finde ich es richtig, daß man die Gerichte von der Verfolgung dieser kleineren Kriminalität zu entlasten versucht, wenn diese Fälle auch durch Auflagen und Weisungen im Sinne des öffentlichen Interesses ordnungsgemäß erledigt werden können.Ich halte es für sehr gut, daß auch die Frage angeschnitten ist, wie Kinder vernommen werden sollen, wer gegebenenfalls einer Aussage des Kindes zustimmen kann und daß eventuell auch die Eltern davon ausgeschlossen werden. Dieses Problem hat uns im Sonderausschuß im Zusammenhang mit dem Vierten Strafrechtsänderungsgesetz befaßt. Es sind richtig auch Konsequenzen für die Durchführung der gerichtlichen Verfahren gezogen worden.Wer hat auch nur vor 50 Jahren voraussehen können, daß wir Strafverfahren bekommen, die sich über Monate und Monate hinziehen? Wenn die Fristen für die Unterbrechung jetzt anders geregelt werden, stehen die Gerichte nicht mehr unter dem Zeitdruck, unter dem sie zur Zeit stehen.Ich begrüße es auch — das sage ich in aller Offenheit daß versucht wird, durch eine strenge Fristenregel eine frühere Absetzung der Strafurteile zu erreichen.Sodann wird einer weiteren Forderung der Freien Demokraten Rechnung getragen, die ich schon wiederholt für meine Fraktion hier vorgetragen habe: das Wiederaufnahmeverfahren soll reformiert werden. Es wird ein guter Anfang gesetzt. Der Herr Bundesjustizminister hat von sich aus darauf hingewiesen, daß das noch nicht die endgültig befriedigende Lösung ist. Die Regelung, die hier vorgeschlagen wird, ist rechtsstaatlich.Der Entwurf enthält noch eine ganze Reihe von Bestimmungen, die im Ausschuß erörtert werden müssen.Ich darf mit dem schließen, was schon meine Vorredner gesagt haben. Ich begrüße es besonders, wenn die Richterakademie jetzt in der Weise, wie ich es mir früher vorgestellt hatte, tatsächlich in der Lage ist, unseren Richtern und Staatsanwälten zusätzliche Kenntnisse zu geben, die sie während ihrer Ausbildung und während ihres Berufes nicht erhalten können.Ich habe mich vor allem darüber gefreut, daß der Herr Bundesjustizminister und auch meine Vorredner auf die Bedeutung des Richters in unserer Gesellschaft hingewiesen haben. Es muß alles getan werden, daß wir solche Persönlichkeiten gewinnen,die das Vertrauen der Bevölkerung haben. Das dient auch der Anerkennung der richterlichen Entscheidungen. Die eigenständige Richterbesoldung ist notwendig.Ich darf mir noch ein allerletztes Wort gestatten. Ich begrüße vor allen Dingen auch, daß die Schwurgerichte in der bisherigen Form nicht weiter bestehenbleiben. Ich habe 1948 in Bayern, wo man das alte Schwurgericht wiedereingeführt hatte, verteidigt. Obwohl ich damals mit meiner Mandantin gut abgeschnitten habe, empfand ich Schwurgerichte seit dieser Zeit als sehr fragwürdig.
Das Wort wird nicht mehr begehrt. Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Rechtsausschuß — federführend — und an den Innenausschuß — mitberatend —. Wer damit einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Es ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, der Punkt 4 erfordert eine etwas längere Aussprache, weil Änderungsanträge vorliegen. Ich schlage vor, daß wir ihn jetzt übergehen und heute nachmittag um 15 Uhr aufrufen, daß wir aber die übrigen Punkte, die voraussichtlich keine Debatte erfordern, noch erledigen.Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 6. Oktober 1971 zur Errichtung des Internationalen Instituts für Führungsaufgaben in der Technik— Drucksache VI/3236 —a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache VI/3485 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. von Bülowb) Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache VI/3341 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Dr. Walz
Wünschen die Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird nicht begehrt.Ich rufe Art. 1, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Damit verbinden wir die Schlußabstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11175
Vizepräsident Frau FunckeDritten Gesetzes zur Änderung des Textilkennzeichnungsgesetzes— Drucksache VI/3344 —Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache VI/3488 Berichterstatter: Abgeordneter Lenders
Zur Berichterstattung und zur Aussprache in zweiter Lesung wird das Wort nicht gewünscht.Ich rufe Art. 1, 2, 3, 4 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist so beschlossen.Ich rufe diedritte Beratungauf. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe Punkt 7 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Niederlassungsvertrag vom 23. April 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat— Drucksache VI/2122 —Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache VI/3489 —Berichterstatter: Abgeordneter Scheu
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich rufe die Art. 1, 2, 3 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Damit verbinden wir die Schlußabstimmung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. August 1971 über die Internationale Fernmeldesatellitenorganisation „INTELSAT"— Drucksache VI/3451 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an den Auswärtigen Ausschuß — federführend — sowie an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen — mitberatend — zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 9 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. März 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Island zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache VI/3452 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an den Finanzausschuß zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 10 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des Zollgesetzes— Drucksache VI/3464 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an den Finanzausschuß zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 11 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesreisekostengesetzes und des Bundesumzugskostengesetzes— Drucksache VI/3420 —Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf an den Innenausschuß und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischbeschaugesetzes— Drucksache VI/3449 —Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend — sowie an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — mitberatend —. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Den Punkt 19 wollen wir im Augenblick übergehen.Ich rufe Punkt 21 auf:Beratung des Antrags des Bundesministersfür Wirtschaft und Finanzen betr. Entlastungder Bundesregierung wegen der Haushalts-
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11176 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Vizepräsident Frau Funckeund Vermögensrechnung des Bundes für das Haushaltsjahr 1970
— Drucksache VI/3347 —Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Ich höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe die Punkte 22 bis 25 der Tagesordnung auf:22. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für eineRichtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Gewichte von 1 mg bis 50 kg von höheren Genauigkeitsklassen als der mittleren GenauigkeitVerordnung des Rates über das Verfahren betreffend die Änderung und Aussetzung der Zollsätze für landwirtschaftliche Erzeugnisse, die unter eine gemeinsame Marktorganisation fallen— Drucksachen VI/3038, VI/3153, VI/3419 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Unland23. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für eineRichtlinie des Rates über die Annahme gemeinsamer Grundsätze auf dem Gebiet der Kostensteigerungsgarantie bei Ausfuhrgeschäften mit dritten LändernRichtlinie des Rates über die Einführung gemeinsamer Grundsätze für die Wechselkurssicherung bei Ausfuhrgeschäften mit dritten Ländern— Drucksachen V1/2551, V1/3494 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Frerichs24. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der EG-Kommission für eineRichtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Abfüllung in Volumen bestimmter Flüssigkeiten in FertigpackungenRichtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Flaschen als MaßbehältnisseVerordnung des Rates zur Aufnahmeweiterer Waren in die im Anhang I der Verordnung Nr. 1025/70 des Rates zurFestlegung einer gemeinsamen Regelung für die Einfuhr aus dritten Ländern aufgeführte ListeVerordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2794/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 über die Eröffnung, Aufteilung und Verwaltung von Gemeinschaftszollkontingenten betreffend bestimmte Waren mit Ursprung in Entwicklungsländern— Drucksachen VI/3273, VI/3275, VI/3404, VI/3491 Berichterstatter: Abgeordneter Wolfram25. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission der EG für eine Richtlinie des Rates zur Einführung einer gemeinsamen Kreditversicherungspolice für öffentlichen Käufern aus dritten Ländern gewährte mittel- und langfristige Finanzkredite— Drucksachen VI/3121, VI/3493 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. FrerichsWünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist ebenfalls nicht der Fall. Ist das Haus damit einverstanden, daß wir der Einfachheit halber über die Punkte gemeinsam abstimmen? — Das ist der Fall.Wir kommen zur Abstimmung über die Ausschußanträge auf den Drucksachen VI/3419, VI/3494, VI/3491 und VI/3493. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Sie sind einstimmig angenommen.Ich rufe die Punkte 26 und 27 der Tagesordnung auf:26. Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung erlassene Verordnung zur Änderung des Deutschen Teil-Zolltarifs (Nr. 5/72 — Besondere Zollsätze gegenüber Marokko)— Drucksachen VI/3244, VI/3492 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sprung27. Beratung des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung erlassene Vierundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur AußenwirtschaftsVerordnung — Drucksachen VI/3278, VI/3496 —Berichterstatter: Abgeordneter WolframEs handelt sich um Berichte, von denen das Haus nur Kenntnis zu nehmen braucht, wenn nicht Anträge aus der Mitte des Hauses gestellt werden. — Das ist nicht der Fall. Wir haben die Berichte somit zur Kenntnis genommen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11177
Vizepräsident Frau FunckeDamit, meine Damen und Herren, ist die heutige Tagesordnung mit Ausnahme der Punkte 4, 19 und 20 sowie des Zusatzpunktes erledigt. Wir können in die Mittagspause eintreten.Ich unterbreche die Sitzung bis zur Fragestunde um 14 Uhr.
Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren in der unterbrochenen Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache VI/3495 —
Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Städtebau und Wohnungswesen. Ich rufe zunächst die Frage 1 des Abgeordneten Geisenhofer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Zweiten Wohngeldgesetzes für Haushalte mit mehr als acht Familienmitgliedern zwar viele Härten gemildert oder ausgeglichen wurden, daß aber nach wie vor zum Teil erhebliche Schlechterstellungen gegenüber den Leistungen nach dem Wohngeldgesetz in der Fassung vom 1. April 1965 bestehen?
Herr Kollege, es ist der Bundesregierung bekannt, daß es auch nach Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohngeldgesetzes noch Antragsteller gegeben hat, die trotz einer gerechteren Zuordnung der Wohngeldbeträge zu den einzelnen Einkommensstufen weniger Wohngeld als nach dem Ersten Wohngeldgesetz erhielten.
Wie Ihnen bekannt ist, sind die Wohngeldtabellen in den Anlagen 1 bis 8 zum Zweiten Wohngeldgesetz nach einheitlichen Grundsätzen entwickelt worden. Hierbei war im Interesse eines möglichst einfachen Verwaltungsvollzugs ein EDV-gerechtes Wohngeldberechnungssystems anzustreben, das gerade von den Ländern und Kommunen immer wieder gefordert worden war. Die Berechnungsgrundsätze selbst basieren weitgehend auf den Grundgedanken, die bereits im Wohngeldgesetz von 1965 verwirklicht worden waren; jedoch mußten im Zweiten Wohngeldgesetz gewisse Mängel und ausgesprochene Übertreibungen des bis dahin geltenden Rechts beseitigt und gleichzeitig gezielte Verbesserungen in bestimmten Bereichen des Systems eingeführt werden.
Bei einer möglichst harmonischen Abstimmung der einzelnen Wohngeldbeträge untereinander nach Einkommenshöhe, Wohnkosten und Zahl der Familienmitglieder sowie durch den Zwang, ein praktikables, automatisierungsfähiges Formelsystem verwenden zu müssen, war und ist es unvermeidlich, daß in speziellen Grenzfällen der frühere Wohngeldbetrag nicht erreicht wird. Die volle Wahrung des Besitzstandes dieser letzten verbliebenen Einzelfälle würde zwangsläufig zu einer nicht gerechtfertigten übermäßigen Begünstigung aller übrigen Wohngeldempfänger mit neun und mehr Familienmitgliedern führen.
Unserem Ministerium liegen 150 -Vergleichsberechnungen für Großfamilien des Landes Bayern vor. Bei der Beurteilung der Ergebnisse ist zu beachten, daß die Auswirkungen der Wohngeldtabelle in Anlage 8 von den Auswirkungen der vom Gesetzgeber in anderen Vorschriften des Gesetzes vorgenommenen Änderungen — z. B. Streichung der Kumulierung der besonderen Freibeträge — deutlich zu trennen sind. Nur dann läßt sich ein zutreffendes Urteil über das Tabellenwerk finden.
Nach einer Überprüfung der Berechnungen an Hand der oben genannten Kriterien ergibt sich, daß von den 1513 Haushalten mit neun und mehr Familienmitgliedern, die am 1. Januar 1972 in Bayern Wohngeldberechtigt waren, nur 13 Fälle durch die oben erwähnten Besonderheiten des Wohngeldbemessungsverfahrens ein monatliches Wohngeld erhielten, das um mehr als 20 DM niedriger war als das vorher gewährte. Bei näherer Untersuchung stellte sich außerdem heraus, daß von diesen 13 Fällen fünf Haushalte einen Anspruch auf Sozialhilfe haben dürften, bei deren Inanspruchnahme die nicht gedeckte Miete voll erstattet werden kann. Die restlichen sieben Haushalte hatten nachweislich Jahreseinnahmen — unter vorherigem Abzug der Werbungskosten —, die zwischen 30 000 und 40 000 DM lagen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Geisenhofer.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen von einer Übertreibung. Würden Sie die Besitzstandswahrung oder die Erhöhung des Wohngeldes für Familien mit acht und mehr Kindern als Übertreibung bezeichnen? Können Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, daß die Vorbereitungen zum Zweiten Wohngeldgesetz in Ihrem Ministerium doch sehr unzureichend waren, zumal immer wieder auf Fragen hin von Ihrem Ministerium behauptet wurde, daß die Großfamilie abgesichert sei, was jetzt doch nicht der Fall ist?
Herr Kollege Geisenhofer, das waren zwei Fragen. Ich will sie gerne beantworten.Erstens. Sie wissen, daß alle Berechnungen der Wohngeldtabelle für die Großfamilien gemeinsam mit den Ländern und durch gemeinsame Hochrechnung über die EDV-Anlagen und Proberechnungen angestellt worden sind und daß nach dem damaligen Stand der Erkenntnisse aus diesen Berechnungen heraus davon ausgegangen werden mußte, daß es keine Verschlechterungen gibt. Hier ist also sehr sorgfältig gerechnet worden. In der Praxis hat sich nachher gezeigt, daß in ein paar Grenzfällen Verängerungen eingetreten sind.Zur zweiten Frage. Ich halte eine Besitzstandswahrung sicherlich nicht für eine Übertreibung, aber ich halte es z. B. für eine Übertreibung — das hat auch der gesamte Ausschuß und der Deutsche Bundestag einstimmig für eine Übertreibung gehalten —, eine Reihe von Freibeträgen kumulativ zusammenzu-
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11178 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Ravensrechnen, um damit dann zu Einkommen zu kommen, die unter Umständen bei Null liegen. Sie kennen den berühmten Fall des tuberkulosekranken Bergmanns aus Oberschlesien.
Frage 2 des Abgeordneten Geisenhofer:
Ist die Bundesregierung bereit, im Wege einer Änderung des Zweiten Wohngeldgesetzes die noch bestehenden Härten zu beseitigen und zu diesem Zweck das Tabellenwerk der Anlagen 1 bis 8 des Gesetzes einer umfassenden Uberprüfung zu unterziehen?
Die Bundesregierung sieht aus dem Ergebnis der mitgeteilten Überprüfungen, Herr Kollege, noch keinen ausreichenden Anlaß, den Entwurf eines weiteren Änderungsgesetzes vorzulegen.
Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Frage 3 des Abgeordneten Dr. Fuchs:
Trifft die Aussage des Deutschen Lehrerverbandes zu, daß etwa zehn bis fünfzehn Prozent der Schüler lernbehindert oder verhaltensgestört sind, davon zwei Prozent aller Schüler körperlich oder geistig schwer behindert, und welche Folgerungen zieht die Bundesregierung gegebenenfalls aus dieser Tatsache?
Herr Kollege Dr. Fuchs, nach der bundeseinheitlichen Schulstatistik besuchten im Jahre 1968 259 502 oder 2,5 % behinderte, bildungsgefährdete bzw. schwer erziehbare Kinder und Jugendliche Sonderschulen oder Sonderschulklassen. Davon waren 33 306, d. h. rund 0,3 %, zu den Schwerbehinderten zu zählen. Eine im Jahre 1971 im Auftrage des Deutschen Bildungsrats von Alfred Sander erstellte statistische Erfassung von Behinderten in der Bundesrepublik Deutschland gelangt nach Auswertung von insgesamt 17 von einzelnen Ländern, Verbänden und Einzelautoren zwischen den Jahren 1961 bis 1971 durchgeführten Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß mit 2,5% lernbehinderten, 2,2 % schwerbehinderten und 0,9 % verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen gerechnet werden müsse.
Die Differenz zu den Zahlen des Deutschen Lehrerverbandes ist vermutlich auf den wissenschaftlich noch nicht abgegrenzten und voll überschaubaren Begriffsumfang für Formen von Verhaltensstörungen zurückzuführen. Die Bundesregierung bemüht sich nun, in Zusammenarbeit mit den Ländern, vor allem in den entsprechenden Arbeitsgremien des Deutschen Bildungsrates und der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung, sowie durch gezielte Förderung von Modellversuchen und Projekten der Bildungsforschung auch den Bereich der Sonderpädagogik weiterzuentwickeln. Das alles können wir natürlich nur im Rahmen der uns gegebenen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten tun. Wir sind aber auch im Einvernehmen mit dem Statistischen Bundesamt so weit, daß die statistische Erfassung von Behinderten weiter verbessert werden kann.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat der Prozentsatz der lernbehinderten und der verhaltensgestörten Kinder in den letzten Jahren zugenommen, und wie erklärt sich gegebenenfalls diese Tatsache?
Herr Dr. Fuchs, da muß man zunächst den Begriff der letzten Jahre eingrenzen. Das ist nach den bisherigen Veröffentlichungen außerordentlich schwer zu beurteilen, weil die Untersuchungen von verschiedenen Autoren und in verschiedenen Feldern vorgenommen worden sind und die Zahlen auch auf unvergleichbaren Untersuchungen basieren. Ich kann Ihre Frage also weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Wenn ich nach meinen Gefühlen auf Grund der Beobachtungen gefragt worden wäre, die wir machen, würde ich sie bejahen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie von der verfassungsmäßigen Lage gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung bereit ist, in Verhandlungen mit den Bundesländern dafür einzutreten, daß an jeder Schule ein besonders geeigneter und auch dazu besonders ausgebildeter Lehrer mit der Betreuung und Beratung der lernbehinderten und der verhaltensgestörten Schüler beauftragt wird und daß für einen Schulbezirk eine schulübergreifende Beratungsstelle für die Schüler und für die Eltern dieser Kategorie eingerichtet wird.
Herr Dr. Fuchs, ich möchte Ihnen nicht in jeder Einzelheit zustimmen. Die Tendenz, die Ihrer Frage zugrunde liegt, entspricht der Absicht der Bundesregierung, nämlich diese Kinder möglichst nicht einfach in den Sonderschulbereich abzudrängen, sondern dafür zu sorgen, daß sie in dem allgemeinen Schulbereich gehalten werden können. Dort, wo durch Schulpsychologen oder besonders vorgebildete Lehrkräfte dieses Ziel besser als bei der jetzigen Situation erreicht werden kann, werden Sie immer die Unterstützung der Bundesregierung finden.
Abgeordneter Hansen!
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft erst im Februar dieses Jahres eine Million DM für einen Modellversuch zur Integration körperbehinderten Schüler in die Sekundarstufe I bewilligt hat?
Herr Kollege Hansen, das ist nur eine Einzelmaßnahme aus einem ganzen Bukett von Modellversuchen, die wir in diesem Bereich fördern. Im Jahre 1971 haben
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11179
Parlamentarischer Staatssekretär Raffertwir — das können wir nun schon spitz ausrechnen — für Modellversuche in der Sonderpädagogik genau 3 564 000 DM ausgegeben. Wir beabsichtigen, aus den Haushaltsmitteln dieses Jahres — und ich denke, sie werden für diesen Bereich auch wirklich zur Verfügung stehen — voraussichtlich insgesamt 16 Modellvorhaben zu betreuen und zu fördern und dafür etwa 10 Millionen DM zur Verfügung stellen. Wir können das natürlich nicht nur nach unseren eigenen Wünschen tun, sondern immer unter Zustimmung des Innovationsausschusses der BundLänder-Kommission. Ich darf Ihnen außer dem von Ihnen angezogenen Modell der Integration von Körperbehinderten in der Gesamtschule in Hessisch Lichtenau — da haben wir im vorigen Jahr eine Million DM gegeben; in diesem Jahr sind noch Anträge auf ungefähr 500 000 DM gestellt worden — ein anderes Beispiel aus einem unter einer anderen Regierungsführung stehenden Land nennen, aus Baden-Württemberg, nämlich das Rehabilitationszentrum Neckargemünd. Da waren es im vorigen Jahr 2,5 Millionen DM. In diesem Jahre laufen Anträge auf etwa 5 Millionen DM. Das heißt, wir verteilen unsere Mittel auf verschiedenste Formen von Modellen und auf alle Bundesländer.
Abgeordneter Hermesdorf!
Herr Staatssekretär, welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung zur Verbesserung der Berufsausbildung behinderter Jugendlicher zu ergreifen?
Da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Das Rehabilitationszentrum, von dem ich gesprochen habe, bemüht sich auch darum, diese Jugendlichen berufsfähig zu machen. Ich könnte Ihnen aus dem Katalog unserer 16 Vorhaben für dieses Jahr noch zwei, drei weitere Maßnahmen nennen.
Im übrigen bemühen wir uns im Augenblick um die Fortentwicklung und Höherqualifizierung der beruflichen Bildung im ganzen, was nicht nur bedeutet, daß sie für den einzelnen von höherer Qualität sein soll, sondern auch, daß sie so gestaltet wird, daß man auch denjenigen in sie aufnehmen kann, der nicht ohne weiteres die gleichen Voraussetzungen mitbringt wie derjenige, der als normaler Hauptschüler abgeht.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die Bundesländer bei der Integration der behinderten Kinder in die Primarund die Sekundarstufe eine besondere Aufgabe zu erfüllen haben und daß hier einige Bundesländer noch etliches mehr zu tun haben als in der Vergangenheit?
Daß
das in erster Linie eine Aufgabe der Länder ist und daß sie in den einzelnen Ländern bisher unterschiedlich gelöst worden ist, will ich gern bestätigen. Ich habe in einer ersten Antwort dem Herrn Kollegen Dr. Fuchs gesagt, daß wir in den entsprechenden Gremien, in denen wir als Bund darauf Einfluß nehmen können, unseren Einfluß in dieser Richtung auch geltend machen und daß wir auch bereit sind, aus unseren Haushaltsmitteln da etwas beizusteuern, wo die Länder bereit sind, selbst etwas zu tun.
Geschäftsbereich des Bundesminsters der Justiz. Frage 14 des Abgeordneten Dr. de With:
Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Touristikunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland ihre Reisebedingungen für 1972 zugunsten ihrer Kunden entsprechend der Erwartung der Bundesregierung geändert haben, welche Erwartung die Bundesregierung in der Drucksache VI/2587 zu Punkt 3 und 4 als Beantwortung der Kleinen Anfrage betreffend Touristikunternehmen zum Ausdruck gebracht hat, und ist die Bundesregierung insbesondere der Meinung, daß die Reisebedingungen den Kunden der Touristikunternehmen nunmehr einen Anspruch darauf geben, daß das zugesagte Beförderungsmittel zur Verfügung steht, daß der Reisende in dem gebuchten Hotel ein Zimmer der gewünschten Klasse vorfindet und daß er die vorgesehenen Mahlzeiten in dem Hotel oder Restaurant einnehmen kann", und daß in bestimmten Fällen auch ein weitergehender Schaden, „z. B. Mehraufwendungen für andere Unterkunft, Entschädigung wegen des beeinträchtigten Urlaubsgenusses", erstattet wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die früher übliche Klausel des Inhalts, daß das Touristikunternehmen nur als Vermittler bei der Durchführung der Reise auftrete, wird — soweit ersichtlich — in dieser Form in den Reisebedingungen jetzt nicht mehr verwendet. Diese Klausel war teilweise dahin ausgelegt worden, daß das Touristikunternehmen gegenüber Ansprüchen der Reisenden wegen Nichterbringung oder mangelhafter Erbringung der gebuchten Reisedienstleistungen nicht „passiv legitimiert" sei.Nunmehr wird in den Reisebedingungen ganz überwiegend festgelegt, daß das Touristikunternehmen für eine richtige Prospektausschreibung, eine sorgfältige Auswahl der Leistungsträger und eine sorgfältige Vermittlung der gebuchten Reisedienstleistungen einzustehen hat. Die dem Touristikunternehmen hiernach obliegende Pflicht zur sorgfältigen Vermittlung der gebuchten Reisedienstleistungen schließt, wie in der Rechtsprechung auf Grund neuerer Entscheidungen jetzt anerkannt ist, die Verpflichtung ein, dem Reisenden die Möglichkeit zur Inanspruchnahme der gebuchten Reisedienstleistungen unmittelbar zu verschaffen. Werden die Leistungen ganz oder teilweise nicht erbracht, so kann der Reisende vom Vertrag zurücktreten oder einen Preisnachlaß verlangen. Trifft den Veranstalter ein Verschulden, so steht dem Reisenden auch ein Anspruch auf Schadenersatz zu.In den Reisebedingungen einiger Touristikunternehmen werden allerdings die Ansprüche, die dem Reisenden im Falle der Nichterbringung der gebuchten Leistungen zustehen, eingeschränkt. So wird z. B. festgelegt, daß ein Reisender, dessen Unterkunft nicht der gebuchten Kategorie oder Qualität entspricht, lediglich einen etwa gezahlten Zuschlag zurückerhält. Ein Anspruch auf Schadenersatz wird
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11180 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Staatssekretär Dr. Erkelausgeschlossen. Im übrigen wird allgemein der Anspruch auf Schadenersatz auf die Höhe des Reisepreises begrenzt.Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in den Reisebedingungen einer Reihe von Touristikunternehmen der Verantwortungsbereich der Unternehmen klarer als bisher umschrieben ist. Damit ist aber ein allseits befriedigender Rechtszustand noch nicht erreicht. Im Bundesministerium der Justiz wird deshalb bei der jetzt in Angriff genommenen Prüfung der Frage, wie der Schutz des Verbrauchers gegenüber allgemeinen Geschäftsbedingungen generell verbessert werden kann, auf jeden Fall den Reisebedingungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.
Zusatzfrage!
Hält es die Bundesregierung insbesondere für befriedigend, daß der Schadensersatzanspruch in aller Regel auf die Höhe des eingezahlten Betrages beschränkt ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich bin mit Ihnen, glaube ich, darüber einig, daß diese Regelung nicht für befriedigend gehalten wird.
Zweite Zusatzfrage!
Hält es die Bundesregierung für erforderlich, falls sich die Bedingungen nicht ändern, spezielle Vorschriften für Touristikunternehmen in Gesetzesform zu gießen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bei der außergewöhnlichen Bedeutung, die dieser Frage für weite Bereiche der Bevölkerung zukommt, möchte ich annehmen, daß eine besondere gesetzliche Regelung für diesen Bereich durchaus denkbar, möglicherweise sogar notwendig ist.
Ich rufe die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Dr. de With auf:
Hat die Bundesregierung inzwischen entsprechend ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage betreffend Touristikunternehmen —Drucksache VI/2587 Punkt 7 — die Prüfung der Frage abgeschlossen, ob sie dem Brüsseler Übereinkommen über den Reisevertrag vom April 1970 beitreten wird, insbesondere keine Einwände gegen Artikel 15 mit der dort vorgeschlagenen Reiseveranstalterhaftung hat, und wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Prüfung der Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland dem Brüsseler Übereinkommen über den Reisevertrag vom 23. April 1970 beitreten soll, ist noch immer nicht abgeschlossen. Bis jetzt haben sich nur wenige europäische Staaten entschließen können, das Brüsseler Übereinkommen zu zeichnen, und auch diejenigen Staaten, die, wie etwa Belgien und Italien, das Übereinkommen gezeichnet haben, zögern mit der Ratifizierung. Auf Wunsch der belgischen Regierung, der von der
Bundesregierung nachdrücklich unterstützt worden ist, wird das Europäische Komitee für rechtliche Zusammenarbeit auf seiner nächsten Sitzung, die vom 26. bis 30. dieses Monats in Straßburg stattfindet, einen Meinungsaustausch über das Brüsseler Übereinkommen abhalten. Ziel dieses Meinungsaustausches ist es, zu klären, welche Erwägungen die Mehrzahl der dem Europarat angehörenden Staaten bisher davon abgehalten haben, dem Übereinkommen beizutreten, und selbstverständlich weiter auch zu prüfen, ob und wie die bei den meisten Staaten bestehenden Vorbehalte und Widerstände gegenüber dem Übereinkommen ausgeräumt werden könnten.
Zusatzfrage!
Ist die lange Dauer der Prüfung insbesondere dadurch begründet, daß eventuell Bedenken gegen Art. 15 des Übereinkommens bestehen, in dem zugunsten des Reisenden sehr weitgehende Haftungen statuiert sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Daß die Prüfung so zeitraubend ist, hängt mit den internationalen Problemen zusammen. Die Erörterungen auf internationaler Basis sind immer außerordentlich zeitraubend. Die Frage, die Sie speziell angesprochen haben, betrifft einen Punkt, der für die Vorbehalte der meisten Staaten entscheidend sein könnte. Dieser Art. 15, den Sie angesprochen haben, ist nach langwierigen Verhandlungen als Kompromißvorschlag geboren worden. Man hat sich darauf geeinigt, um die diplomatische Konferenz an dieser Frage nicht gespalten auseinandergehen zu lassen. Bedenken gegen Art. 15 bestehen nicht nur im Bereich der Bundesrepublik. Ziel der Erörterungen in Straßburg soll es sein, festzustellen, welche Vorbehalte im einzelnen bei den verschiedenen Staaten bestehen.
Zusatzfrage.
Darf ich daraus schließen, daß von seiten der Bundesrepublik — ohne Prüfung der Frage, welche Vorstellungen die anderen Länder haben — an sich ein gewisses Wohlwollen gegenüber Art. 15 besteht, der eben, wie ich schon sagte, weitgehende Vorteile in Fragen der Haftung zugunsten des Reisenden bringt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, so sagen zu können: Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß das Recht des Reisevertrags möglichst international weitgehend einheitlich geregelt werden muß, wenn es allumfassend durchsetzbar sein soll. Art. 15 wird in der Tendenz von uns durchaus gebilligt. Unsere Bedenken richten sich nicht gegen die Tendenz, sondern die inhaltliche Unklarheit dieser Bestimmung. Wir haben die Garantiehaftung des Veranstalters der Verschuldenshaftung der anderen Beteiligten gegenübergestellt. Die Probleme bestehen darin, nun abzugrenzen, welche Haftung Platz greifen soll,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11181
Staatssekretär Dr. Erkelwenn die Dinge teils jenem, teils diesem Bereich zuzurechnen sind. Möglicherweise bringt die Erörterung in Straßburg hier eine weitergehende Klärung.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneter Lenzer auf:
Welche Bemühungen hat die Bundesregierung unternommen, um den Aufbau juristischer Datenbanken zu fördern, inwieweit wurden bereits bestehende privatwirtschaftliche Aktivitäten auf diesem Gebiet überprüft, und zu welcher Beurteilung gelangte die Bundesregierung dabei?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung hat bereits im Zweiten Bericht über die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung in der Bundesverwaltung vom 17. April 1970 — Drucksache VI/648 — die Errichtung einer juristischen Datenbank angekündigt. Ziel dieses Projekts ist es, zu einer optimalen Beherrschung der Informationsfülle auf dem Gebiet der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Rechtsliteratur zu kommen. Die Datenbank soll der Erleichterung der Gesetzgebungsarbeit dienen, eine einheitliche Rechtsanwendung fördern und damit die Rechtssicherheit erhöhen. Sie soll — das ist wesentlich — auch in der Lage sein, allen interessierten Stellen zu bestimmten Rechtsfragen die bestehenden gesetzlichen Regelungen, die dazu ergangene Rechtsprechung und die einschlägige Rechtsliteratur nachzuweisen.
Zur Verwirklichung dieses Projekts hatte der Bundesminister der Justiz im September 1970 eine Projektgruppe eingesetzt, deren Aufgabe es war, ein Systemkonzept zu entwerfen. Dieses Konzept ist im März dieses Jahres vorgelegt worden. Es ist ein umfängliches Werk. Wir werden es in den nächsten Wochen gedruckt in Buchform veröffentlichen können. Dieser Bericht enthält eine umfassende Darstellung der rechtspolitischen, datenverarbeitungstechnischen, dokumentarischen und finanziellen Problematik.
Die bereits bestehenden privatwirtschaftlichen Aktivitäten beziehen sich auf einen sachlich beschränkteren Aufgabenbereich und zielen damit notwendigerweise auf einen beschränkteren Benutzerkreis. Umfang und Art des Informationsangebots werden hier durch gewinnorientierte Überlegungen bestimmt sein müssen. Diese Aktivitäten befinden sich sämtlich noch in einem frühen Stadium der Entwicklung. Eine Aussage über Erfolgsaussichten ist deshalb kaum möglich. Soweit die Träger dieser privatwirtschaftlichen Aktivitäten dazu bereit sind, wird ein Erfahrungsaustausch gepflegt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe Sie also richtig verstanden, daß Sie hier erklären, die Bundesregierung sei nicht der Meinung, daß diese Aufgabe grundsätzlich nur von einem öffentlichen Träger wahrgenommen werden könne?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Aufgabe, wie ich sie umrissen habe,
wird in ihrem umfassenden Sinn nur von einem
öffentlichen Träger wahrgenommen werden können.
Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Lenzer auf:
Beabsichtigt der Bundesminister der Justiz den Aufbau einer eigenen juristischen Datenbank, obwohl bereits in der privaten Wirtschaft Informationswiederfindungssysteme vorhanden sind, deren Erstellung teilweise durch Steuermittel usw. unterstützt wurden, und welche Mittel sind in der Finanzplanung dafür vorgesehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie bereits in der Antwort auf die vorherige Frage ausgeführt, beabsichtigt der Bundesminister der Justiz den Aufbau einer juristischen Datenbank. Welche Leistungsanforderungen an eine solche Datenbank zu stellen sind, wenn die mit dem Projekt verknüpften Zielsetzungen erfüllt werden sollen, ist im einzelnen in dem Systemkonzept, das demnächst gedruckt vorgelegt wird, dargestellt.
Es ist vorgesehen, in der nächsten Entwicklungsphase die in der privaten Wirtschaft entwickelten Informationswiedergewinnungssysteme darauf zu untersuchen und praktisch zu testen, inwieweit sie diesen Leistungsanforderungen entsprechen. Ferner soll geprüft werden, ob und gegebenenfalls mit welchem Aufwand diese Systeme weiterentwickelt werden können, wenn sie den Anforderungen nicht genügen sollten. Eine Neuprogrammierung kommt nur dann in Betracht, wenn dies der wirtschaftlichere Weg ist.
In der bisherigen Finanzplanung sind nur Mittel in Höhe der Planungskosten enthalten. Die Kosten der Realisierung der Datenbank werden erst Gegenstand noch bevorstehender Verhandlungen sein.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie nicht bereits heute eine Zahl angeben, in deren Rahmen sich in etwa die Realisierung dieses Projektes bewegen wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Planungskosten — und sie sind das einzige, was bis jetzt real ist — waren mit 800 000 DM veranschlagt. Sie bewegen sich in diesem Rahmen.
Darüber hinaus könnte man nur Zahlen nennen, die für die Finanzplanung von Interesse sein könnten. Dabei könnte man, grob beziffert, folgende Planungszahlen nennen: 3 Millionen DM für 1973, 6 Millionen DM für 1974, 10 Millionen DM für 1975 und 14 Millionen DM für 1976.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung in der Studie, von der Sie gesprochen haben, auch ganz klar darlegen, aus welchen Gründen sie wegen des Umfangs der Aufgabe nicht auf die bereits bestehenden privatwirtschaftlichen Aktivitäten zurückgreifen kann?
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11182 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe den Bericht nicht bis zuletzt durchgelesen; ich wollte warten, bis er gedruckt erscheint. Aber ich möchte eigentlich sicher sein, daß Ihre Frage dort beantwortet ist.
Ich rufe Frage 18 des Abgeordneten Dr. Gleissner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in dem Gutachten des Münchner Forums zum Standort des Europäischen Patentamtes schlüssig und detailliert nachgewiesen wird, daß die Gesamtkosten beim Standort Erhardstraße mindestens 336 Millionen DM betragen, wobei der öffentlichen Hand ein Grundstück im Wert von 48 Millionen DM verbleibt, während im Gegensatz dazu die Kosten des Standortes Berliner Straße nur 285 Millionen DM betragen, wobei der öffentlichen Hand zwei Grundstücke und ein Verwaltungsgebäude im Wert von 133 Millionen DM verblieben?
Bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Zusammenhang mit den Meinungsverschiedenheiten in der Münchener Öffentlichkeit über den Standort des Europäischen Patentamts in München hat im März 1972 eine Arbeitsgruppe, die sich aus Vertretern der Fraktionen des Münchener Stadtrats, der Stadtverwaltung Münchens, des Freistaates Bayern und der Bundesregierung zusammensetzte, geprüft, ob das Europäische Patentamt an einem anderen als dem bisher vorgesehenen Standort an der Erhardstraße errichtet werden könnte.
Diese Arbeitsgruppe kam zu dem Ergebnis, daß schon aus Zeitgründen bei keinem der in Betracht kommenden Alternativstandorte, namentlich auch nicht beim Standort Berliner Straße, die von den beteiligten Staaten geforderte Eröffnung des Europäischen Patentamts im Jahre 1976 möglich wäre.
Darüber hinaus hat eine Unterarbeitsgruppe, in der Fachleute für Bewertungsfragen mitgewirkt haben, nach sachverständiger Prüfung festgestellt, daß die Mehrkosten für eine Verlegung des Standorts von der Erhardstraße an die Berliner Straße etwa 102,5 Millionen DM betragen würden.
Die Bundesregierung hat davon Kenntnis erhalten, daß in der Folgezeit verschiedene Kreise — u. a. auch das „Münchener Forum" — Anstrengungen unternommen haben, um den von ihnen unterstützten Alternativstandort an der Berliner Straße kostenmäßig günstiger als den Standort an der Erhardstraße auszuweisen. Der Bundesregierung ist jedoch keine Kostenaufstellung bekanntgeworden, die geeignet wäre, das Ergebnis der erwähnten Unterarbeitsgruppe in Frage zu stellen.
Auch der Stadtrat der Landeshauptstadt München hat — zuletzt noch am 3. Mai dieses Jahres — die Auffassung vertreten, daß für das Europäische Patentamt unter den gegebenen Umständen nur der Standort Erhardstraße in Betracht kommen könne.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wurde von offizieller deutscher Seite jemals ein Versuch unternommen, die Vertragspartner zu fragen, ob sie gegebenenfalls mit einem Alternativstandort für das Europäische Patentamt einverstanden wären, wenn dieser — wie im vorliegenden Fall — neben der hervorragenden städtebaulichen Situation nicht nur bessere und günstigere Verkehrsanbindungen, sondern auch spätere Erweiterungsmöglichkeiten und die Nähe der Technischen Universität böte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ein solcher Versuch wurde nicht unternommen, weil er nach dem zeitlichen Ablauf der Angelegenheit — die Konferenz, die über den Standort entscheiden soll, findet ja in diesem Monat in Luxemburg statt — nach Auffassung der Bundesregierung, des Freistaates Bayern und der Stadt München bedeutet hätte, daß die deutsche Bewerbung zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Voraussetzung für den „Zuschlag" des Europäischen Patentamts an die Bundesrepublik Deutschland ist die von zahlreichen Staaten fest gehegte Erwartung — und damit ist gerade die deutsche Bewerbung attraktiv geworden —, daß das Europäische Patentamt im Jahre 1976 seine Tätigkeit aufnehmen kann.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß es sich bei den angeblichen, immer wiederholten und jetzt auch von Ihnen vorgetragenen „zwingenden" Terminen lediglich um erste Zeitstufenpläne handelt, die beispielsweise auch von London im Falle eines Zuschlags nicht eingehalten werden könnten, und ist es richtig, daß es in London und bei anderen Bewerbern keine Vorplanung gibt, auf die man sich aber in München von seiten des Stadtrates, der bayerischen Staatsregierung oder auch von Ihrer Seite zum Ärgernis der überlasteten Bevölkerung Münchens immer wieder beruft?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung kann hier nur das sagen, was sich als Ergebnis langjähriger diplomatischer Verhandlungen und Besprechungen auf den verschiedensten Ebenen mit den beteiligten Staaten herausgestellt hat. Die Bundesregierung ist dabei immer wieder zu der Überzeugung gekommen, daß es die deutsche Bewerbung — das haben alle Verhandlungen gezeigt — nur dann geben kann, wenn das Europäische Patentamt alsbald errichtet wird.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Ich rufe die Frage 34 des Herrn Abgeordneten Baeuchle auf:
Welche positiven und negativen Erfahrungen wurden gemacht mit der der Landwirtschaft gewährten Abschlachtungsprämie, und wie werden deren Auswirkungen sowohl auf dem Milcherzeugungssektor als auch auf dem Rindfleischsektor beurteilt?
Herr Kollege Baeuchle, in der Bundes-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11183
Parlamentarischer Staatssekretär Logemannrepublik wurde die Abschlachtungsprämie in etwa 40 000 Betrieben für rund 150 000 Kühe gewährt. Das sind rund 65 % der insgesamt in der Gemeinschaft gezahlten Prämien. Die Aktion war befristet auf die Zeit von Anfang Februar bis Ende April 1970. Durch die Schlachtung dieser Kühe wurde eine Entlastung des Milchmarktes bewirkt. Während in den vorhergehenden Jahren die Milchanlieferung an die Molkereien kontinuierlich gestiegen war, konnte in den Jahren 1970 und 1971 ein leichter Rückgang der Milchanlieferung verzeichnet werden. Der Haupterfolg der Maßnahmen ist jedoch in der Beschleunigung des dringend erforderlichen Strukturwandels in der Milchkuhhaltung zu sehen. Die Aufgabe der Milchviehhaltung wurde durch diese Maßnahme in den Kleinbetrieben — von den 40 000 Betrieben hatten rund 75 % nur 2 bis 5 Kühe — gefördert.Als Nebenwirkung ist eine wesentliche Arbeitsentlastung, vor allem auch für die Frau, in diesen Betrieben zu verzeichnen. Dabei war es nicht zu vermeiden, daß der Rindfleischmarkt durch diese Schlachtaktion in den Monaten Februar bis Mai 1970 mit Kuhfleisch stärker beschickt wurde. Ende vorigen Jahres zeichneten sich jedoch schon deutliche Marktfestigungen ab, die auch auf das relativ geringe Angebot an Schlachtkühen und Färsen und auf die weltweite Angebotsverknappung an Rindfleisch zurückzuführen sind.Neben den bisher genannten Auswirkungen ist weiterhin festzustellen, daß sich durch die Schlachtaktion der Anfall an Kälbern für die Rindermast verringert hat und damit eine weitere Steigerung der Rindfleischproduktion in diesem Zusammenhang nicht ermöglicht wurde. Die von Februar 1970 bis Juli 1971 durchgeführte Nichtvermarktungsaktion für Milch und Milcherzeugnisse hat jedoch schon gewisse Verlagerungen von der Milch- zur Rindfleischerzeugung zur Folge gehabt. In Ergänzung dieser Maßnahme werden zur Zeit in Brüssel neue Vorschläge beraten, die eine Förderung der Rindfleischproduktion vorsehen, ohne daß dadurch jedoch die Milcherzeugung stimuliert wird.
Eine Zusatzfrage.
Kann ich, Herr Staatssekretär, Ihre Darlegungen so verstehen, daß die Maßnahme mit der Abschlachtungsprämie vorerst als mit einem gewissen Erfolg abgeschlossen angesehen werden kann, oder sind die letzten Ausführungen so zu verstehen, daß weitere Maßnahmen in dieser Richtung geplant sind?
Ich glaube nicht, daß weitere Maßnahmen in dieser Richtung erfolgen werden. Es geht uns vielmehr darum, Anreiz für eine verstärkte Rindfleischproduktion zu geben.
Ich rufe die Frage 35 des Herrn Abgeordneten Dr. Reinhard auf:
Hält es die Bundesregierung angesichts der derzeitig unbefriedigenden Situation in der Geflügelwirtschaft und angesichts der verschiedenen Bemühungen zur Marktstabilisierung für vertretbar, daß im niedersächsischen Zonengrenzgebiet ein vollintegrierter Großbetrieb gebaut wird, in dem ständig zwei Millionen Legehennen in Produktion stehen sollen?
Herr Kollege Dr. Reinhard, darf ich beide Fragen im Zusammenhang beantworten?
Bitte!
Ich rufe auch die Frage 36 des Herrn Abgeordneten Dr. Reinhard auf:
Wird die Bundesregierung alle ihre Möglichkeiten einsetzen, um dieses Vorhaben, das alle Bemühungen der Geflügelwirtschaft und der staatlichen Stellen für die Marktstabilisierung illusorisch machen würde, zu verhindern, und was hat sie in dieser Angelegenheit bereits unternommen?
In der Geflügelwirtschaft wurde in der vergangenen Zeit die Erzeugung so stark ausgeweitet, daß der Verbrauch mit dem Produktionszuwachs nicht Schritt halten konnte. Die Bundesregierung hat daher die Initiativen der Wirtschaft, durch Selbsthilfemaßnahmen zu einem Marktgleichgewicht zu kommen, begrüßt und unterstützt. Diese Bemühungen würden durch die geplante Errichtung eines Großbetriebes im Zonengrenzgebiet Niedersachsen, Kreis Uelzen, empfindlich gestört werden und zu einer erneuten Verschärfung des Verdrängungswettbewerbs führen, dem zahlreiche bäuerliche Existenzen zum Opfer fallen können.
Die Bundesregierung, Herr Kollege Dr. Reinhard, hat keine Möglichkeit, das geplante Vorhaben direkt zu verhindern. Eine Förderung solcher Vorhaben erfolgt jedoch nicht. Darüber besteht auch Einigkeit mit dem niedersächsischen Landwirtschaftsminister Bruns. Mein Kollege Dr. Prill hat mir heute noch ausdrücklich bestätigt, daß vom niedersächsischen Landwirtschaftsministerium alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um das Vorhaben zu verhindern. Im übrigen ist Ihnen, Herr Kollege Dr. Reinhard, aus unseren persönlichen Gesprächen auch der Katalog von Maßnahmen bekannt, die seinerzeit von uns zur Beschränkung der gewerblichen Massenviehhaltung eingeleitet wurden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob geprüft worden ist, daß der § 16 der Gewerbeordnung, der auf Ihre Initiative hin verschärft worden ist, auch folgerichtig angewendet wird?
Das dürfte sichergestellt sein. Darauf wird in letzter Zeit immer sehr Bedacht genommen.
Eine Zusatzfrage.
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11184 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Ist Ihnen auch bekannt, daß der Präsident der Landwirtschaftskammer Hannover, Herr Blume, an den Herrn Bundesminister geschrieben und darauf hingewiesen hat, daß die Kotbeseitigung des geplanten Betriebes im Kreis Uelzen ein ganz ernstes Problem sei und daß weite Flächen notwendig seien, um diesen Kot unterzubringen? Besteht nicht von dieser Seite die Möglichkeit, Einspruch gegen die Errichtung dieses Werkes einlegen zu lassen?
Herr Dr. Reinhard, das alles wird auch von niedersächsischer Seite, vom Ministerium aus mit überlegt. Ich darf hier im einzelnen sagen, daß ich in dem Gespräch heute morgen noch einmal erfahren habe, daß sich Minister Bruns schon seit langem von sich aus bemüht, die Errichtung dieser Massentierhaltung zu verhindern. Er hat dabei mit dem Verband Niedersächsisches Landvolk Verbindung aufgenommen, der gerade zu dem von Ihnen soeben angesprochenen Problem mit herangezogen werden müßte. Ich finde, daß gerade hier wichtig ist, daß der Berufsstand die bäuerlichen Berufskollegen auffordert, solche Gefahren zu sehen, und auch an die Bauern appelliert, daß sie sich nicht zum Mistfahrer für diese Massentierhaltung degradieren lassen. Das alles muß mitgesehen werden.
Das Zweite. Von Niedersachsen aus ist eine Aufklärung der Öffentlichkeit über dieses Problem bezüglich Verdrängungswettbewerb erfolgt. Das Dritte ist, daß man in Niedersachsen in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsministerium erreicht hat, daß alle finanziellen Kanäle, die vielleicht hätten ausgeschöpft werden können, nun völlig dichtgemacht wurden. Für die Errichtung dieses Unternehmens wird es weder aus dem Zonenrandprogramm noch aus anderen Quellen Mittel geben. Das Neueste ist, daß auch eine Oberbehörde abgelehnt hat, Gelände für die Errichtung dieser Massentierhaltung zur Verfügung zu stellen.
Eine dritte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Hilfen des Bundes hingewiesen, die der Geflügelwirtschaft bei der Errichtung der Stabilisierungsfonds zuteil geworden sind. Auch der Herr Bundesminister hat bei seiner Rede zur Eröffnung der DLG besonders darauf hingewiesen. Sind Sie mit mir der Meinung, daß die Lage der Geflügelwirtschaft im Augenblick trotzdem noch denkbar schlecht ist und daß weitere Hilfen notwendig sind?
