Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! DieSitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Rechtsver-ordnungen der Bundesregierung auf den Drucksachen17/13308 und 17/13309 federführend an den Ausschussfür Wirtschaft und Technologie mit der Bitte, den Be-richt dem Plenum bis spätestens 12. Juni 2013 vorzule-gen, sowie zur Mitberatung an den Auswärtigen Aus-schuss, den Innenausschuss, den Rechtsausschuss undden Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungzu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das istder Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungVierzehnter Bericht zur Entwicklungspolitikder Bundesregierung– Weißbuch –– Drucksache 17/13100 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt esdagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-tem Redner das Wort dem Bundesminister Dirk Niebel.
Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung:Guten Morgen, Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich konnte Ihnen vergangene Woche das Weißbuch, denVierzehnten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bun-desregierung, für dieses Politikfeld vorlegen. Ich kannheute feststellen, wie schon vor einer Woche in der Re-gierungsbefragung: Auch in der Entwicklungspolitikwaren das vier gute Jahre für Deutschland und für unserePartner in der Welt.
Wir hatten in diesem Politikfeld einen enormen Re-formstau aufzuarbeiten. Trotzdem ist es in dieser Legis-laturperiode gelungen, nicht nur institutionelle, sondernvor allem auch wichtige politische Reformen umzuset-zen: nicht nur die mittlerweile zumindest im Haus all-seits bekannte größte Strukturreform in der Geschichtevon 51 Jahren Entwicklungspolitik, an der drei Vorgän-gerregierungen gescheitert sind, nämlich die Zusammen-legung der staatlichen technischen Durchführungsorga-nisationen GTZ, DED und InWEnt zur DeutschenGesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, son-dern auch kleinere institutionelle Reformen, die demBlick der Öffentlichkeit vielleicht entgangen sind, abervon zentraler Bedeutung sind, zum Beispiel die Zusam-menlegung von vier Organisationen mit ihren Instru-menten für die Stärkung des zivilgesellschaftlichen undkommunalpolitischen Engagements in der Entwicklungs-zusammenarbeit in die Engagement Global gGmbH. Da-mit wurde eine einheitliche Anlaufstelle für Bürgerinnenund Bürger geschaffen, wo ihr Engagement zielgerichtetgebündelt werden kann und die Ergebnisse herbeiführenkann, die sich die Bürgerinnen und Bürger wünschen.Darüber hinaus gibt es eine Neuerung, die nicht nur inder Bundesrepublik, sondern auch international von Be-deutung ist: Ein unabhängiges Evaluierungsinstitut derdeutschen Entwicklungszusammenarbeit gibt uns dieMöglichkeit, Legitimität gegenüber den Steuerzahlerin-nen und Steuerzahlern in diesem Land zu gewinnen, dievöllig berechtigt fragen, warum der Staat, wenn hier ka-putte Straßen oder marode Schulen zu beklagen sind,6,3 Milliarden Euro im Ausland investiert. Wir müssenimmer wieder belegen, dass das, was wir in der Welt tun,nicht nur für unsere Partner gut und sinnvoll ist, sondernauch für Deutschland. Es ist von zentraler Bedeutung,
Metadaten/Kopzeile:
29970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Bundesminister Dirk Niebel
(C)
(B)
dass möglichst viele Menschen auf der Welt in Wohl-stand leben können, dass möglichst viele Menschen aufder Welt gesicherte Rahmenbedingungen und gute Um-weltbedingungen haben und dass möglichst viele Regio-nen der Welt friedlich miteinander leben und interagie-ren können. Dazu leisten wir als große, internationalvernetzte Wirtschaftsnation einen großen Beitrag. Umdas nachweisen zu können, müssen wir uns unabhängigevaluieren lassen. Das ist eine Herausforderung, geradein einem Wahljahr. Diese Herausforderung nehmen wirgerne an. Wir haben als Bundesregierung den Mut, unsselbst in unserem Handeln überprüfen zu lassen, um ins-gesamt besser zu werden.
Darüber hinaus ist es möglich gewesen, die Koordi-nierung der ODA-Leistungen auf das Bundesministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung zu konzentrieren, damit wir insgesamt eineneinheitlicheren Außenauftritt als Republik haben. Wirhaben die Steuerungsfähigkeit für die Politik zurückge-wonnen. Es nutzt nicht nur dieser Bundesregierung, son-dern auch allen nachfolgenden Bundesregierungen, dasswir jetzt endlich die Gelegenheit haben, in jedem unsererPartnerländer mindestens einen Referenten für Entwick-lungszusammenarbeit an den Botschaften zu haben– meistens sind es sogar zwei Referenten –, um auf dieseArt und Weise die Durchführungsorganisationen an denpolitischen Willen der jeweils im Amt befindlichen Bun-desregierung zu binden und so zu verhindern, dassDurchführer Politik betreiben und Politik möglicher-weise in Mikromanagement abgleitet, wie das früher oftder Fall gewesen ist.Wir haben unsere Politik wertebasiert aufgestellt. Daszeigt sich unter anderem durch den von mir eingeführtenMenschenrechts-TÜV, der jede neue Maßnahme aufmenschenrechtliche Auswirkungen überprüft. Es ist vonzentraler Bedeutung, diese Werteorientierung auch öf-fentlich darzustellen, weil wir im Gegensatz zu frühermutig genug sind, zu sagen, dass wir auch Interessen inder Entwicklungszusammenarbeit haben. Früher durfteman das nicht sagen; denn das wurde nicht gerne gehört.Alles musste altruistisch sein. Da wir aber im Rahmender staatlichen Entwicklungskooperation mit anderenStaaten zusammenarbeiten, die selbstverständlich Inte-ressen haben, glaubt uns kein Mensch, dass wir völlig in-teressenlos wären. Das Interessante ist, Werte und Inte-ressen zu kombinieren und unsere Interessen mit denenunserer Partner in Ausgleich zu bringen.
Wir konzentrieren uns auf mehr Wirksamkeit. Wir ge-hen weg von der reinen Input-Orientierung. Viel Geldausgeben hilft viel, so hat man früher oft gedacht. Wirwollen dagegen mit dem vorhandenen Geld möglichstviele Ergebnisse erzielen. Trotz der schwierigen Haus-haltssituation ist es uns möglich gewesen, die Mittel fürdie wesentlichen politischen Kooperationspartner aufzu-stocken. So sind zwischen 2009 und 2013 für die zivil-gesellschaftlich Engagierten in Deutschland die Mittelvon 557 Millionen Euro auf 662 Millionen Euro erhöhtworden. Auch die Mittel für die direkte Zusammenarbeitmit der Wirtschaft wurden erhöht. Vor allem ist die Zu-sammenarbeit entkrampft worden. Nachhaltige Bekämp-fung der Ursachen von Armut ohne nachhaltige wirt-schaftliche Entwicklung ist in den Entwicklungsländernnicht möglich. Wer sollte ein besserer Partner sein alsdie deutsche und insbesondere die mittelständische Wirt-schaft, um in unseren Partnerländern Strukturen zuschaffen, die es ermöglichen, aus der Armut herauszu-kommen und sich selbst nachhaltig für die Geschickedes eigenen Landes zu engagieren.
Wir haben es geschafft, wichtige Zukunftsaufgabenneu zu organisieren, auch innerhalb der Bundesregie-rung. Wegweisend ist hier das Konzept für den Umgangmit fragilen Staaten. Gerade in Staaten, die fragil, Kon-fliktstaaten oder Postkonfliktstaaten sind, ist es wichtig,dass nicht nur die Instrumentarien eines Ressorts einge-setzt werden, um gewaltsame Konflikte zu verhindernoder zu beenden. Vielmehr ist hier die gesamte Kompe-tenz einer Bundesregierung nötig. Gerade weil wir wis-sen, dass die Hälfte unserer Partnerländer fragil, Post-konflikt- oder Konfliktstaaten sind, ist es von zentralerBedeutung – auch für gute Entwicklungszusammen-arbeit –, hier im Rahmen eines vernetzten Ansatzes vor-zugehen.
Darüber hinaus haben wir die Kooperation mit globa-len Entwicklungspartnern, den sogenannten Schwellen-ländern, auf neue Füße gestellt. Wir wissen, dass beiLändern, die weiter entwickelt sind als die ärmsten derWelt, noch immer Unterstützung beim Kapazitätsaufbauoder Know-how-Transfer notwendig ist, aber mit ande-ren Instrumentarien, die weit marktorientierter sind alsdas Zuschussgeben, wie das früher oft der Fall gewesenist. Auch hier achten wir mehr auf Wirkung und gute Er-gebnisse.Gute Ergebnisse haben wir auch im internationalenKontext erzielen können, zum Beispiel mit dem soge-nannten Grünbuch Budgethilfe der Europäischen Union.Hier ist es uns gelungen, darauf hinzuwirken, dass erst-mals in der Geschichte der Europäischen Union die so-genannte allgemeine Budgethilfe, also Zuschüsse fürden Haushalt eines anderen Landes, mit menschenrecht-lichen Kriterien und Kriterien der guten Regierungsfüh-rung versehen wird. Es wird nicht mehr nach dem Motto„Fire and forget“ das Geld der Steuerzahler überwiesen,ohne dass man sich darum kümmert, was damit passiert.
Weil ich weiß, dass im Laufe der Debatte im Wett-streit der parteipolitischen Interessen natürlich wiederauf die Frage des ausgegebenen Geldes rekurriert wer-den wird, möchte ich auf Folgendes hinweisen: DieHaushaltsmittel in dieser Legislaturperiode sind um5,5 Prozent gesunken, die für die offizielle Entwick-lungszusammenarbeit verfügbaren Mittel aber um17 Prozent gestiegen. Die sogenannte ODA-Quote, alsodie Relation zwischen den Ausgaben für die Entwick-lungspolitik und dem Bruttonationaleinkommen, ist von0,35 Prozent im Jahre 2009 auf 0,38 Prozent im Jahre
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29971
Bundesminister Dirk Niebel
(C)
(B)
2012 angestiegen. Nachdem wir 2009 bundesweit8,7 Milliarden Euro in die Entwicklungszusammenarbeitinvestiert haben, sind wir im Jahre 2012 mit 10,2 Mil-liarden Euro drittgrößter internationaler bilateraler Ge-ber geworden.Diese Regierung braucht sich nicht zu verstecken.
Die Erfolgsbilanz ist eindeutig. Der Blick auf die Zu-kunft ist auch ganz klar. Uns interessiert, wie der Prozessnach der Erreichung der Millenniumsziele weitergeht,damit wir die wichtigen Aufgaben der Welt besser orga-nisieren können: eine Verbesserung der Umweltsituationin vielen Teilen der Welt, die nachhaltige Bekämpfungder Ursachen von Armut – nicht nur der Armut selbst –und die Stabilität und Sicherung des Friedens in derWelt. Deswegen braucht diese Bundesregierung ein wei-teres Mandat von vier Jahren. Die Bürgerinnen und Bür-ger haben in 150 Tagen die Möglichkeit, gute Politik zubestätigen.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Sascha
Raabe das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Minister Niebel, Ihre Bilanz ist be-schämend.
Sie haben die Mittel für die ärmsten Menschen dieserWelt gekürzt. Sie haben die Hoffnungen der ärmstenMenschen dieser Welt enttäuscht. Wer das tut, der spartzulasten derjenigen, die sich nicht wehren können. Siehaben durch das Brechen der internationalen ZusagenDeutschlands Ansehen beschädigt. Sie sind der mit Ab-stand schlechteste Entwicklungsminister, den diesesLand jemals hatte.
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben uns imJahr 2005 – vorher waren das nur Absichtserklärungen –international verpflichtet, die Mittel für die Entwick-lungszusammenarbeit bis zum Jahr 2010 auf 0,51 Pro-zent und bis 2015 auf 0,7 Prozent zu steigern. Da stehtauch die Kanzlerin im Wort. Herr Minister, wir haben inIhrer Amtszeit in den letzten vier Jahren einen Aufwuchsvon insgesamt nur 337 Millionen Euro gehabt, 2013 so-gar Kürzungen. Es gab allein im Jahr 2009, dem letztenJahr Ihrer Vorgängerin, einen Aufwuchs von 680 Millio-nen Euro. Das heißt, Sie haben in vier Jahren weniger alsdie Hälfte geschafft als Heidemarie Wieczorek-Zeul ineinem Jahr.In Ihrem Weißbuch wenden Sie einen Taschenspieler-trick an. Sie haben nämlich am Ende des Jahres 2009Hunderte Millionen Euro, die im Haushalt zur Verfü-gung standen, nicht mehr ausgegeben, um die ODA-Quote künstlich herunterzurechnen. Sie haben das Gelderst 2010 ausgegeben. Jetzt tun Sie so, als wäre dieODA-Quote um 17 Prozent gestiegen. Das ist lächerlich.Das kann man Ihnen nicht durchgehen lassen. Fakt ist:2012 lag die ODA-Quote nur bei 0,38 Prozent. Wennman Ihre Aussage, die Sie in einem offiziellen Papier,dem Weißbuch, vorlegen, nämlich dass die Bundesregie-rung daran festhält, bis 2015 auf eine ODA-Quote von0,7 Prozent zu kommen, ernst nimmt, dann bedeutet das– das weiß jeder hier im Raum – 10 Milliarden EuroAufwuchs in zwei Jahren. Gleichzeitig legen Sie, HerrMinister, diesem Parlament einen Haushaltsplan derBundesregierung vor, in dem Sie bis 2015 noch Kürzun-gen von 172 Millionen Euro vorsehen. Das ist Tarnen,Tricksen, Täuschen, Verniebeln, Herr Minister. Das istunanständig. Sie haben Ihr Wort gebrochen. Stehen Sieauch dazu!
Auch die Kanzlerin steht hier im Wort. Sie hat aufvielen internationalen Veranstaltungen, auf Kirchenta-gen immer wieder gesagt: Ich persönlich als Kanzlerinstehe dazu, dass wir nicht bei der Milliarde Menschen,die in Hunger und extremer Armut lebt, sparen. Ich stehedazu, dass wir die Mittel, wie international versprochen,steigern. – Da bin ich wirklich sehr enttäuscht. Sie hat esuns im Ausschuss noch einmal versichert. Sie hat ihrWort gebrochen.Sie hatten neben der Steigerung der Mittel noch einzweites Ziel, das Sie klar verfehlt haben: mehr Effizienz,Wirksamkeit und Qualität. Sie versuchen jetzt immer,Ihre magere finanzielle Bilanz zu beschönigen. Da mussman dann auch einmal schauen, wie Sie dieses Ziel um-gesetzt haben. Anstatt eine moderne, mit anderen Ge-bern koordinierte internationale Entwicklungszusam-menarbeit zu betreiben, machen Sie in erster Liniedeutsche Projektitis. Sie sagten ja auch gerade, dassdeutsche Interessen wichtig sind, also reine deutscheAußenwirtschaftsförderung als Mittel der Armutsbe-kämpfung. Sie wollen überall deutsche Fähnchen sehen.Da sage ich Ihnen, Herr Minister: Natürlich haben auchwir Interessen. Aber unser Interesse ist es, den ärmstenMenschen dieser Welt zu helfen, und nicht, dass diedeutsche Wirtschaft möglichst viele Projekte bekommt.Deswegen sagen wir an dieser Stelle: Werte- und interes-sengeleitete Politik in der Entwicklungszusammenarbeitmuss sich immer an den Ärmsten der Armen orientieren.
Es gab aber, Herr Minister, noch ein drittes Ziel, dasnicht im Koalitionsvertrag steht, den Sie immer zitieren,
Metadaten/Kopzeile:
29972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Sascha Raabe
(C)
(B)
das Sie als FDP aber in den Koalitionsverhandlungen be-schließen wollten. Das geht aus einem FDP-Papier zuden Koalitionsverhandlungen hervor. Darin hat Ihre Par-tei geschrieben: Die FDP muss Schlüsselpositionen imBMZ besetzen; denn im Gegensatz zu anderen Politikbe-reichen kann die FDP in der Entwicklungszusammenar-beit verschiedene Themen, ohne ideologische Kämpfeführen zu müssen, liberal besetzen. Es gibt kaum einMinisterium, welches derart viele personelle Besetzun-gen zu bestimmen hat. – Dann wird genau aufgelistet,wie dieser Plan in der Regierung umzusetzen ist, damitgewährleistet wird, dass die freien Stellen durch dasBMZ künftig mit Liberalen besetzt werden. In Punkt 6geht das sogar so weit – damit kommen wir zu dem wah-ren Hintergrund Ihrer viel gelobten Strukturreform –:Die Durchführung der kleinen Reformlösung zurZusammenlegung der deutschen Technischen Zusam-menarbeit muss auf ranghöchster Ebene mit Liberalenbesetzt werden. – Dabei handelt es sich um die Zusam-menlegung von GTZ, DED und InWEnt mit 14 882 Mit-arbeitern.Herr Minister, während Sie die ersten beiden Zieleklar verfehlt haben – Schulnote 6! –, haben Sie Ihr drit-tes Ziel leider voll erreicht. Sie sind hier rigoros vorge-gangen, indem Sie gleich als Erstes Ihr Bundesministe-rium von drei auf fünf Abteilungen aufgebläht haben,und während es unter Ihrer Vorgängerin von den dreiAbteilungsleitern zwei gab, die parteilos waren, und nureinen mit SPD-Parteibuch, haben Sie von diesen fünfaufgeblähten Abteilungen vier mit FDP-Leuten und ei-nen mit einem CDU-Parteibuch besetzt, darunter auchdie Abteilung „Planung und Kommunikation“, die Sieneu geschaffen haben und die eine mit Steuergeldern fi-nanzierte Wahlkampfzentrale der FDP ist.
Diese beispiellose Vetternwirtschaft brachte selbst dieCDU-Kollegin Sibylle Pfeiffer und ihre Arbeitsgruppeauf die Palme. Sie schrieb einen Brief an die Kanzlerin,in dem sie beklagt, dass es „eine Förderung von FDP-na-hen Personen – und dies nur bei untergeordneter Beach-tung ihrer fachlichen Eignung“ gebe, dass dies weit überdas übliche und vertretbare Maß hinausgehe und derBoulevard diese Personalpolitik wahrscheinlich als gutdotierte Versorgungsposten für Parteimitglieder bezeich-nen werde. Nachdem der Brief öffentlich geworden ist,war das Frau Pfeiffer peinlich; sie hat Ihnen in Nibelun-gentreue wieder zur Seite gestanden. Fakt ist aber nuneinmal, dass leider stimmt, was Sie geschrieben haben.
Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehenlassen: Der Personalrat hat das jedes Jahr in seinen Tä-tigkeitsberichten angeprangert. Nun wird der Ministeraber sogar an die Verfassung erinnert. In der letztenRede im Jahr 2012 hat der Personalrat, an Sie gewandt,gesagt: Es gilt nicht mehr der alte Grundsatz „Leistunglohnt sich“. Ich fordere die politische Leitung und dieVerwaltung dringend auf, bei der Personalrekrutierungund -entwicklung wieder zu den Verfassungsgrundsätzender Chancengleichheit beim Zugang zum öffentlichenAmt, der Bestenauslese und der Förderung nach eigenenLeistungen und Fähigkeiten, zurückzukehren. – Wir for-dern Sie ebenfalls auf, Herr Minister, dazu zurückzukeh-ren, die Stellen nach Leistung und nicht nach Parteibuchzu besetzen.
Ihren guten Parteifreund und Buddy Tom Pätz habenSie ganz nach oben gezogen. Erst hat er im Range einesAbteilungsleiters die Fusion moderieren dürfen. Dannhaben Sie ihm einen entfristeten Arbeitsvertrag gegeben,damit er für immer einen Rentenposten im BMZ hat, undihn auch noch in den GIZ-Vorstand berufen. Ich bin jafroh, dass in Ihrer eigenen Partei noch jemand den Muthat, sich dagegen zu wehren, und Ihr Haushälter HerrKoppelin im Aufsichtsrat verhindert hat, dass er nocheine Gehaltserhöhung bekommt. Herr Koppelin hat ge-sagt, Tom Pätz sei eine Pfeife. Ich denke, an dieser Stellehat er leider recht; denn wenn jemand nur aufgrund sei-nes Parteibuches an eine so hochbezahlte Stelle kommt,dann ist es gut, dass Ihre eigene Partei die rote Kartezeigt.Ich finde Ihr Verhalten empörend, weil Sie damit dieLeistungen der vielen guten Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter im Ministerium und in den Durchführungsorgani-sationen schlechtmachen. So demotivieren Sie die Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie reisen durch die ganzeWelt und erzählen anderen etwas von guter Regierungs-führung; gleichzeitig benehmen Sie sich hier wie ein Au-tokrat, der – schlimmer noch als die CSU in Bayern –seine Parteifamilie im Ministerium unterbringt.
Da Sie immer von Werten und Werteorientierungsprechen, Herr Minister: Ich würde Sie bitten, dieseWerte bei sich anzulegen, aber auch bei den Partnerlän-dern. Da, wo Großgrundbesitzer geputscht haben, ob dasin Honduras oder in Paraguay gewesen ist, haben Sienichts gesagt und haben sich zurückgehalten. Aber beianderen Partnerländern verfahren Sie ganz anders; damachen Sie große Unterschiede.Ich sage, Herr Minister: Wenn man sich zurückerin-nern wird, dann werden aus Ihrer Amtszeit anstatt Spu-ren im Sand nur zwei Dinge bleiben: eine alberne Mili-tärmütze und ein fliegender Teppich. Das werden wirnicht vermissen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Pfeiffer für dieCDU/CSU.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29973
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe nur sieben Minuten Zeit, Sascha. Diese Ausgeburtan entwicklungspolitischer Rede
zu kommentieren, würde allein sieben Minuten dauern;ich habe aber auch noch Wichtigeres zu erzählen.
Wir diskutieren den 14. Entwicklungspolitischen Be-richt, das sogenannte entwicklungspolitische Weißbuch.Von der SPD kommt aber nichts anderes als Personalfra-gen, Polemik, teilweise Unwahrheiten; mich beim Vorle-sen falsch zu zitieren, das ist, finde ich, das Allerletzte.
Wenn das die Idee der SPD zur Entwicklungspolitik ist,dann bin ich herzlich froh, dass das Ministerium nicht inSPD-Hand ist.
Der Wähler möge verhindern, dass es jemals wiederdazu kommt, und der Wähler wird das tun – da bin ichganz sicher –, weil das gerade ein Armutszeugnis son-dergleichen war.
Was dieser entwicklungspolitische Bericht zeigt, istunter anderem, dass wir im Laufe der Zeit einen richtigguten Weg gegangen sind. Wir sind von einer Entwick-lungshilfe – ursprünglich haben wir unkonditioniert,unkoordiniert, willkürlich Gelder verteilt – über die Ent-wicklungszusammenarbeit mit mehr Absprachen, mitmehr Kooperation – wir haben mehr Menschen einbezo-gen – mittlerweile auf einem guten Weg, zu einer Ent-wicklungspolitik zu kommen. Wenn ich „Politik“ sage,meine ich die Politik der Entwicklungsländer vor Ort.Wenn sie ihre politischen Ideen umsetzen wollen, be-kommen sie unsere Unterstützung, bekommen sie Gel-der und Beratung von uns. Es ist, glaube ich, der richtigeWeg, dass man mit Mitteln Politik macht, und zwar fürdie Menschen vor Ort.Entwicklungspolitik, liebe Freunde, ist keine Spiel-wiese für Weltverbesserung, sondern sie leistet effektiveHilfe zur Selbsthilfe. Das merken wir permanent, wennwir unsere Partner bei dem unterstützen, was sie selberleisten können.Entwicklungspolitik ist auch kein Instrument zur Be-schäftigung der NGOs, sondern sie leistet einen funda-mentalen Beitrag zur Bewältigung globaler Aufgaben.Die globalen Aufgaben, so vielfältig sie sind, können wirnur gemeinsam lösen. Nicht zuletzt ist es auch so, dasswir mit der Entwicklungspolitik vorbeugen können, prä-ventiv arbeiten können, wenn es darum geht, die Armutzu bekämpfen, in Einzelfällen aber auch Terrorismusund Extremismus zu bekämpfen. Das ist eine gute Ar-beit.Wir verbessern die Lebensverhältnisse der Menschenvor Ort mit unseren Partnern, mit NGOs, mit Regierun-gen. Wir sorgen für Frieden, Stabilität und Sicherheit.Das ist gut für die Menschen vor Ort, und das, liebeFreunde, ist auch gut für Deutschland – das, denke ich,dürfen wir zur Kenntnis nehmen –, und deshalb ist un-sere Arbeit wichtig und gut.
Nachdem ich dies alles gesagt habe, sind wir uns si-cher alle in diesem Haus einig, glaube ich, dass es richtigist und richtig bleibt, dass wir dafür ein eigenständigesMinisterium haben. Die Aufgabenvielfalt nimmt zu undnicht ab, und die Ansprüche werden größer und nichtkleiner. Ich gehe davon aus, dass niemand mehr in die-sem Plenarsaal sitzt, der das nicht unterschreiben kann.Ich glaube, wir haben in den letzten vier Jahren einegute Arbeit geleistet. Deshalb sind wir stolz und zufrie-den. Die Bilanz ist gut. Die Koalitionsfraktionen habengute Arbeit geleistet. Das Ministerium hat gute Arbeitgeleistet. Insofern können wir der Öffentlichkeit undauch dem Steuerzahler sicher gegenübertreten. Wir kön-nen ihm sagen: Dein Geld ist gut angelegt; es ist zu-kunftsorientiert und nachhaltig angelegt. Das ist das, wasuns gemeinsam weiterbringt.
Jetzt muss ich leider noch etwas zur Erreichung derODA-Quote von 0,7 Prozent sagen.
Ohne die Historie bemühen zu wollen: Seit 40 Jahren be-mühen sich deutsche Entwicklungspolitiker, 0,7 Prozentzu erreichen. Dies heißt, dass die bisherigen Minister beider Vorarbeit zur Erreichung der ODA-Quote nicht be-sonders erfolgreich waren. Ich brauche nicht zu sagen,dass ehemalige Bundeskanzler wie Herr Schröder aufdas Erreichen dieses Ziels definitiv keinen Wert gelegthaben. Wir können feststellen, dass wir unsere Quotezwar kaum verbessert haben, dass wir aber seit demAmtsantritt von Angela Merkel mehr als 2,5 MilliardenEuro mehr in die Entwicklungszusammenarbeit gegebenhaben. Das kann man objektiv feststellen.
Natürlich brauchen wir hier mehr Geld. Es ist auchrichtig, dass wir daran arbeiten und an unserem Ziel be-treffend die ODA-Quote festhalten. Wir sollten abernicht sagen, Sascha – und das macht ihr permanent –,dass in dem Moment, wenn wir das 0,7-Prozent-Ziel er-reicht haben, alles gut ist.
Metadaten/Kopzeile:
29974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Sibylle Pfeiffer
(C)
(B)
– Aber genau so kommt es rüber, liebe Freunde. – Ihrsagt: Gebt uns mehr Geld, und schon wird alles gut. –Nein, so geht es eben nicht. Wenn wir Entwicklungszu-sammenarbeit und Entwicklungspolitik weiter konse-quent betreiben wollen, dann reicht die Erfüllung des0,7-Prozent-Ziels nicht aus. Es ist völlig verkehrt, dannzu sagen: Wir haben 0,7 Prozent erreicht; jetzt ist allesgut auf der großen weiten Welt.
Das ist es, was hier suggeriert wird und was auch du ge-rade wieder in deiner Rede gesagt hast, Sascha. Das istdoch die Wahrheit; die kann man ruhig einmal sagen.
Eigentlich wollte ich etwas ausführlicher auf ein an-deres Thema zu sprechen kommen; aber die Zeit ist mirweggelaufen. Lieber Sascha, du hast mir diese Zeit ge-stohlen. – Mein Hobbythema ist das Thema Weltbevöl-kerung, ein Querschnittsthema, wie es kein besseresgibt. Hier geht es um Bildung, Ausbildung, Gesundheits-versorgung, ländliche Entwicklung, wirtschaftliche Ent-wicklung, Ernährung, Wasserversorgung, Abwasserver-sorgung, Umwelt, Klima, Energie. Das alles sindThemen, die auch uns beschäftigen. Wir müssen hiersehr eng mit anderen Ressorts zusammenarbeiten, umerfolgreich zu sein.Ich hoffe – davon gehe ich aus –, dass wir mit unserererfolgreichen Entwicklungspolitik ganz entspannt in denWahlkampf gehen können. Wir können vor den Steuer-zahler treten und sagen: Wir haben die Gelder zielge-richtet, nachhaltig und sorgfältig eingesetzt.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Niebel, Sie stehen für schrumpfende Entwick-lungsausgaben, für die Instrumentalisierung staatlicherEntwicklungshilfe, für deutsche Wirtschaftsinteressenund die Unterstützung von Freihandelsabkommen, diedie Existenzgrundlagen vieler Menschen in den Länderndes Südens zerstören, und die Militarisierung von Ent-wicklungszusammenarbeit. Sie stehen damit für einePolitik, die Entwicklung verhindert, teilweise sogar ge-fährdet, und nicht fördert.
Wenn man sich die Kurzfassung Ihres Weißbuchs zurEntwicklungspolitik anschaut, stößt man schon auf derzweiten Seite auf Afghanistan und die Bundeswehr. Ge-nau dort haben wir die Tragweite der Politik, die Sie vo-rantreiben, der zivil-militärischen Zusammenarbeit miteiner enormen Gefährdung der lokalen Hilfskräfte vorOrt und der Bevölkerung, erlebt. Afghanistan ist aus denMedien verschwunden; aber die Situation ist dort nichtbesser geworden. In Afghanistan wird weiterhin ge-kämpft und gestorben. Die Entwicklung ist katastrophal,auch die Sicherheitssituation. Wir haben jetzt das Pro-blem, Herr Niebel, dass viele lokale Kräfte, die mit derBundeswehr zusammengearbeitet haben, gefährdet sindund sogar in den Mitgliedstaaten der NATO Asylanträgestellen, weil ihre Sicherheit nicht garantiert werdenkann. Das zeigt doch, dass Sie hier völlig auf dem Holz-weg sind und dass Sie eine entwicklungsgefährdendePolitik in Afghanistan betreiben.
Genau diese vernetzte Sicherheit soll weiter vorangetrie-ben werden. Sie haben eine Kooperationsvereinbarungzwischen der GIZ und dem Verteidigungsministeriumabgeschlossen.Sie setzen sich auch für eine enge Kooperation derBundeswehr mit den Entwicklungsorganisationen in fra-gilen Staaten ein, das heißt, Sie wollen weiter die Milita-risierung vorantreiben, anstatt zu entmilitarisieren. Wenneines gilt, dann doch das: Fragile Staaten brauchen nichtnoch weitere militärische Konzepte. Wir brauchen Ent-militarisierung, sodass wir die Ursachen für Destabilisie-rung bekämpfen können. Aber in dieser Hinsicht kommtvon Ihnen gar nichts. Sie destabilisieren die Regionen,anstatt die Entwicklung in diesen Regionen zu fördern.
Zur Finanzierung. Ich möchte in Erinnerung rufen– das wurde hier schon breit debattiert –, dass Sie ganzexklusiv der Minister waren, der sich bis zum Schlussgegen jegliche neue Ansätze im Bereich Entwicklungs-finanzierung gewehrt hat. An erster Stelle ist die Finanz-transaktionsteuer zu nennen. Sie waren der erbittertsteGegner, eine Finanzierung für die weltweite Bekämp-fung der Armut zu ermöglichen. Deshalb sind Sie auchkein Entwicklungsminister, sondern ein Verhinderungs-minister.
In Ihrem Weißbuch ist sehr viel von ländlicher Ent-wicklung die Rede. Wir haben in den letzten Wocheneine Diskussion über den Abschluss von Freihandelsab-kommen mit Lateinamerika geführt. Sie und Ihr Ministe-rium haben den Freihandelsabkommen massiv das Wortgeredet. Ich frage mich, wie Sie der Öffentlichkeit erklä-ren wollen, dass Sie solche Abkommen vorantreiben, diedie Existenzgrundlagen gerade von Kleinbauern undKleinbäuerinnen in ländlichen Regionen – die Sie ja ei-gentlich fördern wollen – massiv gefährden, weil sienicht mit den billigen Produkten aus der EuropäischenUnion konkurrieren können. Damit zerstören Sie bisherfunktionierende Strukturen, für deren Reparatur SieSteuergelder ausgeben müssen, dabei könnten die Mittelfür Entwicklungshilfe anders eingesetzt werden. Das istein völlig verquerer Ansatz. Wir müssen verhindern,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29975
Heike Hänsel
(C)
(B)
dass vorhandene Entwicklungsfortschritte zerstört wer-den. Deshalb brauchen wir keine Freihandelsabkommen,sondern solidarische Wirtschaftspartnerschaftsabkom-men.
Das hat der ecuadorianische Präsident Correa bei sei-nem Besuch in Deutschland übrigens sehr eindrücklichvermittelt. Er setzt sich dafür ein, dass wir gerechte Han-delsbeziehungen aufbauen, damit die Länder des SüdensWertschöpfungsketten aufbauen und sich unabhängigmachen können. Unser Ziel muss es sein, dass Entwick-lungszusammenarbeit überflüssig wird, aber Sie verstär-ken die Abhängigkeiten.Herr Niebel, Sie stehen ganz klar für den verlängertenArm des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Siehaben sich die Rohstoffpolitik auf die Fahnen geschrie-ben. Sie wollen die Entwicklungszusammenarbeit undden Zugang zu Rohstoffen verstärkt verzahnen. Dafürhaben Sie die entsprechende Infrastruktur geschaffen. Esgibt eine Rohstoff-Taskforce zur Rohstoffversorgung derdeutschen Industrie. Wir haben jetzt eine Rohstoffson-derbeauftragte; herzlichen Glückwunsch, Frau Kopp!Ich frage mich: Wieso haben wir keine Sonderbeauf-tragte für die Bekämpfung von Nahrungsmittelspekula-tion? Warum haben wir keine Sonderbeauftragte für dieKontrolle der Einhaltung von Arbeits- und ökologischenStandards von deutschen und europäischen Unterneh-men in den Ländern des Südens?
Das wäre eine wichtige Funktion für das Ministerium.Wir brauchen keine Sonderbeauftragte für deutscheRohstoffinteressen.
In Ihrem Weißbuch finden sich keinerlei Strategiendazu, wie Sie zum Beispiel die Kapitalflucht aus denLändern des Südens – eines der größten Probleme – be-kämpfen wollen. Sie vertreten ganz klar einen überhol-ten, neoliberalen wirtschaftspolitischen Ansatz, der mitt-lerweile auch auf internationaler Ebene heftig kritisiertwird.Es gibt ein neues Manifest „Handeln Jetzt“ von welt-weit führenden Wirtschaftswissenschaftlern, das besagt:Dieses neoliberale Konzept ist überholt. Das sehen wiran Europa. Das gilt erst recht für die Länder des Südens.Wir brauchen solidarische Wirtschaftsbeziehungen, dieArmutsbekämpfung ermöglichen und die letztendlich zueiner Unabhängigkeit der Länder des Südens führen.Die Linke hat sich viele Gedanken darüber gemacht,dass wir neue Ansätze brauchen. Die Frage ist: Wie kön-nen wir den Weg zu neuen solidarischen Beziehungenbeschreiten?Wir haben mit sozialen Bewegungen aus den Länderndes Südens Leitlinien erarbeitet, die wir im Juni vorstel-len wollen. Wir laden alle sehr herzlich ein, mit uns da-rüber zu diskutieren – natürlich auch Sie, Herr Niebel.Da können Sie sicher noch einiges lernen.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Ute Koczy.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mehrheitlich eine Nabelschau, ist diesesWeißbuch viel zu selbstbezogen. Das Allerschlimmste:Es fehlt der Wille, das Steuer für mehr globale Gerech-tigkeit, für einen sozialen und ökologischen Umbau derWeltgesellschaft herumzureißen. Dafür wären tiefgrei-fende Veränderungen von Infrastrukturen, Produktions-prozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen von-nöten. Doch davon ist in diesem Weißbuch keine Rede.
Dabei sind dies die zentralen Punkte für eine Ent-wicklungspolitik der Zukunft. Doch es ist anders. DasWeißbuch ist ein Augenöffner. Selten klaffen Selbstdar-stellung und Wirklichkeit so weit auseinander wie beidiesem Bericht zur Entwicklungspolitik.Jan Garvert hat es für tagesschau.de auf den Punktgebracht: Auf ihrer Pressekonferenz haben Sie, HerrNiebel, nicht wie ein Entwicklungsminister gesprochen,sondern wie der Vorstandsvorsitzender eines DAX-Un-ternehmens, das Bilanz zieht. Mehr Effizienz, bessereStrukturen, Weltmarktführer, „win-win“ und mehr Geldfür die deutsche Wirtschaft durch jeden eingesetztenEuro: Sie sprechen Business, wo es doch um zentraleBelange von Menschen und um die Bekämpfung unge-rechter Strukturen geht. Sie haben den Auftrag einesEntwicklungsministers falsch verstanden.
Sie haben Entwicklungspolitik für liberale Interesseninstrumentalisiert und wollen uns das als neue Ehrlich-keit verkaufen. Das nimmt Ihnen hier keiner ab.
Herr Minister, ich gebe zu, tatsächlich hatten Sie kei-nen guten Start. Sie haben medial viel einstecken müs-sen, vor allem deshalb, weil Sie mit Entwicklungspolitiknichts am Hut hatten. Ich erkenne an, dass Sie sich enga-giert in die Arbeit eines Ministers gestürzt und sich ein-gearbeitet haben. Dennoch lautet das Fazit heute: DasExperiment „Generalsekretär Dirk Niebel wird Entwick-lungsminister“ ist gescheitert.
Sie haben sich als Nebenaußenminister versucht,dann als Vizeverteidigungsminister und zuletzt als Chef-
Metadaten/Kopzeile:
29976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Ute Koczy
(C)
(B)
lobbyist des deutschen Mittelstands. Süffisant haben Siegegen Partner in der Entwicklungsarbeit ausgeteilt, dieseals Alpakapulloverträger lächerlich gemacht, ihr Hausmit Begriffen wie Hirseschüsselministerium und Weltso-zialamt herabgesetzt. Noch nie war das Verhältnis zwi-schen den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen und der Füh-rung im BMZ so schlecht.
Sie hatten von Anfang an das Ziel, möglichst vieleFDP-Parteibuddys in das BMZ einzuschleusen. DasPrinzip der Einstellung nach Eignung, Leistung und Be-fähigung wurde im Ministerium mit Füßen getreten. In-haltlich arbeitende Referate blieben ausgedünnt, über-flüssige Abteilungen wurden geschaffen und dann auchnoch aufgebläht.Ich hätte mich im Rahmen einer entwicklungspoliti-schen Debatte gerne auf Kernthemen konzentriert. Abermir bleibt nur der Weg, die falschen Aussagen, mit de-nen Herr Minister Niebel hausieren geht, zu entlarven.Fünf Punkte:Erstens. Geschlechtergerechtigkeit: Mehr als zweiDrittel der weltweit extrem Armen sind Frauen undMädchen. Was haben Sie gemacht, um das zu ändern?Sie haben eher das Gegenteil bewirkt. Eine nur bis 2010existierende Vorgabe im BMZ-Haushalt, welche die Mit-tel für Gender Mainstreaming und Frauenförderung inder deutschen EZ festlegte, haben Sie abgeschafft. DerGender-Aktionsplan für die Entwicklungspolitik ist ab-gelaufen, die Neuauflage verschleppt.Zweitens. Die Fusion der Durchführungsorganisatio-nen: So, wie Sie das darstellen, stimmt das nicht. Sie ha-ben die kleine Lösung gewählt. Den Kern des Problems– die Zweiteilung von Technischer und Finanzieller Zu-sammenarbeit – haben Sie nicht angepackt. Sie trauensich noch nicht einmal, das Problem in den Mund zunehmen. Sie ignorieren es. Sie haben bei dieser kleinenFusion die Bildungs- und Arbeitsstrukturen von InWEntund DED überrollt. Das wird uns noch lange negativ be-schäftigen.
Jetzt haben wir die GIZ als Monopolisten, den Sie aufpures Wachstum trimmen und zum Weltmarktführer auf-bauschen. Versäumt wurde, dem Ganzen eine entwick-lungspolitische Dimension zu geben.Drittens. Wirtschaftliche Zusammenarbeit: HerrMinister, es gibt keinen Grund, hier große Töne zu spu-cken. Es ist nicht verkehrt, mehr Wirtschaft und mehrUnternehmen in die Länder bzw. Regionen zu bringen,um mehr Einkommen und Beschäftigung zu schaffen.Verkehrt ist, so zu tun, als ob das nicht schon lange vorIhrer Zeit stattgefunden hätte. Noch verkehrter ist es, dasmit viel Gewese als Erfolgsstory zu verkaufen. Die Er-gebnisse belegen doch, dass Sie nicht viel mehr als IhreVorgängerin geschafft haben.
Gemessen an dem, was Sie angekündigt haben, fallenSie sogar hinter sie zurück.
Viertens. Sie sagen, Sie hätten die Abstimmung zwi-schen den Ministerien verbessert. Bei der humanitärenHilfe haben Sie sich auf einen Kuhhandel eingelassen.Gestern noch rühmten Sie sich der Verzahnung von Au-ßenwirtschaftsförderung und Entwicklungszusammenar-beit. Dafür opfern Sie Werte und Anliegen der Entwick-lungspolitik. Das Thema Menschenrechte taucht dochnur auf, wenn es sich um kleinere, schwächere Länderhandelt. Wo ist das Thema, wenn es um China geht? Wobleibt Ihre Kritik daran, dass die Bundesregierung denExport von Rüstungsgütern, zum Beispiel von Panzern,nach Saudi-Arabien und Katar erlaubt? Wenn Sie alsEntwicklungsminister für eine globale friedliche Ent-wicklung eintreten müssten, verschließen Sie die Augen.Wir haben eine bilaterale Rohstoffpartnerschaft mit Ka-sachstan, der Mongolei und Chile. Dabei werden Men-schenrechte verletzt, Bürgerrechte übergangen, und aufEU-Ebene werden auch von dieser Regierung Transpa-renzinitiativen hintergangen.Letzter Punkt, fünftens. Ökologische und strukturelleGefahren stellen einen gravierenden Einschnitt in dieLebenswirklichkeit der Menschen, vor allem in Afrika,dar. Für Sie ist das aber kein Grund, hier in DeutschlandVeränderungen einzufordern. Diese Regierung sieht sichnicht in der Lage, sich kritisch gegen den wahnsinnigenWachstumstrend der Weltgemeinschaft aufzustellen. Siebefeuern das Falsche, anstatt die Auswirkungen der ka-tastrophalen Politik eines Immer-Mehr an den Prangerzu stellen. Dabei müssten Sie sich als Entwicklungs-minister für gerechte Strukturen, faire Handelsbeziehun-gen und die Rechte der Menschen einsetzen, für all die,die eine Stimme gegen die Politik der Mächtigen brau-chen. Sie, Herr Minister, stehen auf der falschen Seite.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dr. Christiane Ratjen-Damerau.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrteKollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren!Es ist schon sehr beschämend, wie sich die Oppositionan diesem Thema abarbeitet. Das ist insbesondere denPartnerländern in der EZ unwürdig. Anstatt hier eigeneKonzepte vorzulegen und die Dinge konstruktiv anzuge-hen, arbeiten Sie sich nur an dem Minister ab.
– Vom Weißbuch habe ich hier nichts gehört.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29977
Dr. Christiane Ratjen-Damerau
(C)
(B)
Die FDP im Deutschen Bundestag steht für eine effi-ziente Entwicklungspolitik, die gleichermaßen werte-und interessengeleitet ist,
für eine Politik, die darauf setzt, die Potenziale der Men-schen in den Entwicklungsländern zu fördern, die sie indie Lage versetzt, sich selbst zu helfen, ohne sie zu be-vormunden.
Wir wollen keine neuen Abhängigkeiten schaffen,sondern durch eine auf die einzelnen Entwicklungslän-der zugeschnittene Politik Freiräume für eigene Ent-wicklungsperspektiven eröffnen. Eine Entwicklungs-politik mit liberaler Handschrift erkennt an, dassGrundvoraussetzung für eine Entwicklung, von der dieBevölkerung profitiert, die Einhaltung von Menschen-rechten sowie von rechtsstaatlichen und demokratischenPrinzipien ist.
Deshalb treten wir dafür ein, dass grundlegende Men-schen- und Bürgerrechte wie Presse- und Meinungsfrei-heit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie dasRecht auf ein Leben ohne Diskriminierung in den Ent-wicklungsländern geachtet werden. Daran richten wirunsere Entwicklungszusammenarbeit aus.
Das heute diskutierte Weißbuch ist eine Bilanz derEntwicklungspolitik der Bundesregierung und der Koali-tion.
Es zeigt uns an, ob wir den Kampf gegen Hunger undKrankheit erfolgreich führen, und es zeigt uns, ob wirdie richtigen Mittel und die richtigen Strategien für dieÄrmsten in dieser Welt einsetzen.Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit in denletzten vier Jahren neu ausgerichtet. Durch einen tief-greifenden strukturellen Umbau hat die deutsche Ent-wicklungszusammenarbeit an Effizienz gewonnen, ihreWirksamkeit gesteigert und ihre Sichtbarkeit erhöht.Aufgrund der Stärkung der deutschen Zivilgesellschaftin der Entwicklungszusammenarbeit und aufgrund derIntensivierung des entwicklungspolitischen Dialogs en-gagieren sich heute mehr Menschen denn je in der Ent-wicklungsarbeit. Sie leisten im Rahmen ihres bürger-schaftlichen Engagements wertvolle Arbeit.
Die Entwicklung der Wirtschaft ist nicht alles – da hatdie Opposition sicherlich recht –, weder in Deutschlandnoch im Rest der Welt. Aber ohne die Entwicklung derWirtschaft ist alles nichts. Uns ist es gelungen, die deut-sche Wirtschaft und die Unternehmer gezielt in die deut-sche Entwicklungsarbeit einzubeziehen. Wir fördern undwollen mehr Wirtschaft und mehr Arbeitsplätze, um da-mit die Zukunftsperspektiven in den Entwicklungslän-dern zu verbessern.Die europäischen und internationalen Partner sinddem deutschen Beispiel der neuausgerichteten Entwick-lungspolitik in den vergangenen Jahren gefolgt. Wir sindmit unseren strengeren Maßstäben bei der Vergabe vonBudgethilfe und einer kohärenteren Entwicklungszu-sammenarbeit Vorreiter und Ideengeber. Deutschland hatsein entwicklungspolitisches Engagement in den fragilenStaaten ausgebaut. Wir haben ressortübergreifende Leit-linien zum Umgang mit fragilen Staaten entwickelt. Da-bei helfen wir, Konflikte frühzeitig zu vermeiden. DennEntwicklungspolitik ist die effizienteste Friedenspolitik,und das weltweit.
Wir haben die strategischen Schlüsselsektoren füreine zukunftsfähige Entwicklung erkannt, priorisiert undgestärkt. Damit ist es uns gelungen, unsere Ziele engerzu verknüpfen und unsere Arbeit neu auszurichten.Durch unsere Politik – so hat der Minister es eben schongesagt – gab es in der Entwicklungsarbeit vier sehr guteJahre.
Dies haben wir auch aufgrund der guten Zusammen-arbeit in der Koalition und mit dem Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung er-reicht. Unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, hatuns Entwicklungspolitikern stets den Rücken gestärktund uns ermutigt, für die Zusagen Deutschlands weitereinzutreten.
Unser Minister Dirk Niebel hat mit seinem Team frischeIdeen und neue und richtige Ansätze im Bundesministe-rium umgesetzt und mehr erreicht als jemals ein Ministervor ihm.
Mit meiner Kollegin Sibylle Pfeiffer wie auch mitvielen anderen Kollegen aus der Koalition im Ausschussfür wirtschaftliche Zusammenarbeit gab es eine sehrenge, sehr vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit.Bei Ihnen allen bedanke ich mich ganz herzlich dafür,dass wir gemeinsam erfolgreich in der Entwicklungspo-litik zusammengearbeitet haben.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
29978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
(C)
(B)
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Dr. Bärbel Kofler.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Nach diesem Werbeblock zurück zur Realität. HerrMinister, Sie haben hier heute Ihren Schlussbericht vor-gelegt. Er beweist wieder einmal das diffuse Verhältnis,das Sie zur Entwicklungspolitik haben. Sie suggerierenin diesem Schlussbericht, Sie hätten das Rad neu erfun-den, die gesamte Entwicklungspolitik neu aufgestellt.Nichts davon ist wahr. Sie haben in all den vier Jahren,in denen Sie tätig waren, eigentlich nichts anderes getan,als dieses Politikfeld zu diffamieren und damit dieHauptamtlichen in den Durchführungsorganisationen,die Hauptamtlichen in Nichtregierungsorganisationenund insbesondere ehrenamtlich engagierte Bürgerinnenund Bürger vor den Kopf gestoßen.
Mit den Zitaten von Ihnen könnte ich eigentlichmeine ganze Redezeit bestreiten. Die Bezeichnung„Weltsozialamt“ ist bereits angesprochen worden. Damithaben Sie Ihr eigenes Ministerium diffamiert. Sie spre-chen solch schöne Sätze wie den folgenden aus: Tanz-therapie zur Traumabewältigung braucht man nichtmehr. Solche Aussagen zeigen, dass Sie von Konfliktbe-arbeitung, von Friedensarbeit keinen blassen Schimmerhaben.
Die Menschen, die sich in diesem Land ehrenamtlichengagieren, für internationale Zusammenarbeit und Soli-darität stehen, mit Bürgern darüber diskutieren und dieseGedanken weiterbringen, diffamieren Sie, indem Sie sa-gen, sie würden in einer „politischen Kuschelecke“ le-ben – dieses Zitat ist von Ihnen, Herr Niebel – und sichmit dem Stricken von Alpakapullovern beschäftigen. Sokann man doch mit Menschen, die sich in der Entwick-lungszusammenarbeit engagieren und wirklich Armutbekämpfen wollen, nicht umgehen.
Dies zeigt nur eines: Sie haben nicht begriffen, was inder Entwicklungspolitik wirklich geleistet wird, was vonden Menschen geleistet wird. All das, dessen Sie sich inIhrem Schlussbericht so rühmen, ist eigentlich das Er-gebnis der Arbeit und Leistungen all dieser Menschen.Das hat mit Ihrer Politik Gott sei Dank nichts zu tun.
Wenn man sich den Bericht genauer anschaut, findetman dort nichts besonders Neues. Sie tun ja immer so,als hätten Sie das Rad neu erfunden. Nein, das Rad gibtes schon über Jahrtausende. Sie mussten es nicht neu er-finden. Im 12. und im 13. entwicklungspolitischen Be-richt – diese sind von 2005 und 2008 – kann man lesen,dass Effizienz in der Zusammenarbeit ein wichtigesThema ist. Ja selbstverständlich ist das so. Niemandsagt, dass man nicht auf Wirksamkeit und Effizienz ach-ten muss. Liebe Kollegin Pfeiffer – Sie sind schon solange in diesem Ressort tätig –, wenn Sie behaupten, die-ser Gedanke sei in Ihrer Regierungszeit neu entstanden,muss ich Ihnen wirklich sagen: Über Ihr Gedächtnismöchte ich mich an dieser Stelle nicht auslassen.Denken Sie nur an den Monterrey-Konsens 2002, dieParis-Agenda und die Ergebnisse der Konferenzen vonAccra und Busan. Um was ging es denn da? Um dieWirksamkeit in der internationalen Zusammenarbeit undum die Frage, wie wir die Mittel, die wir zur Verfügunghaben, zum Schutze der Armen und zur Hilfe für die Ar-men in der Welt besser einsetzen können. Darum musses in Zukunft gehen, und darum wurde auch bisher im-mer gerungen. Im besten Fall könnte man sagen, Siestünden in dieser Kontinuität, wenn Sie wirklich neueAkzente gesetzt oder einen ordentlichen Beitrag geleistethätten. Wirksamkeit ist aber keine Niebel’sche Erfin-dung. Wirksamkeit ist ein Thema, an dem die Entwick-lungspolitiker kontinuierlich gearbeitet haben und arbei-ten müssen.
