Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist er-öffnet.Herr Bundespräsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Sir Norman Foster! Sehr geehrte Damen und Her-ren! Zur ersten Sitzung des Deutschen Bundestages imumgebauten Reichstagsgebäude in Berlin begrüße ichSie alle sehr herzlich. Am 3. Oktober 1990 haben wir andiesem Ort die deutsche Einigung gefeiert. Am 4. Okto-ber fand in diesem Haus die erste Sitzung des gemein-samen, des gesamtdeutschen Bundestages statt. Ein Jahrzuvor sind in Ostdeutschland wochen- und monatelangHunderttausende auf den Straßen für Freiheit in einemgeeinten Deutschland eingetreten.„Wir sind das Volk!“ – dieser Ruf ist Wirklichkeitgeworden. Fast neun Jahre später zieht der DeutscheBundestag in dieses Gebäude ein – eine notwendige undzwingende Konsequenz der deutschen Einheit. „DemDeutschen Volke“ – diese Inschrift unter dem Giebelfelddes Westportals, die über Jahre hinweg eine leere For-mel oder bestenfalls ein Versprechen war, steht nunwieder für den Anspruch an das Parlament und an jedeneinzelnen von uns, den Auftrag unserer Verfassung zuerfüllen und uns ganz dem Dienst am Volk zu widmen.Die Parlamentarier des 12. Deutschen Bundestageshaben sich nach einer denkwürdigen Debatte am 21. Juni1991 für Berlin als wirkliche Hauptstadt und Sitz desgesamtdeutschen Parlaments ausgesprochen. Der Deut-sche Bundestag hat damit ein Bekenntnis eingelöst, daser seit Jahrzehnten verkündet, beschlossen und zu kei-nem Zeitpunkt widerrufen hat. Am 30. Oktober 1991entschied der Ältestenrat des Deutschen Bundestagesdann, daß der historische Wallot-Bau als Sitz des ge-samtdeutschen Parlaments wiederhergestellt und genutztwerden soll.Wir erinnern uns: In der Zwischenzeit ist vieles dis-kutiert worden. Alte Vorbehalte wurden ausgeräumt.Neue Ängste unserer Nachbarn vor einem wiederaufer-standenen übermächtigen Deutschland kamen auf. DerUmzug wurde zeitweise zu einer reinen Kostenfragedegradiert. Selten zuvor wurde so viel über Kunst imund am Bau geredet. Das Gebäude verschwand für eineWoche unter den kunstvollen Hüllen Christos und wurdehinterher mit neuen Augen gesehen. Aus aller Weltströmten die Menschen in diese Stadt und konnten sichvon einem neuen, heiteren Berlin überzeugen.Heute, am 19. April 1999, ist es soweit: Berlin ist vonnun an die politische Metropole Deutschlands, das um-gebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deut-schen Bundestages. Liebe Kolleginnen und Kollegen,bei aller Bedeutung dieses Tages für die deutsche Ge-schichte und für diese Stadt, bei allen unterschiedlichenAuffassungen sind wir uns einig, daß Berlin für Freiheitund Demokratie, für eine europäische Politik stehenwird. Wir wollen keine andere Republik, sondern einenmöglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichenWechsel von Bonn nach Berlin. Auch nach diesem Um-zug wird die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaat-liche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn überJahrzehnte hinweg bewährt hat.
Arbeits- und Handlungsfähigkeit, Kontinuität undVerläßlichkeit, Lösung alter und neuer Probleme, Be-wältigung von Erblasten und von neuen Herausforde-rungen – dies sind unsere Handlungsmaximen für Ber-lin. Politik wird von hier aus gewiß nicht bequemer odergemütlicher werden. Die Menschen in Deutschland undin der Welt vertrauen aber darauf, daß wir die Chanceder deutschen Einheit verantwortungsvoll für unserLand und für Europa wahrnehmen, daß wir die innereEinheit vollenden, daß wir den Wechsel nach Berlinnutzen und uns mit aller Energie den dringenden und sobeschwerlichen Reformnotwendigkeiten stellen: Über-windung der Massenarbeitslosigkeit, Reform des Sozial-staates, Steuerreform, Gesundheitsreform, Reform unse-res Bildungswesens, Modernisierung des Staates, Ver-besserung der Familienförderung. Der Herausforderun-gen sind genug, um von Berlin aus viele Neuanfänge zuwagen.Wir sollten aber trotzdem, liebe Kolleginnen undKollegen, behutsam in der Wortwahl sein. In den letztenMonaten ist viel von der Bonner und der Berliner Repu-blik geredet worden. Dabei – wir wissen es – schwingenBefürchtungen mit, die durch die kriegerischen Ausein-
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andersetzungen im Kosovo und die deutsche Beteiligungdaran neue Nahrung bekommen haben mögen. Werwollte bestreiten, daß wir es mit einem dramatischenEinschnitt in der deutschen Politik zu tun haben?Gibt es – so frage ich mich – einen mehr als zufälli-gen zeitlichen Zusammenhang mit dem Wechsel derdeutschen Politik von Bonn nach Berlin? Ja, ich glaube,einen solchen Zusammenhang gibt es. Er ist von gerade-zu tragischer geschichtlicher Dialektik. Die Wiederkehreines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und derkriegerische Konflikt um das Kosovo haben eine ge-meinsame Ursache: das Ende des Kommunismus. Es hatuns das Glück der deutschen Einheit beschert, aber ebennicht – wie es doch vieler Menschen Hoffnung 1989 und1990 war – das goldene Zeitalter des Friedens, sondernneue, alte Gewalt.Aber man sage nicht, die Rückkehr von Parlamentund Regierung nach Berlin sei die Rückkehr zu einerkriegführenden deutschen Politik, sei ein Rückfall inschlimmste deutsche Geschichte. Wer so polemischredet, der hat nichts begriffen vom Epochenwechsel1989/90, einem Epochenwechsel, der auch mittels derentschlossenen Friedfertigkeit der Akteure bewirkt wur-de. Deren Ziel aber war die Erringung der elementarenMenschen- und Freiheitsrechte, die heute im Kosovowieder auf schlimmste Weise verletzt werden.Auch die Entspannungspolitik Willy Brandts vor über20 Jahren und der Helsinki-Prozeß waren erfolgreicheVersuche der Einmischung im Sinne der Menschen-rechte, waren „humanitäre Interventionen“ unter denBedingungen atomarer Hochrüstung. Soll jetzt wiederund weiter eine Nichteinmischungsdoktrin gelten – da-mals hieß sie Breschnew-Doktrin –, unter der gerade dieMenschen und Bürgerrechtler im Osten Deutschlandsund Europas gelitten haben?Nein, es ist nicht das Wiederanknüpfen an preußisch-deutsche Großmachtphantasien, die den Weltfrieden be-droht haben. Nein, nicht gegen unsere Nachbarn, son-dern mit unseren europäischen Nachbarn haben dieDeutschen den schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich aneiner internationalen militärischen Aktion zu beteiligen,die keine Eroberungsziele hat, die auf nichts andereszielt als darauf, dem Morden, der Vertreibung, der ethni-schen Säuberung mitten in Europa Einhalt zu gebieten.Wer wollte bestreiten, daß dies eine Aktion mit hohempolitischen wie völkerrechtlichen Risiko ist? Sie ist derschmerzliche Schlußstrich unter viele Fehler und Ver-säumnisse, die in den Jahren zuvor erfolgt sind. Nur –und hier spreche ich mit Erhard Eppler, einem entschie-denen Verfechter der Friedensbewegung der 80er Jahre –:In einer wirklich tragischen Situation wird man durchHandeln wie durch Nichthandeln schuldig. DurchNichthandeln hätten wir uns vermutlich ungleich schul-diger gemacht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute vonunserem neuen Plenarsaal im Reichstagsgebäude Besitzergreifen, ist eine kritische Innenansicht unserer eigenenGeschichte geradezu zwingend, eine Selbstvergewisse-rung darüber, welches historische Erbe wir gerade indiesem so umstrittenen Gebäude antreten. Wie häufigwar von ihm als Symbol die Rede. Aber ein Symbolwofür? Für Preußentum? Für Wilhelminismus? Für dasScheitern der Weimarer Republik? Für Hitlers Diktatur?Für die Teilung und die Einheit Deutschlands? – Ich willdazu einige Antworten versuchen.Natürlich war der historische Reichstag kein preußi-sches Parlament. Er war bereits weit demokratischer alsder Preußische Landtag. Das Wahlrecht machte keinenUnterschied mehr zwischen Besitzenden und Besitz-losen. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht galt fürden Reichstag nicht. Aber dennoch ist nicht zu leugnen,daß der preußisch-militärische Geist im Jahr 1914 auchden Reichstag erfaßte und die Legende vom angeblichenVerteidigungsfall nahezu alle Abgeordneten veranlaßte,die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg zu bewilli-gen. Doch es ist wiederum gerade Preußen, das zumfesten demokratischen Bollwerk in der Phase der Wei-marer Republik wurde. Es mußte 1932 als erstes „ge-schleift“ werden, bevor die Nationalsozialisten im Fol-gejahr ihre Machteroberung erfolgreich beenden konn-ten.Und der Wilhelminismus? Atmen nicht noch heutedie Gemäuer dieses Hauses den Geist der wilhelmi-nischen Epoche? Ist es nicht in seinem Gemisch unter-schiedlicher Baustile, den Tilmann Buddensieg fastspöttisch den „synthetischen Reichsstil“ genannt hat,dieser Mischung von Formen der italienischen Hoch-renaissance, des Neobarock und – mit der alten Kuppel –der Kombination von Stahl und Glas geradezu ein bau-liches Wahrzeichen dieser wilhelminischen Epoche?Immerhin: Die Grundsteinlegung im Jahre 1884 erlebtedie Hammerschläge von Wilhelm I. und seinen Nach-folgern Friedrich III. und Wilhelm II. Die kritischeÖffentlichkeit vermerkte damals, daß allzuviel Militärund kaum Parlamentarier an dieser Zeremonie teilge-nommen hatten – welch ein Unterschied zu heute.Dennoch wäre es verfehlt, die Identifikation mit demWilhelminismus allzusehr zu strapazieren. Als der Bauin den 90er Jahren fertig wurde, nannte ihn der Kaiseröffentlich den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, kujo-nierte den Architekten Paul Wallot und gebrauchte inden Briefwechseln sogar den Begriff „Reichsaffenhaus“.Nein, sowohl das Gebäude wie das, was in ihm geschah,zielte bereits im Kaiserreich stärker in Richtung aufparlamentarische Demokratie als in Richtung auf einenrestaurativen Absolutismus. In Debatten um die Kolo-nialfrage oder um den Schlachtflottenbau, über die, wiees damals hieß, „gemeingefährlichen Bestrebungen derSozialdemokratie“ oder über die Friedensresolution1917 stritten auf der rechten wie der linken Seite despolitischen Spektrums so hervorragende Redner undParlamentarierer wie Rudolf von Bennigsen, EugenRichter, Wilhelm von Kardorff, Ludwig Windthorst,Matthias Erzberger, August Bebel oder Friedrich Ebert.Aber weil es dem Reichstag des Kaiserreiches nichtgelang, Verfassungsänderungen in Richtung auf erwei-terte Parlamentsrechte durchzusetzen, war es geradezufolgerichtig, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheide-mann am 9. November 1918 von einem Fenster diesesHauses aus die Republik ausrief. Und wie selbstver-ständlich hielten auch zunächst die Arbeiter und Solda-tenräte ihre Sitzungen im von ihnen besetzten Reichs-Präsident Wolfgang Thierse
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tagsgebäude ab. Endlich galt nun nach 1919 überall inDeutschland das gleiche Wahlrecht für Frauen. DasReich erhielt eine demokratische Verfassung.Es waren übrigens die drei Parteien, die die Friedens-resolution im Kriegsjahr 1917 verfaßt hatten, die jetztdie die Weimarer Republik tragenden Parteien wurden:die Liberalen, das Zentrum, die Sozialdemokraten. DerReichstag wurde also der Ort der parlamentarischenAuseinandersetzung. Und hier fanden die Trauerfeiernstatt für den ermordeten Walther Rathenau 1922, für denverstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, fürAußenminister Gustav Stresemann. Ab jetzt also derReichstag als Ort eines ungetrübten Parlamentarismus?Bedauerlicherweise ist auch hier die historische Wirk-lichkeit schwieriger. Bereits nach den Wahlen von 1920machte das Wort von der „Republik ohne Republikaner“die Runde. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahreläutete den Untergang dieser ersten Demokratie aufdeutschem Boden ein.Golo Mann hat den Vorgang für das Parlamentanschaulich so beschrieben:Der rasende Verfall begann, als, September 1930,die nationalsozialistische Fraktion von 12 Mitglie-dern mit einem Schlag auf 107 anwuchs. Nun bra-chen alle Furien des Hasses ein in den Kuppelsaal… Der Reichstag hörte zu funktionieren auf: Pan-dämonium, in dem die Stimme der Mitte, der alt-modischen, der zur Arbeit, zur wechselseitigenAchtung … Mahnenden verklangen, wie Stimmender Vernunft im Irrenhaus.Die Totengräber der Demokratie hatten die deutscheÖffentlichkeit über ihre Ziele nicht im unklaren gelas-sen. Bereits 1928 hatte Joseph Goebbels freimütigbekannt:Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns imWaffenarsenal der Demokratie mit deren eigenenWaffen zu versorgen. Wir werden Reichstags-abgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrereigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn dieDemokratie so dumm ist, uns für diesen Bären-dienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, soist das ihre eigene Sache … Wir kommen alsFeinde!Und noch im August 1932 zerstreute er letzte Zweifelund Illusionen darüber, wie ernst man es meinte:Haben wir die Macht, dann werden wir sie niewieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns alsLeichen aus unseren Ämtern heraus.Trotzdem: Es ist eines der hartnäckigsten und dümm-sten Vorurteile, das sich mit diesem Gebäude, in demwir heute tagen, verknüpft: daß es als Symbol für dennationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn undseine Kriegspolitik stehe. Nichts davon ist wahr. AdolfHitler hat in diesem Gebäude nie als Parlamentariergesprochen. Es mußte fallen, es mußte brennen, bevordie NS-Machthaber ihre „deutsche Herrenmoral“ an dieStelle der angeblichen „Mitleidsmoral“ des demokra-tischen Parteienstaats setzen konnten.Otto Wels hielt seine bewegende und bis heute auf-rüttelnde Rede gegen das Ermächtigungsgesetz nichtmehr im Reichstagsgebäude, sondern gegenüber, in derKroll-Oper. Den Kommunisten waren einfach die Man-date aberkannt worden; viele von ihnen wie auch man-che sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete befan-den sich bereits in sogenannter Schutzhaft. Der Satz„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehrenicht“ steht bis heute für den Mut der einzigen Oppositi-onspartei, der Sozialdemokraten, die in dieser Stundeden nationalsozialistischen und deutschnationalenMachthabern widerstanden und gegen das Ermächti-gungsgesetz und damit die Selbstaufgabe des Parlamentsstimmten. Hitlers Appell an den Deutschen Reichstag –ich zitiere –, „uns zu genehmigen, was wir auchohnedem hätten nehmen können“, demonstrierte zu-gleich die Ausweglosigkeit der Lage bereits zu diesemZeitpunkt für alle Parlamentarier.Gleichwohl wollten auch die Nazis nicht ganz auf dieSymbolkraft dieses Gebäudes verzichten. Nach notdürf-tiger Teilrestaurierung wurden während der Olympi-schen Spiele 1936 Führungen für ausländische Besucherdurchgeführt. Die Nazis hatten die Schamlosigkeit, indiesen Räumen Ausstellungen wie zum Beispiel „Derewige Jude“ oder „Bolschewismus ohne Maske“ zu zei-gen und – bezeichnenderweise am fünften Jahrestag desBrandes – die Ausstellung über „Entartete Kunst“ hierzu eröffnen.Im Mai 1945 war es für die siegreiche sowjetischeArmee ganz selbstverständlich, ihre rote Fahne hier undnicht auf dem Gebäude der nationalsozialistischenMachtzentrale, der Reichskanzlei, zu hissen.Das Reichstagsgebäude hat den Krieg überdauert.Wie ein Mahnmal stand es nun, insbesondere nach demBau der Mauer, fast Wand an Wand mit dieser künst-lichen, gewaltsamen innerdeutschen Grenze. Schondurch seine Höhe war es und blieb es unübersehbar,auch wenn die beschädigte Kuppel aus Sicherheitsgrün-den abgetragen werden mußte. Für mich, der im anderenTeil der Stadt lebte, war der Reichstag ein Symbol fürdas ungelöste Problem der deutschen Teilung. Gutsichtbar über die Mauer hinweg, blieb er ein Blickfang,war Objekt, steinernes Symbol der Sehnsucht nacheinem geeinten Deutschland, in dem Demokratie, Frie-den, Freiheit des einzelnen und soziale Gerechtigkeitgemeinsam ihre Heimat haben.Und heute, liebe Kolleginnen und Kollegen? Heutehaben wir eine Reihe gewiß schwieriger Probleme, diewir uns – jedenfalls viele von uns – während der Teilungund des kalten Krieges immer gewünscht haben: näm-lich die Probleme der deutschen Einigung. Insofern hatsich viel geändert. Voraussetzung dafür war, daß einTeil Deutschlands, daß die Ostdeutschen in einer gelun-genen friedlichen Revolution den Wandel von der Dik-tatur zur Demokratie geschafft haben. Es ist dies daserste Mal in der deutschen Geschichte, daß ein solcherWandel von innen heraus, aus eigener Kraft, in einerfriedlichen und revolutionären Aktion gelungen ist. Esist auch das erste Mal, daß Deutschland seine territorialeGestalt im Einklang, also mit dem Einverständnis seinereuropäischen Nachbarn gefunden hat. An dieser StellePräsident Wolfgang Thierse
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halte ich es für meine Pflicht – das kommt von Herzen –,der damaligen Bundesregierung und ihrem KanzlerHelmut Kohl ausdrücklich für diese historische Leistungzu danken.