Ich bin Ihrer Auffassung. Ich meine, daß es deswegen notwendig ist, daß sich alle in Frage kommenden Betriebe nun an diesem Marktstabilisierungsbemühen beteiligen, damit keine Außenseiter bleiben. Ich glaube, nur wenn das geschieht, werden wir hier überhaupt zu einem abgestimmten Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage kommen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß wir beim Abfallbeseitigungsgesetz hier eine Chance vertan haben, gerade diesen gewerblichen Mästern durch entsprechende Auflagen die Lösung des Problems der Beseitigung des Dungs, das Kollege Reinhard angesprochen hat, wesentlich zu erschweren?
Ich denke nicht; denn ich glaube, hier gibt es heute schon Möglichkeiten genug, mit entsprechenden Auflagen, wie ich es soeben schon angedeutet habe, einzuwirken; aber vielfach ist es so — das müssen wir feststellen —, daß bei der Errichtung von Unternehmen der Massentierhaltung die Berufskollegen sich nicht entsprechend solidarisch verhalten. Ich denke z. B. an einen Betrieb im Emsland. Wenn keine Flächen zur Verfügung gestellt worden wären, wäre auch dieses Vorhaben zu verhindern gewesen.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Reinhard.
Herr Staatssekretär, ist auch sichergestellt, daß die Abschreibungsmöglichkeiten im Zonenrandgebiet von diesem Betrieb nicht wahrgenommen werden können?
Ich habe mir sagen lassen — von Niedersachsen aus, wie ich soeben schon ausführte —, daß hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind. Ich könnte auf diese Frage vielleicht schriftlich antworten.
— Das werde ich tun.
Ich rufe die Frage 37 des Kollegen Löffler auf:
Trifft es zu, daß rund ein Drittel des Butterbestands in den Einfuhr- und Vorratsstellen von niederländischen Molkereien stammen, weil die entsprechende Interventionsstelle in den Niederlanden die übernommene Ware erst mit einer Verzögerung von acht Wochen bezahlt?
Herr Kollege Löffler, gemäß EWG-Verordnung Nr. 985/68 können diejenigen, die im Besitz der Butter sind, diese nur der Interventionsstelle desjenigen Mitgliedsstaates anbieten, in dessen Hoheitsgebiet die Butter hergestellt worden ist. Niederländische Butter kann demnach nicht bei der deutschen Interventionsstelle angedient werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß durch die Zufuhr von Butter aus den Niederlanden mehr Butter aus der deutschen Produktion den deutschen Interventions-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11185
Parlamentarischer Staatssekretär Logemannstellen angeboten wird. Von Januar bis einschließlich Mai 1972 wurden 18 600 t Butter aus den Niederlanden in die Bundesrepublik eingeführt. Aus deutscher Produktion wurden im gleichen Zeitraum 58 900 t der deutschen Interventionsstelle angedient. Die jeweils um acht Wochen verzögerte Zahlung des Interventionspreises in den Niederlanden führt sicher dazu, daß die Zufuhr von Butter in die Bundesrepublik begünstigt wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, eine entsprechende Meldung in „AGRA-EUROPE" so richtigzustellen, wie Sie es hier dargestellt haben, damit nicht falsche Schlüsse in der Öffentlichkeit hinsichtlich der inländischen Produktion von Butter gezogen werden und falsche Marktprognosen gestellt werden?
Ich werde gern diese Anregung aufnehmen. Es ist mir bekannt, daß „AGRA-EUROPE" sehr aufmerksam die Fragestunde verfolgt. Aber ich werde gern noch einmal auf diesen Punkt hinweisen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß durch diese zusätzlichen Butterzufuhren aus den Niederlanden bei uns ein Marktdruck auch für die inländische Butter entsteht, und ist Ihr Haus bereit, darauf hinzuwirken, daß die Auszahlungsmethoden der niederländischen Interventionsstellen geändert werden?
Das ergibt sich aus der Beantwortung der Frage 38.
Dann rufe ich die Frage 38 des Abgeordneten Löffler auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu unternehmen, um die unterschiedlichen Interventionspraktiken bei Butter und anderen Erzeugnissen in den Ländern der EWG einander anzugleichen?
Herr Kollege Löffler, die Bundesregierung wird in den dafür zuständigen Gremien darauf hinwirken, daß auch die Niederlande ihre Zahlungsgewohnheiten denen der übrigen Länder der Gemeinschaft angleichen, damit die Wettbewerbsunterschiede fortfallen. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat in dieser Angelegenheit bisher festgestellt, daß die Bezahlung 'in Belgien wie in der Bundesrepublik innerhalb von acht bis zehn Tagen und in Frankreich innerhalb von drei Wochen erfolgt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn die normalen Einwirkungsmöglichkeiten auf die EWG-Kommission nicht zu einer Änderung dieser Praktiken führen sollten, geben dann diese Praktiken Handhabe auch für eine Klage beim Europäischen Gerichtshof, weil hier in der Tat echte Wettbewerbsverzerrungen vorkommen?
Das möchte ich unterstellen. Wir werden das genau prüfen und werden auch nicht davor zurückscheuen, diesen Weg zu gehen.
Ich rufe die Frage 39 des Herrn Abgeordneten Vogt auf:
Treffen Pressemeldungen zu, daß das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten dem vielfach erörterten Projekt „Hausfrauenparlament„ Bundeshilfe zugesagt hat und daß sich dieses „Parlament", nachdem seine Einberufung vor einigen Monaten zurückgestellt worden war, nun noch in diesem Jahr konstituieren wird?
Herr Kollege Vogt, Pressemeldungen, nach denen das BML dem Projekt „Hausfrauenparlament" Bundeshilfe zugesagt habe, treffen in dieser Form nicht zu. Vielmehr soll das von dem BML beauftragte Büro bestimmte Voraussetzungen schaffen, bevor das Projekt fortgesetzt werden kann. Insbesondere sollen weitere Handelsgruppen gewonnen und die führenden Verbraucher- und Hausfrauenorganisationen zur Mitarbeit bewegt werden. Dabei ist zwischen der Arbeit einzelner Diskussionsgruppen an verschiedenen Stellen im Bundesgebiet und der seinerzeit abgesetzten Großveranstaltung in Bonn zu unterscheiden. Eine solche Großveranstaltung ist nicht beabsichtigt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist daran gedacht, gegebenenfalls das „Hausfrauenparlament" auch aus Haushaltsmitteln zu unterstützen, und an welche Größenordnung ist da gedacht?
Dazu habe ich einige Unterlagen. An Haushaltsmitteln sind im Jahre 1971 für das Modell „Hausfrauenparlament", und zwar für den Ersatz von Fahrkosten der Hausfrauen sowie für die Unterrichtung und Vorbereitung der im Bundesgebiet gebildeten zehn Fachausschüsse, 21 838 DM ausgegeben worden, weiter 6728 DM für drei Befragungen bei den Mitgliedern der Fachausschüsse durch das Institut für angewandte Verbraucherforschung. Im Jahre 1972 sind bisher keine Haushaltsmittel für das „Hausfrauenparlament" in Anspruch genommen worden.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung gegebenenfalls bereit ist, das „Hausfrauenparlament" zu unterstützen, hat das zur
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11186 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
VogtVoraussetzung, daß sich alle größeren Einzelhandelsunternehmen an diesem Projekt beteiligen?
Wir würden darauf Wert legen und auch entsprechend appellieren.
Ich rufe die Frage 40 auf:
Kann die Bundesregierung Meldungen bestätigen, daß sich nahezu alle größeren Einzelhandelsunternehmen bereit erklärt haben, an dem Projekt „Hausfrauenparlament" mitzuwirken, die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher aber eine Mitwirkung weiter ablehnt?
Die Bundesregierung kann bestätigen, daß sich die Delegierten des Hauptverbandes des Deutschen Lebensmittel-Einzelhandels in der Jahreshauptversammlung am 10. Mai 1972 einstimmig für eine Mitarbeit des Hauptverbandes an der Arbeit und Organisation des „Hausfrauenparlaments" ausgesprochen haben. Der Hauptverband wird den großen Gruppen des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels eine Beteiligung empfehlen. Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher hat ihre Mitarbeit an diesem Modell bisher nicht abgelehnt. Verhandlungen über die Art der Beteiligung von Verbraucher-und Hausfrauenorganisationen sind zur Zeit im Gange.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir Auskunft darüber geben, welche Einzelhandelsunternehmen ihre Mitwirkung an dem „Hausfrauenparlament" zugesagt haben?
Das kann ich nicht. Ich bin aber gern bereit, das schriftlich nachzuholen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten noch vor kurzem die Auffassung vertreten hat, daß an dem Projekt „Hausfrauenparlament" nur dann weitergearbeitet werden solle, wenn das Einverständnis des Handels und der Verbraucherverbände vorliege?
Jawohl, das ist richtig. Die Bundesregierung hatte von vornherein — wie ich es angedeutet habe — die Absicht, den Modellfall möglichst schnell zu erweitern. Diese Erweiterung sollte sich einmal auf die Einbeziehung anderer Handelsorganisationen erstrecken, zum anderen sollten die Spitzenverbände der Verbraucher- und Hausfrauenorganisationen beteiligt werden. Es ist hingegen nicht die Absicht 'der Bundesregierung, mit dem sogenannten Hausfrauenparlament eine weitere Verbraucherorganisation zu schaffen, wie aus einigen Presseberichten zu entnehmen war.
Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Bewerunge auf:
Hält die Bundesregierung es mit dem Prinzip der Wahrung des Besitzstands für vereinbar, daß im Zuge der Festsetzung der neuen Dollarparität der Grenzausgleich bei der Einfuhr von Rinderhälften von 57,42 DM auf 24,61 DM über die beschlossene Zollsenkung hinaus gesenkt worden ist?
Herr Präsident, darf ich die beiden Fragen im Zusammenhang beantworten?
Bitte, — Dann rufe ich auch die Frage 42 auf:
Kann die Bundesregierung angeben, welche Rechtsgrundlage im Verwaltungsausschußverfahren für die Senkung des Grenzausgleichs bei der Einfuhr von Rinderhälften herangezogen worden ist?
Die Grenzausgleichsbeträge wurden vor dem 15. Mai unter Berücksichtigung der De-facto-Abwertung des amerikanischen Dollar und der De-facto-Aufwertung der D-Mark errechnet. Das ergab zusammen etwa einen Grenzausgleich von 13,6 %. Nach der Festschreibung der neuen Dollarparität war die Kommission nach dem geltenden Recht verpflichtet, die Abschöpfungen um die Auswirkung dieser Dollar-Abwertung von rund 7,9 °/o zu erhöhen. Als Grenzausgleich verblieb noch ein Satz von rund 5,7%. Das entsprach zusammen in etwa der Einfuhrbelastung vor dem 15. Mai. Da aber wegen der stark gestiegenen EWG-Preise seit Beginn des Jahres 1972 Abschöpfungen auf dem Rindfleischsektor nicht mehr erhoben werden, konnte hier ein entsprechender Ausgleich bei der Abschöpfung nicht vorgenommen werden. Die Reduzierung des Grenzausgleichs hat nicht zu Preiseinbußen auf den Rindermärkten der Gemeinschaft geführt. Die Preise sind sogar bis Anfang Juni weiter stark angestiegen; deshalb sah sich der Ministerrat in der Lage, eine befristete Zollaussetzung zu beschließen.
Die Rechtsgrundlage für die Senkung des Grenzausgleichs bei Rinderhälften bildet wie bei allen anderen Agrarprodukten die Verordnung Nr. 129/62 und die Verordnung Nr. 974/71/EWG vom 12. Mai 1971 über bestimmte konjunkturpolitische Maßnahmen, die in der Landwirtschaft im Anschluß an die vorübergehende Erweiterung der Bandbreiten der Währungen einiger Mitgliedstaaten zu treffen sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bewerunge.
Herr Staatssekretär, sind Sie in Verfolg Ihrer Aussage zu der Frage des Kollegen Baeuchle, derzufolge man in Europa überlegt, Zuschüsse zur Rinderproduktion zu geben,
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Bewerungenicht der Auffassung, daß durch diese Handhabung der Anreiz zur Mehrproduktion genommen werden kann?
Nein, Herr Kollege Bewerunge, das glaube ich nicht. Hier ist es wirklich so, daß diese Zollaussetzung bisher noch keine nennenswerte Wirkung zeigte. Das braucht allerdings nicht immer so zu sein. Allgemein bekannt ist aber, daß auf dem Weltmarkt im Augenblick eine große Lücke bei der Versorgung mit Rindfleisch vorhanden ist. Daher glaube ich nicht, daß damit ein Anreiz, mehr Rindfleisch zu erzeugen, unterlaufen werden würde.
Muß der produzierende Landwirt nicht annehmen, daß auch künftig auf währungspolitischem Gebiet sporadisch Eingriffe vorgenommen werden, die seine Kalkulation in Schwierigkeiten bringen?
Herr Kollege Bewerunge, Sie können davon ausgehen — was ich hier oft betont habe —, daß die Bundesregierung erklärt hat, daß bei Währungsveränderungen keine Einkommensausfälle für die Landwirte entstehen sollen. Das gilt auch für die Rindfleischproduzenten.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, da bei Rindfleisch über das Verwaltungsausschußverfahren die Möglichkeit besteht, den Grenzausgleich nach unten zu verändern, möchte ich Sie fragen: Besteht diese Möglichkeit auch für andere Produkte, und laufen wir nicht Gefahr, daß dadurch der Grenzausgleich generell unterminiert wird?
Ich habe ausdrücklich gesagt, daß es sich in diesem Zusammenhang um bestimmte konjunkturpolitische Maßnahmen handelt, die ich mit dem starken Anstieg der Rinderpreise bei uns und der damit entstandenen Angebotslücke bei Rindfleisch begründet habe.
Ist das auch bei anderen Produkten möglich oder nicht?
Ich würde sagen: ja, wenn sich eine entsprechende Situation ergibt.
Zusatzfrage, Herr Löffler!
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß bei der augenblicklich erfreulichen
Entwicklung der Erzeugerpreise für Rinder von einer Unterminierung des Grenzausgleichs keine Rede sein kann, ganz besonders auch im Hinblick auf die Wahrung des Besitzstandes derjenigen Landwirte, die Rinder züchten?
Jawohl, das kann ich bestätigen. Ein Preisvergleich ergibt, daß wir in der Bundesrepublik Anfang Oktober 1971 einen Preis von 252 DM je 100 kg Lebendgewicht hatten. Dieser Preis ist bis Anfang Juni 1972 auf 330 DM angestiegen. Hinzu kommt noch, daß auf dem Rindpreissektor der starke Anstieg der Kälberpreise berücksichtigt werden muß.
Herr Abgeordneter Struve!
Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, daß man, nachdem sich nach diesem neuen, kombinierten Verfahren der Preisbeeinflussung erste Auswirkungen schon in der letzten Woche gezeigt haben, von seiten der Bundesregierung über den Verwaltungsausschuß bzw. den Ministerrat tätig werden wird, sofern eine Grenze erreicht wird, die wieder zu den hier angesprochenen unangenehmen Auswirkungen führen und damit auch Rückwirkungen auf den Abtrieb im Herbst haben könnte?
Herr Kollege Struve, ich kann Ihnen versichern, daß wir auch die Entwicklung im Hinblick auf den Weideabtrieb — die Zeit dafür ist nicht mehr fern — sehr aufmerksam beobachten. Es ist so, daß solche Zollsenkungen nicht sofort wirken, sondern in der Regel eine längere Anlaufzeit haben. Aber wir beobachten das sehr sorgfältig.
Frage 43 des Abgeordneten Kiechle:
Kann die Bundesregierung angeben, wie hoch in der EWG z. Z. die Butterüberschüsse sind, und wie hoch diese Überschüsse umgerechnet auf den Kopf der Bevölkerung sind?
Herr Kollege Kiechle, der Butterbestand in den Interventionsstellen der Länder der Europäischen Gemeinschaft betrug Anfang Juni 1972 rund 138 000 t gegenüber rund 18 000 t im Vorjahr. Die Bundesrepublik hat jetzt rund 72 000 t gegenüber rund 16 000 t im vergangenen Jahr. In der Bundesrepublik umfaßt der Bestand auch eine bestimmte Menge Notstandsreserve. Der Bestand von 138 000 t entspricht 750 g je Kopf der Bevölkerung der Europäischen Gemeinschaft und reicht zur Versorgung von sechs Wochen. Der Bestand in der privaten Lagerhaltung betrug Anfang Juni 1972 in der Europäischen Gemeinschaft rund 52 000 t, in der Bundesrepublik rund 9500 t. Diese Mengen werden im
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11188 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Parlamentarischer Staatssekretär Logemannwesentlichen für den Saisonausgleich in den Wintermonaten benötigt.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Meinung, daß der Anstieg gegenüber dem vergangenen Jahr im wesentlichen auf die verstärkte Milcherzeugung in Holland und in Frankreich zurückzuführen ist — die Steigerung betrug dort zwischen 5 und 10 %, ja sogar zwischen 10 und 15 % gegenüber dem vergangenen Jahr —, und besteht hier nicht die Gefahr, daß das marktkonforme Verhalten der deutschen Bauern durch das nicht marktkonforme Verhalten der französischen und holländischen Bauern zum Schaden der deutschen Landwirtschaft glatt unterlaufen wird?
Tatsache ist, Herr Kollege Kiechle, daß die Milchproduktion in der Bundesrepublik gegenüber dem Vorjahr nicht nennenswert zugenommen hat. Ich glaube, wir liegen etwa 1 % über dem Vorjahr. Tatsache ist ebenso — Sie haben es dargestellt —, daß die Milcherzeugung in den EWG-Partnerländern stärker zugenommen hat. Nun wird vor allen Dingen von Frankreich argumentiert, daß man noch nicht den Leistungsstand der deutschen Milchkühe erreicht habe und sich deshalb veranlaßt sehe, durch eine Steigerung der Milchleistung je Kuh noch weiter nach oben zu gehen. Entscheidend für uns ist — das möchte ich dazu sagen —, daß wir dabei keine Marktanteile verlieren. Hier sollten die Milcherzeuger selbst ihre Chancen nutzen.
Zusatzfrage.
Sind Sie mit mir der Meinung, Herr Staatssekretär, daß die deutsche Landwirtschaft auf Grund der gegebenen Tatsachen eben doch Gefahr läuft, Marktanteile zu verlieren, zumal sie sich selbst ja marktkonform verhalten hat, und sieht die Bundesregierung irgendeine Möglichkeit, bei Verhandlungen in Brüssel auf diesen Umstand nicht nur hinzuweisen, sondern vielleicht auch einmal Vorschläge zu machen, wie derartige Situationen vermieden werden können?
Die Bundesregierung hat sich in diesem Sinne immer wieder bemüht. Gerade bei den letzten Brüsseler Preisbeschlüssen ist auch Entscheidendes für die Anhebung der Erlöse aus der Milcherzeugung und aus der Rindviehhaltung, für die Milchviehhaltung in der EWG insgesamt und natürlich auch für die deutsche Landwirtschaft getan worden. — Hier käme die Beantwortung Ihrer zweiten Frage hinzu, die man im Zusammenhang damit sehen muß.
Frage 44 des Abgeordneten Kiechle:
Welche Maßnahmen erwägt die Bundesregierung in den zuständigen Gremien der Europäischen Gemeinschaften vorzuschlagen, um zu einer Ausgeglichenheit des Buttermarkts zu gelangen, ohne daß für die deutsche Landwirtschaft durch solche Maßnahmen zwangsläufig ein Verlust an Marktanteilen eintritt?
Der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat sich in der Sitzung am 29./30. Mai 1972 eingehend mit den Problemen des Milchmarktes beschäftigt. Dabei hat Herr Bundesminister Ertl vorgeschlagen, neben einer Verstärkung der Ausfuhren und der Versorgung der Industrie insbesondere verbilligte Butter für soziale Zwecke bereitzustellen. Inzwischen hat der Verwaltungsausschuß für Milch und Milcherzeugnisse dem Absatz verbilligter Butter an die Backwarenindustrie und an die Streitkräfte zugestimmt. Weitere Maßnahmen, insbesondere die Belieferung von gemeinnützigen Einrichtungen und Nahrungsmittelhilfe, werden demnächst behandelt werden.
Diese Maßnahmen beeinflussen die Marktanteile der deutschen Landwirtschaft auf dem deutschen Markt nicht. Im Rat und im Verwaltungsausschuß wurde von der Bundesregierung außerdem der Absatz von Interventionsbutter als „Molkereibutter" mit einem entsprechenden Preisabschlag vorgeschlagen. Diese Maßnahme würde den Butterverbrauch in der Bundesrepublik anregen und auf die Marktanteile positiv wirken.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, jene sehr verbraucherfreundliche und von der Allgemeinheit gut aufgenommene Butterschmalzaktion wieder in diese Maßnahmen einzubeziehen, dle beim letztenmal sicherlich wesentlich zum Abbau der Butterbestände beigetragen hat?
Sicherlich, auch das wird mit überlegt werden. Aber wir haben festgestellt, daß gerade die Abgabe verbilligter Butter an sozial schwache Kreise auch sehr wirksam bezüglich der Absatzförderung gewesen ist.
Frage 45 des Herrn Abgeordneten Dr. Früh:
Treffen Pressemeldungen zu , daß die Bundesregierung dem vom Bundesminister Ertl im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften erzielten Verhandlungsergebnis über den Abbau des Grenzausgleichssystems und der damit verbundenen Einführung eines Mehrwertsteuerteilausgleichs für die deutsche Landwirtschaft noch nicht zugestimmt hat?
Herr Präsident, darf ich die beiden Fragen zusammen beantworten?
Einverstanden. Ich rufe also noch die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Dr. Früh auf:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11189
Vizepräsident Dr. SchmidTrifft es zu, daß der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen erklärt hat , daß er sich an die vor Ostern im EWG-Agrarrat angenommene Entschließung über den Abbau des Grenzausgleichs und die damit im Zusammenhang stehende Einführung der Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes zugunsten der deutschen Landwirtschaft nicht gebunden fühle?
Bundesminister Ertl hat der Entschließung des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 16./24. 3. 1972 nur ad referendum zugestimmt. In dieser Entschließung sind nämlich nationale steuerliche Ausgleichsmaßnahmen der Bundesrepublik vorgesehen, die zunächst von Regierung und Parlament gebilligt werden müssen.
Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat nicht erklärt, er fühle sich an die vor Ostern im EWG-Agrarrat angenommene Entschließung über den Abbau des Grenzausgleichs und die damit im Zusammenhang stehende Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes zugunsten der deutschen Landwirtschaft nicht gebunden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, darf ich dann aus Ihren Äußerungen entnehmen, daß AGRA-EUROPE hier eine Falschmeldung in die Welt gesetzt hat?
L
Ich habe diese Meldung jetzt nicht voll im Gedächtnis. Ich möchte nur noch einmal betonen, daß eine solche Äußerung, wie sie in der Fragestellung angesprochen wird, von dem Bundesfinanzminister nicht gemacht wurde.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, lassen die jüngsten Vorkommnisse nicht darauf schließen, daß im Kabinett Unstimmigkeiten darüber herrschen, wie dieser Grenzausgleich für die Landwirtschaft geregelt werden soll?
Herr Dr. Früh, Sie denken wahrscheinlich an die jüngsten Vorkommnisse laut Pressemeldungen. Diese lassen nicht darauf schließen; denn am Krankenbett des Herrn Bundesministers Ertl hat am Montag eine Besprechung zwischen Bundeskanzler Brandt und Wirtschafts- und Finanzminister Schiller über dieses Problem stattgefunden, und man hat hier durchaus eine Einigung erreicht. Sie werden von Regierungsseite auch eine Vorlage bekommen.
Zusatzfrage, Herr Dr. Ritz.
Herr Staatssekretär, hat man sich in dieser Besprechung, die Sie soeben ansprachen, auch darauf verständigt, wie die Mehrwertsteuererhöhung gehandhabt wird, d. h. verbraucherneutral zu Lasten des Bundeshaushalts oder umgekehrt, und glauben Sie nicht, daß es im Hinblick auf den internationalen Terminkalender in Brüssel wichtig ist, die Gesetzesvorlage jetzt schnell zu erstellen?
Ja, das letzte kann ich durchaus bejahen. Ich möchte aber nicht einer Vereinbarung jetzt schon vorgreifen, sondern bitten, doch die Kabinettsvorlage abzuwarten, Herr Kollege Dr. Ritz.
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Dr. Früh!
Herr Staatssekretär, halten Sie die heutige Meldung im „VWD", wonach man zwar den Grenzausgleich beschlossen habe, aber die Frage der Finanzierung völlig offen sei, als ein Zeichen dafür, daß man sich in dieser Frage sehr einig ist?
Also ich möchte mich hier nicht im einzelnen dazu äußern. Ich habe zwar „AGRA-EUROPE" heute schon gelesen, aber ich bleibe dabei, und ich bitte, hier doch Verständnis dafür zu haben, daß die Regierungsvorlage abgewartet werden muß.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, anscheinend haben wir uns mißverstanden. Ich habe jetzt den „VWD" von heute zitiert, und dort steht, daß die Frage der Finanzierung völlig offen sei, was doch sicherlich nicht auf ein Einvernehmen im Kabinett schließen läßt.
Ich hatte „AGRA-EUROPE" verstanden und bitte um Entschuldigung. Den „VWD" habe ich heute noch nicht gelesen und kann deshalb dazu keine Stellung nehmen.
Damit ist die Fragestunde beendet.
— Die Zeit ist abgelaufen, Herr Kollege. Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Porzner, Offergeld, Frau Funcke, Schmidt , Dr. Ritz und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes— Drucksache VI/ 1424 —
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11190 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Vizepräsident Dr. SchmidSchriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/3456 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Funcke
b) Zweite Beratung des von den Abgeordneten von Bockelberg, Ott und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine Berufsordnung der Wirtschaftsprüfer-Steuerberater— Drucksache W1617 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/3456 —Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Funcke
Wünscht die Frau Berichterstatterin das Wort? — Das ist nicht der Fall. Dann treten wir in die allgemeine Aussprache ein. — Das Wort wird nicht gewünscht.Ich rufe Art. 1 Nrn. vor i bis 4 auf. — Wer diesen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — -Angenommen.Zu Art. 1 Nr. 5 liegt der Änderungsantrag Umdruck 292 *) vor. Wer begründet? — Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Becker!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Umdruck 292 ist soeben verteilt worden. Es handelt sich um folgendes: In § 8 des Steuerberatungsgesetzes wird die prüfungsfreie Bestellung von Professoren, ehemaligen Finanzrichtern sowie ehemaligen Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes geregelt. Gegenüber der bisher geltenden Fassung soll die diesbezügliche Vorschrift im Zweiten Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes nach dem Willen des Finanzausschusses in § 8 Abs. 1 noch erheblich erweitert werden. Wir beantragen, den § 8 Abs. i durch folgende Nr. 5 zu ergänzen:
Wirtschaftsprüfer, die mindestens drei Jahre auf dem Gebiet des Steuerwesens tätig gewesen sind.
Wirtschaftsprüfer, die sich auf dem Gebiet des Steuerwesens betätigen, erfüllen gegenüber den genannten Gruppen zumindest vergleichbare, im Zweifel sogar weitergehende Vorbildungsvoraussetzungen. Wirtschaftsprüfer sind, anders als Finanzbeamte, Finanzrichter und Bedienstete der gesetzgebenden Körperschaften, nicht nur auf dem Gebiet des allgemeinen Steuerwesens tätig, sondern leisten in gleicher Weise wie Steuerberater geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen. Eine Verkürzung der für Finanzbeamte und Finanzrichter vorgesehenen Zehn-
*) Siehe Anlage 4
jahresfrist auf drei Jahre rechtfertigt sich aus der Tatsache, daß Wirtschaftsprüfer wie Steuerberater über unmittelbare Erfahrungen auf dem Gebiet der Steuerberatung und Vertretung verfügen.
Aus dem zuvor Gesagten erweist sich, daß die von uns beantragte Freistellung der Wirtschaftsprüfer vom Steuerberaterexamen eine unmittelbare Folge der Konzeption des Gesetzentwurfs Drucksache VI/ 1424 mit den zusätzlichen Beschlüssen des Finanzausschusses darstellt und im Hinblick auf die Privilegien anderer Gruppen, die dem Steuerberaterberuf mit seiner praxisnahen Tätigkeit weit ferner stehen, berechtigt ist.
Ich bitte Sie daher, dem Antrag Umdruck 292 zuzustimmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Dieser Antrag klingt für unbefangene Hörer zweifellos sehr plausibel. Aber es ist ja wohl kein Zufall, daß außer Herrn Becker und ein oder zwei weiteren Unterzeichnern nur Kollegen unterschrieben haben, die nicht dem Finanzausschuß angehören und deswegen die Beratungen dort nicht mitgemacht haben. Lassen Sie mich deswegen ein paar Worte zu diesem an sich so schön klingenden Antrag sagen.Tatsächlich wird durch dieses Gesetz die Möglichkeit für prüfungsfreie Zulassungen etwas ausgeweitet. Da handelt es sich aber jeweils um Leute, die sich nachweislich über viele Jahre Tag für Tag mit Steuern befaßt haben. Das sind Steuerbeamte im höheren oder im gehobenen Dienst, die sich 10 oder 15 Jahre im Sachbereich täglich mit den Fragen, und zwar unterschiedlichen Fragen des Steuerrechts befaßt haben, und es handelt sich um Mitarbeiter der Fraktionen, die nachweislich und nachweisbar speziell für Steuerfragen eingesetzt sind und sich über ebenso viele Jahre — das wird gar nicht so oft vorkommen — mit der grundlegenden Gesetzesmaterie im Steuerrecht befaßt haben. Nach diesem Antrag sollen nun auch Wirtschaftsprüfer, die sich nach ihrer Berufsordnung und ihrem Hauptinteressengebiet mit der aktienrechtlichen Prüfung befassen, daneben aber auch berechtigt sind, Steuerberatung zu betreiben, dann prüfungsfrei zu Steuerberatern bestellt werden, wenn sie drei Jahre auch tatsächlich Steuerberatung betrieben haben. Das aber ist schwer nachzuweisen, denn wer will sagen, wie oft und wie intensiv sich ein Wirtschaftsprüfer tatsächlich mit Steuerfragen beschäftigt hat. Sicherlich, er reicht wohl Steuererklärungen für seine Mandanten ein, aber erstens ist es nicht Aufgabe der Steuerbeamten, eine Statistik über einreichende Wirtschaftsprüfer zu führen, um nachzuweisen, ob ein Wirtschaftsprüfer 10, 20 oder 30 solcher Anträge im Jahr einreicht, und zweitens ist es auch nicht sicher, ob der betreffende Wirtschaftsprüfer nicht einen Mitarbeiter hat, der sich im Steuerrecht auskennt und die Steuerfragen bearbeitet, so daß er selbst hier gar nicht tätig wird.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11191
Frau FunckeMeine Herren und Damen, soweit Sie im Ausschuß waren, wissen Sie, daß wir Anträge aus den Reihen der Wirtschaftsverbände, des DGB und der Genossenschaften abgelehnt haben, auch ihren Mitarbeitern aus ihren Steuerabteilungen die prüfungsfreie Zulassung zu ermöglichen, obwohl im Einzelfall sicherlich nachzuweisen ist, daß sie nichts anderes getan haben als sich mit Steuern zu beschäftigen. Wir haben es ablehnen müssen, weil der Nachweis eben nicht absolut wie im Staatsdienst gelingt. Deswegen, glaube ich, müssen wir das auch bei den Wirtschaftsprüfern so halten; denn wir können sie bei einem ungesicherten Nachweis nicht besser stellen als jene Leute, die sich beim Raiffeisenverband, beim DIHT, beim DGB oder bei einer Handwerkskammer erkennbar für alle Öffentlichkeit seit Jahren und Jahrzehnten mit Steuern beschäftigen.Außerdem wäre es, nachdem wir den grundsätzlichen Antrag von Herrn von Bockelberg und Genossen abgelehnt haben, nämlich eine Kombinierung von Wirtschaftsprüfer und Steuerberater anzustreben, ein bißchen seltsam, wenn Wirtschaftsprüfer zwar prüfungsfrei Steuerberater werden könnten, man es aber ablehnt, daß umgekehrt Steuerberater prüfungsfrei Wirtschaftsprüfer werden können. Diese Einbahnstraße schiene mir auch nicht ganz sachgerecht.Ich meine daher, wir sollten den Antrag ablehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Krammig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde Ihnen, Frau Kollegin Funcke, gern zustimmen, wenn dieser Antrag nicht noch einen anderen Hintergrund hätte. Ihrem Votum stimme ich zu — damit wir uns nicht falsch verstehen —; aber ich gebe ihm eine andere Begründung. Es geht nämlich gar nicht darum, daß die Wirtschaftsprüfer durch diesen Antrag das Recht der Steuerberatung bekommen sollen.
Die Wirtschaftsprüfer können Steuerberatungen ausüben. Es geht in diesem Antrag nur darum, daß sie nach der prüfungsfreien Zulassung auch den Titel „Steuerberater" führen dürfen, und das wollen wir nicht, weil das nämlich die Berufsbilder verwischt. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag ab.
Herr Abgeordneter Becker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein kurzes Wort zu den Ausführungen von Frau Funcke. Frau Funcke, diesen Antrag haben verschiedene Mitglieder des Finanzausschusses unterschrieben, aber auch andere Kollegen, die im Rechtsausschuß sind und von diesen Dingen aus dem praktischen Leben etwas
kennen. Außerdem werden Sie wohl nicht bestreiten, Frau Funcke, daß der allergrößte Teil der Wirtschaftsprüfer auch etwas von Steuersachen kennt. Der Wirtschaftsprüfer gibt auch die Steuererklärungen — das haben Sie selber gesagt — für die Klienten ab, und es ist nicht zu vermuten, daß er das allein durch Angestellte machen läßt; denn er selber muß die Verantwortung dafür übernehmen. Es ist so, daß sich der größere Teil der Wirtschaftsprüfer schon heute „Steuerberater" nennt, und es ist daher durchaus richtig, wenn wir diesem Antrag folgen.
Abgeordneter Dr. Schmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mich in dieser Sache engagiere, dann hat das schon seine besondere Bedeutung, weil ich die ganze Zeit der Verhandlung über dieses Gesetz die strengste Neutralität gewahrt habe. Aber was hier vor sich geht, ist wirklich die Sünde wider den Geist.
Wir haben es hier nicht mit dem Wirtschaftsprüferstand zu tun. Wir haben es auch nicht mit der Wirtschaftsprüfordnung zu tun. Das ist deren Berufsrecht, das ist geregelt. Die Wirtschaftsprüfer haben ein ganz besonderes Privileg nach § 107 a der Abgabenordnung. Danach sind sie ebenso wie die Anwälte und die Notare zur Steuerberatung berechtigt. Es kann also gar keine Rede davon sein, daß durch das gegenwärtige Steuerberatungsgesetz die I Rechte der Wirtschaftsprüfer in irgendeiner Weise verkürzt würden.
Es geht hier vielmehr darum, dem Privileg ein neues hinzuzufügen,
nämlich zu diesem Privileg, Steuerberatung vornehmen zu dürfen, obwohl man in Wirklichkeit Wirtschaftsprüfer ist, nun noch den Titel „Steuerberater" in Konkurrenz mit den anderen Steuerberatern zu bekommen. Sie müssen also damit rechnen, daß das ganz zwangsläufig die Konsequenz hat, daß auch Anwälte und Notare dieses Privileg ebenso für sich verlangen, prüfungsfrei sich „Steuerberater" zu nennen. Meine Damen und Herren, das können wir unter keinen Umständen zulassen.
Wird zu dem Antrag auf Umdruck 292 noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag auf Umdruck 292 zustimmen will, der gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit zahlreichen Gegenstimmen abgelehnt.Dann stimmen wir ab über Art. 1 Nr. 5 in der Ausschußfassung. Wer dieser Bestimmung zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Bestimmung ist bei einer Enthaltung angenommen.Zu Art. i Nrn. 6 bis 21 sind keine Anträge gestellt. Wir stimmen darüber ab. Wer zustimmen
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11192 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Vizepräsident Dr. Schmidwill, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Angenommen!Zu Art. i Nr. 22 liegt auf Umdruck 290 *) ein Änderungsantrag vor. Danach soll § 118b Abs. 4 b des Steuerberatungsgesetzes eine neue Fassung erhalten. Zur Begründung dieses Antrages hat der Abgeordnete Dr. Häfele das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Änderungsantrag auf Umdruck 290, den erfreulicherweise Kollegen aus allen drei Fraktionen des Hohen Hauses mit unterzeichnet haben, befaßt sich mit der Frage der Übergangs von den Steuerbevollmächtigen zu den Steuerberatern, d. h. mit dem Problem, wie diejenigen, die schon Steuerbevollmächtigte sind, Steuerberater werden, wenn dieser einheitliche Berufsstand zustande kommt. Es war bisher schon so, daß die Steuerbevollmächtigten Steuerberater werden konnten, und zwar nach einer schwierigen Prüfung mit einem mündlichen Teil und drei schwierigen schriftlichen Klausurarbeiten. Meine Damen und Herren, wir sind uns alle einig darüber, daß, wenn man schon einen einheitlichen steuerberatenden Berufsstand haben will, der Übergang nicht so schwierig sein darf, wie es bisher der Fall war. Auf der anderen Seite sind wir uns aber auch darüber einig, daß der 22 000 Personen umfassende Kreis der Steuerbevollmächtigten das nicht geschenkt bekommen kann, was die 5000 Steuerberater erbringen mußten.Es stellt sich nun die Frage: Wie löst man das Problem des Übergangs? Wenn es bei der Ausschußfassung verbliebe, die im übrigen den Tendenzen im Rechtsausschuß und im Wirtschaftsausschuß entgegensteht, käme für den Übergang lediglich ein Seminar von 50 Stunden und eine mündliche Prüfung von höchstens 20 Minuten je Kandidaten in Betracht. Wir sind der Meinung, daß das keine echte Prüfung mehr wäre. Im Finanzausschuß waren wir aber alle der Meinung, daß eine echte Prüfung erforderlich ist. Auch der Kollege Porzner hat im Finanzausschuß wiederholt erklärt — so steht es im Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses vom 12. April —, daß es sich durchaus um eine echte Prüfung handeln solle.
Wir sind der Meinung, daß eine echte Prüfung aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil bestehen muß, damit eine gerechte Gesamtbeurteilung zustande kommt. Deswegen wollen wir zwar nicht an diesen drei schwierigen Klausuren, aber wenigstens an einer schriftlichen Klausurarbeit neben der mündlichen Prüfung festhalten. Meine Damen und Herren, darum geht es.Ich glaube, daß sich eine solche Regelung im Einzelfall durchaus auch einmal zugunsten eines Steuerbevollmächtigten auswirken kann. Wir kennen alle solche Kandidaten, die in einer mündlichen Prüfung, zumal wenn sie nur 20 Minuten dauert, vielleicht sehr fix sind, sich in einer schriftlichen Prüfung aber schwertäten. Umgekehrt gibt es Kandidaten, die in einer mündlichen Prüfung ängstlich*) Siehe Anlage 5sind und sich in einer schriftlichen Klausurarbeit besser entfalten und besser zeigen können, daß sie wirklich etwas können. Das Prüfungsergebnis sollte nicht von den 20 Minuten mündlicher Prüfung allein abhängig sein. Es sollten nicht bloß die äußerlichen Fertigkeiten des mündlichen Vortrags gewertet werden, sondern auch die der soliden, gründlichen schriftlichen Bearbeitung, die ja in diesem Berufsstand auch sehr notwendig sind.Meine Damen und Herren, nun wird eingewandt, es habe ja auch schon in der Vergangenheit Fälle gegeben, in denen verschiedene Berufsstände zusammengeführt worden seien; damals habe es auch keine schriftliche Prüfung gegeben. Man erinnert an die Dentisten und Zahnärzte, vor allem aber an die Buchprüfer, die im Jahre 1961 in den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer überführt worden sind. Es ist immer schwierig, Vergleiche zu ziehen. Nehmen wir aber einmal den vielleicht einigermaßen berechtigten Vergleich aus dem Jahre 1961: Die vereidigten Buchrevisoren sind damals Wirtschaftsprüfer geworden. Aber wie war das denn damals? Einmal ist es schon von der Zahl her eine völlig andere Problemstellung. Es gab damals 1235 vereidigte Buchprüfer, aber 1650 Wirtschaftsprüfer. Der aufnehmende Beruf war also zahlenmäßig größer als die Anzahl derjenigen, die dahin überführt werden sollten.Das zweite, was dagegen spricht, ist, daß damals ein Einverständnis zwischen beiden Berufszweigen bestand. Auch die Wirtschaftsprüfer wünschten diese Zusammenfassung; es gab nicht die berühmte Kontroverse, wie wir sie in den letzten Jahren zwischen Steuerberatern und Steuerbevollmächtigten hatten.Aber das Entscheidende war damals, daß es eine echte Prüfung gab, wenn auch ohne schriftlichen Teil. Es gab ein Seminar von Montag bis Samstag, das rein schulmäßig mit Frage-und-Antwort-Spiel aufgezogen wurde. Es fand dreimal zwei Wochen lang, also im ganzen sechs Wochen mit Unterbrechungen, statt. Am Ende war dann die mündliche Prüfung, so daß wirklich jeder jeden in seinem Leistungsvermögen beurteilen konnte.Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, wenn Sie diesen Vorschlag von damals bei der Überführung in die Wirtschaftsprüfer heute bringen, dann ziehen wir unseren Antrag sofort zurück. Mit dieser Übergangsprüfung — sechs Wochen Seminar, so wie es damals gehandhabt wurde — wären wir sofort einverstanden.Wir sind der Meinung, daß es einfach ungerecht wäre, den 22 000 Steuerbevollmächtigten jetzt ohne echte Prüfung den Status eines Steuerberaters zu geben. Es wäre ungerecht gegenüber den bisherigen Steuerberatern, die diesen Beruf auf die bisherige Weise erlangt haben, vor allem aber auch gegenüber den sehr tüchtigen Steuerbevollmächtigten, die sich in den letzten zehn Jahren aus eigenem Entschluß einer schwierigen Prüfung unterzogen haben und dadurch Steuerberater geworden sind. Ungerecht wäre es drittens aber auch gegenüber den künftigen Steuerberatern, wenn dieser Einheitsberuf zustande kommt, die auf Grund der normalen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11193
Dr. Häfeleakademischen Ausbildung den Steuerberaterstatus erhalten werden.Ich bitte Sie deshalb im Namen der Antragsteller, diesem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie sich recht erinnern, Herr Dr. Häfele, haben der Rechtsausschuß und der ebenfalls mitberatende Wirtschaftsausschuß in dieser Frage keineswegs etwas entschieden, sondern die Sache lediglich dem Finanzausschuß zur Prüfung übergeben. Der Finanzausschuß hat die Frage ausgiebig geprüft. Ich möchte hier in Abrede stellen, daß es überhaupt ein Kriterium für die schriftliche Prüfung sein kann, ob ein zahlenmäßig kleinerer aufnehmender Berufszweig eine größere Zahl von Bewerbern aufnehmen soll oder nicht. Das Zahlenverhältnis spielt für die Sachfrage überhaupt keine Rolle.
Wir haben, wie gesagt, die Frage ausgiebig beraten und sind dabei zu der Feststellung gekommen, daß es sich erstens um eine Übergangsprüfung handelt, wohlgemerkt: von Fachleuten, die bereits eine ausführliche Prüfung durchgemacht haben und außerdem eine sechsjährige Berufspraxis nachweisen müssen. Hieraus können Sie schon ersehen, daß wir nicht die Absicht haben, einen Übergang unnötig zu erschweren. Denn wir sind durchaus der Meinung, daß es sich hier um eine echte Prüfung handelt.
Die Prüfungsgebiete sind außerordentlich schwierig. Ich darf Ihnen an dieser Stelle sagen, daß das neue Prüfungsgebiet „Finanzgerichtsordnung" zur Zeit erst in die Prüfung der Steuerberater überhaupt eingeführt wird.
Das 50-Stunden-Seminar ist qualitativ hochstehend. Es hat drei anspruchsvolle Gebiete und endet mit einer umfassenden mündlichen Prüfung.
Auch ich möchte hier darauf verweisen, daß wir uns an der Zusammenführung anderer Berufe orientiert haben, wobei die Frage der Buchprüfer und der Wirtschaftsprüfer wohl das nächstliegende Beispiel bietet. Aber man kann auch auf die Zusammenführung der Dentisten und Zahnärzte und auf die Zusammenführung bei den Studienräten verweisen, wo wir ebenfalls immer auf schriftliche Prüfungen verzichtet haben. Wir haben die Frage hier außerordentlich lange erwogen und meinen, wir sollten es in diesem Fall nicht zu einer schriftlichen Prüfung kommen lassen.
Wir drücken außerdem unser Erstaunen darüber aus, daß jetzt eine Gruppe mit diesem Antrag kommt, nachdem der Finanzausschuß lange über diese Frage beraten und die Entscheidung mit großer Mehrheit — keineswegs nur mit den Stimmen der Koalition — gefällt hat.
— Ja. In Ihrer Fraktion gab es überhaupt drei Meinungen. Wenn ich mich richtig erinnere, Herr Dr. Häfele, haben Sie beide Anträge unterschiedlichster, in diesem Punkt auch kontroverser Art, unterschrieben. Aber davon kann man hier sicher nicht ausgehen.
Wir meinen, daß mit der Prüfung, wie wir sie vorgesehen haben, genug getan ist. Wir bitten, der Mehrheit des Finanzausschusses zu folgen und diesen Antrag abzulehnen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Auch hier klingt vieles, was gesagt wird, sehr plausibel. Eines allerdings leuchtet nicht ein: daß hier mit Zahlen und Standesrecht operiert wird. Es geht um die Qualifizierung von einzelnen, nicht um Zahlen.
Derjenige, der beraten werden will, will nicht wissen, ob 20 000 Steuerbevollmächtigte zu 4000 Steuerberatern kommen oder umgekehrt, sondern er will, daß derjenige, der ihn berät, etwas kann.
Deswegen ist Ihr Beispiel von den vereidigten Buchprüfern, die als Minderheit zu einer Mehrheit kam, nicht anders zu bewerten als das, um das es hier geht, nämlich um eine Überleitung von Menschen, die bereits im Beruf stehen und ihre Sache machen.
Ihr Beispiel, Herr Kollege Häfele, stimmt aber deswegen nicht, weil die vereidigten Buchprüfer ja mit der Überleitung neue Rechte bekamen. Wir haben aber hier den Fall, daß die Steuerbevollmächtigten heute schon das gleiche tun können wie die Steuerberater; sie haben das volle Recht dazu. Sie gewinnen also durch die Zusammenführung nicht neue Rechte, es sei denn das Armenrecht. Und nun wollen Sie eine ganz komplizierte Prüfung dafür fordern, daß man hernach das gleiche tun darf wie vorher. Ich meine, allein das Armenrecht rechtfertigt nicht eine so voluminöse Prüfung, wie Sie sie fordern.Schauen Sie einmal, das haben wir ja aber auch sonst nicht; wir können ja diese Frage nicht völlig isoliert betrachten. Überlegen wir doch, in wie vielen Fällen wir für junge Berufsanwärter eine qualifiziertere Ausbildung verlangen, als sie diejenigen besitzen, die vor 30 Jahren ihre Ausbildung erhalten haben. Üblich ist, daß wir selbstverständlich die bereits im Beruf Stehenden angleichen. Das geschieht im öffentlichen Bereich laufend. Wir alle erinnern uns doch wohl daran, daß wir zu unserer Zeit „technische Lehrer" in der Schule gehabt haben. Heute müssen die Berufsanwärter ein Hochschulstudium in Kunst oder Sport ablegen. Als diese Änderung in der Ausbildungsordnung erfolgte und die ersten von diesen akademisch ausgebildeten Lehrern in den
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11194 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Frau FunckeBeruf eintraten, wurden alle technischen Lehrer zu Studienräten umbenannt und in ihrer Besoldung umgestuft. Aber es hat kein Mensch eine schriftliche Prüfung über Musik und Sport ablegen müssen. Sie wurden selbstverständlich übernommen, und das ist bei uns generell im öffentlichen Dienst so. Und warum soll es dann nicht auch anderswo so sein? Eine höhere Stufung in den Berufsausbildungen zwingt noch nicht die ganze übrige Bevölkerung zu schriftlichen und mündlichen Prüfungen. Wenn wir das einführen wollten, müßten wir allerdings zu dem Volk der Dauergeprüften werden, denn immer wieder wird es den Fall geben, daß die Berufsanforderungen steigen und junge Berufsanwärter eine weitergehende Ausbildung haben als ihre Vorgänger.