Warum machen Sie das Ganze? Das ist eine reine Ver-schleierungstaktik. Sie haben keine ausreichenden Mittelzur Verfügung gestellt und internationale Vereinbarun-gen nicht eingehalten. Im Endeffekt – wenn Sie ganzehrlich sind, müssen Sie das zugeben – haben Sie dasgrößte nicht wirksame Bürokratiemonster in Ihren Ko-alitionsvertrag geschrieben. Kein Mensch redet von ei-ner Ein-Drittel/Zwei-Drittel-Aufteilung in bilaterale undmultilaterale Mittel. Es muss doch um Wirksamkeit imSinne der Armutsbekämpfung gehen. Es darf aber nichtdarum gehen, ob es sich um nationale oder internationaleTöpfe handelt.
Sie diffamieren Organisationen wie den Global Fund– das haben Sie auch letzte Woche in Ihrer Regierungs-erklärung getan –, der sich wirklich große Verdienste er-worben hat, wenn es um die Bekämpfung von Aids, Tu-berkulose und Malaria geht. Sie stellen sich wiedereinmal als Chefaufklärer dar und tun so, als hätten Siealle möglichen Verfehlungen entdeckt und diese abge-stellt. Gar nichts haben Sie in diesem Bereich getan. DieOrganisation selbst hat durch effiziente und gute Eigen-kontrolle Probleme in Partnerländern aufgedeckt. Sie ha-ben das als Vorwand benutzt, um Mittelkürzungen, dieSie schon ein Jahr zuvor umsetzen wollten, nachträglichzu rechtfertigen. So erreicht man bestimmt nicht mehrZusammenarbeit und mehr Effizienz in der internationa-len Entwicklungspolitik.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29979
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
Die Haushaltsmittel sind schon angesprochen wor-den. Sie müssen sich auch daran messen lassen, was Siein Ihrem „tollen“ Weißbuch geschrieben haben. In derKurzfassung heißt es auf Seite 8, dass die Bundesregie-rung weiterhin anstrebt, einen Anteil der öffentlichenEntwicklungszusammenarbeit am BNE in Höhe von0,7 Prozent bis 2015 zu erreichen. Hier sind Sie gefor-dert. Sie müssen sagen, wie Sie das mit Blick auf dieverbleibenden Haushalte schaffen wollen. Genau dieserVerantwortung stellen Sie sich aber nicht.
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Opposition, wenndas Ziel von 0,7 Prozent bis 2015 erreicht werden sollte,sagen würde: Alles ist gut. – Aber es ist ein wichtigerBaustein, Mittel aufzubringen, um die Armut wirklichnachhaltig bekämpfen zu können. Das tun Sie aber nicht.Die Kanzlerin hat versprochen, bis 2015 einen Anteilvon 0,7 Prozent zu erreichen. Man kann fast sagen: DieKanzlerin verspricht, der Minister bricht. – Wer an demGanzen schuld ist, ob die Kanzlerin das insgeheim viel-leicht sogar so wollte oder ob Sie Ihrer Regierungschefinauf der Nase herumtanzen, bleibt dem geneigten Be-obachter und der Spekulation überlassen. Aber verant-wortliches Regierungshandeln ist das an dieser Stellenicht.
Schauen wir uns einmal die Schlüsselsektoren, die Sieauflisten, an; auch hier tun Sie so, als hätten Sie die Weltneu erfunden. Ich greife ein Thema heraus: das Klima.Da gab es über zehn Jahre hinweg viele gute Ansätze.Ich erinnere nur an die Klimakonferenz in Johannesburgund daran, dass bereits vor acht Jahren festgestelltwurde, dass wir 100 Millionen Euro für die Förderungerneuerbarer Energien in Entwicklungsländern zur Ver-fügung stellen. Das ist ein Bereich, in dem wir noch we-sentlich mehr tun müssen. Energiearmut ist nämlich, wasdie nachhaltige Entwicklung betrifft, in vielen Ländernein sehr großer Hemmschuh. Aber Sie erfinden das Radnicht neu. Wenn man sich genau anschaut, was Sie tun,dann muss man feststellen: unterm Strich nichts.
Sie lassen ganze Themenblöcke, bei denen man einenwirklichen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung leistenkönnte, außen vor. Das Hohelied der Wirtschaft singenSie ja immer und überall gerne. Was Sie in diesem Zu-sammenhang aber nicht singen, ist das Hohelied dermenschenwürdigen Arbeit. Ich habe von Ihnen nochnicht ein einziges Mal auch nur einen Satz dazu gehört,wie wirtschaftliche Aktivitäten in menschenwürdige Ar-beit umgesetzt werden sollten, um zur Entwicklung tra-gender, nachhaltiger Sozialstrukturen und -systeme bei-zutragen. Das würde übrigens nicht nur den Menschen inden Entwicklungsländern helfen, sondern auch denMenschen in Deutschland, die immer wieder von So-zialdumping und ausbeuterischen Bedingungen bedrohtsind, Herr Niebel.
Man kann eines feststellen: Die Themen, die wirklichzur nachhaltigen Armutsbekämpfung beitragen, sind– das sagt auch die ILO, die Internationale Arbeitsorga-nisation –: menschenwürdige Arbeit, soziale Sicherungund Basisschutz. Diese Themen interessieren Sie abernicht, Herr Niebel. Warum wohl? Weil wir Sozialdemo-kraten das Thema soziale Sicherheit bereits in der letztenLegislaturperiode als ganz zentrales Thema behandelthaben. Dass Sie sich dafür nicht interessieren, ist ein gu-ter Grund dafür, dass das, was wir heute hier von Ihnengehört haben, Ihre Schlussbilanz war. Das ist sehr gut so,Herr Niebel.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Christian Ruck das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach 23 Jahren als Mitglied im Entwicklungsausschussgehe ich davon aus, dass ich jetzt meine letzte entwick-lungspolitische Rede halten werde.
– Ja, das finde ich auch schade. – Deswegen habe ichauch in den sieben Minuten meiner Redezeit keine Zeitund keine Lust, mich mit dem kleinkarierten oppositio-nellen Unsinn zu beschäftigen.
Ich möchte die Zeit für ein Resümee, das auch mitdem Weißbuch zu tun hat, nutzen.
Im Weißbuch steht wirklich viel, das man abarbeitenkann. Man muss nicht mit allem einverstanden sein; esenthält aber wichtige strategische Hinweise. Für die Ha-benseite in diesen Jahren möchte ich feststellen: Wirkönnen nicht nur eine erhebliche Steigerung der Mittelfür die Entwicklungspolitik,
sondern vor allem auch einen erheblichen Bedeutungs-gewinn für die Entwicklungspolitik verzeichnen. Das istfür mich etwas sehr Positives.
Die Entwicklungspolitik ist zu einem strategischenSchlüsselbereich in einer globalisierten Welt geworden.Die Aufgaben, die dieser Schlüsselbereich mit sich
Metadaten/Kopzeile:
29980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Christian Ruck
(C)
(B)
bringt, dienen auch unserer Sicherheit, unserer Wirt-schaft und der Stellung Deutschlands in der Welt.
– Das ist kein Widerspruch; genau.
Wir haben viel erreicht; das muss man in der Öffent-lichkeit auch immer wieder sagen. Wir haben in den Be-reichen Alphabetisierung, Gesundheit und Armutsbe-kämpfung viel erreicht. Aber – das ist auch wahr –: Wirbrauchen mehr Finanzmittel. Die Probleme sind nämlichteilweise schneller gewachsen als die Lösungen. Zu denProblemen gehören der Umweltbereich, zerfallendeStaaten, Bürgerkriege, Wildwestausbeutung und vielesmehr. Die Welt ist komplizierter geworden.Es gibt aber auch neue Geber. Ich glaube, dass diedeutsche Entwicklungspolitik die neuen Rahmenbedin-gungen und Probleme gerade auch in den letzten Jahrenadressiert hat. So haben wir mit einer Erhöhung der Fi-nanzmittel und der Effizienz reagiert. Effizienz ist nichtsTechnokratisches. Es heißt nicht bloß: Wie setzt man dasGeld um? Es heißt vielmehr, dass man sich bemüht, ausjedem zur Verfügung stehenden Euro für die Menschenso viel wie möglich herauszuholen. Das bedeutet Effi-zienz, und diese Art der Effizienz ist völlig richtig.
Wir haben uns stärker auf Schlüsselthemen fokus-siert. Wir legen auch stärkeren Wert auf Koordinierung,Arbeitsteilung und Kohärenz. Ich sage es noch einmal:Gerade in den letzten vier Jahren haben wir in diesen Be-reichen große Fortschritte erzielt. Die Vorfeldreform istein gewaltiger Schritt gewesen. Daran haben wir uns imVorfeld wirklich die Zähne ausgebissen. Ich möchte Ih-nen nichts vorrechnen. Es war aber ein gewaltigerSchritt nach vorn, und das ist positiv.
Wir haben einen personellen Aufwuchs zu verzeich-nen; auch dafür haben wir gekämpft, und auch das istpositiv. Wir haben neue Spielräume in der finanziellenZusammenarbeit geschaffen; das ist allerdings bisherkaum gewürdigt worden. Es handelt sich dabei aber umMilliardenbeträge, die positiv zu Buche schlagen. Au-ßerdem, meine lieben Kollegen von der Sozialdemokra-tie, haben wir bewährte Dinge, die früher eingeführtworden sind, fortgeführt. Das verschweigt doch keiner.
Ich spreche vom Projekt „weltwärts“ und von der ver-netzten Sicherheit.Ich möchte im Hinblick auf die Zukunft der Entwick-lungszusammenarbeit ein paar Punkte aus meinem Er-fahrungsschatz der letzten 23 Jahre ansprechen.Erstens. Das Entscheidende ist für mich der Wille zurguten Regierungsführung.
Dieser Wille zur guten Regierungsführung ist oft eineFrage der Gunst der Stunde. Es ist gut, wenn wir aufdiese Gunst der Stunde schneller reagieren können, in-dem wir mehr Flexibilität schaffen, zum Beispiel indemwir unsere Stiftungen besser ausstatten und indem wirauch unser Instrumentarium besser darauf einstellen,solche Gunst der Stunde zu nutzen.Zweitens. Es wäre ein schwerer Fehler, bei schlechterRegierungsführung, bei fragilen Staaten, bei offensicht-lich geringer Effizienz einfach wegzuschauen, dies zuignorieren oder diese Staaten als hoffnungslos abzutun.Das Gegenteil ist vielmehr angebracht: Wir müssen auchin diesen Fällen an den Baustellen weiterarbeiten. Wirmüssen auch – den Einstieg haben wir geschafft – die In-strumente zur Unterstützung fragiler Staaten verbessernund neue Dinge ausprobieren. Wir dürfen auch die Men-schen in Simbabwe, in Nordkorea und anderswo nichtalleinlassen, sondern müssen mit anderen Instrumentenversuchen, für bessere Zeiten vorzubauen.
In diesem Zusammenhang kann es – drittens – nichtfalsch sein, wenn wir für Bildung und Ausbildung allestun, was wir können; denn das ist die beste Investition ineine bessere Zukunft.
Viertens. Zu Kooperationen mit der Wirtschaft kamheute auf der linken Seite wieder Unsägliches zutage.All denen auf der linken Seite, die offensichtlich ein ver-klemmtes Verhältnis zur Wirtschaft haben,
sage ich: Unser Leitbild ist die soziale Marktwirtschaftund nicht ein marktwirtschaftlicher Kapitalismus.
Die Vorstellungen der christlich-liberalen Koalition zursozialen Marktwirtschaft schließen natürlich das Sozialemit ein, und dafür stehen wir. Ich sage auch: Es gibt fürkein Entwicklungsland eine Entwicklung ohne Wachs-tum. Zu glauben, dass es Entwicklung ohne Wachstumgäbe, ist völliger Schwachsinn.
Mir sind Investitionen deutscher Unternehmen imKongo wesentlich lieber als Investitionen anderer Län-der.
Ich habe nämlich eine hohe Meinung von deutschen Un-ternehmen und von den mit deutschen Investitionen ver-bundenen ethischen und sozialen Standards.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29981
Dr. Christian Ruck
(C)
(B)
Fünfter Punkt: Schutz der Umwelt und der natürli-chen Ressourcen. Ich kann nicht verhehlen, dass ich be-sonders stolz bin auf das, was im Bereich Erhaltung derSchöpfung gelungen ist. Ich rufe alle hier auf – von wel-cher Partei auch immer –, diesen Schatz zu hüten.
Herr Kollege Ruck, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hänsel von der Linken?
Also gut, weil das heute meine letzte Rede zur Ent-
wicklungspolitik ist. – Stellen Sie am besten eine Frage,
die meine Redezeit substanziell verlängert.
Ja, Herr Ruck: Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, Ihre
guten Ideen noch etwas länger zu verbreiten.
Herr Ruck, Sie sprachen von wirtschaftlichem
Wachstum in den Ländern des Südens. Da kann ich Ih-
nen sagen: Das ist auch ein Anliegen der Linken.
Die Frage ist nur: Wer betreibt denn die Wertschöpfung,
und wie kommen wir dazu, dass die Hauptwertschöp-
fung in den Ländern des Südens verbleibt? Bisher ist es
nach wie vor so, dass die Länder des Südens vor allem
Rohstofflieferanten sind und der größte Profit durch die
Verarbeitung in den Industriestaaten gemacht wird, die
den Ländern des Südens die hochverarbeiteten Produkte
für teures Geld wieder verkaufen.
Das ist pure profitorientierte Marktwirtschaft, die durch
die Freihandelsabkommen verstärkt wird. Deshalb sind
wir gegen diese Freihandelsabkommen.
Jetzt frage ich Sie: Können Sie mir konkrete Beispiele
nennen, wo in den Ländern des Südens durch Unterstüt-
zung aus Europa, aus Deutschland in großem Maße
Wertschöpfungsketten aufgebaut wurden?
Ein ganz konkretes Beispiel: Bolivien verfügt über große
Lithiumvorkommen. Bolivien würde sehr gerne vor Ort
eine Lithium-verarbeitende Industrie aufbauen,
mit Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen, und Li-
thium-Akkus, die für die Elektromobilität benötigt wer-
den, herstellen. Vertreter Boliviens reisen seit mehreren
Jahren durch Europa. Dennoch gibt es bisher keinen ein-
zigen Investor, der bereit ist, dort zu investieren, und
zwar weil die Profitbedingungen dort nicht gut genug
sind.
Frau Kollegin Hänsel, bitte. Kurz und präzise sollen
die Fragen sein.
Ich wiederhole meine Frage: Können Sie mir Bei-
spiele nennen, wo Wertschöpfungsketten in den Ländern
des Südens aufgebaut wurden?
Liebe Frau Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar fürdiese Frage, weil ich dadurch meine Punkte 7 bis 10 da-ran abarbeiten kann.Eines unserer größten Probleme ist in der Tat dieRohstoffhausse – in jeder Hinsicht: von der Energie biszu Seltenen Erden. Sie stellt uns und natürlich auch dieEntwicklungsländer vor gewaltige Probleme. Die Fra-gen, die Sie intoniert haben, lauten: Wie schafft man es,dass der natürliche Reichtum dieser Länder nicht zumFluch wird? Wie verhindert man es, dass diese Ländernur noch von ihren Rohstoffen leben und es zu Zustän-den wie in Kongo, in Nigeria und anderswo kommt, woes gewaltige soziale und umweltpolitische Verwerfungengibt?Hier sage ich Ihnen eines: Ausschlaggebend sindauch hier wieder die Fähigkeit und der Wille der Ent-wicklungsländer, mit diesen Rohstoffen entwicklungs-orientiert umzugehen, das heißt, Wertschöpfungskettenaufzubauen. Genau hier können wir unsere Expertiseeinbringen, wenn die Staaten es denn wollen.Nehmen Sie zum Beispiel Präsident Correa, den Sievorhin so gelobt haben. Correa geht auch einen schma-len Grat in Bezug auf einen entwicklungsorientiertenUmgang mit diesen Rohstoffen. Dabei können wir ihmmit all den Expertisen, die wir haben, helfen, zum Bei-spiel mit dem Aufbau eines Steuersystems und auch mitdem Aufbau von Weiterverarbeitungsketten, wenn dieRegierung das will und solche Entwicklungen gestattet –Voraussetzung ist: Good Governance.Selbst wenn wir bereit sind, all das zu liefern, brau-chen wir eine internationale Zusammenarbeit. Hiermitsind wir bei den Schwellenländern; diese stellen auch ei-nen wichtigen Faktor dar. Wir müssen nicht mehr da-rüber diskutieren, ob die Schwellenländer zu arm oderzu reich sind, sondern wir müssen gerade gegenüberDrittländern eng mit ihnen zusammenarbeiten – Stich-wort: China. Das gilt insbesondere für den Rohstoffbe-reich.
– Ja, es kommt noch ein Beispiel.
Metadaten/Kopzeile:
29982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Christian Ruck
(C)
(B)
Ein sehr gelungenes Beispiel ist die Zusammenarbeitmit der Provinz San Martín in Peru, in der der KollegeKlein und ich neulich waren.
– Es wurde doch nach einem Beispiel gefragt. – DieseProvinz hat sich durch Good Governance und einen aus-gezeichneten Gouverneur von einer Provinz mit derhöchsten Entwaldungsrate zu einer Vorzeigeprovinz ent-wickelt. Dort werden genau diese Wertschöpfungskettenaufgebaut, und zwar auch mit unserer Entwicklungs-hilfe.Das heißt, es gibt Beispiele, aber es werden immerzwei Seiten benötigt.Sie haben dann noch etwas zu den internationalenAbkommen gesagt. Ich halte es für vollkommen richtig,dass wir bei internationalen Abkommen – vor allem von-seiten der EU; das Neueste ist ja das Freihandelsabkom-men der EU mit Peru und Kolumbien – darauf bestehen,dass soziale und Umweltstandards eingearbeitet werden.Das setzt aber voraus, dass wir in der EU – das wäremein Punkt 9 gewesen: Kohärenz und Koordination –eine ordentliche Arbeitsteilung erreichen.
Diese Arbeitsteilung muss natürlich beinhalten, dassauch wir unsere Werte in die EU einbringen; ich glaube,das werden wir tun. Nur als EU werden wir dann dieVerhandlungsmacht haben, um zum Beispiel auch Min-deststandards für Menschenrechte und Ähnliches durch-zusetzen.
Herr Kollege Ruck, in Anbetracht Ihrer Ankündi-
gung, dass Sie Ihre letzte Rede zur Entwicklungspolitik
halten, bin ich heute natürlich besonders großzügig.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie auch noch eine
Zwischenfrage der Kollegin Pfeiffer zulassen. – Das ist
dann aber die letzte Zwischenfrage, die ich zulassen
kann; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, gut.
Lieber Herr Kollege Ruck, ich komme auf das zu-
rück, was die Kollegin Hänsel gesagt hat. Sie hat ganz
konkret nach den Möglichkeiten der Lithium-Industrie
in Bolivien gefragt. Sie haben in Ihrer allgemeinen Ant-
wort auf die Frage von Kollegin Hänsel ausgeführt, das
habe auch etwas mit guter Regierungsführung zu tun.
Wie schätzen Sie denn die Regierungsführung des boli-
vischen Regierungschefs Evo Morales und somit das In-
teresse von Unternehmen aus der ganzen Welt, dort zu
investieren, ein?
Herr Kollege Ruck, wir können jetzt nicht die Regie-
rungsführung in verschiedenen Ländern bewerten; das
geht jetzt etwas zu weit.
Jawohl.
Ich bitte um eine kurze Antwort.
Jawohl, eine kurze Antwort ist: Die Regierungsfüh-
rung in Bolivien kann ich nur als investitionsfeindlich
bezeichnen.
Das tut mir leid; denn Bolivien hat mir immer sehr am
Herzen gelegen. Auch da gibt es nämlich viel zu tun, um
Schöpfung zu bewahren.
Die Regierungsführung in Bolivien ist vor allem durch
Chaos gekennzeichnet. Das ist eines der größten Investi-
tionshindernisse, die sich die bolivianische Regierung
selbst ins Nest gelegt hat.
Mein letzter Punkt, bevor ich zum Schluss komme,
ist: Internationale Zusammenarbeit – –
Nein, Herr Kollege Ruck. Jetzt müssen Sie wirklich
zum Schluss kommen.
Gut; dann komme ich gleich zum Schluss. – Ich habees immer als sehr wohltuend empfunden, dass wir mitunserer Arbeit sehr selbstkritisch umgehen. Ich möchtemich bei allen Kollegen bedanken, die ich in den letzten23 Jahren erlebt habe, insbesondere aber bei den aktuel-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29983
Dr. Christian Ruck
(C)
(B)
len. Ich habe große Hochachtung vor all den Entwick-lungsexperten, die ich getroffen habe. Ich glaube, wirhaben vieles erreicht. Ich würde mich freuen, wenn esgelänge, den Kontakt mit Ihnen zu halten.Ich wünsche Ihnen allen – in welcher Konstellationauch immer; am besten natürlich in der jetzigen – vielentwicklungspolitischen Erfolg; denn die Menschheitbraucht Sie. In diesem Sinne alles Gute!
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Niema Movassat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrNiebel, Sie haben letzte Woche gesagt: „Wir sind Markt-führer der Entwicklung in der Welt.“ Dieser Satz zeigt,dass Sie nicht begriffen haben, was Entwicklungspolitikbedeutet. Sie frönen dem Marktprinzip, das heißt Kon-kurrenz und Gewinnstreben; aber die globale Entwick-lung lebt vom solidarischen Miteinander. Das Ziel ist es,Armut, Hunger, Krankheiten und Analphabetismus zubesiegen, und zwar gemeinsam, nicht im Wettbewerbgegeneinander.
Um es mit Ihren eigenen Worten zu sagen: Diese Äuße-rung macht Sie nicht gerade zum weltweiten Marktfüh-rer in Sachen Durchblick.Mit dem heute diskutierten Weißbuch zur Entwick-lungspolitik haben Sie wirklich ein Meisterstück an Ar-roganz abgeliefert: 190 Seiten Selbstlob und Selbstherr-lichkeit.Die Fakten sprechen für sich: Obwohl es Deutschlandnach Aussage der Bundesregierung so gut geht wie niezuvor, obwohl Deutschland sich mehrfach dazu ver-pflichtet hat, bis 2015 seine Entwicklungshilfequote auf0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern undobwohl eine Mehrheit der Abgeordneten öffentlich anSie appelliert hat, mehr Mittel für die Entwicklungszu-sammenarbeit bereitzustellen, sinken die deutschen Bei-träge. Im Weißbuch tun Sie so, als ob das 0,7-Prozent-Ziel bis 2015 erreichbar wäre. Das kann nur jemand be-haupten, der weiß, dass er ab der nächsten Legislaturnichts mehr damit zu tun hat.
Sie haben das 0,7-Prozent-Ziel gemeinsam mit derschwarz-gelben Koalition beerdigt, und das ist eineSchande.
Trotzdem feiern Sie sich ständig selbst. Dass Sie IhreBundeswehrmütze ungefragt dem Haus der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland übergeben haben, zeigtIhren Größenwahn. Sie betreiben Niebel-Propagandamit Steuergeldern. Man wird mit Ihren Hochglanzbro-schüren und Selbstdarstellerkonferenzen zugeschüttet.Da muss man fragen, ob es sich dabei nicht auch umGelder handelt, die für die entwicklungspolitische Bil-dungsarbeit bestimmt waren und die Sie jetzt teilweisezweckentfremdet haben.
Bekannt ist auch, dass Sie Veröffentlichungen vonkritischen Nichtregierungsorganisationen, die von IhremMinisterium bezuschusst werden, von Ihren Mitarbeiternunter die Lupe nehmen lassen. Angeblich wollen SieFalschaussagen verhindern. Ich sage Ihnen: Sie wollenunliebsame Inhalte verhindern. Was Sie machen, ist Zen-sur, und das ist ein Skandal.
Aber in Ihrem Weltbild erscheint Kritik ja per se al-bern. Vor Ihnen waren eh alle doof im „Hirseschüsselmi-nisterium“, wie Sie es genannt haben. Ganze Generatio-nen von naiven Schlabberpulli-Idioten – das ist Ihrbescheidener Blick auf die Welt. Damit beleidigen Siealle, die sich jahrelang für die Bekämpfung der weltwei-ten Armut eingesetzt haben. Das ist respektlos.
Das geht nicht spurlos an Ihren Mitarbeitern vorbei. Ineiner gefakten Hausmitteilung Ihres Ministeriums habendie Mitarbeiter Ihre neue Selbstbeschreibung als „Zu-kunftsentwickler. Wir machen Zukunft“ satirisch umge-wandelt in „Zugluftentwickler – Wir machen Heißluft“.Erstens spricht das Bände über die interne Stimmung,und zweitens haben die Mitarbeiter recht.
Als Ihren größten Erfolg feiern Sie, dass Sie die dreiOrganisationen der Technischen Zusammenarbeit zurDeutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenar-beit, GIZ, fusioniert haben. Aber auch dort ist laut einerUmfrage die Mehrheit der Mitarbeiter unzufrieden mitdem Fusionsprozess.Ihre entwicklungspolitische Tätigkeit haben Sie als„vier gute Jahre für Deutschland“ bezeichnet. Tatsäch-lich waren es vier gute Jahre für die deutsche Wirtschaft.Damit haben Sie aber komplett das Thema verfehlt. IhrJob wäre es gewesen, vier gute Jahre für die weltweiteEntwicklung zu gestalten.
Die Daseinsberechtigung Ihres Ministeriums ist dieBekämpfung der globalen Armut, des Hungers, unterdem 1 Milliarde Menschen leiden, und der Krankheiten,weil ein Drittel der Weltbevölkerung keinen Zugang zulebenswichtigen Medikamenten hat. Sie haben mit stolz-geschwellter Brust herausposaunt: Für jeden Euro, den
Metadaten/Kopzeile:
29984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Niema Movassat
(C)
(B)
wir in die Entwicklungszusammenarbeit investieren,fließen 3 bis 4 Euro zurück. – Im Klartext: Das Wohl derdeutschen Wirtschaft ist für Sie der zentrale Maßstab derEntwicklungszusammenarbeit. Wie soll aber mit so ei-nem Konzept Armut bekämpft werden? Ihre Politik führteher zu einem Abfluss von Ressourcen aus den Entwick-lungsländern, als dass es sie stärkt.
Sie haben letzte Woche gesagt: „Die Achtung der all-gemeinen Menschenrechte ist unsere rote Linie.“ Letz-ten Monat wurden in Saudi-Arabien sieben junge Män-ner öffentlich hingerichtet. Wo war da Ihr Aufschrei?
Diesem menschenfeindlichen Regime liefert Deutsch-land sogar Panzer, und das mit Ihrer ausdrücklichen Bil-ligung im Bundessicherheitsrat. Und nebenbei fördertdie staatlich-deutsche Organisation GIZ die Ausbildungsaudischer Soldaten. Das schlägt dem Fass den Bodenaus.
Mein Fazit: Die nächsten vier Jahre ohne Sie und IhreNichtentwicklungspolitik – das ist das Beste für diesesLand und für die Ärmsten auf der Welt.Danke schön.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Thilo Hoppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerAufreger im Weißbuch steht auf Seite 25 – ich zitiere –:Die Bundesregierung strebt weiterhin an, bis 2015einen Anteil der öffentlichen Entwicklungszusam-menarbeit am BNE in Höhe von 0,7 Prozent zu er-reichen.Ein tolles Ziel – das finden wir alle wunderbar.Aber, Herr Minister, bitte erklären Sie uns, mit wel-cher magischen Formel diese Bundesregierung dasKunststück fertigbringen will, durch Kürzung des Ent-wicklungsetats – so geschehen in diesem Jahr und ge-plant im nächsten Jahr – die ODA-Quote von jetzt0,38 Prozent bis 2015 auf 0,7 Prozent zu steigern. Wieman durch eine Kürzung eine Steigerung erreichen will,erschließt sich mir überhaupt nicht.
Für diejenigen, die uns heute zuhören: Im Jahr 2005hat Deutschland fest zugesagt, seine Ausgaben für Ent-wicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe konti-nuierlich zu steigern und dafür bis 2015 das sogenannte0,7-Prozent-Ziel zu erreichen, also 0,7 Prozent von al-lem, was in Deutschland erwirtschaftet wird, zur Über-windung von extremer Armut und von Hunger einzuset-zen.Holland, Schweden, Dänemark, Norwegen haben ge-halten, was sie versprochen haben. Auch England, einevergleichbare Volkswirtschaft, ist auf gutem Wege, das0,7-Prozent-Ziel pünktlich zu erreichen. Deutschlandhingegen ist weit davon entfernt; es ist auf halbem Wegestehen geblieben und müsste innerhalb von zwei Jahrenseine Ausgaben für Entwicklung fast verdoppeln, umvon 0,38 auf 0,7 Prozent zu kommen.2011 gab es, wie bereits erwähnt, eine Initiative vonmehr als 360 Abgeordneten aus diesem Parlament. AlleFraktionen waren vertreten. Wir forderten, das 0,7-Pro-zent-Versprechen endlich ernst zu nehmen und die Ent-wicklungsgelder von 2012 an jährlich um 1,2 MilliardenEuro zu steigern; denn nur so hätte man noch die Kurvekriegen können. Nur so hätte man es noch geschafft, das0,7-Prozent-Ziel fristgerecht zu erreichen. Doch dieseInitiative wurde weder von Ihnen noch von der Bundes-kanzlerin unterstützt. Die Koalitionsmehrheit verhin-derte den notwendigen Aufwuchs der Mittel.Im letzten Jahr kam es dann ganz dicke: Da wurde derEntwicklungsetat zum ersten Mal seit vielen Jahren ge-kürzt, und dann noch um 86 Millionen Euro. Zugegeben:Diese Kürzung war von der Regierung so nicht geplant.Das gesamte Kabinett wurde von einem StreichkonzertIhrer Haushälter überrascht; Dirigent war HerrKoppelin. Aber Sie, Herr Niebel und die Kanzlerin, ha-ben sich das gefallen lassen. Wir, die Grünen, kamen indie ganz eigenartige Position, den Haushaltsentwurf die-ser Regierung zu verteidigen und verbunden mit nament-licher Abstimmung den Antrag auf Zurückweisung die-ser Kürzung zu stellen. Ich kann bis heute nichtverstehen, Herr Niebel, warum Sie damals unseren Ver-such, zu retten, was noch zu retten war, als „Spielchen“abgetan haben und der Kürzung Ihres eigenen Etats zu-gestimmt haben. Ich bemühe mich sonst immer um ei-nen sachlichen Ton, aber sorry: Das war wirklich schizo-phren,
dass Sie die Kürzung des Etats heftig kritisierten, dem Bun-destag die Schuld für die Nichterreichung des 0,7-Prozent-Ziels gaben, aber dann als Abgeordneter genau dieserKürzung zugestimmt haben. Dass es auch anders geht,haben der werte Kollege Ruck, die Kollegin Wöhrl, FrauWeiss, Herr Heinrich und Herr Klimke gezeigt. Diesefünf Abgeordneten der Union haben der Kürzung ebennicht zugestimmt.Herr Niebel, dann haben Sie sich in Interviews überdas 0,7-Prozent-Ziel lustig gemacht, gaben zu, dass mansich de facto davon verabschiedet hat, nannten es ein„totgerittenes Pferd“. Aber jetzt finden wir in dem Weiß-buch wieder den schönen Satz, den ich zu Beginn zitierthabe: Wir streben weiterhin an, das 0,7-Prozent-Ziel bis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29985
Thilo Hoppe
(C)
(B)
2015 zu erreichen. – Das ist dreist, das ist Volksverdum-mung; denn so bitter es ist: Das 0,7-Prozent-Ziel kannjetzt bis 2015 überhaupt nicht mehr erreicht werden,selbst wenn Sie Lotto spielen und ganz viel gewinnenwürden. Man kann nämlich in der Entwicklungszusam-menarbeit nicht jeden x-beliebigen Betrag innerhalbkurzer Zeit sinnvoll ausgeben. Gute Entwicklungspro-gramme brauchen einen Vorlauf, müssen mit den Part-nern ausgehandelt werden – unter Beteiligung der Ziel-gruppen. Es wäre ja auch Quatsch, Geld zu verpulvern,nur um eine Zielmarke fristgerecht zu erreichen.Wir werden morgen auf unserem Bundesparteitag einProgramm mit einem gut durchgerechneten und fachlichgeprüften ODA-Aufholplan verabschieden. Darin istvorgesehen, in den nächsten vier Jahren jährlich 1,2 Mil-liarden Euro mehr für Entwicklung und humanitäre Hilfeeinzustellen und zusätzlich jedes Jahr 500 MillionenEuro mehr für den internationalen Klimaschutz. Mit die-sem ODA-Aufholplan können wir das Ziel zwar nichtbis 2015 erreichen, aber immerhin innerhalb einer Legis-laturperiode. Ich bin froh, dass bei den Sozialdemokra-ten Ähnliches im Programm steht.
Herr Hoppe, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
Danke. – Jetzt gibt es wirklich die Möglichkeit, die-
sen ODA-Aufholplan in Angriff zu nehmen. Die Chance
besteht, dass sich Deutschland dann endlich solidarisch
zeigt und seine Zusagen endlich ernst nimmt. Sie besteht
aber nur dann, wenn uns die Wählerinnen und Wähler
dafür einen Auftrag geben.
Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Jürgen Klimke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Bilanz dieser Bilanz-debatte: Die Opposition kritisiert, die Regierung feiertdie Erfolge. Zwischenstand der Debatte wie in den letz-ten Tagen: mindestens 4 : 1 für die Erfolge.
Die Erfolge sind dadurch begründet, dass die Entwick-lungszusammenarbeit bei uns einen neuen Stellenwertbekommen hat. Wir sind aus dieser Gutmenscheneckeherausgekommen und haben die Entwicklungspolitik zueinem Kernthema der Bundespolitik gemacht.
Die Entwicklungszusammenarbeit hat sich gemausert.Wir können von einer grundsätzlichen Neuausrichtungreden. Diese grundsätzliche Neuausrichtung war aus Ex-pertensicht dringend notwendig, hat doch die frühereMinisterin immer an diesem veralteten Bild der Ent-wicklungshilfe festgehalten.Meine Damen und Herren, Entwicklungspolitik istkeine Politik der milden Gaben mehr, sondern sie musswirksam und nachhaltig sein. Das ist das Entscheidende.Dazu haben wir uns durchgerungen und das konsequentumgesetzt. Das zeigen auch die neuen Strukturen, diewir aufgebaut haben. Wir haben eine Entwicklungszu-sammenarbeit geschaffen, die den Menschen in denSchwellen- und den Entwicklungsländern nutzt und dievor allen Dingen auch der deutsche Steuerzahler ver-steht. Er hat inzwischen großes Verständnis dafür.
Die Reformen sind nur ein Ausschnitt unserer ge-meinsamen Anstrengungen, aber ein sehr wichtiger. Mankann sie mit den Stichworten „Konditionierung“, „Eva-luierung“ und „Effektivierung“ zusammenfassen.Erster Punkt. Konditionierung heißt: Verschlechterun-gen, aber auch Verbesserungen in den Bereichen Men-schenrechte und Rechtsstaatlichkeit haben Konsequen-zen. Sie haben Konsequenzen für die Art und Höheunserer Entwicklungsmittel für einen Partnerstaat. AlsGrundlage dient ein verbindliches Menschenrechtskon-zept, das wir in der Entwicklungszusammenarbeit eta-bliert haben. Damit ist Deutschland Vorbild in der EU.Alle Entwicklungsprojekte werden zukünftig einemMenschenrechts-TÜV unterzogen. Dieser TÜV beinhal-tet einen Kriterienkatalog, anhand dessen die Regie-rungsführung und die Menschenrechtssituation in denPartnerländern bewertet werden. Die Ergebnisse dieserBewertung sind dann Grundlage für Art und Ausgestal-tung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Die-ses Menschenrechtskonzept des BMZ ist absolut not-wendig, damit wir in der Außenpolitik und mit unserendiplomatischen Appellen für Menschenrechte glaubwür-dig sind. Es passt nicht zusammen, dass wir einerseitsdie Menschenrechtssituation in verschiedenen Ländernkritisieren, andererseits Menschenrechtsverletzungendurch Geldüberweisungen quasi noch belohnen. Dasgeht nicht mehr.
Insofern ist das Menschenrechtskonzept letztlich auchein Beitrag zu mehr Kohärenz und Effektivierung derAußen- und Entwicklungspolitik sowie ein Argumentfür die Bürger unseres Landes, denen sehr viel an derStärkung der Menschenrechte weltweit liegt.Zweiter Punkt: Evaluierung. Das bedeutet, dass mandie Wirkungen des entwicklungspolitischen Einsatzesüberprüft. Das erfordert eine ganz andere Herangehens-weise als bisher. Zukünftig evaluieren wir nicht nur dieUmsetzung von Maßnahmen, sondern prüfen, ob auchder erhoffte entwicklungspolitische Nutzen eingetretenist. Das macht die Entwicklungszusammenarbeit effi-zienter und nachhaltiger. Auch damit erreichen wir vielmehr Verständnis beim Steuerzahler. Die Menschen sind
Metadaten/Kopzeile:
29986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Jürgen Klimke
(C)
(B)
ja nicht dumm. Sie sind nicht gegen Entwicklungszu-sammenarbeit, sondern sie befürchten, dass das Steuer-geld nicht – wie es so schön heißt – unten, also bei denMenschen in den Entwicklungsländern, ankommt.
Diese Befürchtung war ja in der Vergangenheit leidernicht ganz unberechtigt. Deswegen haben wir ein Eva-luierungsinstitut gegründet, das Wirksamkeit, Nachhal-tigkeit und Wirtschaftlichkeit entwicklungspolitischerMaßnahmen bewertet und vor allen Dingen fundierteEmpfehlungen für zukünftige Entwicklungszusammen-arbeit liefert.Der dritte Punkt ist die Effektivierung. Bei begrenztzur Verfügung stehenden Mitteln muss das Geld – wirwollen auch sparen und zukünftige Generationen nichtmit zu hohen finanziellen Ausgaben belasten – effizienteingesetzt werden, um größtmögliche Wirkungen her-vorzubringen. Auf diesem Weg haben wir viel geleistetdurch die angesprochene Vorfeldreform, also die Zusam-menlegung der Durchführungsorganisationen zur Ge-sellschaft für Internationale Zusammenarbeit, aber auchdurch die Reduzierung der Zahl der Partnerländer, durchdie Erhöhung der Steuerungskompetenz des BMZ, durchPersonalaufbau, durch die Stärkung der Außenstrukturendes Ministeriums – so haben wir nun Entwicklungsrefe-renten in den wichtigen Botschaften – und durch einebessere Koordinierung vor allen Dingen mit anderenGeldgebern.Dass all dies in den letzten vier Jahren erreicht wer-den konnte, ist eben auch das Verdienst ganz bestimmterPersonen.Ich darf in diesem Zusammenhang als Erstes denMinister nennen. So wie seine Entwicklungsarbeit ist, ister auch selber: konsequent und nachhaltig.Es gibt aber auch Frauen in Führungspositionen. Dieneue Vorstandsvorsitzende der GIZ, Tanja Gönner, leis-tet exzellente Arbeit.
Sie spielt die Stärken dieser hervorragenden Organisa-tion aus. Dazu gehört auch die engere Kooperation derPolitik mit deutschen Unternehmen.Zudem haben wir mit Christian Ruck, den wir ebengehört haben, einen Kollegen, der entwicklungspoliti-schen Sachverstand in allerhöchstem Maße verkörpert.Er hat in den letzten Jahren in diesem Bereich deutlichgemacht, wie man ihn prägen kann. Auch ein wesentli-cher Teil des Koalitionsvertrages trägt seine Handschrift.Wir sollten ihm gemeinsam für die unermüdliche Arbeitin den vergangenen 20 Jahren danken.
Lassen Sie mich in den verbleibenden 21 Sekundennoch einen kurzen Blick in die Zukunft wagen. Die Re-formen sind nicht abgeschlossen. Die angesprochenenHandlungsfelder Konditionierung, Evaluierung und Effi-zienzsteigerung sind das eine. Aber es liegen in dennächsten vier Jahren auch noch wichtige Aufgaben voruns, zum Beispiel Korruptionsbekämpfung als ein Teilder Konditionierung. Wir arbeiten nur mit einem Landzusammen, wenn dort die Korruption bekämpft wird.Eine bessere Transparenz und eine bessere Abstimmungder Geber untereinander sind ebenfalls wichtig. Wir se-hen das jetzt in Myanmar. Das Land wird fast zugeschüt-tet mit Geldern, wobei die Projekte nicht richtig koordi-niert werden können. Es ist zwar gut, dass dort viel Geldhinfließt, aber es muss besser und effektiver eingesetztwerden.
Ein letzter Punkt: Koordinierung innerhalb der Minis-terien ist für uns ein wichtiger Zukunftsaspekt, Koordi-nierung im Bund-Länder-Bereich ein weiterer. Es stehtalso viel an. Packen wir es für die nächsten vier Jahre soerfolgreich an wie in den letzten vier Jahren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Roth für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die entwicklungspolitische Debatte ist so wich-tig, dass man nicht nur mit Schlagworten agieren darf;vielmehr muss man auch sehen, was geschehen ist undwas man versprochen hat. Im Koalitionsvertrag steht,dass man in dieser Regierungszeit eine Ausgabenquotevon 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für dieEntwicklungspolitik und für die Finanzierung von Pro-jekten und Maßnahmen erreichen will. Das war das Ziel.Erreicht wurde dieses Ziel nicht. Es sind nur 0,38 Pro-zent. Wenn man das damit begründet, dass das aufgrundder Finanzkrise schwierig war,
dann weise ich darauf hin, dass in den Niederlanden eineQuote von 0,75 Prozent erreicht wurde. In Dänemarkwaren es 0,85 Prozent, in Schweden über 1 Prozent, inNorwegen auch. Man könnte die Liste noch weiter fort-setzen.Nein, Herr Minister Niebel, Sie und die Kanzlerin ha-ben Großes versprochen, aber das Versprechen wurdenicht gehalten. Das ist ein großer Fehler und schadet derinternationalen Glaubwürdigkeit; denn auf Deutschlandschaut die Welt.
Das nehmen wir wahr, wenn die Kanzlerin auf europäi-scher oder internationaler Bühne etwas verspricht. Ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29987
Karin Roth
(C)
(B)
sprechen und nicht halten, das nutzt Deutschland garnichts.
– Herr Heiderich möchte eine Frage stellen. Er darf es,wenn der Präsident es zulässt.
Ich lasse es zu. Aber Sie als Rednerin müssen es zu-
lassen.
Ja, ich habe schon gesagt, dass er es darf.
Bitte schön.
Frau Kollegin Roth, Sie sind ja nicht die Erste, die
heute Morgen auf die Frage der ODA-Quote eingeht,
aber dabei doch vernachlässigt, darauf hinzuweisen, dass
die Mittel, die Deutschland für die Entwicklungshilfe
einsetzt, von Jahr zu Jahr angewachsen sind und dass wir
inzwischen, je nachdem, auf welchen Bericht man sich
bezieht, der weltweit drittgrößte Geber sind. Das zeigt,
dass diese Regierung sehr erfolgreich war. Ich glaube,
dass Sie dies in Ihrer Darstellung etwas stärker berück-
sichtigen sollten.
Meine Frage an Sie: Ist es nicht wesentlich bedeutsa-
mer und wichtiger – das haben einige Kollegen vorhin
schon gesagt –, dass wir darauf achten, was bei den be-
troffenen Menschen vor Ort tatsächlich ankommt und
was wir dort an Entwicklung anstoßen können? Ich
glaube, darauf sollten wir wesentlich mehr Wert legen.
Ich frage Sie, ob das nicht auch für Sie ein bedeutsames
Kriterium ist.
Herzlichen Dank, Herr Heiderich, für diese Frage.Natürlich ist die Frage der Effizienz richtig und wichtig;das ist unbestritten. Wie sollten wir sonst den Menschenin unserem Land erklären, wie wir mit unseren Steuer-geldern umgehen? Zwischen der Frage der Effizienz undder Frage der Höhe der Mittel besteht zunächst einmalkein Zusammenhang. Wenn wir 0,7 Prozent verspre-chen, sollten wir es einhalten. Kollege Hoppe hat ja ge-rade ausgeführt, dass im letzten Jahr und in diesem Jahrdie Höhe der Gelder zurückgegangen ist, während manim Weißbuch ankündigt, dass man 0,7 Prozent erreicht.Welche Grundrechenart da zugrunde gelegt wird, er-schließt sich mir nicht.Die Themen Effizienz, Koordination und Kohärenzsind unstrittig. All das sind große Themen. Aber manmuss in die Tiefe gehen, um die Wahrheit zu entdecken,und dazu komme ich gleich.
Die Wahrheit ist immer konkret. Wenn wir über Ko-härenz sprechen, müssen wir uns die Frage stellen: Wiewirkt sich das beim Lieblingsthema des Ministers, näm-lich Wirtschaft, aus? Wir sind nicht dagegen, dass manwirtschaftliche Zusammenarbeit organisiert. Warumauch? Die Frage ist nur: Wie und mit welchen Konse-quenzen? Denn wirtschaftliche Entwicklung ist natürlicheine Voraussetzung dafür, dass die Entwicklungsländervorankommen können, und dazu gehört auch nachhalti-ges und ökologisches Wachstum. Aber ebenso gehört dieEinhaltung sozialer Standards dazu, und dabei, meineich, haben wir einiges versäumt, zum Beispiel bei demThema fairer Handel.Sie erinnern sich: Wir hatten eine Debatte über die Si-tuation der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in Ban-gladesch. Vor zwei Tagen ist es erneut zu einer Katastro-phe gekommen. Wir haben wieder gesagt: furchtbar,traurig, schrecklich. Aber wir wussten schon vor einemhalben Jahr – eigentlich schon viel länger –, dass wir indiesem Bereich mehr tun müssen, nämlich die deutschenund die europäischen Unternehmen zwingen, dass siebeim Vertragsabschluss mit ihren Partnern, den Zuliefer-betrieben in diesen Ländern – Bangladesch und andere –,die Einhaltung der sozialen und der Umweltstandardseinfordern.
Darin waren wir eigentlich einer Meinung. Die Frage istnur: Was folgt daraus? Im Sinne der Kohärenz folgt da-raus, dass wir im Rahmen der CSR-Richtlinie auf euro-päischer Ebene nun die Voraussetzungen dafür schaffen,dass die deutschen und die europäischen Unternehmendie Lieferkettenkontrolle verbindlich einführen.
Was macht die Bundesregierung, Frau Pfeiffer? Sie or-ganisiert eine Blockade – zunächst Herr Rösler, dann dasArbeitsministerium –, indem sie die Verbindlichkeit derRichtlinie in Freiwilligkeit ummünzt. Das bedeutet imKern: Es ändert sich nichts.Deshalb ist das mit der Wirtschaft nicht so einfach;denn Wachstum allein, ohne dass auf die Einhaltung vonSozial- und Umweltstandards in den Ländern gedrängtwird, ist nur der halbe Fortschritt.Vor dem Hintergrund, dass wir davon profitieren, dasses dort solche Arbeitsbedingungen gibt, bin ich sehrfroh, dass es viele Initiativen gibt, die sich gerade in die-sem Zusammenhang – Fairer Handel, Saubere Kleidung –ehrenamtlich engagieren. Ohne die Zivilgesellschaft wä-ren wir in diesen Ländern nicht weit genug. Aber wirbrauchen natürlich auch die Hilfe der Gewerkschaftenund anderer Organisationen, damit sich dort etwas än-dert. Wir müssen im Rahmen der CSR-Richtlinie unsere
Metadaten/Kopzeile:
29988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Karin Roth
(C)
(B)
Verantwortung übernehmen und zeigen, dass wir das,was wir versprochen haben, wirklich ernst meinen.
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das tun, was auch andereeuropäische Länder wollen.Ein weiteres Beispiel – da die Wahrheit ja immer kon-kret ist – ist das Thema Frauenrechte; meine KolleginKoczy hat schon darauf hingewiesen. Das ist nicht nurbei uns ein großes Thema in der Entwicklungspolitik.Die Entwicklung der Frauen in den Ländern ist entschei-dend für die wirtschaftliche Entwicklung. Aber was tunSie, Herr Minister? Sie haben als Erstes die verabredeteZielgröße gestrichen. Danach haben Sie 30 MillionenEuro irgendwie verteilt, und der Gender-Aktionsplan2012, mit dem die Frauenrechte umgesetzt werden sol-len, ist bis heute nicht fortgeschrieben.Noch Weiteres kommt hinzu: Wir haben einen ge-meinsamen Antrag zum Thema Genderpolitik gestellt.Aber Sie haben diesen Antrag nicht ernst genommen.Wenn Sie es getan hätten, dann hätten Sie all das, waswir wollten, in Ihrer Zeit umgesetzt. Schade für dieFrauen und auch schade für unsere gute Zusammenar-beit!
Das Thema „Soziale Sicherung“ ist ein Schlüs-selthema für Entwicklung. Das ist die andere Seite derMedaille. Ohne soziale Sicherung gibt es auch keinewirtschaftliche Entwicklung. Das ist eine Sache, die be-kannt ist. Aber was machen Sie daraus? Der Ministerkündigt als Erstes die Zielvorgaben im Haushalt für diesoziale Sicherung und unterstützt eben nicht soziale Pro-jekte im Bereich des sozialen Basisschutzes – entgegenden Vorstellungen der Europäischen Union, der Interna-tionalen Arbeitsorganisation und der Weltbank. Ich binder Meinung: Hier müssten wir vorangehen mit unsererKompetenz, mit unseren Möglichkeiten der technischenHilfe, statt zu blockieren oder das Ganze im Grunde adabsurdum zu führen, indem wir sagen: Das ist keinSchwerpunkt. – Es muss in Zukunft wieder einenSchwerpunkt „Soziale Sicherung“ geben. Deshalb wirddie Sozialdemokratie auch mit Budgethilfe internationalhelfen.
Nur so können wir wirtschaftliche Entwicklung und so-ziale Gerechtigkeit umsetzen.
Kommen Sie bitte zum Schluss!
Ja, ich komme zum Schluss. – Zu guter Letzt: Präsi-
dent Obama hat angekündigt, jährlich 1,6 Milliarden
US-Dollar für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von
Aids, Tuberkulose und Malaria zu geben, wenn andere
Länder ihren Beitrag auch verdoppeln. Das würde für
Deutschland bedeuten: nicht 200 Millionen Euro, son-
dern 400 Millionen Euro. Herr Niebel, Sie haben in Pres-
seerklärungen 1 Milliarde Euro für den Globalen Fonds
angekündigt. Das stimmt nicht. Es sind nur 200 Millio-
nen Euro jährlich.
Für die nächste Auffüllkonferenz wären es 600 Millio-
nen Euro. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Beitrag, der zeigt,
dass Sie endlich begriffen haben, dass der Globale Fonds
zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria
wichtig ist?
Frau Roth, bitte.
Wir, die SPD, und auch die Grünen haben schon lange
die Verdopplung gefordert. Es ist Zeit, dass das kommt.
Das Wort hat nun die Kollegin Dagmar Wöhrl für die
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Vor knapp vier Jahren haben wir diesesRessort übernommen. Lange hatte es den Ruf, ein Re-formhort der Linken zu sein. Wir mussten aber erken-nen, dass der Wind of Change der Globalisierung totalverschlafen worden war. Wir mussten eine Art mentaleErschöpfung wahrnehmen; ich will jetzt nicht sagen:Burn-out. Wir haben gemerkt: Da geht nichts mehr vo-ran. Es bestand eine gewisse Selbstzufriedenheit, eineNeigung, weiter Business as usual zu machen,
nach dem Motto: Wir machen jetzt mit unserer Budget-hilfe einfach so weiter. Wir machen weiter mit unsererideologischen Friedenspolitik, wie wir sie bis jetzt ge-macht haben. – Man hat sich nicht an die sich änderndenZeiten angepasst, wie das notwendig gewesen wäre.Wir haben also ein solches Ministerium übernommen.Wenn man Unternehmer gewesen wäre, hätte man sichdie Frage gestellt: Was mache ich angesichts des Burn-outs dort? Wickle ich alles ab, oder stelle ich das totalneu auf? Wir haben die Aufgabe angenommen, diesesMinisterium neu aufzustellen – das war eine Herkules-aufgabe –, und zwar organisatorisch und strukturell.
Wenn wir heute unsere Leistungsbilanz ziehen, mussich sagen:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29989
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
Diese Reformschritte waren nicht einfach. Liebe Kolle-gen von der Opposition, manchmal hätten wir uns ge-wünscht, dass Sie uns ein bisschen mehr unterstützen– wir arbeiten doch an einem gemeinsamen Ziel – unddass nicht immer anderes so sehr im Vordergrund steht,etwa: Wie schaut die Mütze des Ministers aus? WelcheAutos fahren die GIZ-Mitarbeiter? Das war nicht dasWichtige, sondern wichtig war es, diese Reformschrittezu machen, die Reform nach vorne zu bringen. Die inter-nationale Anerkennung, die wir inzwischen wieder-erlangt haben, zeigt uns, dass wir den richtigen Weg ein-geschlagen haben.