Dieser doppelten, historisch neuartigen Situation ver-danken wir die Möglichkeit, Berlin wieder zum Sitz vonParlament und Regierung, also tatsächlich zur Haupt-stadt machen zu können. Demokratisches Engagementder Bürger und gutnachbarschaftliche Verständigunghaben diese Möglichkeit geschaffen. Damit symbolisiertder Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin zwei-fellos etwas Neuartiges, zugleich erfreulich Zivilisatori-sches in der deutschen Geschichte. Ich jedenfalls finde,dieses neue Moment unserer Geschichte verweist zu-gleich auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erstwirklich die deutsche politische Kultur prägen konnten.An diesen Traditionen müssen wir festhalten.Ich beginne mit einer Überzeugung, die seit dem8. Mai 1945 in beiden Teilen Deutschlands gleicherma-ßen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise gewon-nen worden ist: dem Antifaschismus und einem unauf-geregten, unpathetischen Verhältnis zur eigenen Nation.Natürlich bestreite ich nicht, daß dieser gesamtdeutscheNeubeginn Ausgangspunkt sehr verschiedener Wegegeworden ist. Im Westen gab es neben dem Anti-faschismus auch Verdrängung des deutschen National-sozialismus. Andererseits aber war die Konsequenz kla-rer und eindeutiger; sie hat im Grundgesetz der Bundes-republik Deutschland ihren unhintergehbaren Ausdruckgefunden: Eine stabile, auf die Menschenrechte gegrün-dete Demokratie sollte jeder Form von Diktatur denBoden entziehen.Die DDR setzte dagegen einen anderen Akzent, deres zuließ, erneut eine Diktatur zu errichten, eine Diktaturzur Verhinderung des Kapitalismus, der in erster Liniefür Faschismus und Nationalsozialismus verantwortlichgemacht wurde. Viele wußten von Anfang an, daß diesein Irrweg war, viele begriffen es im Laufe der Jahre,manche erst nach dem Mauerbau, andere noch später,und einzelne scheinen es noch immer nicht begriffen zuhaben. Daß der sowjetisch dominierte Sozialismus einfolgenreicher diktatorischer Irrweg war, der zudem auchökonomisch funktionsunfähig blieb, kann aber heutenicht mehr ernsthaft bestritten werden. Für mich per-sönlich wiederhole ich: Die Einheit Deutschlands warmir kein nationales, sie war mir stets ein antitotalitäres,ein freiheitliches, ein demokratisches Ziel.Als zweite Tradition, der ich Kontinuität wünsche,nenne ich das Streben nach sozialem Ausgleich. Wir ha-ben in der DDR durchaus auch positive Gleichheits-erfahrungen gemacht, die man nicht geringschätzensollte. Aber eine Gleichheit, die alle in eine bestimmteSchablone pressen, paßförmig für eine einheitlicheIdeologie machen will, meine ich natürlich nicht. DieGleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Mannund Frau, die Mühe um Chancengleichheit, gleicheWürde und gleiche Freiheit ungeachtet der Herkunft, derRasse, der Religion oder des Geschlechts – das ist dieGleichheit, die ich meine. Sie ist durchaus gefährdet –nicht nur im Kosovo, sondern auch hier in Deutschland,zum Beispiel bei jedem tätlichen Angriff, jeder Diskri-minierung gegen Menschen, die nichts weiter getanhaben außer anders, südlicher, fremdländischer auszuse-hen, als manche Rechtsextremisten das für angemessenoder typisch halten.
Die dritte Tradition, die ich erwähnen möchte, ist dieder guten Nachbarschaft, des Interessenausgleichs mitden anderen Völkern und Staaten, die unbedingte euro-päische Orientierung der Zusammenarbeit und Integra-tion und der Fortentwicklung der Europäischen Union,die sich nicht mehr nur auf den ehemaligen WestenEuropas beschränkt.Das sind nicht alle, aber das sind mir besonders we-sentliche politische Traditionen, die auch und vor allemam Parlaments- und Regierungssitz Bonn entwickelt undin Verträge und Gesetze gegossen worden sind.Unsere Zukunft hängt von diesen Prinzipien ab. Essind Prinzipien, die zur Staatsräson der BundesrepublikDeutschland gehören. Wir sollten an dieser Kontinuitätfesthalten, statt unsere Zeitrechnung künstlich in eineangebliche Bonner und eine angebliche Berliner Repu-blik aufzuteilen.
Meine Damen und Herren, ja, das Reichstagsgebäudeist ein Symbol, aber kein eindeutiges. Es ist ein Symbolfür all die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in derdeutschen Geschichte, die wir nur als solche und alsGanzes annehmen können. Indem wir, der 14. DeutscheBundestag, künftig an diesem Ort tagen, machen wirdeutlich, daß wir uns dieser Verantwortung und Aufgabebewußt sind. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unterdie deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielen,werden an diesem Ort ad absurdum geführt. Dieser Ortist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr zu, er läßtkeinen Schlußstrich zu.Aber er mahnt uns auch, Lehren zu ziehen. Ge-schichte ist mehr als nur Objekt für neugierige Rück-blicke. Die erste, ganz zentrale Lehre, hat der verehrteKollege Helmut Kohl in seiner damaligen Funktion alsBundeskanzler 1983 präzise und treffend so charakteri-siert:Das eine bleibt uns als Mahnung festzuhalten, daßdie Republik jeden Tag neu erworben werden muß,weil die politische Kultur der Freiheit sich nichtvon selbst versteht.Herr Kollege Kohl, ich bin Ihnen für diese Worte sehrdankbar. Und ich würde mir wünschen, daß wir dieseMahnung als gemeinsamen Auftrag für dieses ganzeHaus verstehen, daß wir durch die Art unserer Debattenund Auseinandersetzungen, durch die Kultur unseresStreits täglich die Überlegenheit der Demokratie unterBeweis stellen, damit totalitäre Ideologen und Demago-gen in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen.
Präsident Wolfgang Thierse
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute hat das stabil-ste und selbstbewußteste Parlament, das wir jemals inDeutschland hatten, jenes Gebäude bezogen, das un-übersehbar der Vergangenheit entstammt, aber glei-chermaßen bereit ist für eine zukunftsgerichtete Politik –nach innen wie nach außen. Es ist an uns Parlamenta-riern, diesem Bauwerk viele neue Bausteine an guterdemokratischer Politik hinzuzufügen.Die fruchtbare Verbindung zwischen Alt und Neu,zwischen Vergangenheit und Gegenwart – wir haben esgesehen und bestaunt, vielleicht auch ein bißchen be-wundert – gilt insbesondere für die Architektur. Daß dasHaus mit seinen inneren und äußeren Strukturen denErwartungen gerecht werden kann, daß seine Ausmaßeund Baumassen den Eintretenden aufnehmen statt ab-schrecken, ist dem Architekt, Sir Norman Foster, zuverdanken. Er hat mit seinem Konzept eines Neubausvon Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischenUrsprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaf-fen. Sie spiegelt die Geschichte dieses Hauses und seinerGegenwart und Zukunft mit den Mitteln der baulichenGestaltung wider. Er hat Geschichte sichtbar gemacht,aber er ist nicht dort verharrt. Gleichermaßen hat erRaum für die demokratischen Strukturen einerseits undfür die Arbeitsfähigkeit des Parlaments andererseits ge-schaffen. Dafür ist Sir Norman Foster von dieser Stelleaus herzlichen Dank zu sagen.
Mein besonderer Dank gilt aber auch meiner Vorgän-gerin, Frau Professor Rita Süssmuth, die mit unermüdli-cher Energie die Realisierung dieses Umbauprojektesvorangetrieben hat. Wir verdanken ihr, daß dieses Hausso schön geworden ist und so gut für unsere parlamenta-rischen Zwecke paßt. Herzlichen Dank, Frau Süssmuth.
Unser Dank sollte aber auch der Baukommission,ihren Mitgliedern und ihrem Vorsitzenden, dem Kolle-gen Dietmar Kansy, gelten. Er hat die schwierige Arbeit,die Planungsarbeit in vielfältigen Entscheidungen be-gleitet. Herzlichen Dank für diese wichtige Arbeit inunser aller Namen.
Wir sollten selbstverständlich alle diejenigen in unse-ren Dank einschließen, die – sei es als Bauarbeiter oderIngenieurin, sei es als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiterder Verwaltung des Deutschen Bundestages – zum Ge-lingen dieses Projektes beigetragen haben.
Der Architekt des deutschen Parlaments stammt nichtaus Deutschland. Man muß es erwähnen. Auch das ist– nebenbei, aber nicht unwichtig – eine Geste der Dank-barkeit an die Europäer, die die Einheit unseres Landesmitgetragen, mehr noch: unterstützt haben. Europa wirdauch eine der zentralen Botschaften sein, die vom politi-schen Berlin ausgehen wird. War vor einem Jahrzehnt,als die alten Ost-West-Strukturen aufbrachen, die Zu-kunft Europas noch ungewiß, so ist der europäische Wegheute, am Ende dieses 20. Jahrhunderts, eindeutig: Diedeutsche Frage, ein stetiger Risikofaktor im europäi-schen Staatensystem, ist gelöst, eine Rückkehr zurGroßmachtpolitik undenkbar. Deutschland hat nicht nurseinen Platz in Europa gefunden, sondern gestaltet die-ses Europa aktiv mit. Daran haben viele, sehr viele mit-gewirkt: von Konrad Adenauer über Ludwig Erhard biszu Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, HelmutSchmidt und Helmut Kohl. Sie alle nenne ich nur stell-vertretend.Deutschland hat zusammen mit seinen Nachbarn dieeuropäische Integration dynamisiert und die europäischeWährungsunion mit vollen Kräften unterstützt – trotzgroßer Widerstände und Bedenken und im Wissen umdie Stärke der eigenen Währung und der damit verbun-denen Risiken.Wir Deutsche haben erfahren, was ein geteiltes Landbedeutet. Deshalb sind wir auch in der besonderen Ver-antwortung, unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropaauf ihrem Weg in die Europäische Union zu unterstüt-zen. Wir wollen nicht nur ihre Verbündeten in derNATO, sondern auch in der Europäischen Union sein.Damit dies gelingt und vor allem auch auf Dauer Be-stand hat, brauchen wir beides: die Erweiterungsfähig-keit der Union und die Beitrittsfähigkeit der zu integrie-renden Länder. An beidem wird derzeit hart gearbeitet.Es ist ein gutes Ergebnis in diesem Prozeß, daß aus-gerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaftund dazu noch hier in der Stadt Berlin der entscheidendeDurchbruch zur Verabschiedung der Agenda 2000 ge-lungen ist. Sie schafft erst die Voraussetzung dafür, daßder europäische Integrationsprozeß in Richtung Mittel-und Osteuropa fortgesetzt werden kann.Entscheidend für die europäische Einigung wird abersein, ob die Bürgerinnen und Bürger von diesem Europaüberzeugt und für dieses Europa bereit sind. Dies wirdohne eine Verstärkung der demokratischen Strukturen,ohne eine dringend notwendige Entflechtung der Ver-fahrensabläufe auf der einen Seite und ohne die Tole-ranz für andere Kulturen und Lebensentwürfe auf deranderen Seite nicht möglich sein.Probleme und Rückschläge gehören zu diesem Pro-zeß dazu. Gerade wir Deutschen haben diese Erfahrun-gen hautnah bei der deutschen Einheit gemacht. Wieschwierig das Zusammenwachsen eines über Jahrzehntehinweg geteilten Landes mit konträren Gesellschafts-strukturen ist, wurde vielen von uns erst nach und nachdeutlich. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Ideal derdeutschen Einheit niemals aufgegeben. Es war zwar Vi-sion, aber keine Utopie. Mit Zuversicht haben viele, sehrviele daran festgehalten.Heute – fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer –leben wir in mancher Hinsicht noch immer in zwei Ge-sellschaften. Wir haben erkennen müssen, daß die Höheder finanziellen Transfers, die Anzahl der Autobahnenund Telefonleitungen, die Größe der Kaufhäuser undihrer Angebote – so begrüßenswert, so dankenswert alldiese materiellen Leistungen und Fortschritte sind –eben noch nicht selbstverständlich und garantiert einegemeinsame Identität schaffen.Präsident Wolfgang Thierse
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So konnten erneut wechselseitig Ressentiments zwi-schen Ost- und Westdeutschen wachsen. Für die einenwurden die Westdeutschen zu „hochnäsigen Kolonial-herren“, für die anderen die Ostdeutschen zu „undank-baren Jammerlappen“. Fehlverhalten hier wie dort wirdzum Bild für das Ganze überhöht und für Feind- undKlischeebilder benutzt, deren Realitätstauglichkeit sichallenfalls im Bestätigen von Vorurteilen erweist.Immer noch zu oft neigen wir dazu, das Leben in demanderen System nach eigenen, nach oberflächlichenMaßstäben einzuordnen. Das ist bequem; aber es erzeugtVorurteile und Vorbehalte. Warum respektieren wirnicht die Menschen mit ihren unterschiedlichen Biogra-phien? Warum gestehen wir nicht anderen das zu, waswir selbst von anderen erwarten, nämlich Verständnisund Toleranz? Dazu gehört vor allem, einander ohneÄngste, Mißtrauen und vorgefertigte Meinungen zu be-gegnen, uns unsere unterschiedlichen Erfahrungen zuerzählen, aber auch zuzuhören. Nur so gelangen wir zuwirklicher Solidarität, einer Solidarität, die die innereEinheit vollendet. Nur so verstehen wir auch die unter-schiedlichen Dimensionen gleicher Sachverhalte.Natürlich ist Arbeitslosigkeit für jeden einzelnen, fürjede Familie in West wie in Ost eine schwer erträglicheBelastung und Zumutung. Gleichwohl ist die Herausfor-derung wie die Katastrophe für jeden Ostdeutschenungleich größer, weil im System der DDR wenigstensdie Sicherheit des Arbeitsplatzes unverrückbar garantiertzu sein schien.Auch der Gebrauch von und der Umgang mit Freiheitwill gelernt sein. Für die Westdeutschen ist es die ineinem langen Prozeß erlebte Erfahrung, daß sie mitihren Möglichkeiten und Chancen zugleich auch immerdie Kehrseite von Risiken und Unsicherheiten in sichbirgt. Für die Ostdeutschen waren die Freiheit der Redeund die Möglichkeit, frei zu reisen, verständliche Ob-jekte der Sehnsucht. Aber nun müssen sie erst lernen,daß grenzenlose Freiheit auch Bindungslosigkeit be-deuten kann, daß frühere Sicherheiten verlorengehen. Sowird nun Freiheit häufig weniger als Chance denn alsLast empfunden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Umzugvon Bonn nach Berlin rücken wir genau an die Naht-stelle dieses noch offenen Prozesses des Zusammen-wachsens. In keiner anderen Stadt Deutschlands werdendie Defizite, die besonderen Empfindlichkeiten, aberauch die Fortschritte auf beiden Seiten deutlicher alshier in Berlin. Wir Parlamentarier sollten diese Nähe fürunser politisches Wirken nutzen.Der heutige Tag ist auch ein wichtiger Tag für dieseStadt und ihre Menschen. Nach Jahren des Hoffens,Wartens und Vorbereitens spüren die Berliner heute:Das Parlament, das Herzstück der Demokratie, ist wie-der inmitten dieser Stadt zu Hause. Dies bedeutet einehistorische Chance und vor allem auch belebende Im-pulse. Viele alteingesessene Berliner freuen sich auf dieZuziehenden aus dem Westen. Traditionelles und Inno-vatives, Pioniergeist und Abgeklärtheit werden in dieserStadt eine spannungsreiche Mischung erzeugen, die siefür ihre neue Rolle brauchen wird. Berlin als die Mittevon Ost und West in Deutschland und Europa, als dieStadt mit dem ausgeprägtesten internationalen Charakterin Deutschland: Es gibt wohl kaum einen geeigneterenOrt für Dialog, für friedliches Zusammenleben vonMenschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Berlinsoll ein Beispiel für die Vollendung der Einheit in denKöpfen und Herzen der Menschen in Deutschland undin Europa werden. Historische Vorbilder oder Parallelengibt es nicht. Alle hier wirkenden Menschen werden die-sen Teil der Geschichte selber schreiben, und zwar jedenTag aufs Neue. Dazu wünsche ich uns allen eine glück-liche Hand.Der Deutsche Bundestag ist im guten Sinne desWortes ein Arbeitsparlament. Bei aller Kritik, die diesesHohe Haus auf sich zieht, manchmal verdient, manch-mal benötigt und jedenfalls immer verträgt, darf dochfestgestellt werden: Hier wird hart um beste, um durch-setzbare, um sachgerechte und um verantwortbare Lö-sungen gerungen. Es wird hart gearbeitet.Vor diesem Hintergrund ist es gut, den neuen Plenar-saal des Deutschen Bundestages mit einer ernsthaftenDebatte in Besitz zu nehmen. Angesichts der Beschwer-nisse, die wir im eigenen Land erleben, angesichts derTatsache, daß diese Beschwernisse im Osten Deutsch-lands, wo nun auch der Deutsche Bundestag seinen Sitzhat, noch immer größer sind als im Westen, und auchangesichts des Umstandes, daß wir im Plenum desHohen Hauses schon lange nicht mehr herausgehobendarüber diskutiert haben, ist eine Debatte über die nochbestehenden Herausforderungen für die Angleichung derLebensverhältnisse und die Vollendung der EinheitDeutschlands ein besonders geeignetes Thema für dieseerste Sitzung.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:Abgabe einerRegierungserklärung des BundeskanzlersVollendung der Einheit DeutschlandsNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä-rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Heute“, soschreibt eine große deutsche Zeitung, „beginnt eine neueZeit“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber so-viel ist klar: Mit der heutigen Plenarsitzung endet einweiteres Provisorium in der Geschichte unserer Repu-blik. Das alte Reichstagsgebäude – der Präsident hat esüberzeugend deutlich gemacht – ist bezugsfertig für denneuen Deutschen Bundestag.Über Geschmack – auch das ist klar geworden – darfnicht gestritten werden, und dies ist nicht der DeutschePräsident Wolfgang Thierse
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Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. Ichmöchte mich auch persönlich bei Sir Norman Foster be-danken und ihm ein großes Lob aussprechen für denMut, aber auch für die Behutsamkeit, mit der er traditio-nelle und moderne Elemente zusammengefügt hat.