Frau Kollegin, gestatten Sie dem Abgeordneten Halfmeier eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Frau Kollegin Funcke, würden Sie mir sagen können, ob es Ihr Eindruck ist, daß wir und das ganze Haus davon ausgehen können, daß diese letzte Meinung des Herrn Dr. Häfele nun auch wirklich seine letzte und endgültige Meinung sein wird? Denn er hat bisher alles unterschrieben, die gegensätzlichsten Gesetzentwürfe und nun auch noch diesen Antrag.
Herr Kollege, ich gehe heute davon aus, daß Herr Kollege Häfele das vertritt, was er gerade vorgetragen hat.
Aber lassen Sie mich, meine Kollegen, doch noch eines sagen, insbesondere für diejenigen, die nicht im Ausschuß waren, aber mit unterschrieben haben. Schauen Sie, was jetzt im Gesetzentwurf steht, ist bereits ein Kompromiß, bei dem sich diejenigen, die weniger wollten, und diejenigen, die mehr wollten, gefunden haben. Vielleicht sollten wir das auch respektieren. Der ursprüngliche Antrag von Kollegen aus allen Reihen dieses Hauses sah lediglich die Teilnahme an einem Seminar vor und nicht mehr, wobei die Länge des Seminars nicht einmal vorgeschrieben war. Wir haben dann gesagt: 40 Stunden Seminar und 15 Minuten mündliche Prüfung, und als das manchen noch nicht ausreichen wollte, sind wir noch weiter gegangen und haben 50 Stunden Seminar und 20 Minuten Prüfung beschlossen. Meine Herren und Dammen, irgendwo muß es doch aber einmal eine Grenze geben, und es muß bei dem Kompromiß bleiben. Weil man sich hier bereits von beiden Seiten entgegengekommen ist, meine ich, sollten wir diesen Kompromiß nun auch beibehalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Scheu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Gesetzgeber ist es nicht erlaubt, eine solche Entscheidung nach Standesinteressen zu tref-
fen. Daß beide, sowohl die Bevollmächtigten als auch die Berater, in der zurückliegenden Zeit ihren Standpunkt mit größter Intensität vertreten haben, ist ihr gutes Recht. Wir aber müssen uns wohl bei unseren Maßnahmen nach dem richten, was wir für richtig halten.
Von den beiden ursprünglichen Anträgen bis zur heutigen Beratung war es ein weiter Weg. In diesen beiden ursprünglichen Anträgen war kaum etwas Gemeinsames zu entdecken, und es ist eine großartige Sache, daß durch die Beratungen — daran sind auch die Verbände mit beteiligt — die Dinge so klar geworden sind, daß wir uns heute in der Gesamtfrage in allen drei Fraktionen so gut wie einig sind. Der Änderungsantrag von Kollegen aus allen drei Fraktionen will nur in einem Punkt eine — wie wir Antragsteller meinen — bessere Lösung für eine Übergangszeit.
Ich habe mich von Anfang an für den Einheitsberuf eingesetzt, habe aber auch von Anfang an immer den Standpunkt vertreten, daß beim Übergang die bisherigen Steuerbevollmächtigten einen angemessenen Nachweis erbringen sollen. Dazu gehört nach meiner Meinung und nach Meinung der Antragsteller auch wenigstens eine Klausur gegenüber den drei Klausuren, die früher von den Steuerberatern verlangt wurden, und die auch in Zukunft durch dieses Gesetz verlangt werden. Für die Qualifizierten, vor allem für die jungen Leute, ist das gewiß keine unüberwindliche Barriere. Für eine Minderheit ist die Sache ohnedies schwierig, auch bei einer I mündlichen Prüfung, die Frau Kollegin Funcke jetzt als Kompromiß bezeichnet hat; ich sehe es auch so.
Aber erlauben Sie mir noch eine Bemerkung, die nicht ganz zur Sache gehört. Bei der augenblicklich allgemeinen Schlechtwetterlage in diesem Hause betrachte ich es schon als eine gute Sache, wenn man sich in den Grundsätzen einig ist. Ich empfinde es aber wie eine Art warmen Regen, daß auch einmal zwischen den Fraktionen über eine Sache bis zum Schluß — auch noch bei der zweiten Lesung — gestritten wird. Daß das nun vorwiegend Damen sind, die hier für die andere Seite und gegen den Antrag sind, ist ein bißchen schwierig für einen Mann, der auf die Damen und ihre Meinung besonderen Wert legt; aber das müssen wir schaffen können. Wenn ich also gegen die Meinung einiger Freunde, auch aus dem eigenen Stall, stimmen werde, so glaube ich nicht, daß das einer guten Freundschaft auch nur im geringsten Abbruch tun kann. Hoffentlich auch den Damen gegenüber nicht!
Das Wort hat der Abgeordnete Pinger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, den Antrag auf Umdruck 290 abzulehnen. Wir haben hier gehört, es müsse eine echte Prüfung abgelegt werden, es müsse ein angemessener Nachweis erbracht werden, und
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11195
Dr. Pingerdas könne nur durch eine Klausur geschehen. Dann haben wir gehört, eine echte Prüfung müsse schriftlich erfolgen und mindestens aus einer Klausur bestehen; drei Klausuren seien nicht erforderlich. Des weiteren haben wir gehört, daß bei den Wirtschaftsprüfern eine mündliche Prüfung allerdings doch eine echte Prüfung sei, und zwar aus dem Grund, daß der aufnehmende Beruf der größere ist.Ich glaube, damit wird deutlich, daß es insofern nicht um eine Sachentscheidung geht.
Die Steuerbevollmächtigten und Steuerberater haben bisher einen Beruf ausgeübt, in dem sie im wesentlichen gleiche Rechte und Pflichten hatten. Sie haben den Nachweis der Fähigkeit in diesem Beruf bewiesen, indem sie diese Tätigkeit mindestens sechs Jahre lang ausgeübt haben. Nunmehr soll erneut eine Prüfung abgelegt werden. Daß überhaupt ein Seminar mit einer mündlichen Prüfung noch durchgeführt werden muß, ist meines Erachtens gegenüber den Steuerbevollmächtigten schon eine Zumutung. Das war aber, wie schon gesagt, ein Kompromiß im Finanzausschuß.Nun sollte man diese Prüfung nicht noch verschärfen wollen. Warum wollte man sie denn verschärfen? Offensichtlich wohl nur, um hier noch einmal einen Prestigekampf durchzuführen. Es geht hier doch darum, zwei Berufe zusammenzuführen, die bisher die gleiche Tätigkeit ausgeübt haben und die dadurch bewiesen haben, daß sie diese Tätigkeit,) auch ausüben können. Ich bitte Sie, es bei diesem Kompromiß des Finanzausschusses zu belassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meines Erachtens ist das kein technisches Problem, und es ist auch kein Problem irgendeines kleinen Mittels, plus oder minus, über das wir hier zu verhandeln haben, sondern das Kernproblem liegt viel tiefer. Es geht darum, wie Stände zusammengeführt werden sollen und können.
Ich habe mich als Vorsitzender des Ausschusses zwei, drei Jahre hindurch wie auch schon früher um diese Zusammenführung bemüht, indem ich immer wieder darauf hingewiesen habe: man kann zwei Stände nicht zusammenprügeln, man muß versuchen, eine gemeinsame Grundlage bei ihnen selber zu schaffen, mit anderen Worten, eine echte Ehe zustande zu bringen, die Vertrauenswürdigkeit für sich hat. Es ist das Bedauerliche, daß es immer noch offene Fragen gibt, denen beide Parteien nicht zustimmen können und bei denen der Versuch gemacht wird, den einen oder anderen mit dem einen oder anderen Mittel auszuspielen. Das kann aber nicht die Aufgabe des Gesetzgebers sein.
Ein Stand, meine Damen und Herren, wächst. Er wird durch eine lange Geschichte und durch die Autonomie, mit der er Standesbewußtsein und
Standesleistung pflegt. Das lassen wir meines Erachtens bei der Betrachtung des Gesamtproblems
außer Ansatz, und daher rühren die Schwierigkeiten.
Ich will in diesem Zusammenhang nur begründen, weshalb ich mich auch bei der Schlußabstimmung der Stimme enthalten werde. Ich tue das, weil ich die fachlichen Qualitäten nach beiden Seiten sehr hoch schätze, auch überzeugt bin, daß beide Stände von dringender Notwendigkeit für die Wirtschaft sind, ich mich aber im Ansatz dagegen wehre, daß zwei Stände zusammengeprügelt werden, die mit sich und in sich nicht einig sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schmidt hat soeben, glaube ich, das Wesentliche dargestellt. Das ist auch der Grund, warum wir hier geglaubt haben, mit unserem Antrag die Klausur noch zusätzlich fordern zu müssen. Wir haben das gar nicht so sehr gefordert, weil wir der Meinung wären, damit wäre nun alles zu retten, das wäre dann die ideale und über jeden Zweifel erhabene Prüfung, sondern aus einem ganz anderen Grund, aus dem gleichen, den hier soeben so überaus zutreffend Herr Schmidt (Wuppertal) dargestellt hat.Hier handelt es sich um eine Berufsgruppe, die nicht mit irgendwelchen Beamtengruppen verglichen werden kann, wie das hier mehrfach geschehen ist, sondern die im Rahmen eines freien Berufs gewachsen ist, die diesen Beruf einmal gewählt hat und die dafür vorgeschriebene Ausbildung einschließlich der nicht leichten Prüfungen hinter sich gebracht hat. Diese Berufsgruppe wird vom Gesetzgeber mit der Tatsache konfrontiert, daß sie zusammengeschlossen werden soll wegen vielleicht formal weitgehend gleicher Aufgabengebiete, aber jedenfalls trotz ganz zweifellos anderen Ausbildungsganges. Auch ich bin der Meinung, daß man so etwas vom Gesetzgeber aus überhaupt nicht tun sollte, sondern daß man es denjenigen überlassen sollte, die in die andere Gruppe überwechseln möchten, das durch Ablegung eines ganz normalen Ausbildungsganges zu tun.Die betroffene Gruppe, der meiner Meinung nach hart mitgespielt wird, ist aber nun zum Schluß so einsichtig, daß sie sagt: Wir möchten jetzt nicht mehr alles aufrechterhalten, was wir im Grundsatz dagegen gesagt haben; wenn aber schon eine Prüfung für erforderlich gehalten wird, möchten wir wenigstens, daß diese Prüfung nicht eine reine Farce ist, sondern durch eine schriftliche Arbeit wenigstens in etwa den Charakter einer Prüfung erhält. Diese Bitte ist so bescheiden, daß man ihr angesichts der vorher bestandenen grundsätzlichen Bedenken noblerweise entsprechen sollte, um der Gesamtsituation Rechnung zu tragen und die Geschichte, die an sich für meinen Geschmack aus mehreren Gründen unglücklich gelaufen ist, wenigstens etwas zu lindern.
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11196 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
KleinertDie Sache hätte ganz anders ausgesehen — lassen Sie mich damit bitte schließen —, wenn man den Weg hätte konsequent zu Ende gehen können, der anfangs mal eröffnet schien, nämlich Zusammenführung der Steuerberater und der Wirtschaftsprüfer in einem Beruf mit im wesentlichen akademischen Zugang und Zusammenführung der verbleibenden Steuerberater und der Steuerbevollmächtigten zu einem zweiten Beruf. Das ist die Zweistufigkeit, die nach den Funktionen, die wir in unserer Wirtschaft wahrnehmen können, zum Schluß einmal kommen muß. Es konnte jetzt nicht erreicht werden. Wenn es nun zu einer weniger glücklichen Lösung gekommen ist, sollten wir die Linderung einführen — es ist lediglich eine Linderung --, um die wir dem Wunsch der meisten Betroffenen entsprechend mit unserem Antrag bitten. Wir bitten Sie deshalb, diesem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Krammig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Gang der Debatte verfolgt, steht man unter dem Eindruck — verzeihen Sie, wenn ich das sage —, daß der ausgezeichnete Schriftliche Bericht gar nicht gelesen worden ist. Denn dort ist dargelegt, warum die Initiatoren des Antrags Drucksache VI/1424 der Meinung waren, man sollte beide Berufe zu einem Einheitsberuf zusammenführen. Wie ist denn die Situation? Beide Berufe üben die gleiche Tätigkeit aus. Frau Kollegin Funcke hat darauf hingewiesen, daß es eigentlich nur an zwei kleinen Rechten mangelt, was vielleicht sogar auf einem Versehen des Gesetzgebers beruht. Ich will es einmal offenlassen, warum die Steuerbevollmächtigten nicht die gleichen Rechte haben wie die Steuerberater. Aber beide üben den gleichen Beruf aus. Beide haben Prüfungsvoraussetzungen zu erfüllen, die genau festgelegt sind. Beide haben schriftliche Klausuren und mündliche Prüfungen über das Gebiet des Steuerrechts abzulegen, bevor sie die Zulassung erhalten können.
Können Sie mir eigentlich noch einen Beruf nennen, der in zwei verschiedenen Sparten geführt wird, obwohl er die gleiche Tätigkeit ausübt? Das ist der Grund, warum der Gesetzgeber seinerzeit die Dentisten, die ein ausgezeichnetes handwerkliches Können besaßen — die ehrenwerte Gilde der Dentisten soll mir jetzt nicht böse sein, wenn ich das so definiere —, mit dem vollakademischen Berufsstand der Zahnärzte zusammenführte. Man sagte: Beide machen das gleiche, sie reparieren unsere Gebisse. Ähnliches hat man bei den vereidigten Buchprüfern und Wirtschaftsprüfern gesagt. Obwohl die vereidigten Buchprüfer kein Testatrecht besaßen — sie durften also keine Aktiengesellschaften prüfen —, hat man gesagt: Im Grunde genommen tun sie das gleiche, also schließen wir sie zusammen. Das ist der Grund, weshalb wir Steuerbevollmächtigte und Steuerberater in einem Einheitsberuf zusammenführen wollen. Ich glaubte, Herr Kollege Kleinert und verehrter Herr Kollege Schmidt, es sei nötig, einmal
auf diesen Hauptbeweggrund der Initiatoren des Gesetzentwurfs Drucksache VI/1424 hinzuweisen.
Alles, was hier gesagt wurde, war so ausgezeichnet, daß ich bei meiner Meinung bleiben muß und Ihnen empfehle, den Antrag, noch eine Klausur einzuführen, abzulehnen.
Wird zu diesem Änderungsantrag noch das Wort gewünscht?
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag Umdruck 290 Ziffer 1 und Ziffer 2 zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Letzteres ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt. Wir stimmen ab über Art. 1 Nrn. 22, 23 und 24. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe auf Art. 2 a, Art. 3 und Art. 4, Einleitung und Überschrift. Wer zustimmen will, der gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei drei Gegenstimmen und einigen Enthaltungen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
Zur Aussprache erteile ich das Wort dem Abgeordneten Kreile.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geschichte der Steuerberatung berichtet von einer erstaunlichen Entwicklung eines neuen, erst in diesem Jahrhundert entstandenen Rechtsgebietes, nämlich des Steuerrechts. Sie berichtet aber auch gleichzeitig von dem Beruf, der sich der Auslegung des Steuerrechts widmet, nämlich den Helfern im unübersehbaren Gewirr der steuerlichen Normen, die in gleicher Weise den Mandanten, dem Recht, dem Staat und dem Gemeinwohl verpflichtet sind.Auf diesem steuerlichen Rechtsgebiet sind viele Berufe tätig. Neben den Rechtsanwälten und Notaren, den Wirtschaftsprüfern sind ganz zentral und ganz konzentriert die Steuerbevollmächtigten und die Steuerberater tätig. Diese beiden letzteren haben ein weitgehend übereinstimmendes, oft dekkungsgleiches Berufsbild. Es ist verständlich, daß deswegen der Ruf immer drängender geworden ist, einen Einheitsberuf zu schaffen. So ist der Grupgenantrag von Abgeordneten aller Parteien zu verstehen, die bisherige Doppelgleisigkeit der Steuerberatung durch Steuerbevollmächtigte und durch Steuerberater abzuschaffen und künftig nur einen einheitlichen Berufsstand der Steuerberater diesem Rechtsgebiet sich widmen zu lassen, nämlich den Beruf der Steuerberater.Eine Entwicklung hierzu war schon im Steuerberatungsgesetz 1961 vorgezeichnet. Eine breite Mehrheit in allen mit dem Steuerrecht befaßten Kreisen geht nun dahin, diese Einheit herzustellen. Dabei wird hoffentlich von keiner Seite verkannt, daß der Gesetzgeber bei der Neuordnung eines Berufsstandes die Pflicht hatte. die Interessen beider, nämlich
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Dr. Kreileder zusammenzuführenden Berufsgruppen, sorgsam kennenzulernen und zu prüfen. Dies ist in vierzehn sehr ausführlichen Sitzungen des Finanzausschusses, vier Sitzungen des Wirtschaftsausschusses und einer Sitzung des Rechtsausschusses geschehen. Hinzu kommt, daß diese Fragen in einem grundsätzlichen Anhörungsverfahren oder — um es mit einem neudeutschen Wort zu sagen — Hearing mit allen Beteiligten erörtert worden sind.Ich sage dies, um dem zahlenmäßig kleineren Berufsstand der Steuerberater zu versichern, daß seine Interessen bei der Zusammenführung nicht unberücksichtigt geblieben sind, nicht unerörtert geblieben sind. Dies zeigt in dem neuen Gesetz insbesondere auch die künftige Prüfungsgestaltung, die gegenüber dem Durchschnitt der bisherigen Prüfungen ganz allgemein erschwert ist.Es geht dem Gesetzgeber nun nicht nur darum, hier zusammenzufassen, zu fusionieren. Aus jeder Fusion entsteht eine neue Einheit, und diese neue Einheit ist nicht nur die Summe der beiden bisherigen, sondern sie gewinnt eine eigene neue, hoffentlich bessere Qualität. Der neue Berufsstand, der jetzt gebildet wird, den wir — und alle Parteien wollen dies — erschaffen wollen, wird gut daran tun, die Kritiker dieser Zusammenfassung davon zu überzeugen, daß das neue Steuerberatergesetz nicht zu einer Verminderung der Beratungsqualität, sondern zu einer Steigerung führt. Wer die bisherigen Kongresse sowohl der Steuerberater als auch der Steuerbevollmächtigten kennt, weiß, wie stark dieses Bestreben in den beiden bisherigen Berufsgruppen vertreten und verwurzelt ist. Genau diese Qualität benötigen wir alle hier. Denn eine Steuerreform kann nur geschaffen werden, wenn die Praxis die Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung bietet, wenn also das, was der Gesetzgeber schaffen will, in die Realität der täglichen Gesetzesanwendung eingehen kann. Steuerberater und Steuerbevollmächtigte haben für die Steuerreform außerordentlich bedeutsame Anregungen und Hinweise gegeben. Wir hoffen und wir gehen davon aus, daß dies auch der neue Steuerberater tun wird. Wir sind sicher, daß er zu dem beitragen wird, was das wichtigste im Verhältnis des Staates, der von seinen Bürgern Leistungen fordert und für ihn Leistungen erbringt, zu eben diesem Bürger ist, der Leistungen erhält, aber sie selbst in Form von Steuern vorher bezahlen muß. Das wichtigste nämlich ist ein einheitliches, abgewogenes und soziales Steuerrecht, das eine Zierde des Rechtsstaates sein soll und sein muß. An dieser muß der Steuerberater ebenso wie der bisherige Steuerberater und Steuerbevollmächtigte mitschaffen.Deswegen bittet die CDU/CSU-Fraktion um Zustimmung zu diesem neuen Steuerberatergesetz.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Initiative zur Vereinheitlichung der beiden Berufsstände, die auf dem Felde der Steuerberatung tätig sind, kam aus der Mitte des Parlaments, nachdem durch das Steuerberatungsgesetz von 1961 und die nachfolgenden Änderungen der Abgabenordnung und der Strafprozeßordnung die Unterschiede in den Rechten beider Berufsgruppen, die zwei Berufsstände noch hätten begründen können, praktisch ausgeräumt waren. Herr Krammig hat hier ausführlich über diesen Punkt gesprochen. Ich möchte meinem Kollegen Herrn Kleinert noch einmal ausdrücklich sagen, daß es sich nicht um eine Tätigkeit auf einem formal gleichen Gebiet, sondern um eine effektiv gleiche Tätigkeit handelt.
Der Finanzausschuß hat über den vorliegenden Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes — Drucksache VI/1424 — ausgiebig beraten. Es bestand volle Übereinstimmung darüber, daß der Zugang zu dem neuen Beruf über zwei Bildungswege möglich sein soll.
Zwischenfrage? Frau Huber : Ja, bitte!
Frau Kollegin, sind Sie nicht auch der Meinung, daß bei der Behandlung dieses nicht unwichtigen Gesetzes der Herr Finanzminister oder der Herr Staatssekretär anwesend sein sollte?
Der Herr Staatssekretär ist anwesend; er hat gerade noch neben mir gesessen. — Da erhebt er sich, Herr Dr. Becker.
Ich habe soeben davon gesprochen, daß volle Übereinstimmung im Finanzausschuß darüber bestand, daß der Zugang zum neuen Einheitsberuf Steuerberater künftig über zwei Wege möglich sein soll, nämlich erstens über ein rechts- oder wirtschaftswissenschaftliches Studium mit anschließender dreijähriger Praxis auf dem Gebiet des Steuerwesens und zweitens über eine Realschul- oder vergleichbaren Abschluß mit nachfolgender abgeschlossener Lehre in einem steuerberatenden oder verwandten Beruf und anschließender zehnjähriger hauptberuflicher Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens, wovon fünf Jahre bei einem Steuerberater zu absolvieren sind.Weitgehende Einmütigkeit bestand, bis auf die hier diskutierte Frage der Wirtschaftsprüfer, auch in der Frage, welche Personen von der Prüfung ausgenommen sein sollen. Ich meine hier die Hochschulprofessoren, die im Steuerfach tätig sind, die Finanzrichter und die Finanzbeamten.Der Schwerpunkt der Beratung lag bei der Gestaltung der Übergangsbestimmungen für die jetzigen Steuerbevollmächtigten, die zu Steuerberatern bestellt werden wollen. Der Gesetzentwurf knüpft den Übergang für Bewerber mit sechsjähriger bzw. bei Hochschulabsolventen mit dreijähriger Berufs-
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Frau Huberpraxis an die erfolgreiche Teilnahme an einem Seminar mit anschließender mündlicher Prüfung. Die Frage der schriftlichen Prüfung hat in den Beratungen breiten Raum eingenommen. Sie haben den Niederschlag soeben in der Diskussion erlebt. Der Ausschuß hat sich mit großer Mehrheit gegen die schriftliche Prüfung ausgesprochen.Der Gesetzentwurf regelt ferner die Zusammensetzung des prüfenden Seminarausschusses, der aus zwei Beamten der Finanzverwaltung und zwei Steuerberatern bestehen wird, von denen einer nach einer gewissen Anlaufzeit ein bereits geprüfter ehemaliger Steuerbevollmächtigter sein wird.Den nahtlosen Übergang sichern ferner Bestimmungen für die weitere Zulassung von Steuerbevollmächtigten innerhalb einer Übergangszeit und Regelungen, die die Zusammenführung der Berufskammern zu einer neuen Steuerberaterkammer als Rechtsnachfolger der beiden jetzigen Kammern betreffen mit entsprechenden Bestimmungen über die erste Mitgliederversammlung und Vorstandswahlen.§ 34 umreißt die Aufgaben der regionalen Berufskammern, § 43 die der künftigen Bundessteuerberaterkammer. Hier ist der Text an die Anwaltsordnung angelehnt worden.
— Bitte, Frau Kalinke, wollten Sie etwas fragen?
— Ich habe nur einige wichtige Angaben dazu gemacht.Meine Fraktion ist der Auffassung, daß nach Abwicklung der Übergangsprüfung und Zusammenführung der Kammern der neue Berufsstand Steuerberater in wenigen Jahren ein geschlossenes Bild abgeben und sich der Öffentlichkeit präsentieren wird als eine modern ausgebildete, einheitliche Berufsgruppe, die unsere Bürger in Steuerfragen umfassend und zuverlässig beraten kann.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Eine öffentliche Bestellung soll dem Schutz des Mandanten dienen. Es soll derjenige, der auf einem schwierigen Felde eine Beratung braucht, die Sicherheit haben, daß diese Beratung sachgemäß und qualifiziert ist.
Nun ist das Steuerrecht im Laufe der Zeit immer komplizierter geworden, und wir wissen, wie eng die eine Steuerart mit der anderen verbunden ist und wie sehr sich alles überschneidet. Darum können wir nicht mehr davon ausgehen, daß es grundsätzlich einfache Fälle und grundsätzlich schwierige Fälle gibt oder daß eine Wirtschaftsart oder Branche nur einfache Fälle und eine andere nur schwierige Fälle hat. Sowenig es einen Arzt gibt, der nur für
Halsentzündungen und Fußverstauchungen zuständig ist, und einen anderen, der nur kompliziertere Sachen hat, so wenig kann es auf diesem schwierigen Feld der Steuern unterschiedliche Qualifikationen geben, etwa eine kleine Facultas und eine große Facultas. Denn jeder, der sich an einen „Steuerberater" — jetzt nicht im berufsständischen, sondern im wörtlichen Sinne gemeint —, also an einen beratenden Steuerfachmann, wendet, will die Sicherheit haben, daß dieser nicht nur eine Steuerart oder ein paar häufig vorkommende kennt, sondern die ganze Palette der möglichen Abhängigkeiten der Steuern kennt.
Insoweit ist es, glaube ich, richtig, die Eingangsvoraussetzungen für den steuerberatenden Beruf zu verbessern und das akademische Studium vorzusehen. Aber selbstverständlich — davon werden wir Liberalen uns niemals abbringen lassen — muß es auch einen zweiten Bildungsweg geben, nicht zuletzt deshalb., weil es in diesem Felde tatsächlich nicht nur Prüfungswissen gibt — das habe ich soeben auch deutlich zu machen versucht —, sondern weil zu dem Prüfungswissen auch eine ganze Menge von Erfahrungen hinzukommen muß. Wer im täglichen Leben viele Erfahrungen gesammelt hat und klug genug war, diese richtig zu verarbeiten, soll auch die Möglichkeit haben, auf diesem Erfahrungsgebiet auch ohne akademisches Studium weiterzukommen.
Daß es daneben noch einen weiteren Aufstieg geben sollte, bleibt unbestritten. Jeder Steuerberater zukünftiger Art kann selbstverständlich in einer Zugangsprüfung die Befähigung zum Wirtschaftsprüfer erwerben. Es kann kein Zweifel sein, daß es innerhalb der Wirtschaft einen Bedarf für die Doppelqualifikation gibt, die aber nicht für alle Fälle notwendig ist. Deshalb halte ich die getrennten Berufe des Wirtschaftsprüfers und des Steuerberaters mit der Möglichkeit der Kombination durch eine erleichterte zweite Prüfung für den Weg, den die Praxis braucht und daher vermutlich auch gutheißen wird.
Die FDP begrüßt es, daß mit diesem Gesetz eine Entwicklung zu Ende geführt wird, die mit dem Gesetz von 1961 eingeleitet wurde und die dem immer schwieriger und komplizierter werdenden Steuerrecht entspricht. Denn alle diejenigen, die auch etwas mit Steuerreform zu tun haben — in der nächsten Zeit werden wir das ja wohl alle haben —, wissen, daß es, ob man nun den Entwurf der Steuerkommission oder die Eckwerte der Bundesregierung nimmt, eine nennenswerte Vereinfachung nicht geben wird und nicht geben kann, weil unser kompliziertes Wirtschaftsleben mit seinen unendlich vielen Anforderungen und gewachsenen Strukturen eine Vereinfachung nicht leicht oder nicht möglich macht.
Bis zu dieser Stunde hat es bei dem Zusammenführen der zwei Berufe viel Gegeneinander gegeben. Nicht jedes harte Wort wird schnell vergessen werden. Es sind Emotionen aufgerührt worden, auch im Verhältnis zu den Politikern und der
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Frau Funcke
Politiker untereinander. Mein Wunsch wäre, daß, wenn jetzt die Entscheidung gefallen ist, die Emotionen wieder auf das sachlich vertretbare Maß zurückgeführt werden und beide Berufsgruppen in einem guten Zueinander den Weg finden, so wie es Herr Dr. Schmidt angedeutet hat. Das Gesetz allein schafft noch nicht die Atmosphäre, die zum Zusammenwachsen notwendig ist, aber ich möchte hoffen, daß sie in Zukunft in der gemeinsamen Arbeit entstehen wird.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in der dritten Beratung.
Wer dem Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Gegenstimmen und einigen Stimmenthaltungen mit sehr großer Mehrheit angenommen.
Der Ausschuß beantragt unter Ziffer 2 des Ausschußantrages, den Gesetzentwurf Drucksache VI/1617 für erledigt zu erklären. Ich nehme an, daß die Opposition damit einverstanden ist. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Ich stelle einstimmige Beschlußfassung fest.
Das Wort zu einer von dem vorher amtierenden Präsidenten genehmigten persönlichen Erklärung zu dem verabschiedeten Gesetz hat der Herr Abgeordnete Häfele.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Halfmeier war so liebenswürdig, hier den Eindruck zu erwecken, als ob ich entgegengesetzte Anträge vertreten hätte. Ich muß sagen, das wundert mich, Herr Halfmeier, da Sie ja Mitglied des Finanzausschusses sind.
Herr Abgeordneter Häfele, der vorhin amtierende Präsident hatte Ihnen die Genehmigung zu einer persönlichen Erklärung und nicht zu einem Debattebeitrag gegeben. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, weil ich das Gefühl habe, Sie kommen sehr schnell zu einem Diskussionsbeitrag.
Herr Präsident, ich bin mir darüber völlig im klaren; aber Sie waren vorher noch nicht am Präsidiumstisch. Der Herr Halfmeier hat mir in einer Zwischenfrage diesen Vorwurf gemacht, und ich glaube, daß es Sache einer persönlichen Erklärung ist, das richtigzustellen.
Wie war es im Finanzausschuß? Jedes Mitglied des Finanzausschusses weiß, daß ich seit dem öffentlichen Hearing, das der Finanzausschuß in dieser Frage durchgeführt hat, konsequent die Meinung
vertreten habe, daß beim Übergang wenigstens eine Klausur verlangt werden muß. Diesen Antrag, gestellt am 12. April, habe ich immer vertreten. Ich war der Antragsteller. Leider hat dieser Antrag keine Mehrheit gefunden. Wie da etwas Entgegengesetztes herauskonstruiert werden kann, ist mir unerfindlich. Es stimmt, daß im Jahre 1970 zwei Initiativgesetzentwürfe aus der Mitte dieses Hauses eingebracht worden sind, einmal zur Zusammenführung von Steuerbevollmächtigten und Steuerberatern, dann aber auch von Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Ich habe — das habe ich im Finanzausschuß auch immer erklärt — wie manche anderen Kollegen auch beide Entwürfe unterzeichnet,
da sie nicht denknotwendig einander widersprechen. Aber ich glaube, daß es das gute Recht — —
Herr Wehner, auch Sie müssen sich an die Ordnung halten.
Herr Abgeordneter Häfele, Sie sind ja lange genug
Mitglied dieses Hauses, aber Sie strapazieren das Instrument der persönlichen Erklärung. Ich muß Ihnen sagen, ich hätte mir als amtierender Präsident Ihre Erklärung vorher vorlegen lassen, und diese hätte ich Ihnen nicht genehmigt. Ich gebe Ihnen noch zwei Minuten Zeit.
Ich bedanke mich, Herr Präsident!
Ich will nur sagen, wenn ein Abgeordneter auf Grund eines öffentlichen Hearings eine Meinung gefunden hat und vorher ausdrücklich erklärt hat, daß er sich bei diesem Hearing die Meinung bilden will, dann glaube ich, ist das genau die Art, wie wir hier seriös Gesetze machen. Dies habe ich bei diesem Gesetzgebungsverfahren versucht, und deswegen muß ich es Ihrem Ermessen überlassen, ob der Vorwurf des Herrn Kollegen Halfmeier fair war oder ob er nicht fair war.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Ich komme zu Punkt 19 der Tagesordnung:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes
— Drucksache VI/3483 —Das Wort hat der Herr Bundesarbeitsminister.
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Arendt, Bundesminister für Arbeit und Sozial-ordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Drucksache VI/3483 legt die Bundesregierung diesem Hohen Hause den Entwurf eines Vierten Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes vor. Damit sollen die laufenden Rentenleistungen der 2,4 Millionen Kriegs- und Wehrdienstopfer ab 1. Januar 1973 um durchschnittlich 9,5 % erhöht werden. Einschließlich dieser Erhöhung werden die Renten in dieser Legislaturperiode um durchschnittlich mehr als 42%, die Witwenrenten sogar um mehr als 53 % steigen. So betragen ab 1. Januar 1973 die Grund- und volle Ausgleichsrente eines erwerbsunfähigen Beschädigten 768 DM gegenüber 540 DM und die einer Witwe 460 DM gegenüber 300 DM im Vergleichsjahr 1969.Selbstverständlich fällt auch die Erhöhung aller übrigen Leistungen des Gesetzes — wie Pflegezulage, Schwerstbeschädigtenzulage und Ersatz für Kleider- und Wäscheverschleiß erheblich ins Gewicht. Dabei darf auch nicht übersehen werden, daß neben der Erhöhung der Höchstbeträge des Berufsschadens- und Schadensausgleichs durch dieses Gesetz ohnehin eine Verbesserung dieser Leistungsarten durch die im vergangenen Jahr vorgenommene Harmonisierung der Anpassungsvorschriften erfolgen wird.Alle diese auf die individuellen Bedürfnisse geschädigter Personen abgestellten Versorgungsbezüge ergeben in ihrer Gesamtheit gerade im Bereich der Schwer- und Schwerstbeschädigtenversorgungsowie der Hinterbliebenenversorgung ein beachtliches Leistungsniveau. Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, macht wiederum deutlich, von welch großer Bedeutung für die Entwicklung des Kriegsopferrechts die Einführung der Dynamisierung in der Kriegsopferversorgung durch das Erste Neuordnungsgesetz im Jahre 1970 war.Auch bei dem vorliegenden Gesetzentwurf hat sich die Bundesregierung nicht nur auf die reine Anpassung beschränkt. Sie hat darüber hinaus einige Korrekturen vorgeschlagen, die sich bei der Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes als notwendig erwiesen haben, um Härten zu vermeiden. Sie beziehen sich auf die Betreuung von Eltern im Rahmen der Kriegsopferfürsorge und die Versorgung von Hinterbliebenen Schwerbeschädigter, die nicht an den Folgen der Schädigung gestorben sind und zu Lebzeiten infolge der Schädigung gehindert waren, eine ausreichende Hinterbliebenenversicherung zu schaffen. Einige Änderungen sollen dazu beitragen, den Schutz der Beschädigten bei Arbeitsunfähigkeit infolge eines schädigungsbedingten Leidens zu verbessern und eine einheitliche Durchführung des Gesetzes zu gewährleisten.Der vorliegende Gesetzentwurf sieht darüber hinaus eine Regelung vor, die es in Zukunft ermöglicht, deutschen Staatsangehörigen eine Versorgung zu gewähren, die am spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite teilgenommen haben und dabei durch einen Unfall oder eine Kampfmitteleinwirkung gesundheitlich geschädigt worden sind.Für die Leistungsverbesserungen auf Grund des Vierten Anpassungsgesetzes werden im Jahre 1973 Mehraufwendungen an Bundesmitteln in Höhe von nahezu 550 Millionen DM notwendig sein.Ich wäre dem Hohen Hause sehr dankbar, wenn es den vorliegenden Gesetzentwurf zügig beraten und recht bald verabschieden würde, damit die Versorgungsverwaltung die notwendigen Vorbereitungen für die Umstellung der Leistungen ab 1. Januar 1973 in die Wege leiten kann.
Meine Damen und Herren, damit ist die Vorlage der Bundesregierung eingebracht.
Ich eröffne die Aussprache in der ersten Beratung. Das Wort hat der Abgeordnete Geisenhofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ihnen vorliegende Vierte Anpassungsgesetz — Drucksache VI/3483 — beinhaltet die Erhöhung der Versorgungsbezüge nach § 56 des Bundesversorgungsgesetzes entsprechend der Anpassung der Bestandsrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung zum 1. Januar 1973 um 9,5%.Der Bundesrat sowie die Kriegsopferverbände haben anläßlich der Einbringung des Vierten Anpassungsgesetzes eine Anzahl berechtigter Forderungen erhoben. Diese Forderungen werden konfrontiert mit der katastrophalen Lage des Bundeshaushalts, an dem erhebliche Kürzungen vorgenommen werden müssen. Sollen die Kriegsopferrentner nicht die besonderen Leidtragenden der inflationären Entwicklung und dieser Finanzsituation werden, müssen hier in diesem Hohen Hause Prioritäten gesetzt werden. Die Kriegsopfer müssen in unseren sozialpolitischen Überlegungen an erster Stelle stehen. Die beste Lösung für die Kriegsopfer freilich wäre, Herr Bundesarbeitsminister, die Rückkehr zur Preisstabilität, die dieser Bundesregierung leider verlorengegangen ist.
Meine Damen und Herren, es ist unser aller Pflicht in diesem Hohen Hause, jenem Personenkreis, der in einem schrecklichen Krieg Schaden an Leben und Gesundheit genommen hat, ein menschenwürdiges, finanziell gesichertes Dasein zu ermöglichen. Im Gegensatz zu den Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen die Kriegsopferrentenleistungen aus sehr unterschiedlichen individuellen Leistungen, die zu einem erheblichen Teil gegenseitig verrechnet werden müssen. Durch diese gesetzlichen Besonderheiten werden insbesondere die Kriegswitwen benachteiligt. Auch das Vierte Anpassungsgesetz beseitigt diese Härten für die Kriegswitwen leider nicht. Daher sind neben der prozentualen Anhebung der Kriegsopferrenten um 9,5 % auch Verbesserungen in einzelnen Bereichen der Kriegsopferversorgung dringend notwendig. Zu diesen Bereichen gehören unter anderem:
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GeisenhoferErstens die von der CDU/CSU-Fraktion schon beim Dritten Anpassungsgesetz geforderte teilweise Nichtanrechnung der Witwengrundrente beim Schadensausgleich. Wir bedauern sehr, daß der Vorschlag des Bundesrates, bei § 40 des BVG eine Ergänzung der Art anzubringen, daß die Witwengrundrente nur noch teilweise, und zwar in Höhe von 210 DM, bei der Festsetzung des Schadensausgleichs berücksichtigt werden soll, durch die Bundesregierung leider abgelehnt worden ist. Die ablehnende Begründung der Bundesregierung, daß sozialpolitisch kein überzeugender Grund vorliege, von der Anrechnung der Witwengrundrente bei der Festsetzung des Schadensausgleichs abzusehen, muß doch uns alle sehr, sehr überraschen. Tatsache ist, daß die prozentuale Erhöhung von 9,5 % bei der Kriegswitwenrente im Gegensatz zu der gesetzlichen Rentenversicherung nicht voll wirksam wird. Infolgedessen haben wir die unerfreuliche Situation, daß das, was die eine Hand gibt, die andere Hand teilweise wieder nimmt. Die vom Bundesrat und von der CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagene Verbesserung könnte den schrittweisen Abbau der Benachteiligung der Witwen beim Schadensausgleich beseitigen.Zweitens. Ein weiteres Problem ist die kostspielige Einkommensprüfung bei der Elternrente und die Anrechnung der Unterhaltsansprüche gegenüber den Kindern nach § 51 BVG.Die CDU/CSU-Fraktion hat die Forderung erhoben, § 51 dahin gehend zu ergänzen, daß Leistungen auf Grund bürgerlich-rechtlicher Unterhaltsansprüche gegen Abkömmlinge nicht als Einkommen anzurechnen sind. Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum vorliegenden Gesetzentwurf diese Forderung durch einen Änderungsantrag deutlich unterstrichen.Nach allen Erfahrungen der Versorgungsverwaltung steht fest, daß die Kriegselternrentner die von der Versorgungsverwaltung festgesetzten fiktiv zumutbaren Unterhaltsansprüche gegenüber den Kindern tatsächlich nicht erhalten. Die Eltern müssen daher Kürzungen hinnehmen, ohne hierfür von irgendeiner Seite einen wirtschaftlichen Ausgleich zu erhalten.Die Nachprüfung der Einkommensverhältnisse der Kinder führt vielfach zu Unfrieden in der Familie und stört das Eltern-Kind-Verhältnis, ja, sie führt dazu, daß gar manche Anspruchsberechtigte auf die Elternrente einfach verzichten. Diese Bestimmung trifft fast ausschließlich wirtschaftlich besonders schlechtgestellte Kriegseltern, weil nur diese bürgerlich-rechtliche Ansprüche gegen ihre Kinder geltend machen können.Wirtschaftlich bessergestellte Eltern, deren Lebensunterhalt bereits außerhalb der Kriegsopferversorgung sichergestellt ist — ich nenne z. B. Austragsleistungen, Altersrente in der Landwirtschaft — werden von der maßgeblichen Vorschrift des § 16 der Durchführungsverordnung zu § 33 des BVG sowieso nicht erfaßt, weil sie keinen bürgerlichrechtlichen Anspruch haben.Die durch die erforderlichen Einkommensermittlungen entstehenden Verwaltungskosten, die zu Lasten der Länder gehen, stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den durch die Anrechnung von Unterhaltsleistungen sich ergebenden Einsparungen an Bundesmitteln beim BVG.Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Vorschlag des Bundesrates und der Kriegsopferverbände, § 36 des BVG dahin gehend zu ergänzen, daß das Bestattungsgeld beim Tode von Beschädigten von jetzt 750 DM auf 1000 DM erhöht wird. Die Leistungen auf diesem Gebiet sind seit 1964 nicht mehr erhöht worden, obwohl die Bestattungskosten erheblich gestiegen sind. Diese Forderung ist um so leichter zu erfüllen, da in vielen Fällen bei öffentlichen Leistungen von anderer Stelle, z. B. durch die Krankenkassen, in der Regel wegen der bestehenden Anrechnungsvorschriften ein Bestattungsgeld nach dem BVG nicht gezahlt werden kann. Die Mehrkosten fallen kaum ins Gewicht.Viertens. Nach Auffassung der CDU/CSU-Fraktion soll im Ausschuß auch geprüft werden, wie endlich die Altersversorgung von Pflegepersonal, das nicht nur vorübergehend, sondern dauernd die Wartung und Pflege eines Pflegezuschlagsempfängers unentgeltlich ausübt, gelöst werden kann. Durch die Pflege der Schwerstbeschädigten ist den Pflegepersonen meist eine eigene Alterssicherung verschlossen. Diese haben aber dem Staat durch ihren selbstlosen Einsatz die Mehrkosten für eine bezahlte Pflegekraft oder eine Anstaltspflege erspart. Es ist daher erforderlich, diesen Personen den Aufbau einer eigenen Altersversorgung zu ermöglichen. Zu prüfen ist ferner, ob die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung, einschließlich einer etwaigen Nachentrichtung der Beiträge, aus den Mitteln der Kriegsopferversorgung aufgebracht werden können.Meine Damen und Herren, in den Ausschußberatungen müssen wir uns darauf konzentrieren, wie diese Verbesserungsvorschläge Zug um Zug verwirklicht werden können.Eines sei abschließend mit aller Klarheit gesagt. Die Wiederherstellung der Stabilität unserer Wirtschaft und Währung kann und darf nicht auf dem Rücken der Kriegsopfer erfolgen. Stabilität kann nicht heißen: Stillstand aller Sozialreformen. Sie muß zumindest auch die finanzielle Anhebung bisher besonders benachteiligter Schichten und die Wiederherstellung der Stabilität jener Existenzen beinhalten, die durch die Geldentwertung der letzten Jahre am stärksten geschädigt wurden: das sind die Kriegsopfer, die Rentner und die kinderreichen Familien.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jaschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir nicht schwer, heute für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eine Erklärung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vierten Anpas-
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11202 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Jaschkesungsgesetzes zur Kriegsopferversorgung abzugeben, bedeutet dieses Gesetz doch eine konsequente Fortsetzung des Weges, auf den wir die Kriegs- und Wehrdienstopferversorgung zu Beginn dieser Legislaturperiode gebracht haben.
Wir haben es schon damals begrüßt, daß sich der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 eine Werterhaltung und eine Verbesserung der Versorgungsleistungen der oft schwer betroffenen Opfer zweier Weltkriege zum Ziel gesetzt hat.Die Entwicklung der Renten, wie sie in der soeben von Herrn Bundesminister Arendt abgegebenen Erklärung näher erläutert wurde, ist sichtbarer Ausdruck dafür, wie sehr wir uns den rund zweieinhalb Millionen Kiegsopfern verpflichtet fühlen. Herr Geisenhofer, der Herr Minister hat erklärt, daß allein die Witwenrenten, die Sie angeführt haben, in dieser Legislaturperiode um über 50% ansteigen werden. Das hat es bei CDU-Regierungen noch nie gegeben.
Auch wir wissen, meine Damen und Herren, daß noch nicht alles erreicht ist von dem, was sich die Beschädigten und Hinterbliebenen als einen in jeder Weise gerechten Ausgleich für ihre Opfer vorstellen. Gerade deshalb sind wir sehr froh darüber, daß es uns mit den bisherigen Anpassungsgesetzen gelungen ist, über die reinen Rentenanpassungen hinaus auch strukturelle Verbesserungen des Leistungsrechts zu verwirklichen, wofür sich entsprechend dem Entwurf der Bundesregierung auch diesmal wieder Möglichkeiten abzeichnen.Gewiß, diesmal stehen keine Strukturverbesserungen an, die das Ausmaß dessen erreichen, was das Erste und das Dritte Anpassungsgesetz vorsahen. Gleichwohl spricht der Aufwand für die Rentenanpassung in Höhe von über 1/2 Milliarde DM je Haushaltsjahr eindeutig für den Wert dieser Gesetzesvorlage.Wir sind der festen Überzeugung, daß es unter den Kriegsopfern Einsichtige genug gibt, die den Wert der jährlichen Rentenerhöhungen richtig einzuschätzen wissen und mit uns darin übereinstimmen, daß diese laufenden Anpassungen den unbedingten Vorrang haben müssen.Wir machen den Wunsch von Herrn Minister Arendt, den vorliegenden Gesetzentwurf zügig zu beraten und recht bald zu verabschieden, zu unserem eigenen Anliegen und werden uns nachdrücklich für die Erreichung dieses Ziels einsetzen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Namens der Fraktion der Freien Demokraten darf ich zu demRegierungsentwurf eines Vierten Anpassungsgesetzes zum Bundesversorgungsgesetz folgende Erklärung abgeben.Die Regierung der sozialliberalen Koalition schlägt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf dem Bundestag zum vierten Male in dieser Legislaturperiode eine allgemeine Verbesserung der Leistungen für die Kriegsopfer vor. Das ist ein Vorgang, meine Damen und Herren, wie es ihn weder in einer früheren Wahlperiode noch bei einer früheren Regierung gegeben hat.
Dieses Anpassungsgesetz ist wie seine Vorgänger der sichtbare Beweis dafür, daß wir nicht nur erklären, daß wir uns unserer Verantwortung für die Kriegsopfer bewußt sind, sondern daß wir auch danach handeln.
Die jährlichen Leistungsverbesserungen werden heute manchmal schon fast als eine Selbstverständlichkeit empfunden, obwohl es in der Vergangenheit drei, ja manchmal vier Jahre dauerte und schwerer politischer Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit bedurfte, bis eine weitere Erhöhung beschlossen war.Es ist vielleicht nicht uninteressant, einmal die Stationen der Gesetzgebung seit 1957 zu verfolgen. 1957 hatten wir eine Anpassung, dann 1960, 1964 und 1967. In zehn Jahren gab es dreimal eine Anpassung. Seit Beginn der sozialliberalen Koalition verzeichnen wir Anpassungen zum 1. Januar 1970, 1. Januar 1971, 1. Januar 1972, 1. Januar 1973. Das sind in vier Jahren der jetzigen Legislaturperiode der sozialliberalen Koalition vier Anpassungen entsprechend den Anpassungen, die auch nach Ihren Vorstellungen — ich bitte, das sagen zu dürfen — auf Grund der Rentenreform den Rentnern der Sozialversicherung zugebilligt worden sind.
Wenn heute mit einer nicht immer ehrlichen und sachlich zutreffenden Argumentation versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als sei trotz der Reform der Kriegsopferversorgung durch die Dynamik nichts wesentlich Besseres erreicht worden, möchte ich doch, meine Damen und Herren, auf folgendes hinweisen.Erstens. Bis 1967 sind die Einkünfte für viele Kriegsopfer über Jahre hinweg selbst dann konstant geblieben, wenn die Betreffenden nicht nur auf die Kriegsopferversorgung angewiesen waren. Denn durch die Anrechnungsbestimmungen haben Mehreinnahmen auf der einen Seite zu Kürzungen auf der anderen Seite geführt. Man soll heute doch nicht so tun, als hätte es Preissteigerungen damals nicht gegeben. Das, was damals durch die Preissteigerung in mehreren Jahren an Kaufkraftschwund bis zur nächsten Anhebung der Kriegsopferrenten zusammengekommen ist, hat die reale Kaufkraft der Kriegsopfer zweifellos weit mehr geschmälert, als es in der gegenwärtigen Situation der Fall ist, auch wenn das
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11203
Schmidt
die jetzigen Oppositionsparteien CDU und CSU nicht wahrhaben wollen.