Was war der Kern unserer Regierungspolitik? Waswar das Geheimnis, dass wir so gut vorangekommensind? Wir sind teilweise ja besser vorangekommen, alswir ursprünglich selbst geglaubt haben. Das Geheimniswar: Wir haben einen klaren Kurs gehabt. Es gibt einenzentralen Begriff: Wirksamkeit. Der Begriff „Wirksam-keit“ klingt nicht gerade sehr sexy, muss ich sagen.Wirksamkeit, das klingt so einfach, aber es ist sehrschwierig, das umzusetzen.Wirksamkeit bedeutet zum Beispiel politische Steue-rungsfähigkeit. Wir haben diese erhöht, indem wir alleOrganisationen zu einer zusammengelegt haben. Die nunbestehende GIZ ist schlagkräftig. Wir haben internatio-nal ein einheitliches Gesicht. Wir haben wieder ein deut-sches Gesicht bekommen. Ich möchte mich bei allenMitarbeitern der GIZ herzlich bedanken, die in der Weltunterwegs sind. Sie machen eine wirklich tolle Arbeit.Danke für den guten Ruf, den wir durch Sie haben.
Wirksamkeit bedeutet aber noch mehr. Wirksamkeitbedeutet auch Ergebnisorientierung und Ownership. Washeißt das? Wahr ist: Ohne Geld geht nichts. Das ist garkein Thema. Deshalb kann ich zu Recht darauf hinwei-sen: Wir haben die Mittel immerhin von 8,7 Milliardenauf 10,2 Milliarden Euro erhöht. Während der Bundes-haushalt nur um 2,6 Prozent gewachsen ist, ist der Haus-halt des BMZ um 17 Prozent angestiegen.
Das lässt sich doch sehen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen. Darauf kann man doch stolz sein, vor allem auf-grund der nicht einfachen Zeit, in der sich diese Regie-rung durch die Finanzmarktkrise befunden hat. Wir sindkein Almosenministerium. Das sind wir nicht und wol-len wir auch nicht sein. Es ist wahr: Ohne Geld gehtnichts. Wahr ist aber auch: Mit Geld allein geht nicht al-les.Ich bin es einfach leid, dass man immer zuerst überGeld spricht und dann erst über die Aufgaben.
Es muss umgekehrt sein. Wir müssen zuerst über dieAufgaben reden und uns fragen: Was wollen wir errei-chen? Was sind die Ziele? Dann kann man darüber spre-chen, wie viel Geld man benötigt und wie man es effi-zient und wirksam einsetzt.
Afrika hat in den letzten 50 Jahren über 1 Billion Dol-lar an Entwicklungshilfe bekommen. Vor diesem Hinter-grund fragt Dambisa Moyo von der Weltbank in ihremBuch zu Recht: Geht es den Afrikanern heute wirklichbesser? Hat ihnen das Geld geholfen? Diese Fragen müs-sen wir stellen. Auch die Weltbank hat in ihrem Berichtfestgestellt, dass 85 Prozent der Fördergelder nicht dorteingesetzt worden sind, wo sie eigentlich hätten einge-setzt werden sollen. Diese Themen müssen angegangenwerden. Entwicklungshilfe ist oft eher Teil des Problemsals Teil der Lösung. Man darf hier nicht blind sein.
Man darf nicht sozialideologisch verblendet sein. Manmuss sehen, dass es Probleme gibt, die man angehen undlösen muss.Dazu gehört, Eigenständigkeit einzufordern. Deswe-gen ist es richtig, dass wir heute nicht mehr von Ent-wicklungshilfe, sondern von Entwicklungszusammen-arbeit sprechen.
Hilfe macht abhängig. Zusammenarbeit hilft, die eige-nen Kräfte zu stärken. Die Staaten sind souverän; sie ha-ben auch ihren Stolz. Sie wollen kein Taschengeld emp-fangen. Sie wollen Hilfe, damit sie sich aus eigenenKräften selber entwickeln können. Das haben wir dochgemerkt. Wie oft sind wir mit Delegationen in Ländern,in denen gesagt wird: Nein, das Geld ist nicht dasThema. Wir wollen etwas von eurem Wissen und euremKnow-how. Wir wollen, dass unsere jungen Leute hierzukünftig Arbeit bekommen.
Das müssen wir erkennen und anerkennen. Wir müs-sen ein Ziel haben – ich bitte Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Opposition, dieses Ziel zu unter-stützen –: uns überflüssig zu machen, damit wir aus denLändern wieder herausgehen können.
Die bemutternde Haltung, die in der Vergangenheit teil-weise eingenommen wurde, widerspricht vollkommendem Subsidiaritätsprinzip. Das ist nicht unsere Politik.
Für uns ist Transparenz wichtig. Für uns ist Rechen-schaftspflicht wichtig. Deshalb haben wir als erste Re-
Metadaten/Kopzeile:
29990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dagmar G. Wöhrl
(C)
(B)
gierung das Evaluierungsinstitut eingerichtet, damit wirvon Dritten kontrolliert werden. Früher habt ihr euch sel-ber kontrolliert. Die wichtigste Frage ist nämlich, ob einProjekt gut und wirksam ist oder nicht. Wir sind auchfroh, dass die EU mit der „Agenda für den Wandel“ un-serem Beispiel gefolgt ist.Meine Damen und Herren, ein Punkt ist auch wichtig:Wir haben uns um neue Partner gekümmert. Die Ent-wicklungszusammenarbeit war zu lange ausschließlicheine Domäne des Staates. Es war eine sozialpolitischeDoktrin: Der Staat wird es schon richten; der Staat ist da-für zuständig.
Wir haben versucht, andere Partner ins Boot zu holen.Sie haben lange gesagt, die Wirtschaft soll draußen blei-ben. Auch bei Hilfsorganisationen war es so. Der sozialeGedanke war richtig. Aber mit Wirtschaft und mitWachstum wollten Sie überhaupt nichts zu tun haben.Das ist der falsche Ansatz. Wir haben gelernt. AuchWeltbankpräsident Kim hat zugegeben, dass er es früherebenfalls anders gesehen hat. Er sagt: Die private Wirt-schaft entwickelt sich nicht nur im mittelständischen Be-reich, sondern auch im Entwicklungsbereich. Er sieht,wie wichtig die mittelständischen Betriebe in diesem Be-reich heute sind. Das ist eine Win-win-Situation. Auchwir sind hier immens tätig.Frau Hänsel, Sie haben vorhin nach der Wertschöp-fungskette gefragt. Unsere Entwicklungsbank, die DEG,ist hier unwahrscheinlich aktiv. Ein Beispiel: ein schwä-bisches Unternehmen, das in Namibia eine Zementfabrikbetreibt. Namibia hat vorher Zement importieren müs-sen, weil keine entsprechende Infrastruktur vorhandenwar. Jetzt wurden allein 300 Arbeitsplätze in diesem Be-reich geschaffen, indirekt über 2 000 Arbeitsplätze, weildie Infrastruktur ausgebaut wurde und der Zement jetztdort produziert wird. Es ist doch die beste Entwicklungs-politik, wenn Arbeitsplätze in den Ländern geschaffenwerden. Das ist der erste Schritt, um die Armut zu be-kämpfen.
Werteorientierte Entwicklungszusammenarbeit, wie wirsie verstehen, steht nicht im Widerspruch zur Wahrungunserer wirtschaftlichen Interessen, im Gegenteil.
Frau Kollegin Wöhrl, bitte denken Sie an die Zeit.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Es gibt viele Tausende
Unternehmer, die auch Stifter sind,
viele Tausende Unternehmer, die sozial verantwortlich
agieren. Unsere CSR-Richtlinie ist in diesem Zusam-
menhang ein ideales Vorbild im Ausland. Wir sind froh,
dass wir sie haben.
Gestatten Sie mir einen letzten Satz.
Aber nur einen Satz.
Unsere neuen Partner in der Zukunft – das ist auch
nicht zu vergessen – sind unsere Kinder und Enkelkin-
der. Wir alle sollten daran arbeiten, sie für die künftige
Entwicklungszusammenarbeit, mit „weltwärts“ oder
dem Europäischen Freiwilligenkorps, zu begeistern. So
haben wir künftig viele Botschafter in der Welt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Hartwig Fischer von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasWeißbuch ist die Darstellung von Fakten, es ist Bilanzund Zukunftsherausforderung. Ich verstehe nicht von al-len Bereichen der Entwicklungspolitik etwas, auch nichtvon allen Kontinenten.
Deshalb spreche ich nur über das, was Afrika betrifft.Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede einen Appellan uns alle richten: Lassen Sie uns nicht immer über denKontinent Afrika als Einheit sprechen, sondern lassenSie uns differenzieren – Afrika ist genauso differenziertzu betrachten wie Europa: ein Kontinent mit 54 Ländern,mit 54 Regierungen unterschiedlicher Art, unterschiedli-chen Kulturen und unterschiedlichen Chancen –, nurdann wird man den Ländern Afrikas gerecht.
Zum Inhalt des Weißbuchs, was die globalen Ent-wicklungen angeht. Wir wissen, dass wir unsere natürli-chen Ressourcen schützen müssen. Wir wissen, dass esin Afrika ein starkes Wirtschaftswachstum gibt, eine Be-völkerungsdynamik, wir wissen, dass es verändertesKonsum- und Produktverhalten gibt. Die Mittelschichtwächst. Bis zum Jahre 2050 wird das Weltbevölkerungs-wachstum von 7 auf 9 Milliarden steigen, aber die ver-fügbaren Ressourcen werden nicht mehr.Um der weltweiten Nachfrage nach Nahrungsmittelngerecht zu werden, müsste die Getreideproduktion bis2050 um 40 Prozent steigen; die Fleischproduktionmüsste sich sogar verdoppeln. Seit 1960 sind 30 Prozentder Anbauflächen aus verschiedensten Gründen verlorengegangen. Das heißt, wir müssen mit dem Verbrauch vonnatürlichen Ressourcen – Wasser, Land, Boden und Bio-diversität – anders umgehen. Wenn wir so weiterma-chen, brauchten wir bis zum Jahre 2035 – auch das geht
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29991
Hartwig Fischer
(C)
(B)
aus dem Bericht hervor – einen zweiten Planeten in dergleichen Größenordnung. Das zeigt: Wir brauchen neueEntwicklungen.Herr Minister, ich sage ausdrücklich – auch wenn wirgestern im Ausschuss die Diskussion kontrovers geführthaben –: Ich bin Ihnen dankbar, dass wir den AfricaAgriculture and Trade Investment Fund haben. In diesenFonds können KfW, Deutsche Bank und private Investo-ren ihre Mittel einfließen lassen. Er soll Kredite und Ga-rantien bereitstellen, um kleine und mittlere landwirt-schaftliche Betriebe zu unterstützen.
Allein mit staatlichen Mitteln werden wir die Entwick-lungen in den Ländern dieser Welt nicht so begleitenkönnen, wie es im Zusammenhang mit dem Wachstumder Weltbevölkerung notwendig ist.
Ich bitte die Opposition, zur Kenntnis zu nehmen– das ist eben untergegangen –: Natürlich werden dieseProjekte – das steht auch in dem Programm – nur unter-stützt, wenn sie den Anforderungen der ILO und denIFC-Richtlinien entsprechen. Das heißt, dass Aspektewie Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung, Ge-sundheit am Arbeitsplatz, Bedingungen beim Lander-werb, Biodiversität, Umgang mit dem kulturellen Erbevor Ort und Behandlung der einheimischen Bevölkerungnachhaltig mit vereinbart werden. Das ist notwendig.Die globale Wassernachfrage wird bis 2025 um 35 bis60 Prozent steigen und sich im Jahr 2050 wahrscheinlichverdoppelt haben. Ohne eine Effizienzsteigerung in die-sem Bereich werden wir die Probleme auch auf unseremKontinent nicht lösen können. Deswegen bin ich dank-bar, dass in der Entwicklungszusammenarbeit gerade derSchwerpunkt Wasser deutlich verstärkt worden ist. Dasist eine Grundlage für das Überleben der Menschen, da-für, dass Landwirtschaft überhaupt stattfinden kann.Aber wir müssen mit dem Wasser schonend umgehen,denn es wird auch für die Rohstoffproduktion und Ähnli-ches genutzt; darauf komme ich gleich noch einmal zu-rück.Wir wissen, dass die weltweite Nachfrage nach Ener-gie bis 2030 um 40 Prozent steigen wird, der Stromkon-sum sogar um 70 Prozent. Deshalb ist es richtig, dass wirin unserem Ministerium einen Schwerpunkt bei den er-neuerbaren Energien gesetzt haben. In diesem Bereichzeigt sich deutlich die Kohärenz unserer Politik. Wirt-schaftsministerium, Bildungs- und Forschungsministe-rium sowie Entwicklungsministerium arbeiten dabei zu-sammen, weil es notwendig ist, neue Formen derEnergieverwendung insbesondere in dezentralen Syste-men nutzen zu können.Das Zusammenspiel von Wasser-, Energie- undErnährungssicherheit – der Nexus – betrifft die Wasser-nutzung zur Wasserkrafterzeugung, zum Abbau vonRohstoffen, für den Energieverbrauch und für die Land-wirtschaft. Wir müssen dabei beachten, dass die UNschätzen, dass bis 2050 zwei Drittel der Weltbevölke-rung – also 6 Milliarden Menschen – in Städten lebenwerden.Ich nenne Ihnen wieder ein Beispiel. Ich war geradein Lagos. Schon vor sieben Jahren durfte ich den Bun-despräsidenten Horst Köhler nach Lagos begleiten. Da-mals lebten da um die 17 Millionen Menschen. DieseZahl hat sich etwas erhöht. Jetzt wohnen da 21 MillionenMenschen, und jeden Tag kommen 6 000 Menschendurch Zuzug oder Geburt dazu.Diese Stadt hatte die modernste Kläranlage der Welt,gebaut 1950, als 350 000 Menschen in Lagos lebten. Siehat heute noch einen Wirkungsgrad von 20 Prozent. Al-les, was dort an Abwässern anfällt, fließt in die Lagunen.Das alles wird eines Tages bei uns anschwemmen. Daswird eine der großen Herausforderungen der Zukunftsein. Deshalb müssen wir uns den Megastädten in beson-derer Weise widmen. Auch daran arbeitet eine Arbeits-gruppe im Ministerium.Ich will noch einmal auf von der Opposition ange-sprochene Punkte zurückkommen, die mir große Sorgenbereiten. Das betrifft etwa den Rohstoffbereich. UnsereFraktion hat mehrere Rohstoffkonferenzen abgehalten.Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dassDeutschland mit seinem Lebensstandard auf Rohstoffeangewiesen ist. Natürlich gibt es da einen Zielkonflikt.Ich will nicht sagen, dass in der Vergangenheit allesschlecht war.
Aber die Zertifizierung von Rohstoffen zum Beispiel ha-ben wir damals begonnen und bis heute fortgesetzt, weilsich daraus Chancen für die Wertschöpfungsketten derbetroffenen Länder ergeben, sodass dort auch weitereWertschöpfungsketten aufgebaut werden können. EinBeispiel ist die Holzwirtschaft im Kongo; leider wurdenunsere dortigen Bemühungen durch die Chinesen weit-gehend zerstört.Die Mittel für die Bildung in Afrika, auch die berufli-che Bildung, sind gerade aufgestockt worden und habensich von 2009 bis 2013 verdoppelt. Ich bitte Sie, HerrMinister, die Seiten 164 bis 172 aus dem Weißbuch denSchulen zur Verfügung zu stellen, weil wir in der Bevöl-kerung eine Grundlage für die entwicklungspolitischenDiskussionen brauchen, um auf entsprechende Akzep-tanz zu stoßen.Es gäbe so viel zu diesen Themen zu sagen; leider binich fast am Ende meiner Redezeit. Mich hat heute ent-täuscht, dass es bei der Opposition offenbar nur noch,wie bei der Olympiade, um „höher, schneller und wei-ter“ geht. Es sollte bei der Diskussion über diesen Be-richt aber um inhaltliche Fragen – wie man einen besse-ren Weg finden kann – gehen.
Zu den anstehenden Wahlen kann ich nur sagen: Wah-len bieten immer eine große Chance zur Neuausrichtung.Das ist absolut richtig. Wir treten in diesen Wettstreit
Metadaten/Kopzeile:
29992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Hartwig Fischer
(C)
(B)
auch ein. Ich hoffe, dass die Fraktion der Sozialdemo-kraten wieder Persönlichkeiten wie Karin Kortmannoder Walter Riester findet, bei denen die Entwicklungs-politik richtig angesiedelt war.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13100 an die Ausschüsse vorgeschla-
gen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 sowie den Zu-
satzpunkt 9 auf:
40 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Richard Pitterle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Steueroasen trockenlegen – offshore und hier-
zulande
– Drucksache 17/13129 –
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Harald Koch, Dr. Axel Troost,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch
Selbstanzeige abschaffen
– Drucksache 17/13241 –
Es ist verabredet, eineinhalb Stunden hierzu zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die
Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der FallHoeneß hat viele schockiert und enttäuscht, selbst dieBundeskanzlerin. Aber man muss auch feststellen: DieRegierungen haben das selbst politisch verschuldet;denn fast alle – gleich ob Union, SPD, FDP oder Grüne– haben mit ihrer Politik bei Reichen und Vermögendenein Gesellschafts- und Staatsverständnis herbeigeführt,in dem der Staat als lästiges Übel erscheint und die so-zial Benachteiligten als Sozialschmarotzer verunglimpftwurden und werden.
Keine der Bundesregierungen seit 2002, weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb, hat irgend-etwas Wirksames gegen diese und andere Formen derSteuerflucht und der Steuerhinterziehung getan.
Es ist interessant, eine Logik zu durchforsten. Bun-desminister Friedrich hat mit Blick auf die Armen ausBulgarien und Rumänien gesagt: Wir müssen denen dieEinreise verweigern. – Begründet hat er das damit, dassdie Armen nicht das Land wechseln dürften, um ihre Ar-mut etwas erträglicher zu gestalten. Ich teile seine Logiküberhaupt nicht, aber ich frage Sie: Wenn man schoneine solche Logik hat, warum ist dann noch niemand aufdie Idee gekommen, den Reichen zu sagen: „Ihr könnteuch nicht das Land aussuchen, in dem ihr am wenigstenSteuern bezahlt“, und auch den Unternehmen zu sagen:„Ihr könnt euch das nicht aussuchen“? Wieso gilt dieseLogik nur für die Armen?
SPD und Grüne haben das Kasino für Spekulationengeöffnet. Dadurch kamen so dicke Gewinne zustande,dass der Anreiz zur Steuerhinterziehung gewachsen ist.
Die Steuersenkungsgesetze wurden von Ihnen verab-schiedet – Sie wissen das –: Spitzensteuersatz gesenkt,Körperschaftsteuersatz gesenkt und vieles andere mehr.Das hat natürlich den Reichtum befördert. Andererseitshaben Sie Armut verfestigt und sogar gesteigert, nämlichdurch Hartz IV, durch prekäre Beschäftigungsverhält-nisse, durch reale Lohnsenkung, Rentensenkung und an-deres mehr.Wir haben in Deutschland jetzt ein privates Geldver-mögen von 10 Billionen Euro. 10 Prozent der Haushaltebesitzen 61 Prozent davon. Das sind über 6 BillionenEuro. 50 Prozent der Haushalte besitzen von dem ge-samten Geldvermögen 1 Prozent. Vor über zehn Jahrenbesaßen diese 50 Prozent noch 4 Prozent. Auch das warschon wenig. Heute besitzen sie aber nur noch 1 Prozent.Wie wollen Sie das alles rechtfertigen?
SPD und Grüne haben dann das Gesetz über die straf-befreiende Erklärung gemacht. Dahinter steckt der Ge-danke, den Steuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzie-hern noch mehr Straffreiheit zu gewähren. Damals habenSie gesagt, dass dadurch wahnsinnig viel Geld herein-kommt: 5 Milliarden Euro. Na gut, es wurden nur1,4 Milliarden Euro. Das hat sich also wesentlich weni-ger gelohnt.Das ganze Herangehen in den vergangenen Jahren hatdie Steuerhinterziehung begünstigt. Damit muss jetztSchluss sein. Der Zeitgeist beginnt sich zu ändern.
Die Große Koalition hat zudem die Abgeltungsteuereingeführt. Das muss man sich einmal überlegen: Dalegt einer sein ganzes Geld an und bekommt hohe,höchste Zinsen. Außerdem beginnt die Steuerpflicht erstab einem bestimmten Betrag. Und dann sagen Sie: Fürdieses leistungslos erworbene Geld – dafür hat er nichtsgetan; er hat das einfach irgendwohin getan – muss er
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29993
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
25 Prozent Steuern zahlen. Wenn er für dasselbe Geldgearbeitet hätte, müsste er dafür 42, gegebenenfalls45 Prozent Steuern zahlen. Wie erklären Sie den Leuten,dass derjenige, der arbeitet, viel zahlen muss und dassderjenige, der sein Geld bloß anlegt und dicke Zinsenmacht, wenig zahlen muss?
Das ist durch nichts gerechtfertigt. Das ist vielleicht eineLogik!
Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz vonPeer Steinbrück war ein zahnloser Tiger. Allerdings wardas jetzt von der Koalition aus CDU/CSU und FDP ge-plante Abkommen zwischen Deutschland und derSchweiz ein Skandal.
Gegen einen kleinen Obolus – Sie müssen sich das ein-mal vorstellen – wären die größten Steuerhinterziehereinschließlich Uli Hoeneß legalisiert worden.
Es war völlig richtig, dass SPD, Grüne und Linke das imBundesrat verhindert haben.
Im Übrigen: Wenn das durchgekommen wäre, dann hät-ten die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler inDeutschland endgültig wie die Dummen ausgesehen.Auch das wäre nicht gerechtfertigt gewesen.Steuer-CDs. Ich bestreite doch gar nicht, dass der An-kauf solcher CDs problematisch ist. Man bezahlt Krimi-nelle; man hält Kriminelle anonym. Ich hätte zwarwahnsinnige Bauchschmerzen, aber – das muss ich Ih-nen sagen – ich wüsste als Landesfinanzminister zurzeitnicht, wie ich anders an die Informationen über schwereStraftäter und an das Geld für meine Bevölkerung heran-kommen soll. Wir müssen endlich eine Lösung finden,damit Landesfinanzminister nicht mehr gezwungen sind,solche Wege zu gehen. Ich kann aber verstehen, dass siezurzeit diese Wege gehen.
Offshore-Leaks. Ich will einmal darstellen, was dortgeschehen ist. Da haben nicht etwa Politikerinnen undPolitiker etwas ermittelt, sondern Journalistinnen undJournalisten und andere Personen. Sie haben MillionenDaten von über 130 000 Steuerhinterzieherinnen undSteuerhinterziehern weltweit mit einem Gesamtvermö-gen von 25 Billionen Euro ermittelt. Das ist das Zehnfa-che der Wirtschaftsleistung in Deutschland. Das ist einDrittel der Weltwirtschaftsleistung. Mein Gott, lassensich die Staaten betrügen! Es wird höchste Zeit, dass da-gegen etwas unternommen wird.
Wir haben wiederholt Anträge zur Trockenlegung vonSteueroasen vorgelegt. Wir hatten damit bei Ihnen im-mer schlechte Karten. Sie haben als Argument gegen un-sere Anträge zum Beispiel die Bürokratie genannt. Ichwill gar nicht im Einzelnen darauf eingehen, weil ichhoffe, dass Sie sich jetzt anders verhalten. Wir müssenuns jetzt auch anders verhalten.Wir haben zwei Anträge eingebracht. Was fordern wirim ersten Antrag?Erstens. Wir fordern den Aufbau einer Bundesfinanz-polizei. Diese brauchen wir zur wirksamen Bekämpfunggroßer Finanzstraftaten dringend. Der Staatssekretär desBundesfinanzministers hat dies inzwischen auch gefor-dert. Also sehe ich bei Union und FDP keinen Grundmehr, dagegen zu stimmen. Wollen wir einmal sehen,was passiert.Zweitens. Wir fordern mehr Fachpersonal. Diesesbraucht man, wenn man wirksam Steuern einziehen will.Um die Steuerdelikte zu bekämpfen, braucht manSteuerfahnderinnen und Steuerfahnder. Allein in Bayernbrauchen wir 1 500 weitere Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter. Wissen Sie, was nicht geht? Es geht nicht, dasssich Bayern bei den Reichen mit dem Hinweis beliebtmacht, man mache in Bayern nur wenige Betriebsprü-fungen, man schaue gar nicht genau hin. Die Begünsti-gung von Steuerstraftaten darf nicht länger ein Lockmit-tel einiger Bundesländer in Deutschland sein.
Das heißt, Bayern muss aufhören, das Eldorado derSteuerhinterzieherinnen und Steuerhinterzieher zu sein.Wir müssen auch hier andere Wege gehen.Drittens. Wir müssen die Steuerpflicht für Einkom-men und – wenn wir endlich wieder eine Vermögen-steuer erheben – für Vermögen an die Staatsbürgerschaftbinden. Was schlagen wir Ihnen denn hier Schlimmesvor? Wir schlagen Ihnen vor, US-Recht in Deutschlandzu übernehmen. Was sollte dagegen sprechen? Die USAmachen das so. Ein Deutscher darf ja auf den Seychellenwohnen. Die Reichen können nach Lichtenstein ziehen;sie können ziehen, wohin sie wollen. Aber sie sind ver-pflichtet, bei dem in Deutschland dafür zuständigenFinanzamt ihr Einkommen anzugeben, ihr Vermögen an-zugeben und mitzuteilen, wie viele Steuern sie dafür bei-spielsweise auf den Seychellen zu zahlen haben.
Die Differenz zu den Steuern, die in Deutschland gelten,müssen sie dann überweisen. Diese Pflicht ist an dieStaatsbürgerschaft gebunden. Das machen die USA so.Weniger als eine Handvoll haben deshalb die US-ameri-kanische Staatsbürgerschaft aufgegeben. Für Deutsch-land gilt: Die Betreffenden haben schon ihre Gründe,warum sie Deutsche sein wollen. Versuchen Sie einmal,Monegasse zu werden. Ich kann Ihnen sagen: Das istsehr schwierig.
Metadaten/Kopzeile:
29994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
(C)
(B)
– Nein, aber ich habe mich erkundigt, weil ich wusste,dass so viele von Ihnen darauf reagieren würden. Mirwar gleich klar, dass dieses Argument kommt; aber eszieht nicht.
Ich sage Ihnen noch eines. Ich gönne Herrn Becken-bauer alle Bundesverdienstkreuze, die er bekommen hat.Aber ich finde, es ist eine Unverschämtheit, dass erTricks nutzt, um in Deutschland keine Steuern zahlen zumüssen. Jemand wie er, der in Deutschland wirkt undagiert, hier aber keine Steuern zahlt, sollte wenigstenskeine Bundesverdienstkreuze bekommen.
Wir könnten das ganze Thema beenden, indem wir sa-gen: Du kannst in Österreich wohnen. Aber die Diffe-renz bei der Steuer hast du an Deutschland zu zahlen. –Was spricht dagegen?Viertens. Wir müssen, wie es ebenfalls in den USAder Fall ist, eine Informationspflicht der Banken im Hin-blick auf steuerrelevante Tatsachen einführen.
Was spricht denn dagegen? Wenn eine Bank diese Infor-mationspflicht verletzt, dann gibt es in den USA emp-findliche Geldstrafen; auch diese könnten wir einführen.Fünftens. Wir brauchen natürlich auch einen Informa-tionsaustausch zwischen Staaten und Banken. Wenn sicheine ausländische Bank verweigert und sagt: „Von unserfahrt ihr nichts“, dann entziehen wir dieser ausländi-schen Bank in Deutschland die Lizenz. Wenn das auchFrankreich und – das ist allerdings sehr unwahrschein-lich – Großbritannien machen würden, wenn wir alsoimmer mehr Länder dafür gewinnen könnten, was glau-ben Sie, wie schnell die Banken diszipliniert wären?Man merkt es ja schon jetzt: In Luxemburg denkt manum, in Liechtenstein denkt man um, selbst in derSchweiz beginnt man vorsichtig, umzudenken.Nun zu unserem zweiten Antrag, in dem es um dieStraffreiheit von Steuerhinterzieherinnen und Steuerhin-terziehern bei Selbstanzeige geht. Ich weiß, diese Rege-lung gilt seit über 100 Jahren;
deshalb hat man sich daran gewöhnt. Ich halte sie fürgrundlegend falsch.
Ich halte sie für ungerecht, weil es eine vergleichbareRegelung für kleinere Delikte anderer Art nicht gibt.
– Das ist Quatsch, was Sie sagen.
Es gibt kein Gesetz, das bei Selbstanzeige Straffreiheitgarantiert.
Das gibt es nicht für den Schwarzfahrer, nicht für denVerkehrssünder, nicht für den kleinen Betrüger und nichtfür den kleinen Dieb. Nur im Hinblick auf Steuerhinter-ziehung in Millionenhöhe gibt es eine gesetzliche Rege-lung.
Schon deshalb kann diese Regelung nicht aufrechterhal-ten werden.
Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, ein Ver-fahren einzustellen.
– Hören Sie zu! – Ich habe gerade die Anklage gegen ei-nen Mann gelesen, der auf der Autobahn rechts überholthat. Das ist nicht in Ordnung; aber mehr ist nicht pas-siert. Es beschäftigen sich zwei Polizisten, ein gut ausge-bildeter und teurer Staatsanwalt sowie ein gut ausgebil-deter und teurer Richter mit so einem Pipifax! Das mussaufhören.
Wir brauchen endlich eine vernünftige Regelung, die be-sagt, dass Bagatelldelikte anders behandelt werden.
Wir könnten zum Beispiel sagen – das Stichwort „Ba-gatelldelikte“ spielt nämlich auch beim Thema Steuerneine Rolle –: Bei Bagatelldelikten gibt es eine polizeili-che Strafverfügung. Wer sie anerkennt, für den ist dieAngelegenheit erledigt. Wer sie nicht anerkennt, derkann Einspruch einlegen; erst dann beschäftigt sich einGericht damit. Was spricht denn dagegen? In anderenLändern gibt es solche Regelungen. Bei uns müssen sichStaatsanwälte und Richter mit Kikikram befassen, undfür die großen Fälle haben sie dann keine Zeit mehr. Dasgeht gar nicht.
Deshalb sage ich: Dieses Privileg muss weg.Das Argument – es ist auch von Herrn Steinbrück an-geführt worden, wegen dieses Privilegs habe man so vielGeld eingenommen – hat sich doch überhaupt nicht be-stätigt. Auch Uli Hoeneß hat seine Entscheidung nichtganz so freiwillig getroffen, wie er sagt. Vielmehr war esdoch so: Erst wurde das Steuerabkommen mit derSchweiz abgelehnt, dann wurden die Steuer-CDs ge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29995
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
kauft, und dann folgte sein Geständnis. Ich sage Ihnen:Das hilft uns nicht wirklich weiter, und das ist auch keinArgument gegen Strafgerechtigkeit.Ich sage Ihnen noch etwas: Hugo Müller-Vogg hatgestern in der Bild-Zeitung Folgendes geschrieben
– hören Sie zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion; in Ihrer Bild-Zeitung –:Deshalb gehört die Strafbefreiungs-Möglichkeit fürasoziale Reiche endlich abgeschafft.Recht hat die Bild-Zeitung von gestern; das muss ich zu-geben.
Ich weiß, dass noch viel mehr gegen Steuerhinterzie-hung zu tun wäre.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsichtkümmert sich plötzlich darum, dass deutsche Banken in22 Steueroasen Sitze haben.
Da geht es um ein riesiges Vermögen von 152 MilliardenEuro. Die Deutsche Bank unterhält in ihrer Filiale inSingapur ein Netzwerk von über 300 Trusts und Firmen.
Herr Gysi? – Ich weiß, Sie sind immer erstaunt da-
rüber, dass ausgerechnet ich Ihnen sagen muss, dass Ihre
Redezeit vorbei ist.
Ist meine Redezeit schon vorbei? Das ist sehr bedau-
erlich.
Zum Schluss sage ich Ihnen nur noch eins: Wir haben
die Chance, mit gutem Beispiel voranzugehen. Heute
müssen Sie Farbe bekennen. Stimmen Sie beiden Anträ-
gen zu,
und das Werk der Steuerflucht und der Steuerhinterzie-
hung ist arg beeinträchtigt. Glauben Sie es mir!
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der heute vorliegende Antrag der Linken hat den Titel„Steueroasen trockenlegen – offshore und hierzulande“.Offshore – ja. Aber hierzulande? Wenn jemand hier imDeutschen Bundestag behauptet, dass es in DeutschlandSteueroasen gibt,
dann beschimpft er sein eigenes Land.
Dann beschimpft er alle Regierungen und alle Bundes-länder in Deutschland.
Es ist eine schäbige Schmutzkampagne, die hier betrie-ben wird. Es gibt keine Steueroasen in Deutschland.
Da Sie vonseiten der Linken so dagegen brüllen: Icherinnere mich gerne an unseren Kollegen Karl-JosefLaumann, Sozialpolitiker und Sozialminister in Nord-rhein-Westfalen,
der hier an dieser Stelle sinngemäß gesagt hat: Ich war1990 in Mecklenburg-Vorpommern und habe dort zumersten Mal ein Pflegeheim in der DDR gesehen: diedurchgelegenen Matratzen, die rostigen Gestelle. Als ichdie Zustände dort gesehen habe, habe ich mir geschwo-ren: Mir wird niemals mehr ein Sozialist oder Kommu-nist sagen können, was Sozialpolitik ist. – Das gilt auchfür diesen Bereich.
Die internationale Besteuerung steht bei allen interna-tionalen Konferenzen ganz oben auf der Tagesordnung.Unser Finanzminister hat dieses Thema bei den G-5-Ver-handlungen, also bei den großen 5 in Europa, und beiden G-20-Verhandlungen, also bei den großen 20 in derWelt, immer wieder auf die Tagesordnung gebracht. Un-ser Finanzminister ist derjenige, der dieses Thema welt-weit vorantreibt.
Wir müssen sehr genau zwischen Steuergestaltungund Steuervermeidung unterscheiden. Was ist Steuerge-staltung? Vom Bundesverfassungsgericht ist deutlich ge-macht worden, dass man innerhalb des Geltungsberei-ches des deutschen Steuergesetzes selbstverständlich dieVorteile des Steuergesetzes nutzen darf. Demgegenübersteht die Steuervermeidung. Diese wird im internationa-len Bereich sehr intensiv diskutiert. Es gibt Firmen wieAmazon, Starbucks und Google, die durch Lizenzen undPatente in der Tat Gewinne ins Ausland verlagern, in-dem sie sie über Holland oder über Irland in Steueroasentransferieren. Unser Finanzminister hat gerade die soge-
Metadaten/Kopzeile:
29996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Klaus-Peter Flosbach
(C)
(B)
nannte BEPS-Initiative ergriffen, um dagegen vorzuge-hen. Das wird sogar federführend von der deutschenSeite betrieben. All das haben wir auf internationalerEbene in der letzten Zeit erreicht.
Neben der Steuervermeidung und der Steuergestal-tung gibt es selbstverständlich die Steuerhinterziehung.Das ist ein Straftatbestand. Es ist nicht zu ertragen, wieviele hier Steuern hinterziehen. An dieser Stelle müssenwir scharf durchgreifen. Das tun wir in diesem Staatauch.
So haben wir gemeinsam mit Ihnen in der Großen Koali-tion die Verjährungsfrist für schwere Straftaten von fünfauf zehn Jahre verlängert. Das ist doch ein Erfolg; dassollten Sie einmal anerkennen.Herr Gysi, Sie haben gerade davon gesprochen, dassdie Steuerpflicht an das Staatsangehörigkeitsrecht ge-knüpft werden sollte. Wir wissen, dass das weltweit nurLiberia und die USA so handhaben.
Das Rechnungsprüfungsamt des US-Kongresses sagt:Wir erfassen maximal 40 Prozent unserer Staatsbürgerweltweit, weil wir keinen Einfluss darauf haben, wie dieBesteuerung bzw. die Einkünfte beispielsweise in SriLanka, in Indien, in Südamerika oder in Kasachstan aus-sehen. – Das ist der Widerspruch in Ihrem Antrag. Aufder einen Seite sagen Sie: Alle deutschen Staatsbürgersollen erfasst werden. Auf der anderen Seite fordern Sieaber, dass auch alle in Deutschland mit einer Dauerauf-enthaltsgenehmigung lebenden Menschen zu 100 Pro-zent erfasst werden sollen.
Ich frage mich: Wofür haben wir denn dann die Doppel-besteuerungsabkommen? Sie wollen die Menschen dochwieder nur einschränken. Sie sind doch gegen die Frei-zügigkeit und die Niederlassungsfreiheit. Das ist IhrePolitik.
Wir haben in diesen dreieinhalb Jahren 40 Doppelbe-steuerungsabkommen, auch mit vielen Steueroasen, ge-schlossen. Wir haben auf Anfrage den Informationsaus-tausch auf OECD-Standard umgestellt. In der letztenLegislaturperiode hat Herr Steinbrück übrigens nur 6 Dop-pelbesteuerungsabkommen umgesetzt. Herr Schäuble da-gegen hat 40 umgesetzt. In der Fußballersprache – Fuß-ball ist in dieser Woche ein großes Thema – würde mansagen: Es steht 8 : 1 im Spiel Schäuble gegenSteinbrück. Das sollten wir einmal festhalten.
Sie haben von einer Bundesfinanzpolizei gesprochen.Selbstverständlich sind wir nicht dagegen, dass auf Bun-desebene Dinge konzentriert werden, wie es zum Bei-spiel beim Bundeszentralamt für Steuern der Fall ist. Esgab in dieser Legislaturperiode eine Untersuchung dahingehend, ob die Fahndung und das Kriminalamt aus demZoll herausgelöst werden sollen. Die Entscheidung derKommission lautete: Tun Sie es nicht! Das gibt nur Ver-werfungen und neue Friktionen. Das hat keinen Sinn.Außerdem ist das eine Sache der Länder. Das sollten wirnicht vergessen: Die Steuerermittlung ist eine Sache derLänder. Für eine Neuregelung bräuchte man eine Föde-ralismuskommission III. Aber wenn es um Fragen derVerfassung geht, sind Sie bekanntermaßen sehr zurück-haltend.Meine Damen und Herren, unser Ziel ist der interna-tionale Informationsaustausch. Den OECD-Standard ha-ben wir erreicht. Wir arbeiten weiter am internationalenInformationsaustausch: In der nächsten Sitzungswochewerden wir hier das Informationsabkommen FATCA mitden USA verabschieden. Dieser automatische internatio-nale Informationsaustausch ist wichtig.
– Herr Zöllmer, Sie haben gerade dazwischengeschrien.Seit zehn Jahren gibt es in Europa die Zinsrichtlinie.
Bei der Umsetzung der Zinsrichtlinie hat Rot-Grün or-dentliche Steuerschlupflöcher eröffnet; denn man hatsich nur auf ein Abkommen über Zinsen einigen könnenund hat Österreich, Luxemburg und Belgien einfach au-ßen vor gelassen. Sie haben diese Länder nicht einbezo-gen, weil Sie das damals nicht umsetzen konnten.
Wir fordern auch die Besteuerung von Veräußerungs-gewinnen, von Dividenden, auf Stiftungen, auf Trustsund auf alle Körperschaften; das ist unsere Forderung,die wir in der nächsten Zeit umsetzen wollen, meine Da-men und Herren.
Die Steueramnestie, die Rot-Grün vor wenigen Jahrenumgesetzt hat – mit einem Sonderangebot von 15 Pro-zent –, wurde uns hier als Förderung der Steuerehrlich-keit verkauft.Sie wissen: Wir haben die Regeln für die Selbstan-zeige in Deutschland dramatisch verschärft. Nur wennman sich lückenlos erklärt und die Finanzbehörden nochkeinerlei Kenntnisse haben, ist eine Selbstanzeige mög-lich – wie sie übrigens auch in anderen Bereichen nachdem Strafgesetzbuch möglich ist.Sie haben das deutsch-schweizerische Abkommenmit Häme bedacht – wir hatten hier diese Woche eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29997
Klaus-Peter Flosbach
(C)
(B)
große Diskussion zu diesem Thema –; aber Sie wissenalle genau, dass 90 Prozent aller Steuernachzahlungenbei einer Selbstanzeige, inklusive der 5 Prozent Strafge-bühr, geringer sind als nach dem Steuerabkommen mitder Schweiz. Mit diesem Abkommen hätten wir 21 bis41 Prozent aller Vermögen bekommen. 56 Prozent allerKonten in der Schweiz sind älter als zehn Jahre; diese er-fassen wir mit der Selbstanzeige nicht. Der Bund hättemindestens 10 Milliarden Euro eingenommen.
Die Steuergewerkschaften – gehen Sie einmal auf de-ren Homepages – gehen von der dreifachen Höhe aus.Weil Sie, meine Damen und Herren von der linken Seitedes Hauses, diesem Abkommen nicht zugestimmt haben,müssen wir allein wegen Verjährung auf 6 bis 15 Mil-liarden Euro verzichten.
Von allen Erbschaften, bei denen das Konto nicht be-kannt ist, hätten wir 50 Prozent erfasst, und in Zukunftwäre die Besteuerung die gleiche gewesen wie inDeutschland.Ich komme zum Schluss. Viele verlassen Deutsch-land, darunter Sportler wie Vettel und Schumacher. Ichfinde das traurig. Es tut sehr weh, dass Leute, die hierErfolg gehabt haben, das Land verlassen. Aber dasSchlimmste ist, wenn Rot, Grün oder Dunkelrot mit ihrerVermögensteuer hier jetzt noch zugreifen wollen.
Herr Kollege.
Die Steuerehrlichen, die ihren Wohnort in Deutsch-
land haben, wollen Sie mit Ihrer Vermögensabgabe
von 5 Prozent jährlich enteignen.
Wenn diese Vermögensteuer umgesetzt wird, gibt es
keine Investitionen mehr in Deutschland, und noch mehr
Leute werden das Land verlassen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen, bitte.
Schwarz-Gelb will diesen Staat sicher und stabil hal-
ten; das ist unser Anspruch.
Jetzt hat Joachim Poß das Wort für die SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Zunächst zum Antragsteller. Herr Gysi,zu Ihrem Repertoire gehörte schon immer die Ge-schichtsklitterung – bei all Ihren Reden natürlich rheto-risch sehr gut ausgeschmückt. Das praktizieren natürlichauch andere: So hat sich Frau von der Leyen hier gesternals Erfinderin des Mindestlohnes stilisiert.
Das kann man Ihnen so nicht durchgehen lassen.Nach der Bundestagswahl 2002 war die Linke hiernur noch mit zwei Abgeordneten vertreten. Vielleicht istim kollektiven Gedächtnis der Partei deshalb nicht sorecht verankert, dass Rot-Grün 2002 in der Koalitions-vereinbarung die Aufhebung des Bankgeheimnisses ver-abredet hat. Weil ich ziemlich viel damit zu tun hatte,weiß ich das noch so genau. Wir haben das im Bundes-tag durchgesetzt. Es ist dann im Bundesrat an Schwarz-Gelb gescheitert.
Der Kompromiss, der herauskam, war der sogenannteKontenabruf.Schauen Sie sich als nächsten Punkt die sogenannteDeregulierung auf den Finanzmärkten in Deutschlandgenau an, und zählen Sie doch einmal die Anzahl derHedgefonds, die sich anschließend in Frankfurt oder woauch immer niedergelassen haben! Sie wissen genau,dass die Debatte, die Sie da führen, eine Phantomdebatteist.Eichels Brücke zur Steuerehrlichkeit – von Ihnen an-gesprochen – setzte natürlich eine Aufhebung der Ano-nymität voraus.
Da mussten die Leute die Hosen herunterlassen. Dasdeutsch-schweizerische Abkommen von Schwarz-Gelbsollte dagegen geschaffen werden, um den Steuerkrimi-nellen die Anonymität zu belassen. Das ist der Unter-schied.
Wir Sozialdemokraten lassen uns von Ihnen hier nicht ineinen Topf mit anderen werfen. Das sage ich ganz klar.Nun komme ich zu den Ankündigungspolitikern vonSchwarz-Gelb. Die überbieten sich ja jeden Tag mitneuen Ankündigungen. Der Minister wird auf dem Feldjetzt richtig aktiv. Bis vor einem halben Jahr hat man mit
Metadaten/Kopzeile:
29998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Joachim Poß
(C)
(B)
Ausnahme dieses verkorksten Steuerabkommens mit derSchweiz kaum etwas von ihm zu diesen Fragen gehört.
Das Urteil zum Steuerabkommen mit der Schweiz istgesprochen. Das werden Sie auch nicht mehr korrigierenkönnen,
weil spätestens nach dem jetzt bekannt gewordenen pro-minenten Fall, als Uli Hoeneß eingestand: „Ich habe da-rauf gewartet, dass dieses Abkommen kommt“, den Leu-ten klar wurde, was das eigentlich bedeutet hätte. DiesesAbkommen kam aber nicht, und dann mussten andereWege gesucht werden.
Herr Flosbach, Sie versuchen, den Schwarzen Peterbei anderen zu finden: bei der Europäischen Kommis-sion, der OECD, den G 20, Liechtenstein, Österreich,Großbritannien. Der Schwarze Peter hat bei Ihnen vieleNamen, weil Sie einen Schuldigen suchen: für den jahre-langen Stillstand im Kampf gegen Steuerhinterziehung,den Sie zu verantworten haben,
für die Blockade der Verhandlungen zur europäischenZinsrichtlinie und für die Steuerschlupflöcher für Reicheund Großkonzerne.
Ich warne Sie aber: Der Schwarze Peter geht reihum,und am Ende kommt er zurück. Und das ist auch gut so;denn der Kampf gegen Steuerhinterziehung beginnt vorder eigenen Haustüre, also hier in Deutschland, und hiersind Sie als Koalition zuständig. Dieser Verantwortungentziehen Sie sich.
Wenn jetzt nach all der Aufregung um Offshore-Leaks, neue Steuer-CDs und die Steuerhinterziehungvon Prominenten eines deutlich geworden ist, dann das,dass Sie Ihre Verantwortung über Jahre nicht wahrge-nommen haben.
Jetzt versuchen Sie, wie gesagt, wirklich verzweifelt, dieVerantwortung abzuschieben.
Einen Kronzeugen für den bisherigen Kuschelkursgegenüber Steuerkriminellen nennt heute Deutschlandsauflagenstärkste Tageszeitung. Ein Schweizer Bankeraus Zürich wird mit den Worten zitiert:Zum Glück ist die deutsche Regierung nicht so ent-schlossen wie die amerikanische …Das zeigt doch wieder einmal: Sie selbst haben den Still-stand im Kampf gegen Steueroasen ganz stark mitzuver-antworten. Sie haben zu verantworten, dass den deut-schen Steuerflüchtlingen in der Schweiz über Monatedie Hoffnung auf ewige Anonymität gemacht wurde. Siehaben die Verantwortung für die gescheiterten Verhand-lungen zur europäischen Zinsrichtlinie zu tragen. Sie ha-ben der Schweiz eine Privilegierung angeboten, die Ös-terreich und Liechtenstein dann auch für sich geforderthaben.Inzwischen kommen Sie langsam wie ein überzeugterWendehals zur Vernunft, aber nicht aus eigener Einsicht,sondern weil der öffentliche Druck Tag für Tag steigt,und fordern jetzt den automatischen Informationsaus-tausch als neuen Standard, den Sie mit dem Deutsch-Schweizer Abkommen systematisch unterlaufen woll-ten. Das hat doch die Neue Zürcher Zeitung berichtet.
Die Strategie der Schweizer Regierung – das stand inder Neuen Zürcher Zeitung –, die europäischen Regie-rungen gegeneinander auszuspielen, ist an der deutschenOpposition gescheitert. Jawohl, an der deutschen Oppo-sition und an nichts anderem ist sie gescheitert!
Wir wollen einen automatischen Informationsaustauschfür alle Kapitaleinkünfte und für alle juristischen und na-türlichen Personen.Beim Jahressteuergesetz 2013 waren sich Bund undLänder im Vermittlungsausschuss schon einig, wie manSteuerbetrug in Deutschland bekämpfen kann. Wirkönnten zum Beispiel das Außensteuergesetz ändern.Dann könnten wir Einkommen aus ausländischen Fami-lienstiftungen denjenigen zurechnen, die ihr Geld indiese Stiftungen gesteckt haben, und somit diese Ein-künfte endlich der vollen Besteuerung zuführen. Wirkönnten auch endlich den automatisierten Informations-austausch im EU-Amtshilfegesetz einführen oder end-lich den bisher legalen Erbschaftsteuertrick der Cash-GmbHs verhindern. Ihr gestern verabschiedeter Vor-schlag fällt leider hinter die bereits getroffene Bund-Länder-Einigung zurück.
Auch wenn es Sie vielleicht wundert: Das alles sindSachen, die Sie, wenn Sie es mit dem Kampf gegen dieSteuerhinterziehung ernst meinten, ganz einfach machenkönnten. Ihnen fehlt aber der politische Wille, ernst zumachen. Sie erwecken nur den Anschein, als wollten Siesich engagieren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 29999
Joachim Poß
(C)
(B)
Über die Verhältnisse in Bayern – damit meine ichnicht die Menschen in Bayern, sondern die bayerischeCSU – will ich gar nicht reden, also auch nicht darüber,wie es da mit der Steuerfahndung aussieht, die zu40 Prozent nicht besetzt ist, nicht darüber, dass HerrSeehofer wohl noch nie etwas vom Steuergeheimnis ge-hört hat. Es gibt dort skandalöse Vorgänge, die man auf-arbeiten muss.Wir müssen auch über die strafbefreiende Selbstan-zeige reden, die Sie nicht antasten wollen. Sie kommtaus einer Zeit, in der der Staat nur hoffen konnte, dasssich Steuerbetrüger von selbst stellen. Aber diese Zeitensind vorbei. Der Wind hat sich gedreht. Steuerbetrügergeraten an vielen Stellen immer mehr unter Druck. Wennjetzt noch jemand die Selbstanzeige nutzt, dann dochnur, weil er weiß, dass er in Bälde so oder so enttarntwird.Wir stellen uns die Beibehaltung der Selbstanzeigefür eine Übergangsfrist und dann eine ganz starke Ein-schränkung bis auf Bagatellfälle vor. Das ist unser Kon-zept. Das sage ich hier ganz offen, weil in der Öffent-lichkeit unterschiedliche Eindrücke aufgekommen sind.Unser Konzept knüpft an das Konzept an, das die SPD-Bundestagsfraktion im Frühjahr 2010 in den DeutschenBundestag eingebracht hat.
Fangen Sie also endlich an, Ihre Hausaufgaben zumachen. Schließen Sie umgehend die Steuerlücken, dieSie als Gesetzgeber auch ohne internationale Hilfeschließen können. Es ist nämlich schlicht falsch, wennSchäuble, Rösler, Wissing und Co behaupten, mankönne ohne internationale Partner gar nichts ausrichten.Streichen Sie nicht das Jahressteuergesetz zusammen,sondern stimmen Sie der Vorlage im Vermittlungsaus-schuss zu, wenn Sie es mit dem Kampf gegen Steuerhin-terziehung ernst meinen.
Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing das Wort für
die FDP-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wer diese Sitzungswoche, die bisherigeDebatte und insbesondere die Beiträge der Opposition
verfolgt hat, der fragt sich, warum man zu einem sowichtigen Thema so viel Unsinn von sich geben kann.
Herr Gysi stellt sich hier an das Mikrofon und erklärtder deutschen Öffentlichkeit, noch keine Bundesregie-rung habe etwas Nennenswertes gegen Steuerhinterzie-hung getan. Herr Gysi, das ist ein so geballter Unsinn.Bisher hat jede Bundesregierung nach Kräften gegenSteuerhinterziehung gekämpft. Das ist die Wahrheit, unddas wissen Sie auch.