Ich wünsche mir im übrigen, daß die gläserne Kuppelüber uns, die der Architekt für dieses Haus entworfenhat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz un-serer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebtArchitektur auch hier von der Institution, die sie belebt.Unsere Demokratie und unser Parlament – wir sinddessen sicher – sind stark und stabil. Der Umzug nachBerlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nach-kriegsgeschichte; denn wir gehen ja nicht von Bonnnach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären.Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik derVerständigung und der guten Nachbarschaft, die festeVerankerung Deutschlands in Europa und im Atlan-tischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung einesLebens in Freiheit, all das hat entscheidend dazu beige-tragen, daß die „Berliner Republik“ im geeintenDeutschland möglich wurde. Wie immer man diesemBegriff gegenübersteht, was immer man damit anfangenwill: Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlindie Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben. Undnoch eines wird bleiben: Die Probleme und Aufgabennehmen wir mit, wenn wir von Bonn nach Berlin um-ziehen.Als Bundestag des demokratischen Deutschland tra-gen wir nun in einem Haus mit guter demokratischerTradition Verantwortung. Der aus geheimer, gleicherund freier Wahl hervorgegangene Reichstag – dessenGebäude übrigens mindestens im Volksmund nochlange Reichstag heißen wird –
wurde – der Herr Präsident hat darauf hingewiesen –dem Kaiser und Bismarck abgetrotzt.Auch wenn manche an der Silbe „Reichs“ Anstoßnehmen: Zu seiner konstituierenden Sitzung nach HitlersMachtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht in die-sem Gebäude zusammen, sondern in der PotsdamerGarnisonskirche. Das Ermächtigungsgesetz – der HerrPräsident hat darauf hingewiesen –, das den Reichstagfaktisch ausschaltete, wurde nicht hier, sondern gegen-über, in der Kroll-Oper beschlossen.Sicher, der Umzug nach Berlin ist auch eine Rück-kehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deut-scher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen inDeutschland und in Europa gebracht haben. Aber„Reichstag“ einfach mit „Reich“ gleichzusetzen wäregenauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria oderdeutschem Zentralismus zu verwechseln.
Das föderative Modell deutscher Politik – das gilt es ge-rade hier festzustellen – ist bewährt und nicht im gering-sten gefährdet.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir scheint,daß dies der richtige Ort und die richtige Zeit ist, eineZwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Es istder richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch fürden Westen der Republik steht, Berlin das vereinteDeutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschenmacht es viel aus, daß Regierung und Parlament nichtmehr fern am Rhein, sondern relativ nahe bei ihnen, näm-lich hier an der Spree, sind. Es ist die richtige Zeit, weildas vereinte Deutschland auch politisch den Generati-onswechsel vollzogen hat. Ich meine damit keineswegsnur einen Regierungswechsel. Es gibt kein Land, in demdie Ablösung der politischen Generation, die den zweitenWeltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine be-deutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Dasgilt für uns in Deutschland allemal.Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz ist es aberauch deshalb, weil uns nicht zuletzt die Ereignisse derletzten Wochen und Monate dramatisch vor Augen ge-führt haben, daß sich Deutschlands Rolle in der Weltverändert hat, daß wir heute anders und intensiver in derVerantwortung für das Schicksal auch anderer Völkerstehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittel-bar danach der Fall gewesen ist. Dies wiederum sage ichganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wortvon der „internationalen Solidarität“ so unterschiedlicherlebt und erfahren wurde.Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheitfällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ost-deutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung voll-bracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungenist, das Ost-West-Gefälle vollständig zu überwinden.Gleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, waswir miteinander schon erreicht haben, über Leistungsbe-reitschaft und Solidarität der Menschen im Osten wie imWesten unseres Landes.Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeut-schen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht Folge mangeln-den Leistungswillens der Bevölkerung in den neuenLändern. Und andererseits: Mit finanziellen Hilfen alleinwären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durchdas Engagement der Bürgerinnen und Bürger beim Auf-bau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft,bei den Unternehmensgründungen und den Innovatio-nen, bei Hilfe, aber auch bei Selbsthilfe gekommen sind.Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damalsvor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben: „Wirsind d a s Volk“ oder:„W i r sind das Volk“ und: „Wirsind e i n Volk“.Ich will deshalb auch keine detaillierte Auflistungdessen vornehmen, was getan worden ist und was nochgetan werden muß. Unter den laufenden und von dieserBundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegtenProjekten für den Aufbau Ost möchte ich nur einige we-nige hervorheben:Da ist erstens das Programm „100 000 Jobs für jungeLeute“ mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland bisjetzt 75 000 Vermittlungen in Arbeit und in Ausbildunggegeben, davon 33 000 allein in den neuen Bundeslän-dern.
Zusätzlich sind 17 500 Jugendliche in einem weiterenSonderprogramm in den neuen Ländern untergekom-men. Man sieht daran zweierlei: einmal, daß es uns mitder Aussage ernst ist, daß wir die Jugendlichen einstei-gen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie ausder Gesellschaft aussteigen,
und zum anderen, daß die Jugendlichen von sich aus er-kannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Ein-stieg haben, sondern auch eine Pflicht, entsprechendeAngebote anzunehmen. Ich bin froh darüber, daß sie dasinsbesondere in den neuen Bundesländern in diesemUmfang tun.Zweitens. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt-politik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. Unterdieser Bundesregierung – das haben wir versprochen,und das werden wir halten – wird es kein Auf und Abvor und nach Wahlen geben,
dies deshalb, weil wir lieber Arbeit bezahlen, als Ar-beitslosigkeit bezahlen zu müssen.
Drittens. Die Bundesfinanzhilfen für die Städte-bauförderung werden bei 520 Millionen DM für alleneuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei istdie soziale Stadt. Es geht uns um die Förderung vonStadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wirwissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf dasLeben gerade junger Menschen hat, und wir wissen, daßgerade in Stadtvierteln mit schlechter BausubstanzLangzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zu-wanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozia-ler Zündstoff sind oder werden.
Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wiruns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme aufsolche Stadtviertel konzentrieren.
Viertens. Noch in diesem Jahr werden wir die För-derinitiative „Innoregio“ starten. Ziel ist es, innovativeEntwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstüt-zen. Denn wir wissen: Ohne eine nachhaltige Förderungder Innovation, die zu neuen, international wettbewerbs-fähigen Produkten und zu neuen Verfahren auf neuenMärkten führt, werden wir die Arbeitslosigkeit gerade inden neuen Ländern nicht so erfolgreich bekämpfen kön-nen, wie das unsere Aufgabe ist.Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können,wenn sie nicht gerecht ist, gerade denjenigen gegenüber,die aus dem Arbeitsprozeß der sogenannten alten Indu-strien herausgefallen sind. Aber unser Land hätte keineZukunft, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mittelfür die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft ein-setzten. In dieser Hinsicht – sagen wir es ganz deutlich –hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Ver-einigung durchaus schon einiges vorgemacht.
Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Um-weltschutz. 1990 – um ein Beispiel zu nennen – standdie alte DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweitan der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden dieGrenzwerte nirgendwo mehr überschritten. In Leipzigbeispielsweise ist die Belastung um 83 Prozent zurück-gegangen. Durch ökologische Modernisierung konntenbereits jetzt europaweit mustergültige Regionen imOsten Deutschlands geschaffen werden.Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikati-on. In Ostdeutschland wurde das modernste Netz derWelt geschaffen. Das gilt aber auch für manche soge-nannte alte industrielle Anlage. Opel in Eisenach, dieKraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikro-chipherstellung in Dresden zum Beispiel erreichen heuteProduktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren.
Laut einem jüngst veröffentlichten „Spiegel“-Testsind ostdeutsche Hochschulen weit überproportional aufden Spitzenplätzen des Landes vertreten. Das betrifft dasVerhältnis von Lehrenden zu Studierenden, aber auchdie Ausstattung und inhaltliche Qualität der universitä-ren Ausbildung.Diese Entwicklungen zeigen die Chance des Aufbausim Osten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten von Lud-wig Erhard. Aber vielleicht gelingt uns ja doch so etwaswie ein kleines Wirtschaftswunder, gerade im Osten un-seres Landes.
Ein Wissenswunder jedenfalls, ein Technikwunder,das müssen wir gemeinsam anstreben. Damit schaffenwir die Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftli-chen Aufschwung und – das ist von eminenter Bedeu-tung – vor allem für mehr Beschäftigung.Bei allem dürfen wir nicht vergessen: Berlin ist derOrt, an dem sich, wie Willy Brandt einmal gesagt hat,„die Teilung der Welt versteinert hat“. Hier treffen sokraß wie produktiv die Unterschiede aufeinander, die40 Jahre Trennung hinterlassen haben. Diese Stadt bleibt– um es mit den Worten von Friedrich Schorlemmer zusagen – „eine besondere Werkstatt der Einheit“.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Westdeutsche verbinden in ihrer Erinnerung mit Ber-lin, meist Westberlin; je nach Alter ein Fußballpokal-endspiel, ein Rockkonzert oder einen Theaterbesuch.Für die Ostdeutschen war Berlin Hauptstadt der DDR,ein Ort besonderer Bevorzugung und Machtarroganzgegenüber dem, was man „die Republik“ nannte. Berlinund Mauer bilden noch lange, nachdem das schändlicheBauwerk selbst verschwunden ist, in aller Welt einensemantischen Zusammenhang.Gewiß: Die schmerzende Wunde des kalten Kriegesist vernarbt; aber sie bleibt doch fühlbar. Gleichzeitigbündeln sich in dieser Metropole die Probleme der mo-dernen Industriegesellschaften: Jeder achte Berliner istAusländer, jeder sechste ist ohne Arbeit. Das zwingt zurAuseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirk-lichkeit. Darin liegt aber auch die Chance des Umzugsvon Bonn nach Berlin.Ob die Politik besser wird, wenn sie krasser mit dergesellschaftlichen Realität konfrontiert wird? Ob diePolitik klüger wird, wenn sie zwangsläufig in engerenund häufigeren Kontakt mit Künstlern und Intellektuel-len kommt? Ich hoffe das. Aber es gibt Zyniker, die sa-gen: Eher wird die Kunst schlechter, als daß das andereeintritt. Ich denke, wir sollten uns auf diese Zynikernicht berufen. Ich sehe mehr Chancen. Wir wären tö-richt, wenn wir diese enormen Chancen nicht nutzten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitausschwieriger als mit dem wirtschaftlichen Aufbau verhältes sich mit dem, was man innere Einheit nennt, mit derÜberwindung der Mauer in den Köpfen und gelegentlichin den Herzen. Ich glaube, die Verständigung über das,was war, ist Voraussetzung für die Analyse dessen, wasist und was sein soll. Die Mauer – dies gilt es zu erken-nen und zu bewahren – wurde von Ost nach West einge-drückt, und nicht etwa vom Westen geschleift.
Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß noch biskurz vor dem 9. November 1989 niemand im Westeneine wirklich realistische Einschätzung vom nahendenZusammenbruch der DDR und des Kommunismus hatte.
– Na ja, Sie vielleicht. Das will ich gerne einräumen. –Eine behütet aufgewachsene Generation im Westen hatsich allzuoft herausgenommen, Biographien von Men-schen aus dem Osten herabzuwürdigen, ohne sich auchnur einmal die Frage zu stellen: Wie hätte ich, wie hät-ten wir uns denn unter ähnlichen Bedingungen verhal-ten?
Die Anpassungsleistung, die notwendig war, mußtefast ausschließlich von den Menschen in den neuenLändern erbracht werden. Das war oft schwierig undmitunter sicher unerhört schmerzhaft. Deshalb verdientdiese Leistung unser aller Respekt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen denk-würdigen Satz zitieren, den ich aus aktuellem Anlaß ge-hört habe. Da sagt der Kabarettist und Schriftsteller Pe-ter Ensikat, als auch er in seiner engsten Umgebung miteinem Fall verschwiegener Stasi-Vergangenheit kon-frontiert wurde: „Auch in der DDR wurde ich nicht ge-lebt. Ich habe gelebt.“ Das heißt dann ja wohl: Der nöti-ge Respekt vor den Biographien der Menschen bedingtauch Selbstrespekt, ein Bekenntnis jedes einzelnen zuseiner eigenen Verantwortlichkeit.Ich wünschte mir, wir alle würden uns gelegentlichauf folgende Erkenntnis besinnen: Es gab gelingendes,glückendes und authentisches Leben mitten in einemfalschen System, so wie es mißlingendes Leben auch ineinem richtigen System geben kann.Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ent-schädigung der Opfer von SED-Unrecht sagen. DieBundesregierung will Verbesserungen in den Punktenerreichen, über die ich bereits vor geraumer Zeit mit denOpferverbänden gesprochen habe. Wir wollen eine Er-höhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politi-sche Häftlinge erreichen. Hierfür brauchen wir die Zu-stimmung der Länder. Ich hoffe, daß wir sie bekommenwerden.
Wir wollen die Leistungen für die Hinterbliebenender ehemaligen politischen Häftlinge verbessern. Hierdenke ich insbesondere an die nächsten Angehörigen derHingerichteten oder der während der Haft Verstorbenen.Beseitigt werden müssen auch die Schwierigkeiten beider Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden.Wir müssen mehr tun für die Menschen, die aus den Ge-bieten jenseits von Oder und Neiße verschleppt wordensind. Lassen Sie uns das zusammen erreichen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wiruns keine Illusionen: Die Unterschiede in der Befindlich-keit, auch im Geschichtsbewußtsein, die gegenseitigenRessentiments werden wohl noch eine ganze Weile beste-henbleiben. Ohne Frage gibt es Differenzen zwischenOst- und Westdeutschland, genauso wie es auch Kli-schees über Ost und West gibt. Diese Unterschiede sindeben nicht nur die Folge von 40 Jahren Teilung, sondernauch von zehn Jahren Erfahrungen mit der Einheit.Was wir voneinander wissen, ist oft zu oberflächlich,zu vorurteilsbeladen und ähnliches mehr. Ost- undWestdeutsche werden sich noch länger einander zu er-klären haben, ohne sich gleich rechtfertigen zu müssen.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einenanderen Aspekt eingehen. Seit vielen Jahren diskutierenBundeskanzler Gerhard Schröder
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wir in unserer Gesellschaft, auch hier mitten im Parla-ment, über die Anforderungen der Globalisierung, überdie Notwendigkeit, flexibler auf die Veränderungen derökonomischen Basis in der Arbeitswelt zu reagieren.Dabei fällt auf: Diese Diskussion wird fast aus-schließlich im Westen Deutschlands geführt. Die großeMehrheit in den neuen Ländern hat sich diese Fragenämlich gar nicht stellen dürfen. Die Menschen mußtenes bei der Umgewöhnung in marktwirtschaftliche Ver-hältnisse wie selbstverständlich hinnehmen, daß von ih-nen Flexibilität und Mobilität erwartet wurde. Gleichesan Erwartungen haben die Menschen auch im Westen zuerfüllen.Heute, so sagen die Zahlen, ist jeder dritte Jugendli-che aus den ostdeutschen Ländern gleichsam „auf Wan-derschaft“, sucht seine Arbeits- und Bildungsmöglich-keit im Westen und an besonders chancenreichen Ortenim Osten Deutschlands.Ich will hier nicht über die möglicherweise heilsamenSchockwirkungen – so wird das gelegentlich genannt –der deutschen Vereinigung philosophieren. Ich will auchnicht behaupten, daß irgend jemand geplant hat, was imOsten an tatsächlicher Entwurzelung, an Herausschleu-dern aus eingeübten Lebensläufen geschehen ist. Ich sa-ge nur, daß auch bei den Mentalitätsunterschieden dieSituation keineswegs so eindeutig ist, daß die Menschenaus den ostdeutschen Ländern in wenigen Jahren einsolches Maß an Umstellung vollzogen haben, daß ihnenvieles am Besitzstanddenken der „Wessis“, am Behar-rungsvermögen auch wider besseres Wissen schlicht un-verständlich ist.Aber auch das, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, eröffnet enorme Möglichkeiten. Ich wage zu be-haupten: Wenn wir diese Bereitschaft zum Umdenken,Umlernen und Umorientieren mit einer klugen und fle-xiblen Sozialpolitik absichern, wird unsere Arbeitsweltdie nötigen Modernisierungsschübe gerade aus demOsten erfahren. Das ist auch gut so, weil wir dann ler-nen, daß wir etwas von den Menschen lernen können,die hier ihre Aufbauleistungen vollbracht haben.
Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber eskann, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholt wer-den: Der deutsch-deutsche Lernprozeß, das Zusammen-wachsen dessen, was zusammengehört, ist ein beider-seitiger Prozeß. Er verläuft von Stuttgart nach Schweringenauso wie von Rostock nach München. Dabei setzeich jedenfalls vor allen Dingen auf die jüngere Generati-on.Die junge Generation ist viel weniger belastet von 40Jahren Teilung. Diese Jugend genießt die Einheit invollen Zügen, sofern sie erlebt, daß sie in dieser Einheiteine Zukunftschance hat. Genau um diese Zukunfts-chance unserer Jugend müssen wir kämpfen.
Denn eine frustrierte Jugend – das haben wir oft genugbitter erfahren müssen – kann zu Extremismus, zu Haßund auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Dasmüssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern.
Gerade weil wir uns für die Durchsetzung der Men-schenrechte überall auf unserem Kontinent einsetzen,dürfen wir im eigenen Land nicht nachlassen, für eineoffene, tolerante und friedliche Gesellschaft zu arbeiten.
Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Her-ren, die Einübung demokratischen Bewußtseins und diePraxis gegenseitigen Verstehens – das sind auch Aufga-ben der Kultur. Kultur kann und darf nicht vom Staatverordnet werden. Aber für die Bedingungen, unter de-nen sich Kultur entfalten kann, ist das Gemeinwesen, istder Staat sehr wohl verantwortlich.In den nächsten zwei Jahren werden wir deshalb zu-sätzlich 120 Millionen DM für ein kulturelles Investiti-onsprogramm in den fünf neuen Ländern bereitstellen.
Auch die Hauptstadt-Kulturförderung wird in diesemJahr um 60 auf 120 Millionen DM verdoppelt. Wie ge-sagt: Niemand sollte die kulturellen Unterschiede, dieregionalen Eigenheiten einebnen wollen. Die Vorstel-lung etwa von einem vereinheitlichten Geschichtsbildaller Deutschen widerspricht unserem Ziel einer offenen,einer demokratischen Gesellschaft.Nein, mir geht es nicht um eine „gesamtdeutsche Iden-tität“, sondern es geht um die Herausbildung einer ge-meinsamen Identität der Deutschen, der in DeutschlandLebenden. Dieser Prozeß wird – ich bin dessen sicher –noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, und er wirdauch von Rückschlägen gekennzeichnet sein. Wenn wiraber bedenken, wie lange es, um ein Beispiel zu nehmen,nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gedauert hat, wie-der zu einem halbwegs dialogfähigen gemeinsamen Be-wußtsein zu kommen, dann kann man sich ein Bild vonden Zeiträumen machen und dann stehen wir, glaube ich,mit dem, was von den Menschen in Deutschland im Ma-teriellen wie im Immateriellen geleistet worden ist, nichtso schlecht da. Wir sollten uns also darauf einstellen, daßes noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, bis wirauch geistig eine „Nation von Staatsbürgern“ sind, wieJürgen Habermas sie uns wünscht.Meine Damen und Herren, ohne die feste Einbindungin den europäischen Einigungsprozeß und in das Atlanti-sche Bündnis wäre die deutsche Einheit nicht möglichgeworden. Ebensowenig wäre sie gelungen ohne denBeitrag der Völker in unseren osteuropäischen Nachbar-staaten – der Ungarn, der Tschechen, der Polen. Beideswerden, beides dürfen wir nicht vergessen.
Bundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2673
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Der Umzug nach Berlin, die geographische Verlage-rung von Parlament und Regierung bringt uns näher her-an an unsere polnischen Nachbarn, macht deutlich, wiewichtig Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West,als Scharnier der europäischen Einigung werden kannund – ich bin sicher – werden wird. Wir kommen ebennicht nach Berlin als Rückkehr in eine – wie man esnannte – „Mittellage“, die zu deutschen „Sonderwegen“verführen könnte. Nein, wir gehen vorwärts in die MitteEuropas. Berlin steht deshalb für die Vertiefung und fürdie Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses.Das, meine Damen und Herren, macht die wirklicheBedeutung der Agenda 2000 aus, die wir, unter deut-scher Ratspräsidentschaft, vor wenigen Wochen hier inBerlin beschlossen haben. Bei aller berechtigten Kritikan Einzelheiten: Es sollte wenigstens versucht werden,diesen gesamteuropäischen Aspekt zu begreifen.
Aber der Berliner Kompromiß ist darüber hinausauch aus deutscher Sicht ein Erfolg, und das insbesonde-re für Ostdeutschland. Die neuen Bundesländer bleibenin ihrer Gesamtheit in der höchsten europäischen För-derkategorie. Über den gesamten Zeitraum der Agendawerden sie insgesamt 20 Milliarden Euro erhalten. Ost-berlin wird noch einmal eine Übergangsunterstützung inHöhe von 729 Millionen Euro erhalten. Darin enthaltenist eine Sonderzahlung von 100 Millionen Euro, diewir auf dem Berliner Gipfel aushandeln konnten – fürdie schwierige Situation hier in Berlin. Durch den Berli-ner Kompromiß werden wir zusätzliche Rückflüsse inHöhe von etwa 700 Millionen DM in Anspruch nehmenkönnen. Diese sollten wir für besondere Aufgaben nut-zen.Die Bundesregierung hat ja, entsprechend der An-kündigung in der Regierungserklärung vom 10. Novem-ber 1998, bereits dreimal mit ostdeutschen Landesregie-rungen vor Ort getagt, um sich die besonderen Problemeder jeweiligen Regionen vor Augen zu führen. Dabeiwurde – ob in Dresden, ob in Schwerin oder in Erfurt –eines ganz deutlich: Auf den Nägeln brennen den betrof-fenen Ländern vor allem Verkehrs- und Infrastruktur-projekte. Die Bundesregierung wird deshalb den Lan-desregierungen der ostdeutschen Bundesländer vor-schlagen, die zusätzlichen Rückflüsse für zusätzliche In-vestitionen in die dringendsten Verkehrsprojekte derneuen Bundesländer zu verwenden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den ver-gangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, wasals „neue deutsche Verantwortung“ im Grunde seit Endedes kalten Krieges und seit der staatlichen EinigungDeutschlands absehbar war. Es ist Zeit, das immer wie-der auszusprechen. In diesem Zusammenhang möchteich Ismail Kadaré, den bekanntesten und vielfach preis-gekrönten Schriftsteller Albaniens, zitieren:Der Balkan ist der Hof des europäischen Hauses,und in keinem Haus kann Frieden herrschen, solan-ge man sich in seinem Hof totschlägt.Weiter schreibt er:Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das at-lantische Europa eine neue Seite in der Weltge-schichte aufgeschlagen... Es geht nicht um materi-elle Interessen, sondern ums Prinzip: die Verteidi-gung der Rechte und der Existenz des ärmsten Vol-kes auf dem Kontinent. So wird Europa zum Euro-pa der Menschen... Dies ist ein Gründungsakt, undwie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel,sondern im Schmerz.Selten – ich gebe es zu – habe ich die Worte einesSchriftstellers zu einem solchen Problem so treffend ge-funden. Das sage ich auch ganz persönlich.Es geht um folgendes: Die Epoche nach dem kaltenKriege verlangt von uns, daß wir Europa politisch neudefinieren. Für Europa hat es nie eine allgemeingültigegeographische Definition gegeben. In der Geschichte hatsich Europa immer politisch und dabei gewissermaßenimmer aufs neue definiert.Was sind die Anforderungen an diese neue Definiti-on? Mehr als alles andere braucht Europa heute Rechts-sicherheit und Rechtsfrieden. Beides ist nur dort her-stellbar, wo sich Europa auch politisch für Europa, undzwar für ganz Europa, zuständig fühlt und die entspre-chende Verantwortung auch tatsächlich wahrnimmt. Dasmacht die Bedeutung unseres Engagements auf demBalkan aus; und insofern stimme ich Ismail Kadaré zu,wenn er von einem „Gründungsakt“ spricht, den wirhinter uns haben.Es geht um den Gründungsakt für ein Europa derMenschen und der Rechte der Menschen – der Men-schenrechte. Die Notwendigkeit eines solchen „Grün-dungsaktes“ gilt insbesondere für unser Land, fürDeutschland nach der Vereinigung. Wir, die wir dieTrennung Europas so schmerzlich erlitten haben, könnennun beweisen, daß wir die Chancen der Einigung be-herzt ergreifen und daß wir das nicht nur für uns tun. Ichmeine nicht nur die Chancen der institutionellen Eini-gung, sondern auch und vor allem die der Herstellungeiner gesamteuropäischen Wertegemeinschaft. Dasheißt: Wir bekennen uns heute zu einem Europa derMenschenrechte, das niemanden auf unserem Kontinentausschließt; und dafür kämpfen wir.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfah-rungen – zumal die der friedlichen Revolution in derdamaligen DDR – zeigen uns: Menschenrechte und De-mokratie sind in Europa heute machbar bzw. müssenmachbar werden. Denn das ist heute möglich. Freiheit,das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Demokratie,Menschenrechte und Solidarität – das alles sind heutekeine Proklamationen mehr, die man über den europäi-schen Zaun hinwegrufen könnte. Wir sind nach dem En-de des kalten Krieges eben nicht in eine „Geometrie derMacht von 1648 bis 1945“ zurückgefallen, wie es unsmanche amerikanischen Historiker vorgerechnet haben.Nein, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß eszur Westbindung Europas – und damit auch zur West-bindung Deutschlands – politisch und kulturell keineAlternative gibt.Bundeskanzler Gerhard Schröder
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2674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999
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Deshalb ist für uns Stabilitätspolitik in Europa heute– ganz aktuell – in erster Linie Menschenrechtspolitik.Wir wissen aber ebenso: Die friedliche Entwicklung, dieuns in mehr als 50 Jahren Nachkriegszeit in Westeuropabeschert war, hatte Wohlstand, wirtschaftliche Zusam-menarbeit und kulturellen Austausch zur Voraussetzung.Das war kein Zufall. Auch für Ost- und Südosteuropagilt: Friedliche Entwicklung braucht Wohlstand, und derWohlstand braucht den Frieden. Diesen Lehrsatz zu be-herzigen und nach ihm zu handeln ist gerade uns Deut-schen historischer Auftrag.
Wir stehen nicht nur in einer historischen Verant-wortung: als Land zweier Diktaturen in diesem Jahrhun-dert, als Land, das Völkermord und Aggression über un-seren Kontinent gebracht hat; nein, wir stehen auch ineiner Verantwortung, die aus unserer Wirtschaftskrafterwächst. Gesamteuropa, unter Einschluß der Völker desBalkans, braucht eine gemeinsame, europäische Per-spektive, eine Perspektive des Friedens, aber, wenn manihn dauerhaft sichern will, auch eine Perspektive derökonomischen und sozialen Entwicklung. Wir habendaran mitzuarbeiten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleich hin-ter diesem Haus, auf der östlichen Seite des Reichstags-gebäudes, hat nach dem Mauerdurchbruch 1989 jemandin großen Lettern die „Kinderhymne“ von Bertolt Brechtan eine Wand geschrieben. Ich wünschte mir, dieseHymne würde zum Integrationssymbol für Ost undWest, würde zum Selbstverständnis der „Berliner Repu-blik“ beitragen; denn es gibt kaum einen Text, der auf soeinfache und durchdringende Weise die Verbundenheitmit dem eigenen Land ohne jede nationale Überheblich-keit beschreibt.
Deshalb möchte ich zum Schluß jenem anonymenFassadenmaler danken – aber nur das eine Mal! –, deruns diese schönen Worte gewissermaßen ins Blickfeldgeschrieben hat:Und weil wir dies Land verbessernLieben und beschirmen wir'sUnd das liebste mag's uns scheinenSo wie andern Völkern ihrs.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzen-
der der CDU/CSU.
Herr Präsi-dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sichmit dem Umzug von Bonn nach Berlin beschäftigt hat,für den ist heute gewiß ein bewegender Tag. Deswegengestatten Sie mir die persönliche Bemerkung: Die Tatsa-che, daß wir als deutsches Parlament heute in der deut-schen Hauptstadt unsere Arbeit aufnehmen können, hatviele Gründe. Viele haben daran mitgewirkt, aber einervielleicht doch mehr als andere. Deswegen möchte ichzu Beginn meiner Rede Helmut Kohl herzlich danken.
Ohne sein Festhalten daran, daß die deutsche Frageoffenblieb, solange das Brandenburger Tor zu war – die-se Worte stammen von jemand anderem; aber das wardie Politik –, und ohne das entschlossene und zugleichmaßvolle und beherrschte Nutzen der Chance, als dieGeschichte sie bot, wären wir heute nicht hier.Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endet jetzt einePhase, die den Übergang von der Teilung zur Einheitmarkiert, 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes,50 Jahre nach Entstehen der zwei Staaten in Deutsch-land, das vor zehn Jahren wiedervereinigt wurde. Ausge-rechnet in diesen Wochen ist Deutschland im Kosovoerstmals seit dem zweiten Weltkrieg an anhaltendenmilitärischen Kampfaktionen beteiligt. Das ist viel aufeinmal und deshalb Grund genug, sich zu vergewissern,wo wir stehen, welches die Fundamente sind, wohin wirgehen und wie wir die Welt sehen, in der wir lebenwollen.Von diesem Jahr 1999, seinen vielfältigen wider-sprüchlichen Gedenktagen – vom Goethe-Jahr bis zum60. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges –und der Art, wie wir damit umgehen, hängt viel ab, ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen, wie unser vereintesDeutschland an der Schwelle des neuen Jahrhunderts dieWunden des alten überwindet und Grundlagen für dasneue findet, um Zukunft zu gestalten.Wenn wir nach der Vollendung der Einheit Deutsch-lands fragen, dann müssen wir uns der Grundlagen unse-rer nationalen Gemeinschaft vergewissern. Mir scheint,daß, unbeschadet aller definitorischen Bemühungen, dieja ganze Bibliotheken füllen, jedenfalls gemeinsameErinnerungen und der Wille zur gemeinsamen Zukunftdafür unverzichtbar sind – Erinnerung und Zukunft, alsodie Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Ver-hältnis zur Geschichte immer wieder neu klären. Das istLuther, das ist Goethe, das ist Bismarck, aber es ist ebenauch und vor allem die Geschichte dieses Jahrhunderts:die Katastrophen zweier Weltkriege, die Tragödie einergescheiterten Republik, das Grauen der Nazibarbarei,das den Namen Auschwitz trägt. Zu diesem Jahrhundertgehören die 40 Jahre der Teilung und die dann dochnoch erfolgte Rückgewinnung der Einheit in Freiheit.Auch die Mahnmaldebatte, die wir jetzt im Parlament zueinem Abschluß bringen müssen, ragt sperrig, aber not-wendig in das Jahr der Gedenktage 1999 hinein.Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und das warsie auch in der Zeit der Teilung. Aber was so leicht ge-sagt ist, erfordert doch manches: Was wissen die West-deutschen schon von den 40 Jahren DDR? Wenn wir unsBundeskanzler Gerhard Schröder
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2675
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zur Gemeinsamkeit der Geschichte auch in der Zeit derTeilung bekennen, dann heißt das zuerst, daß wir sieüberhaupt kennen – kennen wollen, kennenlernen. Dahaben die Westdeutschen vielleicht Nachholbedarf. DieDeutschen in der DDR wußten vom Leben im Westenmehr – nicht das, was im Zerrbild der SED-Propagandaausgemalt wurde, sondern eher durch das Westfernse-hen, durch die Zunahme von Westreisen, vor allem inden 80er Jahren. Aber sie wußten letztlich vor allemdeshalb etwas, weil sie Interesse daran hatten, wie eswohl im Westen sein mochte.Aber auch Hitler und Auschwitz sind gemeinsameVergangenheit. Da haben die Ostdeutschen vielleichtNachholbedarf, weil die Kommunisten unter der zuneh-mend wohlfeilen Formel des Antifaschismus die Ver-antwortung für diesen Teil unserer Geschichte bequemauf den Westen abschoben. Beethoven, Goethe, selbstLuther, Bismarck und Friedrich der Große – das warauch den DDR-Offiziellen deutsche Geschichte. BloßHitler, den ließ man den Westdeutschen allein.Vielleicht sind wir am Ende dieses Jahrhunderts eherbereit, dazuzulernen, wenn wir uns klarmachen, daß wireben alle Nachholbedarf haben. Wenn wir uns um dieganze Geschichte bemühen, dann dürfen wir auch dendeutschen Osten und sein Erbe – Flucht und Vertrei-bung, bis zu den Sudetendeutschen und den Rußland-deutschen – nicht vergessen.
Die durch diese gut 40 Jahre, bis 1989, zweigeteilteGeschichte erklärt für mich viel von den Verletzungen,die als Folge von Teilung und Diktatur auch zehn Jahredanach spürbar geblieben sind, ja, die zum Teil erst inden vergangenen zehn Jahren entstanden sind oder ver-stärkt wurden: „Besser-Wessis“ und „Jammer-Ossis“ –satirisch gemeint, aber in ihrer Begrifflichkeit und indem, was sie beschreiben, Quellen neuer Verletzungen.Fremdheit und signifikante Einstellungsunterschiede,etwa zu grundlegenden Positionen der sozialen Markt-wirtschaft, wie Demoskopen belegen, aber auch zuGrundfragen der politischen Ausrichtung unserer Bun-desrepublik Deutschland, von der europäischen Eini-gung einschließlich der Osterweiterung bis zu denNATO-Aktionen im Kosovo; Verletzungen durch die ju-ristische und bürokratische Aufarbeitung der Teilung,von den Strafverfahren bis zu den Eigentumsfragen, vonEntschädigungsregelungen bis zur Anerkennung vonBildungsabschlüssen – immer lauert dahinter das Bild,daß die Wende im Ergebnis Sieger und Besiegte hatte.Zugegeben, soweit es bis 1989 einen Wettlauf derSysteme gab, so weit hat in der Tat die Freiheitsordnungvon Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft gesiegt.Aber deswegen sind die Ostdeutschen nicht die Besieg-ten. Sie wollten Freiheit und Demokratie, auch sozialeMarktwirtschaft – und die dadurch gegebenen besserenChancen für Wohlstand – und soziale Sicherheit. Siewollten ja gerade das DDR-System loswerden. Also sindsie nicht Besiegte, sondern Sieger.
Vielleicht rührt das falsche Bild von den Siegern undBesiegten, das in manchem Herzen nagt und neue Di-stanz schafft, daher, daß viele, zu viele das Gefühl ha-ben, ihr Leben in diesen Jahrzehnten vor 1989 sei nichtsmehr wert, sei vergeblich gewesen. Das wird übrigensausgerechnet noch von denjenigen politisch ausgebeutet,die die Hauptverantwortung für das System vor 1989trugen.
Darüber müssen wir uns Rechenschaft ablegen: Auchdie Deutschen, die in der DDR lebten, haben ihre Le-bensleistung, auf die sie genausoviel oder genausowenigstolz sein wollen und können wie andere im Westen.
Erfolge des Systems gab es, vom Sport einmal abge-sehen, in der DDR wenig. Das hat ja auch die verfas-sungspolitische Debatte über Bewahrenswertes ausDDR-Zeiten im Zuge der Herstellung der staatlichenEinheit 1990 so eigenartig unkonkret gemacht. Aber dieLebensleistung der Menschen, die zum Beispiel unterungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen –mit Reparationen an die Sowjetunion statt mit Marshall-plan-Hilfe, ohne Demokratie und mit einem Effizienzund Leistung eher unterdrückenden stupiden bürokrati-schen Zentralismus – ihre Heimat doch auch wiederaufgebaut haben, bleibt unberührt von der Erfolglosig-keit und dem Zynismus des Systems, in dem sie lebenmußten.
Sie mußten unter der Kuratel eines repressiven undtotalen Überwachungsstaats Mitmenschlichkeit, Näheund Anstand leben, und sie haben es getan. Sie haben esmit ansehen und miterleben müssen, als 1953 ein frei-heitlicher Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, und1968 haben die Menschen in der damaligen DDR nachdem Prager Frühling und seiner brutalen Niederschla-gung den Mut nicht verloren, sondern ein neues Ver-ständnis für Bürgerrechte entwickelt und damit ihrenAnteil daran, daß der Helsinki-Prozeß möglich wurdeund Erfolg hatte.Aber Lebensleistung, die keinem genommen werdendarf, schuf eben nicht Identität in und mit der DDR –was vielleicht erklären könnte, daß in der DDR sogardas Gefühl für die Bewahrung unserer deutschen Natio-nalkultur lebendiger, verbreiteter blieb als teilweise imWesten. Es entstand eben keine DDR-Identität, und dieSED-Machthaber wußten das übrigens viel besser alsmanche linken Anpasser im Westen.
Sie wußten genau, daß sie die gesamtdeutsche Identitätnicht würden ausrotten können. Deswegen haben sieauch Gorbatschow von vornherein so mißtraut, und indem Mißtrauen hatten sie recht: Das mußte das Systembeseitigen. Schlecht war es trotzdem nicht.