— Herr Ott, Ihnen werde ich gleich noch etwas sagen. Ich komme in einer Passage dazu, auf Ihre Einwürfe zu antworten.
Zweitens. Nicht nur die Änderung der Anrechnungsbestimmungen 1967, sondern gerade auch die jährliche Anpassung seit 1970 hat dazu beigetragen, daß auch die Kriegsopfer langfristig effektiv an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben. Diese Tatsache ist auch durch Zahlenakrobatik aller Art und durch statistische Mätzchen, wie sie uns hier vorgesetzt werden, nicht zu leugnen.
Drittens. Die jetzige Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen von FDP und SPD waren und sind sich darin einig, daß die Kriegsopferversorgung einen Anspruch auf den gleichen Rang in unserem System sozialer Sicherung wie die Renten- und die Unfallversicherung hat. Auch das ist nicht so selbstverständlich, wie es heute hingenommen wird. Bis in die Zeit der Großen Koalition hinein mußten nicht nur die Kriegsopfer und ihre Organisationen in erbitterten Auseinandersetzungen um die Verbesserung der Leistungen kämpfen. Ohne weitergehende Gesetzentwürfe aus den Reihen der Koalitions- und Oppositionsfraktionen waren die früheren Regierungen zu den dann beschlossenen Gesetzen nicht bereit. Ich denke dabei nicht nur an die Gesetzentwürfe der 3. und 4. Legislaturperiode, wo es die FDP gegenüber Bundeskanzler Erhard auf die Koalitionsfrage ankommen lassen mußte, sondern ebenso an das Finanzänderungsgesetz, zweiter Teil, in der vergangenen Legislaturperiode, durch das unter den damals Verantwortlichen — Finanzminister Strauß und Arbeitsminister Katzer — sogar die Berichtspflicht über die Situation der Kriegsopfer in zweijährigem Abstand aus dem Bundesversorgungsgesetz gestrichen wurde, von Leistungsverbesserungen 1968 und 1969 ganz zu schweigen.Viertens. Wenn es dann 1969 so schien, als sei diese Phase auch für die nunmehr oppositionelle CDU/CSU überwunden, nachdem diese dem Vorschlag von SPD und FDP zur Dynamik zustimmte, wurde durch den derzeitigen Oppositionsführer Dr. Barzel doch einiges wieder in Frage gestellt.
Wenn der Herr Kollege Geisenhofer eben seitens der Opposition die Absicht äußerte, eine Reihe von zweifellos vorhandenen Wünschen, die auch der VdK und der Bundesrat angemeldet haben, im Rahmen der Beratungen zu prüfen, so frage ich mich doch, wie das in Übereinstimmung mit dem steht, was der Führer der Opposition gerade dieser Tage wieder gesagt hat, und ich frage mich, ob seine Forderung, der Haushalt müsse sich in seiner Zuwachsrate dem realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts nähern, für CDU und CSU praktische Bedeutung hat oder nicht. Das nämlich, was sicher wünschenswert erschiene, was in den Vorschlägen des Bundesrates enthalten ist, würde — damit wir das nur klar sehen — zusätzlich aus Steuermitteln 1973 56 Millionen DM, 1974 101 Millionen DM, 1975 141 Millionen DM und 1976 181 Millionen DM kosten. Wenn auf der einen Seite von realen Zuwachsraten und entsprechender Haushaltsentwicklung durch den Führer der Opposition nur gesprochen wird, kann man hier nicht so leicht sagen, dies und das sollte noch geschehen, ohne gleichzeitig die Millionen dafür auch irgendwo festzulegen.Die vorgeschlagenen Verbesserungen von zirka 9,5 % der Grundrenten, der Ausgleichsrenten, der Leistungen für Blinde, der Elternrenten, des Ehegattenzuschlags für Schwerbeschädigte, der Höchstbeträge des Berufs- und Schadensausgleichs, der Pflegezulagen usw. im Rahmen der jetzigen Bestimmungen gehen mit Sicherheit über das hinaus, was der Führer der Opposition als Orientierungsgröße für Haushaltsentwicklungen dieser Tage angekündigt hat.
Diese 9,5 % nehmen Bezug auf die Veränderungen der allgemeinen Bemessensgrundlage der Rentenversicherung, d. h. auf die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter in der Vergangenheit und nicht auf die reale Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts. Wenn diese nach dem Vorschlag Dr. Barzels Maßstab für den Haushalt werden soll müßte allerdings nicht nur die Besoldung für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes wesentlich eingeschränkt werden, sondern ebenso die Rentenerhöhung für die Alters- und Invalidenrentner, weil niemand, der von den Dingen auch nur ein klein wenig versteht, ernsthaft behaupten wird, daß im Sozialbereich und bei der Besoldung die Entwicklung wie bei den Löhnen und Gehältern der Wirtschaft — wenn auch teilweise phasenverschoben — verlaufen könne, ohne daß der Gesamthaushalt die reale Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts sichtbar überschreitet.Da aber bis zur Stunde entsprechende Kürzungsvorschläge und Änderungsanträge der Opposition zu den Sozialgesetzen im Sinne der Ankündigung von Herrn Dr. Barzel nicht vorliegen, gehen wir davon aus, daß sie wahrscheinlich wohlgemeint, aber ohne Kenntnis der sonst notwendigen Konsequenzen angekündigt sind und daß auch die CDU/CSU-Opposition ihre Zustimmung nicht verweigern wird.Die Beratungen im Ausschuß, Herr Kollege Geisenhofer, werden ferner zeigen, ob — die Größenordnungen, um die es geht, habe ich Ihnen genannt — neben den Vorschlägen der Bundesregierung zur Anpassung und strukturellen Verbesserung der Leistungen der eine oder andere Punkt noch positiv geregelt werden kann, wie es uns der Bundesrat und die Kriegsopferverbände vorgeschlagen haben. Wenn die Kriegsopfer in der Vergangenheit drei und mehr Jahre bis zur nächsten Erhöhung warten mußten, entstand bei ihnen häufig der Eindruck, daß erst dann wieder Verbesserungen zu erwarten seien, wenn durch das Ausscheiden eines bestimmten Anteils aus der Versorgung die gesunkenen
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11204 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Schmidt
Ausgaben Raum zur Erhöhung für den verbliebenen Teil gewähren.Ein Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre im Vergleich zu den Jahrzehnten davor macht deutlich, wie sich die Dinge geändert haben: 1960 3,976 Milliarden DM, 1966 6 Milliarden DM, 1967 6,9 Milliarden DM, 1968 6,7 Milliarden DM, 1969 6,7 Milliarden DM, mit Beginn der sozialliberalen Koalition 1970 7,5 Milliarden DM, 1971 8,3 Milliarden DM, 1972 8,6 Milliarden DM.In den vergangenen Legislaturperioden hatten die Gesamtausgaben nach den jeweiligen Erhöhungen einen rückläufigen Trend. Die sozialliberale Koalition hat dafür gesorgt, daß die Ausgaben von 6,7 Milliarden DM im Jahre 1969 auf 9 Milliarden DM im Jahre 1973 angestiegen sind, weil es ihr eine Aufgabenverpflichtung sozialliberaler Politik ist.
Auch diese Zahlen beweisen, daß alle Behauptungen, durch die der Eindruck entstehen soll, als gehe es den Kriegsopfern heute nicht besser als früher, bewußte oder unbewußte Irreführungen sind.Wir Freien Demokraten begrüßen es, daß die Bundesregierung dieses Vierte Anpassungsgesetz so rechtzeitig vorgelegt hat. Wir erwarten — ich glaube, auch die Zustimmung der Opposition mit einbeziehen zu können , daß die Beratungen im zuständigen Ausschuß möglichst rasch durchgeführt werden, damit die Verabschiedung in zweiter und dritter Lesung so rechtzeitig erfolgt, daß die in dem Gesetz vorgesehenen Erhöhungen zum 1. Januar 1973 gezahlt werden können.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ich sehe und höre keine anderen Vorschläge; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 20 auf, zu dem der Ältestenrat Ihnen eine verbundene Debatte vorschlägt:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katzer, Dr. Götz, Ruf und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente
— Drucksache VI/3325 —
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes über die Anpassung der Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie über die Anpassung der Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
— Drucksache VI/3448 —
c) Beratung des Berichts der Bundesregierung über die gesetzlichen Rentenversicherungen, insbesondere über deren Finanzlage in den künftigen 15 Kalenderjahren und Gutachten des Sozialbeirats zu den Vorausberechnungen und zu den Rentenanpassungen 1973
— Drucksache VI/3254
d) Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Sozialberichts 1972
— Drucksache VI/3432 —
Wir treten in die Beratung ein. Zur Begründung des Gesetzentwurfs auf Drucksache VI/3325 hat der Abgeordnete Ruf von der Fraktion der CDU/CSU das Wort. Seine Fraktion hat für ihn eine Redezeit von 30 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie Sie soeben gehört haben, begründe ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion den von uns eingebrachten Entwurf eines Rentenniveau-Sicherungsgesetzes auf Drucksache VI/3325. Zunächst darf ich Sie alle daran erinnern, daß wir bei der Rentenreform des Jahres 1957, die bekanntlich der DGB seinerzeit als „die soziale Großtat des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat, gemeinsam das Ziel angestrebt haben, die Rentner mit einem normalen Versicherungsverlauf aus der Nähe der Fürsorgeempfänger in die Nähe der Lohnempfänger zu rücken. Die bruttolohnbezogene dynamische Rente sollte also für den aus dem Arbeitsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer weitgehend .den Lohn ersetzen. Die Rentner sollten nach bestimmten, im Gesetz festgelegten Grundsätzen an der Lohnentwicklung laufend teilnehmen.Allerdings war die gesetzliche Rentenversicherung auch nach der Konzeption der Rentenreform nie als Vollversicherung gedacht, sondern stets nur als Grundsicherung, die durch betriebliche Altersvorsorge und Eigenvorsorge über Lebensversicherung und andere Vorkehrungen der privaten Vermögensbildung ergänzt werden soll. Bei dieser sogenannten Drei-Säulen-Theorie soll es nach unserem Gesetzentwurf, den ich hier begründe, auch in Zukunft bleiben.Bei der Verabschiedung der Rentenreformgesetze waren wir uns auch darüber bereits im klaren — das möchte ich deutlich sagen, weil immer wieder etwas Falsches behauptet wird —, daß ein Versicherter nach 40 Versicherungsjahren, der jeweils den Durchschnitt aller Arbeitnehmer verdiente, nie 60 % dieses Durchschnittsverdienstes erzielen konnte. Dieses lag an der vom Bundestag seinerzeit beschlossenen Rentenformel und daran, daß wir wegen der finanziellen Unsicherheiten und Ungewißheiten im Jahre 1958 die Rentenanpassung unterlassen mußten und es uns die ganzen Jahre hindurch aus denselben finanizellen Gründen nicht erlauben konnten, diese Rentenanpassung nachzuholen.Immerhin konnte der Versicherte zum Ende der 50er Jahre und in den ersten 60er Jahren nach 40 Versicherungsjahren eine Rente erreichen, die über
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11205
Ruf45 % seines Arbeitsentgelts lag. Als wir zur Zeit der Großen Koalition mit dem Dritten Rentenversicherung-Änderungsgesetz durch eine Reihe von Maßnahmen, nicht zuletzt durch eine Erhöhung des Beitragssatzes auf 18 °/o ab 1. Januar 1973, für die Rentenversicherung eine neue finanzielle Grundlage schufen, konnten wir nicht nur mit gutem Gewissen sagen, daß es uns gelungen sei, die bruttolohnbezogene dynamische Rente über den sogenannten Rentenberg hinwegzubringen, wir konnten auch eine Erhöhung des allgemeinen Rentenniveaus gegenüber den Bezügen der Aktiven in Aussicht stellen und etwa 50 % anvisieren.Allerdings ist, wie Sie in unserer schriftlichen Begründung nachlesen können, ein Rentenniveau von 50 °/o bei der Methode der um vier Jahre verzögerten Rentenanpassung nur dann zu erreichen, wenn sich die Lohnentwicklung bei einem jährlichen Lohnzuwachs von etwa 5 % einspielt. Steigen die Löhne stärker als 5 %, bleiben auf die Dauer die Renten hinter dem angestrebten Verhältnis zu den Löhnen zurück.
Steigen die Löhne z. B. um 6% pro Jahr, wie es die Bundesregierung ab 1977 bis 1986 unterstellt, dann wird das Rentenniveau von 41 % heute erst im Jahre 1981 47,6 % auf Dauer betragen. Das geht aus Unterlagen der Bundesregierung hervor. Bei7%iger jährlicher Lohnsteigerung beträgt das Rentenniveau dann nur 45,8 °/o.Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich in seinem Jahresgutachten 1971 zu diesem Sachverhalt wie folgt geäußert — ich darf mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitieren —:Da die außerordentlich starke Steigerung der realen Arbeitseinkommen in den Jahren 1970 und 1971 nicht nur zu Lasten der Gewinneinkommen, sondern wegen der raschen Geldentwertung auch zu Lasten der Sozialeinkommen gegangen ist, würde ein Fortgang des inflatorischen Prozesses die Sozialpolitik vor die Frage stellen, ob nicht in Abweichung von der Formel der Rentengesetze aus dem Jahre 1957 den Rentnern ein Ausgleich für den starken Kaufkraftverlust der Mark gewährt werden muß. Diese Formel der verzögerten Rentenanpassung beruht auf der Annahme, daß das Preisniveau stabil bleibt oder daß es zumindest keine Beschleunigung einer schleichenden Geldentwertung gibt. Andernfalls müssen die durchschnittlichen Renteneinkommen immer stärker hinter dem angestrebten Verhältnis zwischen Renteneinkommen und Arbeitseinkommen vor Eintritt in das Rentenalter zurückbleiben. Gleichzeitig nehmen bei unverändertem Beitragssatz die Überschüsse der Sozialversicherungsträger zu. Wegen der Pläne, mit den zu erwartenden Überschüssen neue Leistungsverbesserungen der Rentenversicherung zu finanzieren, ist auf den Zusammenhang hinzuweisen, daß es sich bei diesen Überschüssen um Beträge handelt, deren Realwert den Rentnern vorenthalten wird, weil die Renten nachwie vor verzögert angepaßt werden, währenddie Geldentwertung sich beschleunigt hat.Diese Bemerkungen des Sachverständigenrates sind schon bei früherer Gelegenheit hier im Hause zitiert worden. Sie sind aber von Vertretern der Koalitionsfraktionen damals als unwissenschaftlich, als zu wenig sachverständig, als unzuständig etc. abgetan worden. Aber, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, so ohne weiteres kann man über diese Auslassungen des Sachverständigenrates nicht hinweggehen. Natürlich haben die zu erwartenden Überschüsse mehrere Ursachen, u. a. die beschlossenen Beitragserhöhungen, die Entwicklung der Zahl der Gastarbeiter und andere Faktoren. Aber es läßt sich doch nicht bestreiten, daß sie zu einem wesentlichen Teil auf die inflationäre Entwicklung der letzten Jahre zurückzuführen sind.Hören Sie einmal, was der Sozialbeirat in dem Gutachten, das Sie auf Ihren Pulten liegen haben, dazu sagt! Der Sozialbeirat erklärt in seinem Gutachten:Der Rückstand der Rentenentwicklung gegenüber der allgemeinen Einkommensentwicklung und die Bedeutung dieses Rückstandes angesichts der Preisentwicklung in den vergangenen zwei Jahren sind so offenbar, daß sozialpolitische Erwägungen hier jedenfalls den Vorrang haben.Später heißt es in dem gleichen Gutachten des Sozialbeirates:Eine Nachholung der Anpassung der laufenden Renten ließe sich auch damit begründen, daß die nunmehr ausgewiesenen finanziellen Spielräume teilweise auf das Zurückbleiben der Renten hinter der allgemeinen Entgelts- und damit der Einnahmenentwicklung der Rentenversicherungsträger in den vergangenen Jahren zurückzuführen sind.Auch die Deutsche Bundesbank hat dazu Stellunggenommen und im letzten Geschäftsbericht folgen-des ausgeführt — ich darf dies ebenfalls zitieren —:Das Bild der künftigen Finanzentwicklung der Rentenversicherung ist nach den jüngsten Vorausschätzungen deshalb weit günstiger ausgefallen als vorher, weil sich durch die starke inflationäre Entwicklung der letzten Jahre der Abstand zwischen Arbeitsverdiensten und Renten erheblich vergrößert hat. Da die Rentendynamisierung stets erst mit einer mehrjährigen Verzögerung wirkt, zählten nämlich die Rentner in den letzten Jahren eindeutig zu den Leidtragenden des gesamtwirtschaftlichen Verteilungskampfes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie sollten auf Bundesbank, auf Sozialbeirat und auf Sachverständigenrat hören und deren überparteiliche Gutachten nicht so leichtfertig beiseite legen.
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11206 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
RufDamit nun sichergestellt wird, daß in Zukunft die Rentner nicht wieder Leidtragende inflationärer Entwicklungen werden, haben wir dieses Rentenniveau-Sicherungsgesetz eingebracht. Durch dieses Gesetz wird für die Rentenanpassung ein zusätzliches Kriterium, ein zusätzlicher Maßstab, nämlich die Sicherung eines stabilen Rentenniveaus, eingeführt.Dabei verstehen wir unter Rentenniveau das Verhältnis, in dem das Altersruhegeld nach 40 Versicherungsjahren und einem Prozentsatz der persönlichen Bemessungsgrundlage von Hundert in dem jeweiligen Rechnungsjahr zu den durchschnittlichen Brutto-Jahresarbeitsentgelten aller Versicherten in demselben Jahr steht. Er soll 50 % des für das jeweilige Jahr vorausgeschätzten durchschnittlichen Brutto-Jahresarbeitsentgelts aller Versicherten betragen. Dieser Richtsatz von 50 % darf nach unserem Entwurf von 1974 an um nicht mehr als fünf Punkte unterschritten werden.Bleibt es, meine Damen und Herren, bei der von der Bundesregierung vorgesehenen Rentenanpassung erst ab 1. Januar 1973, dann wird, unter Zugrundelegung der Annahmen des Rentenanpassungsberichts 1972, das Rentenniveau erst im Jahre 1976 die 45 %-Marke übersteigen, 1977 46% und, wie gesagt, ab 1981 erst 47,6 % betragen. Wird jedoch die im Jahre 1958 unterlassene Rentenanpassung gemäß unserem Entwurf schon zum 1. Juli 1972 zur Hälfte nachgeholt, so wird das Rentenniveau schon vom Jahre 1974 an auf 45,7 % steigen und schon im Jahre 1977 47,6 % und ab 1981 sogar 49 % betragen.Daraus, meine Damen und Herren, geht eindeutig hervor, daß wir auf das von uns vorgeschlagene Vorziehen der Rentenanpassung zum 1. Juli 1972 auf keinen Fall verzichten können. Wir können uns auch nicht, das darf ich heute schon erwähnen, etwa darauf einlassen, auf die hälftige Nachholung der 1958 unterlassenen Rentenanpassung zum 1. Juli zugunsten etwa einer Drittel- oder Viertelanhebung zu verzichten;
denn ich hatte bereits dargetan, daß selbst die von uns vorgeschlagene hälftige Nachholung nur ein Rentenniveau von nicht ganz 50 %, nämlich 49 %, auf die Dauer gewährleistet.
Meine Damen und Herren, es ist kein kleinliches Zahlenspiel von uns, sondern dahinter steckt mehr. Das System der leistungsbezogenen Alterssicherung — das war, wie gesagt, eine der großen Leistungen von 1957 — wird nur dann von Bestand sein können, wenn die Leistungen nach einem erfüllten Versicherungsleben sich deutlich von dem abheben, was andere ohne Vorleistungen aus der Sozialhilfe erhalten. Bei einem Rentenniveau, wie es bei einem Festhalten am bisherigen Rentenanpassungsmodus erzielt würde, ist dieser Abstand, sofern er überhaupt noch besteht, minimal. Das muß, meine Damen und Herren, schnellstens geändert werden, und zwar auf die Dauer; denn auch die Rentner mit einer höheren Rente haben auf Grund langjährigerhoher Beitragszahlungen ein Recht darauf, daß ihre Rente in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem erarbeiteten Lebensstandard steht.Der Bundesrat hat, wie Sie wissen, schon im Dezember vorigen Jahres beschlossen, den Entwurf eines Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetzes einzubringen, der die Anpassung der Renten um 9,5 % ab 1. Juli 1972 vorsieht. Diese Drucksache stand gemeinsam mit der Fraktionsinitiative eines Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetzes auf Drucksache VI/2585 vom September 1971 zuletzt im März dieses Jahres auf der Tagesordnung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Die Koalitionsfraktionen haben damals den Geschäftsordnungsantrag „Übergang zur Tagesordnung" gestellt und diesen mit ihrer schwachen Mehrheit seinerzeit durchgesetzt.
Dieses Mal, meine Damen und Herren, wird es Ihnen nicht so ohne weiteres möglich sein, über unsere Anträge und den Antrag des Bundesrates, die eindeutig im Interesse der Rentner liegen, zur Tagesordnung überzugehen.
Der Bundesrat hat, wie Sie der vorliegenden Drucksache entnehmen können, beim ersten Durchgang des Regierungsentwurfs eines Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetzes seinen früheren Beschluß bekräftigt, die vorgesehene Anpassung der Renten schon am 1. Juli vorzunehmen. Sie können also davon ausgehen, daß die CDU/CSU im Bundestag und im Bundesrat alle parlamentarischen Möglichkeiten im Interesse der Rentner nutzen wird, um das Rentenniveau im vorgesehenen Umfang zu erhöhen.
Im übrigen möchte ich hier einmal feststellen, daß bei den vom Ausschuß für Arbeit durchgeführten öffentlichen Anhörungen von Sachverständigen zu den von Regierung und Opposition eingebrachten Rentenreformgesetzentwürfen die Notwendigkeit der Anhebung des Rentenniveaus von allen Seiten anerkannt worden ist. Dies wahr wohl der einzige Punkt, meine Damen und Herren, der im Grundsatz bei dieser Anhörung im Ausschuß unumstritten war. Der Sprecher des Deutschen Gewerkschaftsbundes gab zwar der Einführung der flexiblen Altersgrenze den Vorrang; er machte aber kein Hehl daraus, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund an seiner alten Forderung auf Verbesserung des Rentenniveaus festhält, wobei er sogar für die 70er Jahre eine über 18 °/o hinausgehende Beitragserhöhung in der Rentenversicherung nicht grundsätzlich ausschloß.Hiermit ist im übrigen bestätigt worden, was laut „Wirtschaftswoche" vom 4. Februar 1972 der Bundeswirtschafts- und -finanzminister Schiller dem Rentenreformprogramm von Bundesminister Arendt seinerzeit vorgehalten hatte. Er schrieb nämlich laut „Wirtschaftswoche" folgendes:Es ist wohl damit zu rechnen, daß nach Verwirklichung der Reformvorschläge— gemeint war das Fünf-Punkte-Programm von Bundesminister Arendt —
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11207
Rufdie derzeitige Initiative der CDU/CSU auf Anhebung des Rentenniveaus zu einer allgemeinen Forderung wird, die man in absehbarer Zeit nicht mehr wird abweisen können. Eine erneute Beitragssatzerhöhung oder eine Erhöhung der Bundeszuschüsse würde dann zum Ausgleich der Finanzen gefordert werden.Die Sachverständigenanhörung hat aber auch — das muß ebenfalls gesagt werden — deutlich gemacht, daß eine Kombination des Vorschlags auf Rentenanhebung der CDU/CSU-Opposition mit der Einführung einer flexiblen Altersgrenze sehr wohl möglich ist und finanziell verkraftet werden kann. Darauf wird nachher im einzelnen mein Kollege Katzer noch zu sprechen kommen.Von seiten der Koalitionsfraktionen ist in letzter Zeit wiederholt erklärt worden, die von uns vorgesehene vorgezogene Rentenanpassung bedeute eine Rentenmanipulation, einen Eingriff in die bestehende Rentenformel. Meine Damen und Herren, davon kann nicht die Rede sein. Bei der Anhörung von Sachverständigen im Ausschuß haben uns verschiedene Sachverständige auf ausdrückliches Befragen erklärt, daß ein solcher Eingriff in die Rentenformel beim CDU/CSU-Entwurf nicht vorliege. Im Gegenteil: das Rentenreformgesetz von 1957 fordert die Beteiligung der Renten an der wirtschaftlichen Entwicklung, so wie es unser Antrag vorsieht.
Die Koalitionsfraktionen weisen ferner daraufhin, daß im April dieses Jahres die Rückzahlung der in den Jahren 1968 und 1969 entrichteten Rentnerkrankenversicherungsbeiträge erfolgt sei. Sie wissen doch ganz genau, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, daß es sich hier um eine einmalige Zahlung handelt, die nicht in das Rentenniveau eingeht. Dies zeigt die Tatsache, daß das Rentenniveau nach den Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums von 41 % im Jahre 1972 nicht über 41,9 % im Jahre 1973 ansteigen wird. Und wenn Sie sagen, wir hätten in den nächsten Jahren mit höheren Anpassungssätzen in der Rentenversicherung zu rechnen, nämlich mit 9,5 % ab 1. Januar 1973, mit 11,35 % ab 1974 und mit 10,5 % ab 1975, so müssen wir darauf hinweisen, daß sich auch diese höheren Anpassungssätze nur ungenügend auf das allgemeine Rentenniveau auswirken werden. Nach den Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums wird nämlich das Rentenniveau trotz dieser höheren Rentenanpassungssätze, wie gesagt, im Jahre 1973 nur 41,9 %, im Jahre 1974 43,5 % und im Jahre 1975 44,8% betragen. Bis zu dem gesteckten Ziel — 50 % Rentenniveau — bleibt also noch eine große Lücke und ein weiter Weg.Im Februar dieses Jahres hat das Bundesarbeitsministerium der Presse — ich habe das bei mir — Materialien zum Rentenniveau übergeben, wonach eine Analyse des Rentenniveau-Indikators, wie gesagt wird, nicht zu Ergebnissen führe, die eine Änderung des Rentenniveaus nahelegten. Dabei sieht — man höre und staune — das Bundesarbeitsministerium den sinnvollsten Indikator für die Qualität der Rentenformel in dem Verhältnis zwischen demdurchschnittlichen Nettoarbeitsentgelt aller Versicherten und dem entsprechenden Altersruhegeld nach einer maximalen Versicherungsdauer von gegenwärtig 49 Jahren. Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Wie viele Versicherte erreichen schon bis zum 65. Lebensjahr eine Versicherungsdauer von 49 Jahren? Nach dem von der Bundesregierung vorgelegten Rentenanpassungsbericht 1971 erreichen nur knapp 8 % der Männer, die wegen Vollendung des 65. Lebensjahres Altersruhegeld erhalten, eine Versicherungsdauer von 49 und mehr Jahren. Die durchschnittliche Versicherungsdauer von Männern bis zum Erhalt des Altersruhegeldes liegt heute bei 38 Jahren.Darüber, daß Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, jetzt mit den Nettovergleichen kommen, die mit Recht schon längst aus der öffentlichen Diskussion verschwunden sind, kann man sich in der Tat nur wundern.
— Ja, das hätten wir mal machen sollen.Lassen Sie mich nun zu den Kosten unseres Rentenversicherungsgesetzes einige Bemerkungen machen! Aus den Reihen der Koalitionsfraktionen sind hierzu Behauptungen aufgestellt worden, die darauf schließen lassen, daß die betreffenden Kollegen den Gesetzentwurf entweder nicht gelesen oder völlig falsch verstanden haben. Von Mehraufwendungen, die in die Hunderte von Milliarden gehen, wie behauptet worden ist, kann natürlich nicht die Rede sein. Im Gegenteil: durch den Gesetzentwurf als solchen entstehen überhaupt keine weiteren Mehraufwendungen. Mehraufwendungen für die Rentenversicherung entstehen nur dann, wenn auch in Zukunft bei absinkendem Rentenniveau infolge inflationärer Lohnentwicklung zusätzliche Rentenanpassungen vorgenommen werden müssen. Wird unser im Ausschuß liegender Entwurf eines Fünfzehnten Rentenanpassungsgesetzes, dessen Zielsetzung dem Rentenniveau-Sicherungsgesetz völlig entspricht, angenommen, sind unter Zugrundelegung der übrigen Annahmen der vorliegenden Vorausschätzungen der Bundesregierung zusätzliche Anpassungsmaßnahmen nicht mehr erforderlich.Die Richtigkeit unserer Vorausschätzungen der Mehraufwendungen zu Lasten der Rentenversicherung bis zum Jahre 1986 in Höhe von 72 Milliarden DM wird heute von keiner Seite mehr bestritten. Dieser Aufwand liegt im Rahmen des finanziell Verantwortbaren und Verkraftbaren; er läßt weitere Maßnahmen auf dem Gebiet der Rentenversicherung, wie jedermann weiß, ohne weiteres zu.Lassen Sie mich zusammenfassen. RentenniveauSicherungsgesetz, Anhebung des Rentenniveaus und das Vorziehen der Rentenanpassung um ein halbes Jahr sind für uns Bestandteile eines Rentenprogramms, auf das wir nicht verzichten werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Siewerden in dieser Woche im Ausschuß, in der nächsten Woche im Plenum und im weiteren Gesetz-
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11208 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Rufgebungsverfahren Gelegenheit haben, Farbe zu bekennen. Millionen Rentner werden die Debatte und Ihre Entscheidung mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
Meine Damen und Herren, zu Punkt 20 a, b, c und d hat das Wort der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe die Ehre, Ihnen heute namens der Bundesregierung den Sozialbericht 1972 vorzulegen. In Verbindung damit möchte ich auch einige Ausführungen zu den drei anderen aufgerufenen Tagesordnungspunkten machen.Der Sozialbericht 1972 ist der dritte Sozialbericht, den die sozialliberale Regierung diesem Hohen Hause vorlegt. Der erste Bericht von 1970 war in erster Linie Bestandsaufnahme und Programm. Er war und ist das sozialpolitische Kursbuch dieser Bundesregierung.Der Sozialbericht von 1971 war ein erster Rechenschaftsbericht. Er machte deutlich, daß auf dem weiten Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik in kurzer Zeit sehr viel erreicht wurde. Er zeigte bereits, daß die Bundesregierung ihr selbst gesetztes Ziel, den sozialen Rechtsstaat energisch auszubauen, sehr ernst nahm. Er machte auch deutlich, daß ein erheblicher Teil der Ankündigungen aus der Regierungserklärung bereits verwirklicht, eingeleitet oder auf den Weg gebracht worden war.
Der jetzt vorliegende dritte Sozialbericht macht das noch deutlicher. Es ist eine Leistungsbilanz, die sich sehen lassen kann. Das wissen alle Mitglieder dieses Hohen Hauses. Besonders die Sozialpolitiker können die Fortschritte ermessen.
Das gilt auch für die Opposition. Wir erwarten keine Anerkennung von der Opposition. Dennoch bleibt es die Wahrheit, daß diese Bundesregierung in kurzer Zeit für die Menschen in unserem Lande viel geleistet hat.
Wir sind in den letzten zweieinhalb Jahren auf dem Wege zu größerer sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit ein gutes Stück vorangekommen. Das wird durch den Sozialbericht 1972 eindeutig bewiesen.Einige Verbesserungen will ich hier besonders hervorheben. Wir haben dafür gesorgt, daß viele Menschen, die früher unzureichend oder überhaupt nicht gesichert waren, in den Schutz der sozialen Sicherung einbezogen wurden. Millionen Erwerbstätige, mitversicherte Familienangehörige und Hinterbliebene genießen heute den sozialen Schutz, dessen sie dringend bedurften. Dieses Mehr an sozialer Sicherheit kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Es wird besonders deutlich an der Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung: Rund vier Millionen Angestellte haben einen Rechtsanspruch auf den Zuschuß ihres Arbeitgebers zum Krankenversicherungsbeitrag erhalten.
Die meisten von ihnen haben heute allein dadurch monatlich zwischen 50 und 60 DM mehr auf ihrem Gehaltskonto. 300 000 Angestellte sind 1971 der gesetzlichen Krankenversicherung beigetreten. 30 000 Rentner hatten die gleiche Chance. Neun Millionen Versicherte erhalten bessere Geldleistungen, und zwar dann, wenn sie das Geld am nötigsten brauchen, nämlich nach der 6. Krankheitswoche.
26 Millionen Versicherte haben Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen.
— Ich komme gleich noch darauf zu sprechen, Herr Götz,
vielleicht wird Ihnen Genüge getan. Warten Sie es doch erst einmal ab.
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung wurde ebenfalls erheblich ausgeweitet. 9 Millionen Schüler, 1 Million Kinder, die einen Kindergarten besuchen, und 430 000 Studenten haben einen bundeseinheitlichen Unfallschutz erhalten. Sie sind heute bei einem Unfall, der jeden treffen kann, umfassend geschützt. Wenn man bedenkt, meine Damen und Herren, daß innerhalb eines Jahres etwa 390 000 Schüler, Studenten und Kindergartenkinder einen Unfall erlitten, dann wird die Bedeutung dieser Neuregelung sichtbar.Hier geht es aber nicht nur um Geldleistungen. Hier geht es auch nicht nur um das breite Angebot von Hilfen zur Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft, sondern es geht — und das halte ich für ebenso wichtig — auch darum, daß den jungen Menschen die Notwendigkeit und die Praxis der Unfallverhütung frühzeitig nahegebracht wird. Ich bin sicher, daß wir auf diesem Wege ein verschärftes Sicherheitsbewußtsein entwickeln, das ein ganzes Leben vorhält. Dadurch kann auch ein höheres Maß an Arbeitssicherheit erreicht werden.Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat es aber auch hier nicht bei bloßen Hoffnungen bewenden lassen. Sie hat sich das Ziel gesetzt, das Arbeitsleben humaner zu gestalten, und sie hat entsprechend gehandelt. Sichtbarer Beweis dafür ist die neue Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung in Dortmund. Durch die Arbeit der Bundesanstalt sollen neue Wege zur Unfallverhütung und zur Erhöhung der Arbeitssicherheit erschlossen werden.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11209
Bundesminister ArendtMehr Sicherheit bei der Arbeit wollen wir außerdem durch die Bestellung von Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften in den Betrieben herbeiführen. Der entsprechende Gesetzentwurf liegt diesem Hohen Hause vor.Meine Damen und Herren, auch die behinderten Menschen in unserem Lande sind nicht vergessen worden. Die Bundesregierung konzentriert ihre Anstrengungen darauf, allen Behinderten neue und umfassende Chancen zur Eingliederung in Beruf und Gesellschaft zu erschließen. Diesem Ziel dient der vom Kabinett vorgelegte Gesetzentwurf zur Angleichung der Rehabilitationsleistungen. Wir wollen erreichen, daß den Behinderten schnell und unbürokratisch geholfen wird. Wir wollen dafür sorgen, daß auch die Mitbürger, die bisher oft dazu verdammt waren, im Schatten zu leben, neue Lebenschancen erhalten.
Das haben wir schon in der Regierungserklärung angekündigt, und wir haben entsprechend gehandelt.Meine Damen und Herren, an dieser Stelle möchte ich noch auf eine andere Ankündigung aus der Regierungserklärung hinweisen. Ich meine die Durchforstung des Arbeits- und Sozialrechts. Der Wildwuchs, der in diesen Bereichen im Laufe der Jahre entstanden ist, macht das Recht schon für viele Fachleute unverständlich. Noch weit mehr gilt das für den Bürger. Gerade ihm, dem Betroffenen, aber sind wir es schuldig, daß er sich in den Gesetzen und Paragraphen zurechtfinden kann. Deshalb muß das Gesetzesdickicht gelichtet werden. Den ersten, aber sehr wichtigen Schritt auf diesem Wege haben wir bereits vollzogen. Die Bundesregierung hat den Allgemeinen Teil eines Sozialgesetzbuches verabschiedet und dem Bundesrat zugeleitet. Diesem Hohen Hause wird er alsbald vorgelegt werden. Mit dem Sozialgesetzbuch wollen wir Einheitlichkeit und Ubersicht schaffen.Die Durchforschung des Arbeitsrechts ist ebenfalls im Gange. Diese Materie ist vielleicht noch schwieriger als die Vereinheitlichung des Sozialrechts. Es wird daher noch eine Weile dauern, ehe der Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches vorgelegt werden kann. Nicht alles, meine Damen und Herren, ist eben in zweieinhalb Jahren zu schaffen.Unsere Leistungsbilanz ist lang und umfangreich. Ich habe nur einige Beispiele genannt. Lassen Sie mich noch einige Schwerpunkte hervorheben: An erster Stelle nenne ich hier das Betriebsverfassungsgesetz. In den vor kurzem abgeschlossenen Betriebsratswahlen hat die neue Betriebsverfassung ihre erste Bewährungsprobe bereits bestanden. Dieses Gesetz hat sich als eine der großen Reformleistungen dieser Koalition erwiesen.
Die Unkenrufe von seiten der Opposition und aus anderen Kreisen sind ohne Echo verhallt. Die neue Betriebsverfassung ist keine Konfliktordnung, wie immer wieder behauptet wurde, sondern eine echte Friedensordnung, und die 21 Abgeordneten derOpposition, die diesem Gesetz zugestimmt haben,können mit uns auf dieses Gesetzeswerk stolz sein.
— 21 haben zugestimmt, Herr Ruf, Sie leider nicht. Ich habe Sie in der Zustimmungsliste vermißt.
Auch das 624-DM-Gesetz war ohne staatlichen Zwang ein großer Erfolg. Die Tarifvertragsparteien haben den sozial gerechten Ausbau der Förderung sofort genutzt. Durch den Abschluß neuer vermögenswirksamer Tarifverträge hat sich die Zahl der begünstigten Arbeitnehmer schon verzehnfacht. Heute erhalten über zehn Millionen Arbeitnehmer vermögenswirksame Leistungen durch Tarifverträge. Vor der Reform des Vermögensbildungsgesetzes waren es nur etwa eine Million Arbeitnehmer.
Insgesamt nutzen zur Zeit mehr als 14 Millionen Arbeitnehmer das 625-DM-Gesetz. Die Vermögenspolitik hat noch nie so große Fortschritte gemacht.Die sozialliberale Koalition kann auch in der Agrar-Sozialpolitik auf große Fortschritte hinweisen. Auf dem Felde der Krankenversicherung kommen, wenn Sie den Gesetzentwurf verabschiedet haben, demnächst 2,4 Millionen Menschen zu einem sozialen Krankenversicherungsschutz. Für jeden der 370 000 Altenteiler unter ihnen zahlt der Bund einen Betrag von 825 DM jährlich. 550 000 Altenteiler sollen nach einem Entwurf der Bundesregierung ein höheres Altersgeld erhalten. 10 000 Empfänger von Landabgaberente werden nach Verabschiedung dieses Gesetzes eine Rente beziehen, die um 50 % höher ist als zu Beginn der Legislaturperiode. 6000 ehemalige Landwirte erhielten 1972 einen 70%igen Zuschuß zur Nachentrichtung von Beiträgen an die Rentenversicherung. Sie müssen als neue Arbeitnehmer in der Rentenversicherung nicht mit der Stunde Null beginnen.Meine Damen und Herren, ich will Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen und will es mit der Schilderung dieser Leistungen bewenden lassen. Ich kann aber wirklich nur jedem empfehlen, den Sozialbericht 1972 zur Hand zu nehmen und ihn auch zu lesen. Sie werden von der Fülle der Leistungsverbesserungen und von dem Ausmaß des sozialen Fortschritts, den wir in kurzer Zeit erreichen konnten, überrascht sein. Ich erkenne dabei sehr gern und dankbar an, Herr Götz, daß auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, den meisten dieser Sozialgesetze zugestimmt haben.
— Herr Götz, ich möchte Sie ermutigen, auf diesem Wege fortzufahren.
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11210 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Bundesminister ArendtWir alle wissen aus unserer täglichen Arbeit, daß die Informationslücke bei den Menschen draußen im Lande relativ groß ist. Der Sozialbericht 1972 kann hier schnelle Abhilfe schaffen. Er bietet einen umfassenden Überblick über das schon Erreichte und über die Leistungsströme in der Sozial- und Gesellschaftspolitik.Als Meßzahl für die mittelfristige Entwicklung der Sozialleistungen dient die Sozialleistungsquote. Sie gibt Aufschluß über den jeweiligen Anteil aller Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt. Auf die Einzelheiten möchte ich auch hier nicht eingehen. Ich darf Sie auch in diesem Punkte auf den Sozialbericht — und hier besonders auf das Sozialbudget — hinweisen.Nur eines lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben: Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt wird in den nächsten Jahren kontinuierlich steigen. Die Sozialleistungsquote erhöht sich von 25,3% im Jahre 1971 über 25,7 % im Jahre 1972 auf 26,4 % im Jahre 1976. Dieser Zuwachs ist unter anderem auf die Erweiterung des sozial gesicherten Personenkreises und auf die Dynamisierung der Sozialleistungen zurückzuführen.Dynamisiert wurden in dieser Legislaturperiode: die Kriegsopferrenten, das Unterhaltsgeld bei beruflicher Fortbildung und Umschulung sowie die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Fast alle Sozialleistungen werden jetzt alljährlich der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt. Das früher übliche Tauziehen um Verbesserungen, das die Leistungsempfänger in Unruhe stürzte, ist überwunden. Jetzt braucht niemand mehr mit schwarzen Fahnen oder mit Protestmärschen um Erhöhungen zu kämpfen. Jeder weiß, und zwar auf lange Sicht, woran er ist und was er zu erwarten hat.Meine Damen und Herren, in der gesetzlichen Rentenversicherung haben wir die Rentendynamisierung beireits seit dem Jahre 1957. Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken
und deshalb ausdrücklich feststellen, daß die bruttolohnbezogene dynamische Rente während der Amtszeit einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung eingeführt worden ist, obwohl die konstruktive Mitarbeit der sozialdemokratischen Opposition nicht zu unterschätzen war.
Inzwischen sind die Sozialrenten vierzehnmal andie Lohn- und Gehaltsentwicklung angepaßt worden.
Die Renten sind dadurch um insgesamt 156 % gestiegen. Das heißt, aus je 100 DM Rente im Jahre 1957 sind heute jeweils 256 DM geworden,
und im nächsten Jahr werden es 280 DM sein. Diese Zahlen können sich sehen lassen. Die Rentendynamik, die sich seit 1957 an den Grundsätzen der Stabilität und Kontinuität orientiert, hat sich bewährt, und sie wird sich weiter bewähren. Die Rentner kommen dabei nicht zu kurz. Das wissen wir, und das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, genausogut, wie wir es wissen.Im Geiste der stabilitätsbewußten und kontinuierlichen Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung schlägt Ihnen die Bundesregierung vor, die rund zehn Millionen Bestandsrenten der gesetzlichen Rentenversicherung mit Wirkung vom 1. Januar 1973 um 9,5 % zu erhöhen.Zusammen mit dem Regierungsentwurf zur 15. Rentenanpassung lege ich Ihnen den Rentenanpassungsbericht 1972 und das Gutachten des Sozialbeirates zu den Vorausberechnungen und zu den Rentenanpassungen 1973 vor. Mit der 15. Rentenanpassung werden die Spätfolgen der wirtschaftlichen Rezession von 1966/67 für die Rentner endgültig überwunden. Die verhältnismäßig niedrigen Anpassungssätze der letzten Jahre waren noch auf die geringen Lohn- und Gehaltssteigerungen in den Rezessionsjahren zurückzuführen.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben die Auswirkungen der Rezessionsjahre für die Rentner aber nicht tatenlos hingenommen. Schon 1970 wurde der Krankenversicherungsbeitrag der Rentner wieder abgeschafft. Die Renten werden seitdem wieder ungekürzt gezahlt. Darüber hinaus sind im April dieses Jahres auch die 1968 und 1969 einbehaltenen Beiträge zur Krankenversicherung pauschaliert zurückgezahlt worden. Zusammen mit der diesjährigen Rentenanpassung wurde dadurch in der Regel — auf das ganze Jahr gerechnet — eine Steigerung des Renteneinkommens um fast 10 % erreicht.
Damit ist das Renteneinkommen im Vergleich zu 1971 stärker gestiegen als die Löhne und Gehälter. Das wissen Sie auch. Der nächsten Anpassung von 9,5 % schließt sich 1974 eine Anpassung von mehr als 11% an. Für 1975 kann schon heute mit einer Rentenerhöhung von mehr als 10% gerechnet werden.Meine Damen und Herren, man muß, wenn ich es einmal tarifpolitisch ausdrücken darf, zu dem Ergebnis kommen, daß die Renten in diesem Jahr und in den kommenden Jahren an der Spitze der Lohnskala stehen. Das läßt sich gar nicht bestreiten.
Auch dies sollte deutlich gesehen werden: Die Stabilität der Rentenversicherungen fußt in erster Linie auf der Solidarität der Beitragszahler mit den Rentnern. Diese Solidarität darf durch nichts erschüttert werden. Wir wollen den Rentnern nichts vorenthalten. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es hier: In der Sorge um die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11211
Bundesminister ArendtRentner lassen wir uns von niemandem übertreffen. Das war so, das ist so, und das bleibt so.
Vor allem sollte alles vermieden werden, was einen Keil zwischen Beitragszahler und Rentner treiben könnte. Das wissen Sie ganz genau.Lassen Sie mich deshalb noch ein paar Bemerkungen zu dem Rentenniveau machen. Hier darf ich zunächst festhalten, daß die Sozialrente praktisch ein Nettoeinkommen darstellt.
Einzig und allein realitisch erscheint mir daher bei einer Diskussion über das Rentenniveau ein Vergleich der Renten mit dem Nettoeinkommen des Rentners vor der Pensionierung.
— Früher war nicht ich Arbeitsminister, sondern Herr Kollege Katzer.
Dabei ergibt sich folgendes. Für den Durchschnittsverdiener mit 40 Versicherungsjahren liegt die Rente heute bei 56 % seines letzten Nettoarbeitslohns. Bei einer Versicherungsdauer von 49 Jahren sind es über 68 %.Herr Ruf, ich darf Ihnen auf Ihre Ausführungen sagen, daß jeder sechste Rentner über eine Versicherungszeit von 49 und mehr Jahren verfügt. Das sind nicht 8 %, wie Sie gesagt haben, sondern 17 %.Politisch interessant ist ein Vergleich des heutigen Rentenniveaus mit dem Rentenniveau in den Jahren, als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die Regierung bildeten. In den 12 Jahren von 1957 bis 1968 war das Rentenniveau sechs Jahre lang, nämlich von 1961 bis 1966, deutlich niedriger als zu jedem Zeitpunkt in dieser VI. Legislaturperiode.
Um das heutige Rentenniveau zu erreichen, war allerdings eines notwendig: Der im Gefolge der Rezession von 1966/67 eingeführte Krankenversicherungsbeitrag der Rentner zur Stabilisierung der Rentenversicherungen mußte wieder abgeschafft und zurückgezahlt werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegten Gesetzentwurf zur Sicherung der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente machen. Der Titel dieses Entwurfs klingt verheißungsvoll.
Er entspricht auch unseren Vorstellungen. Aber nur der Titel!
Zum Inhalt läßt sich sagen: Es ist kein Sicherungsgesetz, sondern allenfalls ein Verunsicherungsgesetz.
— Natürlich ist das so, Herr Breidbach. Auf jeden Fall würde, wenn Ihre Vorschläge verwirklicht würden, jährlich in die Anpassung Unsicherheit hineingetragen. Die oft beschworene „Ruhe an der Rentenfront" wäre für immer dahin.Alljährlich würden um den Anpassungssatz neue Diskussionen entbrennen, wenn man Ihnen folgen und die Rentenanpassungen auch von einer vorausgeschätzten Lohnentwicklung abhängig machen wollte. Damit wäre jede Rentenanpassung im gleichen Maße umstritten wie alle Annahmen über künftige Lohnentwicklungen. Es kann nicht Aufgabe der Rentenanpassung sein, die Ergebnisse künftiger Lohnpolitik vorwegnehmen zu wollen. Die Rentenanpassung würde damit in das Wirkungsfeld der Tarifvertragsparteien geraten, die kraft ihrer Tarifautonomie die künftigen Löhne und Gehälter vereinbaren.Die Vorschläge der Opposition würden außerdem zu einer ungleichen Behandlung der Neurentner gegenüber den Altrentnern führen. Während den Bestandsrentnern ein Rentenniveau von mindestens 50 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten garantiert werden soll, kann eine Zugangsrente unter diesem Richtsatz liegen.Ich will das hier gar nicht vertiefen; dazu bieten die Beratungen im Ausschuß sicherlich noch ausreichend Gelegenheit. Aber auf eines möchte ich hinweisen dürfen: Wenn die Opposition von einem Richtsatz von 50 % des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts spricht, dann wird eine Grenze gezogen, die in Wirklichkeit niedriger liegt. Der Gesetzentwurf garantiert nämlich einem Versicherten mit 40 Versicherungsjahren nur ein tatsächliches Altersruhegeld in Höhe von 45 % des Durchschnittsbruttolohnes.