Es gab allerdings unterschiedliche Konzepte. Die So-zialdemokraten hatten für das Problem mit der Steuer-flucht in die Schweiz den Vorschlag, dass diejenigen, diesich freiwillig melden, mit einer Besteuerung von15 Prozent pauschal abgegolten werden; diejenigen, diesich nicht melden, konnten selbstverständlich in der An-onymität bleiben und brauchten nichts zu bezahlen. DasKonzept, das wir ausgehandelt haben, war, dass alle lü-ckenlos besteuert werden – dem könnte sich also keinermehr entziehen –, und zwar mit Steuersätzen zwischen21 und 41 Prozent.Das sind unterschiedliche Konzepte. Wir sagen: Lü-ckenlose Besteuerung ist gerechter; jeder soll bezahlen.Sie hingegen sagen: Bezahlen sollen nur diejenigen, diesich freiwillig melden, oder diejenigen, die man er-wischt. Auch wenn diese Ansätze unterschiedlich sind,ist das Ziel das gleiche: Steuerhinterziehung zu bekämp-fen. Man kann es lückenhaft oder lückenlos machen. Wirwaren und bleiben für eine lückenlose Besteuerung.
– Jetzt rufen Sie wieder herein: Aber nach Ihrem Kon-zept wären die Steuerhinterzieher anonym geblieben. Ja,das stimmt. Wenn man sich nämlich für den Weg des lü-ckenlosen Besteuerns entscheidet, ist die Anonymität dieKehrseite der Medaille; denn die Schweiz kann ihre Ge-setze nicht rückwirkend ändern.
Sie sollten aufhören, dagegen zu argumentieren; dennalles, was Sie gegen unsere Argumente sagen, ist entwe-der Lüge oder Täuschung der Öffentlichkeit.
Dafür ist dieses Thema wirklich zu ernst.
– Jetzt ruft hier jemand „Winkeladvokat“.
Metadaten/Kopzeile:
30000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
Wissen Sie, besser Winkeladvokat, als von der deut-schen Verfassung keine Ahnung zu haben. Darin sindSie nämlich ganz groß.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre es dochan der Zeit, dass wir über dieses Thema einmal sachlichreden; denn die Öffentlichkeit ist es doch leid, von derOpposition bei diesen Fragen vergackeiert zu werden.Sie unterbreiten der Öffentlichkeit zu diesem Thema seitMonaten nur Täuschung, Lüge, Unwahrheiten.
Jetzt kommen Sie mit dem Thema Bundesfinanzpoli-zei. Ja, es ist in Deutschland immer wieder diskutiertworden, dass die Art der Steuererhebung und auch dieArt der Steuerprüfung durch die einzelnen Finanzver-waltungen der Länder unterschiedlich erfolgen. Auchdie Personalstärke in der Finanzverwaltung – auch beider Steuerfahndung – ist unterschiedlich. Das ist thema-tisiert worden. Aber das hat doch nichts mit Bayern zutun, Herr Gysi.
Sie wollen doch immer so objektiv wirken. Dann wärees gut gewesen, wenn Sie das Land Berlin genommenhätten, und zwar in der Zeit, in der die Linken dort Re-gierungsverantwortung gehabt haben.
Dort haben Sie nämlich genau in diesem Bereich derFinanzverwaltung, bei der Steuerfahndung, Personal ab-gebaut.
Das war doch die Politik der Linken. Wenn Sie der Öf-fentlichkeit erklärt hätten, warum Sie das gemacht ha-ben, dann wäre etwas Sachlichkeit in diese Debatte ge-kommen. Stattdessen reden Sie von Bayern.
Sie können doch die Dinge dort regeln, wo Sie Regie-rungsverantwortung haben. Tun Sie das doch einmal!
Sie kommen uns immer mit der OECD und denSteueroasen. Auf der aktuellen Liste der OECD wirdkein einziges Land weltweit als Steueroase geführt. Wo-ran mag das wohl liegen? Das mag daran liegen, dass dieBundesregierung in den letzten Jahren massiv daran ge-arbeitet hat, dass über die Umsetzung von Abkommendie Steueroasen ausgetrocknet werden. Das ist ein guterWeg.
Wir haben mit 93 Staaten Doppelbesteuerungsabkom-men im Einkommensteuerbereich. Wir haben sechsDoppelbesteuerungsabkommen im Erbschaft- undSchenkungsteuerbereich, zwölf im Unternehmensteuer-bereich und 26 Abkommen im Bereich der Rechts- undAmtshilfe sowie beim Auskunftsaustausch.
Sie haben gesagt: Keine Regierung hat etwas Nen-nenswertes getan. – Was glauben Sie, was die Öffent-lichkeit über Sie denkt, Herr Gysi, nachdem Sie dieseUnwahrheiten am Mikrofon gesagt haben?
Jetzt kommen wir zur strafbefreienden Selbstanzeige.Herr Poß hat versucht, die fünf Meinungen, die dieseWoche seitens der SPD zu diesem Thema vertreten wur-den, zu einer zusammenzuführen.
Die Wahrheit ist: Poß hat gesagt: Die strafbefreiendeSelbstanzeige soll abgeschafft werden. Steinbrück hatgesagt: Sie soll beibehalten werden. Dem Herrn Gabrielwar es peinlich, und so hat er dann gesagt: Na ja, wirwollen sie irgendwie schon abschaffen, aber erst einmalbeibehalten, und mittelfristig muss man mal schauen. –Das ist die Meinung, die die SPD dazu geäußert hat.Jetzt kann ich Ihnen sagen, warum Herr Steinbrücksagt, er will sie nicht abschaffen.
Man braucht sie im Bagatellbereich. Wenn ein Bürgereinmal vergessen hat, etwas in seiner Steuererklärunganzugeben, und das nachliefert, dann soll er nicht in Ver-dacht kommen, sodass ein Ermittlungsverfahren einge-leitet und geprüft werden muss, ob das vorsätzlich oderfahrlässig war, und das wegen 5 Euro. Das würde dieFinanzverwaltung lahmlegen, und das ist auch den Bür-gerinnen und Bürgern nicht zuzumuten.
Herr Wissing, es gibt eine Zwischenfrage von der
Linken.
Ich möchte weiterreden. Von der Opposition kommtzu diesem Thema nur Quatsch. Dafür brauchen wir indiesem Haus nicht die Zeit zu verschwenden.
– Ja, seit Monaten kommt nur Quatsch.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30001
Dr. Volker Wissing
(C)
(B)
Jetzt will ich Ihnen auch sagen, warum die strafbefrei-ende Selbstanzeige erforderlich ist.
Ich habe das diese Woche hier schon einmal gesagt, aberSie wollen es ja nicht wahrhaben. Es gibt im Besteue-rungsverfahren die Pflicht des Bürgers, sich der Finanz-verwaltung wahrheitsgemäß zu offenbaren. Seit Ab-schaffung der Inquisition 1848 haben wir den Grundsatz„Nemo tenetur“: Kein Straftäter muss an seiner Überfüh-rung mitwirken und sich selbst belasten.Hier besteht ein Widerspruch: Ich kann nicht einer-seits von einem Steuerhinterzieher erwarten, dass er sichoffenbart, und ihm andererseits sagen: Du musst dichaber nicht selbst belasten. Deswegen gibt es die strafbe-freiende Selbstanzeige. – Jetzt ist die Opposition aber er-staunt!
Herr Gysi hatte jetzt 20 Jahre Zeit, sich mit derRechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aus-einanderzusetzen.
Herr Gysi, Sie könnten das längst wissen. Aber entwederhängen Sie noch geistig in der Verfassungssituation derDDR fest, oder Sie verkünden der Öffentlichkeit dengrößten Quatsch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten ein Be-steuerungsabkommen vorgelegt, das für die Vergangen-heit die lückenlose Besteuerung aller Steuerhinterziehersichergestellt hätte – zugegeben mit Anonymität, weil esnicht anders ging – und für die Zukunft eine hundertpro-zentige Sicherstellung der Besteuerung ohne die Mög-lichkeit der Steuerhinterziehung. Sie haben das abge-lehnt.Nach Ihren Debattenbeiträgen komme ich langsam zudem Eindruck, Sie lehnen die Bekämpfung der Steuer-hinterziehung ab, weil Sie versuchen, aus dem Themapolitisch Kapital zu schlagen. Das ist die eigentlicheSchweinerei Ihrer politischen Haltung.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambkefür Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Die Debatte ist mitRecht engagiert. Sie ist mit Recht zum Teil auch pole-misch; denn es geht wirklich um viel. Insofern, denkeich, ist es schon gut, ein bisschen zu den Tatsachen zu-rückzukommen. Herr Flosbach, immer wenn Sie lautwerden – das habe ich in den letzten drei Jahren gemerkt –,dann wird die Argumentationskette etwas dünner. BeiHerrn Wissing ist das ähnlich.
Erstens. Was Sie hier nicht erwähnen, ist der Inhaltdes Art. 10 in dem Schweizer Steuerabkommen. InArt. 10 – das werden Sie nicht auswendig wissen – istals Alternative zu dem, was Sie dargestellt haben, näm-lich eine Pauschalbesteuerung zwischen 21 und 41 Pro-zent, die strafbefreiende Selbstanzeige explizit vorgese-hen. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass sich derSteuerpflichtige in Form einer Günstigerprüfung – dafürgibt es Gelegenheit, dafür wird extra Zeit eingeräumt –zurücklehnen und sich fragen kann: Ziehe ich mich indie kuschelige Anonymität des Abkommens zurück,dann muss ich vielleicht ein bisschen mehr zahlen, odernutze ich die Möglichkeit der strafbefreienden Selbstan-zeige und zahle vielleicht weniger, muss aber dem Fi-nanzamt, nicht der Öffentlichkeit, offenlegen, was ichmit meinem Geld gemacht habe? – Das aber erzählen Sieden Leuten nicht. Deshalb stimmt Ihre gesamte Argu-mentation nicht.
– Lesen Sie es bitte schön nach.Zweitens. Sie haben über FATCA gesprochen. Dabeihaben Sie so getan, als ob ein FATCA-ähnliches Abkom-men bereits beschlossene Sache sei und in der nächstenSitzungswoche im Bundestag endgültig abgesegnetwerde.
Wir hatten Professor Grinberg in den Finanzausschusseingeladen. Da kannten Sie den Begriff „FATCA“ nochgar nicht richtig.
Sie wussten nicht, dass die USA und die Schweiz schonim Mai letzten Jahres FATCA unterzeichnet hatten unddamit einen neuen Weg eingeschlagen hatten, nämlich inden automatischen Informationsaustausch. Erzählen Siehier also nicht so einen Blödsinn!
Metadaten/Kopzeile:
30002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Thomas Gambke
(C)
(B)
Drittens. Herr Wissing, Sie haben zu Recht und insehr ruhiger Weise vorgetragen – das finde ich gut –,dass es bei Ihrem Konzept die Wahl zwischen Anonymi-tät und Offenlegung – aber nicht öffentlich – gegenüberdem Fiskus gab. Was Sie aber verschweigen, ist, dass dieVorsitzende des Finanzausschusses mit uns in Luxemburgwar und die Kollegen in Luxemburg und auch in Öster-reich explizit erklärt haben, dass Luxemburg und Öster-reich dann, wenn das Steuerabkommen mit der Schweizbeschlossen und die darin vorgesehene Anonymität zu-gesichert wird, der EU-Zinsrichtlinie nicht zustimmenwerden. Das ist doch die Wahrheit.
– Nein, sie gehört nicht dazu, aber Luxemburg und Ös-terreich haben sich daran orientiert. Das ist doch derPunkt.
Diese Länder haben sich deshalb schon seit Jahren ver-weigert, und jetzt erst sagen sie: Wir machen mit.
Ich will jetzt meinen Ton etwas mäßigen, weil ichglaube, das Thema ist viel zu wichtig. Wenn man sieht,dass heute in den USA 1,5 Billionen US-Dollar aus Ge-winnen, die US-Konzerne im Ausland erzielen, nichtversteuert werden, wenn man dann den Geschäftsberichteines DAX-notierten deutschen Unternehmens liest, wo-nach die effektive Ertragsteuerquote 4,7 Prozent in 2009betrug – es war ein Geschäftsbericht von 2009 – unddurch die geografische Verteilung des Konzernergebnis-ses und die Bewertung steuerlicher Verluste wesentlichbestimmt wurde – 4,7 Prozent! –, wenn man weiß, dass– das ist die einzige Zahl, die im Moment bekannt ist –die Geschäftsbanken in Deutschland – Deutsche Bank,Commerzbank und auch alle anderen Banken dieser Art –in den Jahren 1999 bis 2009 in der Summe 4 MilliardenEuro gezahlt haben, während Volksbanken, Landesban-ken und Sparkassen in der Summe 40 Milliarden Eurogezahlt haben, wenn man diese Zahlen einmal auf sichwirken lässt, dann weiß man, wie ernst das Problem ist.Ich kann Ihnen von der Linken einen Vorwurf nichtersparen – es ist schön, Herr Troost, dass Sie jetzt in derersten Reihe Platz genommen haben –: Wieso legen SieAnträge vor, die das Problem zwar richtig beschreiben– das ist gar keine Frage; darüber reden wir –, aber keinerichtige Lösung anbieten? Sie wollen hier etwas durch-pauken und schon heute entscheiden. Dieses Thema istdafür viel zu wichtig. Sie wissen genau, wie komplex dieMaterie ist. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich mitdiesem Thema in aller Ruhe beschäftigen und dass wirdann über konkrete Dinge abstimmen. So kann ich die-sen Antrag nur ablehnen.
Wir reden hier über Steueroasen. Dabei muss man dif-ferenzieren. Es geht nicht nur um das persönliche Fehl-verhalten einzelner Steuerbürger, sondern auch um ag-gressive Steuergestaltung. Beide Themen werden oftmiteinander vermengt, was nicht in Ordnung ist. Es gehtnicht nur um Steuergerechtigkeit im Sinne der öffentli-chen Daseinsvorsorge, sondern auch – das ist mir sehrwichtig – um Wettbewerbsgleichheit. So zahlen das mit-telständische Möbelhaus und das 30 Kilometer entfernteschwedische Möbelhaus in meinem Wahlkreis unter-schiedlich hohe Gewerbe- und Körperschaftsteuern. WirGrüne wollen Wettbewerbsgleichheit herstellen, undzwar zugunsten des Mittelstands. Da sollten Sie endlicheinmal liefern.
Ich will die Brisanz dessen klarmachen, was im Mo-ment passiert. Herr Osborne hat uns im Finanzausschusserklärt, dass man handeln werde. Danach wurden nochschöne Bilder zusammen mit Herrn Schäuble gemacht.Als ich nach Hause kam, habe ich in einem Artikel derFrankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen – ich habe esnicht für möglich gehalten –,
dass Großbritannien gerade dabei ist, eine sogenanntePatent Box einzuführen. Dies bedeutet nichts anderes,als dass das Modell, dass sich einige über Zahlungen fürLizenzgebühren über die Niederlande die dortige Kör-perschaftsteuer in Höhe von 4,5 Prozent zunutze ma-chen, auch in Großbritannien ermöglicht werden soll.Angesichts dessen hätte ich von Ihnen, meine Damenund Herren von der Koalition, einen Aufschrei erwartet.Wenn Sie wirklich kapiert hätten, dass es hier um Wett-bewerbsgleichheit zugunsten des Mittelstands geht,wenn gerade Sie von der FDP tatsächlich wüssten, wasdie Menschen bewegt, und wenn Sie den Menschendraußen im Land wirklich zugehört hätten, dann hättenSie gewusst: Hier müssen wir aktiv werden. Wir, die Ab-geordneten der Koalition, müssen zum Finanzministergehen und ihn auffordern, in dieser Sache endlich Stel-lung zu beziehen. – Das hätte ich mir gewünscht.
Es gibt viele Möglichkeiten, Steuerhinterziehung zubekämpfen. Eine konkrete Maßnahme wäre beispiels-weise das Country-by-Country Reporting. Wir haben ei-nen entsprechenden Antrag vorgelegt. Wie ich aus IhrenKreisen vernommen habe, gilt das eigentlich als ein gu-ter Vorschlag. Aber dann hieß es: Schauen wir erst ein-mal, was die OECD macht. – Ich habe Ihnen schon imFinanzausschuss gesagt: Deutschland ist die export-stärkste Nation in Europa. Wir alle sind stolz auf dieLeistungen der deutschen Wirtschaft. Die deutsche Wirt-schaft hat eine hohe Reputation. Erarbeiten Sie sich dochendlich eine ähnlich hohe Reputation, wenn es um Wett-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30003
Dr. Thomas Gambke
(C)
(B)
bewerbsgleichheit zugunsten des Mittelstands geht! Sa-gen Sie Ihrem Finanzminister doch bitte, er möge dahingehend tätig werden. Aber er wird wahrscheinlich nichtstun.Im Moment wird in Brüssel über eine Offenlegungs-pflicht für Briefkastenfirmen verhandelt. Was höre ichaus Brüssel? Herr Schäuble bremst. Dabei geht es da-rum, herauszubekommen, wer die wahren Eigentümervon Briefkastenfirmen sind und wer sich hinter Stiftun-gen und Trusts versteckt. Ich kenne aber kein einzigesStatement von Herrn Schäuble, in dem er sich für eineTransparenzpflicht einsetzt. Tax Justice Network, Trans-parency Deutschland und Attac sagen etwas ganz ande-res.
– In diesem Punkt sind diese Organisationen sehr glaub-würdig.Es geht darum, eine verbesserte Datenlage zu bekom-men, Herr Brinkhaus.
Was weiß denn das Bundesfinanzministerium über-haupt? Es weiß nichts. Ich habe im Rahmen einer An-frage den Bundesfinanzminister gefragt, ob es Belegefür die von Herrn Semeta genannte Summe von 1 BillionEuro, die in der EU Jahr für Jahr durch aggressive Steu-ergestaltung und Steuerhinterziehung verloren geht, undfür die ständig genannten 150 Milliarden Euro inDeutschland gibt und ob sich das Ganze genauer bezif-fern lässt. Wissen Sie, was er gesagt hat? Er hat gesagt:Wir haben keine Auskünfte darüber. – Er weiß alsonichts. Wir befinden uns im Blindflug.
– Von Herrn Semeta. Das habe ich gerade gesagt. Siesollten zuhören, Herr Brinkhaus.Wir brauchen mehr Transparenz, und deshalb brau-chen wir das Country-by-Country Reporting. Wir müs-sen endlich wissen, was Unternehmen in einzelnen Staa-ten machen. Wenn entsprechende Daten vorliegen,entsteht Druck auf Unternehmen wie Starbucks, endlichoffenzulegen, wie viele Steuern bzw. ob überhaupt Steu-ern gezahlt werden. Ich fand es schon bemerkenswert,dass der Vertreter von Starbucks bei uns im Finanzaus-schuss gesagt hat: Ja, wir zahlen Steuern. – Als wir nach-gefragt haben, welche Steuer das ist, hat er gesagt: Wirzahlen Umsatzsteuer.
Da muss man dann schon sagen: Das kann es wohl nichtsein.Aber es gibt noch andere Dinge.
Wir müssen endlich den europäischen Steuerpakt in An-griff nehmen. Wir müssen endlich eine gemeinsame Be-messungsgrundlage und gemeinsame Sätze für die Kör-perschaftsteuer vereinbaren.
Dazu höre ich von Ihnen gar nichts.
Herr Gambke.
Bevor Sie sich hinstellen und die Opposition wüst be-
schimpfen, sollten Sie endlich Ihre Hausaufgaben ma-
chen. Das haben Sie drei Jahre lang vermissen lassen.
Ich bin froh, dass wir wählen können.
Herr Gambke.
Am Ende werden Sie sehen, welchen Erfolg Sie mit
Ihrer Politik haben.
Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Hans Michelbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eigentlich ist der Antrag der Linken, der unter diesemTagesordnungspunkt behandelt wird, nur einer einzigenWürdigung wert: Er hinkt in mehrfacher Hinsicht derZeit und unserer Arbeit zur Bekämpfung der Steuerhin-terziehung hinterher.
Er offenbart in Teilen ein Weltbild, das schon im19. Jahrhundert antiquiert war. Er ist ein Dokument derRealitätsverleugnung,
der Feindbilder und wieder einmal des Klassenkampfes.Nachdem sich das geradezu wöchentlich wiederholt,möchte man eigentlich lächeln, wenn es nicht so bitter-
Metadaten/Kopzeile:
30004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
traurig wäre und Rot-Grün im Zweifel in Form von Rot-Rot-Grün nicht gemeinsame Sache mit der Linken ma-chen würde. Aber es ist ernst. Man sieht, was Ihnenüberhaupt noch übrig bleibt: Feindbilder zu schüren, umvon dem abzulenken, was von der Koalition und vonBundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geleistet wird.
Dieser Antrag dokumentiert nur eines:
Sie sind nicht informiert, was in den letzten vier Jahrenangegangen und geleistet wurde. Sie sind vom Gang derDinge längst überholt worden.
Sie leugnen es beharrlich, aber wir haben eine funk-tionierende Steuerfahndung. Wir haben 40 Doppelbe-steuerungsabkommen geschlossen.
Wir haben ein Schwarzgeldbekämpfungsgesetz durchge-setzt. Wir haben ein Bundeszentralamt für Steuern. Ichfrage mich, wie Sie eigentlich dazu kommen, die vielenfleißigen Steuerbeamten immer wieder so anzugehen,wie Sie das in der letzten Zeit machen.
Wir haben die Offshore-Leaks-Medien gebeten, dieUnterlagen zur Prüfung zu übergeben. Sie können dochnicht sagen, dass wir es zu verantworten haben, dass wirdiese Offshore-Leaks-Unterlagen nicht haben. Wir ha-ben sie leider nicht bekommen. Wir müssen diese prüfenund wollen diese prüfen. Sie müssen uns nur zugänglichgemacht werden.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie woll-ten das nicht!)Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Kommen Sie endlichin der Gegenwart an. Ich fürchte nur, meine Damen undHerren von Rot-Rot-Grün, dass Sie das gar nicht wollen,weil dann alle ihre liebgewonnen Feindbilder – gegenBayern, gegen Steuerpflichtige, gegen Steuerbeamte –
wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen.
Herr Michelbach.
Ja bitte?
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Troost
zulassen?
Nein, das ist wirklich zwecklos. Es ist zwecklos, weilSie nur wieder versuchen, irgendwelche Feindbilder auf-zubauen; es bleibt nichts von Ihren täglichen Parolen üb-rig, mit denen Sie die Menschen in diesem Land mehroder minder verdummen wollen.
Sie haben in den elf Jahren, in denen die SPD den Fi-nanzminister stellte, versagt; das wissen die Leute. Da-vor können Sie die Augen nicht verschließen. Ich sageIhnen: Bundesfinanzminister Hans Eichel von der SPDhat eine untaugliche Steueramnestie zu verantworten.Bei dieser Amnestie war der Steuerpflichtige in der Öf-fentlichkeit genauso anonym wie beim Steuerabkommenmit der Schweiz. Sie können dies nicht in Abrede stellen,obwohl Sie dies immer wieder versuchen. Anonymbleibt anonym.
Deswegen ist der Versuch, das Abkommen mit derSchweiz falsch darzustellen, untauglich.
Sie wollen also davon ablenken. Wir wollen eine lü-ckenlose Besteuerung aller deutschen Steuerpflichtigenin der Schweiz und erwarten Einnahmen in Höhe von10 Milliarden Euro durch die Besteuerung der Vermögenmit einem Steuersatz von bis zu 41 Prozent. Es ist Un-treue gegenüber dem deutschen Steuerzahler und demdeutschen Staat, dass Sie diese 10 Milliarden Euro blo-ckieren. Das ist die Tatsache, und das muss immer wie-der deutlich werden.
Nun noch einmal zu einzelnen Fakten. Diese bürgerli-che Koalition und die von ihr getragene Bundesregie-rung sind an vorderster Stelle und erfolgreich dabei, inder Europäischen Union, in der G 20 und in der OECD,wenn es gilt, Steuerhinterziehung und grenzüberschrei-tende Steuergestaltung, die Verschiebung von Gewinneninternationaler Konzerne und die Aushöhlung der Steu-erbemessungsgrundlage zu bekämpfen, die internatio-nale Zusammenarbeit zu verbessern und SteueroasenSchritt für Schritt auszutrocknen.Hierzu einige Beispiele: Minister Schäuble hat – ers-tens – gemeinsam das BEPS-Projekt mit den britischenund französischen Kollegen auf den Weg gebracht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30005
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
Zweitens. Die OECD arbeitet gegenwärtig in drei Ar-beitsgruppen unter deutschem Vorsitz an einem Aktions-plan für Maßnahmen gegen Gewinnkürzungen und Ge-winnverlagerungen.
Drittens. Die G 5 haben unlängst zur Bekämpfungvon Steuerhinterziehung unter anderem die Erweiterungdes automatischen Informationsaustausches im Bereichder Kapitaleinkünfte beschlossen.Viertens haben wir uns seit Mitte Februar in der EUunter anderem auf die stufenweise Einführung eines au-tomatischen Informationsaustausches für Vergütungenim Aufsichtsrat und Verwaltungsrat, für Lebensversiche-rungsprodukte, Ruhegehälter und Immobilieneinkünfteverständigt.All dies ist auf den Weg gebracht; wir haben das Zieldes automatischen Informationsaustausches.
Das ist der einzig sinnvolle Weg zu einer lückenlosenBesteuerung aller Steuerpflichtigen, um hier steuerge-recht bzw. steuerehrlich vorzugehen.
Das sollten Sie anerkennen und nicht immer wieder in-frage stellen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es geht Ihnen imWesentlichen – das war in den letzten Wochen immerwieder das Gleiche – um Wahlkampfgetöse, es geht Ih-nen um Desinformation.
Darin sind Sie, wie früher, großer Meister, Herr Gysi.Aber Sie auf der linken Seite dieses Parlaments habenein massives Glaubwürdigkeitsproblem.
Der Brandenburger Finanzminister ist ein Linker. Er hältes für das Selbstverständlichste der Welt, fast 1,5 Millio-nen Euro aus dem Landesbeamtenfonds nach Curaçaound die Cayman Islands zu verschieben. Hört! Hört!Ein weiteres Beispiel für Geldanlagen in Steueroasen:Die frühere WestLB und heutige Portigon AG – immer-hin in Landesbesitz von Nordrhein-Westfalen, Landesre-gierung Rot-Grün – hat mit Geldanlagen in Steueroasengute Erfahrungen und macht dies locker nach wie vor.Gehen Sie vor die eigene Tür, kehren Sie dort und sagenSie der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-West-falen, sie soll dies sofort bei der Portigon AG einstellen.Dann sind Sie glaubwürdig, meine Damen und Herren.
Ich sage Ihnen: Wir, die bürgerliche Koalition, wollennicht Rückschritt, sondern Fortschritt. Daher lehnen wirden Antrag ab und lassen uns von niemandem in der Be-kämpfung der Steuerhinterziehung vorführen und über-tölpeln. Wir werden an dieser Sache weiter aktiv arbei-ten und einen wesentlichen Beitrag zu Steuerehrlichkeitund Steuergerechtigkeit in der Zukunft leisten.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Axel Troost.
Danke schön. – Herr Kollege Michelbach, dass Sie
uns als Linke hier im Parlament immer für blöd erklären,
das kennen wir ja schon. Zu Ihrer Aussage, wir würden
die Steuerbeamten diffamieren: Alle Informationen, die
wir bekommen, bekommen wir durch unsere gute Zu-
sammenarbeit, unter anderem mit der Steuer-Gewerk-
schaft, mit Herrn Ondracek und Herrn Eigenthaler. Die
informieren uns darüber, dass die Steuerverwaltung in
der Bundesrepublik heute nicht vernünftig funktioniert,
und zwar nicht deshalb, weil die Beamtinnen und Beam-
ten schlecht arbeiten, sondern deshalb, weil die Steuer-
verwaltung völlig unterausgestattet ist.
Wo wir gerade bei Ihnen und bei Bayern sind: Von
dieser Gewerkschaft hören wir, dass Unternehmenslei-
tungen aus der ganzen Bundesrepublik ihren Firmensitz
– auch als Briefkastenfirmensitz – nach München verle-
gen, weil man weiß, dass die Steuerverwaltung München
extrem unterbesetzt ist und extrem schlecht prüft.
Es bleibt dabei: Wenn da nicht wirklich etwas pas-
siert, bekommen wir all die Informationen nicht. Inso-
fern bleibt es bei Mindereinnahmen, aber auch dabei: Es
gibt keine vernünftige Steuergerechtigkeit in diesem
Land.
Zur Erwiderung Herr Kollege Michelbach.
Herr Kollege Troost, ich kann Ihnen nur sagen, dassich Sie nicht für blöd erklärt habe; ich habe Sie für in derSache falsch aufgestellt erklärt.
– So ist es; das muss ich auch richtigstellen.Ich kann nur sagen, dass niemand, der eine erfolgrei-che deutsche Unternehmung führt, aus steuerlichenGründen den Sitz nach Bayern oder nach München ver-legt, sondern deshalb, weil dort, am Wirtschaftsstandort
Metadaten/Kopzeile:
30006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. h. c. Hans Michelbach
(C)
(B)
Bayern, die besten Voraussetzungen gegeben sind, umwirtschaftlichen Erfolg zu haben.
Wir lassen uns diesen Erfolg nicht nehmen, und schongar nicht lassen wir die Firmen, die in Bayern tätig sind,in irgendeiner Form unter Generalverdacht stellen. Dasist immer Ihr Prinzip, die Leute unter Generalverdachtzu stellen.
Es ist niemand bereit, aus steuerlichen Gründen den Sitznach Bayern zu verlegen. Wir haben hier große Erfolgemit Standortpolitik. Das hat mit dem Steueraspekt über-haupt nichts zu tun.Im Übrigen sind wir natürlich auch mit der Steuer-Gewerkschaft, mit Herrn Ondracek und Herrn Eigentha-ler, im Gespräch.Tatsache ist auch – das ist eine Aussage von gestern –:Es sind über 200 Neueinstellungen vorgenommen wor-den.
Letzten Endes müssen Sie einmal anerkennen: Ammeisten sprudeln die Steuerquellen in Bayern;
sonst könnten wir uns den Länderfinanzausgleich in die-ser Form überhaupt nicht leisten.
Wir – das muss ich ganz deutlich sagen – finanzierendoch den Rest der Republik – über den Länderfinanzaus-gleich.
– Haben wir den Länderfinanzausgleich oder nicht? Er-kennen Sie also an, dass wir leistungsfähige Firmen inDeutschland und insbesondere in Bayern haben und dassdurch diese Leistungsfähigkeit der Länderfinanzaus-gleich – da halten andere die Hand gern auf – möglichist!
Ich ahne: Da gibt es für den Wissenschaftlichen
Dienst des Bundestages wieder etwas zu tun. Dem will
ich jetzt aber nicht weiter nachgehen.
Ich erteile nun als Nächstem das Wort dem Kollegen
Martin Gerster für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ineinem hatte Herr Wissing offenbar recht, dass nämlichbei dieser Debatte ganz schön viel Unfug erzählt wird;Herr Michelbach ist mit das beste Beispiel dafür.
Ganz vorn beim Erzählen von Unfug sind Mitgliederder Bundesregierung. Gestern war in der SchwäbischenZeitung das „Zitat des Tages“ vom ParlamentarischenStaatssekretär beim Bundesfinanzministerium, SteffenKampeter. Ich zitiere:Der Fall Hoeneß ist doch nur ein Einzelfall – einZierfisch, ein dicker, fetter Zierfisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich frage mich, wiees eigentlich möglich ist, in einem einzigen Satz dreiFehler zu machen.Erstens. Über Uli Hoeneß kann man viel erzählen. Erist ein erfolgreicher Fußballmanager, ein meinungsstar-ker Fußballmanager, ein Unternehmer, ein Steuerhinter-zieher offenbar. Aber ein Zierfisch? Ich bitte Sie! EinZierfisch?! Das zeigt, wie hier geblendet wird, wie hierbagatellisiert wird, wie hier abgelenkt wird, und das las-sen wir Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen.
Zweitens. Uli Hoeneß ein Einzelfall? Ich bitte Sie!Seit 2010 haben wir über 47 000 Selbstanzeigen in die-sem Land. Das ist doch kein Einzelfall!
Daran lässt sich zeigen, wie Sie hier vorgehen, wie Siedas Thema Steuerhinterziehung bagatellisieren.Drittens. Wäre das deutsch-schweizerische Steuerab-kommen zustande gekommen, hätten wir nie von diesemangeblichen Einzelfall erfahren, weil er anonym hättebleiben können. Insofern ist es unerhört, wie Sie tagein,tagaus Unfug erzählen, seit dieses Thema auf der Tages-ordnung steht.
In der Schwäbischen Zeitung stand gestern auf dersel-ben Seite noch etwas.
– Ich lese mehrere Zeitungen, Herr Krestel. Sie könnennachher noch ein paar andere zitieren. Da kommen Siein der Berichterstattung und Kommentierung jedochauch nicht besser weg.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30007
(C)
(B)
Unter dem Bildtitel „Hoeneß als warnendes Exem-pel“ sieht man den Bundesfinanzminister WolfgangSchäuble. Ich zitiere:Wir haben uns für ein HÄRTERES Vorgehen beiSteuerhinterziehung entschieden. Zwar BLEIBTdie Möglichkeit zur Selbstanzeige … … allerdings wird die Bundeskanzlerin jedemSteuersünder persönlich ausrichten lassen, wieENTTÄUSCHT sie von ihm ist!
Zugegebenermaßen ist dies eine Sprechblase in einerKarikatur.
Aber in jeder Karikatur steckt auch ein wahrer Kern.Deswegen fragen wir uns, warum wir von der Bundes-kanzlerin zu diesem Thema überhaupt kein Wort hören,außer: Ich bin enttäuscht über Uli Hoeneß.
Das wäre doch vielleicht ein Anlass für eine Regierungs-erklärung gewesen.
Schweigen im Walde. Überhaupt nichts. Und dies, ob-wohl sich Schwarz-Gelb beim Kampf gegen Steuerhin-terziehung nunmehr statt als Verhinderer als Vorreiteraufspielt.Deswegen ist es gut, dass die Linksfraktion diesesThema nochmals in den Bundestag geholt hat. Einigeangesprochene Punkte sind richtig. Ich will hier die bes-sere Kooperation der Behörden ausdrücklich erwähnen.Es ist auch richtig festgehalten worden, dass wir bei derSteuerverwaltung und Steuerfahndung unbedingt einebessere Ausstattung brauchen. Herr Wissing, Sie habenvorhin gesagt: Das hat nichts mit Bayern zu tun. Ja, dasstimmt. Es hat eigentlich nur etwas mit der CSU und mitSchwarz-Gelb in Bayern zu tun. Das ist doch die Wahr-heit.
In Bayern unter CSU und Schwarz-Gelb sind Steuer-fahndung und Steuerverwaltung bezogen auf die Aus-stattung wahrlich keine Kampffische, um beim Bild vonHerrn Kampeter zu bleiben. Dort gibt es im Bereich derbetrieblichen Steuerprüfung eine personelle Unterbeset-zung von 20 Prozent. Dies ist keine SPD-Zahl, sonderneine Zahl des Bayerischen Obersten Rechnungshofes. Inseinem aktuellen Jahresbericht 2013 wird noch einmaldeutlich Kritik geübt. Es wird von Steuerausfällen durchdiese Unterbesetzung im dreistelligen Millionenbereichgesprochen. Das muss man sich einmal vorstellen.
Schauen wir einmal in ein anderes Bundesland: nachHessen. Dort waren gute Steuerfahnder unterwegs. Wasist dann unter Volker Bouffier gemacht worden?
Sie sind als psychisch krank deklariert worden.
Es musste ein Untersuchungsausschuss eingesetzt wer-den. Man hat den Eindruck, dass in Hessen unter VolkerBouffier nicht die Steuerhinterzieher verfolgt werden,sondern die Steuerfahnder im Blickpunkt stehen. Das istdoch der eigentliche Skandal.
Zu den Ländern. Herr Flosbach, Sie haben gesagt, dassei alles Sache der Länder. Schauen wir einmal nach Ba-den-Württemberg. Die neue Landesregierung hatSchluss gemacht mit dem Argument: Standortvorteilefür Baden-Württemberg sind eine schlecht ausgestatteteSteuerverwaltung, eine schlecht ausgestattete Steuer-fahndung und dass ihr so gut wie nie kontrolliert werdet.Wir wollen dort 500 neue zusätzliche Stellen für dieSteuerfahndung und die Steuerverwaltung und 500 zu-sätzliche Ausbildungsplätze schaffen. Das ist der rich-tige Weg. Grün-Rot macht es an dieser Stelle vor. Dasgehört gewürdigt.
Es bringt überhaupt nichts, wenn Sie beim ThemaAnkauf von Steuer-CDs immer wieder hereinrufen: Al-les Hehlerei.
Das ist in gewisser Weise pharisäerhaft; denn Ihreschwarz-gelb regierten Bundesländer – es sind nichtmehr so viele, und im Laufe des Jahres werden es nochweniger – profitieren finanziell vom Ankauf dieserSteuer-CDs, der aus den Reihen der FDP immer wiederkritisiert wird. Am Mittwoch wurde dies aber auch ausden Reihen der Fraktion der CDU/CSU in Person desFraktionsvorsitzenden getan. Deswegen sagen wir: Sosieht Ehrlichkeit jedenfalls nicht aus, weder in der politi-schen Debatte noch beim Thema Steuerhinterziehung.
Das Thema Steuerhinterziehung muss Chefsachesein, das ist ganz klar; denn es ist ein massives Problem.Sich darum zu kümmern, ist eine Frage der Gerechtig-keit, um es noch einmal ganz klar zu formulieren. Steu-erhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Deswegen ist esrichtig, es zu thematisieren.
Wir brauchen die Gelder. Die Deutsche Steuer-Ge-werkschaft hat errechnet, dass weit über 400 MilliardenEuro von deutschen Steuerzahlern – oder eben Nicht-steuerzahlern; so ist es richtig – am Fiskus vorbeigescho-
Metadaten/Kopzeile:
30008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Martin Gerster
(C)
(B)
ben werden. Dabei brauchen wir die Mittel für unsereGesellschaft: für Bildung, für Verkehrsinfrastruktur, fürArbeit und Soziales und für die Unterstützung unsererFamilien. Deswegen gehört dieses Thema permanent aufdie Tagesordnung.Wir werden Sie bis zum Wahltag nicht aus der Verant-wortung lassen, danach werden wir die Verantwortungübernehmen und zeigen, wie man es richtig macht imKampf gegen Steuerhinterziehung.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Holger
Krestel das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Lassen Sie uns zurück zur Sache kommen, nachdem
Kollege Gerster dieser Regierungskoalition und dieser
Bundesregierung vorgeworfen hat, dass wir zu wenig
gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung inter-
national tätiger Unternehmen tun würden. Dabei haben
wir in dieser Legislaturperiode viel mehr zur Bekämp-
fung dieser Missstände getan als jede vorherige Regie-
rung.
Wir können nicht per Federstrich das Finanzkapital
der ganzen Welt auf neue Wege leiten, so wie sich die
Linke das in ihrem Antrag zu wünschen scheint. Viel-
mehr sind es Aktionen wie das Werben von Bundes-
finanzminister Dr. Schäuble beim Treffen des IWF und
der G 20 letzte Woche in Washington für eine deutsche
Initiative gegen Steuerhinterziehung und Steuervermei-
dung international tätiger Großunternehmen, es sind An-
strengungen wie unser Einsatz für einen automatischen
Informationsaustausch über alle Kapitaleinkünfte in der
EU. Wir befinden uns in stetigem Dialog. In dieser Le-
gislaturperiode wurden rund 90 Doppelbesteuerungsab-
kommen beschlossen, viele weitere befinden sich bereits
in der Phase der Verhandlung.
Wenn Sie nun die Basis all dieser mühsam verhandel-
ten und auf den Weg gebrachten Abkommen infrage
stellen und denken, man könne diese in kürzester Zeit
mit komplett neuen Standards neu auflegen und würde
dabei noch Zuspruch vom Verhandlungspartner erhalten,
beweist das nur, dass Sie sich von der Realität internatio-
naler Finanzdiplomatie vollständig abgekapselt haben.
Im Gegenteil: Ihre Forderung, deutsche Staatsbürger
weltweit zur Kasse zu bitten, offenbart die Scheuklap-
pen, die Sie tragen. Neben den Bürgern, die hier geboren
und später ausgewandert sind, gibt es zahlreiche
Deutschstämmige, zum Beispiel in Osteuropa und Zen-
tralasien, die einen deutschen Pass haben, aber noch nie
in ihrem Leben einen Fuß auf deutsches Staatsgebiet ge-
setzt haben. Wollen Sie auch diesen Leuten in die Ta-
schen fassen? Wie wollen Sie diese neu geschaffenen
Ansprüche vollstrecken?
Der Antrag der Linken erinnert mich vom Inhalt und
vom Duktus her, ehrlich gesagt, ein bisschen an einen
Ausspruch von Winston Churchill: Das Einzige, was die
Sozialisten von Wirtschaft verstehen, ist, wie man an das
Geld fremder Leute herankommt.
Lassen Sie uns schließlich noch zu Anspruch und
Wirklichkeit linker Politik kommen. Sie fordern, dass
die Bundesländer ihren Steuervollzug verbessern und
mehr Personal einstellen. Sie waren zehn Jahre lang in
Berlin in rot-roter Regierungsverantwortung. Sie sind
dafür verantwortlich, dass die Steuerverwaltung hier in
dieser Stadt systematisch ausgetrocknet worden ist. Un-
ter Ihrer Regierungsverantwortung im Land Berlin wur-
den aufgrund einer Quote 10 Prozent der Steuerbeamten
für entbehrlich erklärt. Zusätzlich ist die Attraktivität der
Steuerverwaltung – wie übrigens der gesamten Berliner
Landesverwaltung – für junge Menschen rapide gesun-
ken, sodass die besten Nachwuchsbeamten diese Stadt
verlassen.
In der Opposition können Sie, wie heute, schöne For-
derungen stellen. Wenn Sie jedoch in der Verantwortung
stehen, schmeißen Sie das Geld lieber für linke Klientel-
projekte aus dem Fenster, anstatt es in eine effektive
Steuerverwaltung zu investieren. Das haben Sie in Ber-
lin bewiesen.
Den Kollegen Gysi möchte ich von dieser Kritik aber
ausnehmen.
Er ist vor rund zehn Jahren als Berliner Wirtschaftssena-
tor nämlich so schnell wieder aus dem Amt geschieden,
dass er als Wirtschaftssenator gar keine Wirkung entfal-
ten konnte. Er war allenfalls Berliner Intermezzosenator.
Wir werden Ihren Antrag ablehnen.
Danke.
Die Kollegin Höll meldet sich jetzt zu einer Kurzin-tervention. Ich mache, damit jeder sich darauf einstellenkann, schon jetzt darauf aufmerksam, dass das die letzteist, die ich zulasse, weil wir schon über unserer verein-barten Zeit liegen.Bitte schön.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30009
(C)
(B)
Danke, Herr Präsident. – Ich möchte Bezug nehmen
auf das, was vorhin Herr Wissing und jetzt Herr Kollege
Krestel sagten. Sie sagten, die Doppelbesteuerungsab-
kommen seien in erster Linie ein Mittel zur Bekämpfung
von Wirtschaftskriminalität. Ich verstehe sie anders:
Doppelbesteuerungsabkommen sind Abkommen, die
verhindern sollen, dass Menschen und Unternehmen, die
in verschiedenen Ländern tätig sind, einer doppelten Be-
steuerung unterworfen werden.
Das setzt voraus, dass Informationen ausgetauscht
werden, und zwar im Rahmen eines automatischen In-
formationsaustauschs. Davon ist aber auch das OECD-
Musterabkommen weit entfernt.
Sie schmücken sich mit 40 abgeschlossenen Abkom-
men. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir einen au-
tomatischen Informationsaustausch haben. Dass von den
G 20 – auch von der Schweizer Finanzministerin – jetzt
eine entsprechende Willenserklärung unterzeichnet
wurde, ist das Ergebnis der Verhinderung des deutsch-
schweizerischen Steuerabkommens. Damit haben wir
verhindert, dass die Bundesrepublik als größte Volks-
wirtschaft Europas zusammen mit der Schweiz einen
Sonderweg beschreitet. Dadurch ist die Schweiz ge-
zwungen, jetzt auf den anderen Weg einzuschwenken.
Wichtigste Voraussetzung sind Informationen. Wir
müssen diesbezüglich hier in unserem Land anfangen.
Als Ergebnis Ihrer Politik werden wir international kriti-
siert. Es gibt keine Transparenz und keine Offenlegungs-
pflichten, zum Beispiel bei den Eigentümerstrukturen
von Trusts und Stiftungen. Deshalb können Finanzbe-
hörden nur schwer nachfragen, da sie nicht wissen, wem
was gehört. Es stellt sich dann zum Beispiel die Frage,
nach wem man im Hinblick auf ein Konto in der
Schweiz fragen soll.
Deshalb brauchen wir auf alle Fälle mehr Finanzbe-
amte. Außerdem brauchen wir eine Koordinierung auf
Bundesebene.
Als wir mit Rot-Rot die Regierungsverantwortung in
Berlin übernommen haben, war Berlin als Ergebnis der
Regierungspolitik von CDU und SPD so etwas von
pleite. Da ging fast gar nichts mehr. Die rot-rote Regie-
rungskoalition hat Berlin wieder nach vorne gebracht.
Bayern versorgt ja jetzt die ganze Welt. Sie könnten
sich 2 000 zusätzliche Finanzbeamte leisten. Sie hätten
ja in Berlin und in anderen Ländern aushelfen können.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Mathias Middelberg
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich finde, wirsollten zur Sache zurückkommen. Der Kollege Krestelvon der FDP hat genau den richtigen Punkt angespro-chen.Herr Gysi, ich bin vor allem von Ihrem Beitrag heutehier extrem enttäuscht.
Halten wir das einmal fest. Sie haben hier zu 95 ProzentPolemik geliefert, um das Thema wahlkampftechnischfür sich zu instrumentalisieren. Sie haben ein paarPunkte angesprochen, die der Sache dienlich sind, überdie man auch sprechen kann. Man muss aber ernsthaftfesthalten: Als Wirtschaftssenator in Berlin hatten Siedie Möglichkeit, in einer verantwortlichen Position inder Exekutive diese Dinge ganz konkret anzugehen.Nehmen wir das Thema Steuerverwaltung, das der Kol-lege Krestel angesprochen hat: Sie hatten doch die Mög-lichkeit, zuzupacken. Sie hätten auch über Bundesrats-initiativen die Dinge anstoßen können, die Sie ebenangesprochen haben. – Halten wir einmal fest, dass Siedas nicht getan haben, sondern sich nach kürzester Zeit,schon nach wenigen Monaten aus der Verantwortung ge-zogen und sich vom Acker gemacht haben. Das sind dieFakten.
Ich finde es ungeheuerlich, dass Sie hier eine solcheLitanei vorgetragen haben. Damit haben Sie ein Zerrbilddieses Landes gezeichnet. Sie haben wieder einmal mitdem Stichwort – so nenne ich es einmal – „Armutsrepu-blik“ angefangen. Wenn wir Bilanz ziehen und uns nüch-tern den Armuts- und Reichtumsbericht anschauen, überden viel diskutiert worden ist, dann sehen wir – das sinddie Fakten –, dass wir vor sieben Jahren 5 Millionen Ar-beitslose hatten und wir dieses Maß jetzt fast halbiert ha-ben – in diesem Jahr werden wir deutlich unter 3 Millio-nen Arbeitslose haben –, dass wir die Quote derLangzeitarbeitslosen in diesem Land um 40 Prozent ver-ringert haben und statt 26 Millionen Menschen jetzt29 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichti-ger Beschäftigung sind.
Deutschland ist keine Armutsrepublik. Diese Zahlenzeigen, dass wir mit unserer Steuer- und Wirtschaftspoli-tik, auch mit den moderaten Steuersätzen in diesemLand, auf genau dem richtigen Kurs sind; denn sonsthätten wir nicht die höchsten Steuereinnahmen in derGeschichte dieser Republik.
Es ist auch nicht richtig, dass Herr Hoeneß nach In-krafttreten des Steuerabkommens mit der Schweiz miteinem kleinen Obolus davongekommen wäre. Das istfalsch.
Metadaten/Kopzeile:
30010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Dr. Mathias Middelberg
(C)
(B)
– Er hat gesagt, er wäre mit einem kleinen Obolus da-vongekommen. – Genau das Gegenteil wäre der Fall ge-wesen. Jetzt werden zur Besteuerung nur seine Zinser-träge herangezogen,
und er wird nachher noch eine gewisse Strafsteuer zuzahlen haben.
Gemäß dem Steuerabkommen mit der Schweiz wäre dasgesamte Kapital, nicht nur die Zinserträge, sondern dergesamte Zuwachs, den er zum Beispiel durch Aktien-wertsteigerungen zu verzeichnen hatte, also der gesamteBestand, mit einem Zinssatz von 21 bis 41 Prozent be-steuert worden.
Das heißt, Herr Hoeneß hätte sehr viel mehr zahlen müs-sen, wenn das Steuerabkommen mit der Schweiz zu-stande gekommen wäre.
Die Alternative, vor der wir standen, hat Ihnen derKollege Wissing eben sehr präzise und, wie ich finde,für jedermann nachvollziehbar erklärt. Wir hätten nichtbeides bekommen können. Das haben auch Sie von derSPD damals erkannt. Das beweist Ihr damaliger Amnes-tievorschlag. Sie hätten die Anonymität aufheben kön-nen. Dann wären aber ganz andere Erträge dabei heraus-gekommen. Das ist die Wahrheit.Jetzt, da Sie das Steuerabkommen abgelehnt haben,bleibt es für den großen Teil der Beteiligten, die in ande-ren Ländern unterwegs sind, bei der Anonymität. Dasfinde ich, ehrlich gesagt, skandalös. Ich finde, es istwirklich eine Unverschämtheit – das muss ich sagen –,dass Sie das hier anders darstellen.
Wir haben keinerlei Belehrungen nötig, was dasThema Bekämpfung der Steuerhinterziehung auf inter-nationaler Ebene angeht; das hat der Kollege Flosbacheben ganz überzeugend deutlich gemacht. Ich greife ein-mal den Punkt Zinsrichtlinie auf: Unser Bundesfinanz-minister Wolfgang Schäuble setzt sich an führenderStelle dafür ein, dass wir endlich einen automatischenInformationsaustausch bekommen,
und zwar nicht nur in Bezug auf Zinserträge, sondern da-rüber hinaus auch in Bezug auf Dividenden und Veräu-ßerungserlöse. Das ist ganz wichtig; denn das ist ein gro-ßer Teil der anfallenden Erträge. In Zukunft werden wirauch Lebensversicherungen, strukturierte Finanzpro-dukte, die vielbeschworenen Trusts, private Stiftungenund sämtliche Formen von Investmentfonds erfassenkönnen. Das halte ich für den richtigen Weg.Wir können nur in internationalen Verhandlungenvorwärtskommen. All diese Kavalleriemodelle sindBlödsinn. Wenn man sich ansieht, was Herr Steinbrückin den letzten Monaten dazu und auch zu vielen anderenFragen erzählt hat, erkennt man, dass es immer so ab-läuft: Herr Steinbrück sagt etwas, und zwei oder dreiWochen später wird er von seinen eigenen Leuten ausder SPD in dieser Sache zurückgepfiffen. Das ist dieWahrheit.
Jetzt möchte ich Ihnen noch generell etwas zumThema Steuerpolitik sagen; denn an diesem Wochen-ende steht ja der Parteitag der Grünen an. HerrKretschmann, Ihr Ministerpräsident, hat Ihnen zu diesemThema ganz grundlegend und aus meiner Sicht richtigins Gewissen geredet.
Wir stehen hier vor der ganz entscheidenden Frage, wiewir unsere Republik in Zukunft gestalten wollen. WennSie in die Situation kommen, Ihre Pläne umzusetzen,dann erleben wir in diesem Land ab September eine rie-sige Steuererhöhungsorgie. Fast alle müssen dann mehrzahlen. Auf diese Wahrheit müssen wir hinweisen.Als Erstes wollen Sie das Ehegattensplitting strei-chen. Das heißt, jeder Verheiratete soll mehr zahlen.
Als Nächstes wollen Sie die Einkommensteuersätze an-heben. Sie wollen 49 Prozent ab 80 000 Euro undschummeln dort ein bisschen.