Dr. Wolfgang Schäuble
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2676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999
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Daraus ergibt sich die Lehre: Ohne Freiheit entstehenIdentität, Zugehörigkeit nicht; und – wie wir im ehema-ligen Jugoslawien grausam studieren müssen – Toleranzeben auch nicht. Die Freiheit markiert den entscheiden-den Unterschied in diesen 40 Jahren bis zum Fall derMauer. Deshalb war die Freiheit, wie BundeskanzlerHelmut Kohl einst im Bericht zur Lage der Nation imgeteilten Deutschland sagte, der Kern der deutschenFrage. Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nurSieger, und auch weil wir uns alle die Freiheit nicht al-lein und nicht nur durch eigene Leistung erworben ha-ben, sondern sie zum Teil eben auch geschenkt bekamen– im Westen zuerst durch die Wertegemeinschaft derfreiheitlichen Demokratien und im Osten dann durch dasOffenhalten der deutschen Frage und den Wunsch Euro-pas, seine Teilung zu überwinden, so daß die Menschenüberall in Europa in Freiheit leben könnten –, gibt esweder Sieger noch Besiegte. Es gibt auch keinen Grund– für niemanden in Deutschland –, Dankbarkeit einzu-fordern oder sie zu schulden für die gemeinsame Arbeit,Teilung und Unfreiheit als Last unserer Geschichte zuüberwinden. Bei dieser Arbeit haben wir gemeinsam Er-folg gehabt.Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Fürdie Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Ber-lin.
Deshalb mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlamentund Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habeich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir die-ses Gebäude mit seiner demokratischen republikani-schen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dür-fen.
– Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auchschon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir imReichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Be-zeichnung und schreiben wir keine andere vor.
Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir ent-schieden, daß wir künftig im Reichstag tagen. So ein-fach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer derDeutsche Bundestag.Also, die Freiheit war entscheidend. Mit der Freiheithängen – richtig verstanden – Solidarität und Gerechtig-keit untrennbar zusammen. Deshalb war das Grundge-setz und seine Ordnung das Maß der Dinge – vor demFall der Mauer gerade für die Menschen in der DDR undbei der Herstellung der staatlichen Einheit für uns alle.Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, auchzehn Jahre danach. Vielleicht – nein, gewiß, verehrteKolleginnen und Kollegen – haben wir auf diesem Wegbeim Einigungsvertrag und bei seiner oft so bürokratischund perfektionistisch wirkenden Umsetzung Fehler ge-macht. Aber lernen können wir noch immer. Da es 1989nicht Sieger und Besiegte gab, weil uns nach demZweiten Weltkrieg unterschiedliche Systeme auferlegtwurden und wir uns am Ende gemeinsam für die Freiheitentscheiden konnten, sollten wir bei der Aufarbeitungder Vergangenheit die Suche nach individueller Schuldnicht zu sehr in den Vordergrund stellen.Wir haben auch nicht nur Fehler gemacht. Wir habengemeinsam auch viel erreicht. Darauf können und daraufsollten wir ein wenig stolz sein. Vielleicht ist das Wis-sen um das gemeinsam Geschaffene und Gelungeneauch eine Vorkehr gegen zuviel Wehleidigkeit der Deut-schen am Ende dieses Jahrhunderts. Wir, verehrte Kol-leginnen und Kollegen, haben es nicht am schwerstenauf dieser Welt. Andere beneiden uns eher.
Wir leben in größerem Wohlstand und in größerer so-zialer Sicherheit als die allermeisten Menschen auf die-ser Welt – auch in Europa. Das gilt auch für die Men-schen in den neuen Bundesländern – bei allen Proble-men und bei allen noch immer im Vergleich zu West-deutschland bestehenden Unterschieden und Nachteilen.Aber nichts ist für die Zukunft selbstverständlich.Die Welt verändert sich. Der Wandel der realen wirt-schaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse voll-zieht sich oft schneller und in gewaltigeren Dimensio-nen, als vielen lieb ist. Dem müssen wir uns stellen. WerBewährtes erhalten will, muß verändern – immer, heuteaber vielleicht mehr als zu früheren Zeiten. Weil Wohl-stand eher zur Verteidigung von Besitzständen verleitet,stoßen Innovationen und Reformen auf viel Widerstand– im Westen übrigens stärker als im Osten, wo die Men-schen seit 1989 wahrhaft grundstürzende Veränderungenverkraften mußten. Aber an der Fähigkeit zu zukunfts-gestaltenden Strukturreformen entscheiden sich trotz al-ler Widerstände unsere Zukunftschancen. Der Arbeits-markt verändert sich durch technologische Entwicklungund Globalisierung rasant, und der Altersaufbau unsererBevölkerung auch. Konsequenzen für Renten- undKrankenversicherung sind ebenso unausweichlich wiedie Reform unserer Schulen und Hochschulen.Europäische Einigung ist die beste Vorsorge für daskommende Jahrhundert; aber auch sie fordert – wie wirbeispielsweise bei der Währungsunion gesehen habenund bei der Osterweiterung noch sehen werden – immerwieder Mut zu Neuem. Wenn wir – auch unter dem Ge-sichtspunkt von Friedenssicherung und ökologischerNachhaltigkeit – unseren Globus zunehmend als eineWelt begreifen, als eine Welt, in der Grenzen wenigertrennen und Entfernungen schrumpfen, dann muß unsdies auch den Blick für globale Zusammenhänge und fürdie Unteilbarkeit unserer Verantwortung öffnen.
Verunsicherung, Angst vor der Zukunft wäre die fal-sche Antwort. Offenheit als Chance begreifen, Gestal-tungsaufgaben als Herausforderung, Freude auf Neues,Neugier auf Künftiges – das kann man auch in diesemDr. Wolfgang Schäuble
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2677
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wunderbar erneuerten Reichstag so empfinden –, dasalles macht Mut zur Zukunft.
Die Basis dafür haben wir in unseren gemeinsamenErinnerungen und in den Werten, die Grundlage frei-heitlichen Zusammenlebens sind. Sie sind unverzichtbar.Deswegen ist Verantwortung für die Geschichte so we-nig rückwärts gewandt wie das Eintreten für Grundwertewie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Menschen-würde und Toleranz oder auch das Eintreten für Ord-nungsprinzipien und Institutionen, die Werte vermittelnkönnen, von der Familie bis zum Subsidiaritätsprinzip.Wer feste Wurzeln hat, kann weiter ausgreifen. Wer sichseines Fundaments gewiß ist, hat mehr Kraft zur Inno-vation, zur Veränderung. Das läßt Zukunft gestalten.
Ich sagte schon: Wir haben es nicht am schwerstenauf dieser Welt – genauso wie wir nicht – und schon garnicht auf Grund unserer Vergangenheit – ein Monopolauf Betroffenheit oder Sensibilität haben. Andere sindauch betroffen, und andere haben auch Sensibilität.Damit bin ich beim Zusammenhang von Frieden undFreiheit, auch bei der Unteilbarkeit von Frieden undFreiheit. Genau darum geht es im Kosovo.Wir haben vor ein paar Tagen in Bonn – und gewißnicht zum letzten Mal – wieder über Völkerrecht, Inter-ventionsverbot und Universalität von Menschenrechtendiskutiert. Wir werden damit lange nicht zu Ende sein.Entziehen können wir uns dieser Debatte nicht mehr.Den Konsequenzen müssen wir uns stellen.So ist unsere Bundesrepublik Deutschland mit derWiedervereinigung auch erwachsen geworden. „Unein-geschränkt souverän“ nennt das der Staatsrechtler. Weraber Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir werden nichtmehr bevormundet, sondern sind Partner und tragendeshalb Verantwortung. Weder behütet noch bevormun-det – das bedeutet erwachsen sein.Das bedeutet zuerst, daß staatliche Machtentfaltungauch am Ende dieses Jahrhunderts notwendig bleibt, umfriedliches, freiheitliches Zusammenleben zu sichern. ImRechtsstaat haben wir eine verbindliche Rechtsordnungmit einer die Durchsetzung von Recht sichernden Ge-richtsbarkeit und staatlichem, auch rechtlich begrenztemGewaltmonopol. International, weltweit, aber leiderauch in Teilen Europas haben wir das noch nicht. Des-halb ist für Sicherheit, für Frieden und Freiheit Machtlo-sigkeit keine Tugend, sondern Verweigerung von Ver-antwortung.
Das fällt uns Deutschen am Ende dieses Jahrhundertsnicht leicht. Aber die Erkenntnis und ihre Konsequenzensind unausweichlich: staatliche Machtentfaltung, Durch-setzung von Regeln für politische, soziale und ökonomi-sche Sachverhalte und Prozesse. Das läßt sich allerdingsnicht immer so perfektionistisch regeln, wie wir uns dasin unserem – gelegentlich zur Hypertrophie neigenden –Rechtswegestaat manchmal angewöhnt haben. Das giltbei Fragen, wie wir in Zeiten der Globalisierung sozialeSicherheit und Vollbeschäftigung wahren können, imPrinzip nicht anders als bei der Debatte um die völker-rechtlichen Grundlagen von NATO-Aktionen.Die Anerkennung von Realitäten, die Kraft des Fakti-schen, die etwa im Völkerrecht beim Interventionsverboteine ganz entscheidende Rolle spielt, die stoßen sich mitmanch grundsatzbewegter Rechthaberei, und sie solltenuns die Prozeßhaftigkeit – also die Veränderbarkeit –politischer, sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalteund der Kriterien zu ihrer Beurteilung lehren.Das alles ist beunruhigend, unbequem. Aber es wirddurch die Einsicht erleichtert, daß wir nicht mehr alleinstehen, letztlich weder allein handeln können noch – vorallem – wollen.Natürlich ist auch Integration nicht immer bequem.Eigene Vorstellungen und Überzeugungen lassen sichnicht immer so ganz durchsetzen, und Kompromissesind ebenso unvollkommen wie unausweichlich. AberIntegration vermeidet eben Isolierung. Im übrigen wirktIntegration auch der Gefahr dramatischer Irrwege entge-gen. Schwerfälligkeit von Entscheidungsprozessen istdann insoweit immerhin auch Vorkehr gegen Übermut,so wie Trägheit, physikalisch betrachtet, eben auch sta-bilisiert.Militärische Gewaltanwendung bleibt als Ultima ratiozur Wahrung von Frieden, Freiheit und grundlegendenMenschenrechten unverzichtbar, solange wir internatio-nal eine verbindliche und durchsetzbare Rechtsordnungund ein Gewaltmonopol nicht haben. Niemals mehr al-lein – das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleichunsere Chance an der Schwelle zum nächsten Jahrhun-dert.
Europäische Integration und atlantische Partnerschaftsind unsere feste Basis. Um sie zu erhalten, müssen wirselbst verläßliche Partner sein. Das beschreibt unsereVerantwortung: für uns und unsere Zukunft, für uns undfür Europa.Besonders in den neuen Ländern tun sich mancheunserer Mitbürger damit schwer – aber wer wollte dasnicht verstehen? – wo man so lange nicht nur demZerrbild der Anti-NATO-Propaganda ausgesetzt war,sondern wo man vor allem auch unter zuviel staatlicherMachtentfaltung gelitten hat. Aber zuwenig ist sofalsch wie zuviel. Demokratisch legitimierte, rechtlichkontrollierte und begrenzte staatliche Machtentfaltungbleibt notwendig, auch nach dem Zuviel der Diktatu-ren.Aber auch das gilt: Wegsehen hilft am Ende nieman-dem. Das wenigstens hat uns dieses Jahrhundert gelehrt.Andere haben nicht weggesehen. Deshalb leben wirheute in Frieden, Freiheit und Einheit. Das ist nicht we-nig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und gewiß ge-nug, um darauf eine neue Ernsthaftigkeit unseres Ver-ständnisses von politischen Prioritäten und Notwendig-keiten zu gründen.Dr. Wolfgang Schäuble
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Wenn wir den Zusammenhang von Freiheit, Solida-rität und Gerechtigkeit national, europäisch und weltweitbegreifen, dann finden wir unsere Aufgaben, Aufgaben,über die wir an Einheit noch vollenden können, was bis-her unfertig geblieben ist und was uns hilft, die Wundenvon Diktaturen und Teilung zu schließen und Verletzun-gen auszuheilen.Über unsere Aufgaben aus der Verantwortung fürFrieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität dieEinheit vollenden, daran, verehrte Kolleginnen undKollegen, läßt sich arbeiten: hier im Reichstag fürDeutschland und für Europa.
Lieber Kollege
Schäuble, Sie haben mich in Ihrer Rede direkt angespro-
chen. Ich will deswegen etwas dazu sagen.
Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß mir das
Wort „Reichstag“ in meiner Rede fließend über die Lip-
pen gekommen ist.
Aber ich glaube nicht, daß Sie mich dafür kritisieren
sollten, daß ich eine Kompromißformulierung des Älte-
stenrates als Parlamentspräsident öffentlich vertrete,
eine Kompromißformulierung zudem, der Sie persönlich
zugestimmt haben, Herr Kollege Schäuble.
Im übrigen halte ich es für meine Pflicht als Parla-
mentspräsident, dafür einzutreten, daß der Name unseres
Parlaments, Bundestag, auch in Berlin eine Chance be-
kommt.
Das Wort erteile ich nun dem Fraktionsvorsitzenden
der SPD-Fraktion, dem Kollegen Peter Struck.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich glaube, die Frage, wie dieses Hausgenannt werden wird, werden die Bürger entscheiden.Aber prinzipiell möchte ich Ihnen, Herr Präsident, sa-gen: Die SPD-Fraktion steht immer auf Ihrer Seite. Dakönnen Sie ganz sicher sein.
Das zweite, was ich sagen möchte: Heute ist einbesonderer Tag. Man merkt das an der etwas weihe-vollen Stimmung, die üblicherweise nicht im Deut-schen Bundestag herrscht. – Ich denke, das wird sichändern. – Man merkt es übrigens auch an der Präsenzdes Bundesrates, die in diesem Maße auch nicht üb-lich ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren Mi-nisterpräsidenten, wenn Sie in Zukunft auch so zahl-reich dabeisein werden, dann werden wir uns alle sehrfreuen.
Es ist gerade für uns Sozialdemokraten ein denkwür-diger Tag, für meine Fraktion in ganz besonderem Ma-ße; denn wir Sozialdemokraten kommen zurück – bessergesagt kehren zurück – in ein Haus, in dem unsere Par-tei, Fraktionen der SPD schon im letzten Jahrhundert fürmehr Demokratie und für soziale Gerechtigkeit gestrit-ten haben, mit August Bebel an der Spitze.
Dennoch kehren wir mit gemischten Gefühlen in diesesHaus zurück. Es ist der Ort, an dem die Demokratie vonihren Gegnern systematisch mit Füßen getreten wurde,der Ort, an dem die größte Niederlage der Demokratie inDeutschland vorbereitet wurde. Aber für uns bleibt esauch der Ort, an dem Sozialdemokraten in ihrem Kampffür eine gerechtere Welt allen Demokratieverächtern dieStirn geboten haben.
Es war ein zäher Kampf, ein Kampf der tausend klei-nen Schritte. Heute vor 100 Jahren, genau am 19. April1899, wurde in diesem Haus für einen dieser kleinenSchritte gestritten – von Sozialdemokraten. Die Forde-rung nach besseren Arbeitsbedingungen für Verkäuferund Heimarbeiter stand auf der Tagesordnung. Es gingdarum, Arbeiter nicht länger als Menschen zweiter Klas-se zu behandeln und sie gegenüber Arbeitgebern mitmehr Rechten auszustatten. „Bravo-Rufe bei der SPD-Fraktion“ vermerkte das Protokoll, als ein sozialdemo-kratischer Tischler aus Dresden am zähen Kampf seinerPartei – meiner Partei, unserer Partei – keine Zweifelließ und den Gegnern der sozialdemokratischen Arbei-terbewegung voraussagte:Wir werden alles einsetzen, um die Gleichberechti-gung zwischen Unternehmern und Arbeitern einzu-führen; solange der Kampf auch noch nötig seinmag, wir werden nicht erlahmen, bis wir das Zielerreicht haben.
Ob Sie, Herr Bundeskanzler, das alles heute noch sounterschreiben würden, versehe ich mit einem Fragezei-chen. Aber generell möchte ich schon sagen, Herr Bun-deskanzler: Es freut mich sehr, daß der erste Regie-rungschef, der eine Regierungserklärung im neuen Bun-destag, im Reichstag abgegeben hat, ein Sozialdemokratist.
Auf diese Geschichte des langen Atems sind wir So-zialdemokraten stolz. Deshalb empfinde ich es auch alsgutes Omen, jetzt an diesen Ort zurückzukehren, an demAugust Bebel, wie er sagte, „die Tretmühle des Parla-ments“ erlebt hat.Wenn es einen Ort gibt, der für die demokratischenHöhen und Tiefen Deutschlands steht, dann ist es dieserBau. – Ich möchte an dieser Stelle, Herr Präsident, alldenjenigen danken, die in der Baukommission des Älte-stenrates an diesem Bau mitgewirkt haben. Ich möchteDr. Wolfgang Schäuble
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in diesem Zusammenhang ausdrücklich den KollegenPeter Conradi erwähnen, der heute unter uns ist. –
Wir alle wehren uns dagegen – der Bundestagspräsident,der Bundeskanzler haben es ausgesprochen –, denReichstag einseitig als Parlament der Nazi-Macht-ergreifung zu sehen. Es ist bezeichnend, daß er denGegnern der Demokratie – vom Kaiserreich bis zumNationalsozialismus – immer ein Dorn im Auge war.Für sie war er „Reichsaffenhaus“, „Schwatzbude“ oder„Lügenzentrale“. Parlamentarismus als Meinungsbil-dung war diesen Hetzern verhaßt. Sie tragen die Ver-antwortung dafür, daß sich das Gros der „Insassen“ amEnde der Weimarer Republik zu einem „gröhlendenMännerchor“ gewandelt hat. So hat es Willy Brandt alsAlterspräsident 1990 bei der ersten Sitzung des wieder-vereinten Bundestages an diesem Ort ausgedrückt. Unsmuß das Mahnung und Verpflichtung sein. Nie wiederdarf aus diesem Haus heraus durch Mißachtung undVerleumdung des politischen Gegners der DemokratieSchaden zugefügt werden.