Diese Rente unterscheidet sich aber nur geringfügig, Herr Katzer, von der Rente nach geltendem Recht.
Die Unsicherheiten, die Sie mit Ihren Vorschlägen in die Rentenanpassung hineintragen würden, erscheinen mir dadurch noch weniger gerechtfertigt.Im Interesse der Rentner von heute, aber auch der Rentner von morgen halte ich es für zwingend geboten, das bewährte System der Rentenanpassungen beizubehalten.
Das sollte uns nicht daran hindern, das System der Rentenversicherung weiter fortschrittlich auszubauen.
Mit diesem Ziel hat die Bundesregierung ihr Rentenreformprogramm vorgelegt, und im Dezember des vergangenen Jahres hatten wir die erste Lesung in diesem Hohen Hause. Dieses Programm wird, sobald es Gesetz geworden ist, die Situation der Rentner und der Versicherten nachhaltig verbessern.Lassen Sie mich die fünf Punkte noch einmal nennen: Durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze werden 340 000 Menschen im Alter von 63
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Bundesminister Arendtund 64 Jahren unmittelbar begünstigt. Millionen sehen ihrem Lebensabend mit anderen Erwartungen entgegen; ihr Freiheitsraum wird größer. — Die Öffnung der Rentenversicherung macht 375 000 Selbständigen und 7 Millionen Frauen ein Angebot für eine soziale Altersversicherung. — Jährlich sollen 330 000 Frauen durch die Anrechnung eines Babyjahres
pro Kind einen Zuschlag zur Rente erhalten. — Für 460 000 Rentner, davon allein 420 000 Frauen, sollen frühere Lohndiskriminierungen, die es damals in stärkerem Maße als heute gab, die sich aber in den Renten niederschlagen, behoben werden. Die Rente nach Mindesteinkommen, wie sie die Bundesregierung vorgeschlagen hat, ist ein Weg dazu.
Und schließlich sollen in einem anderen Zusammenhang alle verheirateten Frauen die gleiche Zugewinngemeinschaft mit ihrem Mann in der Altersversorgung erfahren, die sie seit 1958 im ehelichen Güterrecht kennen.Meine Damen und Herren, das Rentenreformprogramm mit diesen fünf Schwerpunkten liegt Ihnen zur Entscheidung vor. Wir wissen und Sie wissen, daß die Menschen draußen im Lande auf diese Verbesserungen, auf diese große Reform warten.
Deshalb gestatten Sie mir die dringende Bitte: Verabschieden sie das Rentenreformprogramm der Bundesregierung so schnell wie möglich. Die Rentner, aber auch die Beitragszahler werden Ihnen dafür dankbar sein.
Damit sind die Vorlagen zu Punkt 20 begründet, und wir treten in die Aussprache ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Katzer von der Fraktion der CDU/CSU. Seine Fraktion hat für ihn eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß die Selbstzufriedenheit dieser Regierung ein erstaunliches Maß an Selbstbewunderung hervorbringt. Wir hören jetzt von Mal zu Mal immer diese Selbstbelobigungen.
Ich habe, glaube ich, in der Regierungserklärung etwas anderes gehört: wir brauchen keine Bewunderer, sondern wollen Kritik hören.
Nun, bitte, dazu sind wir als Opposition da.
Ich habe zweitens den Eindruck, Herr Kollege Arendt, wer hier von Leistungssteigerungen in Prozenten spricht und dies als eine große Leistung darstellt, wirkt doch einfach unglaubwürdig, wenn er nicht auf der anderen Seite die exorbitant hohen Preissteigerungen nennt und sie von diesen nominalen Beträgen abzieht.
Meine dritte Vorbemerkung, Herr Kollege Arendt. Sie haben gesagt, die SPD lasse sich in der Sorge um den Rentner von niemandem übertreffen; das höre ich gern. Aber mit dem Hören ist das nicht getan. Wir werden in der nächsten Woche bei der Abstimmung Gelegenheit haben zu sehen, ob Ihren Worten auch entsprechende Taten folgen werden; darauf freue ich mich jetzt schon besonders.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Sozialbudget an den Anfang einen positiven Satz stellen, Herr Minister Arendt. Die Anregung, die wir im vergangenen Jahr dazu gegeben haben, die Einpassung in die volkswirtschaftliche Zielprojektion vorzunehmen, ist bei Ihnen auf fruchtbaren Boden gefallen; das begrüßen wir ausdrücklich. Allerdings scheinen mir dabei noch wesentliche Dinge in bezug auf die Auswirkungen der flexiblen Altersgrenze außer acht gelassen zu sein. Darauf komme ich nachher noch zurück. Da werden wir noch einige Zahlen brauchen, damit auch hier die Rückkoppelung zum Sozialbudget erfolgen kann.
— Und dem Wirtschaftsteil der FDP, dem Sie offenbar doch sehr viel näher stehen — — Wollen Sie das sagen oder nicht?
— Herr Dorn, ich habe noch die Rede Ihres Kollegen im Ohr, als er sich wegen der Einführung der Lohnfortzahlung der Arbeiter im Krankheitsfall leidenschaftlich gegen mich wandte, und da sah ich bei dieser Stelle Ihres Kollegen den Beifall der Sozialdemokraten. Ich würde empfehlen, sich mit denen auseinanderzusetzen, wenn Sie über diesen Punkt sprechen.
— Sprechen Sie darüber einmal mit der SPD!Insgesamt, meine Damen und Herren, hat dieser Sozialbericht mehr den Charakter einer rückschauenden Bilanzziehung als den einer Perspektive für die Zukunft. So ist der Neuigkeitswert in der Tat sehr gering. Herr Minister Arendt, ich glaube, der Diskussion würdig wäre der Versuch der Vorlage eines Gesamtkonzepts der Sozialpolitik der Regierung, das über Einzelmaßnahmen hinausgreift, gleichsam Grundsätze und Prinzipien enthält, die in den verschiedenen Einzelmaßnahmen ihre gültige Ausprägung finden. Aber gerade dies enthält der Sozialbericht nicht. Er ist vielmehr eine etwas beziehungslose Aneinanderreihung wichtiger und sehr viel unwichtiger Dinge.Wenn der hohe Qualitätsstandard der deutschen Sozialpolitik im Ausland oft mehr anerkannt wird
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Katzerals von unseren Mitbürgern, so liegt das eben an der fehlenden deutlichen Herausstellung übergreifender, die Menschen überzeugender und faszinierender Ideen. Auch das Sozialgesetzbuch wird nicht die Verwirklichung einer neuen Idee bringen. Denn materiell-rechtlich soll sich ja nichts ändern.Diese Regierung hat die gewachsenen und daher sicher in vielem komplizierten, in manchem auch nicht voll zusammenpassenden Systeme unserer sozialen Sicherung nirgendwo neu durchdacht und etwa grundlegend inzwischen eingetretenen Entwicklungen angepaßt. Ihre Sozialpolitik, Herr Minister Arendt, beschränkt sich darauf, die vorhandenen Systeme an dieser oder jener Ecke zu verändern.
Über all diese Detailarbeit haben Sie den Blick dafür verloren, daß in den zweieinhalb Jahren Ihrer Regierungstätigkeit Ereignisse eingetreten sind, die wesentliche Grundlagen unserer sozialen Reformen aus 25 Jahren Nachkriegsgeschichte zerstört haben.
Und damit, meine Damen und Herren, sind wir beim Thema, über das Sie nur einen Satz verloren haben. Es geht hier und heute nicht um die Rückschau auf diese oder jene Statistik, auf diese oder jene Durchführungsverordnung, sondern es geht um die zentrale Frage für die Zukunft der Alterssicherung von neun Zehnteln unserer Mitbürger. Das ist das Thema, über das wir heute beraten und in der kommenden Woche abstimmen werden. Das Thema lautet, ob dieses Parlament seine Zustimmung dazu gibt, daß das Rentenniveau als Folge der immer weitergehenden Inflation mehr und mehr abrutscht. Täuschen Sie sich nicht, hier handelt es sich um eine Frage der sozialen Besitzstandswahrung allerersten Ranges. Die Tatsache kann nicht vernebelt werden, daß das Rentenniveau mit rund 41 % heute einen bisher nie gekannten Tiefpunkt erreicht hat. Die Tabelle, Herr Kollege Arendt, die Sie vorhin zitiert haben, werde ich mir noch einmal genauer ansehen. Meine Unterlagen sehen zu diesem Punkt ganz anders aus. Dies stimmt: ohne gesetzliche Maßnahmen wird es nie
— Sie verstehen, besonders viel davon, Sie sollten besser zuhören — die einst von allen drei Parteien, auch von der FDP, bejahte Höhe erreichen.
Herr Abgeordneter Katzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Nölling?
Ja, bitte sehr!
Herr Kollege Katzer, Sie sagten eben, Sie würden sich die Statistiken anschauen. Darf ich Sie bitten, sich dann an den Bundesbankbericht 1971 zu halten, in dem es heißt, daß die Relation zwischen Rentenniveau und durchschnittlichem Nettoarbeitsverdienst aussagefähiger ist als die andere, auf die Sie immer Bezug nehmen,
und diese Relation seit 1966 günstiger ist als vorher?
Bei allem Respekt vor der Deutschen Bundesbank, in diesem Punkt folge ich der Deutschen Bundesbank nicht, sondern ziehe meine eigene Aussage vor. Aber Sie werden mir nicht widersprechen wollen, wenn ich feststelle: ohne gesetzliche Maßnahmen wird es nie die einst von allen drei Parteien bejahte Höhe erreichen.
— Gut, wenn Sie da zustimmen, sind wir ein ganzes Stück Wegs weiter; denn das heißt, daß die Überschrift über unserem Gesetzentwurf, den der Kollege Ruf begründet hat, sehr wohl stimmt, daß das Rentenniveau ohne ein solches Gesetz nie wieder die Höhe erreichen kann. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür.
Meine Damen und Herren, selbst bei einer Verstetigung der Konjunktur, wofür im Augenblick wenig spricht, werden die Einkommen der Aktiven den Rentnereinkommen davonlaufen. Es ist eben gerade nicht so, daß die Rentner nur noch zwei oder drei Jahre warten müßten, um dann wieder ihren alten Anteil an den Gesamteinkommen zu erreichen.Wie ernst dieses Problem ist, zeigt sich an ganz harten und bedauerlichen Tatsachen. Die Zahl der Rentner, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, ist in einem dauernden Wachstum begriffen. Man kann dies auch so formulieren: in graphischer Darstellung nähert sich die Linie der durchschnittlichen Rentenhöhe und die der Sozialhilferegelsätze in bedenklicher Weise einander an.
Das ist ein Vorgang von sehr weitreichenden Konsequenzen; denn wenn die Rentenhöhe nach einem durchschnittlichen Arbeitsleben nicht deutlich über dem Sozialhilfeniveau liegt, werden sich die Menschen im Lande, übrigens mit Recht, fragen, ob es überhaupt noch Sinn hat, Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen.
Ich bedauere es daher außerordentlich, daß die Regierung hier durch ungesichertes Zahlenmaterial den Eindruck zu erwecken versucht, als ob die Zahl derjenigen Rentner, die Sozialhilfe beziehen, minimal sei. Natürlich nimmt nicht jeder Rentner, dessen Rente unter den Sozialhilfesätzen liegt, auch Sozialhilfe in Anspruch. Viele Rentner gehen nicht zum Sozialamt, weil sie es gar nicht für möglich halten, daß ihre Rente trotz langjähriger und regelmäßiger Beitragszahlung noch unter dem Sozialhilfeniveau liegen könnte. Viele scheuen selbst dann, wenn sie darüber informiert sind, den Gang zum Sozialamt, weil sie — wie mir aus vielen Zuschriften bekannt ist — die Sozialhilfe immer noch als Almosen auffassen, obwohl sie seit langen Jahren zu einem Rechtsanspruch ausgestaltet ist. Sicher hat ein Teil der Rentner noch andere Einkommensquellen, beispielsweise Leistungen aus der betrieb-
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Katzerlichen Alterssicherung oder einer privaten Lebensversicherung.Aber, meine Damen und Herren, Tatsache ist: Zwei Drittel bis drei Viertel aller Rentner haben laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes von 1970 noch nicht einmal ein monatliches Nettoeinkommen von 600 DM, und dabei sind neben der Rente alle anderen Einkommensquellen, wie etwa Leistungen aus einer betrieblichen Alterssicherung oder privaten Lebensversicherung, mitgezählt. Zum Vergleich — das sollten Sie sehen, meine Damen und Herren —: Die Sozialhilfe gewährt heute einem über 65 Jahre alten Ehepaar einschließlich der Sonderleistungen bereits mehr als 600 DM monatlich als sozial-kulturelles Existenzminimum. Meine Damen und Herren, das sind die Folgen einer inflationären Entwicklung, an denen keiner vorbeikommt.Im übrigen, was das Rentenniveau angeht, Herr Minister Arendt, war die SPD früher ganz anderer Auffassung als heute. Wir haben doch Aufzeichnungen von, ich würde fast sagen: flammenden Reden von Ihnen, Herr Kollege Schellenberg, und anderen Sozialpolitikern der SPD über die Notwendigkeit eines Rentenniveaus — man höre! — von 75% brutto, nicht netto! Ich kann es zitieren, aber Sie kennen ja Ihre eigenen Reden. Ausdrücklich wurde in diesem Zusammenhang betont, daß betriebliche Altersrenten außer Ansatz zu bleiben hätten, weil— nun folgt ein wörtliches Zitat — „die wirtschaftliche Sicherung der persönlichen Freiheitssphäre im Alter nicht durch die Einengung der persönlichen Freiheitssphäre während des aktiven Arbeitslebens erkauft werden darf." Sie werden sich erinnern, dieses Zitat stammt aus dem SPD-Sozialplan des Jahres 1957, den Sie mitverfaßt haben, Herr Kollege Schellenberg.Sie sagen es heute richtig. Nur lassen Sie heute praktisch den Rentner im Alter im Stich. Das beklagen wir, und da müssen Sie doch einsichtig sein. Das ist das Ergebnis, um das es hier geht.
— So ist das. Das werde ich Ihnen Stück für Stück genau nachweisen. Sie werden nächste Woche Gelegenheit haben, in der Abstimmung dazu zu stehen oder nicht zu stehen. Herr Kollege Arendt, ich spreche nicht von gestern, ich spreche von heute. Heute muß entschieden werden, und nächste Woche muß entschieden werden. Das ist die Position, die wir einzunehmen haben.
— Das kann ich Ihnen zurufen mit dem Zitat, das ich vorhin angeführt habe.An die Adresse von Herrn Arendt gewandt möchte ich folgendes sagen.
— Das habe ich vorhin auch gemacht. — Denjenigen, die plötzlich einem Nettovergleich zwischen Renten und Einkommen der Aktiven das Wort reden, möchte ich nachdrücklich ins Stammbuch schreiben: Meine Damen und Herren, Sie werden auf die Dauer die bruttolohnbezogene dynamische Rentenformel nicht erhalten können, wenn Sie nicht die Bruttoeinkommen der Aktiven den Bruttoeinkommen der Rentner gegenüberstellen. Wenn man glaubwürdig bleiben will, kann man in der sozialpolitischen Diskusssion nicht einfach folgenlos die Argumente wechseln.Schade, daß der Kollege Leber nicht hier ist.
Ich habe in einer sehr schweren Zeit einen Kampf um die finanzielle Stabilität des Haushalts und gleichzeitig — das war die Schwierigkeit — einen Kampf um die finanzielle Sicherung der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente geführt. Die Grundlagen dieser Sicherung der Rentenversicherung, die wir damals durchgeführt haben, möchte ich heute nicht leichtfertig aufs Spiel setzen lassen.
An die Adresse von Herrn Minister Leber gerichtet möchte ich sagen, daß die Hauptlast dieses Kampfes um die langfristige Sicherung der bruttolohnbezogenen Rente beim Arbeitsminister der Großen Koalition lag. Ich schmälere nicht die Verdienste mancher sozialpolitisch aufgeschlossener Bundesgenossen aus den verschiedensten Parteien. Ich nenne durchaus Herrn Kollegen Schellenberg; denn wir haben damals in der Großen Koalition ja sehr viel zusammengearbeitet. Aber die Verantwortung lag beim Arbeitsminister der Großen Koalition und nicht, wie der Kollege Leber es hier in einem Diskussionsbeitrag hat darstellen wollen, bei ihm. Sie lag beim damaligen Arbeitsminister und bei der CDU/CSU-Fraktion, die diese Haltung gestützt hat.
Meine Damen und Herren, die Höhe des Rentenniveaus ist ein Gradmesser für den Wert, den diese Gesellschaft den älteren und alten Menschen zuerkennt. Gewiß wird durch die materielle Sicherstellung den älteren Menschen — sicher sind Sie mit mir dieser Auffassung — nicht automatisch der ihnen zukommende Platz in der Gesellschaft eingeräumt. Hierfür wird es beispielsweise notwendig sein, daß das öffentliche Bewußtsein den großen Erfahrungsschatz der älteren Generation stärker anerkennt, als dies bisweilen der Fall ist.Natürlich wirkt sich auch die Einkommenssituation unmittelbar auf die Stellung des älteren Menschen in der Gesellschaft und innerhalb seiner nächsten Umgebung aus. Die wirtschaftliche Sicherstellung unserer älteren Männer und Frauen gibt ihnen doch, das kann niemand bestreiten, ein großes Stück innerer Unabhängigkeit. Dann sind die älteren Männer und Frauen eben nicht nur Gäste bei ihren Kindern, sondern sie sind Gastgeber gegenüber ihren Kindern und Enkeln, und wenn sie zu Weihnachten, Ostern oder Pfingsten zu ihren Kindern kommen, dann werden sie gerne gesehen, weil sie in der
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KatzerLage sind, ihnen neben der Fürsorge und Liebe auch noch etwas Materielles auf den Tisch zu legen, und das halte ich für eine sinnvolle und deshalb weiter auszubauende Entwicklung.
— Das finden Sie lächerlich. Das nehme ich gerne zur Kenntnis. Ich bin da, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, anderer Meinung als Sie. Ich halte das für einen ganz entscheidenden Punkt. Wer davon redet, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, muß auch bei diesen Menschen einzeln und konkret anfangen. Darum geht es hier, meine Damen und Herren.
Ich möchte ganz deutlich klarstellen, daß gegen die Erhöhung der Rente um 9,5% ab 1. Juli 1972, wie wir es vorschlagen, konjunkturpolitische Einwände nicht erhoben werden können. Ich habe gerade von einem Telegramm des DGB an Herrn Schiller mit Zahlen von 17 und 18 % gehört. Darüber werden wir uns noch gerne unterhalten. Ich kann nur sagen, konjunkturpolitische Einwände stechen nicht. Dieses Argument mutet gerade zu einem Zeitpunkt besonders eigenartig an, zu dem 6 Milliarden DM Konjunkturzuschlag zurückgezahlt werden. Ich glaube, es ist einfach ein Gebot der Gerechtigkeit — darüber sind wir uns wohl einig —, daß die Rentner, die seit mehr als zwei Jahren keine reale Verbesserung ihrer Einkommen gehabt, sondern allenfalls einen Ausgleich für den Kaufkraftverlust erhalten haben, nun nicht länger auf der Wartebank sitzen dürfen.Die vorgezogene Rentenanpassung wird den Rentnern im Jahre 1972 2 Milliarden DM zusätzlich bringen. Diese Summe kann aus technischen Gründen ohnehin erst in der zweiten Jahreshälfte ausgezahlt werden; eine terminliche Kumulierung mit dem Konjunkturzuschlag tritt daher nicht ein.Im übrigen könnte seitens der Rentenversicherung — das haben wir ja einmal gemeinsam gemacht, Herr Kollege Schellenberg — konjunkturpolitisch durchaus in wirksamer Weise dadurch geholfen werden, daß in einem ins Gewicht fallenden Umfang Überschüsse der Rentenversicherungsträger bei der Bundesbank stillgelegt würden. Dafür haben wir schließlich 1969 den § 1383 b in die RVO eingefügt.Wenn hier schon von Konjunkturpolitik im Zusammenhang mit der Rentenpolitik gesprochen wird – und ich entziehe mich dem nicht, weil für mich Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik immer eine Einheit waren —, dann dürfen wir nicht daran vorbeisehen, daß Konjunkturpolitik zu einem großen Teil Verteilungspolitik ist. Die Höhe der Inflationsrate ist doch nichts anderes als der Ausdruck der Härte des Verteilungskampfes. Wenn große Gruppen dieser Gesellschaft ohne Rücksicht auf die legitimen Interessen anderer großen Gruppen und nicht zuletzt von Minderheiten in dieser Gesellschaft sich ein möglichst großes Stück vom Sozialprodukt abschneiden, dann wird eine unheilvolle Entwicklung in Gang gesetzt, in der die sozial Schwachen regel-mäßig die Leidtragenden sind. Die Gewerkschaften können sich mit Hilfe des Streiks und der Lohnpolitik wehren, die Unternehmer haben das Machtmittel der Investitionsbereitschaft und der Preise, und der Staat hat das Machtmittel der Steuern. Die sozial Schwachen dagegen haben nichts anderes als die Hoffnung, daß die von ihnen gewählten Abgeordneten ihre Interessen wahren, und das ist der Auftrag dieses Hauses in diesem Augenblick.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich muß es leider wiederholen: Sie haben Ihre Pflicht gegenüber den sozial Schwachen nicht erfüllt.
— Herr Kollege, vielleicht darf ich Ihnen, wenn Sie das von mir so ungern hinnehmen, was Sie ehrt— denn es ist ein schwerer Vorwurf —, sagen, daß das nicht meine Feststellung, sondern die der Deutschen Bundesbank ist, die übereinstimmt — —
— Entschuldigung! Deshalb habe ich vorhin differenziert — haben Sie es nicht so eilig! —, indem ich gesagt habe: Das ist eine sehr ehrenwerte Institution; aber natürlich braucht man nicht in jedem Punkt mit ihr einer Meinung sein. Wenn die Bundesbank, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Sozialbeirat jedoch übereinstimmend zu der für Sie beschämenden Feststellung kommen, daß die Rentner eindeutig die Leidtragenden der inflationären Entwicklung sind, werden Sie doch nicht weiter so mit Zwischenrufen argumentieren können, wie Sie es bisher getan haben.
Professor Borchardt hat kürzlich in einem Vortrag vor der Mitgliederversammlung des Münchener Ifo-Instituts sogar darauf hingewiesen — das ist eine neue These, und deshalb sollten wir uns mit ihr auseinandersetzen —, daß als eigentliche Verlierergruppe der Inflation in fast allen einschlägigen Untersuchungen die alten Menschen deutlich auszumachen seien. Da die Entscheidungsbefugnisse immer stärker auf die Jungen übergingen, erscheine die Inflation als neue Form des Generationenkonflikts. Meine Damen und Herren, das ist ein Wort, das wir, glaube ich, sehr ernst nehmen müssen. Ich appelliere deshalb nachdrücklich an dieses Hohe Haus und an die großen gesellschaftlichen Gruppen, sich gemeinsam an den Generationsvertrag zu erinnern, den wir mit der Rentenreform von 1957 geschlossen haben.
Herr Kollege Arendt, Sie waren vorhin nicht da; deshalb darf ich Ihnen jetzt folgendes sagen. Sie haben erklärt: Helft uns, damit wir dieses Paket11216 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972Katzerdurchbekommen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie in der Frage der Niveauerhöhung mit uns ziehen, haben Sie unsere Zustimmung zu dem Paket mit den von uns vorliegenden Vorschlägen.
Das liegt in Ihrer Hand. Wir haben die Prioritäten klar gesetzt.Der Solidaritätsvertrag von 1957 verpflichtet uns zur Solidarität gegenüber der älteren Generation. Gelingt es uns nicht, diese Verpflichtung zu erfüllen, wird sich der Verteilungskampf verstärken, und dann werden Stabilität und soziale Gerechtigkeit für lange Zeit verlorengehen. Ich sage das noch einmal mit großem Nachdruck. Es hat Zeitungsberichte gegeben, wonach Sie uns wenigstens zum Teil entgegenkommen wollen. Man hat darüber dies und jenes gelesen. Wir werden dazu später noch etwas hören. Aus dem Munde des Ministers haben wir davon nichts vernommen.Meine Damen und Herren, die geforderte Anhebung des Rentenniveaus ist der erste notwendige Bestandteil eines Stabilitätsprogramms. Eine Belastung der öffentlichen Haushalte tritt nicht ein. Im Gegenteil: bei der Sozialhilfe und beim Wohngeld werden sich Einsparungen ergeben. Die einzige unmittelbare Auswirkung auf den Bundeshaushalt erfolgt bei der knappschaftlichen Rentenversicherung. Hier erscheint es uns vertretbar, die zusätzlichen Aufwendungen im Haushalt in Höhe von 140 bis 220 Millionen DM, je nachdem ob man den Abschmelzungsbetrag einsetzt, durch einen verstärkten Wanderungsausgleich zwischen der knappschaftlichen Rentenversicherung einerseits und der allgemeinen Rentenversicherung andererseits aufzufangen.Bitte sehr!
Herr Kollege Katzer, muß ich Ihre Aussage, daß Belastungen öffentlicher Haushalte nicht eintreten, so verstehen, daß Sie unter keinen Umständen die Dynamisierung der Kriegsopferrenten vorziehen würden?
Ich komme noch dazu. Ich habe — Sie werden es gesehen haben — zunächst einmal die knappschaftliche Rentenversicherung abgehandelt. Da Sie das nicht beanstandet haben, nehme ich an, daß Sie den Wanderungsausgleich ebenfalls für sinnvoll halten. Damit wären wir schon wieder ein Stück weitergekommen.
— Das haben Sie nicht gesagt? — Gut, ich habe das nur unterstellt. Ich will nicht etwas annehmen, was nicht da ist.
Wir vertreten die Auffassung, daß dieser Weg in der Knappschaft gegangen werden kann. Denn es ist doch so, daß der derzeitige Satz nicht den tatsächlich eingetretenen Verlusten entspricht, die die knappschaftliche Rentenversicherung durch die Abwanderung aktiver Versicherter erleidet. Diese Abwanderung wird so, wie die Dinge liegen — jedermann in Nordrhein-Westfalen weiß das —, auch in den nächsten Jahren noch nicht zum Stillstand kommen.
Die Entscheidung in der Frage einer entsprechenden Anhebung der Kriegsopferrenten — die Sie jetzt gestellt haben — hängt aus finanzpolitischen Gründen vom Ergebnis der Bestandsaufnahme bei den öffentlichen Haushalten ab. Ich habe zu einem früheren Zeitpunkt erklärt, daß ich das in dem Zusammenhang gern machen würde. Aber das ist ein halbes Jahr her. Die Finanzen sind derzeit so, daß sich hier ein einseitiges Vorgehen verbietet, ohne die Betrachtung der übrigen Haushaltsauswirkungen, die ja leider im Haushaltsausschuß und nicht hier geprüft werden, abzuwarten.
Von den Finanzen der Rentenversicherung aus gesehen ist die Anhebung des Rentenniveaus ohne weiteres durchführbar. Noch im Dezember 1971 prophezeite Herr Kollege Schellenberg im Bundestag, der ,,200-Milliarden-Rausch der CDU" werde bald verfliegen. Ein anderer sozialdemokratischer Kollege schrieb im Pressedienst seiner Partei im Zusammenhang mit unseren Vorausschätzungen gar folgendes:
Der CDU-Experte Katzer hat mit Hoffnungen von Millionen Rentnern gespielt. Er will die Union profilieren und verspricht zu diesem Zweck das Blaue vom Himmel. Er läßt alle verantwortungsvolle Vorsicht bei Vorausschätzungen fahren und setzt damit die unrühmliche Tradition der Opposition fort, Zahlen nicht mehr so genau zu nehmen wie früher.
Nun, ich will das nicht vertiefen. Aber wissen Sie — ich weiß nicht, wer nachher spricht —, das ist doch ein Vorgang — ich habe das in der Öffentlichkeit nicht so ausgewalzt —, der Sie bei der Haltung der Fraktionen doch veranlassen könnte, zu sagen: Bitte, da sind vielleicht doch ein paar Worte gefallen, die uns hinterher leid tun.
Wahr ist: Anfang Februar gab das Arbeitsministerium die bisher letzte amtliche Zahl heraus: genau 205 Milliarden DM. Als Sie mich bezüglich der Vorausschätzungen verdächtigten, hatte ich von 200 Milliarden DM gesprochen.
Herr Abgeordneter Katzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Nölling.
Herr Kollege Katzer, trifft es zu, daß Sie in der Debatte, in dem Frage- und Antwortspiel, das wir damals hatten, zugegeben haben, daß Sie über Ihre eigenen Schätzungen verunsichert waren, und daß Sie sagten — —
— Selbstverständlich! Sie sagten: wir wollen uns erst mal über die Zahlen einigen. Das kann ich Ihnen zeigen. Das liegt ja im Protokoll vor.
Trifft es zu, daß Sie damals sagten, diese Schätzungen in Höhe von 200 Milliarden DM bezögen sich
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11217
Dr. Nöllingauf die Zeit bis 1985, während sich die jetzige auf das Jahr 1986 bezieht und nicht, wie Sie immer behauptet haben, zustande gekommen ist mit möglicherweise nach unten veränderten Annahmen über die Lohnentwicklung, sondern mit einer leichten Veränderung nach oben, so daß mit beiden Veränderungen dieser Betrag von 200 Milliarden DM schließlich zustande gekommen ist?
Herr Kollege, ich bitte doch, Fragen möglichst kurz zu stellen.
Ich kann Sie nur bewundern, Herr Kollege Nölling, nach dem — ich habe ja nicht alles zitiert —, wie Sie sich geäußert haben: „Wenn Herr Katzer nicht rechnen kann, was kann ich dafür" und was weiß ich. Nach dieser Äußerung war es doch so, daß unsere Rechnung richtig war und daß das Arbeitsministerium sich unserer Rechnung hat anschließen müssen. Das ist doch der Vorgang, über den Sie nicht hinwegreden können.
Ich habe nicht — um das noch zu klären — meine eigenen Zahlen angezweifelt, sondern ich habe gesagt: Wenn Sie sie anzweifeln, dann laßt uns darüber sprechen! Dann haben auch Abstimmungsgespräche stattgefunden, und dann hat sich die Mehrheit der Sachverständigen unserer Auffassung zugeneigt und nicht der des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung — was mir als dem früheren Chef dieses Ministeriums sehr leid tut; das werden Sie mir nachfühlen können.Von dieser Summe, meine Damen und Herren, wird die Aktualisierung der Rentenanpassung bis zum Jahre 1986 rund 72 Milliarden DM erfordern. Darüber besteht Einmütigkeit. Das ist der Löwenanteil der zur Verfügung stehenden Mittel. Eine derartige Verwendung ist auch gerecht, weil diese Überschüsse nur das Spiegelbild des abgesunkenen Rentenniveaus sind. Es handelt sich um Beträge, die den Rentnern vorenthalten werden, wie der unabhängige Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung völlig zutreffend festgestellt hat.Natürlich stellt sich die Frage, ob bei Anhebung des Rentenniveaus noch etwas für andere Vorhaben übrigbleibt, und diese Frage ist klar zu bejahen. Ich nenne zunächst, weil es sich um ein dringliches sozialpolitisches Problem handelt, die gezielte Verbesserung von Kleinstrenten und von Renten für Frauen. Hier liegt seit Oktober 1971 ein Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor. Die Verwirklichung dieses Vorhabens würde bis 1986 weitere 20 Milliarden DM in Anspruch nehmen. Konjunkturell und im Blick auf die Auswirkung auf die öffentlichen Haushalte gilt für dieses Gesetz das gleiche wie für die Anhebung des Rentenniveaus, d. h. es ist ohne weiteres durchführbar.Ich nenne die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige. Hier ergibt sich keine Belastung der Rentenversicherungsträger. Vielmehrerzielen sie durch neue Beitragszahler Mehreinnahmen, die nach unserem Umlagesystem durch die später zu zahlenden Renten auch nicht vollständig wiederaufgefressen werden. Deshalb haben wir in dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige, der diesem Hause bereits seit Mai 1971 vorliegt, zusätzliche Regelungen für die ältere und alte Last für vertretbar gehalten, die nach unserem Willen auch den Arbeitnehmern zugute kommen sollen.Die CDU/CSU ist bereit, auch den Beitritt weiterer Personenkreise, insbesondere der Hausfrauen, zur gesetzlichen Rentenversicherung zu ermöglichen.Immer wieder ist schließlich von der Koalition behauptet worden, die Anhebung des Rentenniveaus schließe die Verwirklichung der flexiblen Altersgrenze aus. Mein Kollege Adolf Müller aus Remscheid hat in der Debatte vom 16. Dezember 1971 hier mit Recht darauf hingewiesen, daß dieses voreilige Entweder-Oder, daß die Regierung gesetzt hat, den Akzent verschiebe und damit die Gefahr eines Generationenkonflikts innerhalb unserer Bevölkerung heraufbeschwöre. Ich sage das nicht aus der hohlen Hand heraus, sondern gestützt auf zahlreiche Briefe von Rentnern aus allen Teilen der Bundesrepublik, die sich darüber beschwert haben, daß die SPD das Vermögen der Rentenversicherung einseitig für eine Maßnahme ausgeben wolle und nicht denen zukommen lasse, denen es gehöre, nämlich den Rentnern.
Die CDU/CSU-Fraktion hat damals erklärt, daß sie die Einführung einer flexiblen Altersgrenze für ein berechtigtes sozialpolitisches Anliegen hält, und einen eigenen Vorschlag angekündigt, sobald über die finanziellen Möglichkeiten gesichertes Zahlenmaterial vorliegt. Dies ist hinsichtlich der Kosten für die Versicherungsträger nunmehr der Fall.Auf Grund eines versicherungsmathematischen Gutachtens hat die CDU/CSU-Fraktion am 26. Mai 1972 ein Abstimmungsgespräch — es ist übrigens interessant, daß die Opposition das macht; früher machte das die Regierung — mit den Vertretern des Bundesarbeitsministeriums, des Bundesministeriums für Wirtschaft und Finanzen, des Verbandes der Rentenversicherungsträger, der BfA und der Bundesbank geführt. Dabei hat sich als überwiegende Meinung der Experten herausgestellt, daß die Kosten der flexiblen Altersgrenze nach dem Modell der Bundesregierung bei 100 %iger Inanspruchnahme nicht 104 Milliarden DM betragen. Die Kosten belaufen sich auf 73 Milliarden DM bis 1986, wenn man von einer 100 %igen Inanspruchnahme ausgeht. Die Bundesregierung hatte bei ihren Berechnungen die demographische Entwicklung unberücksichtigt gelassen.Nachdem das Zahlenmaterial nunmehr gesichert ist, können wir den angekündigten Vorschlag zur flexiblen Altersgrenze vorlegen. Wir schlagen vor, daß jeder Versicherte nach Erfüllung einer Wartezeit von 35 Jahren — dies entspricht dem Regierungsvorschlag — mit Vollendung des 63. Lebensjahres das Altersruhegeld beantragen kann. Soweit
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11218 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Katzersich durch die zwei Jahre kürzere Versicherungszeit eine niedrigere Rente ergibt, hat es dabei wie bei dem Vorschlag der Regierung sein Bewenden. Zusätzliche Abschläge, etwa versicherungsmathematischer oder sonstiger Art, sind von uns nicht vorgesehen. Im Unterschied zum Regierungsvorschlag soll jedoch derjenige, der es unter den genannten Voraussetzungen vorzieht, über das 63. Jahr hinaus zu arbeiten, einen Ausgleich für die kürzere Rentenbezugsdauer in Höhe von 5 °/o pro anno erhalten. Wir glauben, daß diese Lösung den Namen flexible Altersgrenze wirklich verdient.
Bei dem Regierungsvorschlag handelt es sich dagegen in Wirklichkeit um eine Herabsetzung der Altersgrenze, weil jeder, der die Rente nicht mit dem 63. Lebensjahr in Anspruch nimmt, einen finanziellen Verlust erleidet, der sich im Einzelfall, über die durchschnittliche Rentenlaufdauer gerechnet, auf mehr als 10 000 DM belaufen kann. Daher muß der Régierungsvorschlag die fatale Konsequenz ziehen, entgegen dem derzeitigen Rechtszustand ein partielles Beschäftigungsverbot einzuführen. Das bedeutet, daß nach dem Regierungsvorschlag diejenigen finanziell bestraft werden, die über das 63. Lebensjahr hinaus arbeiten wollen, oder sie sind zu einer neuen Art von Schwarzarbeit gezwungen. Meine Damen und Herren, trotz aller Erklärungen des Ministers: eine solche Regelung ist nicht human.Dagegen kann der Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, wie ich glaube, als human bezeichnet werden. Auf ein Verbot der Weiterarbeit bei gleichzeitigem Rentenbezug verzichten wir, so wie es auch bisher aus gutem Grund der Fall ist. Nach unserem Vorschlag ist es allein in das Belieben des einzelnen gestellt, ob er früher die normale Rente oder später eine erhöhte Rente in Anspruch nehmen will. Finanziell läuft dies für ihn ganz genau auf das gleiche hinaus.Insofern ist auch der gegen den Entwurf der CDU/CSU erhobene Einwand, er schaffe einen zu starken Anreiz zur Weiterarbeit, nicht stichhaltig. Übrigens hat der DGB unseren Entwurf ausdrücklich begrüßt. Durch unseren Vorschlag wird vielmehr der Entscheidungsspielraum über den Beginn des Rentenbezugs für den einzelnen erweitert, während er nach dem Regierungsvorschlag gegenüber dem jetzigen Zustand eingeengt wird.Die CDU/CSU hält es für ungerecht, daß diejenigen, die sich wegen zu geringer Rente oder weil sie noch Kinder haben, die sich in der Ausbildung befinden, nicht bereits mit 63 Jahren zur Ruhe setzen können, auch noch ohne Ausgleichsmaßnahme den Nachteil der kürzeren Rentenlaufdauer hinnehmen sollen. Diesen Nachteil wollen wir durch eine entsprechend höhere Rente in Form von Zuschlägen ausgleichen. Das scheint mir ein schlichtes Gebot der sozialen Gerechtigkeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn wir von flexibler Altersgrenze sprechen, meinen wir auch flexibel und nicht eine Herabsetzung der Altersgrenze.Besonderer Prüfung wird bedürfen, ob nicht für schwerbeschädigte Kriegsopfer erleichterte Bedingungen bei der Altersgrenze gewährt werden können; denn darüber besteht Einigkeit, dieser Personenkreis hat mit zunehmendem Alter besonders unter den Folgen der körperlichen Behinderung zu leiden.Zu den Kosten unseres Vorschlags. Bei einer 80%igen Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze würden nach unserem Modell bis zum Jahre 1986 Mehraufwendungen von 59 Milliarden DM entstehen, bei einer 60%igen Inanspruchnahme, die wir für realistischer halten, Mehrausgaben in Höhe von 46 Milliarden DM. Die Anhebung des Rentenniveaus, die Verbesserung der Kleinrenten und unser Vorschlag der flexiblen Altersgrenze mit 80%iger Inanspruchnahme würden bis zum Jahre 1986 insgesamt 151 Milliarden DM kosten. Dem steht ein Finanzspielraum der Rentenversicherung laut regierungsamtlichen Berechnungen von 169 Milliarden DM gegenüber. Die Mehreinnahmen aus der Öffnung der Rentenversicherung sind dabei nicht berücksichtigt. Bei einer 60%igen Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze würden sich die Gesamtkosten bis 1986 auf etwa 137 Milliarden DM belaufen.Nun, meine Damen und Herren, mag es vielleicht dem einen oder anderen merkwürdig erscheinen, daß der Vorschlag der CDU/CSU zur flexiblen Altersgrenze billiger sein soll als der Vorschlag der Bundesregierung, obwohl wir Zuschläge vorsehen. Tatsächlich gibt es dafür aber eine sehr einfache und plausible Erklärung. Im Umlageverfahren ist die Rentnerquote der entscheidende Finanzfaktor, und diese Quote wird bei unserem Vorschlag geringer sein als nach dem Vorschlag der Regierung, weil ein späterer Rentenbeginn nach unserem Vorschlag für den einzelnen ohne finanzielle Verluste möglich ist. Das ist der finanziell entscheidende Punkt.Freilich können sich durch die Einführung einer flexiblen Altersgrenze nicht unerhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte ergeben. Das gilt insbesondere für zusätzliche Aufwendungen an Wohngeld, an Sozialhilfe, an Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. Auch die Frage von Steuerausfällen bedarf ehrlicher und offener Prüfung. Hieran hat es die Regierung bis zur Stunde fehlen lassen. Eine Kleine Anfrage der CDU/CSU wurde ausweichend beantwortet. Im Interesse der Sache und der Klarheit der Sozialpolitik sollte die Regierung alsbald Schätzungen hierzu vorlegen, die in die volkswirtschaftliche Zielprojektion und die Finanzplanung eingebettet sein müssen. Hier muß die Rückkoppelung zum Sozialbudget hergestellt werden.
Meine Damen und Herren, diese Regierung spricht allenthalben davon, sie wolle mehr soziale Gerechtigkeit verwirklichen. Ich hoffe nach wie vor, daß Sie die alten Menschen davon nicht ausnehmen wollen. Die Regierungskoalition wird bei der zweiten und dritten Lesung der Rentenanpassung in der nächsten Woche Gelegenheit haben, zu dokumentieren, wie sie es nun tatächlich mit ihrem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit hält. Meine
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11219
KatzerDamen und Herren der SPD, es wird immer gesagt: 21 Gerechte beim Betriebsverfassungsgesetz, und wo waren die anderen? Ich hoffe, daß es 21 aus Ihren Reihen sein werden, die uns nächste Woche ihre Stimme für unseren Vorschlag geben werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Schellenberg. — 45 Minuten sind für Sie angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst eine Feststellung treffen. Herr Kollege Katzer hat wiederholt in der Öffentlichkeit die Behauptung aufgestellt — auch andere CDU-Sprecher —: „Wir stehen in der Sozialpolitik vor einem Scherbenhaufen." Diese Behauptung ist unrichtig, und ich weise sie entschieden zurück.
Ich möchte das an Hand von 15 Tatsachen in Anknüpfung an das, was der Herr Bundesarbeitsminister vorgetragen hat, beweisen, — kurz beweisen; sonst müßte ich drei Stunden sprechen.
Tatsache 1. Die sozialliberale Koalition hat die längst fällige Reform der Betriebsverfassung, die frühere CDU/CSU-Regierungen nicht zustande gebracht haben, verwirklicht. Das neue Betriebsverfassungsgesetz ist — das haben die Betriebsratswahlen gezeigt — zu einem großen Erfolg geworden.
Aber über 90% der CDU/CSU-Abgeordneten haben diese Reform abgelehnt. Die CDU/CSU-Fraktion in ihrer überwiegenden Mehrheit hat damit gesellschaftspolitisch versagt.
— Herr Kollege Ruf, ich möchte heute aus folgendem Grunde keine Zwischenfragen zulassen: Wir sind jetzt leider in der Zeit sehr weit fortgeschritten. Ich habe die Liste der weiteren Wortmeldungen gelesen, und ich möchte nicht meine Zeit von 45 Minuten durch Beantwortung von Zwischenfragen überschreiten.
— Ich bitte sehr um Verständnis im Hinblick auf die anderen Kollegen, die auch noch Wichtiges zu sagen haben.
Tatsache 2. Die sozialliberale Koalition hat mit dem Dritten Vermögensbildungsgesetz die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Arbeitnehmer gestärkt.
Die Zahl der Begünstigten hat sich während der
Zeit der Arbeit dieser Koalition verdreifacht. Sie
ist auf 15 Millionen Arbeitnehmer, 70% der Arbeitnehmer, angestiegen.
Tatsache 3. Die sozialliberale Koalition hat größere Chancengerechtigkeit verwirklicht. Für zweieinhalb Millionen Kinder wurde erstmals seit 1965 das Kindergeld mit einem zusätzlichen Aufwand von jährlich 400 Millionen DM verbessert.
Die sozialliberale Koalition hat erstmals eine einheitliche Ausbildungsförderung verwirklicht. Sie eröffnet 300 000 jungen Menschen bessere Lebenschancen.
Die Bundesausgaben für Ausbildungsförderung haben sich während der Arbeit dieser sozialliberalen Koalition mit 700 Millionen DM mehr als versiebenfacht.
Tatsache 4. Die sozialliberale Koalition hat erstmals ein Rehabilitationsgesetz vorgelegt, das allen Behinderten unabhängig von der Ursache der Behinderung einen Anspruch auf umfassende Leistungen der Rehabilitation sichert.
Tatsache 5. Die sozialliberale Koalition hat die gesundheitliche Sicherung der Bürger verbessert.
Während die CDU/CSU-Fraktion in ihrem Regierungsprogramm für diese Legislaturperiode vom 20. August 1969 den Weg zum Arzt durch Kostenbeteiligung erschweren wollte,
hat die Koalition erstmals durch Gesetz für 21/2 Millionen Kinder und für 24 Millionen Erwachsene einen Rechtsanspruch auf Vorsorgeuntersuchungen festgelegt.
Tatsache 6. Die sozialliberale Koalition hat 101/2 Millionen Kinder in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen. Die damalige CDU/CSU-Regierung mit Arbeitsminister Katzer hat den Auftrag des Bundestages von 1968, ein solches Gesetz vorzulegen, nicht erfüllt. Jetzt ist die Schülerunfallversicherung Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, wenn Sie auf beiden Seiten des Hauses die Rede etwas ruhiger anhörten, ginge der Wunsch
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11220 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Vizepräsident Dr. Jaegerdes Redners, rasch zu Ende zu kommen, eher in Erfüllung.
Tatsache 7. Die sozialliberale Koalition hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für Millionen von Arbeitnehmern wirksam ausgebaut wird. Frühere CDU/CSU-Regierungen ha-haben weder entsprechende Forderungen der Internationalen Arbeitsorganisation noch solche der EWG noch einen entsprechenden Auftrag des Bundestages erfüllt.
Tatsache 8.
Die sozialliberale Koalition
wird durch den jetzt von den Ausschüssen verabschiedeten Regierungsentwurf noch in diesem Jahr 800 000 selbständigen Landwirten und ihren mithelfenden Familienangehörigen den Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung gewähren und gleichzeitig 370 000 Altenteilern aus BundesmittelnI beitragsfrei vollen Krankenversicherungsschutz gewähren.
Tatsache 9.
Die sozialliberale Koalition
hat allen Angestellten einen Rechtsanspruch auf den Arbeitgeberanteil in der Krankenversicherung verschafft. Die CDU/CSU wollte dagegen in ihrem Regierungsprogramm für diese Legislaturperiode den versicherungsfreien Angestellten keinen gesetzlichen Anspruch hierauf zuerkennen.Tatsache 10.
Die sozialliberale Koalition hat mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz
erstmals die Finanzierung für ein modernes Krankenhauswesen sichergestellt. Über 20 Jahre hat die CDU/CSU von einer Sanierung der Krankenhäuser geredet, aber nichts getan.
Die CDU/CSU hat sich hier bei der entscheidenden Abstimmung in jener bekannten Weise der Stimme enthalten.
Tatsache 11.
Die sozialliberale Koalition hat das Wohngeld, das für die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins vieler Bürger große Bedeutung hat, erheblich ausgebaut.
Die Leistungsverbesserungen kommen jetzt fast 3 Millionen Bürgern zugute. Die Aufwendungen des Bundes hierfür haben sich gegenüber 1969 mehr als verdoppelt.
Tatsache 12.
Die sozialliberale Koalition hat ein soziales Mietrecht geschaffen, das den Bürgern größere Sicherheit bietet. Dies geschah, obwohl die CDU heftigen Widerstand dagegen leistete.Tatsache 13. Die sozialliberale Koalition hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, durch den das Altersgeld für Landwirte und die Landabgaberente erheblich erhöht werden. Das wird die Sozialstruktur auf dem Land wesentlich verbessern.Tatsache 14. Die sozialliberale Koalition hat die Dynamisierung der Kriegsopferrenten verwirklicht. Die CDU/CSU dagegen wollte hierfür entsprechend ihrem Regierungsprogramm vom 20. August 1969 für diese Legislaturperiode lediglich eine zweijährige Berichtspflicht einführen.
Tatsache 15. Die sozialliberale Koalition hat den allgemeinen Teil eines Sozialgesetzbuchs vorgelegt. Das völlig undurchschaubare Sozialrecht wird dadurch verständlicher und die Rechtssicherheit des Bürgers gestärkt. Frühere Regierungen haben nichts zur Vereinfachung des Sozialrechts zustande gebracht.
Diese 15 Tatsachen beweisen: die sozialliberale Koalition hat mehr gesellschaftspolitische Leistungen verwirklicht als je eine andere Regierung in unserem Land zuvor.
Nun zur sozialen Sicherung unserer älteren Mitbürger, auf die insbesondere Herr Kollege Katzer eingegangen ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11221
Dr. Schellenberg1. Die CDU/CSU versucht, die ältern Mitbürger mit dem Schreckgespenst einer Finanzkrise zu verunsichern.