– Das ist ganz deutlich, Herr Gambke. – Die Steigerun-gen fangen dort an, wo jetzt der Spitzensteuersatz be-ginnt, nämlich bei 52 800 Euro. Ab diesem Betrag zah-len die Leute bei Ihrem Modell schon mehr. Davon wärejeder Facharbeiter betroffen. Herzlichen Glückwunschzu diesem Modell.In Ihrem Programm stehen noch weitere Dinge. Sievon den Grünen wollen die Abgeltungsteuer abschaffen,während Sie von der SPD sie erhöhen wollen. Unterneh-mensteuern sollen sowieso erhöht werden. Die Gewer-besteuer soll auch auf Freiberufler ausgedehnt werden.Herzlichen Glückwunsch auch an all diejenigen, die da-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30011
Dr. Mathias Middelberg
(C)
(B)
von betroffen wären. Sie würden durch Ihre Vorhabenreichlich mehr belastet.
Sie wollen wieder eine Vermögensteuer erheben, undSie belügen die Menschen im Land – auch HerrSteinbrück belügt sie –, wenn Sie sagen, dass Sie dabeizwischen Betriebsvermögen und Privatvermögen diffe-renzieren können.
Bei der Besteuerung von Privatvermögen wären auchwir dabei – das ist gar keine Frage –, aber mit der Be-steuerung von Betriebsvermögen treffen Sie die gesam-ten Unternehmen, den Mittelstand in diesem Land.
Wenn es einmal zwei, drei schlechte Jahre gibt, zahlendie Unternehmen das aus ihrer Substanz. Wer dann blu-tet, sind die Arbeitnehmer; denn die Arbeitsplätze sinddann weg. Das müssen wir in jedem Fall verhindern. Daswäre eine Katastrophe.
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie sind in die völlig fal-sche Richtung unterwegs. Die Franzosen und dieSpanier sind in Europa die Einzigen, die eine Vermögen-steuer haben. Sie haben auch höhere Steuersätze, alsogenau das, was Sie anstreben. Die Franzosen haben mitdieser Politik heute eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeitund dreimal so viele Jugendarbeitslose. Das kann unddarf nicht unser Ziel sein.
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Manfred Zöllmer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben ja jetzt von einigen Kollegen der Regierungsfrak-tionen gehört, dass die Bundesregierung angeblich zuLande, zu Wasser, in der Luft und auf internationalenKonferenzen gegen Steuerhinterziehung und für Trans-parenz kämpft.
Es gab vor einigen Tagen ein G-20-Treffen inWashington. Auch Herr Schäuble war anwesend. DieSüddeutsche Zeitung, erschienen am 22. April 2013, hatdazu Folgendes geschrieben – ich darf zitieren –:Was von solchen Konferenzen gelegentlich hängenbleibt, machte der russische Finanzminister undamtierende G-20-Vorsitzende Anton Siluanow un-freiwillig deutlich: Auf die Frage eines SchweizerJournalisten, was die Ministerrunde denn in punktoSteuerflucht nun vereinbart habe, sagte Siluanow inder offiziellen Pressekonferenz nach dem Treffen,über das Thema sei seiner Erinnerung nach „garnicht gesprochen worden“.
Ja, so sehen die Bemühungen der Bundesregierung aus.
Der Begriff Steueroase klingt nach Ferne, Exotik,Sandstrand und Palmen. Aber wir haben in einer ganzenReihe von Beiträgen gehört, dass die Ferne auch sehrnah sein kann. Kollege Flosbach hat am Anfang dieserDebatte hier lautstark gesagt: Es gibt keine Steueroasenin Deutschland. Nun haben wir schon von der Steuer-oase Hessen gehört, wo eher Steuerfahnder verfolgt wer-den als Steuerhinterzieher. Ich sage Ihnen: In diesemJahr wird es noch ein Gerichtsverfahren geben, weildiese Sache nicht ausgestanden ist.
Die Fahnder kämpfen vor Gericht um ihre Rehabilitationund Reputation. Ich wünsche den Steuerfahndern beidiesem Kampf viel Glück.
Schauen wir uns doch einmal die Situation imschwarz-gelb regierten Bayern an – ich zitiere –: „IstBayern ein Paradies für Steuerhinterzieher?“, fragteMerkur Online, nicht gerade eine linksradikale Publika-tion,
und Spiegel Online titelte: „Weiß-blaues Steuerpara-dies“.Der Bayerische Oberste Rechnungshof hat in einemBericht festgestellt, dass es in Bayern seit vielen Jahrenkonsequent zu wenige Steuerprüfer gibt; das moniert erseit Jahren, das ist keine neue Erkenntnis. Die Folge:Söder verzichtet durch Steuerausfälle auf Einnahmen indreistelliger Millionenhöhe.
In diesem Bericht heißt es wörtlich:Bayernweit sind in der Betriebsprüfung 442 Stellennicht besetzt. … Die Folgen sind nicht nur Steuer-ausfälle … Es geht auch um einen gerechten undgleichmäßigen Vollzug der Steuergesetze, der mitzu wenig Personal nicht gewährleistet werden kann.
Metadaten/Kopzeile:
30012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Manfred Zöllmer
(C)
(B)
Diese Aussage stammt, wie gesagt, aus dem Bericht desBayerischen Obersten Rechnungshofes, dessen Chef einCSU-Mann ist. Das muss man sich einmal vor Augenführen.
Mittelgroße Betriebe prüfen die Fahnder nur alle20 Jahre, kleine Betriebe nur alle 40 Jahre.
Ich denke, eines muss man ganz klar sagen: In Bayernherrschen, bezogen auf die Steuerpolitik, griechischeVerhältnisse.
22 Steuer-CDs sind dem Finanzminister des Freistaa-tes Bayern angeboten worden. Angekauft wurde keine.Das sind wirklich griechische Verhältnisse.
Dem Ehrlichen werden die Steuern gleich mit dem Ge-halt abgezogen, und der Unehrliche hat die Chance, seinGeld in die Schweiz zu bringen. Dieser Umgang mitSteuerkriminalität hat in Bayern System.Nur am Rande möchte ich auf den ehemaligen bayeri-schen Ministerialbeamten Wilhelm Schlötterer hinwei-sen, der dies in seinem Buch Macht und Missbrauch de-tailliert dokumentiert hat. Er hat fast 30 Jahre imbayerischen Finanzministerium gearbeitet, und er wusstegenau, wovon er spricht. Er berichtet in seinem Buchvon massiven Eingriffen von CSU-Politikern in denSteuervollzug,
von Eingriffen, die der Verschleierung von Steuerverge-hen und der Begünstigung Einzelner dienten.
Das ist das System in Bayern. Jetzt stellen wir fest: Die-ses System ist offenkundig nicht überwunden.
– In der Tat: Das ist das System der CSU.
Schauen wir uns die gegenwärtige Situation an; esgeht ja um einen bekannten Namen. Auf einmal ist HerrSeehofer merkwürdig still geworden. Er ist abgetaucht.Aber wahrscheinlich hat er mit den anderen Affären inder CSU-Fraktion genug zu tun.
Wir sehen: Es gibt auch in Deutschland Steueroasen.Diese Oasen müssen schleunigst stillgelegt werden, auchin Bayern und in Hessen. Das gelingt nur durch einenRegierungswechsel in Bayern und in Hessen.
Manfred Kolbe hat nun für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manche meiner Vorredner haben sich gegenseitig be-zichtigt, Unsinn zu reden.
Wer recht hat, muss das geneigte Publikum hier im Saalund vor den Bildschirmen entscheiden. Fakt ist jeden-falls, dass wir in einigen Punkten unterschiedlicher Mei-nung sind. Ich darf ein paar dieser Punkte hervorheben.Herr Gysi, Sie haben beklagt, dass es in Deutschland10 Billionen Euro Geldvermögen gibt.
Ja, ist es denn schlimm, dass Deutschland ein wohlha-bendes Land ist? Ist Ihnen eine Situation wie bei IhrenParteifreunden in Nordkorea, wo Kinder verhungern, lie-ber?
Ist das der Zustand, den Sie anstreben?
Natürlich gibt es bei der Vermögensverteilung ge-wisse Ungleichgewichte. Es gibt zum Beispiel ein Un-gleichgewicht zwischen Ost und West. Im OstenDeutschlands gibt es deutlich weniger Vermögen als imWesten des Landes. Aber wer trägt denn die Schuld da-ran?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30013
Manfred Kolbe
(C)
(B)
Ist es die CDU/CSU, die seit 1949 die soziale Marktwirt-schaft in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut hat,wodurch es gelungen ist, breiten Wohlstand zu schaffen,oder die SED, die Privatvermögen vernichtet hat und amEnde in den Konkurs gehen musste?
Wer trägt denn die Schuld am ungleichgewichtigenVermögen in Ost und West? Das sind Sie und nicht wir.Manchmal habe ich bei Ihren Reden den Eindruck, dassSie erst dann wieder glücklich sind, wenn es wie in derDDR zu einer privaten Versteuerung von 90 Prozentkommt
und Ihre Funktionäre Autos, Telefone und Ferienplätzemit Wartezeiten bis zu 20 Jahren zuteilen können. Dasscheint offenbar Ihr Idealzustand zu sein.
Wir sind stolz auf den Wohlstand in der Bundesrepu-blik Deutschland. Denn nur dieser Wohlstand kann unse-ren Sozialstaat finanzieren.
Nur eine blühende Wirtschaft kann einen Sozialstaat fi-nanzieren. Deshalb wollen wir sowohl die erfolgreicheMarktwirtschaft als auch den Sozialstaat BundesrepublikDeutschland. Deswegen gehört es auch zur Wahrheit,dass 10 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte derSteuern zahlen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Herr Gambke, Sie hatten hier einen schweren Stand.Ihre Führungsleute sind weg und schreiben sich gegen-seitig offene Briefe. Herr Trittin sitzt wahrscheinlich ge-rade über einem Brief an Herrn Kretschmann, nachdemer dessen heutiges Interview in der Süddeutschen Zei-tung gelesen hat.
Kretschmann hat darin gesagt, er warne davor, Bürgerund Wirtschaft durch überzogene Steuererhöhungen zuüberfordern. Sie sind doch eine so diskussionsfreudigePartei. Warum haben Sie denn dazu nichts gesagt? Dashätte uns interessiert.
Herr Gambke, zeigen Sie ein bisschen Mut und Of-fenheit. Sie von den Grünen sind doch so stolz darauf.Die SPD hat wieder Bayern- und Schweiz-Bashingbetrieben.
Das ist schon die dritte Debatte in dieser Woche zumgleichen Thema. Jedes Mal hat die SPD dieselbe Melo-die: Bayern und die Schweiz sind die Schuldigen.
Ich bin weit davon entfernt, das Verhalten von HerrnHoeneß zu rechtfertigen. Aber Bayern und die Schweizsind eben auch erfolgreiche Länder. Wahrscheinlichwurmt es Sie, dass Sie nie dazu beigetragen haben. Bay-ern und die Schweiz haben gemein, dass dort nie Sozia-listen regiert haben. Vielleicht ist das eine der Ursachenfür den Erfolg.
– Herr Poß, ich kenne die deutsche Geschichte und weißzum Beispiel auch, dass Sachsen bis zum Zweiten Welt-krieg das wirtschaftsstärkste Land Deutschlands war.Dann kamen allerdings die Kommunisten, und das hatsich geändert.
Ich hoffe, auch Sie kennen die gesamte deutsche Ge-schichte.Kehren wir zu Ihrem Vorwurf in Bezug auf die Ano-nymität zurück; denn er zog sich durch die ganze De-batte der letzten drei Tage. Sicherlich ist die Anonymitätein Problem des deutsch-schweizerischen Steuerabkom-mens; das ist auch uns bewusst gewesen.
– Natürlich ist das ein großes Problem. Zu dem Abkom-men gehören aber zwei Vertragspartner, die sich amEnde einigen müssen.Das wirklich Ärgerliche aber ist: Sie tun so, als wäreEichels Steueramnestie öffentlich und nicht anonym ge-wesen, und damit betreiben Sie Falschmünzerei.
Denn auch die Begünstigten Ihrer damaligen SPD-Am-nestie wären durch das Steuergeheimnis geschützt gewe-sen und in der Öffentlichkeit anonym geblieben.
Die hätten sich dann zwar in der Steuerakte wiederge-funden.
Metadaten/Kopzeile:
30014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Manfred Kolbe
(C)
(B)
Aber das Steuergeheimnis hätte sie vor der Öffentlich-keit beschützt, sofern Sie noch am Steuergeheimnis fest-halten.
Alles andere – auch was Herr Gerster gesagt hat – er-weckt den Eindruck, dass das Steuergeheimnis für sienicht mehr gilt.
Im Ergebnis hätten Sie die Anonymität also genauso ge-habt. Deshalb sollten Sie sich nicht auf das hohe Rosssetzen.
Zum Thema Selbstanzeige haben wir die Position derSPD auch heute nicht vernommen. Es stehen immernoch fünf Positionen im Raum.
Herr Steinbrück hat gesagt, er will sie beibehalten.
Bisher gilt offenbar das Wort des Kanzlerkandidaten.Möglicherweise gilt es auch nicht. Das würden wir auchgerne einmal erfahren.
Wir sagen: Die Selbstanzeige ist ein vernünftigerWeg. Wir als christlich-liberale Koalition haben in dieserLegislaturperiode die Selbstanzeige so reformiert, dasssie nicht mehr als Mittel einer Hinterziehungsstrategietaugt. Das ist nicht mehr möglich. Das war unter IhrenFinanzministern noch möglich. Die Teilselbstanzeige istnun ausgeschlossen. Der Zeitpunkt der Entdeckung istvorverlegt worden. Es ist außerdem ein Zuschlag zu zah-len. Ich glaube, wir haben die Selbstanzeige vernünftigreformiert.Es ist nicht so – das hat auch der Präsident des Bun-desfinanzhofs in einem Interview in der FAZ betont –,dass sie im Strafrecht ein völliger Fremdkörper ist. Dasist doch Unsinn. Jeder, der sich im Strafrecht halbwegsauskennt, weiß, dass es zahlreiche Fälle des Rücktrittsvon der vollendeten Tat gibt, so zum Beispiel gemäߧ 149 Abs. 2 StGB bei der Fälschung von Geld undWertzeichen. Das gibt es nach § 261 Abs. 9 StGB bei derGeldwäsche. Das gibt es beim Subventionsbetrug. Dasgibt es bei der Brandstiftung: Der Brandstifter, der nachInbrandsetzen des Gebäudes den Brand wieder löscht,wird nicht bestraft, und zwar aus kriminalpräventivenErwägungen. Es gibt eine tätige Reue bei der fahrlässi-gen Herbeiführung von Explosionen und bei Eingriffenin den Straßenverkehr. Das ist ein allgemeiner Rechtsge-danke, der auch im Steuerrecht greift.Ich halte das für einen guten Rechtsgedanken; denn erebnet den Weg in die Ehrlichkeit. Ich könnte mir – dassage ich jetzt persönlich – vorstellen, dass man diesenRechtsgedanken auch auf anderen Gebieten anwendet,etwa bei der Erschleichung von Sozialleistungen. Wa-rum sollte ein Student, der im jugendlichen Alter von 18oder 19 Jahren auf dem BAföG-Antrag einen Nebenjobverschwiegen oder ein Konto nicht angegeben hat, einoder zwei Jahre später, wenn er reifer geworden ist unddie Erkenntnis gewonnen hat, dass das nicht richtig war,seinen Fehler nicht strafbefreiend korrigieren können?Wir sollten nicht darüber nachdenken, die Selbstanzeigeabzuschaffen, Herr Gysi, sondern darüber, ob wir diesenRechtsgedanken auch auf andere Tatbestände ausdehnenkönnen.
Auch Hartz IV ist sicherlich ein Feld, auf dem man die-sen Rechtsgedanken anwenden könnte.Wir stehen zur Selbstanzeige und halten sie für ein ver-nünftiges Instrument. – Der Präsident meldet sich; des-wegen sage ich abschließend: Keine Bundesregierung hatzur Bekämpfung der Steuerhinterziehung so viel beige-tragen wie die Bundesregierung Angela Merkel seit 2005.Danke.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuhörerinnen! Liebe Zuhörer! Innerhalb von zehnTagen diskutieren wir heute schon zum dritten Mal überdas Thema Steuerhinterziehung, Steuergestaltung,Steueroasen. Man könnte meinen, liebe Kollegen vonder Opposition, Sie wollten Steuerhinterzieher durchdiese Debatten im wahrsten Sinne des Wortes zum Auf-geben überreden. Wenn es denn hilft, gerne.Ganz sicher hilft, was diese Bundesregierung getanhat – da kann ich anschließen an das, was ManfredKolbe gerade gesagt hat –: BundesfinanzministerSchäuble hat sich wie kein Finanzminister vor ihm ge-gen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung enga-giert.Herr Gerster, Sie haben eben zu Recht darauf hinge-wiesen, dass die Zahl der Selbstanzeigen seit 2010 auf47 000 pro Jahr gestiegen ist. Wolfgang Schäuble ist seit2009 Finanzminister – Sie werden den Zusammenhangja wohl nicht leugnen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30015
Antje Tillmann
(C)
(B)
Ich möchte an mehreren Punkten sehr konkret auf dieAnträge der Linken eingehen, um nachzuweisen, dasswir vieles getan haben und dass das, was wir nicht er-reicht haben, sich nicht zuletzt deswegen nicht umsetzenließ, weil die Abgeordneten von der SPD und von derLinken hier nicht zur Kooperation bereit waren.Im Rahmen der Föderalismuskommission II habenwir die Kompetenzen des Bundeszentralamts für Steuernbei der Prüfung von sogenannten Einkommensmillionä-ren massiv gestärkt. Das Bundeszentralamt für Steuerndarf an Außenprüfungen teilnehmen, insbesondere darfes Außenprüfungen anregen.Selbstverständlich ist die Frage einer besseren Zu-sammenarbeit mit den Finanzverwaltungen der Länderdiskutiert worden. Ich glaube, es besteht Einvernehmen,dass diese Zusammenarbeit gar nicht gut genug seinkann und dass da Nachholbedarf besteht. Aber woran istdenn da ein Ergebnis gescheitert? Der damalige Finanz-minister Steinbrück hat in der ihm eigenen charmantenArt die Verhandlungen begonnen mit einem Gutachten,das mehr oder weniger unter dem Motto lief: Wenn ichdie Steuerverwaltung übernehme, können wir 8 Milliar-den Euro sparen. – Daraufhin haben alle Länderfinanz-minister die Verhandlungen über diesen Punkt abgebro-chen. Die Kavallerie hat nicht nur bei der Schweiz,sondern auch bei den Länderfinanzministern nichts ge-nützt.
Wir können über dieses Thema im Rahmen einer Föde-ralismuskommission III gerne noch einmal reden, lieberAxel Troost; aber ein bisschen mehr Verhandlungsge-schick und ein bisschen weniger Kavallerie führen damit Sicherheit zu einem besseren Ergebnis.Ich finde den Hinweis auf den Länderfinanzausgleichrichtig. Offensichtlich haben Sie unsere Papiere von da-mals gelesen; Axel Troost hatte sie dabei. Dann werdenSie festgestellt haben, dass der Länderfinanzausgleichnatürlich eine Ursache dafür ist, dass die Länder nichtmit Begeisterung Betriebsprüfer einstellen. Wenn einBetriebsprüfer, dessen Gehalt das Land 100 000 Eurokostet, dem Land zusätzliche Steuereinnahmen inHöhe von 100 000 Euro bringt, dann ist die Begeiste-rung des Finanzministers nicht groß, wenn er von diesen100 000 Euro im Rahmen des Länderfinanzausgleichs90 000 Euro abgeben muss.
– Ja, das sollten wir tun. Aber hier ist für diese Diskus-sion leider nicht der richtige Ort. Wir hatten diesesThema schon 2008 in unserem Föko-Papier aufgegrif-fen. Wir werden dieses Thema – die Föko III lässt grü-ßen – wieder aufgreifen.
Aber wir waren in vielen Dingen auch wirklich er-folgreich; einige davon sind heute ja schon genannt wor-den: automatischer Austausch von Informationen überZinsen durch die EU-Zinsrichtlinie, FATCA.Herr Dr. Gambke, Sie waren eben ganz ungläubig,dass Sie am Donnerstag der nächsten Sitzungswoche dieMöglichkeit haben, unserem FATCA-Antrag zuzustim-men.
– Doch, haben Sie. Seit gestern liegt er Ihnen sogar inPapierform vor.
Am Donnerstag der nächsten Sitzungswoche werden wirdieses Abkommen in nationales Recht umsetzen und da-durch auch international einen Informationsaustausch er-reichen, wenn unserem Änderungsantrag zum AIFM-Steueranpassungsgesetz zugestimmt wird. Ich freuemich auf Ihre Zustimmung nach der heutigen Rede.Als weitere Erfolge nenne ich die G-5-Initiative zumautomatischen Informationsaustausch bei Dividendenund das OECD-Projekt für Maßnahmen gegen Gewinn-verlagerungen.Vieles ist heute gesagt worden. Sie können das imProtokoll ja noch einmal nachlesen.Wir sind die erfolgreichste Regierung im Kampf ge-gen Steuerhinterziehung, und wir werden das auch wei-ter sein. Ich freue mich für jeden Steuerhinterzieher, denwir dabei zurück auf den Weg der Tugend bringen. Man-chen werden wir vielleicht auch bestrafen; denn daskann natürlich ein Ergebnis von Steuerhinterziehungsein.Herr Gysi, an dieser Stelle muss ich Ihnen sagen: Ichfinde es unbeschreiblich. Sie wissen ganz genau, dassSie die Unwahrheit sagen, und Sie sagen die Unwahrheitso bewusst, dass ich Ihnen das heute noch einmal vor-halte. Sie haben nämlich behauptet, dass jemand, dersich auf irgendeiner Steuer-CD wiederfindet, ganzschnell sagen kann: „Oh, jetzt zeige ich mich mal selberan“, und straffrei ausgeht. Sie wissen ganz genau, dassdas nicht so ist, aber ich lese Ihnen das noch einmal vor.In § 371 Abs. 2 Nr. 2 AO steht:Straffreiheit tritt nicht ein, wenn eine der Steuer-straftaten im Zeitpunkt der … Nachholung ganzoder zum Teil bereits entdeckt war und der Täterdies wusste oder bei verständiger Würdigung derSachlage damit rechnen musste …Selbstverständlich weiß jemand, wenn eine CD seinerBank in der Schweiz aufgekauft wird, dass seine Steuer-hinterziehung in dem Fall entdeckt ist. Deshalb bin ichauch fest davon überzeugt, dass die meisten Selbstanzei-gen im Zusammenhang mit Steuer-CDs nicht zu einerStrafbefreiung führen werden, weil die Entdeckung vor-lag und wir deswegen den plötzlichen Anstand des Be-troffenen nicht mehr brauchen. Wenn dieser Steuer-pflichtige zu einem Zeitpunkt die Wahrheit sagt, in demdie Finanzbehörde noch keine Erkenntnisse hat, ist eine
Metadaten/Kopzeile:
30016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Antje Tillmann
(C)
(B)
Straffreiheit möglich, was für uns den Vorteil hat, dasswir dann auch die Steuern einnehmen.Hier greife ich gerne den Vergleich auf, den Herr Poßeben hinsichtlich des Abkommens mit der Schweiz dar-gestellt hat. Sie haben gesagt, wenn man das Abkommenmit der Schweiz so gestaltet hätte, wie Sie es gewollthatten, dann hätten die Steuerhinterzieher die Hosen run-terlassen müssen. Nach dem, was ich mir vorstelle, hät-ten wir Geld bekommen. Bei der Abwägung zwischen10 Milliarden Euro und zwei Hosen ist ganz klar, welcheVariante ich wählen würde.
Sie werden in den nächsten Monaten in Ihren Wahl-kreisen erklären müssen, dass wir dieses Geld für Kin-derbetreuung, Kindergärten und Schulsanierung nichtzur Verfügung haben, weil Sie dafür gesorgt haben, dasswir diese Steuereinnahmen nicht erzielen.
Die Steuerhinterzieher haben am 31. Dezember 2012 dieSektkorken knallen lassen, weil Sie es ihnen ermöglichthaben, anonym und ohne Steuerzahlung davonzukom-men.
Das werden Sie sich anhören und erklären müssen.Letzter Punkt zur strafbefreienden Selbstanzeige.Hier wende ich mich gerne einmal auch an die Besuche-rinnen und Besucher oben auf der Tribüne.Die strafbefreiende Selbstanzeige wird nicht nur beigroßen Steuerhinterziehern angewandt – da geschiehtdas sogar eher nur im Ausnahmefall –, sondern die straf-befreiende Selbstanzeige ist ein Instrument, das viel-leicht auch einer von Ihnen schon einmal nutzen musste.Wenn Sie eine Umsatzsteuervoranmeldung zu spät abge-ben, ist das nämlich schon eine Steuerhinterziehung.Wenn wir in solchen Fällen nicht in jedem Fall ein Straf-verfahren einleiten wollen – und das wollen wir nicht –,dann muss es die Möglichkeit geben, durch die Berichti-gung seiner Tat diesen Fehler wiedergutzumachen, undgenau darum geht es.
Sollten wir nach Auswertung der Steuer-CDs feststel-len – ich habe mir sagen lassen, dass selbst die, die vorzehn Jahren gekauft worden sind, bis heute noch nichtausgewertet wurden –, dass bei der Selbstanzeige dochnoch irgendwo eine Lücke ist, dann sind wir, wie wir dasin der Vergangenheit auch schon getan haben, die Ersten,die diese Steuerstraffreiheit mit Ihnen gemeinsam, wennSie mögen, einschränken. Hierzu möchte ich vorher aberdie Berichte der Steuerfahnder und der Finanzbeamtenhören.Ich kann nur zitieren, was heute in der FrankfurterAllgemeinen Zeitung steht. Der Präsident des Bundes-finanzhofs hat heute sehr deutlich gesagt, dass dieSteuerselbstanzeige ein Instrument ist, das sich aus sei-ner Sicht bewährt hat. Dieses Instrument gibt es natür-lich auch im Strafrecht. Herr Kolbe hat Ihnen hier jaeben ein bisschen Nachhilfe gegeben, Herr Gysi.Ich glaube, sie ist ein gutes Instrument. Wenn es Aus-wüchse gibt, dann werden wir sie angehen, so wie wirauch alle anderen Maßnahmen gegen Steuerhinterzie-hung sehr konsequent fortgesetzt haben. Wenn Sie dabeisind, ist es umso besser. Bis dahin werden wir das aberauch weiter alleine machen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf der Drucksache 17/13129 mitdem Titel „Steueroasen trockenlegen – offshore undhierzulande“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der An-trag mit großer Mehrheit abgelehnt.Zusatzpunkt 9. Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf der Drucksache 17/13241 mitdem Titel „Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durchSelbstanzeige abschaffen“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auchdieser Antrag ist gegen die Stimmen der Linken mit denStimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 41 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten MarcusWeinberg , Michael Kretschmer,Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDPInitiative zur Stärkung der Exzellenz in derLehrerausbildung– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Swen Schulz ,Willi Brase, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDFür einen breiten Qualitätspakt in der Re-form der Lehrerbildung– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEExzellente Lehrerbildung überall sichern –Pädagogische Berufe aufwerten– Drucksachen 17/9937, 17/11322, 17/10100,17/13077 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30017
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg Dr. Ernst Dieter RossmannSylvia CanelDr. Rosemarie HeinKai GehringEine interfraktionelle Vereinbarung sieht vor, dass dieAussprache 45 Minuten dauern soll. Gibt es dazu Wider-spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann können wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Parlamentarischen Staatssekretär HelgeBraun.
D
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, in unsererGesellschaft eint uns der Wunsch, dass wir den Kindernin unserem Land möglichst die besten Bildungschanceneröffnen. Die Bildungsforschung der letzten Jahre hatimmer wieder bewiesen: Es gibt viele Faktoren, die aufdie Bildungsqualität einen Einfluss haben; aber dengrößten Einfluss auf die Qualität der Bildung in unserenSchulen hat die Qualifikation der Lehrer.
Deshalb hat die Bundesregierung auch durch Initia-tive des Deutschen Bundestages und der Koalition ausCDU/CSU und FDP bereits im Dezember 2011 ein An-gebot an die Länder gemacht, indem sie gesagt hat: DieAufgabe der Lehrerbildung und die Zuständigkeit für dieallgemeine und schulische Bildung ist eine Aufgabe derLänder. Aber die Bundesregierung und die sie tragendeKoalition haben immer gesagt: Wir betrachten Bildungals eine gesamtstaatliche Aufgabe, und wir wollen einenrelevanten Beitrag leisten, damit die BildungsrepublikDeutschland blüht. Wir sind bereit, mit den Ländern da-rüber in Verhandlungen zu treten, was sie tun können,um eine Qualitätsoffensive für die Lehrerbildung zu star-ten. – In der Sitzung der GWK am 12. April 2013 habenwir es nach rund zweijährigen Verhandlungen geschafft:Es wird eine Qualitätsoffensive Lehrerbildung inDeutschland geben, und der Bund wird hierfür 500 Mil-lionen Euro in die Hand nehmen.
Karl Jaspers hat die Bedeutung der Lehrerbildungschon einmal auf den Punkt gebracht, er sagte:Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch be-stimmt, wie sie ihre Lehrer achtet.Ich glaube, es ist wichtig, dass wir alle gemeinsamdaran arbeiten, dass die Lehrerausbildung optimal ist.Die Kritik in unserer Gesellschaft an den derzeitigenSystemen besteht nicht nur darin, dass wir nicht genugan der Lehrerausbildung arbeiten, sondern auch darin,dass wir noch nicht für die Vergleichbarkeit der Curri-cula, für gemeinsame Bildungsstandards, für die Ab-schaffung der Unterschiedlichkeit von Schulbüchern undfür die Beseitigung der fehlenden wechselseitigen Aner-kennung der Lehrer in den einzelnen Bundesländern ge-sorgt haben.Die Überwindung des Status quo ist eine Herausfor-derung. Deshalb haben wir das Angebot des Bundes,500 Millionen Euro für eine Qualitätsoffensive in derLehrerbildung auszugeben, mit der Forderung verbun-den – die Länder sind darauf eingegangen, wofür wirsehr dankbar sind –, dass es in Zukunft eine wechselsei-tige Anerkennung der Lehrerinnen und Lehrer in deneinzelnen Bundesländern, einen gleichberechtigten Zu-gang zum Vorbereitungsdienst und einen gleichberech-tigten Berufszugang gibt.
Die 500 Millionen Euro, die wir in den nächsten zehnJahren in die Hand nehmen werden, werden wir im wett-bewerblichen Verfahren vergeben. Das heißt, die Hoch-schulen sind aufgefordert, Konzepte vorzubereiten, eineStärken- und Schwächenanalyse ihrer Lehrerausbildungvorzunehmen und dann Konzepte einzureichen, die so-wohl die Fachdidaktik als auch die Pädagogik und dieSchulpraxis beinhalten und alle Abschnitte, also Stu-dium, Referendariat und die Weiterbildung im Beruf,umfassen. Wir wollen, dass die Hochschulen in diesemWettbewerb Konzepte auflegen, die auch Best Practiceund eine Vernetzung über die Grenzen der Bundesländerhinaus ermöglichen, sodass wir mit diesem 500-Millio-nen-Euro-Programm in den nächsten Jahren die Lehrer-ausbildung in Deutschland grundsätzlich stärken.
Wir wollen, dass die jungen Menschen in ganzDeutschland etwas davon haben. Deshalb erfolgt die Zu-teilung der Mittel und Initiativen nach einem relativkomplizierten Schlüssel, der aber im Prinzip eines er-reicht – und das ist das, was wir wollen –, nämlich dassin allen Bundesländern die Lehrerausbildung gestärktwird. Indem wir die Verteilung der Projekte auf der ei-nen Seite nach dem Königsteiner Schlüssel und auf deranderen Seite nach der Zahl der Absolventen bemessen,kann in jedem Bundesland von diesem Programm profi-tiert werden.Aber innerhalb der Bundesländer bzw. dann, wenn esin einem Bundesland nicht ausreichend hervorragendeAnträge gibt, bleibt die wettbewerbliche Komponenteerhalten. Bevor ein nicht ausreichend exzellentes Kon-zept gefördert wird, geht das Geld an eine Stelle, wo einentsprechend gutes Konzept vorhanden ist. Ich glaube,auch das ist ein fairer Ausgleich zwischen Regionalitätund Exzellenz, den wir mit dem Programm gefunden ha-ben.Das macht deutlich: Wir verfügen jetzt über ein Pro-gramm des Bundes mit einem Volumen von 500 Millio-nen Euro, das die Lehrerbildung in den nächsten Jahrengrundlegend voranbringen wird. Deshalb ist es ein guterTag für die jungen Menschen in unserem Land, die da-rauf hoffen können, dass sie auch in Zukunft in Deutsch-land, in der Bildungsrepublik, die Zeit, die sie mit Leh-
Metadaten/Kopzeile:
30018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
ren und Lernen verbringen, hervorragend nutzenkönnen, um ihre eigene Zukunft zu gestalten.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Kaczmarek
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! MeineDamen und Herren! Es ist unbestritten, dass die Auf-gabe, die Lehrerausbildung auf neue Herausforderungeneinzustellen, eine der wichtigsten Schlüsselstellen imBildungswesen ist. Der Problemdruck ist an den Schulenauch spürbar.Wir haben diese Woche im Ausschuss noch einmalüber das Thema Inklusion gesprochen. Wer sich vor Ortumhört, weiß, dass inklusive Bildung eine Herausforde-rung ist, die jetzt in den Schulen anliegt. Insofern ist esrichtig, dass die Länder sich bereits auf den Weg ge-macht haben, indem sie die Fachdidaktik und Praxispha-sen in der Lehrerausbildung gestärkt und Lehrerbil-dungszentren an den Hochschulen eingerichtet haben.Es ist gut und richtig, dass der Bund und die Ländervereinbart haben, gemeinsam und verstärkt diesen Wegfortzusetzen. Das erkennen wir ausdrücklich an.
Ich will aber auch sagen: Genauso wie beim Hochschul-pakt ist das nicht nur die Leistung des Bundes, sondernes ist eine gemeinsame Leistung von Bund und Ländern.
Die zusätzlichen Mittel aus der Qualitätsoffensive– 50 Millionen Euro pro Jahr – werden helfen, neue Er-kenntnisse zu gewinnen und den Transfer zu beschleuni-gen. Wir können die Debatte über die Anträge ein biss-chen abkürzen, weil viele Erkenntnisse und Forderungenaus den vorliegenden Anträgen berücksichtigt werdensollen.Wir sollten aber nicht vergessen, was die Länderheute schon tun. Das gilt auch für die finanzielle Seite.In meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen bei-spielsweise werden – zumindest wenn es nach demKönigsteiner Schlüssel geht; die neue Regelung habe ichnoch nicht ganz überblickt – aus der Qualitätsoffensiveetwa 10 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt.Zusätzlich zu den bisherigen Aufwendungen wendet dasLand aber schon in diesem Jahr 19 Millionen Euro fürdie Weiterentwicklung des Lehramtes für die besonderenBedürfnisse der inklusiven Bildung auf.Das alles zusammen zeigt: Nur gemeinsam könnenBund und Länder die Lehramtsausbildung neu profilie-ren und dem Fachkräftemangel begegnen. Wir solltendas an dieser Stelle auch nicht künstlich trennen.
Weil wir uns über diese gemeinsame Aktivität vonBund und Ländern im Großen und Ganzen gar nichtstreiten müssen, will ich nur einige Punkte nennen, dieaus unserer Sicht in der Qualitätsoffensive noch der wei-teren Berücksichtigung bedürfen. Inklusion und Hetero-genität sind ausdrücklich Schwerpunkt der Bund-Län-der-Vereinbarung; das begrüßen wir. Aber ich will nocheinige andere Punkte benennen.Erstens. Wir alle sprechen über frühzeitige Berufs-orientierung, die ab Klasse 7 oder 8 einsetzen soll. Dasstellt natürlich zusätzliche Anforderungen an Lehrerin-nen und Lehrer. Manche fühlen sich aufgrund ihrer bis-herigen Ausbildung, aber auch aufgrund der spezifi-schen Lehrerbiografie, zumindest an allgemeinbildendenSchulen, auf diese nicht immer ausreichend vorbereitet.Deshalb wäre es gut, wenn die Qualitätsoffensive auchProjekte aus diesem Bereich auslösen würde.Im Übrigen – ein Punkt, der aus meiner Sicht nochnicht so sehr öffentliche Aufmerksamkeit erfährt –zeichnet sich insbesondere im gewerblich-technischenBereich der berufsbildenden Schulen ein Lehrermangelab. Wir müssen deshalb gemeinsam darauf achten, dassdie speziellen Belange von Berufsschulen und Berufs-kollegs einen prominenten Platz in der Qualitätsoffen-sive erhalten.
Zweitens. Die Enquete-Kommission „Internet und di-gitale Gesellschaft“ hat in der vergangenen Sitzungswo-che die Konsequenzen der Digitalisierung unseres All-tags für die Bildung beschrieben. Schülerinnen undSchüler müssen Medienkompetenz erwerben können,um sich in der digitalen Welt selbstbestimmt und kritischbewegen zu können. Das ist nicht nur eine Frage derAusstattung mit digitalen Lehrmitteln – obwohl auch daswichtig ist –; es ist vor allen Dingen eine Frage der Aus-und Fortbildung derjenigen, die Medienkompetenz ver-mitteln sollen. Deshalb habe ich die herzliche Bitte anden Bund und die Länder, die Digitalisierung in derSchule, die Digitalisierung von Bildung ebenfalls in derQualitätsoffensive zu verankern.
Drittens. Wir brauchen eine schnelle Schnittstellezwischen den Erkenntnissen der Bildungsforschung– der Staatssekretär hat das gerade schon angesprochen –und dem Lehrerberuf. Deswegen gehört auch der Blickauf die gesamte Berufsbiografie in die Bund-Länder-Vereinbarung. Auch die Fortbildung gehört ins Blickfeldder Qualitätsoffensive. Hier müssen sich die Hochschu-len stärker öffnen und profilieren; denn wir können nichtnur auf die zukünftige Lehrergeneration schauen, son-dern müssen auch diejenigen in den Blick nehmen, dieheute im Dienst sind und dort noch viele Jahre bleibenwerden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30019
Oliver Kaczmarek
(C)
(B)
Viertens. Schulen, die sich ihrem kommunalen Um-feld öffnen, Ganztagsschulen zumal – das haben wir ausaktuellen Studien ersehen können –, werden zu offenenHäusern des Lernens, in denen viele pädagogische Pro-fessionen zusammenarbeiten sollen. Auch das gehört zuden Anforderungen des Lehrerberufs.Gemeinsam haben Bund und Länder deshalb mit derEinrichtung von zusätzlichen 3 000 Schulsozialarbeiter-stellen im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepakets da-für gesorgt, dass Lehrerinnen und Lehrer auch von Auf-gaben im familiären Umfeld der Schüler oder bei derBerufsorientierung entlastet werden. Diese Stellen, dieletztlich auf den Druck von Rot-Grün geschaffen wordensind, haben sich in der Praxis bewährt; das werden Siealle aus Ihrer Arbeit vor Ort wissen. Umso unverständli-cher ist es, dass sich die zuständige Bundesarbeitsminis-terin bislang weigert, die Finanzierung dieser Stellen, dieEnde 2013 ausläuft, weiter zuzusichern.
Wenn sich die Koalition an dieser Stelle nicht bewegt,dann werden diese Stellen Ende des Jahres wegfallen,und sie wird es ihrer Nachfolgeregierung überlassen, dieScherben zusammenzufegen. Deshalb: Die zusätzlicheSchulsozialarbeit muss erhalten bleiben. Der Bund musshier seiner Verantwortung nachkommen.
Ein Letztes: Die Schule ist letztlich für die Schüler da.Wer über die Ausbildung der Lehrer redet, der mussauch über die Schülerinnen und Schüler reden. Das, waswir in der Lehrerausbildung bewegen wollen, muss auchetwas bei den Schülerinnen und Schülern bewegen; damuss etwas ankommen. Deswegen ist die Fokussierungauf den Unterricht gut. Natürlich muss auch deutlichwerden, dass Lehrerinnen und Lehrern die Wertschät-zung für ihre Arbeit zukommt, die sie verdienen; denndas ist eine der wichtigsten Berufsgruppen.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Sylvia
Canel das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Verehrte Damen und Herren! Vier gute Jahreheißt: Wir nehmen 500 Millionen Euro in die Hand undgeben das Geld an der richtigen Stelle aus. Ich habe ei-gentlich einen Dank erwartet, liebe Kollegen von derSPD. Es wäre ganz schön gewesen, von Ihnen einmal et-was Positives zu hören.
Die Entwicklung unserer Gesellschaft wird maßgeb-lich von der Bildungspolitik beeinflusst und getragen.Bildung ist die Voraussetzung für ein sehr starkes Funda-ment unserer Gesellschaft. Wir sind daher verpflichtet,eine exzellente Qualität des Bildungssystems inDeutschland zu sichern. Gute Bildung ist die Grundlage,um den Fortschritt weiter voranzutreiben. Fortschritt be-deutet mehr Gesundheit, längeres Leben, Wohlstand und– das sage ich als Liberale – Aufklärung. Nur wenn ichdie Fremdeinflüsse auf mich kenne, habe ich die Frei-heit, selbst zu entscheiden, welche Einflüsse ich über-haupt zulasse. Deshalb sagen wir im Landesfachaus-schuss Bildung in Hamburg: Die Schulen sind die Wiegeder Demokratie. – Das sollte uns Politiker im Herzen be-rühren.
Gute Aufklärung braucht jedoch gute Lehrer. Ihr En-gagement in den Klassenzimmern der Republik verdientdie höchste gesellschaftliche Anerkennung, nicht zuletztdurch den Aspekt der Qualität. Die Qualität im Klassen-zimmer wird maßgeblich durch die Qualität der Lehrer-ausbildung bestimmt. Somit kann nur ein exzellenterUnterricht gegeben werden, wenn exzellente Lehrerauch das Ziel sind. Noch immer wird die Lehrerausbil-dung in der Bundesrepublik jedoch stark vernachlässigt.Verloren gegangene Anerkennung und Wertschätzungfür die Lehrer und ihren Beruf müssen dringend zurück-gewonnen werden. Deshalb müssen wir die am bestengeeigneten Abiturienten und – diese dürfen wir nichtvergessen – die fähigsten Quereinsteiger gewinnen undmotivieren, den Lehrerberuf, der eigentlich der schönsteBeruf von allen ist – das sage ich aus eigener Erfahrung –,weil man mit jungen Menschen zu tun hat, zu ergreifen.Wir dürfen nicht vergessen, dass in Zukunft Lehrerman-gel herrscht. Wir verlieren Lehrer durch Überalterungund dadurch, dass zu wenige Jüngere nachkommen. Ausdiesem Grund erarbeiteten die Koalitionsfraktionen dieLehrerexzellenzinitiative und ebneten damit den Weg füreine wirklich exzellente Lehrerausbildung und für mehrMotivation der jungen Leute, diesen wichtigen undschönen Beruf zu ergreifen.
Wenn jetzt die Opposition zusammen mit uns Art. 91 bdes Grundgesetzes noch änderte, dann würde die Exzel-lenzinitiative nicht als Leuchtturm dastehen, sondernkönnte auf Dauer verlässlich finanziert werden.
Die weitere Entwicklung des Bildungssystems stehtvor drei ganz besonderen Herausforderungen: dem de-mografischen Wandel, der Inklusion und der Digitalisie-rung unserer Gesellschaft. Der demografische Wandel istwohl die bedeutendste Aufgabe. Wir müssen dringenddie Lehrerausbildung reformieren und die Arbeitsbedin-gungen verbessern, damit junge Nachwuchslehrkräftemotiviert in diesen wunderbaren Beruf einsteigen. Solltedies nicht gelingen, wären die Konsequenzen verhee-rend. Studien belegen, dass bis zum Jahr 2020 rund460 000 Lehrer in den Ruhestand verabschiedet werden,300 000 Lehrer alleine bis 2015; das ist in zwei Jahren.Im Moment werden jedes Jahr nur 26 000 neue Lehr-
Metadaten/Kopzeile:
30020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Sylvia Canel
(C)
(B)
kräfte ausgebildet. Wie soll das funktionieren? Diese Lü-cke kann so nicht geschlossen werden. Der demografi-sche Wandel ist in vollem Gange, und wir müssen ihmentgegenwirken mit sehr guter Ausbildung und konse-quenter Nachqualifizierung von Quereinsteigern.Auch im Bereich der Inklusion müssen Weichen ge-stellt werden. Die individuelle Förderung der Schülersteht mehr denn je im Vordergrund. Dafür brauchen wirgute Schulen den ganzen Tag. Wir brauchen in denGrundschulen zwei Lehrer pro Klasse. Wir brauchenmehr Erzieherinnen und auch – das wird Sie vielleichtverwundern – Krankenschwestern an den Schulen. Wirbrauchen eine multiprofessionelle Schule; denn wennwir Beruf und Ausbildung der Kinder zusammenbringenwollen, dann müssen wir auch daran denken, dass dasbisher nur mit gesunden Kindern funktioniert.
Lehrer leisten viel, aber nicht alles. Sie sind Fachleute,aber keine eierlegenden Wollmilchsäue. Um den heuti-gen Anforderungen an die Lehrer gerecht zu werden,müssen sowohl die Lehrerausbildung als auch die Schul-organisation neu gestaltet und an die zusätzlichen Anfor-derungen angepasst werden. Nur so kann Inklusion ge-lingen.Im Zuge der Digitalisierung muss sich die Ausbil-dung von künftigen Lehrern an der heutigen Bildungs-technologie orientieren. Die gesellschaftliche Verände-rung bricht bestehende Reglements auf und fordertRaum, nicht zuletzt im digitalen Klassenzimmer. Wirwerden internationaler, wir werden flexibler, und wirkönnen auch Kindern, die nicht am Unterricht teilneh-men können, gute Angebote machen. Diese neuen Mög-lichkeiten des Unterrichts müssen sich auch in einer mo-dernen Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrerniederschlagen. Deshalb darf diese Ausbildung nichtlänger ein Randdasein in den Hochschulen führen. WennDeutschland Erfolg erzielen möchte, dann gilt es, dieQualität der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrernweiter voranzubringen und zu stärken. Die Koalitions-fraktionen haben bisher sehr viel erreicht. Wir habensehr viel Geld in die Hand genommen. Wir haben in vierguten Jahren die Basis für die vorliegende Initiative ge-schaffen. Wir sind auf einem guten Weg. Diesen Wegwerden wir weitergehen.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Rosemarie Hein für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der vorgestern veröffentlichten Studie des Allens-bach-Instituts mit dem Titel „Hindernis Herkunft“ kannman einige bedenkliche Befunde finden. Zwei davonwill ich einmal nennen.Zum Ersten: 63 Prozent der Lehrerinnen und Lehrerfinden, dass gute Schülerinnen und Schüler besser zu-sammen mit anderen guten Schülerinnen und Schülernlernen; aber auch 56 Prozent von ihnen finden, dassschlechte Schülerinnen und Schüler mehr profitieren,wenn sie mit deutlich leistungsstärkeren Schülerinnenund Schülern zusammen lernen.Der zweite Befund: 58 Prozent der Lehrkräfte anHaupt- und Realschulen meinen, dass sie die Anforde-rungen in den letzten Jahren senken mussten.Ich finde das deshalb bedenklich, weil diese Befundedeutlich machen, dass die Qualität schulischer Ausbil-dung weiter abnehmen wird, wenn wir nichts tun. Dafürgibt es verschiedene Gründe: die Verschlechterung derLehr- und Lernbedingungen an den Schulen, die Verkür-zung der Unterrichtszeit, die Erhöhung der Unterrichts-verpflichtungen für die Lehrkräfte, zu wenige Lehr-kräfte, fehlendes pädagogisches Personal, eineüberbordende Bürokratie mit unzähligen Förderpro-grammen und einem aufwendigen Berichtswesen, daswenig zur Unterrichtsqualität beiträgt. Eine wesentlicheUrsache liegt aber auch darin, dass Lehrende von heutenur unzureichend auf die gewachsenen pädagogischenAnforderungen vorbereitet sind. Der Umgang mit leis-tungsgemischten Lerngruppen beispielsweise, die Um-setzung von Inklusion in der Schule – Frau Canel hat eseben erläutert – und die Aufnahme gar nicht mehr soneuer pädagogischer Arbeitsformen, wie zum BeispielFreiarbeit, sind nach wie vor vielen Lehrkräften suspekt.Das ist ihnen deshalb suspekt, weil sie dafür nicht ausge-bildet sind. Nun gut, man kann sagen: Von Lehrerinnenund Lehrern kann man erwarten, dass sie sich ein Lebenlang fortbilden. Aber auch in der heutigen Lehramtsaus-bildung finden sich diese Bestandteile eben nicht in aus-reichendem Maße wieder.Die Anträge, die uns heute hier vorliegen, widmensich diesem Problem. In der Problembeschreibung lie-gen sie auch sehr dicht beieinander. Nun steht aber dieFrage, welche Verantwortung der Bund für die Verbesse-rung der Ausbildung hat, im Raum. Genau hier scheidensich die Geister. Lehramtsausbildung ist Ländersache.Obwohl es seit mehr als zehn Jahren Vereinbarungen zurLehrerausbildung, zur Anerkennung von Abschlüssen,zur Harmonisierung der Ausbildung usw. usf. gibt, un-terscheidet sich die Ausbildungspraxis in den Ländernimmer mehr voneinander.Die Unterschiede liegen vor allem in den Inhalten derAusbildung. So sieht die Ausbildung in elf Bundeslän-dern noch nicht einmal ein Praxissemester vor. In vielenHochschulen wurden die Ausbildungsbestandteile derpädagogischen Wissenschaften in den letzten Jahrenmassiv vernachlässigt. Zu wenige widmen sich intensivder Umsetzung von Inklusion in den Schulen. Aber dieheute und in den nächsten Jahren auszubildenden Lehr-kräfte werden für etwa 40 Jahre die Qualität der Schulenbestimmen. Darum können wir nicht mehr warten, biseine Exzellenzinitiative in der Breite angekommen istund allen Hochschulen zugutekommt. Wir brauchen eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30021
Dr. Rosemarie Hein
(C)
(B)
exzellente Lehrerausbildung, heute und jetzt, in jederHochschule, die eine Lehramtsausbildung anbietet.
Bei dem Beschluss der GWK von vor 14 Tagen wirdallerdings deutlich, dass es zwar die Absicht gibt, alleLänder daran zu beteiligen, aber eine Garantie dafür gibtes nicht. Vier Stadtstaaten und Bundesländer haben nureine einzige Hochschule, die Lehrkräfte ausbildet; dakann es schlecht Wettbewerb geben. In weiteren vier gibtes nur zwei, und die haben nicht immer das gesamteAusbildungsspektrum. In meinem Bundesland, Sachsen-Anhalt, beispielsweise werden Lehrerinnen und Lehrerfür allgemeinbildende Schulen nahezu ausschließlich ander Uni Halle ausgebildet. Bei der Umsetzung der Exzel-lenzinitiative laufen, wie ich diese Vereinbarung lese,viele Länder Gefahr, am Ende doch nichts abzubekom-men.Wir bleiben dabei, dass eine gute Lehrerausbildungan allen Hochschulen stattfinden können muss. DerBund hat hier Handlungsmöglichkeiten. Er muss nichtwarten, bis das Kooperationsverbot aufgehoben ist, ob-wohl das sehr helfen würde.
Man kann zum Beispiel den Hochschulpakt so ausgestal-ten, dass er an den Hochschulen auch bei der Lehrerbil-dung ankommt. Man kann auch einen Pakt für bessereLehre machen; auch das könnte in der Lehrerausbildungankommen.
Möglicherweise reichen dann allerdings die 500 Millio-nen Euro nicht, die ja auf viele Jahre verteilt werden.Aber das sollte uns eine bessere Lehrerausbildung schonwert sein.
Frau Canel, ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam ver-folgt und an einer Stelle auch applaudiert, wie Sie sicherbemerkt haben. Man hat eben gemerkt, dass eine Lehre-rin gesprochen hat. Ich frage mich nur: Sind Sie in dieserRegierung oder nicht?Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kinder und Jugendliche brauchen Lehrkräfte mit starkenfachlichen, pädagogischen und diagnostischen Fähigkei-ten, Lehrkräfte, die individuell fördern und Inklusionumsetzen können. Wir erhoffen uns von der Bund-Län-der-Vereinbarung über die Lehrerbildung starke Impulse,um Lehrerinnen und Lehrer auf ihre verantwortungsvol-len Aufgaben besser vorzubereiten. Dabei gilt es zu be-achten, dass sich Reformen in diesem Bereich erst mit-telfristig auswirken. Bildlich gesprochen: Wenn jetzt dieAusbildung reformiert wird, werden wahrscheinlichnoch nicht einmal die heutigen Grundschülerinnen undGrundschüler davon profitieren. Eine zügige Weiterent-wicklung der Lehrerbildung ist daher überfällig. DieBund-Länder-Initiative muss deshalb ein Erfolg werden.