Willy Brandt hat 1990 allerdings auch daran erinnert,daß längst nicht alle Parlamentarier in dieses dumpfeGröhlen eingestimmt haben. Er hat daran erinnert, daß200 Mitglieder des Reichstages in Konzentrationslagerund Gefängnisse verbracht wurden und daß über 100Mitglieder des Reichstages wegen ihrer demokratischenÜberzeugungen das Leben geben mußten. Das zeigt:Das Parlament, das in diesem Reichstag vor uns getagthat, gehört nicht zum Verwerflichsten, was deutsche Ge-schichte zu bieten hat.Wir kehren heute zurück in ein Gebäude, das wiekein zweites an die deutsche Trennung durch die Mauerund an das Fehlen von Demokratie im real existierendenSozialismus mahnte. Direkt an der Mauer war der leer-stehende Reichstag nach Meinung des ehemaligen Re-gierenden Bürgermeisters Klaus Schütz ein Symbol, das– seiner Funktion beraubt –, den Zustand der Nation amdeutlichsten wiedergab. Folgerichtig müssen wir ihnjetzt – vereint – wieder mit parlamentarisch-de-mokratischem Leben erfüllen. Wir sind in der Pflicht,dieses Haus zum Wahrzeichen einer prosperierendenDemokratie zu machen.
Willy Brandt hat in seiner Rede als Alterspräsident1990 ahnungsvoll gesagt:Die Mitverantwortung Deutschlands ist in der Weltgewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas.Seine Befürchtungen sind auf das schlimmste übertrof-fen worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.Massaker, Vertreibung und Völkermord halten uns inden 90er Jahren in Atem. Die Auseinandersetzungen inJugoslawien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovoforderten und fordern uns Entscheidungen ab, die wir1990 in der Freude über die deutsche Vereinigung nochfür unmöglich gehalten hätten. Es ist eine besondereTragik, daß ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesre-gierung in der Geschichte unseres Landes solche Ent-scheidungen mit vorzubereiten und zu verantworten hat.Am Ende des Jahrhunderts, nach einer langen Phaseeines oft angespannten Friedens zwischen Ost und West,ist das Gespenst des Völkerhasses in Europa wieder voraller Augen. Für viele von uns ist die Erfahrungschmerzhaft, daß es ein Heraushalten, ein Zusehen nichtgeben kann. Manche wollen und können nicht akzeptie-ren, daß ausgerechnet Luftangriffe den Frieden bringensollen. Ich glaube, quer durch die Fraktionen ist die Er-schütterung über diese Situation groß, und vielen mag esergehen wie mir: Ich stehe zu der Entscheidung derNATO; ich bin aber tief verunsichert darüber, daß einesolche Entscheidung zum Ende dieses Jahrhundertsnotwendig ist.
Die Rückkehr des Parlaments gerade an diesen Ort mußuns Verpflichtung sein, nie wieder von Deutschland auseinem Völkermord tatenlos zuzusehen.
Für meine Partei, für meine Fraktion ist es eine bittereErfahrung, daß die Warnung der deutschen Sozialdemo-kratie vor Hitler allzu lange ungehört blieb, nicht nur imeigenen Land, sondern in der gesamten zivilisiertenWelt. Der „Trümmerhaufen Europa“, wie die SPD ihn1934 unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels düster vor-ausahnte, hätte womöglich vermieden werden können.Um so bindender müssen wir dafür einstehen: Einenneuen „Trümmerhaufen Europa“ darf es nicht geben.
Wir wollen, wie Otto Wels es in seiner mutigen Redegegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 gesagt hat, einEuropa der Menschlichkeit und der Freiheit.
Angesichts dieser ethnischen Katastrophe keine zweiFlugstunden von uns entfernt halte ich es für angemes-sen, vorhandene Probleme daheim mit etwas mehr Ge-lassenheit zu betrachten. Ich stimme Ihnen, Herr KollegeSchäuble, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, darin aus-drücklich zu.Die Rückkehr des Parlaments in den Reichstag, dieRückkehr nach Berlin, in den Brennpunkt des Zusam-menwachsens, ist der Beweis, daß wir alle in diesemHaus die Vollendung der inneren Einheit noch energi-scher anpacken wollen. Es stimmt, auch neun Jahre nachder staatlichen Einheit ist die innere Einheit noch nichtvollends gelungen. Aber jeder, der in diesem Land Ver-antwortung trägt, müht sich – wenigstens subjektiv –nach besten Kräften, dieses Ziel zu erreichen. Bundes-präsident Herzog hat in seiner Rede zum Tag der deut-schen Einheit im letzten Oktober zu Recht vor der „har-monieversessenen Vorstellung“ gewarnt, „die innereDr. Peter Struck
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Einheit sei erst dann erreicht, wenn alle Deutschen soziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten. Das kannnicht unser Ziel sein.
Daß es Unterschiede im Denken, in Prioritäten, auchin politischen Grundüberzeugungen gibt, darf nicht ver-ängstigen, weder die Menschen im Westen noch dieMenschen im Osten. Die Sozialisation in der DDR wareine andere als in der Bundesrepublik. Wir müssen dazustehen und dürfen nicht überdramatisieren. Wer in derrelativ behüteten Welt eines bayerischen Dorfes lebt– ich habe selbstverständlich nichts gegen die Bayern –,hat Probleme, sich in das pulsierende, hektische Lebeneiner westlichen Großstadt hineinzuversetzen.
Ich nehme aber an, die Kolleginnen und Kollegen derCSU-Landesgruppe, Herr Glos, werden das alles hervor-ragend meistern. Ich will nur ein Problem beschreiben.Genauso wie wir diese Tatsache akzeptieren, müssenwir die Unterschiede im Lebensgefühl zwischen Rhein-ländern und Sachsen, zwischen Pfälzern und Branden-burgern als Selbstverständlichkeit nehmen. Seien wirauch gerade hier in Berlin nicht so ungeduldig! Verges-sen wir nicht, daß gerade hier Ost und West aufeinan-derprallten und beide Teile der Stadt quasi zu Banner-trägern des einen oder des anderen Systems hochstili-siert wurden. Gerade hier, an der Schnittstelle ehemali-ger Unterschiede, kann das Verwachsen der Wunden einProzeß sein, der besondere Geduld verlangt. Wir müssenund wir wollen diese Geduld aufbringen. Ich bin derMeinung des Herrn Bundestagspräsidenten: Er erwartetvon diesem Parlament, daß es, insbesondere hier in derHauptstadt, Verständigungsprozesse anstößt. Dazu willich das Meine tun, dazu will die SPD-Bundestags-fraktion das Ihre tun.Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost, den derBundeskanzler angesprochen hat, die Entwicklung derweiteren wirtschaftlichen Angleichung der Lebensver-hältnisse steht auch im Mittelpunkt sozialdemokratischerInnenpolitik. Das schlägt sich nicht nur in Bekenntnis-sen nieder, sondern auch in konkreten Zahlen. Ichmöchte nur eine Zahl nennen: Wir haben die Ansätze fürkonsumtive und investive Ausgaben in den neuen Län-dern weiter verstärkt. Sie steigen von 89 Milliarden DMim letzten Jahr auf rund 100 Milliarden DM in diesemJahr. Wir verstärken und verstetigen dabei in zweiRichtungen. Einerseits geht es um die Stabilisierung derAufbauleistungen, andererseits um die verstärkte Förde-rung bei Zukunftsfragen. Als besonders wichtige Zu-kunftsinvestition seien noch einmal – man kann es nichtoft genug betonen – die Bekämpfung der Jugendar-beitslosigkeit und das Sonderprogramm der Bundesre-gierung mit seinen großen Erfolgen erwähnt.
Wir, Parlament und Regierung, kehren nach Berlinzurück. Aber der Umzug ist keine Reise in die Vergan-genheit. Er markiert den Aufbruch in ein neues Jahrhun-dert, in eine trotz aller internationalen Schatten chancen-reiche Zukunft. Und: Wir kommen nicht mit leerenHänden vom Rhein an die Spree. Wir bringen mit, waswir an demokratischen Traditionen in 50 Jahren erar-beitet haben. Es sind stabile Traditionen. Wir ziehennicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wirbleiben Bundesrepublik Deutschland.
Wir sollten nicht leichtfertig von dieser Selbstver-ständlichkeit abgehen. Wir wollen und brauchen keineandere Republik. „Ein Ortswechsel, kein Richtungs-wechsel“, hat Bundespräsident Roman Herzog zu Rechtbemerkt. Für die Bürger darf nicht das Wo des Parla-ments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlas-sen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die be-sten Lösungen für das Land gerungen wird. Der Bun-destag macht entweder gute oder schlechte Gesetze– jetzt, nach den neuen Mehrheiten, macht er in derRegel gute Gesetze –,
ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß man sich,ganz unabhängig vom Standort, messen lassen.
Es stimmt: Der Umzug verlangt von uns Parlamenta-riern eine ganze Menge Umstellung. Den Bürgern aberund auch unseren Nachbarn muß er Kontinuität garantie-ren. Das Koordinatensystem unserer Politik wird unddarf sich nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin einePolitik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähig-keit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.
Diese Traditionen, die wir in 50 Jahren am Rhein gehegthaben, bringen wir mit, eine Erfolgsgeschichte, auf diewir alle alles in allem stolz sein können.
Nach außen brauchen wir eine Politik, die eine derguten Nachbarschaft ist und es auch bleibt. Gerade hierin Berlin können wir Deutschen Europa noch weiter zu-einanderführen. Gerade hier verstehe ich es als großeChance, die östlichen Nachbarn noch stärker in die Eu-ropäische Gemeinschaft einzubinden. Sie wünschen es.Wir werden ihnen dabei nach Kräften helfen und damitein vereintes Europa vorantreiben.
Aber lassen Sie mich hier genauso klarstellen: DerSchritt nach Osten bedeutet keine Aufgabe der Westbin-dung; nein, diese ist und bleibt unabdingbare Vorausset-zung. Die Nähe zu Brüssel, London, Paris, Rom undWashington wird nicht deshalb geringer, weil uns inBerlin nicht mehr so viele Kilometer von Budapest,Moskau, Prag oder Warschau trennen.Dr. Peter Struck
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2681
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In seiner Rede als Alterspräsident hat Willy Brandt1990 hier – der Raum sah etwas anders aus, aber der Ortist derselbe – gesagt, seine Visionen seien mit dem Fallder Mauer noch nicht zu Ende, sein Wunsch sei jetzt,den Tag zu erleben, an dem auch Europa eins gewordenist. Es war ihm nicht vergönnt. Wir haben jetzt dieChance, für uns und unsere Kinder die Sehnsucht diesesgroßen Europäers zu verwirklichen. Von Berlin aus ste-hen wir in der Pflicht für ein Europa, das eines nichtmehr fernen Tages eins geworden ist.
Wir wollen ein Europa auf jenen Grundfesten, die derSPD-Vorsitzende Otto Wels 1933 in seiner Rede gegendas Ermächtigungsgesetz beschworen hat, ein Europa,das den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Gerechtig-keit und der Freiheit verpflichtet ist.
Ich gebe dem Vor-
sitzenden der F.D.P.-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Wir alle wären heute nichthier, wenn es nicht die couragierten Teilnehmer derMontagsdemonstrationen des Jahres 1989 gegeben hätte.
Wir wären nicht hier, wenn sich die Freiheit damalsnicht in gewaltfreiem Widerstand und mit großem En-gagement hätte Bahn brechen können. Das heißt, wirmüssen auch über das Selbstbewußtsein der Deutschenselbst sprechen.Wir schulden den Bürgerinnen und Bürgern der ehe-maligen DDR, von denen viele als Kolleginnen undKollegen heute bei uns im Deutschen Bundestag sind,für dieses Engagement Respekt. Sie haben für die Ver-wirklichung der deutschen Einheit einen großen Frei-heitswillen bewiesen.
Wir tagen hier aber auch, weil es in der alten Bundes-republik Deutschland Persönlichkeiten gab, die in ihrereigenen Biographie den Willen zur deutschen Einheitimmer aufrechterhalten haben, auch in Zeiten, als diesnicht Mode war, als der Wunsch, die deutsche Einheit zuerreichen, sehr stark in die rechte Ecke gedrängt wurdeund als er eher als ein übles Zurückholen falscherBruchstücke der deutschen Geschichte dargestellt wur-de. Eine dieser Persönlichkeiten ist heute hier. Da jederNamen aus seiner politischen Grundrichtung genannthat, möchte ich diesen auch nennen. Es handelt sich umWolfgang Mischnick, dem wir sehr zu Dank verpflichtetsind für das, was er getan hat.
Wir sollten heute weitere Selbstverständlichkeitenbesprechen, und zwar nicht, weil der Ältestenrat bzw.das Präsidium einen akrobatischen Namensvorschlag fürdie Kombination von Plenarbereich und Reichstagsge-bäude gemacht hat. Die Sprache des aufgeklärten Bür-gertums in Deutschland präzisiert den Namen. DieserName ist „Reichstag“. Daran führt keine Wortkombina-tion vorbei.
Das, was wir jetzt in einer Zwischenbilanz der deut-schen Einheit debattieren, wird nicht bestimmt durchdie Bezeichnung „Berliner Republik“ oder „BonnerRepublik“, nicht durch eine Wortbezeichnung für die-ses Gebäude und den Raum, den wir mit parlamentari-schen Debatten ausfüllen, und auch nicht – Herr Bun-deskanzler, das muß ich noch zu Ihrer Regierungser-klärung sagen – durch volkswirtschaftliche Kennzif-fern. Was heute hier besprochen werden muß, ist dieinnere Verfassung der deutschen Nation. Die ist ganzentscheidend.
Damit ist nicht die geschriebene Verfassung gemeint.Die allein reicht nicht. Die Verfassungstradition ist gut.Ich meine die Nationalversammlung in der Paulskirche,den gescheiterten Versuch der Weimarer Reichsverfas-sung, aber dann auch den gelungenen des Grundgeset-zes. Trotzdem spüren wir im innerdeutschen Zusam-menwachsen, daß wir den erneuten ernsthaften Versuchmachen müssen, die Zustimmung der Menschen zumGrundgesetz, zum Vertrag zur deutschen Einheit, zuParlament, Marktwirtschaft, föderativem Staatsaufbauund zum Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Das istwichtig; aber nicht die geschriebene Verfassung istschon die Sache selbst.Der erste Bundespräsident dieser Republik, derenGrundzüge wir hier in Berlin beheimatet sehen wollen,Theodor Heuss, hat gesagt: Die Deutschen brauchen einMaß. – Das heißt, sie brauchen eine Überzeugung fürdie Freiheit, die Klarheit, die Freiheit in ihren Grenzennicht zu überschreiten. Er hat gesagt, man müsse denDeutschen ihren billigen Nationalismus abgewöhnen.Wie wahr in einer Zeit, in der wir wieder spüren, wiebilliger Nationalismus zu Morden führt!
Eine Haltung mit Weitsicht, all das, was die kulturelleDimension einer Freiheit ausmacht, ist mir in Deutsch-land nicht ausreichend ausgeprägt. Wahrscheinlich mußman der eigenen Nation sagen: Es gibt europäischeNachbarländer, die eine breitere kulturelle Dimensionder Freiheit haben. Wenn wir in Deutschland über Frei-heit sprechen, kann man dies kaum tun, ohne die Di-mensionen der Gleichheit und der Gerechtigkeit mit zubeachten, die wichtige Werte sind. Aber Tatsache ist,daß sich in Deutschland die Werte Freiheit und Gleich-heit fälschlicherweise dauernd bekämpfen, daß auf dereinen Seite die Anwälte der Freiheit stehen, die auf deranderen Seite von den Anwälten der Gleichheit konter-kariert werden.Dr. Peter Struck
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2682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999
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Meine Damen und Herren, Gleichheit und Gerechtig-keit sind niemals herzustellen durch einen paternalisti-schen Umverteilungsstaat.
Wer Freiheit will, der muß persönliche Verantwortungübernehmen. Das muß in dieser Zwischenbilanz gesagtwerden. Die Verringerung des Risikos, nach der sichviele sehnen, vernichtet am Ende die Freiheit, weil zurFreiheit untrennbar die Bereitschaft zur Übernahme vonVerantwortung einschließlich des Risikos, scheitern zukönnen, gehört. Das macht im Kern freiheitliche Gesell-schaften aus und nicht nur das, was wir uns angewöhnthaben, mit der Freiheit zu verbinden.Der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, das, waswir an Politik gestalten müssen, ist die unbändige Kraft-anstrengung, Menschen zu eigener Verantwortung zubefähigen, ihnen die Chancen dazu zu geben und ihnenChancengerechtigkeit zu vermitteln. Aber niemals kanndahinter ein Bild der Gleichheit der Ergebnisse stehen.Menschen sind unterschiedlich, und wir müssen denunterschiedlichen Lebensanstrengungen gerecht werden.
Im übrigen – wenn wir ehrlich gegenüber uns selbstsind – haben sich in manchen früheren westdeutschenMilieus Verhaltensweisen entwickelt, die denen sehr an-genähert waren, die ein sozialistisches System bei denMenschen erzeugen wollten. Auch viele bei uns habengeglaubt, es gäbe jährliche Wachstumsraten, ein Staatsei nur legitim, wenn er verteilen kann, wenn er dievolle Dienstleistungsfähigkeit besitzt. Bei vielen hat sichdas Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen gelok-kert, und ist der Ärger über das Gemeinwesen gewach-sen, wenn ein Staat in besonderen Situationen nichtmehr so leistungsfähig war. Es muß in Deutschland dar-auf ankommen, das politische Gemeinwesen in Erinne-rung zu rufen und nicht nur zu glauben, wir lebten ineinem Staat mit dem Verfassungsauftrag zur Wachs-tumsvorsorge.Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir indiesem Land zusammenleben. Das betrifft auch vielealte westdeutsche Erinnerungen. Seit dem Auftreten Mi-chail Gorbatschows hat sich doch nahezu alles verän-dert. Vielleicht haben wir zunächst geglaubt, das beträfe18 Millionen Deutsche in der früheren DDR, die altenRGW-Staaten. Alle westeuropäischen Gesellschaftensind davon erfaßt worden. Nichts ist mehr so, wie esfrüher war.Viele politische Entscheidungen, die wir treffen, tref-fen wir noch immer so, als lebten wir in der alten Welt.Sind wir ausreichend in der neuen Wirklichkeit ange-kommen? Diese Frage stellt sich in einem Zwischenbe-richt zur Lage der deutschen Nation.