Dieser Versuch ist besonders bedenklich, weil die einzige wirkliche Finanzkrise seit dem Zusammenbruch die von 1966/67 war, die die CDU/CSU verschuldet hatte.
Die CDU/CSU will das alles vergessen machen. Zur Stützung des Gedächtnisses der Opposition zitiere ich den damaligen Bundeskanzler Kiesinger. Er hat hier am 6. September 1967 wörtlich erklärt:Es stellte sich heraus, daß wir für die Jahre 1968 bis 1971 mit einer Deckungslücke von 64 Milliarden DM zu rechnen hatten.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hatte katastrophale Auswirkungen auch auf die Rentenversicherung.
Eine amtliche Vorausschätzung der Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung der Angestellten ergab für die Jahre 1967 bis 1972 ein Defizit von 10,2 Milliarden DM. Diese von der CDU/CSU verschuldete Finanzkrise der Rentenversicherung hat zu schwerwiegenden Eingriffen in das Leistungsgefüge, z. B. zu dem berüchtigten Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, geführt.
Durch unsere erfolgreiche Politik haben wir die Wirtschaftskrise überwunden. Die Vollbeschäftigung ist gesichert, und die Finanzmisere der Rentenversicherung ist beseitigt.Herr Kollege Katzer, Sie haben hier den Streit über die 100 Milliarden oder 150 Milliarden oder 200 Milliarden DM Vermögen der Rentenversicherung zur Sprache gebracht.
Ich gestehe Ihnen zu,
daß nach den letzten Berechnungen — allerdings nicht für 1985, sondern für 1986 — mit einem Vermögen der Rentenversicherung von über 200 Milliarden zu rechnen ist. Das beweist aber nur, wie gesund — kurzfristig und langfristig — jetzt die Finanzen der Rentenversicherung sind.
2. Das System der nachholenden Anpassung hat sich insbesondere in der Zeit der Rezession außerordentlich bewährt.
Als 1967 die Löhne stagnierten, betrugen die Anpassungssätze in der Rentenversicherung 8 %. In einer Periode der Vollbeschäftigung mit kräftigen Lohnsteigerungen und einer unerfreulichen Preisentwicklung führt die nachholende Anpassung zu Problemen.
Aber beide Dinge, der hohe Anpassungssatz in der Rezession und der niedrige Anpassungssatz in der Hochkonjunktur, hängen nun einmal unauflösbar zusammen.3. Die sozialliberale Koalition
hat seit Beginn ihrer Arbeit den Fragen, die sich für die Rentner aus dem relativ niedrigen Anpassungssatz in Zeiten der Hochkonjunktur ergeben, große Aufmerksamkeit gewidmet.
Bereits im ersten Monat ihrer Amtsführung
hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Beseitigung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages verabschiedet.
Das hat bewirkt, daß jetzt die volle Dynamisierung der Renten — auch im Zusammenhang mit der erfolgten Rückzahlung des RKV-Beitrages — wiederhergestellt ist.
Seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch die sozialliberale Koalition
wurden die Renten bis jetzt um 25,7% erhöht.
Auch angesichts der unerfreulichen Preisentwicklung — 14,2 % Steigerung seit Oktober 1969 — ergibt sich somit immer noch eine nicht unerhebliche Leistungsverbesserung für die Rentner.
Meine Damen und Herren, für das Jahr 1972 ergibt sich, genau gerechnet — der Bundesarbeitsminister hat die allgemeine Zahl 10% genannt —, im Zusammenhang mit der Rückzahlung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages ein Anpassungssatz von 9,8 %. Der CDU-Entwurf zur Vorziehung des Termins der Anpassung würde dazu führen, daß
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11222 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Dr. Schellenbergdie Renten für 1972 nicht um 9,8 %, sondern um rund 14 % erhöht würden.
Ich sage dies hier freimütig und auch in Versammlungen: Jeder, der sich den Blick für die finanziellen Realitäten bewahrt hat,
wird einen Anpassungssatz von 14 % für 1972 wirtschafts-, sozial- und konjunkturpolitisch sowie auch im Hinblick auf die Preisentwicklung
nicht für sinnvoll halten können.
4. Die von der CDU/CSU beantragte vorzeitige Anpassung der Renten — ich komme dann selbstverständlich auf Ihren „berühmten" Deckungsvorschlag zurück, Herr Kollege Katzer — bedeutet wegen der finanziellen Auswirkungen auf die Kriegsopferversorgung und die Knappschaftsversicherung Mehrausgaben für den Haushalt 1972.
— Ja, ich weiß, was Herr Katzer gesagt hat. Er hatgesagt, die Angestelltenversicherung soll die Sachebezahlen. Aber die gesetzliche Regelung sieht bis) jetzt vor, daß der Bundeshaushalt die Defizite der Knappschaft trägt. Wenn Sie eine andere gesetzliche Regelung haben wollen, dann legen Sie bitte erst einmal einen Entwurf vor.
Die vorzeitige Rentenanpassung bedeutet für 1972 eine Belastung des Bundeshaushalts von 510 Millionen DM, und im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung bis 1976 bedeutet dies eine zusätzliche Belastung des Bundeshaushalts von 3,1 Milliarden DM.Meine Damen und Herren, in diesen Tagen und Wochen zieht die CDU landauf, landab und spricht von den angeblich total zerrütteten Bundesfinanzen.
— Wenn Sie gleichzeitig im Wege über die Vorziehung der Anpassung zusätzliche Belastungen des Bundeshaushalts betreiben — ich wiederhole nochmals: 1972 510 Millionen DM und bis 1976 3,1 Milliarden DM —, dann ist das ein unsolides Spiel. Eine solche Doppelzüngigkeit hat mit verantwortungsbewußter Politik nichts zu tun.
Das begreifen auch unsere Rentner, sosehr sie natürlich eine vorgezogene Anpassung begrüßen würden.5. Nun hat Herr Katzer ein Patentrezept erfunden, diese Haushaltsprobleme zu umgehen: einmal die Mehrausgaben der Knappschaft — soll die Angestelltenversicherung zahlen. Dann legen Sie erst einmal einen entsprechenden Gesetzentwurf vor.
— Wenn Sie die Knappschaft um diese vielen Millionen-Beträge entlasten und die anderen Rentenversicherungen belasten wollen, müßten gesetzliche Vorschriften geändert werden. Ich bitte um entsprechende Vorlagen. Das ist das übliche Verfahren.Herr Katzer hat erklärt und es auch heute wiederholt — ich will das so, wie Sie es schriftlich herausgegeben haben, genau zitieren —:Die Entscheidung über eine entsprechende Anhebung der Kriegsopferversorgung hängt aus finanzpolitischen Gründen von dem Ergebnis der Bestandsaufnahme der öffentlichen Haushaltsmittel ab.Das bedeutet praktisch, daß die CDU/CSU die Gleichbehandlung der Kriegsopfer bei der Rentenanpassung in Frage stellt.
Nachdem die Dynamisierung der Kriegsopferrenten von der sozialliberalen Koalition erreicht wurde, bedeutet eine solche Methode, die vorgezogene Rentenanpassung in der Kriegsopferversorgung hängen lassen zu wollen, eine Diskriminierung der Kriegsopfer.
Deshalb erklären wir: dieser Katzer-Plan, die Kriegsopfer bei der vorgezogenen Anpassung bis auf weiteres abseits stehenzulassen, ist für uns völlig undiskutabel.
6. Der Herr Bundesarbeitsminister hat völlig mit Recht darauf hingewiesen, daß der Gesetzentwurf über die Niveauanhebung das gesamte bewährte System der Rentenanpassung aufs Spiel setzt.
Bisher werden die Renten der tatsächlichen Lohnentwicklung angepaßt. Was die CDU in Zukunft machen will, ist, bei der Rentenanpassung von einer vorausgeschätzten Lohnentwicklung auszugehen. Damit wird die Rentenanpassung mit allen Unsicherheiten belastet, die jede Vorausschätzung hat. Mehr noch, die Rentenanpassung, die sich jetzt nach unbezweifelbaren Zahlenmaterialien des Statistischen Bundesamtes vollzieht, würde manipulierbar gemacht. Schon aus diesen Gründen muß eine solche Methode, die die CDU vorschlägt, abgelehnt werden. Wir sind bereit, über jeden fundierten Vorschlag zur Verbesserung der dynamischen Rentenberechnungs- und -anpassungsformel zu diskutieren und ihn sorgfältig zu prüfen.
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Dr. SchellenbergAber wir werden Änderungen des Rentenanpassungssystems unserer Rentenreform von 1957 nur zustimmen, wenn dadurch die bisherige Solidität der Anpassung unbedingt gesichert bleibt und wenn sich nachweisbar gerechtere Rentenleistungen ergeben. Diesen Beweis hat die CDU bisher gar nicht erbracht.
Meine Damen und Herren, nun zu dem weiteren Ergänzungsprogramm, das Herr Kollege Katzer kürzlich vor der Presse vorgetragen und das er hier wiederholt hat. Das, was von diesem Programm — ich sage es vorsichtig — bisher bekanntgeworden ist, kann nicht überzeugen, sondern muß als ein erneuter Beweis für einen Zickzack-Kurs der Opposition bewertet werden. Auch das will ich beweisen.1. Zum Thema der Kleinrenten. Regierungsprogramm der CDU für diese Legislaturperiode — ich zitiere —:Die Bereinigung des Problems der sogenannten Kleinrenten ist im Rahmen des Rentenversicherungsrechts nicht möglich. Soweit eine Kleinrente einzige Einkommensquelle ist, kann zusätzlich Hilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz in Anspruch genommen werden.
Das war die Konzeption der CDU bei Beginn der Legislaturperiode. Dann kam der erste Gesetzentwurf der CDU: Änderung des Bundessozialhilfegesetzes für Rentner, d. h. die Rentner zum Sozialamt zu schicken.Die CDU hat sich mit ihrem späteren Gesetzentwurf und mit dem, was Herr Katzer jetzt vorgetragen hat, der Auffassung der sozialliberalen Koalition angeschlossen. Für langfristig Versicherte mit niedrigen Renten sollen Regelungen im Rahmen der Sozialversicherung und nicht durch die Sozialhilfe getroffen werden, wie Sie es früher gewollt hat.
2. Zur sozialen Sicherung für Selbständige. Sie, Herr Kollege Katzer, machen Zwischenrufe, die ich nicht verstehe. Für die soziale Sicherung der Selbständigen hat dieser Bundestag in der letzten Legislaturperiode Ihnen einen Auftrag zur Gesetzesvorlage gegeben. Sie haben den Auftrag, einen Gesetzentwurf zur Öffnung für Selbständige vorzulegen, nicht erfüllt. Das ist die Tatsache.
Nun hat die CDU einen Gesetzentwurf zur Öffnungder Rentenversicherung für Selbständige vorgelegt.Die sozialliberale Koalition ist der Auffassung, daßdieser nicht den Bedürfnissen der selbständigen Existenz entspricht.
Wir sind sicher, daß sich bei den Beratungen im Ausschuß die Richtigkeit der Konzeption der sozialliberalen Koalition erweisen wird.3. Zur sozialen Sicherung der Frauen. Noch vor einem Jahr bei Ihrem Gesetzentwurf zur Öffnung der Rentenversicherung für Selbstständige haben Sie kein Wort über die Öffnung der Rentenversicherung für Frauen gesagt.
Dagegen gibt der Regierungsentwurf allen Hausfrauen die Möglichkeit eines freiwilligen Beitritts zur Rentenversicherung. Mit großem Interesse entnehmen wir jetzt dem CDU-Ergänzungsprogramm, das Herr Kollege Katzer hier vorgetragen hat, daß endlich auch die Opposition der Auffassung ist, daß eine Öffnung der Rentenversicherung auch für nicht erwerbstätige Hausfrauen unabweisbar notwendig ist. Allerdings muß erst einmal ein entsprechender Gesetzentwurf der CDU/CSU vorgelegt werden.
Ferner muß festgestellt werden, daß die CDU/CSU leider bisher noch keine Bereitschaft zeigt, den Frauen, die durch Erziehung von Kindern in ihrer Rente benachteiligt sind, wenigstens einen teilweisen Ausgleich in Form eines sogenannten Babyjahres zu gewähren. Das sieht der Regierungsentwurf vor. Ich hoffe, daß schließlich auch die CDU sich noch zu einem ähnlichen Vorschlag zwingt.
Nun zu der Konzeption der flexiblen Altersgrenze. Hinsichtlich der flexiblen Altersgrenze zeigt die CDU sich besonders flexibel. Vor fünf Jahren hat der Bundeskanzler Kiesinger Herrn Arbeitsminister Katzer den Auftrag erteilt, vordringlich berechnen zu lassen, welche Einsparungen sich aus einer Hinausschiebung der Altersgrenze von 65 auf 66 Jahre ergeben würden. Vor fünf Jahren hat Herr Kiesinger also eine Heraufsetzung der Altersgrenze erwogen. Im sozialpolitischen Regierungsprogramm für diese Legislaturperiode hat die CDU/CSU-Fraktion wörtlich erklärt:Einer Herabsetzung der Altersgrenze wie auch einer variablen Altersgrenze nach unten kann nicht nähergetreten werden.Nach dieser grundsätzlichen Ablehnung einer flexiblen Altersgrenze war es schon ein Wandel, daß Herr Dr. Götz vor einem Jahr eine flexible Altersgrenze mit versicherungsmathematischem Abschlag als richtig erklärte.
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11224 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Dr. SchellenbergWenn jetzt Herr Katzer erklärt: Keine versicherungsmathematischen Abschläge bei der flexiblen Altersgrenze!, so muß ich dazu feststellen, daß die CDU jetzt endlich erkannt hat, daß es sich bei der flexiblen Altersgrenze um ein wichtiges Anliegen der älteren Arbeitnehmer handelt.Aber das, was Herr Kollege Katzer hier vorgetragen und in seinem Plan entwickelt hat, ist noch nicht überzeugend; denn die CDU nennt keinen Termin für die Inkraftsetzung der flexiblen Altersgrenze. Die CDU erklärt, das alles hänge von einer umfassenden Bestandsaufnahme der wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Lage ab. Eine solche Vorstellung halten wir für abwegig. Unter allen Sachverständigen ist es inzwischen unbestritten, daß die Einführung der flexiblen Altersgrenze vom 63. Lebensjahr an für Versicherte mit langem Arbeitsleben finanziell langfristig gesichert ist. Das haben auch die Sachverständigen der CDU ausdrücklich betont. Wenn jedoch die CDU sich bis heute weigert, einen Zeitpunkt für das Inkrafttreten der Altersgrenze zu nennen, so erweckt das den Verdacht, daß dieses wichtige Anliegen der Arbeitnehmer auf unbestimmte Zeit verschoben werden soll. Die CDU/CSU wendet dabei folgenden Trick an: Sie will zwar auf den Zug „flexible Altersgrenze" springen, sich aber gleichzeitig in das Bremserhäuschen setzen.
Eine solche Methode weisen wir zurück. Wir lassen uns auf eine Verschiebung des Zeitpunktes für das Inkrafttreten der flexiblen Altersgrenze nicht ein. Mit Wirkung vom 1. Januar 1973 treten die seit drei Jahren gesetzlich festgelegten erhöhten Beitragssätze in Kraft. Zum gleichen Zeitpunkt muß die flexible Altersgrenze und müssen selbstverständlich auch die anderen Verbesserungen der Regierungsvorlage und die Vorschläge, die von der Opposition vielleicht nachkommen, in Kraft treten. Es entspricht dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit: Gleichzeitig müßten die höheren Beiträge und gleichzeitig die verbesserten Leistungen für Versicherte und Rentner in Kraft treten. In dieser Frage, meine Damen und Herren der Opposition, gibt es kein Ausweichen. Sie werden sich der Entscheidung stellen müssen: am 1. Januar 1973 Inkrafttreten aller Leistungsverbesserungen, die in einem inneren Zusammenhang stehen, zusammen mit dem bereits beschlossenen höheren Beitragssatz.Für meine Fraktion erkläre ich: Die SPD wird zusammen mit ihrem Koalitionspartner bei den weiteren Beratungen des Rentenprogramms die berechtigten Anliegen der Versicherten und der Rentner wohlausgewooen berücksichtigen. Wir werden dabei selbstverständlich auch den Rentenbericht der Bundesregierung heranziehen und prüfen, wie das Leistungsrecht für die Rentner weiter verbessert werden kann. Das neue Rentenreformgesetz wird langfristig und solide finanziert sein. Das ist für die sozialliberale Koalition ein selbstverständliches Gebot. Das neue Rentenreformgesetz wird am 1. Januar 1973 mit allen positiven Auswirkungen in Kraft treten. Das neue Rentenreformgesetz wirdzu einem Markstein in der Entwicklung der sozialen Sicherung in unserem Lande werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Für ihn ist ebenfalls eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Katzer haben an sehr vielen Stellen zwei Empfindungen in mir geweckt. Einmal hatte ich das Gefühl, daß der Kollege Katzer hier etwas an den Sünden der Vergangenheit aus seiner Zeit zu laborieren versuchte, wenn er in seinen 45minütigen Ausführungen mindestens 30mal die Worte „die Kleinstrentner" und „die sozial Schwachen" brachte, obwohl er eigentlich wissen müßte, daß wir die Kleinstrentner überhaupt nicht hätten, wenn 1957 nicht die Sockel- oder Mindestrente von der CDU abgeschafft worden wäre.
Die zweite Empfindung, für die ich Verständnis habe, war, daß der Kollege Katzer über manches nicht ganz glücklich ist, was seinerzeit nicht geschehen konnte, er aber vielleicht wollte, was jedoch in seiner Partei nicht durchgesetzt wurde, über manches auch innerhalb der jetzigen Oppositionsfraktion, und daß er dabei auch schon ein bißchen Parallelen zum derzeitigen Zuchtmeister der CDU/ CSU aufgezeigt hat, weil er in die Diskussion über die Sozialpolitik zum Teil Polemiken à la „Bayernkurier" gebracht hat, die wir eigentlich sonst in dieser Form von ihm nicht gewöhnt sind. Ich habe Verständnis dafür, Herr Kollege Katzer, wenn Ihnen der Sozialbericht, die Darstellung des Bundesarbeitsministers über das, was in den letzten zwei, drei Jahren von der sozialliberalen Koalition erreicht worden ist, und das, was der Kollege Schellenberg soeben noch einmal aufgezählt hat, nicht so gut in den Ohren klingt. Ich will es nicht noch einmal wiederholen, denn Sie können es nachlesen. Ich würde Ihnen empfehlen, nicht nur nachzulesen, sondern auch zur Kenntnis zu nehmen, daß die sozialliberale Koalition bereits einen Großteil ihrer in der Regierungserklärung angekündigten sozialpolitischen Vorhaben abhaken kann und für das übrige Entwürfe auf dem Tisch liegen. Ich würde Ihnen darüber hinaus empfehlen, auch einmal Vergleiche zu ziehen, beispielsweise zu der Regierungserklärung von 1957, also zu einer Zeit, zu der die CDU/CSU allein regierte.
In den Jahren von 1957 bis 1961 hätte die CDU/CSU all das verwirklichen können, was in der damaligen Regierungserklärung von Herrn Adenauer stand, und zwar angefangen bei der Steuerreform. Ich will
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Schmidt
das alles nicht noch einmal aufzählen; das kann man immer wieder nachlesen. Ich würde Ihnen jedenfalls empfehlen, Herr Kollege Katzer, das einmal mit dem zu vergleichen, was in drei Jahren durch die sozialliberale Koalition in Marsch gesetzt und zum größten Teil auch schon verabschiedet worden ist.
— Soll ich es noch einmal aufzählen? Herr Kollege Schellenberg hat es soeben getan.
— Ich bitte, es im Protokoll nachzulesen. Außerdem liegt Ihnen der Sozialbericht vor. Nehmen Sie ihn übers Wochenende mit nach Hause. Dort können Sie es auch nachlesen. Oder nehmen Sie die Regierungserklärung, und haken Sie es selber ehrlich ab. Ich habe Verständnis dafür, Herr Kollege Katzer, daß Ihnen das nicht so gut in den Ohren klingt.Weniger Verständnis habe ich allerdings dafür, Herr Kollege Katzer, daß Sie hier etwas im Stil von Vilshofen und des „Bayernkurier" wieder einmal versucht haben,
die zweifellos von uns allen bedauerten Preisentwicklungen in den Mittelpunkt zu stellen. Ich kann mich daran erinnern es ist noch gar nicht so lange her —, daß wir beispielsweise im August 1969 eine Preissteigerungsrate von 3,4% hatten.
Damals hat der verantwortliche Regierungschef, Herr Kiesinger, in der „Bonner Rundschau" vom 20. August erklärt — ich darf zitieren, Herr Präsident —:So sind die Preise im Laufe der letzten Monate stabil geblieben. Der Preisindex ist jetzt sogar leicht gesunken.Das erklärte der damalige Bundeskanzler, obwohl der Preisauftrieb, wie gesagt, 3,4 % betrug. Ich frage Sie, Herr Katzer, der Sie damals Minister waren: Wie verhält sich das zu den Behauptungen, die Sie heute angesichts eines Preisauftriebs, der auch uns nicht gefällt, aufstellen? Was haben Sie damals dem Kanzler entgegnet, der das gesagt hat? Damals haben Sie keinen Ton gesagt, obwohl es einen Preisauftrieb von 3,4 % gab.
Deshalb bin ich etwas enttäuscht darüber, daß Sie sich mit solchen Verunsicherungsparolen auf eine Ebene begeben haben, auf die wir uns sonst im sozialpolitischen Bereich nicht begeben. Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, daß es heute und bei all den Fragen, die nicht nur in dieser Debatte, sondern in den nächtsen Wochen auch im Ausschuß zur Diskussion stehen, darum geht — hier stimme ich Herrn Katzer zu —, die zukünftige Altersversorgung für neun Zehntel unserer Mitbürger zu gestalten. Damit bin ich völlig einverstanden.Das Kolossalgemälde, das Sie, Herr Kollege Ruf, entwarfen und das anschließend von Herrn Katzer ausgemalt wurde, wirkt doch etwas problematisch. Es kommt mir ein bißchen übermalt vor, was man feststellt, wenn man einmal die Tünche herunterkratzt. Denn in Wirklichkeit ist doch das, was Sie, Herr Kollege Ruf, und Sie, Herr Kollege Katzer, gesagt haben, das Eingeständnis, daß die Rentenreform von 1957 eben nicht die Ergebnisse gebracht hat, die Sie damals glaubten erreichen zu können.
Sie haben diese Ziele nicht erreicht, und Sie müssen heute andere Überlegungen anstellen. Die CDU/CSU hat also in dieser Frage versagt.Wenn man ein bißchen unter die Deckfarbe dieses Gemäldes geht, ist doch weiterhin die Feststellung zu treffen, daß hier zwar ein schönes Kolossalgemälde geboten wurde, daß die CDU/CSU hier mit rührenden Worten, mit sehr vielen Hinweisen auf die zweifellos Schwachen in unserer Gesellschaft zwar wieder einmal ihr Herz für die Rentner entdeckt hat, daß aber die Meinungen innerhalb der CDU/CSU, wenn es um konkrete Maßnahmen geht, sehr divergierend sind.
— Ich werde gleich noch etwas zur Begründung dieser Behauptungen sagen, Frau Kollegin Kalinke; vielleicht heben Sie sich Ihre Frage bis dahin auf.Man kann also zu diesem Kollossalgemälde — um das gleich am Anfang festzulegen — nur das Fazit ziehen: Thema verfehlt, Note ungenügend.
— Herr Kollege Ruf, ich komme gleich zur Argumentation; ich werde gleich das begründen, was ich eingangs über das Kolossalgemälde sage.
Note ungenügend, Herr Kollege Ruf. Ich habe soeben die Feststellung getroffen: Die Rentenreformder CDU/CSU von 1957 hat in ihren Zielen versagt.Jetzt kommen einige konkrete Dinge dazu. Was wollten Sie damals? Herr Kollege Ruf, wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben: Bei Ihren Worten von vorhin waren Sie nicht mehr ganz mit dem im Einklang, was damals von der CDU/CSU gesagt wurde. Sie haben vorhin gesagt, daß man damals schon glaubte, diese 60 % nicht erreichen zu können. Ich möchte jetzt nicht die Protokolle von damals — einiges werde ich zitieren — verlesen; ich möchte nur die Feststellung treffen — ich bin gern bereit, das an Hand der Protokolle nachprüfen zu lassen —, daß damals von Ihnen dargestellt wurde
— darf ich aussprechen; dann ist Ihre Frage leichter —, daß jemand mit 40 Versicherungsjahren 60 %und mit 50 Versicherungsjahren 75 % erreichen soll,
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Schmidt
daß Sie damit Umfragen gestartet haben usw. Ich will das jetzt angesichts der späten Stunde nicht im Detail darstellen. Auch sind 45 Minuten nicht einmal lang genug, das alles darzulegen. Aber das können wir später noch einmal tun. — Das waren die Tatsachen. Jetzt können Sie bitte fragen.
Herr Kollege Schmidt, sind Sie bereit, zu unterscheiden zwischen dem ursprünglichen Regierungsentwurf des damaligen Bundesarbeitsministers Anton Storch und dem, was später der Ausschuß und das Plenum hier beschlossen haben?
Herr Kollege Ruf, würden Sie mit mir übereinstimmen, daß dieser Regierungsentwurf von einer Bundesregierung kam, die allein von der CDU/CSU getragen wurde, und daß dort diese Auffassungen vertreten worden sind?
Ich nehme doch an, daß die Bundesregierung damals von der CDU/CSU-Fraktion getragen wurde, daß also der Entwurf auch die Meinung der CDU/ CSU wiedergab. Wenn man im Ausschuß dann etwas klüger würde, ist das doch sicher nicht auf die CDU/CSU zurückzuführen. Bitte, Herr Kollege Ruf, ich gebe zu, daß sicher auch bei Ihnen manche dann klüger geworden sind. Aber Sie kannten doch den Regierungsentwurf sicher auch vorher schon. Dann hätten Sie den Herren im damals von Ihnen getragenen Ministerium vorsichtshalber sagen sollen: Kinder, seid vorsichtig, in dieser Richtung geht der Zug schief!
Meine Feststellung stimmt doch wohl: Das war das Ziel, damit ist die Regierung Adenauer, ist der damalige, von der CDU/CSU gestellte Bundesarbeitsminister angetreten. Ziel nicht erreicht!
— Sehr richtig, Herr Kollege Killat. Vielen Dank!
Ich will es nur noch einmal aufzählen, damit Sie nicht sagen, ich rede hier nur so daher.
Haben Sie damals seitens der CDU/CSU die Möglichkeit der Beibehaltung einer Sockel- oder Mindestrente abgelehnt oder nicht? Hätten wir heute das Problem der Sockel- oder Mindestrente, hätten wir heute das Problem der Kleinstrenten, wenn damals der von SPD und FDP gemachte Vorschlag, eine solche Sockelrente in die Rentenversicherung einzufügen, durchgegangen wäre? Dann hätten wir dieses Problem nicht! Heute müssen Sie sich um das Problem bemühen. Es sind also Ihre Fehler aus der damaligen Zeit, die wir heute korrigieren müssen. Die Bundesregierung tut es mit einem Entwurf zur Mindestrente. Sie wollen es auf anderem Wege. Aber das sind Fehler, die von Ihnen gemacht worden sind und die heute korrigiert werden müssen.
Drittes Problem — darauf wird mein Kollege Geldner noch eingehen —: Brauchten wir heute Überlegungen über die Öffnung der Rentenversicherung anzustellen, wenn Sie damals die Möglichkeit der Selbstversicherung nicht abgeschafft hätten? Soll ich Ihnen vorlesen, was damals Sprecher der CDU/CSU zu diesem Problem gesagt haben? Heute legen Sie Entwürfe vor. Wir haben es getan; wir haben es damals gefordert. Damals wollten Sie diese Selbstversicherung nicht; Sie haben sie abgeschafft. — Bitte schön!
Herr Kollege Schmidt, wollen Sie dann auch Äußerungen der SPD-Kollegen aus der damaligen Zeit vorlesen, die erklärt haben, daß die Rentenversicherung der Arbeiter und die Rentenversicherung der Angestellten eine Arbeitnehmerversicherung sein soll, in der die Selbständigen keinen Platz haben?
Herr Kollege Ruf, ich stehe hier für die FDP-Fraktion. Mehr brauche ich dazu wohl nicht zu sagen. Wir haben damals diese Öffnung beantragt. Sie können es nachlesen, daß wir diese Möglichkeit oftmals, auch später in Koalition mit Ihnen, beantragt haben. Das ist immer abgelehnt worden. Sie wissen selbst, daß die Gespräche geführt worden sind.
Schließlich noch eins dazu. Ich sage: Sünden der Vergangenheit. Sie begründen heute Ihren Gesetzentwurf — Niveauanhebung und vieles andere — damit, daß wir zur Zeit bei 42, 43 % liegen. Frage: Wo war in den Jahren 1962, 1963, 1964, 1965 und 1966 ein solcher Antrag von Ihnen, in einer Zeit, wo unter Ministern Ihrer Partei die Prozentsätze bei 43,6, 43,8, 43,5, 43,7 lagen? Wo war denn damals diese Behauptung „Das hat alles nicht geklappt; wir müssen etwas Neues tun"? Damals stellten Sie den Herrn im Hause, der dafür zuständig war.
— Sie hatten die Verantwortung.
Wo war das damals? Heute tun Sie so, als ob das die Schuld dieser Regierung wäre. Damals hat es das nicht gegeben, und Sie haben gar nicht daran gedacht, das vielleicht durch Vorschläge aus der damals von Ihnen getragenen Bundesregierung zu korrigieren. — Bitte schön, Herr Kollege!
Herr Kollege Schmidt, darf ich Sie fragen: Gab es damals in den von Ihnen erwähnten Jahren solche Überschüsse bei den Rentenversicherungsträgern, wie wir sie heute zu verzeichnen haben? Gab es damals einen Beitragssatz von 18%, den wir zum 1. Januar 1973 beschlossen haben?
Herr Kollege Ruf, ich möchte es mir jetzt versagen, auf die Frage der
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Beitragssätze und auf das einzugehen, was Sie im Jahr 1957 — auch die Bundesregierung damals — gesagt haben. Ich erinnere an die Umfrage: Seid ihr bereit, 2 % mehr Beitrag hinzunehmen, wenn ihr das und das bekommt? Soll ich Ihnen das alles vorlesen? Sie kennen doch alles das, was damals war. — Gut, dann soll man aber zugeben: Das hat damals nicht geklappt; wir haben uns das vorgestellt, und heute sehen wir, daß es nicht ganz so ist. Dann soll man, wenn man das damals versäumt hat, nicht dieser Regierung vorwerfen: Ihr tut nichts!Lassen Sie mich noch ein Wort zum Niveaugesetz und auch zu der von Ihnen immer wieder angesprochenen Frage der Kleinstrenten sagen, Herr Kollege Ruf. Sie wollen — und das ist unser aller Wille — die tatsächlichen Kleinstrentner und Minirentner — deswegen ein Entwurf der Bundesregierung für eine Mindestrente — in ihrer Rentensituation bessern über die Rentenversicherung — —
— Sie wissen genau, was ich damit meine: eine Besserstellung jedenfalls der Kleinstrentner über die Rentenversicherung. Die wollen Sie auch. Gut.
— Einverstanden! Wir haben einen Entwurf. Sie haben andere Vorstellungen.
Dann geben Sie aber bitte auch zu, daß Sie Ihre Meinung grundlegend geändert haben. Denn was lese ich hier? Ich darf zitieren, Herr Präsident:Mit der durch die Rentenreformgesetze beschlossenen Regelung kann bei normalem Arbeitsleben eine Rente erreicht werden, die es dem Versicherten ermöglicht, seinen erworbenen Lebensstandard auch weiterhin beizubehalten. Mit den Rentnern aus der Nähe des Fürsorgeempfängers in die Nachbarschaft des Lohnenmpfängers zurück!Zum Thema Mindestrente:Es tut mir leid, daß es Personen gegeben hat, die im Leben so wenig verdient haben, daß sie mit den wenigen Beiträgen nicht in eine angemessene Rente hineinwachsen konnten. Aber diese aus den Beiträgen und aus der Versicherungszeit errechnete Rente ist gerecht. Wenn dann ein Bedürfnis vorhanden ist, müssen andere Instanzen eintreten, um den Mann lebensfähig zu machen.Das ist die damalige Vorstellung von Sozialhilfe, jawohl. Gut, Meinung geändert, nimmt man an. Man darf dann aber nicht Ihr Programm für die jetzige Legislaturperiode kennen. Da steht nämlich auf Seite 4 — Herr Präsident, Sie gestatten, daß ich das zitiere —:
Dagegen ist die Bereinigung des Problems der sogenannten Kleinrenten im Rahmen des Rentenversicherungsrechts nicht möglich, da in unserem lebensstandardbezogenen Rentenversicherungssystem der Bezug der Rente zur Zahl und zur Höhe der geleisteten Beiträge nicht aufgegeben werden darf, wenn man nicht das Gesamtsystem in Frage stellen will. Soweit eine Kleinrente einzige Einkommensquelle ist, kann zusätzlich Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz in Anspruch genommen werden, sofern nicht im Einzelfalle die Inanspruchnahme von Wohngeld zweckmäßiger ist.So das Programm der CDU/CSU für diese Legislaturperiode.
— Gut, Ihre Meinung. Aber dann gehen Sie doch nicht her und behaupten das völlige Gegenteil und legen Entwürfe auf völlig anderer Basis vor! Dann stellen Sie sich doch hin und sagen Sie: „Das haben wir früher so gemeint; jetzt sind wir der Auffassung, es ist richtiger, es anders zu machen" — wie wir es mit unserer Anhebung der Kleinstrenten im Rahmen der Rentenreform versuchen. Wir wollen doch hier einmal offen und ehrlich sagen, wie die Dinge waren und wie sie jetzt sind. Dann muß man aber zugeben, daß man seine Meinung wirklich geändert hat, daß man sich in anderen Dingen geirrt hat, und darf nicht, wie es vor allem Herr Katzer getan hat, der jetzigen Bundesregierung all das auflasten, was auf Grund von Fehlentscheidungen seinerseits und von Fehlmeinungen in der damals regierenden CDU/CSU seinen Grund hat.
— Soll ich Ihnen den Kopf von dem Schreiben vorlesen? „ CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages, Pressereferat, 20. August 1969."
- „Sozialpolitisches Schwerpunktprogramm derCDU/CSU-Bundestagsfraktion für die 6. Legislaturperiode."
Das kennen Sie anscheinend nicht, Herr Kollege Ruf. Tut mir furchtbar leid, daß Sie das nicht kennen.
Ich würde Ihnen empfehlen — —
Solche Dinge passieren Ihnen auch. Ich erkenne in diesem Papier die Arbeit eines Assistenten eines Arbeitskreises.
Herr Kollege Ruf, es mag sein, daß das bei Ihnen üblich ist. 20. August 1969!
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Schmidt
— Sie waren nicht hier, aber immerhin war es vier Wochen vor der Wahl. Ich kann mir gut vorstellen, daß das in einer Pressekonferenz kurz vor der Bundestagswahl sehr schön verkauft worden worden ist,
sonst wäre es nämlich nicht so schön zusammengestellt und gedruckt worden.
— Herr Kollege Ruf, ich spreche ja nicht Sie an, sondern Ihre Fraktion.
— Gut! — Also habe ich nicht ganz unrecht mit einer ganzen Reihe von Feststellungen; denn anfangs meinte man, als ich ein paar globale Feststellungen traf, diese seien nur so „aus dem hohlen Bauch" gemacht.
Lassen Sie mich noch ein Weiteres sagen. Ich will es in diesem Falle kurz machen, weil Kollege Schellenberg auch schon darauf hingewiesen hat und weil auch meine Zeit fortschreitet. Ob Niveauanhebungsgesetz. ob Vorziehung des Rentenanpassungstermins auf den 1. Juli: alle Gesetze sind ausgabewirksam. Herr Kollege Ruf, ich weiß nicht, ob Sie vorhin bei meiner Erklärung zur Kriegsopferversorgung da waren; ich kann mich im Moment nicht daran erinnern. Eben konnten Sie noch sagen: „Davon habe ich nichts gewußt, das war 1969." Schwieriger wird es natürlich, wenn Ihr Frakionsvorsitzender, sicher in Übereinstimmung mit dem Finanz- und Haushaltsexperten Ihrer Fraktion — gestern ist das beim Bundesverband der Deutschen Industrie wieder so gesagt worden; das werden Sie aus der Presse entnommen haben, ich habe es schon unter dem 26. November 1971 zum erstenmal in einem Interview mit dem „Generalanzeiger" gelesen — sagt:Wir würden die öffentlichen Ausgaben dem realen Zuwachs des Bruttosozialproduktes annähern.Die weiteren Sätze kann ich mir ersparen, Sie kennen sie. Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, so leicht kann man es sich doch nicht machen, daß man sagt: „Na ja, wir machen einen Gesetzentwurf, und die Angestellten übernehmen über die BfA die Defizithaftung für die Knappschaft. Dann haben wir das vom Tisch." So leicht kann man es sich doch nicht machen! — Bitte schön!
Herr Kollege, darf ich Sie fragen, was die Regierung anläßlich der Rückzahlung des Krankenversicherungsbeitrags der Knappschaftsrentner gemacht hat? Mußte nicht auch an dieser Stelle die Angestelltenversicherung einspringen?
Vielleicht wissen Sie aber auch, daß es sich da um eine Darlehenssituation handelt.
— Es handelt sich um eine Darlehenssituation, und wir werden ja feststellen, ob dieses Darlehen nicht zu gegebener Zeit zurückgezahlt wird.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, Ihr Fraktionsvorsitzender sagt, daß er aus sicher wohlerwogenen Gründen Haushaltsausgabenzuwachsraten immer nur so ansetzen möchte, daß sie dem realen Zuwachs beim Bruttosozialprodukt entsprechen. Ich will gar nicht davon reden, was dann an Ausgaben, die schon vorhanden sind, nicht mehr getätigt werden könnte. Wie wollen Sie das ohne zusätzliche Steuerbelastung — oder zunächst über die BfA — machen? Aber die Leistungen für die Kriegsopfer und für den Lastenausgleich, die Unterhaltshilfe, werden in den nächsten Tagen dynamisiert. Glauben Sie nicht, daß wir das dann auch dort tun müssen? Wir wollen die Rehabilitationsleistungen dynamisieren; auch Sie sind dieser Meinung. Glauben Sie nicht, daß wir das dann auch dort tun müssen? Die landwirtschaftliche Altershilfe soll dynamisiert werden; auch die CDU/CSU ist dieser Meinung. Glauben Sie nicht, daß wir das dann auch dort vorziehen müssen, daß wir dann auch dort zusätzliche Steuergelder brauchen? Es ist doch — Herr Kollege Ruf, seien Sie mir nicht böse — Augenauswischerei, sich hier hinzustellen und ein Kolossalgemälde zu malen, was man alles den Rentnern zuliebe und aus dem Herzen für die Rentner will, aber all das zu verschweigen, was an Konsequenzen herauskommt, und gleichzeitig draußen zu sagen: Wir würden das mit dem Haushalt viel besser machen — Herr Barzel --, indem wir nur so ganz kleine Zuwachsraten lassen. Dann müßten beispielsweise die Beamten und der ganze öffentliche Dienst nächstes Jahr etwas zurückzahlen, damit wir diese Raten überhaupt hinkriegen. So kann man es, glaube ich, nicht machen. Deshalb meine Einlassung in bezug auf das Kolossalgemälde. Wenn man da die Tünche einmal ein bißchen wegkratzt, kommt alles das aus der Vergangenheit und kommen alle solche Zwiespältigkeiten von verschiedenen Aussagen heraus.Sie dürfen mir es nicht übelnehmen, daß ich mir mal die Mühe gemacht habe, in diesem Zusammenhang nachzulesen, was so mancher von Ihnen — nicht Sie, aber aus Ihrer Fraktion — woanders dazu gesagt hat.
Wenn ich mir daraus ein Mosaik mache, dann kommt bei dem Kolossalgemälde heraus, daß hier ein Zacken so ist und da einer so, aber das Mosaik geht nicht zusammen. So ist es leider.Nicht viel anders ist es doch — Herr Kollege Ruf, lassen Sie mich das noch sagen; ich will mich dann schon im Hinblick auf die Zeit beschränken —, wenn ich das sehe, was Sie zum Thema der flexiblen Altersgrenze gesagt und vorgelegt haben.Zunächst eine Feststellung. Es ist richtig, daß der Regierungsentwurf bisher nur eine Flexibilität nach
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unten — von 65 auf 63 — enthält. Es ist aber nicht richtig, daß das das gesamte Ergebnis der Beratungen sein soll. Denn ich habe von dieser Stelle, nachdem in der Kabinettssitzung die Grundsatzfrage bereits geklärt war, in der ersten Lesung bereits gesagt, daß die Flexibilität nach unten im Rahmen der Beratungen auch zu einer Flexibilität nach oben— 65 bis 67 mit Zuschlag — ausgebaut werden würde.
— Jawohl, das habe ich hier in der ersten Lesung bereits gesagt. Das war nicht mehr im Regierungsentwurf, weil die Formulierung noch nicht soweit war. Das wird im Ausschuß geschehen. Wir sind gern bereit, Ihre Zustimmung dazu mitzunehmen. Es ist also nicht so, wie Herr Kollege Katzer glaubte feststellen zu können, es würde sich hier nur um eine Herabsetzung handeln.Aber wenn ich mir Ihre bisherigen Äußerungen ansehe — da werden Sie vielleicht wieder sagen: Referentenentwurf; kann ja sein; wieder etwas vom Pressereferat, die letzten Tage herausgekommen —, muß ich wieder sagen: das ist eine ganz merkwürdige flexible Altersgrenze. Denn bisher war ich immer der Meinung — und ich glaube, das kann ich für die Koalition und für alle die Arbeitnehmer sagen, die sich vorstellen können, daß eine flexible Altersgrenze eine gute Sache ist; und wie groß die Forderungen danach sind, wissen wir —, daß einer der Hauptgründe für die flexible Altersgrenze war, auch aus gesundheitlichen und anderen Gründen den früheren Bezug der Rente, wenn ich es mal so sagen darf, das frühere Sich-verrenten-Lassen zu ermöglichen. Wenn ich Ihre Vorschläge durchsehe, finde ich ein paar Bonbons nach dieser und ein paar Bonbons nach jener Seite. Aber im Endeffekt ist mehr Verhinderung und mehr Anreiz zur Weiterarbeit darin als Anreiz zum früheren Rentenbezug.
Das wird auch durch den Satz auf Seite 5 oben deutlich:Durch diese Maßnahme wird aus einer Herabsetzung der Altersgrenze eine flexible Altersgrenze,— richtig! —mit der Konsequenz, daß weniger Versicherte den frühestmöglichen Zeitpunkt des Rentenbezuges wählen werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man auf der einen Seite mit der flexiblen Altersgrenze hausieren geht und sagt: Lieber Arbeitnehmer, du kannst dich jetzt mit einem nur formelmäßigen Abschlag aus Gesundheitsgründen und aus vielerlei anderen Gründen eher verrenten lassen!, auf der anderen Seite aber so viel Hürden einbaut — hier heißt es ja: mit der Konsequenz, daß weniger Versicherte diesen Weg wählen werden —, so kann ich dazu nur sagen: Das ist ein Verhinderungsentwurf mit flexibler Altersgrenze.
Herr Kollege Schmidt, ich möchte dieses Papier noch einmal mit Ihnen gemeinsam lesen.
Das können wir anschließend in der Bar machen.
Sie haben eben vorgelesen, durch diese Maßnahme werde aus einer Herabsetzung der Altersgrenze eine flexible Altersgrenze. Sie haben hinzugefügt: richtig!
Ja, das machen wir ja auch.
Wenn Sie hier sagen: richtig!, müssen Sie logischerweise zugeben, daß das, was die Bundesregierung vorgeschlagen hat, keine flexible Altersgrenze ist, sondern, wie wir immer sagen, nur eine weitere Form des sogenannten vorgezogenen Altersruhegeldes. Das ist der erste Punkt.
Herr Kollege Ruf — —
Ich bin noch nicht ganz fertig.
Herr Abgeordneter Ruf, die Zwischenfragen müssen kurz sein. Weitere Ausführungen kann ich jetzt nicht mehr zulassen.
— Daran kann ich Sie nicht hindern.
Herr Kollege Ruf, ich habe vorhin bereits festgestellt, daß auch der Regierungsentwurf die Flexibilität nach oben noch mit enthalten wird — das werden wir im Ausschuß noch korrigieren—,
allerdings von 65 Jahren nach unten und oben, nicht aber so wie nach Ihrer Vorstellung.Wenn ich vorhin „richtig" gesagt habe, dann deshalb, weil dies stimmt, wenn ich das lese, was vorher in Ihrem Papier stand. Daß ich gut gelesen habe, sehen Sie an den roten Anmerkungen, die ich mir gemacht habe.
Ich habe also nicht nur den Satz gelesen, den ich herausgezogen habe. Es muß einen doch merkwürdig berühren, wenn aus Ihrem Satz — den Gesetzentwurf haben wir ja noch nicht — abgeleitet wird: Wir legen zwar einen Entwurf vor, wir schaffen zwar einen Anreiz, bringen aber so viele Faktoren mit hinein, daß möglichst wenige diesen Weg wählen.
— Ach, deswegen, weil Sie so liberal sind, Herr Kollege Ruf, wollen Sie keine Öffnung der Renten-
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versicherung auf freiwilliger Basis für die Selbständigen, sondern mehr ein Zwangssystem!
Herr Kollege Ruf, wir werden ja im Ausschuß noch Gelegenheit haben, über die Details zu diskutieren. Ich will es mir auch versagen, auf einige weitere Punkte einzugehen. Vielleicht habe ich nachher sowieso noch die Gelegenheit dazu. Ich weiß ja nicht, ob ich, wenn Sie noch einmal das Wort ergreifen, dazu noch etwas sagen muß.Nachdem von den Reformgemälden, die Sie hier gemalt haben, die Tünche abgegangen ist und das herauskommt, was an Versäumnissen der Vergangenheit, Korrekturen früherer Fehler und dergleichen darunter verborgen war, glaube ich hier für die Freien Demokraten sagen zu können, daß das, was die Bundesregierung, was die sozialliberale Koalition als ein geschlossenes Reformprogramm in den fünf Punkten vorgelegt hat, doch erheblich ausgewogener ist als das, was Sie zur Abdeckung mancher Sünden der Vergangenheit bisher angemeldet haben.
Das 15. Rentenanpassungsgesetz mit seiner soliden Finanzierung — dieses Gesetz hat nicht jene Auswirkungen auf die Kriegsopfer und andere Gruppen, wie Ihre Entwürfe sie hätten, weil den Kriegsopfern und anderen Gruppen die gleichen Verbesserungen gewährt werden, die nach dem 15. Rentenanpassungsgesetz am 1. Januar 1973 in Kraft treten —ist es wert, in den nächsten Wochen sachlich, fundiert, detailliert, aber auch möglichst zügig beraten zu werden, denn wir sind der Auffassung, daß das Rentenprogramm der Bundesregierung zusammen mit dem 15. Rentenanpassungsgesetz am 1. Januar 1973 in der Form in Kraft treten sollte, wie es dem Hohen Hause und dem Ausschuß vorliegt.
Meine Damen und Herren, Sie haben jetzt drei großangelegte Reden gehört. Nach der Zahl der Redner und der angemeldeten Redezeit — so ist mir eben berichtet worden — werden wir unsere Sitzung erst um 22.30 Uhr beschließen können, wenn es so weitergeht. Das kann nicht unbedingt der Sinn der Sache sein. Ich habe zudem den Eindruck, daß ich mich, von einigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen, hier nur noch in der Gegenwart von Sozialexperten befinde.
— Ja, einige rümliche Ausnahmen; Herr Staatssekretär Berkhan, auch Sie gehören dazu.
Ich möchte Sie bitten, nicht der Gefahr zu erliegen, hier eine Ausschußsitzung öffentlich abzuhalten, zumal ein Blick auf die Pressetribüne Sie überzeugt, daß diese restlos leer ist, also die Öffentlichkeit Ihren Ausführungen nur ein begrenztes Interesse entgegenbringt.
Ich bitte darum, Redezeit und Rednerzahl nochmals zu überprüfen. Ich kann Sie zwar nicht daran hindern, die Sitzung auszudehnen, aber es ist ein gutgemeinter Rat im Interesse des ganzen Hauses.