In der öffentlichen Debatte um die Lehrerausbildungspielte bisher die Mobilität von Lehramtsabsolventinnenund -absolventen eine herausragende Rolle. Dies ist einwichtiges Anliegen zwischen den Bundesländern, darfaber nicht die inhaltliche, konzeptionelle und praxisnaheModernisierung des Lehramtsstudiums in den Hinter-grund treten lassen; denn das ist doch der eigentlicheKern. Die wachsenden beruflichen Anforderungen anLehrkräfte müssen bei einer Reform der Lehrerausbil-dung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachli-che Qualifikationen genauso gefordert wie anspruchs-volle didaktische Qualität, Diagnostik und Evaluation.Die stärkere Vielfalt der Schülerschaft erfordert eineLehr- und Lernkultur, die Integration und Inklusion ver-bessert; denn Herkunft darf nicht zum Hindernis werden.
Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb im produkti-ven Umgang mit Heterogenität ausgebildet sein undweitergebildet werden. Notwendig ist in diesem Zusam-menhang auch die Stärkung der Forschung zum The-menbereich Heterogenität und Diversity, wie sie zumBeispiel in den entsprechenden DFG-Programmen ge-fördert wird. Eine moderne Lehrerbildung beruht auf ei-nem wissenschaftlichen und zugleich berufsfeldorien-tierten Studium – das hat auch das Fachgespräch imBildungsausschuss des Bundestages gezeigt –; denn dieSchule ist eine zentrale Institution und Sozialisations-instanz im Leben von Kindern und Jugendlichen. DieSchule braucht nicht nur multiprofessionelles Personalund eine bessere Vernetzung zwischen den Schulfä-chern, sondern auch eine Vernetzung mit schulbezogenerJugendsozialarbeit, mit Gesundheitsprävention undQuartiersentwicklung vor Ort. Nur mit einer durchdach-ten Strategie können wir all diesen Anforderungen vorOrt gerecht werden.Über die grundsätzlichen Ziele einer Qualitätsoffen-sive für die Lehrerausbildung herrscht zwischen denFraktionen mittlerweile große Übereinstimmung. Trotz-dem bleibt festzuhalten, dass im Antrag der Regierungs-fraktionen ein klares Konzept zur Verbesserung der Leh-rerausbildung fehlt. Das betrifft zum Beispiel dieQualitätsmessung und das Auswahlverfahren; ebensowie im Antrag der Linksfraktion sind Fort- und Weiter-bildung darin ziemlich unterbelichtet. Niemand kannund darf warten, bis es zu einem kompletten Austauschder Lehrerinnen und Lehrer gekommen ist. Fort- und
Metadaten/Kopzeile:
30022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Kai Gehring
(C)
(B)
Weiterbildung müssen deshalb als gleichrangig zur Aus-bildung von Lehrkräften gesehen werden. Es braucht injedem Kollegium und in jedem Bundesland eine echteWeiterbildungskultur.
Auch der von der Linken beantragte Ansatz, die Bun-desförderung allen Hochschulen jetzt und sofort nachdem Gießkannenprinzip zukommen zu lassen, ist nichtzielführend. Es macht dagegen Sinn, dass eine Förde-rung daran gekoppelt ist, dass eine Hochschule einschlüssiges und innovatives Konzept vorlegt.
Gute Praxisbeispiele sollen dann im Rahmen der Bund-Länder-Zusammenarbeit ausgewertet und verbreitetwerden. Das heißt, es geht um den Transfer des Guten indie Breite. Wir sind zuversichtlich, dass aus diesem ge-samtstaatlichen und kooperativen Ansatz dann eine breitangelegte und wirksame „Qualitätsoffensive Lehrerbil-dung“ erwachsen kann.Wir begrüßen, dass die Koalition und die Bundesre-gierung sich von ihrem sehr engen Ansatz einer Exzel-lenzinitiative verabschiedet haben und dass Bund undLänder zu einer sinnvollen Einigung gekommen sind.
Wir begrüßen auch, dass alle Beteiligten aus denSchwierigkeiten beim Hochschulpakt gelernt haben:Erstens sind Forderungen wie die Kapazitätsneutralitätin der Vereinbarung ganz klar formuliert. Zweitens gehtdas Geld vom Bund direkt an die Hochschulen, und dasist gut so. Die Bund-Länder-Vereinbarung zeigt auch,dass ein Bildungsstaatsvertrag, wie ihn die letzten ver-bliebenen Länderminister der Union vor ein paar Mona-ten vorgeschlagen haben, nicht notwendig ist. Dass FrauWanka nach ihrer Abwahl in Niedersachsen diesbezüg-lich dazugelernt hat, ist erfreulich. Es ist erfreulich, dassman sich auf eine andere Vereinbarung verständigt hat.Allerdings sind hier auch die Hinterlassenschaften derVorgängerin von Frau Wanka offenkundig. Herr Braunhat vorhin noch einmal 500 Millionen Euro für dienächsten zehn Jahre versprochen. Nicht einmal im Haus-haltsentwurf für das Jahr 2014 sind die 50 MillionenEuro für das nächste Jahr verankert. Das heißt, hier wirdüber Geld geredet, das Frau Wanka bisher überhauptnicht hat.
– Der Haushalt ist derzeit in der Beratung.
– Es gibt einen Haushaltsentwurf und eine mittelfristigeFinanzplanung; darin muss das abgebildet sein.Die globalen Minderausgaben – 620 Millionen Euro –haben Sie auch noch beim BMBF. Das darf nicht zulas-ten anderer Titel erwirtschaftet werden.Wir hoffen und erwarten, dass die gute inhaltliche Ba-sis für die Verbesserung der Lehrerbildung und damit fürdie Vorbereitung auf diesen sehr anspruchsvollen Berufnun auch umgesetzt wird.
Kollege Gehring, achten Sie bitte auf die Zeit!
Dann und nur dann wird das Ganze zum Erfolg vor
Ort werden.
Danke schön.
Kollege van Essen, Sie können gern stoppen. Wenn
das so ist, dann geht Ihre Uhr schneller als die Uhr der
Präsidentin.
Der Kollege Marcus Weinberg hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Solange die Zeit nicht abläuft, ist alles inOrdnung.Ich danke dem Kollegen Gehring für die 97-prozen-tige Unterstützung dieser Initiative. Das zeigt – daswurde in allen Wortbeiträgen, auch denen der Opposi-tion, deutlich –, dass hier mit guter Bildung ein wichti-ges Thema aufgegriffen wurde. Es ist ein Riesenerfolg,dass in den nächsten Jahren über 500 Millionen Euro indie Ausbildung unserer Lehrer investiert werden. Dafürein herzliches Dankeschön!
Eine große gesellschaftliche Diskussion betrifft dieFrage nach den Faktoren für erfolgreiches Lernen. Dabeigeraten wir in vielen Bildungsdiskussionen immer wie-der bis an den Rand des Streits aneinander. Es geht umdie Frage: Welche Faktoren wirken eigentlich?
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30023
Marcus Weinberg
(C)
(B)
Ich will nur einmal die McKinsey-Studie von vor we-nigen Jahren ansprechen. Bei dieser Studie mit einem in-ternationalen Vergleich – es wurden 24 Länder unter-sucht – mit einer Laufzeit von einem Jahr wurden mehrals 100 Experten befragt: Welche Faktoren sind wirk-sam? Ist es die Finanzierung der Schulsysteme? Das istdie Frage, die insbesondere die Linke immer gerne auf-wirft. Da muss ich Sie leider enttäuschen, meine Damenund Herren. Das wurde als ein nicht wesentlicher Faktoridentifiziert. Australien hat seit 1970 den Etat verdrei-facht, die USA haben ihn verdoppelt, und die Erfolgesind mäßig. Ist es die Ganztags- oder Halbtagsbetreu-ung? Ich als Anhänger einer guten Ganztagsbetreuungsehe dabei durchaus auch noch andere Funktionen. Fürden Bildungsbereich lässt sich festhalten – das wurde inder Studie herausgearbeitet –, dass durchaus auch Schu-len, die keine Ganztagsbetreuung anbieten, sehr gute Er-folge erzielen. Ist es die Klassengröße? Darüber kannman lange streiten.Im Kern steht die Aussage – und das ist für uns nichtunwichtig –: Entscheidend sind gute Lehrer.
Ich nenne hier als Beispiel eine Untersuchung in Dallas,die sicher viele kennen. Dort haben Toplehrer durch-schnittlich begabte Schüler unterrichtet, die dann zu denTop-5-Prozent ihres Jahrganges gehörten. Durchschnitt-lich begabte Schüler, die von weniger gut ausgebildetenLehrern unterrichtet wurden, fanden sich relativ weit un-ten auf der Skala wieder. Das ist der erste Befund.Zweiter Befund – das richtet sich an die deutschenUniversitäten und diejenigen, die den Lehramtsberuf an-streben –: Es wird häufig vom Praxisschock berichtet.Vor einem Jahr gab es eine Allensbach-Studie, in derenRahmen junge Lehrer befragt wurden. Herausragendfand ich, dass 81 Prozent der Lehrer in Deutschland im-mer noch Freude an ihrer Arbeit haben.
Nur jeder zehnte Anfänger überlegt, auszusteigen.83 Prozent gaben an, gerne mit Kindern und Jugendli-chen zu arbeiten. Das heißt, bei den jungen Menschen inDeutschland gibt es den Wunsch, mit Kindern und Ju-gendlichen zu arbeiten. Es gibt das Streben, hier etwasGutes zu tun.Dritter Befund. Kai Gehring und einige Vorredner ha-ben die Herausforderungen für die nächsten Jahre be-nannt. Es geht um das Thema Inklusion. Das muss nichtnur bei der Lehrerausbildung eine Rolle spielen, sondernauch bei der Qualifizierung und Weiterbildung der Lehr-kräfte. Wir haben das Thema „kulturelle Vielfalt“ in denGroßstädten mit dem Thema Integration verbunden. InGroßstädten wie Hamburg und Frankfurt haben mittler-weile über 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen ei-nen Migrationshintergrund. Darauf muss sich die Fach-didaktik einstellen; darauf müssen sich aber auch dieMethodik und die Pädagogik einstellen. Das Thema „he-terogene Lerngruppen“ wurde bereits angesprochen.Auch dieses Thema ist bei der Formulierung der Lehrer-exzellenz aufgenommen worden. Eine weitere Heraus-forderung, die es aufzunehmen gilt, sind die verändertenStrukturen in Elternhaus und Familie. – Dies sind dieBereiche, die in den nächsten Jahren durch diese Initia-tive abgedeckt werden sollen.Hinzu kommt etwas nicht ganz Unwichtiges, was un-sere ehemalige Ministerin Schavan gesagt hat, der wirsehr viel zu verdanken haben.
Sie hat gesagt: Wenn ein durchschnittlicher Unterneh-mensberater mehr Ansehen in der Gesellschaft genießtals ein guter Lehrer, dann stimmt etwas in unserer Ge-sellschaft nicht. – Auch daran müssen wir arbeiten.
Wir werden mit dieser Initiative drei Ziele erreichen:Erstens. Bund und Länder wollen mit der „Qualitäts-offensive Lehrerbildung“ den absehbaren Generations-wechsel im Lehrpersonal nutzen, begonnene Reformenzu unterstützen, zu beschleunigen und neue Impulse zusetzen, gerade im Bereich der didaktischen und methodi-schen Auslegung.Zweitens. Sie wollen zudem überzeugende Beiträgezur Aufwertung des Lehramtsstudiums entwickeln. Die„Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ will einen wettbe-werblichen, breit wirkenden und kapazitätsneutralen Im-puls geben, mit dem eine qualitativ nachhaltige Verbes-serung für den gesamten Prozess der Lehrerbildungerreicht werden soll. Hier unterscheiden wir uns schon.Wir wollen nicht mit der Gießkanne verteilen, sondernExzellenz haben. Wir wollen die guten Konzepte umset-zen. Wir wollen, dass aus den guten Konzepten auch et-was für die Breite entsteht. Insofern verfahren wir nichtso wie Sie von den Linken; denn Sie wollen nur immermehr mit der Gießkanne ausschütten. Wir wollen eineexzellente Lehrerausbildung. Daran orientieren sichauch andere Hochschulen.
Damit erreichen wir, dass die Lehrerausbildung aus derNische der Hochschulen in das Zentrum der Hochschu-len gelangt. Eine gute Universität ist eine Universität,die gute Lehrer ausbildet.
Kollege Weinberg, achten Sie bitte auf die Redezeit!
Mit Blick auf die Redezeit will ich noch den drittenAspekt ansprechen: Drittens. Wir müssen es schaffen,die Studienleistung anzuerkennen und Übergänge undMobilität zu stärken.Heute ist ein guter Tag für die jungen Menschen, diesich entscheiden, Lehrerin bzw. Lehrer zu werden, weilsie endlich in das Zentrum der Gesellschaft rücken, weilsie zu denen gehören, die wir in den nächsten Jahren mit
Metadaten/Kopzeile:
30024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Marcus Weinberg
(C)
(B)
500 Millionen Euro unterstützen. Dies ist ein großer Er-folg. – Ich wünsche ein schönes Wochenende.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mit einem Blick zurück auf das Jahr 2002/
2003 beginnen. Damals hat die PISA-Studie uns alle in
Bewegung versetzt. Die Kultusministerkonferenz hat
unter anderem im Zusammenwirken mit dem Bund sie-
ben entscheidende Handlungsfelder definiert. Viele da-
von sind angegangen bzw. abgearbeitet worden. Heute
setzen wir in der Tat einen wichtigen Punkt in Bezug auf
das siebte Handlungsfeld, nämlich der Verbesserung der
Lehrerausbildung.
Meine erste Bemerkung. Bisher lag die Handlungslei-
tung mehr bei den Ländern. Es sollte nicht unterschlagen
werden, dass die Länder Vereinbarungen zur Mobilität
getroffen haben, dass die Länder sehr viel Innovation in
die Lehrerausbildung hineingebracht haben. Dieses Pro-
gramm obendrauf ist ein gutes Versprechen. Deshalb
kann es ein guter Prozess werden, wenn wir uns zusam-
men verpflichten – egal, wer in den nächsten Jahren re-
giert –, dieses wirklich durchzuziehen. Denn bisher ist es
nur ein Versprechen.
Kollege Gehring hat völlig recht: Die Hinterlegung
im Haushalt soll erst im September vollzogen werden.
Wir werden sehr genau darauf achten, was im September
von dieser Regierung vorgelegt wird. Wir werden das
kritisch prüfen und unser Vorhaben bekräftigen, dass wir
in jedem Fall an den 500 Millionen Euro festhalten wol-
len, um für mittelfristige und für langfristige Garantien
zu sorgen. Dieses Vorhaben muss stehen, sonst ist alles
Schall und Rauch.
Meine zweite Feststellung ist, dass der Wechsel einer
Ministerin von Landesebene auf Bundesebene manch-
mal dazu führen kann, dass man sich ganz schnell von
Staatsverträgen verabschiedet. Jetzt stehen nur noch
Sachsen und Bayern allein auf weiter Flur; die anderen
haben sich davon überzeugt, dass eine Richtlinie mehr
Mobilität garantiert.
Drittens. Es wurde aufgrund einer Bundesinitiative
eine merkwürdige, aber zum Guten verlaufende Diskus-
sion über die Struktur der Verbesserung der Lehreraus-
bildung angestoßen. Ganz am Anfang stand die Diskus-
sion über ein zentrales Qualitätssicherungsinstitut für
Lehrerbildung auf ganz Deutschland bezogen. Das ist
dann schnell vergessen worden.
Der nächste Begriff war: die Exzellenzinitiative. Kol-
lege Rupprecht, da wir uns politisch fast freundschaft-
lich verbunden sind, will ich Ihre Wandlung beschrei-
ben, die mir noch sehr gegenwärtig ist. Das war sehr
kühn von Ihnen, zu behaupten: Wenn die drei besten Ex-
zellenzinitiativen alle nur in Niedersachsen sind, dann
fordern wir sie nur in Niedersachsen. – Ein solcher An-
satz findet sich jetzt allerdings nicht mehr wieder.
Der jetzige Ansatz lautet – von Kollegin Hein über
das ganze Haus hingetragen –, dass wir gerade bei der
Lehrerbildung in jedem Bundesland innovativ sein müs-
sen.
Dies wird durch den Verteilschlüssel garantiert, den der
Staatssekretär richtig dargestellt hat; Frau Hein hat ihn
allerdings noch nicht richtig verstanden.
Es gibt für jedes Bundesland eigenes Geld. Welche
Projekte daraus realisiert werden, wird wettbewerblich
festgestellt, analog entsprechender innovativer Vor-
schläge. Wenn die innovativen Vorschläge nicht beim
ersten Mal in den Ländern platziert werden können,
dann beginnt allerdings ein länderquotenunabhängiger
Wettlauf um die letzten Mittel.
Wir müssen uns in die Sache hineinbegeben, um das
entsprechend positiv darzustellen. Es ist positiv, dass wir
überall eine gute Lehrerausbildung stimulieren wollen.
Das Versprechen gilt: Das packt der Bund obendrauf.
Kollege Rossmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung der Kollegin Hein?
Selbstverständlich, weil dann die Uhr von Herrn van
Essen langsamer geht.
Also, ich habe sie angehalten.
Vielen Dank. – Herr Rossmann, würden Sie mir rechtgeben: Wenn es in einem Bundesland nur eine einzigeEinrichtung gibt, die Lehramtsausbildung durchführtund die dann vielleicht nicht das richtige Konzept vor-legt, kann die Klausel, dass nicht verbrauchte Mittel inanderen Bundesländern ausgegeben werden können,dann dazu führen, dass das Bundesland gar keine Mittelbekommt? So interpretiere zumindest ich die Vereinba-rung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30025
(C)
(B)
Das ist richtig, und das ist doch auch in Ordnung.
Wenn ein Bundesland nichts Innovatives liefert, sondern
wenn es sich allein auf Lückenschluss in Bezug auf feh-
lende Mittel bei der Lehrerausbildung konzentriert, dann
darf ein Fachkreis sagen: Die bekommen es nicht. Sie
sollen das merken. Dann gehen die Mittel für Innovation
woanders hin.
Jedes Bundesland hat die Chance, in einem bestimm-
ten Korridor innovative Vorschläge zu machen. Die Ba-
lance zwischen Bund und Ländern ist in der Fläche gut
austariert, dafür sorgt das linke Prinzip der Innovation
und des Fortschritts.
Zu der Rückfrage in Bezug auf die Inhalte. Nicht nur
unter den Sozialdemokraten, auch von Herrn Weinberg
bis zu Herrn Gehring herrscht breite Übereinstimmung.
Ich könnte sie zitieren, es käme das Gleiche heraus, was
wir in Bezug auf Inklusion, Ganztagsschule und Verbrei-
terung des Schulangebots sagen würden.
Kollege Braun hat seine Rede mit einem Hinweis auf
Karl Jaspers begonnen. Ich möchte an dieser Stelle einen
Gedanken hinzufügen, der bisher von den Ländern und
auch vom Bund nicht hinreichend diskutiert worden ist.
Frau Canel, Sie haben gesagt: Die Schule ist die Wiege
der Demokratie. Karl Jaspers, von Herrn Braun in die
Diskussion eingeführt, war nicht nur Philosoph, sondern
ein besorgter Politikbegleiter, der schon vor der Verlei-
hung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
1958 wichtige Werke, unter anderem Über die Atom-
bombe und die Zukunft Deutschlands, veröffentlicht hat.
Er hat immer darauf bestanden: Die Demokratie braucht
auch ihre Schule, sie braucht auch politische Bildung. Es
hat mich ein wenig verwundert – das ist jetzt eine per-
sönliche Bemerkung –, wie wenig wir dies bei der
Diskussion über die Verbesserung der Konzepte der
Lehrerbildung reflektieren, während wir gleichzeitig be-
obachten, dass junge Menschen sich nicht von vornher-
ein mit der Demokratie identifizieren und sie nicht von
vornherein praktizieren können. Demokratie ist kein
Lehrfach, sondern eine Haltung – eine Haltung, die bei
allen Lehrkräften durchscheinen müsste.
Deshalb werbe ich darum, nicht nur Schule der De-
mokratie, sondern demokratische Schule zu machen.
Wir sollten das als Aufgabe für jede Form moderner
Lehrerbildung begreifen, und das sollte auch von den
Ländern und vom Bund aufgegriffen werden. Herr
Braun, egal, ob Sie dieses Thema noch länger begleiten
oder nicht: Diese Bitte richtet sich auch an Sie.
Gute Lehrerbildung ist auch gute demokratische Bil-
dung. Denn in der demokratischen Bildung spiegelt sich
das Grundprinzip guter Lehrerbildung – von Comenius
über Nohl mit seinem pädagogischen Bezug bis zu John
Hattie von heute – wider: Der Pädagoge wirkt als Person
und über die Person in einem Bezug und holt gleichzei-
tig den Gegenstand in eine Reflexion, in eine Aneignung
an den Schulen mit hinein. Dies gilt auch für Demokra-
tie. Wir brauchen demokratische Lehrer und Lehrer der
Demokratie und die Aneignung von Demokratie.
Ich weiß, dass diese Bemerkung von den 500 Millio-
nen Euro wegführte. Aber ich wollte in diese Debatte
noch die Besinnung auf Kernpunkte der gemeinsamen
Identität hinsichtlich der Schule einbringen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gott seiDank sind die Zeiten vorbei, in denen Lehrer als fauleSäcke beschimpft wurden, und das auch noch von maß-geblichen Politikern dieses Landes wie einem nieder-sächsischen Ministerpräsidenten und späteren Bundes-kanzler.
Wir haben nie so gedacht und haben immer eine Poli-tik gemacht, mit der wir Deutschland als Bildungsrepub-lik gestalten wollen, um jungen Menschen Chancen zugeben und unseren Wohlstand hier zu erhalten.Dabei sind die Lehrer ein ganz zentrales Thema. DieStudie von John Hattie beweist eindrucksvoll, dass dieganzen Debatten der vergangenen Jahre auch inDeutschland über ideologische Schulkonzepte – dieKlassengröße, die Schulform, klassenübergreifendenUnterricht usw. – am Thema vorbeigehen. John Hattiehat in seiner Studie eindrucksvoll bewiesen, was wirschon immer wussten: dass es auf den Lehrer, auf denje-nigen ankommt, der vorne vor der Klasse steht, auf seinefachlichen Kenntnisse und auf seine didaktischen Fähig-keiten.Deswegen war es folgerichtig, dass wir die Initiativeergriffen haben. 500 Millionen Euro für eine Qualitäts-initiative in der Lehrerbildung in ganz Deutschland isteine gewaltige Summe.
Dass dieses Geld jetzt in den Haushalt eingestelltwird, ist klar. Dass wir auch an dieser Stelle – wie an denanderen Stellen bei Bildung und Forschung – Wort hal-ten, ist selbstverständlich.Ich finde es bemerkenswert, dass die Debatte heute– auch von der SPD – in großen Teilen als Verteidi-gungsrede für die Länder geführt wird. Natürlich hat dieMehrheit der Wissenschafts- und Bildungsminister inDeutschland derzeit ein sozialdemokratisches Partei-buch.
Metadaten/Kopzeile:
30026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Michael Kretschmer
(C)
(B)
Das ist im Übrigen eine große Verantwortung, die Siehaben. Denn die Dinge, die jetzt in den Ländern gesche-hen, hat die SPD zu verantworten.Ich halte es allerdings für einen Fehler, wenn man ausparteitaktischen Gründen jetzt alles verteidigt, allesschönredet und jede kritische Diskussion unterbindet.
Denn unsere nationale Verantwortung, der wir auch mitdem Paket von 500 Millionen Euro für die Lehrerbil-dung in Deutschland gerecht werden, ist es, die Zukunftdieses Landes in den Vordergrund zu stellen. In einemföderalen Land bedeutet das, immer wieder darauf zuachten, was in den Ländern geschieht,
und die Dinge kritisch zu begleiten. Das erwarten wirauch von den Sozialdemokraten hier im Deutschen Bun-destag.
Föderalismus funktioniert nur dann, wenn sich amEnde die besten Konzepte durchsetzen.
Wenn man sich anschaut, was derzeit in Baden-Würt-temberg passiert – eine ehemalige Berliner Schulsenato-rin darf Konzepte zur Weiterentwicklung des Bildungs-systems des erfolgreichsten Bundeslandes in SachenBildung entwickeln –, dann kann einem nur angst undbange werden.
Wenn wir sehen, dass in Rheinland-Pfalz 2 000 Lehrer-stellen eingespart werden sollen, in Schleswig-Holsteinmit Hinweis auf die zukünftige Inklusion 3 000 Lehrer-stellen und in Baden-Württemberg sogar 12 000 Lehrer-stellen, dann müssen wir sagen: Das ist der falsche Weg,wenn man eine Bildungsrepublik haben möchte. Das wer-den wir immer wieder sagen. Sie sollten das Ihren Genos-sen auch parteiintern einmal sagen. Sie sollten das anpran-gern und für eine Veränderung dieser Politik sorgen.
Kollege Kretschmer, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Rossmann?
Nein.
Ich möchte Ihnen gerne noch sagen, dass ich es für ei-nen wirklich großen Erfolg halte, dass es der Bundes-ministerin und dem BMBF gelungen ist, die Länder beider gegenseitigen Anerkennung der Lehrerausbildungund des Vorbereitungsdienstes mitzunehmen. DiesesThema hat in der Tat viele Jahre lang für Ärger gesorgt;das war auch nicht zu erklären. Dieser Erfolg zeigt ein-mal mehr – das hat auch Bildungsministerin EdelgardBulmahn immer wieder gesagt –: Der Bund muss Ver-antwortung übernehmen. Er muss eine gewisse Füh-rungsfunktion übernehmen, dabei aber eine vernünftigeSprache finden. – Deswegen sage ich es noch einmal:Stellen Sie sich der Sache nicht in den Weg,
sondern sorgen Sie dafür, dass sich die besten Konzeptedurchsetzen und am Ende ein Erfolg steht.Wir stehen vor großen Herausforderungen. Im sozia-len Bereich sind das die unterschiedlichen Voraussetzun-gen, die die Schüler mitbringen – diese Unterschiedewerden immer größer –, und das wichtige Thema der In-klusion. Hinzu kommt natürlich die Digitalisierung, derBereich der neuen Medien. Das stellt die Lehrer in unse-rem Land vor völlig neue, ungeahnte Herausforderun-gen. Deswegen darf die Lehrerausbildung in den deut-schen Hochschulen nicht das fünfte Rad am Wagen sein,sondern sie muss zu einem zentralen Bestandteil derHochschulbildung werden. Das erreichen wir mit unse-rem Konzept.
Wir möchten, dass die guten Erfahrungen, die manbeispielsweise an der TU München gesammelt hat, woder exzellente PISA-Forscher Professor Prenzel lehrt,überall in Deutschland genutzt werden. Wir möchten,dass es einen Wettbewerb um die besten Konzepte gibtund sich die besten Konzepte in der Breite durchsetzen.Wir möchten auch, dass es zu einer Veränderung bei derLehrerbildung kommt. Die jungen Leute dürfen nichterst am Ende ihrer Ausbildung zum ersten Mal vor einerSchulklasse stehen, sondern sie müssen schon am An-fang vor einer Klasse stehen, damit sie relativ schnellmerken, ob sie für diesen Beruf geeignet sind. Ichglaube, wir haben mit diesem Programm etwas Richtigesgetan. Wir werden diesen Weg weitergehen.Der Hinweis auf die Staatsverträge im Bereich Bil-dung ist nach wie vor richtig, weil es weitere Punktegibt, bei denen die Länder zu einer besseren Vergleich-barkeit und zu gemeinsamen Arbeiten kommen müssen.Das betrifft beispielsweise die Lehrpläne, die Prüfungenund das Deutschland-Abitur. Deswegen sage ich an die-ser Stelle: Indem man den Druck herausnimmt und sagt,dass das Thema erledigt ist, wird man der Bildungsreali-tät in Deutschland nicht gerecht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30027
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 17/13077. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/9937 mit dem Ti-
tel „Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrer-
ausbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11322 mit dem Ti-
tel „Für einen breiten Qualitätspakt in der Reform der
Lehrerbildung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10100 mit
dem Titel „Exzellente Lehrerbildung überall sichern – Pä-
dagogische Berufe aufwerten“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts-
ordnung zu dem von den Abgeordneten Christine
Lambrecht, Burkhard Lischka, Dr. Eva Högl,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsände-
rungsgesetzes – Bekämpfung der Abgeordne-
tenbestechung
– Drucksachen 17/8613, 17/13271 –
Berichterstattung:
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die SPD hat um diese Debatte gebeten,weil die Beratung einer Vorlage im Rechtsausschuss zulange dauert. Es ist das gute Recht einer Fraktion, dieszu tun. Aber es gibt gute Gründe dafür, warum wir nichtzu einem Ergebnis gekommen sind.
Einer der Gründe ist beispielsweise, dass in dernächsten Bundesratssitzung ein Entwurf des LandesNordrhein-Westfalen beraten wird. Ich bin gespannt, obdie Länder ihn tatsächlich so verabschieden werden, wieNordrhein-Westfalen es vorschlägt. Er enthält unter an-derem Regelungen zur Strafbarkeit auch von Mandats-bewerbern; dies wirft viele rechtliche Fragen auf.
Er enthält Regelungen zum Versuch, obwohl wir – ichfinde, zu Recht – den Straftatbestand der Abgeordneten-bestechung in § 108 e StGB – Abgeordnetenbestechungist nämlich in Deutschland strafbar –
bisher als Unternehmensdelikt ausgestaltet haben undder Versuch damit mit erfasst ist. Das macht deutlich,dass es schon wegen weiterer Vorschläge weiteren Bera-tungsbedarf gibt.
Dass es gut ist, dass wir zugewartet haben, hat dieseWoche gezeigt. Denn der Kollege Kauder hat dem We-ser-Kurier ein Interview gegeben.
Es gibt in diesem Interview eine zentrale Aussage. Er hatim Interview mitgeteilt, dass diejenigen, die mit ihm zu-sammen einen Entwurf erarbeitet haben, dies nicht inerster Linie getan haben, um die UN-Konvention umzu-setzen. Da staune ich ja.
Denn bisher ist doch immer wieder behauptet worden, essei ganz schlimm, dass Deutschland die UN-Konventio-nen nicht umgesetzt habe.
Jetzt lese ich auf einmal im Weser-Kurier, dass der Ent-wurf nicht in erster Linie deswegen erarbeitet wordenist. Von daher hat Kollege Kauder offensichtlich Be-denken, ob das, was er vorschlägt, tatsächlich zur Um-setzung der UN-Konvention ausreicht.
Metadaten/Kopzeile:
30028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Jörg van Essen
(C)
(B)
Dass er diese Bedenken zu Recht hat, weiß jeder, dersich nur drei Minuten mit dem Problem befasst. DerDeutsche Bundestag hat sich mit der Frage der Abgeord-netenbestechung sehr oft und sehr intensiv befasst. DasErgebnis
ist die Vorschrift, die wir jetzt haben. Ich bin dem Kol-lege Hans de With, der damals für die SPD die Verhand-lungen geführt hat und in seiner Fraktion für die Lösung,die wir gefunden haben, erfolgreich geworben hat, au-ßerordentlich dankbar, dass wir damals so konstruktiveGespräche führen konnten.
Es ist deshalb auch kein Wunder gewesen, dass es diedamaligen Koalitionsfraktionen, nämlich SPD undBündnis 90/Die Grünen, waren, die die Bundesregierungaufgefordert haben, wegen der Verfassungslage in derBundesrepublik Deutschland, wegen Art. 38 Grundge-setz, die UN-Konvention nicht zu unterzeichnen. Abge-ordnete sind nicht besser als Amtsträger, aber die Verfas-sung sagt: Sie sind etwas anderes. Deshalb ist für alleJuristen klar gewesen, dass die Gleichsetzung von Amts-trägern und Abgeordneten in der UN-Konvention sonicht in deutsches Recht zu übersetzen war.Die Bundesregierung hat sich entschlossen, anders zuhandeln. Das Ergebnis war, dass die damaligen Regie-rungsfraktionen in ihrer Regierungszeit keinerlei Gesetz-entwurf im Hinblick auf eine Zustimmung des Bundesta-ges zu der UN-Konvention vorgelegt haben.
Es ist auch kein Wunder, dass die Große Koalition diesnicht getan hat; dafür gab es nämlich gute rechtlicheGründe. Insofern werbe ich weiter dafür, dass wir es unsnicht leichtmachen.
Auch wenn sich der Kollege Kauder vom verfassungs-rechtlichen Paulus zum verfassungsrechtlichen Sauluszurückentwickelt hat,
ist das kein Zeichen dafür, dass wir wirklich vorange-kommen sind.
– Das wird nicht kommen.
Das wird deshalb nicht kommen, lieber Herr KollegeWieland, weil wir im Oktober vergangenen Jahres eineAnhörung zu diesem Thema durchgeführt haben.
Sie war wirklich erhellend. In der langen Zeit, die ichdem Rechtsausschuss mittlerweile angehöre, nämlichfast 23 Jahre, kann ich mich an keine Anhörung erin-nern, in der die behandelten Gesetzentwürfe so krachenddurchgefallen sind wie in dieser Anhörung.
Das kann man an einem ganz einfachen Beispiel se-hen. Ich erinnere nur ganz wenige Anhörungen, bei de-nen das öffentliche Interesse so groß war und bei denenso viele Journalistinnen und Journalisten anwesend wa-ren. Ich hätte gedacht, dass es danach eine breite Be-richterstattung geben würde. Ich muss sagen: Ich habelange nichts gefunden. Durch die Nachhilfe einer Kolle-gin habe ich inzwischen einen Artikel der FTD, die in-zwischen eingestellt worden ist, gefunden. Das war dieeinzige öffentliche Reaktion.
Ich habe einen der Journalisten, die ich kannte, gefragt:Warum haben Sie darüber nicht berichtet? Seine Ant-wort lautete: Dieses Ergebnis kann man der Öffentlich-keit doch nicht präsentieren. – Das Ergebnis fiel also an-ders aus, als es die Journalisten erwartet hatten.Wir in diesem Parlament stehen in der Verantwor-tung, für verfassungsfeste Regelungen zu sorgen. DasErgebnis der Anhörung war: Die Gesetzentwürfe vonSPD, Linksfraktion und Bündnis 90/Die Grünen verstie-ßen gravierend entweder gegen Art. 38 Grundgesetzund/oder gegen Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz.
Es darf nicht sein, dass wir in diesem Parlament Rege-lungen verabschieden, die gegen das Grundgesetz ver-stoßen.
Es ist unsere Verpflichtung, das zu verhindern;
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30029
Jörg van Essen
(C)
(B)
das empfinde ich auch ganz persönlich als Verpflich-tung.
Deshalb ist es gut, dass wir sorgfältig beraten, und des-halb ist es gut, dass wir keine Schnellschüsse abgeben.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Christine
Lambrecht das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr van Essen, ich habe selten eine so dreiste Begrün-dung
für Arbeitsverweigerung oder Unfähigkeit gehört.
Sie sind wohl nicht in der Lage, selbst eine entspre-chende Regelung vorzulegen. Seit Jahren kommt von Ih-nen nichts;
aber seit Jahren fordern wir eine Regelung ein. Sie redenviel über die Vorschläge anderer, über den Vorschlag derSPD, den der Linken, den der Grünen und den aus Nord-rhein-Westfalen. Nur, von der Koalition liegt bis heutenichts vor.
Entweder können Sie es also nicht, oder Sie wollen esnicht; dann verweigern Sie sich. In diesem Fall mussman sich fragen: Ist diese Verweigerungshaltung tatsäch-lich noch akzeptabel?Sie haben recht: Im Jahr 2003, vor zehn Jahren,wurde die UN-Konvention von der Regierung unter-zeichnet. Seit dieser Zeit wurde sie nicht umgesetzt.
165 Staaten der Welt haben diese UN-Konvention seit-dem umgesetzt. Nur wir in Deutschland haben das– ebenso wie Länder wie der Sudan, Syrien, Nordkoreaund Japan – nicht getan.
Es kann doch nicht wahr sein, dass man jetzt immernoch sagt: Wir nehmen uns dafür Zeit.
Ich glaube, man muss der Bevölkerung erklären, dasses hier nicht um Pillepalle, um irgendetwas Nebensächli-ches, geht. Es geht darum, dass in Deutschland, für deut-sche Abgeordnete, lediglich der Stimmenkauf strafbar istund nicht, wie Sie es eben dargestellt haben, die Beste-chung und die Bestechlichkeit. Strafbar ist bis heute le-diglich der Stimmenkauf, nicht mehr. Es kann doch nichtwahr sein, dass Sie sich hier hinstellen und sagen: Daskönnen wir nicht regeln. Das ist so schwer.
Jetzt warten wir erst einmal ab, was womöglich Nord-rhein-Westfalen macht, und dann schauen wir noch ein-mal. – Nein. Wir sind der Gesetzgeber. Wir haben dieseUN-Konvention umzusetzen. Deshalb müssen wir jetztendlich handeln.
Dass das nicht nur wir, die wir unterschiedliche Vor-schläge – von mir aus auch mit unterschiedlicher Quali-tät – vorgelegt haben, so sehen, sondern viele andereMenschen auch, kann man an der öffentlichen Debattesehen. Letztes Jahr im Sommer haben die Konzernchefsvon mehr als 30 großen deutschen Unternehmen einenBrief an alle Fraktionsvorsitzenden hier im Hause ge-sandt. Wissen Sie, Herr von Essen, was darin gefordertwurde? Sie wurden aufgefordert, die Konvention dochbitte endlich umzusetzen, weil die deutschen Unterneh-mer sich schämen, wenn sie im Ausland mit anderenLändern zu verhandeln haben. Sie schämen sich, weildiese Konvention noch nicht umgesetzt ist.
– Herr Götzer, lesen Sie den Brief doch. Da steht es ge-nau drin, als wie peinlich das empfunden wird.Es ist offensichtlich nicht nur der deutschen Wirt-schaft, sondern auch dem Parlamentspräsidenten, HerrnLammert, peinlich. Herr Lammert hat letztes Jahr einenVorschlag unterbreitet.
Wir wären bereit gewesen, über diesen Vorschlag zu re-den. Wir hätten mit Ihnen gerne darüber diskutiert. Dochauch bei diesem Vorschlag haben Sie sich verweigert.
Metadaten/Kopzeile:
30030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Christine Lambrecht
(C)
(B)
Genauso haben Sie sich in Bezug auf den Vorschlag vonHerrn Siegfried Kauder verweigert.Sie haben recht: Herr Siegfried Kauder war zögerlich,ob er diesen Weg mit uns gehen soll. Er hat lange überdieses Thema fabuliert und gesagt, das sei nicht nötigund das gehe nicht, weil böse Staatsanwälte dann wo-möglich gegen Abgeordnete vorgingen. Ich kann michan einen Empfang des Deutschen Anwaltsvereins erin-nern. Herr Kauder, da haben Sie noch gesagt, Sie würdenden Abgeordneten davon abraten, hier ein, zwei oderzehn Gläser Sekt zu trinken, sonst käme morgen wo-möglich der Staatsanwalt, wenn es nach unserer Rege-lung geht.
Ich würde jedem Abgeordneten davon abraten, bei ei-nem Empfang zehn Gläser Sekt zu trinken, allerdingsnicht aus Gründen der Bestechung, sondern aus Gründendes Alkoholpegels.
Sie haben es offensichtlich mittlerweile auch erkannt.Sie haben mit Kolleginnen und Kollegen von der Lin-ken, der SPD und den Grünen einen Vorschlag erarbei-tet. Über diesen hätten wir gerne mit Ihnen gesprochen.Aber auch bei diesem Vorschlag verweigert sichSchwach-Gelb die ganze Zeit.
– Das war bewusst so gesagt.
Deswegen werden wir fraktionsübergreifend einenGruppenantrag auf den Weg bringen. Dann können alleAbgeordneten entsprechend Art. 38 frei darüber ent-scheiden, ob sie weiterhin in der peinlichen Gesellschaftvon Syrien, dem Sudan und Nordkorea sein wollen,
oder ob wir endlich in der Lage sind, auch für uns selbsteine sinnvolle Regelung zu schaffen. Ich glaube, das istdringend an der Zeit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege van Essen hat in seinem Wortbeitrag aufeine Sachverständigenanhörung im vergangenen Okto-ber angespielt. Ich möchte mit einem Zitat aus dieserAnhörung beginnen:Es ist natürlich doof, zu sagen, dass es regelbar ist,wenn ich Ihnen dazu jetzt keine gute Antwort gebenkann.So entwaffnend ehrlich hat sich der Sachverständige vonTransparency International bei der letzten Anhörung desRechtsausschusses zum Thema Abgeordnetenbeste-chung geäußert.
Gegenstand der Anhörung waren dabei die Gesetzent-würfe der Opposition, deren Entwurf der SPD Grund-lage des heutigen Berichts nach § 62 der Geschäftsord-nung des Deutschen Bundestages ist.Die Äußerung zeigt zunächst, dass es nicht einfachist, die strafrechtliche Regelung der Abgeordnetenbeste-chung in den Griff zu bekommen. Wenn der Vertreter ei-ner Institution, die sich wie keine andere um Transpa-renzregeln kümmert, eingestehen muss, dass er keinegute Antwort geben kann, dann ist es für andere sicher-lich auch nicht einfach.
Die eben zitierte Antwort bringt auf den Punkt, dassdie Gesetzentwürfe der Opposition offensichtlich auchnicht dazu geeignet sind, eine adäquate Lösung zur Re-gelung der Abgeordnetenbestechung herbeizuführen.
Denn das ist ganz eindeutig das Ergebnis der Anhörung.Quer durch die Riege der Sachverständigen wurden alleGesetzentwürfe grundlegend kritisiert.Es zeigt sich, dass das, was der Bundestagspräsidentan dieser Stelle bereits einmal gesagt hat, richtig ist:Das Thema ist ganz offenkundig entschieden kom-plizierter, als es auf den ersten Blick aussieht.
Zumindest das ist in der Debatte deutlich geworden, dieneben offensichtlichen Unterschieden auch erkennbareÜbereinstimmungen im Hinblick auf die Beurteilungdieser differenzierten Sachverhalte deutlich gemacht hat.Natürlich ist es unbefriedigend, nur zu wissen, wasnicht die Lösung des Problems sein kann. Natürlich istes unbefriedigend, wenn der Eindruck entsteht, dass wiralles Mögliche – auch andere komplizierte Themen – re-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30031
Ansgar Heveling
(C)
(B)
geln können, es uns aber, wenn es um uns selbst geht,nicht gelingt, eine Regelung zu finden.
Wobei natürlich festzuhalten ist, dass sich das seit meh-reren Wahlperioden wie ein roter Faden durch die Dis-kussion zieht.
Es ist ein Leichtes, aufzuzählen, wer wann was in wel-cher Konstellation regeln wollte und warum er dann anwem gescheitert ist. Das ist kein Problem.
Wenn man nur ein bisschen in den Stenografischen Be-richten blättert, wird man schnell fündig und sieht, dasszum Beispiel der Kollege Beck und der Kollege Ströbelein einer vergangenen Wahlperiode unterschiedliche Posi-tionen vertreten haben.
Es stimmt übrigens nicht, dass wir in Bezug auf kor-ruptives Verhalten von Abgeordneten völlig ohne Straf-normen dastünden: Mit § 108 e des Strafgesetzbuches– dieser Paragraf ist mit „Abgeordnetenbestechung“überschrieben; im Kern wird der Stimmenkauf unterStrafe gestellt – gibt es schon eine Vorschrift im Strafge-setzbuch.
Dem wird zwar entgegengehalten, es handele sich beidieser Norm nur um eine rudimentäre Regelung mit vie-len Lücken, die den Kern des Problems nicht erfasse.
Aber es lohnt sich, sich § 108 e des Strafgesetzbucheseinmal genauer anzuschauen: Der Stimmenkauf wird un-ter Strafe gestellt, und das ist ein Unternehmensdelikt.Das bedeutet, dass der Tatbestand mit dem Ansetzen zueiner Handlung, die nach der Vorstellung des Täters zueinem Stimmenkauf oder -verkauf führen soll, bereitsvollendet ist. Auf den tatsächlichen Abschluss einer Un-rechtsvereinbarung kommt es dabei ebenso wenig an wieauf einen inneren Vorbehalt. Auch die in den §§ 331 ff.Strafgesetzbuch genannten Handlungen des Forderns,Anbietens, Versprechens sind von dieser Vorschrift er-fasst. Mithin haben wir bereits einen durchaus weitrei-chenden Anknüpfungspunkt im Strafgesetzbuch mitBlick auf korruptives Verhalten von Abgeordneten.
Ohne Frage ist es richtig, dass § 108 e Lücken hat.
So ist der Abstimmungsgegenstand recht eng gefasst,und auch ein nachträgliches – in Anführungsstrichen –„Belohnen“ wird nicht erfasst.Man sollte sich bei den Überlegungen zur Abgeord-netenbestechung vielleicht einmal davon lösen, in derPerspektive einen Unterschied zwischen Amtsträger-und Mandatsträgereigenschaften zu machen, und überle-gen, ob nicht die bestehende Vorschrift ein Ausgangs-punkt für eine Erweiterung der Regelungen sein könnte.
Festzuhalten bleibt, dass wir im Bereich der Abgeord-netenbestechung schon heute über strafrechtliche Rege-lungen verfügen. Ohne Frage: Die Lücken sind unbefrie-digend,
aber die Materie ist schwierig. Umso mehr sollten wiruns – zumal das eine Materie ist, die das Parlamentselbst regeln muss – mit der gebotenen Sorgfalt darumkümmern.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Raju Sharma für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! WissenSie, was der Unterschied zwischen einer Telenovela undeiner Daily Soap ist? Eine Telenovela geht zwar sehrlang, ist aber endlich. Eine Daily Soap läuft im Prinzipewig. Das ist für manche das vollkommene Glück; fürandere ist es ein Schrecken ohne Ende. Beim Thema Ab-geordnetenbestechung ist noch nicht ganz klar, ob essich um eine Telenovela oder um eine Seifenoper han-delt.
Metadaten/Kopzeile:
30032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Raju Sharma
(C)
(B)
Jedenfalls befassen wir uns heute – das ist heuteschon gesagt worden – gefühlt zum zwanzigsten Mal mitdiesem Thema,
und der Ablauf ist eigentlich immer der gleiche – das ha-ben wir heute auch erlebt –:Ein Vertreter der Opposition erklärt, dass Deutschlandzu den wenigen Staaten weltweit gehört, in denen dieBestechung von Abgeordneten nicht strafbar ist. – Hefti-ges Kopfnicken in den Reihen der Opposition, großesErstaunen beim Publikum – jedenfalls bei den Neuein-steigern –, ein Zwischenruf von Jörg van Essen.Dann geht es weiter: Der Vertreter der Oppositionweist darauf hin, dass Deutschland im Jahr 2003 die UN-Konvention gegen Korruption unterzeichnet hat, dieseaber, im Gegensatz zu 165 anderen Staaten weltweit, bis-her nicht ratifizieren konnte, weil die Abgeordnetenbe-stechung in Deutschland nicht strafbar ist. – HeftigesKopfnicken bei der Opposition, peinliche Berührtheitbeim Publikum, ein Zwischenruf von Jörg van Essen.
Der Vertreter der Opposition erklärt unter Verweis aufentsprechende Forderungen zahlreicher Nichtregie-rungsorganisationen, unter anderem LobbyControl undTransparency International, sowie der Vorstände von30 DAX-Konzernen, dass es mittlerweile drei Gesetz-entwürfe der Oppositionsfraktionen gibt, um dieses Pro-blem endlich zu beseitigen.
Keiner erhebe den Anspruch, vollkommen zu sein; aberalle Entwürfe seien zumindest eine Diskussionsgrund-lage. – Zustimmung bei der Opposition und beim Publi-kum an den Bildschirmen, Schweigen bei der Regierung,
ein Zwischenruf von Jörg van Essen.
Das geht so seit drei Jahren: immer das gleiche Spielund kein Ende abzusehen. Alle sagen, dass Korruptionnicht in Ordnung ist. Niemand behauptet, trotz allerAmigo-Affären, dass Deutschland besonders korrupt ist.Und niemand hier behauptet, dass Abgeordnete inDeutschland besonders korrupt sind.
Aber gerade deshalb stellt sich ja die Frage, warumdie Regierungskoalition jede Diskussion zu diesemThema vermeidet. Sie haben doch eine Mehrheit in die-sem Haus, oder nicht?
Warum legen Sie nicht einen eigenen Vorschlag vor,wenn Ihnen die Vorschläge der Opposition nicht passen?
Wollen Sie nicht oder können Sie nicht? Wenn Sie nichtkönnen, dann sagen Sie es. Dann wissen wir alle, woranwir sind, und die Wähler können am 22. September 2013ihre Konsequenzen ziehen.
Wenn Sie nicht wollen, dann sagen Sie es ebenfalls undziehen Sie auch die Konsequenzen. Beantragen Sie, dassDeutschland seine Unterschrift unter die UN-Konven-tion gegen Korruption zurückzieht und sich in der Ge-sellschaft des Sudan, Saudi-Arabiens, Nordkoreas undSyriens wohlfühlt.Was für eine Regierungskoalition aber nicht geht, ist,immer nur Nein zu sagen und nichts zu tun.
Seit Anfang März liegt ein weiterer Vorschlag auf demTisch, ein Vorschlag, den der Vorsitzende des Rechtsaus-schusses, Siegfried Kauder, CDU/CSU, mit den Bericht-erstattern von SPD, Linken und Grünen gemeinsam erar-beitet hat. Auch dieser Vorschlag ist vielleicht nicht dasGelbe vom Ei.
Er ist als ein Kompromiss angelegt, mit dem wir frak-tionsübergreifend zeigen wollen, dass man eine Lösungfinden kann, wenn man es denn will.
Meine Bitte an die anderen Kolleginnen und Kollegenvon CDU/CSU und FDP ist: Sagen Sie endlich, was Siewollen! Tun Sie endlich etwas! Hören Sie auf, Deutsch-land mit Ihrer Untätigkeit weltweit lächerlich zu ma-chen! Und: Beenden Sie diese Seifenoper!Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30033
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Sharma, das Drehbuch war spitze. Die Wirk-
lichkeit ist manchmal sogar noch besser als Drehbücher;
denn der Kollegen van Essen hat heute ja nicht nur Zwi-
schenrufe gemacht, sondern er hat uns hier sogar einen
regelrechten Redebeitrag geliefert. Nur: Was hat er da
gesagt? Er hat gesagt: Man hätte das gar nicht unter-
schreiben sollen. Ich habe das immer gesagt. Nun kann
man gar nichts machen und muss man warten.
Sie, die Koalition, sitzen hier jetzt schon im vierten
Jahr und machen nichts anderes, als zu den Vorschlägen
der Opposition – 2010 kam der erste von der Linkspar-
tei, wir kamen 2011 und die SPD 2012 – immer nur zu
sagen: Geht nicht, geht nicht, geht nicht, können wir
nicht regeln.
Herr van Essen, von Ihrer Partei habe ich noch immer
den Satz im Ohr:
Auf jedem Schiff, dass dampft und segelt, gibt’s ei-
nen, der die Sache regelt …
Sie sind das ganz offenbar nicht. Sie kriegen gar nichts
geregelt und sagen sogar: Ich will nicht regeln.
Sie machen sich über den Kollegen Kauder lustig, weil
er sein Damaskus-Erlebnis hatte. Wir alle freuen uns
doch darüber.
Über Spätbekehrte freut man sich am meisten. Wir
freuen uns über den Kollegen Kauder. Für Ihr Seelenheil
müssen wir eine ganz schlechte Sozialprognose abge-
ben, Herr van Essen, wenn Sie sich standhaft weigern,
selber irgendwann ein solches Damaskus-Erlebnis zu ha-
ben.
Das ist eine ganz schlechte Sozialprognose, Herr Ober-
staatsanwalt.
Ich habe hier eben noch die Debatte zur Lehrerausbil-
dung gehört. Da wurde der schöne Satz von Gerhard
Schröder zitiert: Die Lehrer sind faule Säcke.
– Der Kollege Verteidiger aus Niedersachsen, der Kol-
lege Edathy, sagt, Schröder habe das gar nicht gesagt.