Wir stehen heute im weltweiten Wettbewerb. Wirbauen Infrastrukturen auf, wir erheben Steuern und ent-scheiden damit, ob das mobile Kapital kommt oder geht.Wir wissen, daß sich der Wettbewerbsdruck verstärkthat. Mauer und Stacheldraht – das könnte man heutenoch sagen – waren für die alte westdeutsche Politikreichlich bequeme Veranstaltungen. Es gab jährlicheVerteilungen, Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietetmehr?“ und unbegrenzte wirtschaftliche Zuwachsraten.Nun, da sich das geändert hat, frage ich: Haben wir ge-nügend Kraft, Systeme zu ändern, von denen wir wissen,daß sie nicht mehr finanzierbar sind? Jeder sagt dochhinter vorgehaltener Hand: Das geht so nicht mehr weiter.Haben wir nicht zu viele öffentliche Tabuwächter, die unsdaran hindern? Wir wissen doch alle, daß die Arbeitslo-sigkeit die lohnbezogenen sozialen Sicherungsysteme, aufdie sich die soziale Sicherheit von Menschen seit Genera-tionen gründet, an die Grenze der Zerreißprobe gebrachthat. Jeder von uns in diesem Haus weiß, daß die Rentenicht stabil bleiben kann, wenn der Anteil der älteren Per-sonen immer größer, die Lebenserwartung immer höher,der Anteil der Erwerbspersonen immer kleiner wird, dasRenteneintrittsalter sinkt und die Aufnahme von Arbeitimmer weiter hinausgeschoben wird.Bundespräsident Herzog hat doch zu Recht gesagt,daß der Ernstfall in Deutschland zu spät geprobt wird.Er hat hinzugefügt, lebenslanges Lernen sei richtig, aberes sollte bitte im Beruf und nicht als Beruf stattfinden.Daß das Konsequenzen für die sozialen Sicherungssy-steme hat, ist offensichtlich. Wenn man das Bildungssy-stem kritisch anspricht, gilt man schon als Feind derMenschheit, weil man nicht mehr genügend von der so-zialen Sicherheit redet.Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheiteiner Gesellschaft gründet sich auf nichts anderes als aufdie Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, soziale Si-cherheit mit einem freien marktwirtschaftlichen Systemzu verbinden.
Ich spreche diese Themen an, weil ich die Befürch-tung habe, daß eine Politik für Wandel – der KollegeSchäuble hat das in seinem Beitrag angesprochen –, fürVeränderungen von vielen noch zu stark als Bedrohungemfpunden wird. Noch sperren sich zu viele gegen Ver-änderungen. Aber wir wissen alle: Wenn man nichtrechtzeitig verändert, gibt es hinterher große Verwer-fungen, und zwar nicht nur sozialer, sondern auch de-mokratischer Art.Jetzt beginnt doch erst – egal, welcher Partei man an-gehört – die Diskussion um die zentrale Frage, wie sichdie Beschäftigung in Zukunft entwickeln wird. Egal,welches Parteiprogramm man geschrieben hat: DerThemendruck der Zeit wird uns veranlassen, zu anderenLösungen zu kommen, als wir sie heute haben. MancherGewerkschaftstag
wird in zwei bis drei Jahren Themen diskutieren müssen,die vielleicht in ganz anderen Parteiprogrammen stehen,als man heute denkt.
Dr. Wolfgang Gerhardt
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Die sozialen Sicherungssysteme, die wir haben und dieeinen großen Teil der Diskussion ausmachen, begleitenheute die Arbeitslosigkeit, anstatt zum wirklichen Pro-blemlösungsbereich vorzustoßen.Wir diskutieren eine Zwischenbilanz zur Lage derNation Gott sei Dank nicht mehr in den Kategorien Ostoder West. Die Probleme haben uns überall erreicht. DieVeränderungsnotwendigkeiten und der Strukturwandelstehen jedem ganz klar vor Augen. Wir sollten unserenBürgerinnen und Bürgern sagen, daß wir uns nicht nurals Träger einer Erwerbsbiographie Ost oder West emp-finden dürfen. Wir sind nicht die Kunden eines Staates,wir sind Staatsbürger. Ich glaube, daß in Ost wie inWest eine Haltung angebracht wäre, daß wir Beschei-denheit mit Selbstbewußtsein verbinden und daß wir inder Lage sind, uns von einem Staat zu emanzipieren, deruns zwar beschützt, aber uns manchmal in unseren Fä-higkeiten auch beschneidet. Dringend notwendig ist inDeutschland ein Bewußtsein, das nicht nur die Risikensieht, sondern auch die Chancen. Wir haben doch alleChancen in einem Land mit großartiger Infrastruktur,mit einem öffentlichen Bildungswesen, mit föderativerGrundverfassung und mit Garanten wie Bundesverfas-sungsgericht, parlamentarischem System, mit einer offe-nen Wettbewerbsordnung wie der Marktwirtschaft, umunsere Probleme zu lösen.Entscheidend wird sein, ob unsere Gesellschaft insge-samt Kompetenz im Wandel entfaltet und auch zu An-strengungen bereit ist, die jenseits von materiellen An-reizen liegen. Wenn das gelingt, dann können wir opti-mistisch sein, die Zukunft zu bewältigen. Was jetzt not-wendig ist, das ist das neue Bürgerbewußtsein in unse-rem Land, weil wir das Zusammenwachsen wollen, weilwir die Einheit als Glück begreifen, weil wir wissen, daßes ohne Internationalität und europäische Vision nichtgeht. Das sind keine Bedrohungen, das sind Chancen.In der heutigen Debatte – nicht jeder nimmt sie als ein-fache Debatte routinemäßig auf – würde ich gerne sagen:Ja, die viel umstrittene, viel mißverstandene und in vielenKatastrophen gelandete deutsche Nation gibt es. Aber siemuß in ihrem Bürgerbewußtsein begreifen, daß der Staatnicht immer nur die anderen sind. Der Staat sind wir; esgeht also auch darum, wie wir uns verhalten.
Welche Tugenden wir ganz persönlich entwickeln,welche Zivilcourage wir aufbringen und welche Risiko-bereitschaft wir einbringen, wird das internationale An-sehen Deutschlands in den nächsten Jahren bestimmen –nach innen wie nach außen. Darum geht es bei der De-batte zur Lage der Nation und nicht um den nächstenAutobahnkilometer oder hundert weitere Telefonan-schlüsse.Herzlichen Dank.
Das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wer-ner Schulz.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Liebe Gäste auf der Empore! Es ist schon ein schönes,neues und aufregendes Gefühl, hier zu sprechen. Den-noch habe ich mir den Tag der ersten Sitzung des Deut-schen Bundestages im umgebauten Reichstag schon et-was anders vorgestellt: sorgenfreier, feierlich, aber poli-tische Routine letztlich.Angesichts des Krieges im Kosovo wird jedoch dieGeschichte in einer Weise lebendig, daß mir die feierli-che Routine etwas fehlt. Wir müssen über uns selbst, un-sere Geschichte, unsere Stellung in Europa und der Weltin einer Weise neu nachdenken, wie ich es mir vor zehnJahren nicht hätte träumen lassen.Heute sind wir ein Volk, dem dieses Haus gewidmetist. Damit geht die Bundesrepublik Deutschland nach 50Jahren Grundgesetz an den zentralen Ort der deutschenGeschichte zurück und stellt sich der politischen Ver-antwortung dieser Geschichte. Nach dem Mauerbau, dersicher nicht nur eine Sichteinschränkung brachte, konnteman vom Osten aus von diesem Haus eigentlich nur dieFahne sehen, die Fahne, die sich heute in der Glaskuppelspiegelt, die Fahne, die plötzlich massenhaft auf denLeipziger Montagsdemos auftauchte – nicht im natio-nalen Überschwang, sondern als ein Symbol für bürger-liche Freiheit, als Wunsch nach staatlicher Einheit.Wir haben im Prozeß der Einheit im Verlauf derletzten Jahre viel erreicht – trotz der Anfangsfehler undder fatalen Fehleinschätzungen. Die Ostdeutschen habenmit viel Fleiß und mit Hilfe der Westdeutschen einenormes Pensum bewältigt. Es war absehbar, daß derVollzug der Einheit in rechtlicher, sozialer und wirt-schaftlicher Hinsicht mindestens eine Generation dauernwürde. So gesehen, können wir auf das Erreichte wirk-lich stolz sein, ohne uns zufrieden zurückzulehnen.
Auch nach neun Jahren ist längst nicht alles im Lot,sind weitere Fördermittel nötig, ist die Arbeitslosigkeitunzumutbar hoch, steht die Wirtschaft noch auf wackli-gen Beinen, wissen viele nicht, ob man das Ärgste hintersich hat oder jetzt in einer Gesellschaft lebt, deren besteZeiten vorbei sind. Die Bundesregierung hat dem Auf-bau Ost höchsten Stellenwert eingeräumt, damit das Ost-West-Gefälle eher im „Memorial“ statt in der aktuellenStatistik erscheint, damit mehr junge Leute eine Lehr-stelle und Lebensperspektive im Osten finden und damitendlich mehr dorthin ziehen statt von dort weg.Die innere Einheit Deutschlands zu vollenden ver-langt aber nicht nur die bessere Einbeziehung der Men-schen aus den fünf neuen Bundesländern – oder wie die-ses Wortungetüm heißt –, sondern auch die Anerken-nung der ausländischen Mitbürger als gleichberechtigteStaatsbürger.
Ich finde es deswegen gut, Herr Schäuble, daß Sie letz-ten Donnerstag in der Kosovo-Debatte – zwar an unpas-Dr. Wolfgang Gerhardt
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sender Stelle, dennoch möchte ich es noch einmal auf-greifen, damit es nicht verlorengeht – das Angebot ge-macht haben, diese unselige Polarisierung einzustellenund gemeinsam eine tragfähige Lösung zu finden. Ichglaube, das ist auch ein Beitrag zur inneren Einheit.
Die Enttäuschung über die hohe Arbeitslosigkeit unddie Enttäuschung über die Geschwindigkeit des wirt-schaftlichen Aufschwungs haben auch Zweifel an derDemokratie geweckt – nicht nur im Osten, wie das so oftbehauptet wird; wir sollten uns da nichts vormachen.Aus unserer Geschichte wissen wir aber, daß die Demo-kratie nicht auf dem Boden von Armut gedeiht. Ange-sichts weltweiter Veränderungen stehen wir erneut vorder Aufgabe, den Zusammenhalt zwischen Demokratieund Sozialstaat zu festigen. Deshalb dürfen soziale Ge-rechtigkeit und solidarischer Lastenausgleich kein ein-maliger Kraftakt in einem Land sein, das sich der sozia-len Marktwirtschaft verpflichtet hat und guttut, daranfestzuhalten.
Nach der Wiedervereinigung ist die Wiederbelebungder Gesellschaft gefragt, die Verständigung über Bin-dungskräfte, Ziele und gemeinsame Werte. Demokratieist keine Sache von Berufsdemokraten. Der Ruf „Wirsind das Volk!“ sollte nicht als historische Episode, son-dern als Daueranspruch verstanden werden. Die innereEinheit vollenden verlangt eine stärkere Einbeziehungdes Souveräns, was mit der gelegentlichen Einblendungder berühmten Sonntagsfrage nicht getan ist.Mit dem Umzug des Parlamentes verbindet sich dieHoffnung auf eine bessere Qualität und Akzeptanz derPolitik. Die erträgliche Leichtigkeit am Rhein hat einEnde.
Die Standortveränderung wird – davon bin ich überzeugt– auch den Blickwinkel und die Richtung verändern.Der Osten rückt näher, die EU-Osterweiterung wird indoppelter Hinsicht eine naheliegende Aufgabe, die Me-tropolen- und Großstadtkonflikte lassen sich nicht über-sehen.Wenn wir das Bonner Raumschiff verlassen undwirklich in Berlin ausschwärmen, werden wir die neuensozialen Spannungen und die politischen Herausforde-rungen der Gesellschaft erleben.
In Berlin wird sich die Vision der sozialen Stadt testenlassen, Herr Bundeskanzler. Davor muß uns aber nichtbange sein, wenn wir bessere Politik als einen Anspruchan uns selbst, als Rückgewinn von Kompetenz, Legiti-mation und Handlungskraft verstehen. Darum dürfen wirden Kakao, durch den man uns gelegentlich zieht, nichtnoch selbst erzeugen.Hier und heute wird nicht der Plenarbereich Reichs-tagsgebäude, sondern der Deutsche Bundestag einge-weiht.
Mit der Zeit wird sich das im Volksmund herumspre-chen, wenn wir uns zu dieser Republik, ihren Grund-werten und Traditionen bekennen. Bekanntlich sindauch Berliner Taxifahrer helle, und von der Reichsbahnspricht keiner mehr.
Die Politik muß im Parlament geschehen – sichtbarund nachvollziehbar. Das Haus selbst bietet die bestenVoraussetzungen. Es könnte die neue Mitte von Berlinwerden. Wenn wir offen sind, wird es ein Anziehungs-punkt wie zu den Volksfestzeiten der Reichstagsverhül-lung durch Christo. Doch wer politischen Entscheidun-gen ausweicht und selbst immer häufiger das Bundes-verfassungsgericht anruft, muß sich über das gesetzge-berische Echo von dort nicht wundern. Beispiel: Famili-enlastenausgleich. Ich will gar keine einseitige Schuld-zuweisung betreiben, denn das war eine Kopfnuß für unsalle. Bei den vielen Fördertöpfen, die wir haben, müssenwir vor allen Dingen den Nachwuchs unserer Gesell-schaft besser fördern. Das ist eine große Aufgabe für dieKoalition.Nicht nur was vor uns liegt, ist beachtlich. Wir müs-sen in der Politik, beim Autofahren, den Rückspiegel imAuge behalten, um hinter uns liegende, auf uns zurol-lende Gefahren zu erkennen. In unserer Gesellschaft le-ben heute Opfer und Täter aus zwei Diktaturen neben-einander. Wie schwierig die Verständigung selbst nachJahrzehnten ist, hat die Bubis-Walser-Debatte gezeigt.Wieviel schwieriger sie erst ist, wenn die inneren Nar-ben noch frisch sind, können wir daraus ableiten.Ich möchte an dieser Stelle dem Leiter und den Mit-arbeitern der Gauck-Behörde ausdrücklich dafür danken,daß sie in sorgfältiger Kleinarbeit die Aktenablage unddie Mechanismen eines totalitären Herrschaftsapparatesoffengelegt haben.
Es hat nicht die befürchtete Lynchjustiz gegeben, imGegenteil: ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nachAkteneinsicht, Aufklärung und kritischer Auseinander-setzung.Wir dürfen die Akten, Augen und Ohren nicht zuma-chen, sondern müssen aufeinander zugehen. Das ver-langt den Mut des ersten Schrittes, der allemal besser istals die verdrucksten Reaktionen im Blitzlicht der Medi-en. Mag sein, daß etliche die Vergangenheitsdebatte satthaben. Mal flott aus Wittenberg oder anderswo geäu-ßerte Schlußstrich- oder Amnestieforderungen helfenaber nicht weiter.
Werner Schulz
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Im Namen vieler Bürgerrechtler und SED-Opfer er-kläre ich hier: Wir sind zur Versöhnung bereit. Alle,die sich ihrer Mitschuld und ihrer Mitveranwortungstellen, sollten, wenn nicht schon längst geschehen,eine Chance im vereinten Deutschland erhalten. Wahr-lich nicht strenggenommen liefert die PDS sogar denorganisierten Beweis der zweiten Chance. Darum soll-ten Sie den unverschämten Begriff „Siegerjustiz“ fal-lenlassen,
ein Begriff übrigens, mit dem die Unverbesserlichennach dem zweiten Weltkrieg die Rechtsprechung derAlliierten verunglimpft haben.Ich habe Anfang der 90er Jahre darauf gehofft, daßdie Demokratie, ähnlich wie in Ostdeutschland, überallin Osteuropa zum Zuge kommt. Doch wir erleben seitgeraumer Zeit, daß auf dem Balkan ein primitiv-brutalerNationalismus wütet. Hier im ehemaligen Reichstagsollten wir uns daran erinnern, zu welch schrecklichenFolgen der Nationalismus geführt hat. Zuerst wurde dieDemokratie zerschlagen, dieses Haus in Brand gestecktund dann Europa.Heute vor 56 Jahren begann der Aufstand im War-schauer Ghetto. Es war ein heroischer Widerstand der-jenigen Juden, die sich nicht deportieren lassen woll-ten, junge Frauen und junge Männer. Es war keinKampf um das Recht zu leben, sondern um das Recht,würdig zu sterben. Nur wenige sind diesem Infernoentkommen, so der stellvertretende Kommandant Ma-rek Edelmann. Er hat uns schon beim Völkermord inBosnien aufgefordert, dem mit Militär Einhalt zu ge-bieten. Auf meine bange Frage, ob wir Deutschen dorthingehen können, wo wir Unheil angerichtet haben, hater mir damals geantwortet, daß gerade das vereinteDeutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichtenicht das Recht zur Zurückhaltung, sondern die Pflichtzum Eingreifen hat.
Vielleicht lassen sich die Gegenstimmen, die es dazugibt, zumindest von einem solchen Zeitzeugen ins Ge-wissen reden. Mich hat das tief beeindruckt.In diesem Haus liegt ein Vermächtnis, meine Damenund Herren, das heißt: Nie wieder Faschismus, nie wie-der Krieg! Ich bitte, künftig auch die Reihenfolge zu be-achten! Denn „nie wieder Faschismus“ heißt, nie wiederVölkermord, nie wieder Vertreibung, nie wieder Terror,Mord und Totschlag gegen Minderheiten zuzulassen unddamit rechtzeitig Kriege einzudämmen.
Im Interesse aller Europäer geht es darum, daß Natio-nalismus und Rassismus auf diesem Kontinent keineChance bekommen. Deswegen dürfen wir auch im eige-nen Land nicht wegschauen. Von Skinheads und Rechts-radikalen sogenannte „nationalbefreite Zonen“ in Saal-feld, Wurzen oder anderswo sind ein Angriff auf dieZivilgesellschaft.
„Ausländer raus“ ist die Geisteshaltung, die im Extrembis zur Vertreibung der Albaner aus Pristina führt.Wir hatten im letzten Bundestag eine bewegende De-batte zur Wehrmachtsausstellung. Die Bilder von Mas-senexekutionen, um die es da ging, laufen wieder, erst inBosnien, jetzt im Kosovo. Wir sollten nicht nur in Aus-stellungen gehen, sondern auch so weit, um das mit allenMitteln zu unterbinden.