Das Wort hat der Abgeordnete Krampe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sozialbericht 1970, der hier in der 135. Sitzung am 23. September 1971 behandelt wurde, bekam damals vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Prädikat „Programmbericht". Dasselbe hat er hier heute wiederholt. Für den Sozialbericht 1971 wurde das anspruchsvollere Prädikat „Leistungsbericht und Leistungsbilanz" erfunden. Für den Sozialbericht 1972 steht die Namensgebung noch aus.Herr Bundesminister, in diesem Zusammenhang haben Sie auch einiges andere mehr über Ihre Öffentlichkeitsabteilung veröffentlichen lassen. Sie haben eine Zwischenbilanz III als Kurzfassung herausgegeben. Dort schreiben Sie selber vorn im ersten Satz: Mehr soziale Gerechtigkeit und Sicherheit hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt. Zu diesen großen Worten bei kleinen Taten möchte ich einige Fragen stellen und einige Antworten geben.Herr Bundesminister, entspricht es Ihrer Vorstellung von „sozialer Gerechtigkeit", wenn der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte im Mai 1972 gegenüber 1969 um mehr als 16,3 % höher lag und im Jahre 1972 weiter steigt? Die Betroffenen sind doch in erster Linie die Bezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die kinderreichen Familien und auf einem anderen Gebiet auch die Eigenheimwilligen, besonders die Bauherren mit kleinem und mittlerem Einkommen. Am Rande sei vermerkt, daß der Kostenindex für Errichtung von Wohngebäuden seit 1969 bis 1972 um mehr als 30 % gestiegen ist. Das alles können Sie den Berichten der Deutschen Bundesbank entnehmen. Es erfolgte doch genau das Gegenteil Ihrer prophetischen Ankündigung; denn gerade die schwächeren Bevölkerungskreise sind in Sachen soziale Gerechtigkeit und Sicherheit zurückgeworfen worden.Herr Minister, entspricht es des weiteren Ihrer Auffassung von „sozialer Gerechtigkeit" — das ist auch in einem sehr dicken Buch niedergeschrieben —, wenn die Sparguthaben und die Notgroschen gerade auch des kleinen Mannes einem stetigen Prozeß inflationärer Schwindsucht ausgesetzt sind? Der durchschnittliche Zinssatz für normale Spareinlagen beträgt zur Zeit 4,5 %, während gleichzeitig der Preisindex im Vergleich zum Vorjahr um 5,4 % steigt. Der Wertverfall der Spareinlagen ist doch nicht mehr zu vertreten. Und das alles dank einer Politik, die auch von Ihnen mit zu verantworten ist! Ist es nicht geradezu vermessen, von dieser Stelle aus von einer Vermögenspolitik zu sprechen, wenn vorhandenes Sparkapital stetig an Wert verliert?Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, es kann doch nicht Ihrer Auffassung von mehr
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Krampe„sozialer Gerechtigkeit" entsprechen, wenn die Einkünfte aus Renten der Arbeiterrenten- und der Angestelltenversicherung, d. h. die Renten von mehr als 9 Millionen Bürgern, auf den niedrigsten Stand seit 1957 abgesunken sind. Zu diesem untragbaren Zustand ist hier von Kollegen meiner Fraktion Hinreichendes gesagt worden.Wie sagten Sie da noch am 23. September vergangenen Jahres hier im Hause dazu? Sie sagten anläßlich der Beratung des damaligen Sozialberichts: Wir wollen neue Mißstände nicht aufkommen lassen. Das war damals für uns ein hoffnungsvolles Wort; es muß aber erst noch in die Tat umgesetzt werden. Wir warten dabei auf Ihre Initiativen.Der Mißstand des ständig niedrigen Rentenniveaus war auch schon 1971 vorhanden, und Sie verkennen zur Zeit auch selbst nicht, daß dieser Mißstand heute noch vorliegt. Anders kann man doch die Überlegungen in Ihren eigenen Reihen und in Ihrer Fraktion in Richtung auf frühzeitige Rentenanpassungen nicht verstehen. Und glauben Sie etwa, Herr Minister, daß dann „soziale Sicherheit" gegeben ist, wenn Sie landauf, landab Stabilität und Fortschritt verkünden, der Haushalt 1972 aber genau das Gegenteil beweist und sich deshalb zur Zeit wieder im Haushaltsausschuß befindet? Die „Frankfurter Rundschau" — keine Zeitung der Opposition — schrieb doch bezeichnenderweise von der Offenlegung der katastrophalen finanziellen Mißwirtschaft, die durch Superminister Schiller erfolgte. Es fehlen also auch in diesem Bereich gesunde finanzpolitische Programme, um wenigstens den Mißerfolg einer sogenannten Reformpolitik abzudecken.Der Sozialbericht ist — ich sagte es eben schon —377 Seiten stark; er ist einer der stärksten, der jemals herausgegeben wurde. Aber das Verhältnis von Volumen und Aussagewert ist ungünstig. Die Kritik am Sozialbericht 1971 trifft in ähnlicher Form auch für diesen Sozialbericht 1972 zu. Interessant wird dieser Bericht für die Statistiker sein, und in dieser Tatsache ist auch der Grund für das geringe Interesse der Öffentlichkeit zu suchen. Gewiß enthält der Sozialbericht eine Anzahl von Ankündigungen reklamewirksamer Vorhaben, aber „vorausschauende Bilanz", als die er bezeichnet wird, kann man ihn deshalb nicht nennen, weil die Finanzierungsaussagen und -grundlagen fehlen, und das ist bezeichnend und symptomatisch für diese Regierung.Ich erinnere Sie in diesem Zusammenhang daran — ich würde mir das gern selbst ersparen —, wie schwer Sie sich bei der Finanzierung der Rückzahlung des Rentnerkrankenversicherungsbeitrages im knappschaftlichen Bereich getan haben. Dort standen im Bundeshaushalt nicht einmal 169 Millionen DM zur Verfügung. Diese 169 Millionen DM mußten auf dem Wege der Anleihe von der Angestelltenversicherung beschafft werden. Das war der Ausweg, der am Schluß dann aber 220 Millionen DM kostet.Ich darf sagen, obwohl bei den angekündigten Vorhaben — oder, wie Sie gern sagen, bei den Reformen — im wesentlichen auf die Finanzgrundlagen der Rentenversicherungsträger zurückgegriffen wird — angesammelte Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber, überhöht durch die inflatorische Entwicklung —, blieb es bisher, was größere Vorhaben angeht, bei den Ankündigungen. Und ob und inwieweit hier der angekündigte Termin — 1. Januar 1973 — zu erreichen oder einzuhalten ist, ist abzuwarten; viel Zeit bleibt bei der Geschäftslage hier im Hause nicht mehr.Der Sozialbericht aber sollte nicht nur für Statistiker von Bedeutung sein. Deshalb sind wir daran interessiert, zu erfahren, wie es z. B. mit der Reform der immer kränker werdenden Krankenversicherung wird. Die etwas magere Aussage im Sozialbericht über die Arbeit der im April 1970 eingesetzten Sachverständigenkommission fordert diese Frage, Herr Minister, geradezu heraus. Wo sind konkretere Ergebnisse und Vorschläge mit der entsprechenden finanziellen Deckung und Aussage, und zwar nicht nur für den Bundeshaushalt, sondern auch für den Krankenversicherten selbst?Doch nicht nur das. Jedermann, der in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung tätig ist, weiß, daß in der Krankenversicherung, wenn sie Bestand haben soll, neue Strukturelemente einzusetzen sind. Die Entwicklung der ständig steigenden Beitragssätze spricht dafür. Hier ist die Bundesregierung am Zuge, zu sagen, wie weiterentwickelt werden soll und muß. Wo sind hier die angekündigten Richtwerte? In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 steht dazu etwas in Verbindung mit dem Stichwort „Vorschläge für eine moderne soziale Gesetzgebung". Ein solcher Vorschlag für eine auf Zukunft ausgerichtete Sozialpolitik war das Einbringen der Vorsorgeuntersuchungen in den Gesetzgebungsgang durch meine Freunde.
Eine sozialliberale Initiative war anscheinend in diesem Bereich eine Fata Morgana. Auch der „Spiegel" unterschlägt die Aktivitäten der CDU/CSU und stellt all das, was erreicht worden ist, als Erfolge dieser Regierung heraus.In Dortmund soll, Herr Minister — und das sagten Sie eben ja auch —, eine Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung die Arbeit des Koblenzer Instituts fortsetzen. Das Parlament hat die Notwendigkeit und Wichtigkeit einer solchen Anstalt voll und ganz anerkannt. Stellen sind im Haushalt dafür ausgewiesen, vom Haushaltsausschuß allerdings qualifiziert gesperrt worden. Ihr Vorgänger im Amt hatte die vorbereitenden Arbeiten zur Verlagerung des Instituts von Koblenz an eine andere Stelle sowie die Zusammenfassung und Ausgestaltung zur Bundesanstalt schon eingeleitet. 1970, Herr Minister, bewilligte das Parlament die Mittel für den Neubau dieser Anstalt. 1972 mußte der Haushaltsausschuß die Mittel für den Neubau streichen, weil die Bauplanung weit hinter den Versprechungen zurück lag. 1972 ist noch kein Spatenstich erfolgt. Die Bundesanstalt sitzt in Koblenz und Dortmund, und es ist damit zu rechnen, daß vor 1976 beide Anstaltsteile, beide Personalkörper nicht zu einer funktionsfähigen Einheit zusammenkommen. Der Präsident allerdings ist ernannt, unbestritten ist er im Amt,
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Krampeund wir wünschen ihm viel Glück und Erfolg bei dieser seiner so notwendigen Arbeit für die Sicherheit des arbeitenden Menschen.Gestatten Sie mir noch ein kurzes Wort zu dem erstmalig im Sozialbericht aufgeführten Abschnitt „Städtebau- und Wohnungspolitik". Das Aufzählen der Fakten ist gewiß eine lobenswerte Sache. Dennoch, so meine ich, fehlen einige Aussagen. Sie fehlen aber deshalb, weil sonst die ganze Misere der Preis-Kosten-Steigerungen hätte erwähnt werden müssen. Sie sagten hier, Herr Minister, die Sozialpolitik solle den Ausbau der Demokratie, der Freiheitsräume und Mitbestimmungsrechte fördern. Freiheitsräume werden aber nicht geschaffen, wenn elementare Kostensteigerungen den Erwerb — Kauf oder Bau — von Wohnungseigentum für die Familie an der Basis fast unmöglich machen. Wenn durch Bau und Kauf der einzelne in immer neue, größere, schwieriger zu meisternde finanzielle Abhängigkeiten gerät — bedingt durch die Kostenexplosion auf dem Bausektor —, dann ist es aus mit dem Ausbau der Freiheitsräume. Durch das inflationäre Spiel und die inflationäre Geldpolitik dieser Bundesregierung — das liegt auf dem Bausektor klar auf der Hand — werden Zeichen der Abhängigkeit und nicht der Freiheit gesetzt. Das ist ein gesellschaftspolitisches Signal, wie es deutlicher den Bausparern nicht gegeben werden kann.In diesem Zusammenhang darf ich das Sozialbudget, den statistischen Zahlenanhang, seine erweiterte Fortschreibung der bisher vorgelegten Dokumentationen, Herr Kollege Schmidt , ansprechen, begonnen unter unserem ehemaligen Minister und Kollegen Hans Katzer. Dazu werden sicherlich im Laufe der Zeit an anderer Stelle noch einige Aussagen zu treffen sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte schließen. Sozialpolitik, so wird gesagt, ist ein ständiger Prozeß der Entwicklung.
Sozialpolitik — das geht aus dem Sozialbericht 1972 hervor — ist auch abhängig von der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Ist es zuviel gesagt, wenn ich annehme, daß, wenn die Finanzpolitik nicht in Ordnung ist — und Ihr Haushalt ist es ja, der zurückverwiesen wurde —, auch die Sozialpolitik Schaden erleidet und damit auch Schäden für die von ihr betroffenen Personenkreise unserer Bevölkerung unwiderruflich und unweigerlich entstehen?! Darüber sagt der Sozialbericht nichts aus. Seine Wertung allerdings erfolgt auch von dieser Warte her. Ich habe versucht, es anzusprechen. Die Schlußfolgerungen daraus zu ziehen ist Aufgabe und Sache der Regierung, und sie hat baldigst die Schlußfolgerungen zu ziehen, andernfalls kann es zu spät sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Nölling. Für ihn sind 30 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, diese 30 Minuten auszunutzen.
— Das wird wahrscheinlich der einzige Beifall sein, den ich heute von Ihnen bekomme; das kennen wir schon.Wir erwarten von der Opposition nicht, daß sie den Sozialbericht lobt. Das wäre nach allen Erfahrun der letzten drei Jahre zuviel verlangt. Aber ich glaube, wir können erwarten, daß sie ihn wenigstens sorgfältig liest. Ich glaube, wenn das geschehen wäre, hätte man auch ein Gefühl bekommen — auch der Kollege Krampe und der Kollege Katzer hätten es bekommen —, welch ein wichtiges Dokument man hier in den Händen hat, welch ein Dokument über die soziale Entwicklung in diesem Staat in den letzten drei Jahren. Ich kann nur annehmen, daß auch der Kollege Katzer diesen Bericht, obwohl er eingangs versuchte, sich kritisch mit ihm auseinandezusetzen, nicht wirklich gelesen hat. Schade, daß er nicht da ist.
— Ich möchte im Moment zu Ende sprechen, Herr Kollege Ruf; ansonsten bin ich für Zwischenfragen sehr aufgeschlossen.Ich meine, man müßte ein solches Maß an Ehrlichkeit aufbringen, daß man hier mindestens zugibt, daß das, was wir in den letzten Monaten gehört haben — zuletzt ausgedrückt durch den Oppositionsführer Barzel: aus Reformversuchen sei nichts geworden —, nichts anderes ist als geistlähmendes Gerede oder, wenn ich so sagen soll, ein geistlähmendes Geschwätz. Was die Opposition hier versucht, ist Totschweigen der Leistungen dieser Regierung, Spekulation auf die Vergeßlichkeit der Wähler. Sie können von uns nicht erwarten, daß wir das hier mitmachen.
Ich habe heute abend keine Zeit, darzustellen, was alles in dem Sozialbericht steht. Es ist schließlich auch Ihre Aufgabe, diese Schulaufgaben zu machen, wenn Sie hierherkommen. Ich kann mich nur freuen, daß so wenige das gehört haben, was der Kolleg Krampe hier soeben gesagt hat.Aber ein Frage an den Kollegen Katzer: Wo sind denn die neuen Überlegungen der Opposition in sozialpolitischer Hinsicht in dieser Legislaturperiode?
Ich habe mir außer der Regierungserklärung auch das, was Sie im Wahlkampf versprochen haben, angesehen. Das ist so ziemlich das Dürftigste, was man in diesem Lande seit langem gelesen hat. Das, was ich hier sehen kann, was Sie an Initiativen bringen, verdiente ganz sicher eine ausführlichere Stellungnahme, als sie hier gegeben werden kann. Es ist doch sicher nicht immer so, daß die Regierung auf dem Prüfstand steht, wenn es um solche De-
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Dr. Nöllingbatten geht, sondern ich meine, daß auch die Opposition auf dem Prüfstand steht
und daß wir auf diese Weise selbstverständlich auch ein paar Punkte im Verhalten der Opposition in den letzten Jahren haben registrieren können.
Ich darf ein paar Worte zum Zusammenhang von Wirtschafts- und Sozialpolitik sagen. Da handelte die Opposition in der Vergangenheit bis auf den heutigen Tag immer nach der Devise: Immer betont dafür sein und immer durch Maßnahmen dagegen verstoßen! Ich möchte wirklich einmal wissen, meine Damen und Herren von der Opposition, was Sie eigentlich kritisieren wollten, gäbe es keine Preissteigerungen, — die ich nicht verniedliche, die ich wegen der sozialpolitischen Konsequenzen bedauere. Aber ich frage mich, nachdem ich das gehört habe, was der Kollege Ruf, der Kollege Katzer und ganz besonders der Kollege Krampe heute sagten: was bliebe dieser Opposition eigentlich übrig, wenn sie sich nicht immer wieder an den bedauerlichen Preissteigerungen aufhängen könnte? Ich sage Ihnen: nichts, gar nichts bliebe Ihnen übrig!
Lassen Sie mich dazu ein paar Punkte sagen. Die letzten zweieinhalb Jahre haben deutlich gezeigt, daß die Opposition keine wirtschaftspolitische Alternative hat und hatte, um etwas gegen die Preissteigerungen, die ja nicht nur bei uns hier stattfinden, zu tun.
Die letzten Statistiken, die ich habe, zeigen, daß die Bundesrepublik mit 5,1 % im internationalen Rahmen immer noch außergewöhnlich günstig dasteht. Nun lassen Sie mich einmal die Frage stellen, was Ihrer Ansicht nach konservative Wirtschaftspolitik in diesem Staate erreichen würde.
— Keine Inflation? Das ist ein schönes Wunschdenken! Wenn Sie uns in den letzten Monaten und Jahren Anlaß gegeben hätten, wenigstens einmal zu erkennen, wo Ihre Alternativen liegen, dann wäre ich dankbar gewesen. Unverbindliches Hinweisen auf die Notwendigkeit von Kürzungen des Staatshaushaltes — das ist das, was von Ihnen gekommen ist. Ich komme noch ganz kurz darauf zurück.Der zweite Punkt ist, daß die Opposition nicht nur keine wirtschaftspolitische Alternative hat, sondern gerade die Sozialpolitik dadurch diskreditierte, daß sie immer wieder versucht hat, bei fast allen ausgabewirksamen Gesetzen noch einen draufzugeben. Ich brauche die entsprechenden Zahlen gar nicht zu nennen. Nach einer Aufstellung des Finanzministeriums handelte es sich im März 72 um mehr als 7 Milliarden DM, die Sie mehr ausgeben wollten als die Regierung.
Man muß sich das Ganze einmal vorstellen. Da argumentiert eine Opposition seit Jahren gegen den zu hohen Staatshaushalt, und jedesmal, wenn wir sozialpolitische Leistungen beschließen, die ausgabewirksam sind, kommen Sie mit Millionen und Milliarden Mehrforderungen
— Sicher, ich weiß ja, daß Sie daß auch noch für richtig halten.Ich darf beispielsweise an den Burgbacher-Plan erinnern. Im Wahlkampf von Baden-Württemberg sind Sie hausieren gegangen und haben den Leuten gesagt: Wenn der Plan in Kraft getreten wäre, dann hättet ihr heute schon soundsoviel hundert Mark. Man verschweigt natürlich ganz bewußt, daß allein dieser Plan im ersten Jahr 5,5 Milliarden DM Staatsgelder verbraucht hätte.
— Das haben wir im Finanzausschuß untersucht, Herr Kollege Katzer, und im Haushaltsausschuß ebenfalls.Wenn wir Ihnen in der Vergangenheit nicht immer auf die Finger geklopft hätten, meine Damen und Herren, dann möchte ich einmal sehen, wo die Staatsfinanzen heute wären. Dann wären sie in der Tat zerrüttet.
Ein paar Worte zum Verteilungskampf, von dem der Kollege Katzer gesprochen hat. Herr Kollege Katzer, Sie haben von einem erbarmungslosen Verteilungskampf gesprochen. Daß es sich hier um Machtauseinandersetzungen handelt, wissen wir so gut wie Sie. Meine Frage an Sie: Wollen Sie daran etwas ändern, an der Tarifautonomie beispielsweise?
Der Kollege Stoltenberg meinte ja: Wir machen jetzt mal schnell einen Stabilitätspakt. Wie soll das denn dann aussehen?Eine weitere Frage an Sie, Herr Kollege Katzer! In den letzten zwei Jahren ist es zum erstenmal gelungen — das können Sie genau nachlesen, wenn Sie die Lohnquoten vergleichen , den Anteil der Arbeitnehmer am Sozialprodukt maßgeblich zu erhöhen. Das ist eine ganz große Leistung der Gewerkschaften. Es ist auch eine ganz große Leistung dieser Regierung, die ja durch ihre Wirtschaftspolitik die Grundlagen für die Lohnpolitik geschaffen hat. Nun kommen Sie hierhin und sagen: Da ist ein Verteilungskampf im Gange, und dieser Verteilungskampf hat zunächst dazu geführt, daß die Lohnquote zu Lasten der Gewinnquote gestiegen ist. Das mögen Sie bedauern. Ich kann das nicht bedauern. Ich halte das im Interesse einer gerechteren Bezahlung des Faktors Arbeit für gut und für begrüßenswert.Nur, was soll in diesem Zusammenhang der Hinweis, daß es sich bei den Überschüssen der Sozialversicherung um eine inflationsbedingte Ansamm-
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Dr. Nöllinglung handelt? Ich bin nicht der Meinung, daß das inflationsbedingt ist. Ein paar Beispiele dafür, daß es nicht so ist, hat der Kollege Ruf gegeben. Ich liefere Ihnen das wichtigste nach, indem ich sage, daß, wenn die Lohnquote im Verteilungskampf steigt, selbstverständlich auch die Beiträge und die Beitragseinnahmen steigen müssen. Das ist die Kehrseite der Medaille. Wenn das nicht gewesen wäre, Herr Kollege Katzer, dann könnten wir über Verbesserungen — ich sage: reale Verbesserungen und nicht Verbesserungen zum Ausgleich von Preissteigerungen — an dieser Stelle heute überhaupt nicht reden.
— Das soll ja erst noch kommen. Das ist bisher noch nicht eingetreten. Schön, davon gehen wir aus. Ganz sicher gehen wir davon aus.
— Wir wollen sehen, was daraus wird. Sie haben es ja soeben gar nicht angeschnitten.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, den Unterschied der sozialpolitischen Situation verdeutlichen, nämlich zwischen der Lage, die heute besteht, und der Lage, in der Sie sich befunden haben, Herr Kollege Katzer, als Sie in einer vergleichbaren Zeitspanne in diesem Staate Sozialpolitik machen mußten. Lassen Sie mich diese Rückschau einmal anstellen. Sie waren so sehr gegen eine Rückschau. Ich kann das sehr gut verstehen. Sie haben ausdrücklich betont: Laßt uns vergessen, was geschehen ist.
— Wieso, „was bringt uns das"? Ihr Oppositionsführer und andere stellen sich doch immer hierhin und sagen, wir hätten die Regierungserklärung nicht erfüllt. Wie kann ich das denn ohne eine Rückschau prüfen? Ich habe gehört, wie unruhig Sie wurden, als die Leistungsbilanz vom Kollegen Schellenberg vorgetragen wurde.
— Das paßt Ihnen nicht, das wissen wir.
Herr Kollege Katzer, ich möchte Ihnen den Unterschied der Situation gegenüber Ihrer Amtszeit einmal mit Ihren eigenen Worten verdeutlichen. Sie haben in einem „Spiegel"-Interview im September 1967, nachdem Sie zwei Jahre im Amt waren, folgendes gesagt:Ich war gerade im Amt, da ging das los: Hier mit Kürzungen, da mit Streichungen, und das hat mich im Grunde nie verlassen. Daß kein Geld da ist— so sagten Sie damals —ist natürlich eine ganz schreckliche Geschichte.
Am Schluß — ich will hier gar nicht zitieren, was sie alles wegstreichen mußten, nachdem Sie einen Wahlkampf mit sozialen Versprechungen gewonnen hatten, nachdem Sie die Wirtschaft in die Rezession gefahren hatten, was Sie alles wegnehmen mußten — haben Sie, Herr Kollege Katzer, dem „Spiegel" erklärt, — ich zitiere — —
— Entschuldigen Sie bitte, wir haben doch nur geholfen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Sie waren doch
— Herr Kollege Katzer, Sie können darüber lachen —, weil Sie die Wirtschaftspolitik — —
— Aber die Ursache ist doch das Versagen ihrer konservativen Wirtschaftspolitik gewesen. Sie säßen doch möglicherweise heute noch auf der Regierungsbank, wenn das damals nicht gewesen wäre.
— Schön, Sie haben es verspielt, Sie haben damals versagt. Meine These ist ja, daß alles, was Sie in der Zwischenzeit an wirtschaftspolitischen Beiträgen geleistet haben, bestätigt, daß man Ihnen die Wirtschaft dieses Landes nicht anvertrauen kann.
Der Herr Kollege Katzer hat damals gesagt: einschließlich der Kürzungen beim Kindergeld wird der Bund in den nächsten vier Jahren
— Herr Kollege Katzer, in den nächsten vier Jahren, von damals gerechnet; ich weiß, Sie hören es nicht gerne, ich merke das ja nun — fast 12 Milliarden Mark weniger ausgeben können, als er nach dem derzeitig geltenden Recht ausgeben müßte. Warum sage ich das? Ich zitiere gar nicht so gerne und hole mir die Zitate gar nicht gerne aus der Vergangenheit. Ich will nur auf den Unterschied hinweisen, Herr Kollege Katzer, der, wenn wir die soziale Wirklichkeit betrachten, zwischen heute und der Zeit besteht, in der Sie verantwortlich waren, in der Sie den Buckel dafür hinhalten mußten, daß Ihre Wirtschaftspolitik versagt hat. Das will ich sagen. Ich will in diesem Zusammenhang auch folgendes betonen, was Sie sicher auch nicht gerne hören, Herr Kollege Katzer.
— So? Sie wissen doch gar nicht, was ich sagen will.
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Dr. Nölling— Sie kennen das? Dann sagen Sie mir doch einmal, was ich jetzt sagen will.
— Ach, kommen Sie, vergessen wir den „Spiegel". Halten wir uns an Ihr Protokoll vom 2. Dezember 1971, als Sie hier standen und sinngemäß sagten: Die Preissteigerungen haben wir oft beklagt und bedauert, und jetzt sind auch noch die Arbeitsplätze in Gefahr.Sie sind doch der erste gewesen, der hier im Bundestag von der Seite der Opposition die Hysterie angestachelt hat, daß die Arbeitsplätze in Gefahr seien.
Sie haben selbst in dieser Debatte gesagt, Sie wollten keine Panikmache betreiben. Nun, das ist ungefähr dasselbe. Tatsächlich haben Sie sie aber betrieben.
— Die Situation bei den VW-Werken können wir nicht auf gesamtwirtschaftliche Ursachen zurückführen;
das kann man nicht.
Nun, meine Damen und Herren, eine Alternative dazu. Wie sieht es denn heute aus? Der Bundesbankbericht ist ja wiederholt zitiert worden. Ich will das gar nicht ausdehnen, aber die Bundesbank sagt im letzten Bericht über die Finanzlage der Sozialversicherungen, daß 1969 noch überall ein Defizit vorhanden war und heute überall Überschüsse vorhanden sind, und es heißt dort — ich zitiere —:Auch für das Jahr 1972 kann mit beträchtlichen Überschüssen der Sozialversicherungen gerechnet werden.Nun, meine Damen und Herren, das ist ein so ins Auge fallender, ein so fundamentaler Unterschied in der wirtschaftlichen und sozialen Situation dieses Landes, verglichen mit dem, was wir vor fünf, sechs Jahren hatten, daß ich dies einmal an dieser Stelle ausdrücklich betonen möchte. Ich möchte Ihnen auch folgendes sagen. Wenn man diese Bundesregierung wegen des Haushaltes kritisiert, wegen der wirtschaftlichen Entwicklung kann man sie nicht kritisieren. Was die Preisentwicklung angeht, Herr Kollege Katzer, so kann ich nur sagen: Wir haben vor zwei Jahren, im Jahre 1970, in England einen Wahlkampf gehabt, der im Zeichen von Preissteigerungen gestanden hat. Die konservative Opposition hatte versprochen, die Preissteigerungen herunterzubringen. Was ist aber geschehen? Nach dem Wahlsieg der Konservativen haben sich die Preissteigerungen verstärkt, und außerdem haben sich sehr hohe Arbeitslosenzahlen ergeben.
— Ich glaube, das wollen wir doch dem deutschen Volk nicht wünschen, Herr Kollege Härzschel. Was heißt ausprobieren? Ich lese heute morgen, und das ist doch sehr interessant, daß sich gestern der ausgewiesene und vorgesehene Wirtschaftsminister eines Schattenkabinetts Barzel hier in Bonn getummelt und zur großen Freude der Wirtschaftsjournalisten ihnen Rede und Antwort gestanden hat. Ich möchte gerne wissen, wie dieser Mann mit dieser komplizierten Volkswirtschaft, die wir in diesem Staat haben, fertig werden will. Aber das ist Ihr Geheimnis. Ich kann nur wünschen, was ich eben sagte, daß dieser Zustand nie eintreten möge, daß solche Leute für das Schicksal von 23 Millionen Arbeitnehmern und 10 Millionen Rentnern verantwortlich sind.
Denn diese Zusammenhänge sollten wir doch einmal sehr stark betonen. Es gibt ohne Arbeitsplatzsicherheit, ohne Wirtschaftswachstum und ohne Vollbeschäftigung keine vernünftige Sozialpolitik.
Das Wort hat der Abgeordnete Geldner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich an den Appell des Herrn Präsidenten halten. Es scheint mir aber notwendig zu sein, noch einen Punkt kurz anzusprechen, nämlich die Frage der Selbständigen. Der Kollege Katzer hat sie zwar in der heutigen Diskussion einmal kurz angesprochen; trotzdem möchte ich noch ein paar Worte dazu sagen.Im Grunde geht es heute, abgesehen von der grundsätzlichen Diskussion über den Sozialbericht, um die reguläre Anhebung der Bestandsrenten, was wir seit vierzehn Jahren praktizieren, und zwar nach Maßstäben, die bei der Rentenreform 1957 beschlossen worden sind.
Wenn diese Maßstäbe für die Anhebung der Kleinrenten, für die Altersversorgung und für zahlreiche andere Punkte heute als falsch angesehen werden, und zwar teils von der FDP, teils von der SPD und auch von seiten der CDU/CSU, sollten wir uns im Rahmen der Neuordnung des Rentensystems darüber unterhalten. Aus dem, was die Sprecher der Opposition gesagt haben, muß man eigentlich den Eindruck gewinnen, daß sie ihr eigenes Rentensystem aus dem Jahre 1957 als gescheitert betrachtet; anders sind die zahlreichen Änderungsanträge nicht zu verstehen.Ich fürchte, daß die heutige einseitige Debatte über die Anhebung zu einer unnötigen Verzögerung in anderen Bereichen führen wird. Zu den anderen Bereichen zählt besonders das vordringliche Anliegen einer Rentenversicherung für die Selbständigen. Die Selbständigen haben mit Sicherheit kein Verständnis dafür, wenn wegen der Diskussion über die Anhebung die für sie prinzipielle Frage, ob sie sich überhaupt versichern lassen können, weiter auf die
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Geldnerlange Bank geschoben wird. Unter den gegebenen Umständen sollten wir uns darauf einigen, daß nach einer Entscheidung über die 9,5%ige Anhebung ab 1. Januar 1973 die Verbesserung des Rentensystems, d. h. strukturelle Maßnahmen, den Vorrang in den Beratungen haben. Wenn sich die Oppositionsfraktion dann statt auf strukturelle Verbesserungen auf eine lineare Anhebung konzentrieren möchte, ist das ihre Angelegenheit.Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen. Die sozialliberale Koalition wird sich nicht weiter durch taktische Operationen der Opposition an ihrer Arbeit für innere Reformen hindern lassen, sondern wir werden speziell, und zwar auch, wie ich schon sagte, im Interesse der Selbständigen, die Sozialreform vorantreiben.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke. Für sie sind 30 Minuten Redezeit angemeldet worden.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wer die Tagesordnung heute aufgeschlagen hat, hätte eigentlich hoffen können, daß die Debatte über den Sozialbericht 1972 in diesem Hause ein anderes Niveau haben würde,
als wir es in den letzten Stunden erlebt haben.
Wenn die Rentner heute am Fernsehschirm das Schauspiel hätten erleben können, das vom Sprecher der Regierungsparteien vorgeführt worden ist, wären sie — dessen bin ich sicher — tief erschüttert,
weil sie aus all dem, was Sie, Herr Professor Schellenberg, und was Sie, Herr Minister, gesagt haben, nur eines herausgehört hätten, nämlich das „Nein" zur endlich fälligen Anhebung des Rentenniveaus in einer Zeit, in der die Rentner ganz allein die Last der so schweren wirtschaftlichen Lage und der Entwicklung der Preise — Sie brauchen darüber nicht zu lachen; Sie sollten sich schämen, wenn Sie das tun — tragen müssen.
— Lesen Sie nach, was ich bei der Rentenreform gesagt habe! Ich habe im Jahre 1957 das gesagt und getan, was heute der DGB erklärt.
Der DGB erklärt nämlich, daß man bei 75% Rente 25 % Beiträge zahlen muß. Das steht heute im DGB-Programm, und das haben die Freien Demokraten und die Deutsche Partei damals gemeinsam vertreten. Kein Wort davon nehme ich zurück. Ich habe damals gesagt: Wer die Dynamik in die Rentenreform einführt, darf nicht nur A, sondern muß auch B und C sagen; er muß das gleiche für die Kriegsopfer, für die Unfallversicherung und für alle übrigen tun.
— Eben nicht, sondern schon 1957, wie Sie im Protokoll nachlesen können! Aber ich will mich von Ihnen nicht provozieren lassen. Meine Freunde und ich haben in dieser Debatte ein sehr gutes Gewissen.Es ist ganz unbestritten, daß der Arbeitsminister in einem recht hat — und das sollten Sie einsehen —: Sozialberichterstattung muß natürlich ein Instrument sowohl eines Rückblicks sein, wie Herr Nölling gemeint hat, als auch einer vorausschauenden Sozialpolitik. Beides bleibt eine permanente Aufgabe.Trotzdem stellt sich für das Parlament und in ganz besonderer Weise natürlich für die Opposition die Pflicht, Schwerpunkte und Prioritäten zu setzen, wenn die Finanzen begrenzt sind und wir mit einer Regierung diskutieren müssen, die keinen Haushalt hat und anscheinend über das Patt und ihre eigene Situation hinwegdiskutieren möchte.
Diese Regierung hat „die Lage der alten Menschen" in vielen Reden immer in den Mittelpunkt gestellt. Hier aber muß sie beweisen, daß sie etwas zur Verbesserung der Lage der alten Menschen, der Lage der Rentner tut. Ich bedauere es, daß der Verteidigungsminister Schmidt nicht hier ist, der ja so gerne wissen wollte, wie wir über die Lage der Rentner denken.
Ich bedauere, daß ihn dies so wenig interessiert.
— Das sei eine Entschuldigung, Herr Wehner. Um so mehr wird es Ihnen vielleicht nützlich sein, an einiges erinnert zu werden.
— Vielen Dank.In den Vorlagen der Regierung sind Ihre Aussagen vor der Wahl, Ihr Versprechen im Wahlkampf, ist die Fülle Ihrer Aussagen nur im Ansatz und sehr lückenhaft enthalten. Es ist eine ungewöhnliche Lage, daß wir in diesem Hause immer hören müssen: Was wollt denn ihr? Ihr regiert, und ihr müßt sagen, was ihr wollt; wir sind die Opposition. Wenn wir regieren, wissen wir, was wir wollen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11237
Frau KalinkeAngesichts der sehr bitteren Bilanz, die Sie zu verantworten haben, sage ich es ganz ruhig und sachlich: Natürlich — darin stimme ich dem Arbeitsminister zu;
es wäre nur fairer gewesen, er hätte es ausdrücklich und deutlicher gesagt—haben wir vielen sozialpolitischen Gesetzen zugestimmt, weil sie ja nur die logische Folge der Gesetze waren, die wir in diesem Hause zwei Jahrzehnte lang beschlossen haben. Und natürlich haben wir vielen Entscheidungen zugestimmt, weil wir selbst den Anstoß dazu gegeben haben.
Und natürlich haben wir uns gefreut, daß Sie auch Anstöße der Opposition wie z. B. unser Drängen auf Vorsorgeuntersuchungen berücksichtigt haben, wenn sie sich diese dann auch Ihrerseits an den Hut stecken wollen. Wir sind ehrlich und freuen uns, daß Sie zugestimmt und manches eingesehen haben.
Vieles wäre natürlich nicht möglich gewesen, wenn diese Regierung nicht ein heiles Instrumentarium, nicht einen ordentlichen Haushalt, nicht Versicherungsträger, deren Finanzen geordnet waren, und funktionierende Selbstverwaltungsorgane übernommen hätte. Aber diese funktionierenden demokratischen Einrichtungen sind doch gewachsen in einem Lande, in dem die demokratische Ordnung unter der Führung der beiden christlich-demokratischen Parteien, der CDU und der CSU, stabil war und in dem es keine Debatte über die innere Sicherheit gab, wie wir sie heute leider führen müssen.
Diese Regierung wollte alles besser und anders als jede andere Regierung machen! Diese Regierung wollte große gesellschaftliche Reformen durchführen. Ich bin besonders durch die letzten Ausführungen daran erinnert worden, und ich mache gern einen Rückblick. Diese Regierung hat mit ihren Wahlversprechungen von 1969
die seriösen Aussagen der CDU übertroffen. Wir haben nichts versprochen, wovon wir meinten, daß es nicht auch realisierbar ist!
Sie haben allerdings mit schillernden Versprechungen Ihres Wirtschaftsministers Schiller und mit dem, was Sie den Rentnern, den alten Menschen, denjenigen, die Sie die Armsten der Armen nennen, mit dem, was Sie unseren Hausfrauen, was Sie jedermann in diesem Lande gesagt haben, eigentlich den Gipfel alles dessen überschritten, was ein seriöser Politiker im Wahlkampf tun darf.
Wenn Sie, verehrter Herr Kollege Nölling, auf die Vergeßlichkeit der Wähler spekulieren
oder meinen, daß wir das täten, so möchte ich Sie, Ihre Wähler und alle übrigen Bürger an das erinnern, was Sie gesagt haben.
Die Kosteninflation in allen Bereichen, die wir heute erleben und an der gerade die Rentner und ihre Familien am härtesten tragen,
diese Kosteninflation wird nur von einem übertroffen, nämlich von der Inflation der Wahlversprechen, die Sie gegenüber den Rentnern und den Hausfrauen abgegeben haben, und von dem, was an weiteren inflationären Versprechungen nach dem, was' man heute gehört hat, zu erwarten sein wird!
Deshalb möchte ich hier nur einen kleinen Blick auf das werfen, was gestern war, vor allem für die jungen Kollegen der SPD, die das vielleicht gar nicht mehr in ihrem Archiv haben. Diesen kleinen Rückblick möchte ich damit einleiten, daß Sie heute von dem „blauen Himmel" sprachen und von den Kollegen aus meiner Fraktion, die ihn angeblich versprochen hätten, obwohl sie ihnen mit nüchternen Zahlen bewiesen haben, um was es ging. Diesen „blauen Himmel" versprachen Sie mit Ihrem schönen Flugblatt: „Hier haben Sie die beste Zukunft, die Sie wählen können."
Alle Bürger, alle Rentner, alle Frauen müssen wissen, was Sozialdemokraten versprechen, was sie halten können und was sie wirklich gehalten haben. „Rührend schöne Herzgeschichten", würde Wilhelm Busch sagen, „weiß der Dichter zu berichten." Hier war es das junge Ehepaar, das sich Sorgen machte, das sie aber nicht mehr zu haben brauchte; „denn wenn die SPD gewählt wird, wird es nur noch glückliche junge Ehepaare geben". So sagten Sie damals.
„Sie werden billige Darlehen haben; sie werden nun die Möglichkeit haben, billige Wohnungen zu bekommen." Sie kennen sicher Ihr eigenes Flugblatt, und ich kann nur fragen:
Wo ist das Geld für die jungen Familien? Wo sind die Sparleistungen geblieben, die junge Menschen, die heiraten wollen, oder die Rentner unter Konsumverzicht erbracht haben?, sei es mit ihrem Bausparvertrag oder sei es gar das kleine Sparkonto der Rentner. Was können sie heute dafür kaufen? Wann werden sie jemals die Wohnung oder das Häuschen bekommen, für das sie gespart haben? Die Kosten des Wohnungsbaus als Folge der Inflation und der Instabilitätspolitik dieser
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11238 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Frau KalinkeRegierung müssen die Rentner, die kleinen Sparer und auch die jungen Menschen tragen, denen Sie „das Glück des Lebens" und alles dazu, bis zum Urlaub im Ausland, versprochen haben, „wenn sie nur die SPD wählen".
— Das haben Sie wohl noch nie gehört? 23 Milliarden DM Verluste der Sparer! Die Bausparer sind auch dabei!Und was Sie uns heute wieder von der Krankenhausreform erzählt haben, — meine Zeit reicht dazu nicht aus. Aber die Kollegen von der SPD wissen genauso gut wie ich und wie wir alle, daß das Finanzierungsproblem der Krankenhäuser höchst unvollkommen gelöst ist und daß es jetzt die Beitragszahler, die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherungen
und die Benutzer der Krankenhäuser sind, auf deren Rücken das abgewälzt wird und die das zu bezahlen haben. Aber von den steigenden Kosten sozialer Leistungen sprach auch der Herr Arbeitsminister nicht. Ich werde versuchen, das nachzuholen. „Mit der SPD" — so sagten Sie in dem Flugblatt, das wirklich das unseriöseste ist, das ich jemals gesehen habe — „werden Sie in Zukunft mehr Wirtschaftsgeld haben".
Das versprachen Sie den Hausfrauen! Was Sie für das Wirtschaftsgeld heute — gegenüber 1969 — kaufen kann, sagt Ihnen jede Hausfrau auf der Straße. Und was alte Rentner entbehren müssen, können Sie auch in jedem Altenwohnheim und Altersheim erfragen.Meine Damen und Herren, einen solchen Quatsch habe ich noch nicht gesehen — Sie können es sich selber anschauen —:Wirtschaftsminister Professor Schiller von der SPD sorgt nicht nur für höhere Einkommen, sondern auch für die Kaufkraft unserer Mark. Er wird dafür sorgen, daß Sie mehr Wirtschaftsgeld haben und daß Sie vieles billiger kaufen können.
Und dann ist das alles aufgezählt.
Frau Kollegin, — —
Nein, ich habe keine Zeit zu verschenken. Es tut mir sehr leid, ich muß mich sonst noch einmal zu Wort melden.
Aber lernen wir aus Ihren eigenen Flugblättern. Dieses Flugblatt schließt dann — na, ich will es herunterschlucken, was ich dazu sagen wollte —
mit der seltsamen Aufforderung an unsere Hausfrauen:Wenn Sie also in Zukunft zu mehr Wirtschaftsgeld kommen wollen, dann brauchen Sie nicht unbedingt Ihren Mann dazu, wenden Sie sich an Professor Schiller.
Mit der SPD steht es aber sehr traurig, denn die Illusionen, die mit dieser Politik bei Hausfrauen und politisch nicht erfahrenen Menschen erzeugt worden sind, müssen zu sozialen Enttäuschungen führen. Sie werden von nichts übertroffen, es sei denn von der heutigen Rede des Herrn Schellenberg.
Mit der SPD soll es in Zukunft ja nicht nur bessere Schulen, sondern auch klügere Köpfe geben, die aus diesen Schulen kommen.
Welche Köpfe aus den Schulen und Universitäten kommen, wo sozialistische Organisationen heute den Ton bestimmen, das sollte uns alle gemeinsam nicht schlafen lassen, weil das für alle Demokraten die größte Sorge über mißglückte SPD-Programme ist.
Und wieviel weniger Schulen für wieviel mehr Geld gebaut werden konnten, wissen Sie hoffenlich endlich auch, nachdem über diese Dinge nun nicht mehr hinwegzureden ist.Sie versprachen des weiteren: „Mit der SPD wird es leichter sein, zu Vermögen zu kommen. Mit der SPD wird es immer preiswertere Wohnungen geben." Ich darf hier nur drei Zahlen nennen. Die Frauen, die billige Wohnungen für ihre Familien haben sollen, die Rentner, die billige Altenwohnungen haben möchten, die Rentner, die in den Altersheimen heute ihre ganze Rente abgenommen bekommen und kaum eine Mark übrigen haben, sie alle kennen die Preise, die eine Folge Ihrer Wohnungspolitik sind.
Sie werden sich damit befassen müssen, meine Herren Kollegen von der SPD! Die Inflation brachte bei Mieten und Wohnungen 1970 ein Plus von 15,9, 1971 von 10,4, 1972 geschätzt von 11 Prozent Mehrkosten. Seitdem die SPD regiert, wird sie 35 % Mehrkosten bei Mieten und beim Wohnungsbau in ihre Rechnung setzen müssen.