Das ist mir jetzt auch egal. – So faul, wie diese Koalition
kann kein Lehrer in diesem unserem Lande sein.
Herr van Essen sagt dann fein ziseliert – das ist doch
wirklich unglaublich –: Der Parlamentspräsident ist
nicht das Parlament. Das ist zwar richtig, aber er ist der,
der von uns gewählt wurde, damit er für uns spricht und
mit dafür sorgt, dass die anfallenden Fragen hier auch
behandelt werden.
Von daher musste er hier mal seine Stimme erheben.
Was erleben wir denn hier? Wir erhalten in den
GRECO-Berichten jedes Jahr eine Rüge. Es wird immer
wieder dasselbe gesagt: Die Bundesrepublik hat noch
nicht ratifiziert und die Abgeordnetenbestechung noch
nicht geregelt. Dann schicken wir eine Erklärung hin,
und dann kommt die nächste Rüge. So etwas kann man
doch nicht aussitzen! Wie stellen Sie sich das eigentlich
vor?
Von der Hüterin des Rechts bzw. dem famosen Kolle-
gen Stadler, der sie hier vertritt, kommt auch nichts. Die
glauben offenbar auch, dass das irgendwann vergessen
sein wird, wenn man das aussitzt.
Das ist nicht vergessen! Es wurden Kontrollinstanzen
eingerichtet – GRECO ist eine solche –, und die schlafen
nicht. Dennoch sagen Sie, die vergangenen Jahre hätten
nicht ausgereicht, um zu einer verfassungsfesten Rege-
lung zu kommen. Sie sprechen hier von Schnellschüs-
sen. Der Kollege Wellenreuther sagte dasselbe im Innen-
ausschuss. Dazu sage ich einmal: Das ist dritte Liga so
wie sein KSC.
Aber dritte Liga langt hier nicht. Champions League
müssen wir anstreben, lieber Herr van Essen. Mit Ihnen
geht das allerdings nicht.
Noch einmal: So kann es nicht bleiben. Der Gruppen-
antrag liegt vor. Wenn Sie hier weiter in Agonie verhar-
ren und nichts tun, ist das eine Schande, meine Damen
und Herren!
Der Kollege Siegfried Kauder wurde hier schonmehrfach erwähnt. Er hat jetzt das Wort.
Metadaten/Kopzeile:
30034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wenn ein Gericht nicht zu Potte kommt und ein An-liegen eines Bürgers nicht regelt, dann kann ein Scha-denersatzanspruch ins Hause stehen.
So haben wir das am 24. November 2011 geregelt. Siesehen also: Wir helfen dem Bürger schon, dass seine An-liegen bearbeitet werden. Wenn ein Parlament einenSachverhalt nicht regelt, ist darüber nach § 62 der Ge-schäftsordnung des Deutschen Bundestages ein Berichtzu erstellen. Das war es.Da verstecken sich Abgeordnete hinter den Fraktio-nen. Kollege van Essen, jeder Abgeordnete ist aufgeru-fen, hier für eine Regelung zu sorgen und für sich dieFrage zu beantworten, ob wir Abgeordnetenbestechungstrafrechtlich sanktionieren sollen oder nicht.
Aus dem Kollegen van Essen werde ich nicht so ganzschlau: Will er nicht, oder sagt er: „Wir können esnicht“? Wenn er sagt: „Wir können es nicht“, kann mandem abhelfen. Dann machen wir es wie hin und wiederdie Bundesregierung: Wir beauftragten ein spezialisier-tes Anwaltsbüro. Dessen Mitarbeiter können das.
Überlegen Sie sich bitte, welche Botschaft wir heuteaussenden. Wir sagen der Bevölkerung: Wir schaffen esnicht, ein wichtiges Thema, das nicht die Regierung,nicht die Koalition, sondern jeder Parlamentsabgeord-nete selbst regeln muss, hinzukriegen; wir können esnicht.
Wir können komplizierte Gesetze in fünf Minuten durchden Rechtsausschuss peitschen. In dieser Sitzungswochelag uns ein Gesetzentwurf mit 617 Seiten und 21 Ände-rungsanträgen vor.
Damit waren wir in fünf Minuten fertig. Aber das ThemaAbgeordnetenbestechung kriegen wir nicht hin.Meine Damen und Herren, wir müssen klare Kantezeigen.
Wollen wir es regeln, oder wollen wir es nicht? Wennwir es nicht wollen, dann können wir dieses Thema ab-schließen.Eines scheinen einige vergessen zu haben: Wir habenals Abgeordnete nicht nur Rechte. Schauen Sie in § 62der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages: DenAusschüssen überwiesene Angelegenheiten sind zügigabzuarbeiten. – Dazu sind wir verpflichtet. Den BürgernPflichten aufzuerlegen, darin sind wir tough. In eigenenAngelegenheiten sind wir dagegen lax. Deswegen kannich jedem nur sagen: Zu kritisieren und zu behaupten:„Dieser oder jener Gesetzentwurf funktioniert nicht“,das ist zu kurz gesprungen.
Herr Kollege van Essen, es ist auch zu kurz gesprun-gen, zu sagen: Wir müssen ein Gesetz verabschieden,damit wir eine bestimmte UN-Konvention unterschrei-ben können. Wir müssen vielmehr einen solchen Gesetz-entwurf verabschieden, weil die Bürger nicht wollen,dass uns Sonderrechte eingeräumt werden, die wir nichtbrauchen und die uns auch nicht guttun.
Ich bin der Meinung, das kann geregelt werden undmuss geregelt werden. Wir müssen eine deutliche Bot-schaft aussenden und der Bevölkerung sagen: Derjenige,der eine Regelung will, kann sie auch zustande bringen.
Ich bin auch der Meinung, dafür brauchen wir keineFraktionen, die die Abgeordneten binden. Jeder kannheute nach Hause gehen und darüber nachdenken, was erseinen Wählern sagt, ob das seiner Meinung nach rege-lungsbedürftig ist oder nicht. Ich kann in etwa abschät-zen, was dazu die Bevölkerung sagt: Sie ist nicht derMeinung, dass Kollege van Essen recht hat. Sie ist nichtder Meinung, das ist schon in § 108 e des Strafgesetzbu-ches geregelt. Sie ist vielmehr der Meinung: Das Ganzeist offen.Es ist ein Thema, dessen wir uns annehmen müssen.Wir gehen so vor wie immer, wenn wir Gesetze entwer-fen. Wir klären: Was ist der regelungsbedürftige Sach-verhalt? Wie kann man diesen Sachverhalt gesetzlich inden Griff bekommen? Ist die angestrebte Lösung verfas-sungskonform? Wenn Sie, Herr van Essen, jetzt sagen,mein Entwurf sei verfassungsrechtlich bedenklich, dannkann ich nur sagen: Jeder einzelne Abgeordnete ist auf-gerufen, sich Gedanken darüber zu machen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30035
Siegfried Kauder
(C)
(B)
Jeder kann einen Entwurf vorlegen. Jeder kann mitarbei-ten. Ich habe alle dazu eingeladen, an der Weiterent-wicklung meines Entwurfs mitzuarbeiten. Wenn dieserEntwurf nicht funktioniert, kann man eine Alternativeanbieten. Es liegt nicht die Konstellation vor, dass wirRegierungshandeln zu begleiten oder zu kritisieren ha-ben. Wir als Parlament haben unsere Hausaufgaben nichtgemacht. Deswegen sind wir gut beraten, das zu regeln,statt uns gegenseitig zu kritisieren.Danke.
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mankann es auch für die Zuschauer nicht oft genug wieder-holen: Was haben die EU, die USA, Brasilien, Austra-lien, Österreich und 160 andere Staaten gemeinsam? Siehaben eine Regelung zur Abgeordnetenbestechung; sieist dort strafbar. Was haben demgegenüber Nordkorea,Syrien, der Sudan, Saudi-Arabien und Deutschland ge-meinsam?
In diesen Ländern wie bei uns steht die Abgeordnetenbe-stechung nicht unter Strafe. Ich finde, Herr van Essen,die Gesellschaft, in der wir uns da befinden, sprichtBände. Es ist einfach ein Skandal, über den wir heute einweiteres Mal debattieren.
– Nein, Herr van Essen. Sie verweisen immer auf Japan.Unser Vorbild, was die Ratifikation angeht, sind diejeni-gen Staaten, die ratifiziert haben.
Ich habe keinen Ehrgeiz, anders als vielleicht Sie, einesTages mit Nordkorea allein in dieser Frage die rote La-terne zu halten. Das ist der Unterschied zwischen uns.
Das sieht übrigens nicht nur die Opposition in diesemHaus so. Was haben nämlich Daimler, Siemens, die Al-lianz-Versicherung, die Deutsche Telekom, die DeutscheBank und weitere der 30 großen deutschen DAX-Unter-nehmen gemeinsam? Sie fordern, dass wir diesen Skan-dal endlich beenden, dass wir die Abgeordnetenbeste-chung unter Strafe stellen und die UN-Konvention gegenKorruption nach zehn Jahren endlich ratifizieren. Allesandere schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt.Mit diesem unhaltbaren Zustand muss Schluss sein,meine Damen und Herren.
Wenn es um Korruption geht, dann kann es doch nichternsthaft zwei Antworten geben. Wenn ein Abgeordneterim Einzelfall seine Stimme an den meistbietenden Lob-byisten verscherbelt, dann kann es doch nur eine Ant-wort geben: Das ist strafbar. – Und wir sind aufgefordert,dafür die gesetzlichen Regelungen zu schaffen.
Es ist ein Unding, dass wir über diese Banalität mit Ih-nen seit Jahren diskutieren müssen.Sie verweisen als Koalitionsfraktionen, was Ihre Ab-lehnung angeht, immer wieder darauf, dass es zwischenAbgeordneten und Amtsträgern bzw. Beamten einengroßen Unterschied gibt. Für diese steht das unter Strafe.Nur, das bestreitet doch auch keiner in diesem Haus.Aber Abgeordnete dürfen eben auch nicht über dem Ge-setz stehen – es gibt für sie gar kein Gesetz, weil sienämlich kein Gesetz verabschieden –, jedenfalls nicht ineiner Gesellschaft, in der langjährigen Firmenmitarbei-tern wegen einer verzehrten Frikadelle oder einem50-Cent-Pfandgutschein gekündigt werden kann. Das istnämlich strafbar. Das können Sie doch keinem erklären.Das zerstört das Vertrauen in die demokratischen Institu-tionen.
Es gibt viel Politik- und Parteienverdrossenheit in un-serem Land. Es gibt teilweise eine regelrechte Verach-tung demokratisch gewählter Politiker. Das kann unsdoch nicht egal sein.Die Gesetzentwürfe, die zur Bekämpfung der Abge-ordnetenbestechung vorliegen, dienen auch dazu, einStückchen weit das Vertrauen in die Politik und die Poli-tiker wiederherzustellen. Aber dann sollten die Politikerauch das Beste geben, ein solches Gesetz Wirklichkeitwerden zu lassen.
Aber Ihre beharrliche Weigerung, die wir auch heutewieder erlebt haben, spricht Bände. Es war ein fatales Si-gnal, das Sie in dieser Debatte heute wieder ausgesendethaben, meine Damen und Herren von Union und FDP.
Sie machen sich einen schlanken Fuß. Sie machensich überhaupt keine Gedanken über einen Gesetzent-wurf. Sie beschränken sich seit Jahren darauf, die Ge-setzentwürfe der Opposition wahlweise als zu streng,verfassungswidrig oder was weiß ich zu beschimpfen.
Das ist zu wenig. Das ist erbärmlich, meine Damen undHerren.
Metadaten/Kopzeile:
30036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Burkhard Lischka
(C)
(B)
Es gibt jetzt eine Ausnahme: mein Vorredner, derKollege Siegfried Kauder von der Union. Er hat sich we-nigstens einmal die Mühe gemacht, einen eigenen Ge-setzentwurf vorzulegen. Er ist bei allen Oppositionsfrak-tionen auf offene Ohren gestoßen. Nur die eigenenKoalitionsfraktionen haben ihn im Stich gelassen. Daszeigt doch nur ein weiteres Mal: Es ist zwar möglich, et-was zu regeln, aber Sie wollen nicht oder Sie könnennicht. Das ist wirklich nur beschämend, meine Damenund Herren.
Der Kollege Dr. Wolfgang Götzer hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte zwei grundlegende Bemerkungen vorwegmachen. Erstens. Gesetze macht man normalerweisedann, wenn Handlungsbedarf bzw. konkret in unseremFall Regelungsbedarf besteht.
Bei Strafgesetzen gilt das ganz besonders. Als zweiteBemerkung will ich einen Satz anführen, den unserFraktionsvorsitzender gerne zitiert: „Politik beginnt mitdem Betrachten der Wirklichkeit.“
Diese beiden Bemerkungen möchte ich voranstellen.Was ist zur Wirklichkeit zu sagen? Sind denn in denletzten Jahren Korruptionsfälle oder auch nur Verdachts-fälle von Korruption von Abgeordneten – –
– Jetzt hören Sie einmal zu. Sie sollten vielleicht Valiumoder Ähnliches nehmen, wenn Sie sich immer so aufre-gen. Zuhören ist eine demokratische und parlamentari-sche Tugend.Sind in den letzten Jahren solche Fälle
oder auch nur Verdachtsfälle im Deutschen Bundestagaufgetaucht? Mir ist keiner bekannt.
Außerdem haben wir – das ist schon angesprochenworden – eine entsprechende Regelung in § 108 e StGB.Diese wurde 1993 vom Bundestag – –
– Ich glaube, Herr Kollege Lischka, Sie müssen nochüben, zuzuhören. Das ist Ihre erste Legislaturperiode,wie ich nachgelesen habe. Da muss man noch lernen, zu-zuhören.
Wir haben eine Regelung in § 108 e StGB. Sie wurde1993 mit überwältigender Mehrheit vom DeutschenBundestag beschlossen. Man war sich ebenfalls über alleFraktionen hinweg einig, dass eine weitere Verschärfungdieses Straftatbestands aus verfassungsrechtlichen Grün-den, nämlich Art. 103 Grundgesetz, Bestimmtheitsge-bot, nicht möglich ist. Wo also ist der Handlungsbedarf?
Warum wird – diese Frage stellt sich als Nächstes –das Thema seit Jahren von der Opposition so hochge-spielt, solange sie nicht in der Regierung ist, wohlge-merkt?
Warum wird der Bundestag inzwischen mehrmals jähr-lich damit beschäftigt, obwohl es dazu keinen echtenAnlass gibt?
– Sie müssen schon ziemlich schwache Argumente ha-ben, liebe Kolleginnen und Kollegen auf der Linken.
Ich meine damit die Linke allgemein, weil Sie von derSPD nämlich genauso links wie die Linkspartei sind. Damache ich keinen Unterschied.
Sie müssen schon sehr schwache Positionen haben,wenn Sie hier dauernd dazwischenschreien.
Ich sage Ihnen, warum. Weil die Opposition dasThema am Kochen halten will, um diejenigen zu diskre-ditieren,
die aus überzeugenden Gründen keinen Änderungsbe-darf sehen und die stichhaltige verfassungsrechtliche Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30037
Dr. Wolfgang Götzer
(C)
(B)
denken gegen alle bisher vorgelegten Gesetzentwürfehaben.
Ich habe in meiner Rede im März letzten Jahres aus-führlich Stellung dazu genommen, welche verfassungs-rechtlichen Bedenken gegen die vorgelegten Gesetzent-würfe bestehen – ich nenne hier
noch einmal Art. 103 Grundgesetz als ein wesentlichesStichwort – und welche Bedenken gegen eine Ratifizie-rung der beiden internationalen Abkommen sprechen.Kollege van Essen hat auch da das entscheidende Stich-wort gegeben: Dort werden Abgeordnete mit Amtsträ-gern gleichgesetzt.Noch ein Wort zur internationalen Lage. Sie habenvorher gefragt, Herr Kollege Lischka, in welcher Gesell-schaft sich denn die Regierungsparteien befinden, wennsie dieses Abkommen nicht ratifizieren. Ich möchte ein-mal sagen, in welcher Gesellschaft sich diejenigen befin-den, die diese Abkommen unterzeichnet haben: Kuba,Russland, Afghanistan, Pakistan, Libyen unter Gaddafi!
Ich frage mich, welche Gesellschaft die bessere ist.
Wir haben gute Gründe für unsere Haltung.
Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, alles zu wiederholen undverweise deshalb auf meine Rede vom 2. März 2012. Obdas bei der Opposition hilft, bezweifle ich, aber ichwollte es doch gesagt haben.Trotzdem: Obwohl alles so ist, wie ich es geschilderthabe, kommen Sie immer wieder mit diesem Thema.
Das lässt in der Öffentlichkeit natürlich den Eindruckentstehen, Korruption im Deutschen Bundestag stelletatsächlich ein gravierendes Problem dar.
Mein Sohn Maxi, der oben auf der Zuschauertribünesitzt, hat mir noch beim Herübergehen die Frage gestellt:Ist das denn bei euch im Bundestag ein so schlimmesProblem mit der Korruption?
Sehen Sie: Sie erwecken diesen Eindruck, obwohl Siegenau wissen, dass das nicht der Fall ist und nicht mitder Wirklichkeit übereinstimmt.
Sie lassen es zu, ja, Sie tragen dazu bei, dass alle Abge-ordneten dadurch unter Generalverdacht gestellt werden.Dem stellen wir uns mit Entschiedenheit entgegen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die wirksamstenMittel gegen Korruption – da zitiere ich mich jetzt sel-ber, weil mir hierzu nichts Neues mehr einfällt; das habeich in meiner letzten Rede gesagt – sind öffentliche Kon-trolle und parlamentarische Transparenz.
Kollege Götzer, darf ich Sie kurz unterbrechen?
– Ich bin fertig. – Beides funktioniert bei uns.
Vielen Dank.
Der Kollege Kauder hatte sich gemeldet, um Ihnen
eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen.
Dann soll er eine Bemerkung machen. Ich bin jetzt
mit meiner Rede fertig.
Der Kollege Kauder hat sich zu einer Kurzinterven-
tion gemeldet.
Siegfried Kauder (CDU/
CSU):
Kollege Götzer, eine Frage blieb offen. Sehen Sie
Handlungsbedarf oder nicht? Wenn Sie keinen sehen
und dabei eine Mehrheit hinter sich sehen, ist das Thema
abgearbeitet. Wenn Sie Handlungsbedarf sehen, müssen
Sie etwas tun.
Kollege Götzer, Sie haben die Möglichkeit, zu erwi-dern.
Metadaten/Kopzeile:
30038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
(C)
(B)
Herr Kollege Kauder, ich habe eigentlich gedacht,
dass ich in meiner Rede klar zum Ausdruck gebracht
habe, dass ich keinen Handlungsbedarf sehe.
Ich habe mehrmals die Frage gestellt: Wo bitte besteht
Handlungsbedarf? – Ich sehe keinen. Deswegen sehen
wir uns auch nicht veranlasst, einen Gesetzentwurf vor-
zulegen. Es gibt § 108 e des Strafgesetzbuches. Dieser
ist, soviel ich weiß, einmal in einem Fall vor dem Land-
gericht Wuppertal zur Anwendung gekommen. Wie der
Kollege Sharma bereits ausgeführt hat, sind andere Fälle
nicht bekannt. Niemand behauptet, dass solche Fälle
vorgekommen sind oder noch nicht entdeckt worden
sind. Wenn angeblich niemand so etwas behauptet – Sie
suggerieren das allerdings –, dann muss ich zurückfra-
gen, warum Sie Handlungsbedarf sehen.
Diese Frage müssen nicht wir beantworten, sondern die-
jenigen, die Handlungsbedarf sehen. Aber selbst nach
Ihren Worten gibt es keine Verdachtsfälle von Korrup-
tion im Bundestag.
Ich schließe die Aussprache.Damit diejenigen, die unserer sehr lebendigen De-batte folgen, verstehen, warum wir jetzt nicht abstim-men, erkläre ich einfach, was in unserer Geschäftsord-nung steht. Es gibt keine Abstimmung, da wir heute nurüber einen Bericht gemäß § 62 Abs. 2 unserer Ge-schäftsordnung debattiert haben. Dieser Paragraf kommtimmer dann zur Anwendung, wenn zehn Wochen nachÜberweisung einer Vorlage an einen Ausschuss zur Be-arbeitung kein Ergebnis zurückkommt und die Vorlagenicht abschließend behandelt werden kann.
– Der Kollege Wieland macht mich darauf aufmerksam,dass das in mehreren Legislaturperioden wiederholt vor-gekommen ist und er davon ausgeht, dass das Ganzeschon zehn Jahre in Anspruch nimmt.Ich rufe gleichwohl nun die Tagesordnungspunkte43 a bis 43 c auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungLebenslagen in Deutschland – Vierter Armuts-und Reichtumsbericht– Drucksache 17/12650 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HildeMattheis, Gabriele Lösekrug-Möller, AnetteKramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie notwendigen politischen Konsequenzenaus der Armuts- und Reichtumsberichterstat-tung ziehen– Drucksache 17/13102 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussc) Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten MarkusKurth, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDer 4. Armuts- und Reichtumsbericht– Drucksachen 17/11900, 17/12837 –Zu dem Bericht der Bundesregierung liegt ein Ent-schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de-battieren heute über den Vierten Armuts- und Reich-tumsbericht der Bundesregierung, der ein sehr differen-ziertes Bild – das lässt sich schon am Volumen diesesBerichts ersehen – von Wohlstand und Ungleichheit inDeutschland malt. Der Ordnung halber weise ich daraufhin, dass sich der Berichtszeitraum von 2007 bis 2011erstreckt. Bei der Entwicklung der Kernkennzahlen isteine deutliche Tendenz hin zum Besseren zu erkennen.Kernkennzahlen betreffen zum Beispiel die Bekämpfungvon Einkommensarmut, die Lohnentwicklung und dieEntwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zahlen,die ich gleich noch auffächern werde, zeigen, dass in un-serem Land trotz Krise die Wirtschaft gewachsen unddie Arbeitslosigkeit gesunken ist. Ich glaube, das ist dieentscheidende Botschaft.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30039
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(C)
(B)
Kommen wir zu den einzelnen Faktoren. Wichtig sinddie Zahlen, die angeben, wie viele Menschen von Trans-ferzahlungen abhängig sind, die sogenannte Hilfequote.Diese ist im Berichtszeitraum auf den geringsten Wertseit der Einführung von Hartz IV gesunken. Noch prä-gnanter ist die Zahl der Kinder in Hartz IV. Seit 2007 istdie Zahl der Kinder in Hartz IV um 270 000 gesunken.Das heißt, 270 000-mal sind Kinder aus Hartz IV he-rausgekommen und haben nun bessere Chancen, weilihre Eltern Arbeit bekommen haben und das Haushalts-einkommen gestiegen ist. Diese positive Entwicklungspiegelt sich bei den Alleinerziehenden wider. Diese ha-ben per definitionem die höchste Armutsgefährdung,weil sie alleine für das Einkommen der Familie gerade-stehen müssen. Die Vermittlung Alleinerziehender ge-lingt inzwischen dank einer wirklich intensiven Arbeitder Jobcenter und der sehr guten Arbeitsmarktlagedurchschnittlich besser als die Vermittlung der Arbeits-losen insgesamt. Hier ist der Einsatz für die Alleinerzie-henden noch einmal dadurch belohnt worden, dass wirk-lich mehr Alleinerziehende in Arbeit gekommen sind.
Wir sehen es auch bei der Beschäftigung von Jugend-lichen, Älteren und Frauen: Bei all diesen Gruppen sinddie Beschäftigungszahlen gestiegen. Wir sehen es beiden Rentnerinnen und Rentnern. 97,4 Prozent der Rent-nerinnen und Rentner verfügen aus eigener Kraft überexistenzsichernde Alterseinkünfte. Mit anderen Worten:Wir sehen, dass Deutschland auf einem guten Weg ist,dass diese vier Jahre gute vier Jahre waren. Die wollenwir auch fortsetzen.
Wir konnten in Deutschland am Anfang der Dekadeeinen beunruhigenden Trend beobachten: Die Spreizungder Einkommen hatte weiter zugenommen. Das begannAnfang der 2000er-Jahre. Man kann das anhand des so-genannten Gini-Koeffizienten sehen, der die Ungleich-heit der Einkommen misst. Wenn er steigt, steigt in ei-nem Land die Ungleichheit der Einkommen. Wir sehenjetzt aber, dass in den letzten drei Jahren die Spreizungder Einkommen gestoppt worden ist, dass die Einkom-mensschere nicht weiter auseinandergeht, sondern dasssie sich im Gegenteil schließt. Das zeigt eben auch, dassdiese Entwicklung eine gute ist, dass es hier im Landvielfältige Arbeit gibt, dass die Angebote gut sind undsie genutzt werden und dass wir genau auf diesem Wegweitergehen sollten.
Es gibt trotz der vielen positiven Nachrichten – dasfinde ich immer wichtig in diesen Berichten – natürlichkeinen Anlass, die Hände in den Schoß zu legen, son-dern der Bericht zeigt auch punktgenau, wo die kom-menden Herausforderungen liegen. Die Schlüsselfragein Deutschland ist die Frage der Fachkräftesicherung. Indiesem Zusammenhang muss man, wenn man auf dieeinzelnen Gruppen schaut, insbesondere die Aufgabenbenennen, die in den nächsten Jahren vor uns liegen.Wir können und müssen besser werden bei der früh-kindlichen Bildung. Das ist die Kernaufgabe der Länderschlechthin. Aber da lohnt sich die Investition; denn da-raus eröffnen sich Chancen für Kinder, später als Er-wachsene am Arbeitsmarkt teilhaben zu können. Hieraufsollte ein ganz großes Augenmerk liegen.Wir müssen besser werden bei der Vermittlung jungerMenschen zwischen 25 und 35 Jahren, die als Jugendli-che die Schule geschmissen oder die die Ausbildungnicht geschafft haben und jetzt arbeitslos sind. Sie ver-dienen eine zweite oder dritte Chance, um am Arbeits-markt nachhaltig teilhaben zu können. Wir haben jetzteine Initiative gestartet, mit deren Hilfe wir in dennächsten drei Jahren 100 000 junge Menschen zu einemBerufsabschluss führen wollen.Wir müssen besser werden bei der Vereinbarkeit vonBeruf und Familie. In Deutschland ist in den vergange-nen Jahren ein riesiger Schub erfolgt – Stichwort Ganz-tagsschulen, Stichwort Elterngeld, Stichwort Ausbau derKinderbetreuung –, aber im internationalen Vergleichhaben wir immer noch Nachholbedarf, insbesondere wasdie Arbeitszeit von Frauen betrifft. Laut allgemeinen Be-fragungen wollen Frauen mehr arbeiten. Das heißt, aufdie Dauer werden wir einerseits ein Recht auf Rückkehrin Vollzeit brauchen, damit Frauen, die in Teilzeit gear-beitet haben, eine verlässliche Möglichkeit der Rückkehrin Vollzeit haben; andererseits müssen die Arbeitgeber,um planen zu können, wissen, wann Frauen, die in Teil-zeit gegangen sind, wieder in Vollzeit arbeiten.
Wir müssen besser werden bei der Weiterbildung derÄlteren. Wir müssen noch offener werden und gezielterum qualifizierte Zuwanderinnen und Zuwanderer wer-ben. Mit anderen Worten: Es gibt viel Arbeit in Deutsch-land, und diese Arbeitsplätze sollten wir durch Fachkräf-tesicherung erhalten.Ein letzter Punkt. Armut ist nicht immer nur eineFrage von fehlendem Geld, sondern Armut ist auch eineFrage von Mangel an Teilhabe. Das betrifft vor allem dieKinder. In diesem Zusammenhang verweise ich auf dasBildungspaket, das wir vor zwei Jahren – Sie erinnernsich alle – für bedürftige Kinder eingeführt haben, weildie Kinder bis zu diesem Zeitpunkt keine Chance aufBildung und Teilhabe hatten; denn die Mittel dafür wa-ren im Hartz-IV-Regelsatz nicht enthalten. Mit dem Bil-dungspaket sind wir auf einem sehr guten Weg. Es warNeuland, das wir betreten haben. Es war am Anfangschwierig, den Weg für das Bildungspaket frei zu ma-chen. Wir wollten nicht, dass einfach nur der Regelsatzerhöht wird, sondern wir wollten tatsächlich, dass dieKinder Angebote bekommen, Mittagessen in den Schu-len und Kindergärten, dass sie in Sport- und Musikver-einen sein können, dass sie das Schulbedarfspaket erhal-ten, dass sie Lernförderung erhalten, wenn sie in derSchule nicht mitkommen. Inzwischen erreichen wir73 Prozent der bedürftigen Kinder. Ich finde, das ist eineZahl, auf die man stolz sein kann.
Wir wissen aus Untersuchungen, dass das Bildungs-paket den bedürftigen Kindern zum allerersten Mal den
Metadaten/Kopzeile:
30040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(C)
(B)
Zugang zu einigen darin enthaltenen Leistungen ermög-licht hat.Uns geht es mit all dem, was ich eben skizziert habe,darum, Chancengerechtigkeit zu schaffen. Die bestenChancen sind Bildungszugang und Arbeitsplätze, unddiese sind in Deutschland gewachsen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung soll derBundesregierung jeweils in der Mitte der Legislatur ei-nen Spiegel vorhalten, der zeigt: Was hat sich für welcheBevölkerungsgruppe durch welche politische Maß-nahme wie ausgewirkt? Ich weiß wirklich nicht, in wel-chen Spiegel Sie vor Ihrer Rede geschaut haben, Frauvon der Leyen.
Denn eindeutig ist, dass wir feststellen können und müs-sen: In diesem Land hat sich die Ungerechtigkeit ver-tieft. Die Scheren sind auseinandergegangen,
sowohl was die Einkommen als auch was die Vermögenanbelangt. Würde ich hier nicht Ihre eigenen Zahlen alsBeleg nennen, könnte ich ja vielleicht noch ins Grübelnkommen. Aber es sind Ihre Zahlen.
Ihre Zahlen im Vierten Armuts- und Reichtumsberichtdokumentieren klar, dass 40 Prozent der Einkommens-bezieher im unteren Einkommensbereich Lohnverlustehaben hinnehmen müssen und im oberen Einkommens-bereich – nicht unten – die Steigerungen zu verzeichnensind, dass die prekäre Beschäftigung zugenommen hat,dass viele Familien einfach Angst vor einem Abstieg ha-ben, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Angstexistiert: Rutsche ich in einen prekären Beschäftigungs-job durch Leiharbeit, Dumpinglöhne oder Minijobs abund muss dann zusätzliche finanzielle Mittel beantra-gen? Schaffen es meine Kinder überhaupt, einen Auf-stieg hinzubekommen, oder haben wir eine Closed-Shop-Gesellschaft, die von vornherein sagt: „Nein, dunicht, denn du kommst nicht aus der richtigen Familie“?Das alles, Frau Ministerin, sagt Ihr Vierter Armuts-und Reichtumsbericht.
Hätten Sie ein paar Zeilen darin gelesen und die Zahlenzur Kenntnis genommen, dann hätten Sie hier nicht einesolche sogenannte Erfolgsstory erzählen können.
Dabei wiederholt sich das, was Sie in den letzten Mo-naten immer wieder versucht haben: sich irgendwie pro-gressiv sozial zu zeigen und dann alles wieder auf dieharten Facts zusammenzuschrumpfen. Diese hartenFacts stehen im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht.Zu den Minijobs lautete Ihre politische Antwort: Wirerhöhen die Bezahlung auf 450 Euro.In Bezug auf den gesetzlichen Mindestlohn, den wirfordern, sagen wir in unserem Antrag ganz klar, welcheAnsprüche wir an die Armuts- und Reichtumsbericht-erstattung haben. Wir wollen sie nämlich nicht entwer-ten. Dass Sie mit dem ersten Entwurf des Berichts beiIhren eigenen Kabinettskollegen schlicht und ergreifendüberhaupt nicht angekommen sind und für den zweitenEntwurf sogar wichtige Dinge streichen mussten, zeigtdoch, dass Sie versucht haben, als Tiger zu starten, aberwieder einmal als Bettvorleger gelandet sind.
Damit komme ich zur Vermögensverteilung. Da kannman in Ihrem Bericht deutlich erkennen, dass Sie sagen:„No go, stop!“; denn Sie wollen gar nicht so öffentlichmachen, wie sich die Konzentration des Vermögens ge-staltet: Es ist nämlich so, dass für die untere Hälfte derBevölkerung ein Vermögen von 120 Milliarden Euroverzeichnet wird – dabei ist egal, um welche Form vonVermögen es sich handelt, Immobilien zum Beispiel –,während das obere Zehntel so viel Geld auf der hohenKante hat, dass die Betreffenden ihr Geld gar nicht mehrzählen können. Sie haben ihr Vermögen rasant gesteigert –trotz Finanzmarktkrise. Dass Sie nicht nach einemGrund dafür suchen, dass das so ist, wenn man ordentli-che Regierungsarbeit machen will, das wundert michschon.
Es wundert mich auch, warum Sie nicht sagen: Bei10 Billionen Euro an privatem Vermögen müssen diesich beteiligen, wenn es darum geht, das, was an Proble-men bei uns im Lande besteht, zu lösen.Bei den Jobs, die wir hier haben, brauchen wir einengesetzlichen Mindestlohn. Wo ist Ihre Stimme, Frau vonder Leyen, für diejenigen, die im Moment genau indiesen Jobs sind, vor allen Dingen Frauen? Ich will garnicht von Frauen in Führungspositionen reden; ich redevon den Frauen, die als Alleinerziehende nur einen450-Euro-Job haben und im Prinzip beim Amt weitereMittel auftun müssen. Die meine ich.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30041
Hilde Mattheis
(C)
(B)
Sie halten mit Ihrem Bildungs- und Teilhabepaket da-gegen. Das sind Peanuts, muss ich sagen.
Das sind bei der Problematik für die Menschen und dieKinder schlicht und ergreifend Peanuts.
Teilhabe ist ein bisschen was anderes.Sie sagen noch nicht einmal, dass der private Reich-tum
einhergeht mit der öffentlichen Armut.
Sie sagen in Ihrem ARB selber: Die öffentliche Hand hatein Minus von 800 Milliarden Euro zu verzeichnen. Wobauen wir denn die Schulen? Wo bauen wir die Kinder-gärten? Wo schaffen wir die Infrastruktur für diejenigen,die sie brauchen? Alles das haben Sie nicht gesagt.Nicht gesagt haben Sie auch, dass in Ihrem erstenEntwurf etwas stand, was wahrscheinlich – ich speku-liere hier, aber ich glaube, so ganz unrecht habe ich danicht – Ihr Kollege aus dem Wirtschaftsressort gestri-chen hat, dass man nämlich prüfen muss, ob und wiesich die Vermögenden in diesem Land an gesellschaftli-chen Aufgaben beteiligen. Als ich das gelesen hatte,habe ich gedacht: Die haben etwas gelernt! – Aber nein,es wurde gestrichen.Jetzt reden Sie nur noch davon, dass man vielleichtüber Stiftungen und Spenden der Großen dieser Welt –die haben übrigens gehofft, ihre Steuerhinterziehungauch noch tarnen zu können, wenn es bestimmte Ab-kommen gibt –
den Wohlstand irgendwie mit der Gießkanne verteilt.Das ist nicht die Gesellschaft, die wir haben wollen.
Da gilt es, klare Kante zu zeigen und zu sagen: Wir brau-chen mehr Steuergerechtigkeit: durch die Einführung ei-ner Vermögensteuer, durch die Reform der Erbschaft-steuer, durch eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
Bei 10 Billionen Euro erzählen Sie mir bitte nicht, dassdas obere Zehntel dann irgendwann einmal verarmt seinwird!
Ich will hier keine Sozialneiddebatte schüren; wirk-lich nicht. Es geht in diesem Land darum, dass Leistunggerecht bezahlt wird.
Überlegen Sie aber bitte einmal, was man unter „Leis-tung“ versteht und in welchen Proportionen das zu sehenist!Wir haben ein Regierungsprogramm. Darin setzen wirauf mehr soziale Gerechtigkeit, und das ist bitter nötig indiesem Land.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Pascal Kober
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es ist schonbezeichnend, dass in dieser Debatte, in der es um Armut,um Arbeitsplatzchancen und um Sozialpolitik geht, nichtein einziger Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker der SPDanwesend ist. Das zeigt, wie wichtig Ihnen als Fraktiondas Thema ganz offensichtlich ist.
Vielleicht ist es aber auch so, dass Sie einfach schonaufgegeben haben angesichts der Erfolge, die diese Re-gierung für dieses Land erreicht hat. Die letzten vierJahre waren gute Jahre für Deutschland.
Das sind die Fakten, Frau Mattheis, die Sie hörenwollen – die Fakten sind eindeutig –: Wir haben dieniedrigste Arbeitslosenzahl seit 20 Jahren. Wir haben diehöchste Zahl an Erwerbstätigen in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland. Wir haben die höchsteZahl an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zumersten Mal – das ist wirklich ein ganz großes Glück –sinkt in einem Aufschwung auch die Zahl der Langzeit-arbeitslosen.
Insgesamt sind in der Regierungszeit dieser Koalition250 000 Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit inArbeit gekommen. Das ist in erster Linie ein Erfolg fürdiese Menschen. Das bedeutet für sie, dass sie Perspekti-ven für sich und ihre Familien haben. Das sollten wirnicht geringschätzen. Wir sollten dafür dankbar sein,dass das gelungen ist. Sie sollten in dieser Debatte bereitsein, dies auch einmal anzuerkennen.
Metadaten/Kopzeile:
30042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Pascal Kober
(C)
(B)
Darüber hinaus haben wir in der Folge so wenigeTransferempfänger wie seit Beginn der Einführung desHartz-IV-Systems. Es ist außerdem ein großes Glück,wofür wir dankbar sein sollten, dass das Risiko für Kin-der in Deutschland, in Armut aufzuwachsen, erstmalsseit Jahren wieder rückläufig ist. Das ist das Ergebnis ei-ner guten, vernünftigen, weitsichtigen, aber auch einerbehutsamen Arbeitsmarktpolitik, die das Richtige tut,statt sich in Symbolen und Ideologien zu verlieren.
Das ist entscheidend für den Erfolg am Arbeitsmarkt.Diese Regierungskoalition zeigt, wie man für die Men-schen in diesem Land erfolgreich wirken kann.
Wir werden diese Regierungspolitik ab September wei-ter fortsetzen. Es waren vier gute Jahre für Deutschland,und es werden auch weitere vier gute Jahre werden.
Liebe Kollegin Frau Mattheis aus Baden-Württem-berg, Sie haben die Regierungspolitik angemahnt.Schauen wir uns einmal an, was Sie bei einer Regie-rungsübernahme ab September planen. Sie planen fürPersonengesellschaften, für Kleinstbetriebe, für Hand-werksbetriebe, für die kleinen Mittelständler, die eineVielzahl von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen inDeutschland stellen, Steuererhöhungen um über 16 Pro-zent. Dazu kommen noch die Steuererhöhungen für dieGroßbetriebe. Wenn dann auch noch eine Koalition mitden Grünen eingegangen wird, wird es ganz grausam.
Dann werden die kleineren Unternehmen deutlich höherund die großen Unternehmen noch mehr belastet.
Mit Ihrer Politik werden Sie die Chancen der Menschenverschlechtern. Sie setzen die Chancen der Menschenaufs Spiel. Sie werden mit Ihrer Politik – das sagen dieArbeitgeberverbände schon heute, weil sie es berechnenkönnen – Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel set-zen. Das ist eine völlig falsche Politik. Das müssen wirverhindern.
Deshalb werden Sie ab September auch weiterhin vonden Sitzen der Oppositionsbank zuschauen, wie wir fürdie Menschen in unserem Land erfolgreiche Politik ma-chen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man nichtglaubt,
dass Sie das, was in Ihren Regierungsprogrammen steht,auch umsetzen, dann sollte man sich die Länder, in de-nen Sie regieren, anschauen. Das ist die Blaupause fürdas, was Sie ab September planen. In Baden-Württem-berg hungern Sie die Berufsschulen aus.
Sie besetzen frei werdende Lehrerstellen nicht mehr. Sieverhindern, dass die Menschen über das beruflicheSchulwesen, über die duale Berufsausbildung einen Auf-stieg in unserem Bildungssystem und im Arbeitsmarkterreichen. Sie verhindern, dass das gelingt, indem Siediese Stellen nicht besetzen. Die Bildungspolitik in Ba-den-Württemberg wird von der GEW – nicht von uns –als Stückwerk bezeichnet, das die Chancen der Kinderverhindert, weil die falsche Politik auf dem Rücken derKinder ausgetragen wird. Eine Politik, die die Chancender Menschen verhindert, werden wir in Deutschlandnicht zulassen.
Wir sprechen hier über die Chancen von zukünftigenGenerationen, über die zukünftige Reichtumsverteilungund die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Für diese Chan-cen muss man frühzeitig etwas tun. Das fängt beispiels-weise mit der richtigen Steuerpolitik an, die die richtigenImpulse für wirtschaftliches Wachstum und Arbeits-plätze setzt. Es fängt aber auch mit dem Bildungssysteman; denn Kinder brauchen eine gute Schulausbildung,damit sie ihren Weg selbstbestimmt und in Eigenverant-wortung erfolgreich gehen können. Das ist die Politikdieser Regierungskoalition. Diese werden wir im Sinneder Menschen fortsetzen. Wie gesagt, es waren vier guteJahre für Deutschland,
und wir werden diese Politik weitere vier gute Jahre wei-terführen.
Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald fürdie Fraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30043
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin von der Leyen! Gestern Abend lief im ZDFdie Komödie Vorzimmer zur Hölle 3, in der Primetime.
Eine der Hauptrollen spielte Eleonore Weisgerber. DieSchauspielerin ist 65 Jahre alt und hat jetzt Einspruchgegen ihren Rentenbescheid eingelegt. Sie ist sehr ent-täuscht und sagt: „887 Euro, und das nach 45 Jahren Ar-beit.“ Sie fühlt sich hintergangen und will darum biszum Bundesverfassungsgericht gehen. Ich weiß nicht, obsie das schaffen wird, aber ich kann ihre maßlose Enttäu-schung sehr gut verstehen. Ich wünsche ihr viel Erfolgbei ihrem Kampf für eine armutsfreie Rente.
Frau Weisgerber sagte der Deutschen Presse-Agentur– ich zitiere –: „Wir werden bald ein Heer von verarmtenSchauspielern über 65 haben.“ Das gilt leider auch fürLangzeiterwerbslose und für Kellnerinnen, Friseurinnen,Wachleute, Gebäudereiniger, Taxifahrer, Callcenter-Agents, Schneiderinnen, Zimmermädchen und viele an-dere Menschen. Sie alle arbeiten für Niedriglöhne.Im Jahr 2010 mussten knapp 4 Millionen Menschenin Deutschland für einen Bruttostundenlohn unter 7 Euroschuften. Das war im ersten Entwurf des Armuts- undReichtumsberichts wortwörtlich so noch zu lesen. Dashaben Sie zensiert, Herr Rösler. Im Brüderle-Sprechkönnte man sagen: „Wer hat’s gestrichen? Die FDP hat’sgestrichen!“
Die Meinungsfreiheit der Sozialministerin war den Libe-ralen schon zu viel. Das ist unglaublich, aber wahr.7 Euro und weniger, das sind Armutslöhne; davonkann niemand leben. Selbst bei Vollzeitarbeit sind Al-leinstehende in diesen Jobs schon heute arm; das gilt erstrecht später für die Rente.Schauen Sie doch einmal in Ihren eigenen Armuts-und Reichtumsbericht hinein, Frau Ministerin. UnterKanzlerin Merkel stieg das Armutsrisiko von Rentnerin-nen und Rentnern von 12,2 auf 14,9 Prozent. Das Ar-mutsrisiko von allen Menschen in Deutschland stieg von14 auf gut 15 Prozent. Das alles steht in Ihrem Berichtauf den Seiten 303 und 304.
Das heißt, 2011 gab es in Deutschland 12,6 Millionenarme Kinder, Männer und Frauen, gut 2,5 Millionenmehr als beim Amtsantritt der Bundeskanzlerin im Jahr2005. Heute – das gehört zur Wahrheit dazu, Frau Minis-terin – leben 2,5 Millionen Kinder in Deutschland in Ar-mut. Ich sage: Das ist beschämend.
Gleichzeitig sind die Vermögen in Deutschland ex-trem ungerecht und ungleich verteilt. Laut Armuts- undReichtumsbericht hat jeder Haushalt in der Bundesrepu-blik ein Nettovermögen von 118 000 Euro. Sie haben dienicht? Ja, es ist ja auch ein Durchschnittswert. Im Ar-muts- und Reichtumsbericht heißt es vollkommen zu-treffend – Zitat –:Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehrungleiche Verteilung der Privatvermögen.Wohl wahr: zum Beispiel 132 000 Euro im Westenund 55 000 Euro im Osten. Aber auch die werden sehrviele Menschen nicht haben. Vor allem Haushalte vonErwerbslosen, Migrantinnen und Migranten, Menschenmit niedrigen Löhnen und andere haben wenig oder garkein Vermögen. Die obersten 10 Prozent der Bevölke-rung verfügen über mehr als die Hälfte aller Vermögen,die untere Hälfte besitzt fast gar nichts. Diese Spaltungist völlig inakzeptabel.
Reichtum ist teilbar. Darum will die Linke gemein-sam mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Attac undvielen anderen „umfairteilen“ und Reichtum besteuern.Wir wollen mit Steuern umsteuern und eine Vermögen-steuer für Millionärinnen und Millionäre einführen.
Wer ein Privatvermögen von 2 Millionen Euro hat, soll50 000 Euro abgeben. Das ist doch nicht zu viel ver-langt.Wir fordern eine einmalige Vermögensabgabe mit ei-nem Freibetrag in Höhe von 1 Million Euro. Große Erb-schaften sollen groß besteuert werden; das selbst be-wohnte Haus bleibt selbstverständlich steuerfrei.Wir brauchen eine Bundesfinanzpolizei; denn die sys-tematische Steuerhinterziehung à la Hoeneß, Zumwinkeloder Nadja Auermann muss unbedingt ein Ende haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, um Armut wirksamzu bekämpfen, schlagen wir Linken unter anderem vor,einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein-zuführen, der vor Altersarmut schützen soll und darumnicht unter 10 Euro liegen darf.
Auch wenn Sie sich jetzt wieder alle furchtbar aufre-gen werden: Wir wollen ein Verbot der Leiharbeit,
den Sozialversicherungsschutz für Minijobs, endlicheine gebührenfreie Kinderbetreuung für Familien undAlleinerziehende, eine Kindergrundsicherung, längerausgezahltes und höheres Arbeitslosengeld I, den Hartz-IV-Regelsatz sofort auf mindestens 500 Euro anheben
Metadaten/Kopzeile:
30044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Matthias W. Birkwald
(C)
(B)
und eine sanktionsfreie Mindestsicherung anstelle vonHartz IV einführen.Gegen Altersarmut helfen: gute Löhne, ein Rentenni-veau, wie wir es im Jahr 2000 einmal hatten und eineeinkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Min-destrente von zunächst 900 Euro und dann 1 050 Euro.
Armut bekämpfen und Reichtum begrenzen: Das istder richtige Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Markus Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was wissen wir nach dem Armuts- und Reichtumsbe-richt und nach der Großen Anfrage, welche die FraktionBündnis 90/Die Grünen gestellt hat? Oder müssen wireher fragen: Was wissen wir immer noch nicht?Die Antworten der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage und auch die Erörterungen in dem Armuts- undReichtumsbericht sind doch insgesamt spärlich und un-befriedigend. Denn sie weichen den offensichtlichstenund größten Problemfeldern aus. Die drohende Altersar-mut sprechen Sie nicht an, ebenso wenig verdeckte Ar-mut, Wohnungslosigkeit insbesondere von Jugendlichen,die prekäre Situation von Alleinerziehenden und dasenorm hohe Armutsrisiko von Migrantinnen und Mi-granten. Diese Problemfelder streifen Sie allenfalls, ge-ben aber keine konzentrierten politischen Handlungs-empfehlungen.Zur Einkommens- und Vermögensverteilung habenSie keine aktuellen Zahlen. Die Zahlen, welche die Bun-desregierung geliefert hat, sind meistens veraltet. Ichnenne nur zwei Beispiele: Die Einteilung in Zehntelklas-sen beim Einkommen stützt sich auf Daten aus dem Jahr2008. Vermögensdaten, deren Erhebung sehr interessantwäre, haben Sie nur bis 2007. Wir wissen, dass die Ver-mögenskonzentration trotz der Krise weiter zugenom-men hat.Frau von der Leyen, Sie haben gestern von dieserStelle aus Kurt Schumacher zitiert und darauf hingewie-sen, dass Politik mit der Betrachtung der Wirklichkeitbeginnt. Die Wirklichkeit Ihres Ministeriums sind dasJahr 2007 und das Jahr 2008.Meine Damen und Herren, als die Erstellung einesArmuts- und Reichtumsberichts beschlossen wurde,wurden die Anforderungen an den Bericht und seinZweck vom Gesetzgeber klar und eindeutig formuliert:Die Analyse von Armut und Reichtum muss in die Ana-lyse der gesamten Verteilung eingebettet sein. So standes in der Drucksache, welche die Armutsberichterstat-tung begründet hat.Die Berichterstattung muss der Vielschichtigkeit vonArmut Rechnung tragen. Sie muss auch besondere Pro-blemgruppen gesondert berücksichtigen, was Sie abernicht tun. Genau deswegen haben wir unsere Große An-frage gestellt und auch noch einmal nachgefragt. Diewenigen Zahlen, die durch die Große Anfrage bekanntgeworden sind, sind hochinteressant und alarmierend.Bei der Verteilung der Armutsrisikoquote nach Be-völkerungsgruppen
gibt es einige sehr deutliche Ergebnisse. Wir haben zumBeispiel eine hohe Armutsrisikoquote von 16,5 Prozentbei Kindern bis 17 Jahren. Sie sagen hier, die Zahl derKinder von Beziehern von Arbeitslosengeld II sei gesun-ken.
Die Zahl der Kinder insgesamt ist auch gesunken. Manmuss sich aber den Anteil aller Kinder, die auf Hartz IVangewiesen sind, anschauen.
Da hat sich fast nichts bewegt.Die Armutsrisikoquote für Alleinerziehende beträgt40,1 Prozent. Das sind Zahlen aus Ihrem Hause, die inder Antwort auf unsere Große Anfrage stehen. Zwischen1998 und 2010 ist die Armutsrisikoquote bei Alleiner-ziehenden um 15,5 Prozent angestiegen. Bei Arbeitslo-sen hat sie sich im gleichen Zeitraum sogar verdoppelt.Mit Blick auf Altersarmut ist die Entwicklung bei denPensionärinnen und Pensionären sowie Rentnerinnenund Rentnern besonders interessant. Bei ihnen ist die Ar-mutsquote um rund 15 Prozent angestiegen.
Mit Blick auf die Zukunft finde ich gerade die Situa-tion bei Personen mit Migrationshintergrund besondersalarmierend. In Ihrer Antwort auf unsere Große Anfragegeben Sie an, dass ein knappes Drittel der Personen ohnedeutsche Staatsangehörigkeit und über ein Viertel derMenschen mit Migrationshintergrund von Armut betrof-fen sind. Dieser Wert ist doppelt so hoch wie bei Men-schen ohne Migrationshintergrund. Auch weil in dieserGruppe viele Kinder betroffen sind, hätte ich erwartet,dass Sie diesen Umstand genauer betrachten und kon-krete Handlungsempfehlungen geben, denn diese Bevöl-kerungsgruppe stellt einen immer größer werdenden An-teil an der Bevölkerung Deutschlands.
Für eines war unsere Große Anfrage aber trotzdemgut: Sie deckt Ihre fragwürdige Rechtsauffassung zu denRegelbedarfen bei Kindern, konkret zur Inanspruch-nahme des Bildungs- und Teilhabepakets, wozu es heute
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30045
Markus Kurth
(C)
(B)
offensichtlich auch noch eine Pressekonferenz gebenwird, auf. Sie haben sich damit gerühmt, dass dasBildungs- und Teilhabepaket von 73 Prozent in An-spruch genommen wird. Sie haben gesagt, dass wir da-rauf stolz sein können. In der Antwort der Bundesregie-rung steht:Eine Inanspruchnahme des Bildungspakets liegtnach Auffassung der Bundesregierung bereits vor,wenn mindestens eine der Bildungs- und Teilhabe-leistungen in Anspruch genommen wurde.Wir wissen – das müssen auch die Zuhörer wissen –,dass es um sechs verschiedene Einzelleistungen geht.Wenn nur eine in Anspruch genommen wird, heißt es,dass das Bildungspaket in Anspruch genommen wird.Konkret bedeutet das: Wenn ein Kind einen Zuschuss zueiner Klassenfahrt bekommen hat, dann ist das für Sieeine Inanspruchnahme, auch wenn Mittagessen, Schul-bedarfspaket oder die Möglichkeit der Übernahme vonVereinsbeiträgen – Stichwort: soziale und kulturelleTeilhabe – nicht in Anspruch genommen worden sind.So kann man sich die Wirklichkeit natürlich schönreden.Ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihre Hausaufgabenso, wie der Gesetzgeber das in seinem ursprünglichenAuftrag an die Bundesregierung 1999 vorgegeben hat.Arbeiten Sie vernünftig und seriös an einem neuen Ar-muts- und Reichtumsbericht.