Das ist die Bilanz, auf die Sie so stolz sind.Lassen Sie mich nun mit einem Griff mitten hinein in Ihr Programm auch noch dies aus Ihrem Flugblatt vorlesen: „Mit der SPD werden in Zukunft alle Hausfrauen eine bessere Alterssicherung bekommen." — Heute erhalten sie natürlich keine eigene Altersrente: „Mit der SPD werden die Frauen einen Zuschlag zu ihrer Rente bekommen", das berühmte
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972 11239
Frau KalinkeBaby-Geld. — Die Frauen, denen dies alles geboten werden soll, wissen bis zur Stunde nicht, wie hoch der Preis dieser Hausfrauenrente sein wird. Sie wissen bis zur Stunde auch nicht, daß sie für das Baby-Jahr im Höchstfalle 8 bis 10 DM pro Jahr Zuschlag zur Rente bekommen sollen. Und da Sie mich gefragt haben, Herr Kollege Nölling, sage ich Ihnen: ich hätte sehr viel mehr Freude daran, wenn ich diese Rede nicht zu halten hätte, sondern mit Ihnen über die Frage diskutieren könnte, was Sie unter konservativer Wirtschaftspolitik verstehen, und Ihnen an Zahlen beweisen könnte, was sie zustande bringt. Wir haben in der sozialen Marktwirtschaft, die wir unverfälscht und rein in diesem Hause in einer konservativen Grundhaltung vertreten — darunter verstehen wir, das Gute und Solide zu bewahren und dem Fortschritt verantwortungsbewußt aufgeschlossen zu sein —, eine fortschrittliche, solide Sozialpolitik betrieben,
auf deren Grundlage Sie überhaupt heute erst Ihre Änderungsanträge stellen oder Ihre Ideen fortentwickeln können.Diese in zwei Jahrzehnten bewährte solide Finanz- und Sozialpolitik ist auch die Grundlage für den Bericht aller Leistungen im Sozialbericht 1971 und 1972. Zu solchen Ausführungen wie zu dem Kolossalgemälde des Kollegen Schmidt von der FDP, der nicht im Saal ist, brauche ich nicht Stellung zu nehmen. Ich wollte nur sagen: wenn der Kollege Schmidt sich im Herbst beim DGB, wenn dieser wieder 75 % als Durchschnittsrente für jeden Arbeitnehmer fordern wird, als DGB-Mann genauso gegen die 75 % ausspricht, wie er sich heute gegen die Erhöhung des Rentenniveaus auf 50% gewandt hat, dann, meine ich, wird die Stunde gekommen sein, in der wir einmal sehr sachlich über das Gefälle zwischen den Rentenansprüchen der verschiedenen Versicherten werden reden müssen. Ich halte es nämlich für eine sehr ernste und sehr berechtigte Diskussion, die jetzt darüber auch im DGB geführt wird. Über dieses Gefälle zwischen den Renten und der Versorgung im öffentlichen Dienst und bei einem Teil der Menschen in unserem Land und dem Einkommen der Rentner, die nur von einer Rente leben müssen, ohne Zusatzversorgung und ohne die Möglichkeit des Kumulierens von Einkommen, müssen die Sozialpolitiker zumindest der beiden großen Parteien, in denen viele sind, die etwas davon verstehen, nachdenken und ehrlich miteinander reden.Was ich für meine Fraktion heute eigentlich hier vorbringen wollte und woran Sie mich durch Ihre Ausführungen zeitlich gehindert haben, das ist die große Frage, die uns Christliche Demokraten bewegt: daß nämlich der alte Mensch auch als freie Persönlichkeit für uns jemand ist, den wir als Leitbild in der Sozialpolitik immer noch an erster Stelle sehen. Wir haben uns nicht nur bei der Sachverständigenanhörung unserer Fraktion mit den Problemen der alten Menschen beschäftigt. Wir haben festgestellt, daß alle, die Mediziner, die Psychologen, die Sozialwissenschaftler, darin einig sind, daß dieses Problem der älteren Menschen nicht allein mit flexiblen Altersgrenzen oder mit einer vorgezogenen Altersgrenze gelöst werden kann. Denn die vorgezogene Altersgrenze haben wir schon für Frauen mit 60 Jahren, und wir haben sie im Gesetz seit 1957 wie das vorgezogene Ruhegeld für die Erwerbslosen; die älteren Angestellten müssen heute schon wieder davon Gebrauch machen.So wichtig diese vorgezogene Altersgrenze für die berufstätigen Frauen ist, so bedeutungsvoll ist auch gleichzeitig die Möglichkeit sinnvoller Arbeit für die Lebenssituation und für die Lebenserwartung des älteren Menschen. Deshalb darf kein Politiker übersehen, daß drei Viertel der Arbeitenden nach ihrer Versetzung in den Ruhestand den Wunsch äußern, wieder einen Beruf auszuüben. Wir haben der flexiblen Altersgrenze hier im Bundestag nie eine Absage erteilt. Wir haben nur immer gesagt, daß unter den Reformproblemen die Anhebung des Rentenniveaus Vorrang hat. Wir sagen auch heute, daß kein Weg daran vorbeigeht, daß Menschen mit kleinem Einkommen und geringen Rentenanspruch diese freie Entscheidung für den frühzeitigen Rentenbeginn immer erst dann treffen können, wenn sie einen ausreichenden Rentenanspruch geltend machen können.Leider hat die Bundesregierung in ihren Ansatzpunkten z. B. diese Frage der Beschäftigung der älteren Rentner und derjenigen, die mit vorgezogenem Altersruhegeld noch weiterarbeiten möchten, noch nicht vollkommen gelöst. Wir hoffen, daß wir das gemeinsam verbessern können und daß es uns gelingt, Lösungen zu finden, die dem wirklichen Bedarf der älteren Menschen, ihrer wirklichen Lebenssituation entsprechen. Ich bin z. B. ganz sicher, daß wir in Einzelfragen da gar nicht weit voneinander entfernt sein werden, wenn wir in der — so hoffe ich — sachlicheren Atmosphäre des Ausschusses die Frage behandeln werden, ob und wieviel jemand zusätzlich verdienen darf, wenn wir uns über die Frage unterhalten, wie bei Anpassung der Renten zu einem früheren Termin die Lage wirklich sein wird.Eine westdeutsche Zeitung hat in diesen Tagen geschrieben: „Bei dem Streit der Zahlenakrobaten darf es nicht bleiben." Dem möchte ich zustimmen. Wir sollten also nicht um Zahlen streiten. Die können sich schon morgen verändern. Der Arbeitsminister hat diese Erfahrung leidvoll machen müssen. Sein Vorgänger hat sie mehrmals gemacht.Wir sollten aber nicht so tun — und darum bitte ich wirklich alle ernsthaften Kollegen in der SPD-Fraktion —, als sei die jetzige finanzielle Lage der Rentenversicherung das Ergebnis einer besonders erfolgreichen Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung. Sie ist doch die Folge der Tatsache, daß wir nicht nur Voll-, sondern Überbeschäftigung haben, daß wir Millionen Gastarbeiter haben, die junge Leute sind, Beiträge zahlen und gottlob vorläufig noch keine Rentenansprüche stellen, und daß wir eine Lohninflation gehabt haben, die sich natürlich in erheblichen Beitragserhöhungen ausdrückt. Zu diesem Problem der wirklichen sachlichen Gründe sollten wir in anderer Form Stellung nehmen, als das hier geschehen ist. Es ist doch so, daß die Finanzen der Rentenversicherung nüchtern und
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11240 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
Frau Kalinkesachlich auch im Zusammenhang mit unserer Konjunktur gesehen werden müssen und daß jede Konjunkturschwankung, jede Veränderung sofort ihre Auswirkung haben muß und wird. Wir wissen außerdem aus besonderer leidvoller Erfahrung, welche Wirkungen das auf dem Arbeitsmarkt für die älteren Frauen und Rentnerehepaare hat und haben wird. Der Arbeitsmarkt braucht diese älteren Menschen. Er braucht auch ihre Beiträge und ihre Steuern. Die hohe Quote erwerbstätiger verheirateter Frauen zeigt ganz deutlich, was das nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch für die Familien bedeutet! Wir Sozialpolitiker wissen natürlich, daß es auch auf die Gesundheitspolitik eine eminente Auswirkung hat. Angesichts der Tatsache, daß heute jede dritte verheiratete Frau berufstätig ist, daß sich die Teilzeitarbeit bei den Arbeiterinnen weitgehend erhöht hat, daß die Teilzeitarbeit sich bei den weiblichen Angestellten verdoppelt hat, daß die Teilzeitarbeit bei den beschäftigten Frauen überhaupt eine solche Rolle spielt, hätte sich, so meine ich, die Regierung, die ja so viel für die Frauen tun will, diesen Problemen in sehr viel differenzierterer Weise zuwenden sollen und müssen.Die Frage der Versorgung der Witwen und der geschiedenen Frauen ist auch nicht nur ein Problem der Reform des Scheidungsrechts. Gerade die Debatte heute vormittag mit dem Justizminister hat das sehr deutlich gemacht. Auch die Erklärungen, die heute von der Eherechts-Kommission abgegeben worden sind und auf die Frau Dr. Diemer-Nicolaus am Vormittag in der Debatte abgehoben hat, zeigen ganz deutlich, was die Angelegenheit für die Ehegatten kostet und wohin die Reise gehen wird!Wir bedauern, daß die Regierung sich in ihrem Bericht erst durch das unentwegte Bohren der Opposition mit der Tatsache beschäftigt, daß das niedrige Rentenniveau auch ganz besonders die Frauenrenten betrifft. 15 Jahre nach der Rentenreform ist es sehr deutlich, wie sich das Absinken der Ruhegelder gerade bei den berufstätigen Frauen, bei den weiblichen Versicherten darstellt. Das Altersruhegeld der 60jährigen zeigt das in besonderer Weise. Hier ist die persönliche Bemessungsgrundlage, wie wir alle wissen, von 1958 bis 1970 um rund 20% zurückgegangen. Niemand von uns wird sagen, daß das die Schuld dieser Regierung ist. Wir werden es nicht so primitiv ausdrücken. Aber wir dürfen die Folgen dieser Entwicklung nicht übersehen und müssen uns damit genauso ernst beschäftigen wie mit den Voraussetzungen und Folgen der Öffnung der Rentenversicherung für Hausfrauen.Darum fordere ich Sie auf: Führen Sie diese Debatte seriös! Erwecken Sie doch nicht dauernd illusionäre Hoffnungen, ohne zu sagen, welche Zeche man zu zahlen hat. — Sie werden sonst wesentliche soziale Enttäuschungen heraufbeschwören.
Ich fordere Sie in Ihrem eigenen Interesse auf: Sagen Sie ehrlich, was Ehemänner in Zukunft für die Sicherheit ihrer Frauen bezahlen müssen und was die Pflichtversicherung, die die Eherechtskommission vorgeschlagen hat, kosten wird. Sie können heutein der Presse nachlesen, daß dafür die heute gültigen Beitragssätze — demnächst 18 % — ausgehend von 30% des Einkommens des Mannes, zu entrichten sein sollen.Meine Herren und Damen, ich bedauere außerordentlich, daß die so wichtige Frage des Rentenniveaus heute in einer Atmosphäre diskutiert worden ist, die nicht nur die Rentner erschrecken und betrüben, sondern uns alle außerordentlich besorgt machen muß. Wir haben 1957 gesehen — ich habe es jedenfalls erlebt, und Sie sollten es in den Protokollen nachlesen —, daß man nicht 75 % des Nettoeinkommens oder des Bruttoeinkommens als Rente zahlen oder versprechen kann, ohne daß dafür entsprechende Beiträge aufgebracht werden müssen. Ich sehe es als einen Fortschritt in der Diskussion an, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund das heute einsieht und es auch in aller Offenheit publiziert.Es ist eine schlechte Sache, daß Nebenbeschäftigungen und Nebenverdienste für Rentner heute in vielen Fällen geradezu eine dringende Notwendigkeit sind, weil die Renten so gering sind, daß der alte Rentner und seine Frau eine Nebenbeschäftigung suchen müssen, um bei den gestiegenen Preisen die Dinge meistern zu können ohne zum Sozialamt gehen zu müssen. Ihr Nein zu unseren Vorschlägen ist ein Nein zur sozialen Gerechtigkeit gegenüber den Ärmsten der Armen! Mein Kollege Katzer hat gesagt — wir mögen es beklagen oder nicht —, welche Vorurteile auf diesem Gebiet bestehen.Ich meine, Herr Kollege Rohde, Sie, der Sie so oft in Rentner- und Kriegsopferversammlungen sprechen und es sehr oft verstehen, dort mitten in die Wunden hineinzufassen, sollten dies alles sehr viel ernster sehen. Es gibt keine politische Partei — die Ihre, die SPD, schon gar nicht und auch die beste Regierungskoalition mit dem besten Finanzminister nicht , die bei niedrigen Beiträgen höhere Renten und bei geringeren Beiträgen oder geringeren Steuern höhere Sozialleistungen für alle und das möglichst noch zu gleicher Zeit versprechen kann.Darum betonen wir: Solidität und Stabilität sind unerläßlich. Bei allen Reformvorschlägen ist es eben auch unerläßlich, daß wir uns klarmachen, was unter den Möglichkeiten eines begrenzten Haushalts Vorrang hat. Darüber sollten wir uns, wenn das in der gegebenen kurzen Zeit noch möglich ist, die diesem Parlament bleibt, verständigen. Wer aber diese Zeit nun wirklich nutzen will — es handelt sich ja wohl nur noch um zwei oder drei Ausschußtage, die wir vor der Sommerpause haben werden — —
Frau Kollegin, wenn wir rechtzeitig fertig werden, ist das auch für morgen wertvoll.
Ich bin mir der Lage bewußt. Aber ich muß mir vorbehalten, zu antworten, je nachdem, was geschieht.
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Frau KalinkeIch will an dieser Stelle nur sagen — ich behalte mir alle weiteren Stellungnahmen vor —: Das, was Sie hier so ablehnen, ist vom Sachverständigenrat bei der Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung als Ausgleich für den starken Kaufkraftverlust der D-Mark und vor allen Dingen für das Absinken der Renteneinkommen genauso empfohlen worden wie von Ihren Freunden, ich glaube, sogar von Genossen in der Partei, die an wichtigen Hebeln der Kredit- und Bankpolitik sitzen, angeraten worden, nämlich die Rentenanpassung vorzuziehen.Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie uns einig sein in der kurzen Zeit, die dieser Regierung bleibt, in diesem Hause noch etwas zu beschließen, wofür Solidität unerläßlich ist. Lassen Sie uns einig sein, daß mit Solidität und gutem Willen zunächst denen zu helfen ist, die es am nötigsten haben. Die Probleme der Rentenanpassung und des Rentenniveaus müssen Vorrang behalten! Wenn uns dies trotz aller Gegensätze und aller Schatten die der Wahlkampf schon so tief wirft, gelingt, werden wir auch im nächsten Teil der Rentenreform, Erfolg haben.Diese beiden großen Parteien werden aus der Verantwortung nicht entlassen. Unsere ChristlichDemokratische Union und die Christlich-Soziale Union stellen sich dieser Verantwortung und werden das tun, was sozial gerecht ist und deshalb Vorrang hat, sie werden das tun, was finanziell möglich ist und deshalb auch auf Dauer finanziert werden kann, und das empfehlen, was volkswirtschaftlich tragbar ist und auch von den Beitragszahlern geleistet werden kann.Leider hat der Herr Arbeitsminister wohl von den Leistungen, nicht aber von den Belastungen gesprochen. Das Argument der Kosten, der Belastung der Versicherten und ihrer Arbeitgeber ist hier so schön unter den Tisch gewischt worden. Und doch, meine ich, muß auch darüber gesprochen werden, daß nach der Prognose des Sozialbudgets der Bundesregierung eine Höchstbelastung für die Arbeitnehmer von 780 DM schon erreicht ist und daß in der Zeit, in der Sie Verantwortung tragen, diese Höchstbelastung für die Arbeitnehmer durch Beiträge um 47 % gestiegen ist. Laut Sozialbericht 1971 betrug der Sozialversicherungsbeitrag im Jahre 1968 noch 26,35 %, 1969 schon 24,9%. Im Jahre 1971 rechnete der Sozialbericht mit 28,9% vom Bruttoentgelt. Schon jetzt beträgt der Angestelltenversicherungsbeitrag in der höchsten Klasse 357 DM monatlich. Es ist ganz verständlich: Wer immer mehr Personenkreise in die Versicherungspflicht einbezieht, wer eine höhere Beitragsbemessungsgrenze festsetzt und höhere Leistungen verspricht, muß den Arbeitnehmern ehrlich sagen, was sie dafür bezahlen müssen. Wir haben das immer getan und werden dieser Frage auch in Zukunft nicht ausweichen.Deshalb sollten wir, so meine ich, Herr Minister, auch die großen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur dann rühmen, wenn die Arbeitgeber 'die Arbeitgeberanteile bezahlen oder die leitenden Angestellten und Selbständigen in die Solidarhaftung einbezogen werden. Sie sollten endlich deutlich sagen, wer für wen zahlt.
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu Ende kämen.
Künftig sollten nicht die Armen für die Wohlhabenden bezahlen. Sie sollten die große Frage der Solidarhaftung ansprechen. Und wenn Sie die Reform der Krankenversicherung fortentwickeln — ich hoffe, daß wir das gemeinsam tun werden —, sollten Sie das Problem der Krankenversicherung der Rentner lösen, und Sie sollten auch sagen, ob es in Ordnung ist, daß ein Student mit seiner Familie für 11 oder 13 DM versichert ist, eine Kriegerwitwe oder eine alleinstehende weiterversichterte Frau aber 120 oder gar 200 DM bezahlen soll. Das halten wir für nicht in Ordnung!
Frau Kollegin Kalinke, ich bitte Sie erneut, zu Ende zu kommen.
Herr Präsident, ich beuge mich der Uhr, der Zeit und der Geschäftsordnung; aber ich behalte mir vor, mich erneut zu Wort zu melden.
Sie beugen sich der Geschäftsordnung, die wir alle zu tragen haben.
Meine Damen und Herren, die folgenden Kollegen haben freundlicherweise zugesagt, durch kurze und prägnante Beiträge die morgige Ausschußarbeit zu erleichtern. Das Wort hat nunmehr der Herr Abgeordnete Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Und, nicht zuletzt, verehrte Frau Kalinke! Es ist natürlich immer ein leichtes, seine Argumente in einem solchen Brustton der Überzeugung eine recht lange Zeit vorzutragen, so daß den Nachfolgenden dann eben nur noch eine kurze Spanne Zeit bleibt. Das gilt auch für eine ganze Reihe von Reden, die sonst heute gehalten worden sind. Aber ich kann heute mit der Frau Kollegin Kalinke übereinstimmen — das freut mich ganz besonders —, allerdings nur im Hinblick auf das Argument, das Fernsehen hätte eingeschaltet werden sollen. Das hätte tatsächlich geschehen sollen; denn wer in der letzten Viertelstunde oder in den letzten 20 Minuten diesen Auftritt miterlebt hätte, hätte, meine Damen und Herren, die ganze Scheinheiligkeit der Argumentation seitens der Opposition miterlebt
und wäre Zeuge dafür gewesen, daß das, was Sie hier vortragen, doch mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.Ich will nicht bestreiten, daß auch die Opposition heute schon einige gute Gedanken vorgetragen hat und daß sie zuweilen auch sonst einige hat. Ihr Fehler, meine sehr verehrten Damen und Herren und
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11242 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 191. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Juni 1972
GeigerHerr Kollege Katzer, ist nur der, daß Sie die erst heute haben und nicht zu der Zeit hatten, als Sie eine absolute Mehrheit hatten und Sie als Arbeitsminister die Verantwortung für die Sozialpolitik zu tragen hatten. Das ist doch der wesentliche Unterschied! Es ist doch sehr leicht, heute zu kritisieren — und es geht immer um Maßnahmen, die in der Zeit, in der Sie die Verantwortung zu tragen hatten, festgelegt worden sind —, ohne positiv auf das Material einzugehen, das in diesem Sozialbericht 1972 niedergelegt worden ist.Es ist, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nur unerträglich, sondern verstößt vor allem auch gegen die Wahrheit, wenn die Opposition immer wieder — wie ich meine, sogar wider besseres Wissen — behauptet, die Regierung Brandt/Scheel habe für die sozial- und gesellschaftspolitischen Reformen nichts getan. Das Gegenteil ist richtig! Es gab bisher noch keine Regierung — die Debatte hat das erneut bewiesen —, die in so verhältnismäßig kurzer Zeit so viele Reformen auf sozial- und gesellschaftspolitischem Gebiet eingeleitet und vollendet hat. Das will ich mit aller Deutlichkeit sagen, und das gilt in einem besonderen Maße für die Krankenversicherung. Ich kann nicht verstehen, wie der Kollege Krampe zu seiner gegensätzlichen Behauptung kommt. Ist es denn keine Reform, wenn heute auch die Angestellten das Recht auf den Arbeitgeberbeitrag haben? Ist es denn keine Reform der sozialen Krankenversicherung, meine sehr verehrten Herren Kollegen, wenn auf der anderen Seite die gesamte Landwirtschaft einbezogen wird, ein Berufsstand, der bisher im Falle der Krankheit überhaupt keine soziale Sicherheit hatte?
Und, Frau Kollegin Kalinke, was soll denn immer wieder dieses Geschwätz — entschuldigen Sie, wenn ich es ganz deutlich sage —, das von der Opposition immer wieder über die Krankenhausfinanzierung kommt? 15 Jahre lang wurde in diesem Hause über ein Krankenhausfinanzierungsgesetz diskutiert, und nichts ist geschaffen worden. Diese Regierung hat ein Gesetz zustande gebracht und gibt 900 Millionen DM für die Krankenhauserrichtung und für die Tragung der Kosten. Ist denn das nichts, und können Sie das denn nicht anerkennen?
Herr Kollege Katzer, Sie haben eine so nette, fast rührselige Geschichte von den armen Rentnern erzählt. Sie haben in der Sache recht, wenn Sie sagen, was für eine schöne Sache es wäre, wenn diese Rentner nicht nur als Gäste, sondern auch als Gastgeber bei ihren Kindern erscheinen könnten. Im Grunde genommen haben Sie recht. Aber was hat es denn den Kindern geholfen, als dieser Rentner als Gast kam, und der Sohn war vielleicht arbeitslos, der Sohn und die Tochter mußten Angst haben um den Verlust des Arbeitsplatzes? Sie selber wissen doch, daß wir 1966 eine Million arbeitslose Menschen gehabt haben und daß die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und damit auch eine ungeheure Unfreiheit unter den Menschen umgegangen ist.Tun Sie doch nicht so, als ob Sie allein die geistige und freiheitliche Entfaltung des einzelnen Menschen wollten! Frau Kollegin Kalinke, ich will mich mit Ihnen über das Flugblatt nicht auseinandersetzen, nach dem alle Frauen zu Herrn Schiller kommen sollen. Ich würde das sehr differenziert betrachten.
Aber ich bin dafür nicht verantwortlich und will deswegen dazu nicht Besonderes sagen. Aber das, was wir versprochen haben, hat diese Regierung auch erfüllt, und sogar minuziös. Das gilt für die Reform der Rentenversicherung und ebenso für die Reform der Krankenversicherung.
Natürlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann niemand bestreiten, daß wir einen Preisauftrieb haben.
Niemand kann bestreiten, daß wir eine Preissteigerung haben. Der Herr Kollege Wehner hat Ihnen letztens schon gesagt, daß Sie so weltfremd tun, als ob wir hier auf einer Insel lebten und nicht inmitten der gesamten internationalen Preisentwicklung, von der auch unsere Wirtschaft betroffen ist.
Warum sage ich das? Ich sage es, weil trotz des nicht gewährten Arbeitnehmerfreibetrages und trotz der Preissteigerung
das Realeinkommen der Menschen noch nie so groß war wie in den letzten zwei Jahren. Das sollten Sie doch endlich auch einmal zur Kenntnis nehmen! Das ist doch eine Realität, und
das trifft nicht nur für in Arbeit Stehende zu, sondern auch für die Rentner, denen wir in einigem auch bessere Lebensvoraussetzungen geschaffen haben. Wir haben das Mietgeld erhöht, wir haben die Mietgrenzen für den Bezug von Mietgeld erhöht und eine ganze Reihe weiterer Dinge getan.Ich komme zum Ende und will noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Dieser Sozialbericht 1972 und die darin festgelegten Ergebnisse sind stolze Leistungen dieser Regierung. Wir können dieses Ergebnis mit Ruhe der deutschen Öffentlichkeit und auch den deutschen Arbeitnehmern vorlegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Trotz der Ankündigung von Frau Kalinke, daß sie sich alles vorbehalte, möchte ich versuchen, mich an die verein-
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Spitzmüllerbarte Zeit von 10 Minuten statt 30 Minuten, die ich angemeldet hatte, zu halten, obwohl es außerordentlich schwerfällt, wenn jemand hier wie Frau Kalinke Kritik anbringt und dann selbst eine Rede hält, die ich als Flugblatt-Rede bezeichnen muß.
— Sicherlich, Frau Kollegin Kalinke, hat das nicht ganz zu der Kritik gepaßt, die Sie an den vorangegangenen Rednerbeiträgen geübt haben; denn auch an Ihrer Rede kann man Kritik anmelden, wenn man von Seriosität sprechen will.
Frau Kollegin Kalinke, was mich an Ihrem Beitrag außerordentlich erfreut hat, war die Tatsache, daß Sie sich auf einen Punkt konzentriert haben, während die Opposition dies heute nicht getan hat. Vielmehr hat Herr Katzer hier eine neue Idee der CDU zur flexiblen Altersgrenze vorgetragen, die neben der Vorziehung des Rentenniveaus ja auch Geld kosten würde. All dies steht in einem Zusammenhang, aber auch in einem sich beißenden Widerspruch zu dem, was wir aus Wirtschafts-, Steuer- und Finanzkreisen der CDU hören, die sagen: Mit den beschränkten Haushaltsmitteln können wir vieles nicht leisten. Da stimme ich Ihnen zu, Frau Kollegin Kalinke.Was ist unter den begrenzten Möglichkeiten dieses Haushaltes noch möglich, und was hat hier Vorrang? Hier haben wir eben eine andere Vorstellung von dem, was Vorrang hat, als Sie. Wir sind der Meinung, daß das 15. Rentenanpassungsgesetz so verabschiedet werden sollte, wie es vorgelegt worden ist und wie es bei 14 Vorgängern geschehen ist: es sollte möglichst schnell und zügig beraten werden, damit diese 9,5% für die Rentner auf jeden Fall am 1. Januar 1973 zur Verfügung stehen. Ob darüber hinaus bei den Wechselbeziehungen zur Knappschaft, zur Kriegsopferversorgung, zu eventuellen Lastenausgleichszahlungen und Kriegsschadenrenten sowie womöglich noch anderen Rentenleistungen etwas getan werden kann und was, bedarf einiger Zeit der Beratung.Die vier Drucksachen, die uns vorliegen, erinnern mich bei der Stellungnahme des Bundesrates, der Entschließung zur Rentenanhebung, an eine Situation, als Herr Kiesinger hier als Bundeskanzler seine erste Regierungserklärung abgegeben hat. Da hat er diesem Haus und ebenfalls auf seinen Vorgänger einer Philippika gehalten und gesagt: Dieses Haus hat viel zuviel Geld ausgegeben. Ich habe ihm dann erwidert: Sie haben nicht das Recht, mit diesem Haus und Ihrem Vorgänger so umzugehen; denn im sozialpolitischen Bereich ist aus dem Bundesrat noch jede Vorlage mit mehr Ausgabewünschen versehen an dieses Haus gelangt. So ist es auch wieder hier bei diesem 15. Rentenanpassungsgesetz. Jener Bundesrat hat eine CDU-Mehrheit, die draußen im Land überall verkündet, diese Regierung gebe zuviel Geld aus; hier aberschlägt sie vor, die Rentenanpassung vorzuziehen,ohne eine Lösung für die Knappschaft aufzuzeigen.
Herr Katzer hat dankenswerterweise gesagt, daß die Angestellten das nach ihrer Meinung bezahlen könnten.
Ich muß mich ganz kurz fassen; denn ich pflege Vereinbarungen einzuhalten.Wenn Sie in Ihren Entwurf auf Drucksache VI/3325 ausführen, daß hier Geld zurückgehalten werde, das den Rentnern zustehe, muß ich Ihnen sagen: dieser Argumentation kann ich nicht beipflichten; denn sie ist total falsch. Da der Beitragssatz in der Rentenformel nicht enthalten ist, wird jeder Rentner so behandelt, als hätte er von dem maßgebenden Einkommen 17 % und nicht die wesentlich niedrigeren Beitragssätze bezahlt, die in der Mehrheit der Fälle auf die Dauer der Beitragsleistungen von den heutigen Rentnern entrichtet worden sind. Bis 1957 waren es, glaube ich, 10 oder 11 %, dann wurden es 14, 15, 16, 17 und demnächst werden es 18 %.
— Ab 1. Januar 1973.
Wir haben alle drei zusammen die 18 % beschlossen. Doch lenken wir nicht ab! 18 % bedeuten ab nächstem Jahr in der höchsten Beitragsklasse, daß dieser Arbeitnehmer 1000 DM mehr bezahlt als wenn der Beitragssatz bei 14 % geblieben wäre, ohne daß er für diese höhere Summe einen höheren Rentenanspruch erhalten würde.
So sind doch die Dinge, und daher müssen wir diese Überschüsse, die Gott sei Dank zu erwarten sind, gerecht auf die Beitragszahler von heute und auf die Rentner von heute verteilen.
Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Das eine Problem, die normale Rentenanpassung, müssen wir so schnell wie möglich lösen, und das andere, die gerechte Verteilung des Restes auf die Arbeitnehmer von heute und auf die Rentner von heute ist eine Frage der Strukturverbesserung und der Rentenreform.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU, Sie malen manchmal Schreckgespenster von einer drohenden Sozialisierung an die Wand. Das nennt man Schattenboxen vor Gespensterfronten der Vergangenheit. So hat es Schelsky einmal umrissen. Das Merkwürdige ist dabei nur, Herr Kollege Ott, daß von niemandem die Gefahren, die die CDU und die CSU ständig beschwören, so sehr drohen wie eben von diesen beiden Parteien CDU und CSU selbst.
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SpitzmüllerSie sehen in der Expansion staatlicher Aufgaben und Ausgaben genau wie wir Freien Demokraten einerseits die Gefahr der Verstaatlichung und die Gefährdung der Stabilität. Aber Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sind hier im Deutschen Bundestag und in den Länderparlamenten doch diejenigen, die sich mit Anträgen und Entscheidungen geradezu ausgabewütig verhalten, ausgabewütiger als sich SPD und FDP in diesem Hause in diesen drei Jahren der Regierungsverantwortung je verhalten haben.
Noch ein Weiteres. Wenn hier der Eindruck erweckt wird, daß den Rentnern etwas vorenthalten würde, so muß ich auch das zurückweisen; denn die höheren Beitragssätze sind ein hoher Beitrag, den die jetzt arbeitende Generation für die nicht mehr im Arbeitsprozeß Stehenden zu leisten hat. Herr Kollege Ruf, Sie haben heute nach 15jähriger Irrfahrt Gott sei Dank klargestellt, daß man mit der Rentenformel der CDU des Jahres 1957 nach 40 Jahren keine 60 % erreichen kann. Wir sind für diese Feststellung dankbar. Aber diese Feststellung beinhaltet gleichzeitig, daß Sie 15 Jahre die Rentner und die Versicherten an der Nase herumgeführt haben, bis es hier im Deutschen Bundestag klargestellt wurde.
Herr Ruf hat von der Drei-Säulen-Theorie gesprochen. Aber dann beißt sich Ihre Logik wieder; denn Sie tun so, als ob im Normalfall jeder Rentner nur auf die gesetzliche Rente angewiesen wäre. Tatsache ist doch, daß im Normalfall, d. h. bei mehr als 50 %, wo die Drei-Säulen-Theorie noch nicht stimmt — und sie stimmt leider bei der Mehrheit nicht —, das Rentenbrutto zur Verfügung steht, aber dem Arbeitnehmer eben nur das Netto und nicht das Brutto. Daher sind auch Vergleiche von Netto mit Brutto oder von Rente mit Nettoeinkommen zulässig. Im Jahre 1957 betrug die durchschnittliche Belastung der Bruttolohn- und Gehaltssumme 14,1 %. Heute liegt sie bei 24 %. Gerade dieses Beispiel beweist, daß die Arbeitnehmersituation sich geändert hat. Man kann also nicht sagen, daß sich beim Arbeitnehmer nur eine bessere Einkommenssituation und beim Rentner nur eine schlechtere Einkommenssituation ergeben hätten.Meine Damen und Herren, wenn wir uns über diese Fragen unterhalten, muß man auch sagen, daß die lineare Anhebung die Probleme der kleinen Rentenbezieher überhaupt nicht lösen kann. Das Spiel mit den Prozenten beim Rentenniveau, das Sie hier betreiben, dient in erster Linie einem parteitaktischen Ziel.
Wir Freien Demokraten würden es sehr begrüßen, wenn Sie den Unterton der Polemik, der immer stärker mitschwingt, in Zukunft ein wenig beiseite lassen könnten. Es könnte gemeinsamen sachlichen Entscheidungen im Sinne der Beitragszahler und der Rentner sehr nützlich sein. Unsere Mitarbeit bieten wir gerne an, aber auf der Basis dessen, was vordringlich ist, und auf der Basis dessen, was schnellbehandelt und verabschiedet werden kann. Für alles andere brauchen wir etwas Zeit, gerade auch im Hinblick auf die Haushaltssituation, auf die Sie immer mit so besonderer Freude und Liebenswürdigkeit hinweisen.
Ich danke dem Herrn Kollegen Spitzmüller, daß er die Vereinbarung eingehalten hat. Für jeden der drei noch auf der Rednerliste befindlichen Redner sind noch etwa fünf Minuten Zeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burger.
Herr Kollege Nölling, Sie haben den Sozialbericht als ein Dokument einer fortschrittlichen und progressiven Sozialpolitik gekenzeichnet. Gilt dies — so darf ich Sie fragen —auch für den Bereich der Familienpolitik? Sind auch hier Fortschritte gemacht worden?
Im Sozialbudget ist in der Ubersicht ausgewiesen, daß alle erfaßten Leistungen von 25,29 auf 26,43 % des Bruttosozialprodukts ansteigen werden. Die funktionalen Leistungen für Kinder haben trotz der prozentualen Gesamterhöhung der Sozialleistungsquote einen abnehmenden Trend, und zwar von 2,15 % des Sozialprodukts 1972 auf 2,1 % 1976, während es 1965 noch 2,69 % des Bruttosozialprodukts waren. Zwischen 1972 und 1976 ist trotz der Einbeziehung des von der Regierung geplanten Familienlastenausgleichs ab 1974 eine Abnahme festzustellen.Es scheint uns also notwendig zu sein, darüber zu debattieren, ob nicht der Verbesserung des Familienlastenausgleichs eine höhere Priorität eingeräumt werden muß. Steuervergünstigungen für Kinder und Leistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz stagnieren mit Ausnahme einer geringfügigen Erhöhung des Drittkindergeldes im Jahre 1970 seit 1964, obwohl beispielsweise das durchschnittliche Arbeitnehmereinkommen von 8467 DM im Jahre 1964 jährlich bis auf 16 000 DM in diesem Jahr angestiegen ist. Der relative Wert der Familienlastenausgleichsleistungen ist damit, gemessen an der allgemeinen Einkommensentwicklung, seit 1964 fast auf die Hälfte des damaligen Niveaus gesunken. Unbestreitbar werden die kinderreichen Familien in großem Maße immer stärker unter oder an die Schwelle des sozial-kulturellen Existenzminimums gedrückt.Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht verwunderlich, daß die Geburtenzahlen seit 1964 um weit mehr als ein Drittel abgesunken sind und in den ersten vier Monaten des Jahres erneut über 9 v. H. unter den bereits sehr niedrigen Zahlen der Vergleichsmonate des Vorjahres liegen. Wenn dieser Trend anhält, können wir in diesem Jahr nur noch mit einer Geburtenzahl von etwa 720 000 rechnen.Da nicht mehr erwartet werden kann, daß die Reform des Familienlastenausgleichs, die an eine durchgreifende Reform des Einkommensteuerrechts
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Burgergekoppelt ist, bis 1974 zustande kommt, halten wir es für unerläßlich, zunächst die Leistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz auszubauen. Der von meiner Fraktion eingebrachte Gesetzentwurf, die Leistungen ab viertem Kind um 10 DM zu verbessern, ist nur ein bescheidener Ansatz, der nicht mehr als ein Zeichen guten Willens ist.Grundsätzlich halten wir auch den von der Regierung gemachten Vorschlag zur Neuordnung des Familienlastenausgleichs hinsichtlich der kinderreichen Familien für unzureichend, weil die Reform trotz eines Mehransatzes von 4 Milliarden DM kaum Verbesserungen für diese Gruppe enthält, besonders auch, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß die seitens der Bundesregierung in den Eckwerten zur Steuerreform vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Punkt etwa zur Hälfte von den Familienhaushalten mit Kindern getragen werden muß.Meine Damen und Herren, nur noch wenige Sätze zur Sozialhilfe. In der Sozialhilfe rechnet die Bundesregierung mit einem Gesamtaufwand von 3885 Millionen DM im Jahre 1972 und von 4428 Millionen DM im Jahre 1976. Die Ansätze dürften zu niedrig sein, wenn man Schlußfolgerungen aus den Berechnungen verschiedener Gemeindeverbände über die stark steigenden Sozialhilfeaufwendungen zieht. Beachtlich ist, daß bereits der Ansatz von 3360 Millionen im Sozialbudget 1971 im Sozialbudget 1972 auf 3597 Millionen DM heraufgesetzt werden mußte. Wir werden in den Folgejahren mit einer erheblichen Steigerung der ergänzenden Einkommensleistungen für Rentner und für kinderreiche Familien rechnen müssen, wenn es nicht zu einer Rentenniveauanhebung und durchgreifenden Verbesserung des Familienlastenausgleichs kommt.Über die laufende Steigerung der Kosten in Altersheimen hinaus wird die ab Oktober fällige zweistündige Arbeitszeitverkürzung des Personals zu einer Erhöhung der Pflegesätze führen, die von Rentnern und Pensionären nur noch in einem ständig geringer werdenden Prozentsatz aufgebracht werden kann, so daß die Zuschußverpflichtungen der Sozialhilfeträger steigen, neben der Mehrbelastung, die durch die Zunahme der Zahl der Heimunterbringungen wegen der steigenden Zahlen älterer Menschen entsteht.Der Bund muß in der weiteren sozialen und gesellschaftspolitischen Reformpolitik auch auf die finanziellen Möglichkeiten der Sozialhilfeträger Rücksicht nehmen. Meine Damen und Herren, der Landkreistag Baden-Württemberg hat durch seine Pressestelle mitteilen lassen, daß die Landeswohlfahrtsverbände befürchten, ihre Zahlungsunfähigkeit für das Jahr 1972 erklären zu müssen. Die Ausgaben seien in den letzten Jahren um 254 % gestiegen. Warum ist das so, meine Damen und Herren? Die Sozialhilfe ist nicht nur die dritte Säule, sondern auch das letzte Netz in der sozialen Sicherung, und dieses letzte Netz ist überlastet. Es ist deshalb überlastet und es kam deshalb zu einer explosionsartigen Ausweitung der Ausgaben in der Sozialhilfe, weil eben die normalen Sicherungssysteme in Versicherung und Versorgung versagt haben.Es kann also nicht so günstig stehen, wie Sie glauben, den Sozialbericht interpretieren zu müssen. Und dies ist der Beweis: Es würden nicht so viele durch die Netze der Sicherung fallen, es würden nicht so viele bei der Sozialhilfe ankommen, wenn diese Netze noch so gut wären wie in den vorangegangenen Jahren.Wir sind deshalb der Meinung, daß die Sozialhilfe entlastet werden muß durch eine Verbesserung der Kindergeldleistungen, durch eine Hebung des Rentenniveaus und auch durch eine gezielte Verbesserung der Kleinstrenten.
Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte den CDU-Redner doch bitten, wenn er die Fragen der Familienpolitik anspricht, sich einmal die Ausgaben für die Ausbildungsförderung, die ja nun schließlich der Familie zugute kommen, für dieses Haushaltsjahr anzusehen, bei denen es sich fast um einen Milliardenbetrag handelt,
und das ist wohl eine sehr gezielte Politik, die hier getrieben wird.Ich wollte mich eigentlich bei der Betrachtung des Sozialberichts 1972 insbesondere mit dem Ausbau der sozialen Sicherheit für alle Bürger und vor allen Dingen auch mit der vorsorgenden Gestaltung von sozialen Prozessen durch die Sozialpolitik beschäftigen; denn beide Punkte spielen in diesem Sozialbericht eine ganz entscheidende Rolle. Das ist aber aus Zeitgründen nicht möglich, und darum seien hier nur die für uns wichtigsten Punkte dieses Sozialberichts angesprochen.Ich meine, daß gerade diese Regierung ihre Aktivitäten besonders auf die Entwicklung einer vorausschauenden Arbeitsmarkt- und Berufsbildungspolitik zum Schutz des Arbeitnehmers vor negativen Auswirkungen des technischen Wandels gerichtet hat und daß uns die Arbeit in der gebildeten Sachverständigenkommission auf diesem Gebiet weiterbringt. Mit dem Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung werden 1,5 Millionen junge Menschen in die Sozialpolitik einbezogen. Dieses Aktionsprogramm umfaßt 50 konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der verschiedenen Phasen im Bereich der beruflichen Bildung.Wir sind recht froh darüber, in diesem Sozialbericht feststellen zu können, daß neue Ausbildungsordnungen für 50 000 Jugendliche nach modernen Gesichtspunkten geschaffen werden konnten und daß einiges für eine noch bessere Qualifikation der Berufsausbilder über entsprechende Rechtsverordnungen getan wird. Hierzu sei erwähnt, daß die überbetrieblichen Ausbildungsplätze Zahlen aufweisen, die uns gegenüber dem Jahre 1970 mächtig nach vorne bringen. Die langfristige Planung sieht Ausbildungsordnungen für 50 000 Jugendliche im
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UrbaniakJahre 1975 und für 210 000 Jugendliche im Jahre 1985 vor. Ich meine, mit ihrer stiefmütterlichen Behandlung in früheren Jahren auf diesem Gebiet ist es nun vorbei, und die jungen Arbeitnehmer in den Betrieben wissen das sicherlich zu schätzen.Ich darf hier auch sagen, daß insbesondere die Fragen der beruflichen Ausbildung, der Stufenausbildungsordnung eine große Rolle spielen, daß die veralteten Berufe nun weitestgehend den Karteikästen und Archiven zugeordnet worden sind und daß für etwa 250 000 Auszubildende entsprechende Maßnahmen der Bundesregierung getroffen worden sind. Darüber hinaus werden, was besonders hoch einzuschätzen ist, durch entsprechende Verordnungen für 100 000 betriebliche Ausbilder bestimmte Kriterien geschaffen, um eine bessere Ausbildung zu erreichen.Wir können in diesem Zusammenhang auch auf die wichtigen Tatbestände hinweisen, die sich auf dem Gebiet der Umschulungs- und Schulungsmaßnahmen, der individuellen Förderung durch die Bundesanstalt sowie der Dynamisierung des Unterhaltsgeldes ergeben. Das große Engagement ist sicherlich durch die Aktivität des Bundesarbeitsministeriums mit ausgelöst worden.Schließlich sind Arbeitsmarkt, Arbeitsförderung und Berufsforschung sehr wichtige Bestandteile unserer Sozialpolitik und binden sie in das Bildungssystem ein. Ich kann das alles nur schlagwortartig anführen. Wir sind recht froh darüber, daß sich die Arbeitslosenzahlen gerade auf 1% eingependelthaben, wobei die Tendenz weiter nach unten gerichtet ist. Eine Rezession, wie sie die Opposition, Kollege Ruf, lauthals verkündet hat, ist nicht eingetreten, um das auch noch festzustellen.Darüber hinaus können wir sagen, daß mit dem Inkrafttreten der Betriebsverfassung gerade die arbeitenden Menschen im Betrieb dieses große Engagement gespürt haben, sich als Kandidaten für die Betriebsräte bereitzufinden, um für ihre Kolleginnen und Kollegen tätig zu werden, ebenfalls eingebunden in diese Sozialleistung der Bundesregierung.Ich darf zum Schluß kommen. Der Sozialbericht 1972 dokumentiert, nur schlagwortartig dargestellt, Maßnahmen und Leistungen zur sozialen Sicherung. Wie anders und positiv ist doch diese Sozialpolitik im Vergleich zu der — wie eine Wochenzeitung es formulierte — „Sozialpolitik zu Kaisers und Katzers Zeiten" !
Das Wort als letzter Redner hat Herr Abgeordneter Dr. Böhme.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach meiner Angabe sollte die Redezeit einer Viertelstunde betragen. Ich hörte dann, es seien zehn Minuten. Wie ich soeben durch Sie höre, sollen es fünf Minuten sein. Ich werde mich an das halten, was ich ange-geben habe. Trotzdem hoffe ich, sehr schnell fertig zu sein.Herr Abgeordneter Nölling, Sie fragten, was die CDU denn wohl zu kritisieren hätte, wenn nicht die Preissteigerungen. Sie fühlten sich bis auf diese Preissteigerungen ohne jeden Fehl, und zwar so sehr, daß Sie uns auch die Alternativen im sozialpolitischen Raum bestritten.
Dennoch würde ich sagen: Selbst in Ihren Reihen steht ein nicht zu Übersehender, nämlich der Arbeitsminister selbst, nicht an, zuzugeben, daß die Einbringung der Gesetzesvorlagen im Kabinett und ihr Durchgehen durch das Kabinett und über den Finanzminister nur deshalb möglich war, weil gerade die sozialpolitischen Anträge der Opposition ihn ansonsten in Rückstand versetzt hätten.Herr Professor Schellenberg, lassen Sie mich das auch noch sagen: Ich finde, gerade diese Freiheit der Ehrlichkeit könnte für viele ein Beispiel sein. Und wenn ich das wegen der Kürze der Zeit so kurz und trocken sagen darf: Das gilt speziell für Sie hinsichtlich der Kranken-Vorsorgeuntersuchung, der Land wirtschaftsversicherung und nicht zuletzt des Wohngeldgesetzes.Meine Aufgabe hier ist es, kurz die Fragen der Arbeitsförderung und der Betriebsverfassung anzusprechen, wie sie sich aus dem Sozialbericht ergeben. Dazu darf ich, nachdem Herr Urbaniak die positiven Seiten aufgezählt hat, vielleicht jetzt kurz auf die negativen Seiten kommen.Die Vollbeschäftigungsgarantie, die der Herr Bundeskanzler vor einer Zeit noch ansprach, ist ja jetzt eingeschränkt, insbesondere durch den DIW-Bericht, Herrn Schillers Bericht also, der besagt, daß die Tendenz der Beschäftigung im Abnehmen begriffen sei und daß dies auch noch für das erste und zweite Quartal 1972 gelte. Sie müssen einmal die Nr. 24/72 lesen; da steht es drin.
— Die kann ich Ihnen auch gleich sagen. Sie können beruhigt sein; ich weiß sie. Ich weiß nicht, ob Sie sie so genau kennen.In diesem Bericht steht u. a., daß die Chemie in der Abschwungphase 1970/71 insgesamt 19 000 Leute hat freistellen müssen. Das waren 5000 mehr als in der Rezession 1966/67. Sie sehen also, daß in der Exportindustrie die „Aufwertitis" — so möchte ich es einmal bezeichnen — sicherlich schlimmer war als die Rezession, die Sie hier so — mit Recht — verketzern. Gleiches gilt auch für die Investitionsgüterindustrie. Es ist insofern von Interesse, zu sehen, daß der sogenannte Prognose-Indikator, der vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aufgestellt wird, hier auch noch einen längerfristigen Rückgang der Beschäftigung ausweist.Ich darf zum nächsten Punkt kommen: Berufsberatung, Arbeitsmarktberatung. Ich gehe mit Ihnen völlig einig, daß die Beratung noch wesentlich inten-
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Dr. Böhmesiver gestaltet werden muß. Die Nr. 57 des Berichts spricht von der gründlichen Information. Die Information gerade der Berufsberater selber und der Arbeitsberater sollte intensiviert werden. Es gibt jahrelange Bemühungen der Bundesanstalt für Arbeit, hier eine bessere Ausbildung, insbesondere auch eine ökonomische Ausbildung über die Frage der Marktanteile, der Marktchancen der Berufe anzukurbeln. Leider ist bisher die dazu notwendige Fachhochschule noch nicht genehmigt. Ich höre mit Freude, daß eine Verordnung in Vorbereitung sein soll. Vielleicht wird die Genehmigung der Fachhochschule in dieser Verordnung enthalten sein. Bisher ist mir davon aber nichts bekannt.Richtig ist, daß die Kosten der beruflichen Bildung bei der Bundesanstalt und im Bundeshaushalt immer größere Beträge ausmachen: 900 Millionen DM in 1969, 1,5 Milliarden in 1970, 2,5 Milliarden DM in 1971; das waren 50 % der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Darin ist — das ist das, was ich hier zu beanstanden habe — die berufliche Ausbildung mit 192 Millionen DM im Jahre 1970 und mit 300 Millionen DM im Jahre 1971 enthalten. Hinzu kommen noch jeweils 190 Millionen DM Unterhaltsgeld im Jahr 1970 und 390 Millionen DM Unterhaltsgeld im Jahr 1971.Diese Erstberufsausbildung ist eine Staatsaufgabe, und ich frage, wann endlich der Bund die Kosten für diese Berufsausbildung übernehmen wird, damit die Bundesanstalt durch die Freistellung von diesen Aufgaben
nunmehr die ihr zukommenden Aufgaben in richtiger Weise erfüllen kann.
— Ich komme gleich noch auf Ihre Mehrausgaben.Es gehört nicht ohne weiteres zu den Aufgaben der Bundesanstalt, zu fragen, wie ein Anreiz zum Winterbau geschaffen werden kann, damit die Kapazitäten in unserem Land besser ausgenutzt werden. Das hätte sie aber in glücklicherer Weise tun können, wenn sie nicht in eine solche Finanzmisere geraten wäre, wie sie heute ansteht.Lassen Sie mich nun zu der Frage kommen, Herr Nölling, die Sie angesprochen haben.
Herr Kollege Dr. Böhme, ich wollte Sie nur bitten, die Redezeit zu beachten.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich komme gleich zum Schluß.
Sie sagen, wir behaupteten, wir müßten sparen; das was wir vorschlagen, würde aber noch einige Milliarden DM mehr kosten. Schauen Sie, das ist eben die Frage, die Sie schon bei der Dynamisierung der Kriegsopferversorgung übersehen haben. Sie beginnen Ihre Reformen, ohne sie vollständig zu machen. Wenn man sie schon beginnt, muß man sie auch vollständig durchführen. Lieber sollten Sie nicht
so viele Punkte anstoßen, sondern einige Vorhaben vollständig durchführen.
Leider muß ich auf die Behandlung des Betriebsärztegesetzes verzichten; leider muß ich auf die Behandlung weiterer Fragen verzichten, um mit meinen fünf Minuten zurechtzukommen.
Lassen Sie mich abschließend nur noch etwas zur Frage der Betriebsverfassung und zur Frage der in Nr. 121 des Berichts angesprochenen Mitbestimmung sagen.
Herr Kollege, ich fürchte, das wird nicht mehr alles möglich sein.
Es ist nur noch ein Satz.
Ah!
Ein längerer Satz, Herr Präsident!
Hier ist das Verbot der parteipolitischen Tätigkeit angesprochen worden. Bei den Ostverträgen hat der Bundeskanzler gesagt,
man sollte die Betriebe mobilisieren und aufmarschieren lassen. Ich würde sagen, dies ist das direkte Gegenteil einer parteipolitischen Neutralität, wie man sie unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen" verstehen kann.
Ich glaube, diese Sache bewegt sich in der gleichen Richtung wie das DGB-Papier zur Mitbestimmung. Danach will man bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter für den Aufsichtsrat von der Urwahl absehen, weil sie „Zufallsergebnisse" bringen. Man will lieber den Betriebsrat oder die Personalvertretungen die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen lassen. Dadurch wird man ganz sicher in eine Politik hineinkommen, die den Arbeitnehmern der Betriebe oder des Betriebs ganz nicht passen wird. Mir ist bekannt, daß diese Angelegenheit so gesteuert wird, und ich weiß auch, daß die SPD die in diesem Papier enthaltenen Gedanken des DGB sehr wohl unterstützt.
Lassen Sie mich sagen: ich hoffe, daß es Ihnen gelingen wird, für die 24 Millionen Arbeitnehmer, die Sie ansprachen, auch die notwendigen Unternehmer zu bekommen, die unter diesen Aspekten weiterhin die Unternehmerschaft durchführen.
Herr Kollege Böhme, Sie haben uns zugesagt, Ihre Ausführungen in einem Satz zusammenzufassen.
Sonst müßten Sie wohl die Planwirtschaft statt der Marktwirtschaft ein-
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Dr. Böhmeführen. Ich befürchte, wenn Sie Ihr Langzeitprogramm als Unterlage nehmen, wird Ihnen diese Planung mißlingen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der Beratungen. Ich schließe die Aussprache.
Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates liegen Ihnen vor. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß für den Sozialbericht 1972 der Wunsch besteht, ihn dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung federführend sowie zur Mitberatung dem Haushaltsausschuß und dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch gegen die Vorschläge; es ist so beschlossen. Damit ist der Sozialbericht 1972 entsprechend überwiesen, ferner das Rentenniveau-Sicherungsgesetz sowie das Fünfzehnte Rentenanpassungsgesetz an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung federführend sowie zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß und der Rentenanpassungsbericht 1972 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung federführend und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Donnerstag, den 15. Juni 1972, 14 Uhr, zur Fragestunde ein.
Die Sitzung ist geschlossen.