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im Zusammenhang mit dem 4. Armuts- undReichtumsbericht gibt es eine gute Nachricht und eineschlechte Nachricht, wie so oft.Beginnen wir mit der guten – vieles dazu wurde vonmeinen Kollegen und der Ministerin schon gesagt –:Deutschland geht es gut. Auch den meisten Menschen inunserem Land geht es besser als je zuvor. Wer die Nach-richten der letzten Tage und Wochen gehört hat, weiß,dass wir im europäischen Vergleich glänzend dastehen.Der Reichtumsbericht bestätigt das: Deutschland geht esgut. Auf die entsprechenden Daten ist Frau von derLeyen gerade eingegangen.Ich möchte Ludwig Erhard, den Vater der sozialenMarktwirtschaft, zitieren:Erst auf dem Boden einer gesunden Wirtschaft kanndie Gesellschaft ihre eigentlichen Ziele erfüllen.Das ist unser Auftrag. In dem Entschließungsantrag, denwir hier einbringen, heißt es unter anderem:Dabei ist die Vermeidung sozialer Härten nicht nurein moralisch motiviertes Ziel der Politik. Sie trägtvielmehr auch zur Akzeptanz sowie zur Dynamikund Risikobereitschaft in einer Marktwirtschaft bei.So viel zu dem Teil „Reichtumsbericht“; dazu haben wirschon viel gehört. Sie wissen ja, dass dieser Berichtzweigeteilt ist: Armuts- und Reichtumsbericht.Auch zu der schlechten Nachricht beziehen wir Stel-lung – ich bin mir nicht im Klaren darüber, ob Sie daswahrgenommen haben –: Nicht allen geht es gut. DieseAussage ist Teil des Armutsberichts. Leider viel zu vieleMenschen in Deutschland sind arm oder von Armut be-droht. Eine Marktwirtschaft, die sich sozial nennt, mussdiese Menschen im Blick haben. Und wir haben dieseMenschen im Blick. Diese Bundesregierung hat viel fürsie getan. Eben wurde schon festgestellt, dass Rot-Gründamals in diesem Bereich Defizite zu verzeichnen hatte.Wir von den Koalitionsfraktionen haben diesen Ent-schließungsantrag auf den Weg gebracht, um für eineweitere Verbesserung der sozialen Situation in unseremLand zu sorgen. Bevor ich darauf eingehe, will ich vor-weg sagen: Es geht um konkrete Menschen in konkretenNotlagen, für die wir eintreten müssen. Wir wollen abernicht zulassen, dass dieses Land in dieser Debatte überden Armuts- und Reichtumsbericht künstlich schlechtge-redet wird und dass mit billiger Polemik auf Stimmen-fang gegangen wird.
Wir müssen uns auch über den Armutsbegriff unter-halten. Wer pauschal einen Großteil der Bevölkerungarm rechnet oder als arm bezeichnet, wie Sie in IhremDebattenbeitrag vorhin oder Herr Gabriel in der letztenDebatte,
wer die Begriffe Armut und Armutsrisiko vermischt, dergeht an der Lebenswirklichkeit der wirklich Armen ein-fach vorbei.
Als ehemaliger Sozialarbeiter und Heilsarmeeoffizierhatte ich Freunde, die im Winter unter einer Brücke er-froren sind. Ich weiß um Beerdigungen von Obdachlo-sen. Ich habe Kinder erlebt – im Antrag der SPD steht et-was über „Die Arche“, die von Herrn Siggelkowgegründet wurde –, die erst am Nachmittag im Jugend-club die erste Mahlzeit des Tages bekamen. Diesen Men-schen ist nicht geholfen, wenn wir an der Quote drehen.
Ich zitiere noch einmal aus unserem Entschließungsan-trag:Daher sollte besonders darauf geachtet werden,dass die Begriffe Armut und Armutsrisiko– diese Begriffe wurden heute mehrfach zusammenge-worfen –nicht vermengt werden.
Metadaten/Kopzeile:
30046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Frank Heinrich
(C)
(B)
Unser Sozialstaat sichert allen Haushalten ein Ein-kommen oberhalb der Armutsgrenze.Rund ein Drittel des deutschen Bruttoinlandsproduktswird für Soziales ausgegeben. In dieser öffentlichen Dis-kussion über Armut in Deutschland dürfen die Existenzunseres funktionierenden Sozialstaats und die großeLeistung unserer Solidargemeinschaft nicht einfach au-ßen vor gelassen werden.Jetzt zur Lage in Deutschland. In unserem Entschlie-ßungsantrag stellen wir fest, dass die Beschäftigung einhistorisch hohes Niveau erreicht und dass die Arbeitslo-sigkeit abnimmt wie selten zuvor. Für viele Menschen istdie Abhängigkeit von staatlichen Hilfeleistungen über-wunden. Bedenken wir dabei einmal, wie viele Einzelnein dieser Zeit aus Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Per-spektivlosigkeit herausgekommen sind.Die Löhne steigen spürbar. Die Altersarmut ist geradeangesprochen worden. Sie liegt im Durchschnitt bei2,5 Prozent. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit liegtbei etwas über 5 Prozent. Sie ist so niedrig wie in keinemanderen Land in Europa. Dahinter verbergen sich sehrviele Einzelschicksale. Für diese Menschen gilt, dass sieinzwischen aus Armut, Arbeitslosigkeit, Unsicherheitund Perspektivlosigkeit herausgekommen sind.Man muss sich aber auch den anderen Menschen wid-men. Das tun wir in unserem Entschließungsantrag. Wirhaben deshalb zehn Aufträge an die Bundesregierungformuliert. Wir fordern die Bundesregierung auf, sichmit diesen Lücken zu beschäftigen. Die ersten vier Maß-nahmen betreffen die Arbeitsmarktpolitik.Ich möchte zum Schluss explizit auf zwei Maßnah-men eingehen. Die frühkindliche Bildung – auch Sie,Frau Ministerin, haben sie genannt – ist ein ganz wichti-ges Ziel. In Punkt sechs fordern wir,in Kooperation mit der Wirtschaft insbesondere Al-leinerziehenden– dies ist eine der im Ergebnis des Berichts genanntenGruppen –sowie für Menschen mit Behinderung flexibleMöglichkeiten zu bieten, am Erwerbsleben teilzu-nehmen …Als siebten Punkt fordern wir,die Durchlässigkeit im Bildungssystem wie auchdie Möglichkeit, schulische Abschlüsse zu einemspäteren Zeitpunkt nachholen zu können, weiter zuverbessern …Ich komme zum Ende. Viel von der Saat, die übrigensvon Ihnen in Regierungsverantwortung mit ausgesätwurde, ist in diesem Land aufgegangen. Das sage ich mitgroßer Dankbarkeit. Allerdings gilt es jetzt genau auf dieStellen zu schauen, die dadurch zutage getreten sind.Viele von uns waren gestern Abend bei einer Veranstal-tung, an der auch Vertreter der Bundesagentur für Arbeitteilnahmen. Ich hörte Herrn Weise in einem GesprächFolgendes sagen: Viel ist erreicht worden, viel bleibt zutun, packen wir es an. – Ich würde am liebsten hinzufü-gen: Machen wir das am besten gemeinsam.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ebenso wie der Kollege Heinrich bin ich ein bisschen er-schrocken, wie diese Debatte über den Armuts- undReichtumsbericht zeigt, wie Teile von Ihnen, verehrteKolleginnen und Kollegen von der Opposition, agieren.Sie tun so, als würden die seriösen Statistiken, der Blickauf die Realität und auf die Zahlen Sie nur stören, wennes darum geht, hier Ihre kontrafaktische Behauptungspo-litik fortzusetzen.
Ich nenne ein paar Beispiele. Ich habe mir die Mühegemacht, im Protokoll nachzulesen, was Sigmar Gabrielund Katrin Göring-Eckardt in der ersten Debatte zumArmuts- und Reichtumsbericht gesagt haben. Heute be-ehren sie uns mit ihrer Anwesenheit leider nicht, obwohldas Thema wichtig ist. Von den beiden genannten Perso-nen wurde unter anderem behauptet, die Einkommen-sungleichheit nehme in Deutschland zu. Das ist falsch.Sie haben behauptet, vielen Alleinstehenden reiche derLohn nicht. Das ist falsch. Sie haben weiterhin behaup-tet, Minijobs würden sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung verdrängen. Auch das ist falsch.
– Ich habe ihn gelesen, offenbar im Gegensatz zu Ihnen.
Es wurde gesagt, wer Vollzeit arbeite, habe am Ende desMonats nicht einmal das, was jemand bekommt, der garnicht arbeiten geht. Das ist falsch. Bemerkenswerter-weise wurde auch behauptet, die Tarifautonomie nutzeden Friseurinnen nichts. Das ist falsch, wie wir dieseWoche erfreulicherweise erfahren konnten.
Die reale Lage ausweislich der Fakten im Armuts-und Reichtumsbericht, die von niemandem bestrittenwerden, ist vielmehr folgendermaßen: Die Arbeitslosig-keit ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht. Die Beschäfti-gung ist so hoch wie seit 20 Jahren nicht. Die Jugendar-beitslosigkeit ist die niedrigste in ganz Europa. Die Zahlder Langzeitarbeitslosen ist seit 2007 um 40 Prozent zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30047
Johannes Vogel
(C)
(B)
rückgegangen. Wann hat es das zuletzt in Deutschlandgegeben?
Die Armutsrisikoquote nimmt seit 2006 nicht weiter zu.Der Niedriglohnsektor ist zuletzt geschrumpft, und dieEinkommensungleichheit ist rückläufig. Dies alles ist imArmuts- und Reichtumsbericht nachzulesen. Sie solltenihn einmal lesen; das würde uns alle hier in der Debattevoranbringen.
Trotzdem ruht sich diese Koalition natürlich nichtaus. Wir stehen vor weiteren Aufgaben. Wir wollen janicht nur vier gute Jahre für Deutschland gehabt haben,sondern wir arbeiten dafür, dass es vier weitere guteJahre für Deutschland gibt. Das wird auch passieren,wenn diese Koalition wieder in Regierungsverantwor-tung gewählt wird.
Ich nenne nur zwei Aufgaben.Die erste Aufgabe ist, Deutschland zu einem moder-nen Einwanderungsland zu machen, um den Fachkräfte-mangel zu lindern. Mit der Bluecard hat diese KoalitionHervorragendes auf den Weg gebracht.Die zweite Aufgabe ist, durch mehr Chancengerech-tigkeit dafür zu sorgen, dass die Zukunft für niemandenmehr in Deutschland von der Herkunft abhängt. Dabeigeht es um Bildung. Hier muss ich leider Folgendes sa-gen: Herr Kurth, Sie haben das Kinderbildungspaket an-gesprochen. Sie haben leider vergessen, zu erwähnen,dass diese Koalition für Kinder, deren Eltern aufHartz IV angewiesen sind, ein Bildungspaket auf denWeg gebracht hat,
und zwar im Gegensatz zu Ihnen, die Sie dafür nichts,nada, niente, keinen Cent vorgesehen haben.
Da werfen Sie uns vor, wir würden uns nicht ausreichendum Chancengerechtigkeit und Bildung kümmern? Ichbitte Sie, Herr Kollege!
Leider zeigt auch Ihr Handeln in den Ländern, dassauf Sie, wenn es um Chancengerechtigkeit geht, keinVerlass ist. Denn die Länder, in denen Schwarz-Gelb re-giert,
machen nicht nur keine Schulden – somit entstehen fürdie kommenden Generationen auch keine zusätzlichenBelastungen –, sondern sie liegen auch in Evaluationenzum Thema Bildung vorn. Das Gegenteil ist leider vonden Ländern zu sagen, in denen Rot-Grün regiert.
Deshalb sage ich: Wenn es um Aufstiegschancen undChancengerechtigkeit geht, ist dieses Land bei Schwarz-Gelb in guten Händen.Vielen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Peter Weiß für die Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Man kann natürlich alle Zahlen hin- und herwälzenund über alle Zahlen diskutieren, die in einem solch um-fangreichen Bericht, dem viele Untersuchungen zu-grunde liegen, stehen. Zusammenfassend möchte ichzum Schluss dieser Debatte sagen: Ja, wir haben jetztviele Jahre in Deutschland hinter uns, in denen dieSchere zwischen Arm und Reich tatsächlich auseinan-dergegangen ist, in denen die Zahl der Menschen, diearm oder von Armut bedroht sind, zugenommen hat.Wenn sich Frau Mattheis – sie ist zwar nicht mehr da,weil sie weg musste; das ist verständlich –
erkundigt hätte, in welcher Zeit diese Schere besondersweit auseinandergegangen ist,
dann würde sie wissen, dass ausgerechnet die rot-grüneRegierungszeit von Gerhard Schröder die Zeit war,
in der die Schere in Deutschland am weitesten auseinan-dergegangen ist.
Wenn man der Frage nachgeht: „Was ist die Hauptur-sache dafür, dass Menschen arm werden oder von Armutbedroht sind?“,
Metadaten/Kopzeile:
30048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Peter Weiß
(C)
(B)
dann stellt man fest: Die Hauptursache sind lange Pha-sen der Arbeitslosigkeit. Das ist in allen Untersuchungenunstrittig.
Da in diesem Zusammenhang auch über Rentenarmutgesprochen wird, sage ich Ihnen: Lange Phasen der Ar-beitslosigkeit führen auch zu einer geringeren Rente.Deswegen ist eine weitere Folge von Langzeitarbeitslo-sigkeit Armut im Rentenalter.
Die entscheidende und wichtigste Nachricht lautet da-her: Der Schlüssel, um daran etwas zu ändern und dafürzu sorgen, dass die Zahl der Menschen, die von Armutgefährdet ist, in Zukunft wieder abnimmt, ist der Abbauvon Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit.
Es ist ein sehr großer politischer Erfolg, dass wir da-für gesorgt haben, dass die Langzeitarbeitslosenquoteseit dem Jahr 2007 um 40 Prozent zurückgegangen ist.Dieser Erfolg sollte uns ermuntern, daran zu arbeiten,dass sie noch weiter zurückgeht. Das ist nämlich derSchlüssel, um Armut in Deutschland zu verhindern.
Ein weiterer Punkt. Zahlen, Daten und Fakten sinddas eine. Das andere ist die Frage: Welche Lebenssitua-tionen und Lebenslagen sorgen dafür, dass jemand nichtmehr aus der Armut herauskommen kann?
Bedauerlicherweise hat niemand darauf hingewiesen,dass dies der erste Armuts- und Reichtumsbericht ist, dersich ausführlich der Untersuchung der Lebenslagen wid-met. Damit kann man nachvollziehen, aufgrund welcherStrukturen – abgesehen von den monetären Gründen –jemand in Armut verharrt und warum jemand keinen Zu-gang zu Bildung findet.Ich finde, es ist bemerkenswert, dass uns diese Bun-desregierung bzw. Bundesarbeitsministerin Ursula vonder Leyen mit dem Lebenslagenkonzept einen Armuts-und Reichtumsbericht vorgelegt hat, der mehr liefert alsDaten und Fakten, der sich wirklich mit der Lage der ar-men Menschen beschäftigt und der Frage nachgeht: Wa-rum verharren sie in dieser Situation, und wo sind An-satzpunkte, um sie aus der Armut herauszuführen?Darauf kommt es nämlich an.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Tatgibt es verkrustete Strukturen, die Menschen in Armutführen oder in Armut halten. Aber das Entscheidendemit Blick auf die vergangenen Jahre ist: Endlich, nacheiner langen Phase des Auseinanderdriftens, werdendiese Strukturen aufgebrochen. Wir haben zum erstenMal seit vielen Jahren die Situation, dass sich die Ein-kommensschere wieder etwas schließt. Dass die Opposi-tion das nicht erwähnen will, verstehe ich; sie will ja einanderes Bild zeichnen.Für die Mitbürgerinnen und Mitbürger in unseremLand ist etwas anderes wichtig, nämlich die Frage: Kön-nen verkrustete Strukturen auch in Zukunft aufgebro-chen werden, und kann die Langzeitarbeitslosigkeit auchzukünftig abgebaut werden? Angesichts dieser Fragesollte man denjenigen, die bewiesen haben, dass sie eineTrendwende herbeiführen können – und das sind wir –,vertrauen und darauf setzen, dass die Verantwortlichenes auch in Zukunft schaffen werden, den Menschen inDeutschland durch Bildung und Arbeit zu sozialem Auf-stieg zu verhelfen und sie aus der Armut herauszuführen.
Bei allem, was die Opposition vorgetragen hat, erin-nere ich daran: Unter Rot-Grün ist die Schere weit aus-einandergegangen.
Wir haben die Trendwende geschafft. Diese Trendwendewollen wir in den kommenden Jahren fortsetzen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/12650 und 17/13102 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Der Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13250 soll wie dieVorlage auf Drucksache 17/12650 überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 c auf:a) Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Memet Kilic, Volker Beck , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENSituation in deutschen Abschiebungshaftan-stalten– Drucksachen 17/7442, 17/10596 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30049
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
b) Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke,Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKEUmsetzung der Abschiebungsrichtlinie derEuropäischen Union und die Praxis der Ab-schiebungshaft– Drucksachen 17/7446, 17/10597 –c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Volker Beck , Memet Kilic, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie Menschenwürde von Flüchtlingen istmigrationspolitisch nicht relativierbar – Kon-sequenzen aus dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zum Asylbewerberleistungs-gesetz ziehen– Drucksachen 17/11663, 17/12674 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff Ulla JelpkeJosef Philip WinklerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Danke. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Hier geht es um erhebliche soziale Probleme.Es geht um das Asylbewerberleistungsgesetz, das Urteildes Bundesverfassungsgerichts vom Juli vergangenenJahres und um die Abschiebehaftanstalten.Wenn im Winter, wenn es kalt ist, wenige Meter vonhier Flüchtlinge vor dem Brandenburger Tor demonstrie-ren und in den Hungerstreik treten, um auf ihre Situationin Deutschland aufmerksam zu machen, dann lässt sichzuweilen auch die Integrationsbeauftragte aus den Rei-hen der Union oder der Sozialstadtrat aus den Reihen derFDP sehen; er redet ihnen dann gut zu und sagt, dassman etwas tun wolle. Nur: Taten folgen dem nicht.In Deutschland wird die Abschiebehaft nach wie vorviel zu schnell und viel zu häufig angeordnet. Wir vonden Grünen haben deshalb eine Große Anfrage einge-bracht, die inzwischen beantwortet wurde. Den Antwor-ten ist zu entnehmen, dass die Anzahl der Haftanträgezurückgegangen ist, also weniger Flüchtlinge in Haftsind.Ein grundlegender Missstand besteht aber noch im-mer: Abschiebehäftlinge sind keine Straftäter. Ihnenwird keine kriminelle Handlung vorgeworfen. Es sindFlüchtlinge, es sind Zufluchtsuchende, die nach Deutsch-land kommen, weil sie aus ihrem Heimatland vertriebenwerden, weil sie politisch verfolgt werden und weil siein Not sind. Deshalb kommen sie hierher. Wenn gegensie Haftanträge gestellt werden und sie in Haft kommen,dann darf diese Haft nicht in normalen Haftanstaltenvollzogen werden, wo die Haftbedingungen häufig dra-matisch schlechter sind, als sie es bei Untersuchungs-häftlingen oder selbst Strafgefangenen sind.
Das ist nicht hinnehmbar.Wir stellen fest, dass die Zahl der Anträge auf Ab-schiebung von Flüchtlingen, die, bevor sie nachDeutschland gekommen sind, zunächst in EU-Ländernwie Griechenland, Italien oder Ungarn waren, erheblichzugenommen hat. Uns liegen keine konkreten Zahlenvor; aber wir wissen, dass die Anzahl der Personen, dieaus diesem Grunde in Abschiebehaft gelangen, immergrößer wird.Deswegen fordern wir ganz dringend, dass zumindestdie Minderjährigen nicht in Abschiebehaft kommen,dass Schwangere nicht in Abschiebehaft kommen.Leute, die krank sind, die – häufig durch Verfolgung inihrem Herkunftsland – traumatisiert sind, sollen auf garkeinen Fall in Abschiebehaft kommen. In diesen Fällensind Haftanträge nicht zu stellen bzw. abzulehnen.
Wir fordern, dass die Verhältnisse in den Abschiebe-haftanstalten verbessert werden: dass dort Rechtsbera-tung stattfindet, dass dort eine ausreichende medizini-sche Versorgung gewährleistet wird. Wir forderngrundsätzlich, dass diese Haftanstalten mittelfristig ge-schlossen werden. Kein Mensch soll in Deutschlandmehr in Abschiebehaft genommen werden.
Zum Asylbewerberleistungsgesetz. Das Bundesver-fassungsgericht hat festgestellt, dass das Existenzmini-mum von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Deutsch-land derzeit nicht gesichert ist. Beim Existenzminimumgeht es um das Geld, das für eine einigermaßen men-schenwürdige Existenz nötig ist. Da kann es doch keinenUnterschied machen, ob jemand ein Flüchtling oder einEinwanderer oder ein Deutscher ist. Union und FDP sindbis heute im Verzug damit, das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts vom Juli vergangenen Jahres umzusetzenund endlich eine menschenwürdige Versorgung derFlüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland sicherzu-stellen. Da sind Sie in der Pflicht und müssen handeln.Ein letzter Punkt.
Metadaten/Kopzeile:
30050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
(C)
(B)
Herr Ströbele, achten Sie bitte darauf, dass Sie das
jetzt in den letzten Satz fassen.
Ja. Das ist mein letzter Satz.
Das Asylbewerberleistungsgesetz muss grundsätz-
lich geändert werden. Die Forderungen, die die Flücht-
linge stellen, zuerst vor dem Brandenburger Tor und jetzt
am Oranienplatz in Kreuzberg, müssen erfüllt werden,
nämlich dass kein Mensch gezwungen werden darf, in
einem bestimmten Land zu bleiben; dass kein Mensch
gezwungen werden darf, in Sammelunterkünften zu le-
ben, wenn er gleichzeitig die Möglichkeit hat, in einer
Wohnung unterzukommen. Auch als Asylbewerber nach
Deutschland gekommene Flüchtlinge müssen die Mög-
lichkeit haben, hier Arbeit aufzunehmen, und zwar so
schnell es ihnen irgendwie möglich ist.
Das war mehr als ein Satz.
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
Unionsfraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich würde dem Kol-legen Ströbele gern eine Minute abtreten; er soll ja nichtin Eile sein, wenn es um die Darstellung seiner Positio-nen geht.
Das Vorgehen, die Fragen innerhalb der Großen An-frage zu der Situation in deutschen Abschiebungshaftan-stalten in einen Antrag zu packen, in dem es insgesamtum das Asylbewerberleistungsgesetz geht, ist nicht un-bedingt geeignet, das Thema erschöpfend abzubilden –auch wenn der Versuch aus meiner Sicht nachvollziehbarist.Mit der Überschrift ihres Antrages nehmen die Grü-nen einen Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts auf:Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nichtzu relativieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Menschen-würde ist unter keinen Gesichtspunkten relativierbar.
Insofern hätten Sie sich vielleicht einen anderen Satz ausdem Urteil heraussuchen sollen; denn ich finde auch die-sen Satz in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtsnicht unbedingt besonders geglückt.
Ich nehme mir heraus, zu sagen, dass dieser Satz, denSie aus dem Zusammenhang gerissen und im Titel IhresAntrages verwendet haben, durchaus noch eine Erläute-rung wert ist. Das wird man in dieser Debatte noch sagendürfen.Es geht vor allem darum, dass wir eines nicht tun soll-ten, nämlich alle Aussagen der unterschiedlichen Par-teien zu den verschiedenen Aspekten der zumeistschwierigen persönlichen und humanitären Gesamtlageder Flüchtlinge in einen Topf zu werfen, einmal kräftigumzurühren und dann den Eindruck zu erwecken, einmenschenwürdiges Leben und Dasein als Asylbewerbersei in diesem Land nicht machbar. Dieser Eindruck, denSie erwecken möchten, ist definitiv falsch.
Klar ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht allePunkte, über die zu urteilen war, in seinem Urteil als ver-fassungsgemäß bezeichnet hat. Alle! Es hat allerdingsgesagt – das will ich gerne zugestehen –, bei der Leis-tungshöhe müsse eine Anpassung erfolgen. Mit Blickauf die Regierungsbank sage ich: Das passiert im Au-genblick.
Es ist das gute Recht der Opposition, hier zur Eile zumahnen, aber ich glaube, dass die Regierung diese Er-mahnung mit Sicherheit nicht braucht; denn sie arbeitetsorgfältig daran, eine Grenze für die Leistungen zu defi-nieren.Klar ist aber auch, dass das Zusammenführen all die-ser Punkte ein wenig mit dem Föderalismus sozusagen„garniert“ wird. Denn Sie alle wissen, dass die Länderfür viele dieser Bereiche zuständig sind. Alle Antwortenauf Fragen, bei denen die Bundesregierung die Bundes-länder einbeziehen musste, zeigen, dass die Abschiebe-haft in unserem Land nach wie vor die Ultima Ratio ist.Es wird oft der Eindruck erweckt, als sei die Abschie-behaft der Normalfall. Das sollten Sie aber unter keinenUmständen tun. Die Länder sind sich ihrer Verantwor-tung in diesem Zusammenhang sehr wohl bewusst. Die-ses Mittel wird nur angewandt, wenn man sich über-haupt nicht mehr anders zu helfen weiß.Ein Blick auf die Zahlen sollte das einigermaßendeutlich machen: In knapp 80 Prozent dieser Einzelfällebeträgt die Haftverweildauer nach wie vor höchstenssechs Wochen. Bei 0,4 Prozent der Betroffenen wirdeine längere Verbüßungszeit in Abschiebehaft für not-wendig erachtet,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30051
Michael Frieser
(C)
(B)
weil eine ständige Verschleppung des Asylverfahrensdroht. Das liegt weit unterhalb der Grenze, die hier alsrechtmäßig angesehen wird.Es mag richtig sein, immer wieder daran zu erinnern:Jemand, der in Abschiebehaft kommt, ist kein Strafge-fangener. Das ist vollkommen richtig. Deshalb wird inden Ländern auch dafür gesorgt, dass, wenn es über-haupt zu einer gemeinsamen Unterbringung kommt, Ab-schiebehäftlinge nur gemeinsam mit Untersuchungshäft-lingen untergebracht werden. Wenn man das nichtakzeptiert, dann heißt das, dass man den Untersuchungs-häftling einem Strafgefangenen gleichstellt, und das,glaube ich, wird der Rechtsordnung an dieser Stelle auchnicht gerecht. Ich bitte also, deutlich zu machen, was dieLänder hier unabhängig von den Mehrheiten in dem je-weiligen Land tun können.Ich glaube, alle Antworten auf die in der Großen An-frage gestellten Fragen – zur Gesundheitsvorsorge, zurpsychiatrischen Betreuung – zeigen, dass es hier – ichmöchte nicht „vorbildhaft“ sagen – gut funktioniert. Esgibt aber natürlich noch genug Dinge, über die wir dis-kutieren können.
Ich habe mir auch die eine oder andere Einrichtungangesehen.In Bezug auf das Leistungsrecht scheint mir ganz we-sentlich zu sein, dass auch das sogenannte Sonderleis-tungsrecht – das ist vielleicht etwas unglücklich formu-liert – als verfassungsgemäß anerkannt wurde. Natürlichist es richtig, Asylbewerbern in erster Linie Sachleistun-gen zur Verfügung zu stellen. Warum? Weil bei Leistun-gen in Geld die Gefahr besteht, dass sie bei jenenSchleppern, bei jenen Schleusern landen, die dafür ge-sorgt haben, dass diese Menschen – tragische Fälle – ihrletztes Geld ausgegeben haben, um hier zu landen.
Das ist der Grund, warum wir der Auffassung sind, dassdiese Menschen und ihre Familienangehörigen auch mitSachleistungen bedacht werden sollten. Auch das ist et-was, was das Bundesverfassungsgericht definitiv fürrechtmäßig erkannt hat.Damit komme ich zur Frage der Residenzpflicht.Auch diese Frage wird in diesem Antrag behandelt. Ichglaube, wir haben gerade in dieser Legislaturperiode be-wiesen, dass eine Lockerung der Residenzpflicht dort,wo sie wirklich Sinn macht, durchaus machbar, durchausumsetzbar ist.
Es geht um ein wirklich effizientes und effektivesAsylverfahren. Die betroffenen Menschen befinden sichimmer noch in einem solchen Verfahren, in dem bewie-sen werden soll, nachgewiesen werden soll, beurteiltwerden muss: Können sie, sollen sie, dürfen sie aufDauer in diesem Land verweilen? Eventuell muss manam Ende sagen: Das ist nicht der Fall. Es geht also umdie Balance zwischen einem ordnungsgemäßen Verfah-ren auf der einen Seite und Bewegungsfreiheit auf deranderen Seite. In dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts steht, dass wir bisher durchaus verfassungsgemäßgehandelt haben. Insofern haben wir hier eine breiteÜbereinstimmung mit dem europäischen Recht.Letztendlich ist entscheidend – vielleicht kann mansich in dieser Frage etwas aufeinander zubewegen –: Inkeinem einzigen Fall wurde in diesem Land die Teil-nahme eines Asylbewerbers, dessen Asylverfahren nochnicht abgeschlossen war, an einem Integrationskurs unddamit an einem Sprachkurs abgelehnt, wenn er an die-sem freiwillig teilnehmen wollte. Wir sind der Auffas-sung, dass eine solche Teilnahme richtig ist. Denn Spra-che ist etwas, was die Menschenwürde durchaus mitausmacht.Gesetzlich ist es so: Ein Integrationskurs soll denenzugutekommen, die auf Dauer in diesem Land bleibensollen. Natürlich kann man darüber nachdenken – ichhalte das auch für richtig –, inwieweit der Erwerb derSprache des Landes, in das zu fliehen man sich einmalentschlossen hat, weil das eigene Leben bedroht wordenwar, zur Achtung der Menschenwürde gehört. Ich willnoch einmal daran erinnern: In keinem einzigen Fallwurde die oben beschriebene Teilnahme abgelehnt. Ent-scheidend ist, dass wir keinen falschen Eindruck erwe-cken.Gegen Ende dieser Großen Anfrage – es handelt sichum eine Kanonade an Fragen und, auch das darf ich sa-gen, Behauptungen – wird nach der Verfahrensdauer ge-fragt. Auch Sie wissen selbstverständlich, dass die Dauerder Verfahren beim Bundesamt für Migration undFlüchtlinge extrem verkürzt werden konnte. Gerade vordem Hintergrund der Vielzahl von Fällen von Menschenaus den Staaten des Westbalkans ist es entscheidend, dieFrage zu beantworten: Wie können wir Hilfe anfordern,damit die Verfahrensdauer auf nur zehn Tage beschränktwerden kann? Bisher liegt die Ablehnungsquote bei über98 Prozent. Das heißt, vielen betroffenen Menschenmusste bisher gesagt werden: Ein Verweilen in diesemLand hat am Ende keinen Sinn mehr. Auch diese Fragein der sehr betagten Großen Anfrage der Grünen wurdedurch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge be-reits beantwortet.
Ich komme also zu dem Ergebnis: Unser zentralerAnspruch ist, die Wahrung der Menschenwürde zu er-möglichen. Ich glaube, wir können mit Fug und Rechtbehaupten, dass sich derjenige, der aus schwierigsten Si-tuationen kommt und in diesem Land nach Rettungsucht, darauf verlassen kann, dass seine Menschenwürdegewahrt ist. Darüber hinaus wird ihm eine Perspektivevermittelt. Er weiß, wie sich sein Leben weiterentwi-ckeln kann; denn wir lassen das Asylverfahren nicht zu
Metadaten/Kopzeile:
30052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Michael Frieser
(C)
(B)
einer Hängepartie werden. Vielmehr sorgen wir dafür,dass ein Asylbewerber, dessen Asylantrag in diesemLand negativ beschieden worden ist, nach möglichstkurzer Dauer das Land verlassen muss. Für die betroffe-nen Menschen muss berechenbar sein, ob sie ihr Lebenhier weiterleben können. Das ist aus meiner Sicht einAkt der Menschenwürde. Insofern kann ich nur hoffen,dass wir den Antrag heute ablehnen.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Daniela Kolbe
das Wort.
Ich weiß nicht genau, ob zum Erklären so viel Zeitbleibt. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kol-leginnen und Kollegen! Das Recht auf Asyl ist für unsSozialdemokraten von ganz besonderer Bedeutung. Inwenigen Tagen feiern wir unseren 150. Geburtstag. Wirblicken nicht nur auf eine Zeit zurück, in der wir diesesschöne Land mitgestaltet haben, sondern wir blickenauch auf eine Zeit zurück, die durchaus auch von Verfol-gung geprägt war, sei es zu Zeiten der Sozialistenge-setze, sei es in der DDR. Aber natürlich vor allen Dingenin den Zeiten des Nationalsozialismus sind viele Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten geflohen – OttoWels und Willy Brandt seien als Namen genannt – undwaren auf die Solidarität oder vielleicht auch nur denLangmut anderer Länder angewiesen, um dort Schutzsuchen zu können.Insofern sind wir als Sozialdemokraten stolz, dass esmittlerweile zum Selbstverständnis Deutschlands gehört,dass wir Menschen, die Verfolgung ausgesetzt sind, inunserem Land Schutz bieten. Hunderttausende haben inder Vergangenheit davon profitiert.Aber das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass wirin unserem Asylrecht ganz dringend Reformen brau-chen, die uns auch das Bundesverfassungsgericht insStammbuch geschrieben hat.
Wir müssen aus zwei Begründungssträngen herausunser Recht anpassen: erstens aus Gründen der Men-schenwürde. Das Bundesverfassungsgericht hat es inseinem Urteil formuliert – das wurde bereits zitiert –:„Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu re-lativieren.“ Das stand in dem Urteil vom 18. Juli 2012.Dieses Urteil wird wohl kaum jemanden überrascht ha-ben; denn die Urteile, die genau das begründeten, sindschon einige Zeit vorher erfolgt.Der zweite Begründungsstrang ist aber, dass wir un-ser Recht auch an die aktuellen Gegebenheiten anpassenmüssen. Die Zahl der Asylanträge steigt in unseremLand. Das ist richtig. Aber gleichzeitig verharrt sie aufeinem sehr moderaten Niveau, zumal im Vergleich zuden Zahlen Anfang bis Mitte der 90er-Jahre.Gleichzeitig erleben wir eine sehr niedrige Arbeitslo-sigkeit, in Teilen sogar einen Fachkräftemangel, und ei-nen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Sogarbei Schwarz-Gelb ist das ein bisschen zu erahnen. DieBluecard wurde eingeführt, und man spricht über Zu-wanderung im Fachkräftebereich.Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Re-gelungen im Asylrecht regelrecht anachronistisch. Wirleben eben nicht mehr Mitte der 90er-Jahre. Es ist auchso, dass viele der Regelungen im Asylrecht nicht nurmenschenrechtspolitisch problematisch sind, sonderngleichzeitig auch teuer. Deswegen sagen wir: Lassen Sieuns das Bundesverfassungsgerichtsurteil nutzen und dasAsylrecht endlich umfassend reformieren.
Theoretisch besteht dabei Einigkeit bei den Regelsät-zen – dazu gibt es auch glasklare Vorgaben des Bundes-verfassungsgerichts –, auch wenn ich auf der Regie-rungsbank wenig Bewegung sehe.
Überraschen Sie uns doch einmal! Sie wissen sicherlichnoch nicht genau, ob Sie das hinbekommen. Ich fändedas gut.Allein bei der Umsetzung hätten wir noch denWunsch, dass Sie das Bildungs- und Teilhabepaket mitaufnehmen. Denn wir denken, dass auch Kinder vonMenschen, die einen Asylantrag stellen, Zugang zu die-sen Leistungen haben sollten.Dabei wollen wir aber nicht stehen bleiben. Wir wol-len das Asylbewerberleistungsgesetz und auch die Asyl-verfahrensrichtlinie deutlich weiter gehend reformieren.Wir haben die Antworten auf die Großen Anfragender Grünen und der Linken gelesen. Wir denken, dasswir auch da noch genauer hinschauen müssen.Sie haben recht: Es sind lediglich 0,4 Prozent, die län-ger als drei Monate in Abschiebehaft sind. Abschiebe-haft muss aber wirklich die allerletzte Möglichkeit sein.Es gibt eigentlich keinen Haftgrund. Denn diese Men-schen haben nichts verbrochen; auch drei Monate sindvor diesem Hintergrund eine lange Zeit. Manche sindlänger als ein Jahr in Haft, und es gibt immer noch Fälle,in denen Minderjährige in Haft genommen werden. Wirhaben dazu einen Antrag vorgelegt, in dem wir fordern,die Kinderrechtskonvention endlich auch in diesen Fäl-len umzusetzen.
Wir wollen die gesundheitliche Versorgung verbes-sern, gerade was die psychologische Betreuung angeht.Wir wissen doch alle, dass viele Asylbewerber, die hier-herkommen, traumatisiert sind. Zurzeit ist der Zugang zu
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30053
Daniela Kolbe
(C)
(B)
psychologischer Betreuung in vielen Bundesländernnoch sehr mangelhaft.Wir wollen in vielen Fällen das Regel-Ausnahme-Ver-hältnis umdrehen. Wir wollen, dass das Sachleistungs-prinzip nur noch in Ausnahmefällen gilt. Wir wollenin der Regel die dezentrale Unterbringung, übrigensauch aus finanziellen Gründen, liebe Koalitionäre. Wirschmeißen nämlich ganz schön viel Geld aus Steuermit-teln aus dem Fenster. Die Menschen bezahlen ihre Steu-ern, und wir verbrennen das Geld, ohne dass es irgendje-mandem nutzt. Die Menschen, die in diesen Unterkünftenuntergebracht werden, beschweren sich über die Bedin-gungen. Wir könnten es deutlich preiswerter haben, wenndie Menschen dezentral untergebracht würden.
Vor allen Dingen wollen wir den Umfang dieses Ge-setzes endlich wieder auf ein Normalmaß zurückführen.Dabei geht es einerseits um den Kreis der vom Asylbe-werberleistungsgesetz betroffenen Leistungsempfänger.Menschen, die eine Aufenthaltserlaubnis haben, solltenhiervon unbedingt ausgenommen werden. Andererseitsmuss auch die Bezugsdauer geändert werden. Maximalein Jahr soll es Leistungen nach dem Asylbewerberleis-tungsgesetz geben.Die Grünen fordern in ihrem Antrag, anders als dasHerr Ströbele gerade dargestellt hat, die Abschaffungdes Asylbewerberleistungsgesetzes.
Da können wir nicht mitgehen. Wir wollen aus fachpoli-tischen Gründen das Asylbewerberleistungsgesetz sehrweitgehend reformieren und – so könnte man sagen –etwa 80 oder 90 Prozent davon abschaffen; aber es mussmöglich sein, auf die besonderen Bedarfe von Asylsu-chenden einzugehen. Deswegen werden wir uns bei derAbstimmung über diesen Antrag enthalten, obwohl darinviele gute Dinge stehen, zum Beispiel die Frage des Ar-beitsmarktzuganges.
Es ist in Zeiten von geringer Arbeitslosigkeit nun wirk-lich anachronistisch, diesen Menschen den Zugang zumArbeitsmarkt zu verwehren und sie zum Nichtstun zuverdammen. Dadurch werden im doppelten Sinne Res-sourcen verschwendet, zum einen im Hinblick auf denArbeitsmarkt und zum anderen in Form von Steuergeld,das heißt in Form von Sozialausgaben, die hier gezahltwerden müssen.So wie die Grünen sind auch wir für eine unvoreinge-nommene Prüfung aller Asylanträge, was eigentlich eineSelbstverständlichkeit ist. Aber wenn man den Rednernvon Schwarz-Gelb bei der Frage der Aufnahme derMenschen aus Serbien und Mazedonien zuhört,
auch dem Staatssekretär – er spricht davon, dass100 Prozent dieser Antragsteller keinen Anspruch aufAsyl hätten –,
dann kommen mir schon Zweifel, ob diese Prüfung tat-sächlich immer so unvoreingenommen abläuft. Wir hal-ten es für eine der Grundlagen unseres Asylrechtes, dasswirklich jeder Antrag einzeln und auch unvoreingenom-men geprüft wird.Die Residenzpflicht wollen wir abschaffen. Ich kannIhre Argumentation nicht wirklich nachvollziehen. Na-türlich wollen wir weiterhin eine Lastenteilung zwischenden Bundesländern beibehalten und dabei den König-steiner Schlüssel erhalten. Aber das Ganze kann manauch über die Wahl eines Wohnsitzes regeln. Die Resi-denzpflicht ist auf eine unangenehme Art einzigartig inEuropa.
Die Abschaffung der Residenzpflicht würde sicher-lich bei den Ausländerbehörden großen Applaus hervor-rufen; denn in diesem Zusammenhang fällt sehr viel Bü-rokratie an. Bei jedem Verlassen des Landkreises mussein Ausnahmeantrag gestellt werden.
– Herr Uhl, dass Sie jetzt so laut werden, zeigt, dass ichmit meiner Argumentation richtig liege.
Dank an die Grünen und an die Linken, dass wir die-ses wichtige Thema heute besprechen können. An vielenRegelungen müssen wir wirklich arbeiten.
Beim Asylbewerberleistungsgesetz sind wir nur in Nu-ancen anderer Auffassung. Insofern werden wir unsheute bei der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten.Ich hoffe, dass wir über dieses wichtige Thema nochhäufig miteinander sprechen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
30054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
(C)
(B)
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Einewirksame und koordinierte Abschiebungs- und Rück-übernahmepolitik ist in der Tat nach dem Willen der EUund ihrer Mitgliedstaaten ein zentraler Bestandteil desgemeinsamen europäischen Asylsystems.Lassen Sie mich grundsätzlich feststellen: Es hat kei-nen Sinn, von „Asyl“ zu sprechen, wenn jemand, demdies nicht zuerkannt wird, dennoch grundsätzlich im Landbleiben darf. Es wäre schön, wenn diejenigen, die sich im-mer so laut und vermeintlich human gegen Abschiebun-gen und Rückführungen in Szene setzen, den Menschenhierzulande einfach einmal sagen würden, wofür sie denndann sind. Wer gegen Rückführungen bei abgelehntenAsylanträgen ist, ist für ein uneingeschränktes Bleibe-recht für alle, die hierherkommen wollen. Umgekehrtmuss, wer nicht für ein uneingeschränktes Bleiberecht füralle ist, sich dazu bekennen, dass die Abschiebung unab-dingbarer Bestandteil jeglicher Art von Zuwanderungs-steuerung ist.
Natürlich haben Linke und Grüne nicht den Mut, klarzu sagen, was sie wollen. Aber die Krokodilstränen, dieaus diesen Parteien immer wieder in Gestalt von zahllo-sen und wohlfeilen Anträgen gegen Abschiebehaft undRückführungspolitik ins Parlament fließen, lassen nurden Schluss zu, dass Linke und Grüne kein besonderesAsylrecht mehr wollen, weil sie ohnehin keine Zuwan-derungssteuerung wollen.
Damit es keine Missverständnisse gibt: Das Recht aufAsyl für politisch Verfolgte ist gerade für Liberale einwesentliches Grundrecht.
Auch Kollege Frieser hat das für die Union gerade deut-lich gemacht.
Aus Sicht der FDP muss über das europäische Asyl-system ständig – durchaus unter humanitären Gesichts-punkten der Menschenrechte – weiter beraten und nach-gedacht werden.
Der aktuelle Stand – auch in Europa – ist für die FDPnicht befriedigend.
Eine Nachjustierung erscheint in mancher Hinsicht sinn-voll, so zum Beispiel hinsichtlich des Rechtsschutzes.Allerdings ist es völlig überzogen, in diesem Zusam-menhang plakativ von menschenrechts- und europa-rechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts zusprechen, wie es die Fragesteller in ihren Anträgen im-mer wieder tun.
In allen Fällen, in denen die Gefahr besteht, dass dieBetreffenden ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen,ist die Abschiebehaft, wenn auch als Ultima Ratio – sel-ten angewendet in Deutschland –, unverzichtbar, um gel-tendes Recht durchzusetzen. Natürlich ist der Abschie-bevollzug nicht fehlerfrei. Verbesserungen erscheinenuns gerade unter humanitären Gesichtspunkten ange-bracht.
Die Fragesteller von Linken und Grünen beweisenimmerhin ein Minimum an Sachkunde – das muss manihnen zugestehen –, da sie sich über die Länderverant-wortung im Klaren sind. Muss ich noch anmerken – mussich die Länder wirklich nennen, Kollege Wieland? –, inwelchen Ländern diese beiden Parteien mitregieren?Wenn das Problem auch nur annähernd so groß ist wieder Umfang Ihrer Fragenkataloge: Wann haben Sie dieseFragen das letzte Mal Ihren Landesregierungen, zumBeispiel der in Baden-Württemberg, gestellt?
Es liegt nicht primär in Bundeshand, die Rückführungs-politik zu verbessern. Das ist Aufgabe der Länder, die zueinem guten Teil von Grünen, aber auch von Linken mit-regiert werden. Statt mit dem Finger auf andere zu zei-gen, sollten Sie vor der eigenen Haustür kehren.Der Schutz von Menschen in Not ist ein hohes Gut,Kollege Wieland und Kollege Ströbele. UngesteuerteZuwanderung
aber bringt vor allem die Schwächeren unserer Gesell-schaft in eine immer schwierigere Lage. Es bleibt jedochwichtig, dass diejenigen, die berechtigterweise Asyl inDeutschland begehren, auch anerkannt werden. Recht-mäßig aufhältige Menschen sind in Deutschland hochwillkommen.Zum Rechtsstaat gehört, dass es gegen amtliche Ent-scheidungen Rechtsmittel geben muss. Wenn die Rechts-mittel aber ausgeschöpft sind, muss eben auch das gel-tende Recht vollzogen werden. Linke und Grüneignorieren manchmal absichtlich, dass das Schutzniveauin Deutschland – rechtlich und tatsächlich – zu denhöchsten in der Welt gehört. Gerade diese Koalition hatin den letzten vier Jahren dazu beigetragen, dass wir hierdeutlich weitergekommen sind, gerade bei den Regelun-gen betreffend die Abschiebehaft. Das sollten Sie einmal
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013 30055
Hartfrid Wolff
(C)
(B)
anerkennen, anstatt ständig den Teufel an die Wand zumalen.
Der Schutz von Menschen in Not ist für Liberale einhohes Gut. Es waren vier wirklich gute Jahre fürDeutschland – auch im Bereich des Ausländerrechts –unter Schwarz-Gelb.
Viele wesentliche Verbesserungen, zum Beispiel im Hin-blick auf Opfer von Menschenhandel, die Regelungenbetreffend die Abschiebehaft sowie das Bleiberecht fürKinder und Jugendliche, wurden in dieser Legislatur-periode geschaffen. Es waren wirklich sehr gute Jahrefür Deutschland – auch im Ausländerrecht – unterSchwarz-Gelb.
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU dieAsylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensi-bel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv undauch unter humanitären Gesichtspunkten weiter beglei-ten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrWolff, ich glaube, Sie haben sich heute mit dem Themavertan. In den Vorlagen geht es vor allen Dingen umschutzbedürftige Menschen und nicht um Einwan-derungspolitik; darüber können wir an anderer Stelle dis-kutieren. Ich finde es schon beschämend, dass Sie20 Jahre gebraucht haben – gezwungen durch das Bun-desverfassungsgericht –, die Leistungssätze für Asylbe-werberinnen und Asylbewerber anzupassen. Das Bun-desverfassungsgericht hat Ihnen ganz klar bescheinigt,dass erstens das entsprechende Gesetz verfassungswid-rig ist und zweitens die Leistungssätze „evident unzurei-chend“ sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch gesagt, dassder Gesetzgeber nicht versuchen darf, durch unwürdigeLebensbedingungen Menschen von einer Flucht nachDeutschland abzuschrecken. Aber genau das machen Sieweiterhin, wenn Sie an der Residenzpflicht festhalten,wenn Sie trotz Bundesverfassungsgerichtsurteil imGrunde genommen keine neue Regelung schaffen, wennSie weiterhin die Unterbringung von Flüchtlingen in La-gern veranlassen oder wenn Sie nur Sachleistungen ge-währen wollen. Diese Politik folgt der Logik der Ab-schreckung. Sie muss endlich beendet werden.
Trotz dieser Abschreckungspolitik kommen vieleschutzsuchende Menschen nach Deutschland, die hiernicht immer auf Schutz hoffen können. Gerade gibt esden aktuellen Fall von Herrn Singh Bhullar, der vor vie-len Jahren aus Indien eingereist ist und dann vom Frank-furter Flughafen abgeschoben wurde. Er ist gerade zumTode verurteilt worden. Das Verwaltungsgericht Frank-furt hat seinerzeit diese Abschiebung für rechtswidrig er-klärt. Als er nach Indien abgeschoben wurde, ist er in-haftiert worden, gefoltert worden, aber man hat nieetwas von der Bundesregierung gehört. Sie reden dieVerhältnisse hier leider sehr schön. Das finde ich garnicht gut.
Denn dies ist nämlich leider kein Einzelfall. Es gibtzum Beispiel eine Dokumentation von der Antirassis-tischen Initiative Berlin. Danach sind seit 1993 32 Flücht-linge in ihrem Herkunftsland zu Tode gekommen, 562 er-litten Misshandlungen und Folter, 71 verschwandenspurlos. Diese Zahlen sprechen meiner Meinung nachfür sich. Ich möchte hier ebenfalls erwähnen, dass ge-rade vor wenigen Tagen Sammelabschiebungen vonRoma in Düsseldorf stattgefunden haben, obwohl klarist, dass die Lebensverhältnisse in Serbien und im Ko-sovo für sie erbärmlich sind und ihnen Diskriminierungbevorsteht. Auch das, finde ich, ist nach wie vor einSkandal.
2011 haben sich 6 466 Menschen in Abschiebehaftbefunden. Das ist keine unerhebliche Zahl. All dieseMenschen haben übrigens keine Straftaten begangen.Was mich besonders in Sorge versetzt, ist, dass darunterviele Minderjährige sind. Allein 2011 waren es 60 Min-derjährige, die in Abschiebegefängnissen inhaftiert wa-ren. Auch hier muss man sagen: Deutschland ist daseinzige Land innerhalb der EU, das Kinder in Abschie-behaft nimmt. Wir hatten dazu vor kurzem eine Anhö-rung, in der die Bundesregierung wiederum nicht davonzu überzeugen war, die Kinderrechtskonvention anzu-erkennen. Das bedeutet, dass weiterhin Kinder inhaftiertwerden können. Ich halte es wirklich für einen Riesen-skandal, dass so etwas in Deutschland möglich ist.
Abschiebehaft bedeutet: Menschen werden einge-sperrt, obwohl sie keine Straftaten begangen haben. Dasist meiner Meinung nach eines Rechtsstaates unwürdig.
Metadaten/Kopzeile:
30056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 238. Sitzung. Berlin, Freitag, den 26. April 2013
Ulla Jelpke
(C)
(B)
So viel Würde muss sein, dass man Menschen nicht in-haftiert.Deswegen ist für die Linke ganz klar, dass dieses bru-tale Zwangsinstrument endlich abgeschafft werdenmuss, also die Abschiebegefängnisse geschlossen wer-den müssen. Zudem müssen das Asylbewerberleistungs-gesetz, die Residenzpflicht und die Lagerunterbringungendlich abgeschafft werden.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die
Menschenwürde von Flüchtlingen ist migrationspoli-
tisch nicht relativierbar – Konsequenzen aus dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleis-
tungsgesetz ziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12674, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/11663 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 15. Mai 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute, liebe Kolleginnen und Kollegen.