Vielleicht erleben wir mit dem schmerzhaftenNATO-Eingriff zur Wahrung der Menschenrechte dieGeburtsstunde eines neuen Völkerrechts: daß es keinenAnspruch auf Souveränität gibt, wenn eine Staatsmachtauch nur Teile des eigenen Volkes umbringt. Ich habeVerständnis für Zweifel und Respekt vor Bedenken, obman ein solch schlimmes Übel wie Luftkrieg gegen einunerträgliches Übel wie Völkermord einsetzen kann.Doch eines möchte ich hier persönlich klar ansprechen,denn wir suchen je auch die politische Auseinanderset-zung in diesem Haus: Es geht mir schon an die Nieren,wenn Leute, die mich früher mit dem Symbol „Schwer-ter zu Pflugscharen“ als Staatsfeind behandelt haben,mich heute wegen meiner Haltung zum Einsatz im Ko-sovo an den PDS-Kriegspranger stellen.
Gesellschaftswissenschaftler, die uns Lenins „The-sen vom gerechten Krieg“ eingeimpft und den Ein-marsch in die CSSR und Afghanistan als Inbegriff desKlassenkampfes dargestellt haben, Funktionäre, diegegen das Malen von Panzern im Kindergarten, Wehr-kunde in den Schulen, vormilitärische Ausbildung anden Universitäten, gegen die Militarisierung einer gan-zen Gesellschaft kein Sterbenswörtchen verloren ha-ben, weil es ihr Programm war, die nur durch äußerenDruck ihren Kampfgruppenanzug abgelegt haben, ge-hen heute wie Friedensengel auf Demonstrationen, umGregor Gysi zuzujubeln, der wie der unbefleckte Enkelvon Karl Liebknecht so tut, als habe er hier die kaiser-lichen Kriegskredite abgelehnt, und dann etwas späterMilosevic die Hand gibt. Das ist schon atem- undglaubwürdigkeitsberaubend.
Was in Jugoslawien geschieht, verweist auf den Zu-stand Europas. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhun-derts scheint wieder lebendig zu sein. Das Haus Europa,das Michail Gorbatschow skizziert hat, ist ein unfertigesHaus im Umbau, in das immer mehr Bewohner einzie-hen wollen. Wir brauchen jetzt eine verbindliche Haus-ordnung in einem Haus ohne Folterkeller und Todes-Werner Schulz
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zelle. Doch eine solche neue europäische Friedensord-nung bekommen wir nur, wenn wir Europa als Ganzesbegreifen, wenn wir der Gefahr einer erneuten Spaltungentgegentreten. Die innere Einheit zu vollenden heißtheute, die innere Einheit Europas zu festigen und voran-zubringen. Deswegen müssen wir die osteuropäischenReformstaaten, Rußland, auch Serbien in die Demokra-tie mitnehmen.
Ohne demokratischen Fortschritt wird es auch in Ost-europa keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben.Aber ohne sichtbare wirtschaftliche Verbesserung wer-den dort auch die demokratischen Grundregeln nichtgreifen. Wir müssen in unserem Land das Bewußtseindafür schaffen, daß sich der Aufbau Ost nicht mehr al-lein auf die neuen Bundesländer beschränkt. Wer mitmilitärischer Gewalt – bei aller moralischen Berechti-gung – Zerstörung anrichtet, muß auch bereit sein, beider Beseitigung der Schäden, beim Wiederaufbau Serbi-ens, mitzuhelfen. Das ist eine geschichtliche Erfahrung,auf die wir mit Erfolg verweisen, wenn wir vom „EU-Marshallplan“ reden.
Das vereinte Deutschland hat Verantwortung in einerneuen Dimension zu tragen. Deswegen müssen wir un-sere eigenen Probleme schneller lösen. Europa brauchtdas vereinte Deutschland. Daß die Teilung nur durchTeilen überwunden werden kann, hat eine europäischeTragweite bekommen.Natürlich bietet der Umzug vom Rhein an die Spreeauch die Chance zur Inventur. Der Reformbedarf be-stand übrigens schon vor der Vereinigung. Seit Jahrenkommt hinzu, daß sich etliche westdeutsche Ge-brauchsmuster an der ostdeutschen Realität reiben.Möglicherweise steigt jetzt sogar die Veränderungsbe-reitschaft. Für das Grundinventar allerdings gilt dieFormel „Bewahren und erneuern.“ Deswegen halte ichüberhaupt nichts von dem Begriff der „Berliner Repu-blik“,
Für die PDS-
Fraktion spricht nun der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Nicht Gebäude machen Geschichte,sondern Menschen. Den Streit um die Symbolik vonGebäuden halte ich deshalb, von Ausnahmen abgesehen,für eher müßig. Wichtig wird sein, was die Abgeordne-ten und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger hier trei-ben, welche Politik hier gemacht, ob hier Demokratieund Freiheit gelebt und für Frieden, Chancengleichheitund soziale Gerechtigkeit wirksam gestritten wird.
Da es darauf ankommt, was wir hier machen, meineauch ich, ein historisch entstandener Name sollte blei-ben. Das heißt, der Deutsche Bundestag berät in einemGebäude, das Reichstag und nicht anders heißt.
Die Wende in der DDR 1989 vollzog sich friedlich.Die vielen politisch Ohnmächtigen wurden mächtigerund die damals politisch Mächtigen ohnmächtig. Die ei-nen setzten keine Gewalt zur Durchsetzung ihrer Zieleein, und die anderen verzichteten dann auch auf denEinsatz ihrer Gewaltpotentiale, vielleicht weil sie spür-ten, sie könnten höchstens verzögern, nicht aber wirk-sam verhindern. Diese Friedlichkeit, diese Gewaltfrei-heit können wir heute ganz anders schätzen, wenn wiran Jugoslawien und vor allem an das Kosovo denken.Die PDS-Fraktion und ich selbst hatten es aus ver-schiedenen Gründen, von denen wir einen Teil selbst ge-setzt haben, nie leicht im Bundestag. Aber wir habenimmer geschätzt, daß wir hier Dinge sagen können, vondenen wir in der Volkskammer bis 1989 fast nichts hät-ten sagen können. Dennoch macht der öffentliche Um-gang mit der PDS einen Teil auch der kulturellen Pro-bleme der Vereinigung deutlich. Deshalb sage ich Ihnen,Herr Schulz: Der merkwürdigste Vorwurf, den ich hierimmer wieder höre, ist – das wird nach der Aufzählungvon lauter Untaten der SED hinzugefügt –, daß die PDSheute eine andere Position dazu hat; eigentlich ist es derVorwurf, daß wir nicht immer noch so denken wie da-mals. Aber das fände ich wirklich sehr viel schlimmer,und deshalb finde ich diesen Vorwurf ziemlich daneben.
Ich sage meinen Kolleginnen und Kollegen in derFraktion immer: Wir sind nicht hier, damit wir es leichthaben; das wollen wir ja auch gar nicht. Zur Demokratiegehört auch, zu akzeptieren, daß es in einer so zentralenFrage wie der Frage Krieg-Frieden gänzlich voneinanderabweichende Auffassungen gibt. Wenn es aber stimmt,daß über 60 Prozent der Bevölkerung für den Krieg derWerner Schulz
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NATO gegen Jugoslawien und über 30 Prozent dagegensind, dann bleibt doch, daß der letztgenannte Teil derBevölkerung im Bundestag völlig unterrepräsentiert ist.
Ich will es hier noch einmal ganz klar sagen – wie iches übrigens schon im Oktober 1998 im Bundestag inBonn und danach bei anderen Gelegenheiten gesagt undgeschrieben habe –: Die jugoslawische Führung undspeziell Milosevic begingen und begehen schlimmsteMenschenrechtsverletzungen und damit Verbrechen imKosovo. Meine Gespräche am Sonnabend mit vertriebe-nen Kosovo-Albanern in Albanien haben das erneut fürmich dramatisch bestätigt. Dazu darf nicht geschwiegenwerden; dagegen muß auch etwas getan werden. Aber sowie Herr Fischer mit Herrn Milosevic geredet hat, damites gar nicht erst zum Krieg kommt, so habe ich halt mitihm geredet, um zu sehen, ob es einen Weg gibt, ausdiesem Krieg herauszukommen.
Aber die PDS ist und bleibt auch eine entschiedeneGegnerin des völkerrechtswidrigen Krieges der NATOgegen Jugoslawien. Es leiden immer die Völker, nichtdie politisch Verantwortlichen. Zerstörte Wasserwerkeund Heizkraftwerke, zerstörte Düngemittelfabriken tref-fen die serbische Bevölkerung und nutzen keinem Ko-sovo-Albaner.Es entstehen immer mehr Haß und Feindschaft. Deshalbmuß der NATO-Krieg ebenso beendet werden, wie dieVerbrechen im Kosovo beendet werden müssen.
Deshalb brauchen wir wieder Politik, Gespräche, Di-plomatie und auch Wirtschaft statt Krieg. Die Bombenauf Jugoslawien haben die Leiden der Kosovo-Albanernicht gelindert; sie sind im Gegenteil ständig schlimmergeworden.Am 3. Oktober 1990 gab es die staatliche Vereini-gung in Deutschland. Aber deshalb sind die Gesell-schaften noch lange nicht vereint. Ein Grundproblem,das sich in Polen, Tschechien und anderen osteuropäi-schen Ländern nicht stellte: Als die DDR unterging,wurde aus ihr nichts wirklich existentiell im vereinigtenDeutschland gebraucht. Vieles ging unter, und vieles,was blieb, blieb nicht aus Notwendigkeit, sondern imWege der Gnade. Das gilt für die Wirtschaft, die Wis-senschaft und die Kultur. Die Ostdeutschen wollten abernicht Gnade, sondern Respekt. Das ist der Kern derkulturellen Differenz.Wenn Sie, Herr Schäuble, sagen, daß die Leistungender Ostdeutschen ohne ihr Verschulden außer im Sportzu nichts geführt hätten, so sage ich: Das ist eben nichtwahr. Dieser Satz ist nicht ausreichend. Haben sie wirk-lich zu nichts geführt? Gab es nicht auch respektableFilme der DEFA? Gab es nicht auch ausgezeichnete In-szenierungen an Theatern und Opern? Gab es nicht auchsozialverträgliche Mieten und Kindergärten? Vieles mußund kann man an der DDR scharf kritisieren. Wenn manaber solche positiven Dinge nicht sieht und von ihnen-nicht spricht, wird die kulturelle Differenz nur vertieft,weil man dann die Alltagserfahrungen der Ostdeutschennegiert.
Demütigend ist und bleibt, wenn die neuen Bundes-länder in einigen alten Bundesländern häufig vor allenDingen als Kostenfrage diskutiert werden. HerrSchäuble hat sich darüber beschwert, daß von Siegernund Besiegten gesprochen wird. Aber wenn Hundert-tausende in Prozesse zu ihrem Grundstückseigentumund ihren Nutzerrechten verwickelt werden und vieleihr Grundstück tatsächlich verlassen müssen, dannempfinden sie es eben so. Warum ist es eigentlich bisheute nicht gelungen, endlich dafür zu sorgen, daß alleAusbildungsabschlüsse aus der DDR anerkannt wer-den?
Was wurde eigentlich dagegen getan, daß sich die Ge-hälter und Löhne in den neuen Bundesländern zwischen60 und 85 Prozent der Gehälter und Löhne in den altenBundesländern eingependelt haben, daß die Preise je-doch bei 100, zum Teil sogar bei über 100 Prozent lie-gen? Das verträgt sich einfach nicht miteinander. Dasführt nicht nur zu sozialen, sondern auch zu erheblichenkulturellen Differenzen. Menschen in den neuen Bun-desländern verlieren ihre Grundstücke heute häufig we-gen überhöhter Wasser-, Abwasser- und Straßenbaube-teiligungsgebühren. Das ist für sie – wie ich finde, zuRecht – nicht nachvollziehbar. Man hätte so etwas niezulassen dürfen.Natürlich ist im Osten auch vieles aufgebaut worden:Stadtzentren, Telekommunikation, Wohnungen, ichkönnte noch vieles andere nennen. Das alles ist wahr.Der Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen aber istdie Kehrseite. Arbeitslosigkeit ist überall schlimm; sieist im Osten jedoch doppelt so hoch wie im Westen. Esist eine Tatsache: Seit der Vereinigung hat Reichtum inder Gesellschaft zugenommen; aber auch Armut ist be-achtlich angewachsen. Mit der Einheit kommen wirmeines Erachtens in dem Maße voran, in dem wir Ar-beitslosigkeit wirksam bekämpfen, soziale Gerechtigkeitherstellen und Extremismus, Ausländerfeindlichkeit undRassismus überwinden.Als Berliner möchte ich Ihnen noch gerne sagen: WirBerliner sind manchmal etwas muffelig, das ist wahr.Ich will auch nicht bestreiten, daß wir gerne meckern.Wir sind aber eigentlich nicht weniger herzlich alsRheinländer. Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie einfachgerne. In Berlin kulminieren alle Widersprüche dieserGesellschaft und auch der Vereinigung. Begreifen wirBerlin als Herausforderung und nehmen wir diese Her-ausforderung an, weil es auch eine Chance ist –
für uns, für die Menschen in der BundesrepublikDeutschland und für unsere Nachbarn. Wir sollten auchin diesem Gebäude demonstrieren: Einheit verlangtnicht Einheitlichkeit, sondern Anerkennung und Respektin der jeweiligen Unterschiedlichkeit.
Dr. Gregor Gysi
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Ich gebe das Wortdem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr.Manfred Stolpe.
Herren! In dieser Stunde stellen wir dankbar fest, daßWort gehalten wurde: Wort gehalten an den Beschlüssendes Deutschen Bundestages seit 1949, Wort gehalten amEinigungsvertrag und Wort gehalten am Beschluß überdie „Vollendung der Einheit Deutschlands“. Auch wassich vor zehn Jahren im Frühjahr 1989 ankündigte, alsdie Unzufriedenheit Tausender DDR-Bürger über Un-freiheit, Gängelei und deutsche Trennung drängenderwurde, hat heute ein wichtiges Ziel erreicht: Der Umzugdes Bundestages nach Berlin ist das vollzogene Be-kenntnis zu Einheit und Freiheit für alle Deutschen.Vor zehn Jahren, am 19. April 1989, machte ich inmeinem persönlichen Tagebuch drei Eintragungen: Mitder DDR-Regierung war über eine Vereinfachung derBesuchsreisen nach Westberlin zu sprechen – erfolglos;mit dem Bezirk Cottbus gab es Streit wegen dessen For-derung, schon die Anfertigung von Kopien staatlich ge-nehmigen zu lassen; am Kloster Chorin verhandelte eineMenschenrechtsgruppe über den Zusammenhang vonsozialen Rechten und Freiheitsrechten.Die Menschen in der DDR begannen, offen zu reden;bisherige Tabus galten nicht mehr. Was jahrzehntelangertragen wurde, war unerträglich geworden. Da bahntesich etwas an, was in seinen Dimensionen und Wirkun-gen noch niemand richtig erahnen konnte. Es folgte einefriedliche Revolution, in der die einen den Mut zur offe-nen Auflehnung fanden und die anderen ihren Machtap-parat nicht zur blutigen Unterdrückung einsetzten.Am Ende haben sich die Menschen in der DDR infreier Selbstbestimmung für die staatliche Einheit ent-schieden. Wir haben mit dieser Entscheidung damals ei-nen Wechsel auf die Zukunft unterschrieben und durftenauf Fairneß und Grundsatztreue der Vertragspartner wieauch der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublikvertrauen.Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren voll-zog sich in Deutschland eine erstaunliche und großartigeGemeinschaftsleistung: Die Deutschen im Osten zeigtenumfassenden Veränderungswillen, trugen geduldig dieLasten des radikalen Umbruchs und schufen eine be-achtliche Aufbauleistung. Die Deutschen im Westenbewiesen eine historisch unvergleichbare Solidaritätdurch einen riesigen Finanztransfer und ZehntausendeAufbauhelfer in Verwaltung und Wirtschaft des Ostens.
Im Ergebnis sind die gesellschaftlichen Strukturen ge-staltet und die Grundlagen für eine wettbewerbsfähigeWirtschaft geschaffen worden.Die deutsche Einheit – und in deren Folge die Ent-scheidung für den Umzug von Parlament und Regierung– ist der Wille des Volkes und das Ergebnis der europäi-schen Entspannung. Ohne europäischen Friedensprozeßfür Sicherheit und Zusammenarbeit wäre das Wunderder Einheit nicht Wirklichkeit geworden.
Dank und Respekt zollen wir der Bereitschaft der vierSiegermächte und den europäischen Nachbarstaaten, diedeutsche Einheit ermöglicht und gebilligt zu haben.Nach allem, was Deutsche anderen Menschen angetanhaben, durften wir dieses Vertrauen nicht selbstver-ständlich erwarten. Wir werden es auch von Berlin ausrechtfertigen.
Nun also konnten die Deutschen zusammenkommen.Schon bald aber mußten wir feststellen, daß der deutsch-deutsche Umgang gelernt sein will. Denn der Einheitgingen 45 Jahre einer sehr verschiedenen politischen,wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung imgeteilten Deutschland voraus. Da sind unterschiedlichesoziale Systeme entstanden, die auch die Menschen un-terschiedlich geprägt haben.Wir im Osten erlebten nun einen dreidimensionalenUmbruch: Da ist zum einen der Wandel der politischenStruktur, der Übergang von einer Diktatur mit all ihrenFormen der Repression zu einem demokratische Rechts-staat. Da ist zum anderen der wirtschaftliche Wandel,der Übergang von einer Staatsplanwirtschaft zur Wett-bewerbswirtschaft. Schließlich – was gelegentlich über-sehen wurde – ist da die dritte Dimension, der Umbruchfür den einzelnen, der Übergang von einem Bevormun-dungssystem, das von der Wiege bis zur Bahre reichte,hin zu einem System der Eigenverantwortung und derSelbstbehauptung. Diese subjektive Seite ist es, die vielVerunsicherung mit sich bringt. Denn die Umstellungfür den einzelnen war radikal. Die Erfahrungen sind oftein Schock gewesen, vor allem die nicht erwarteten Er-fahrungen, zu denen insbesondere die unerwartete Mas-sen- und Langzeitarbeitslosigkeit gehört.
Die Biographie jedes einzelnen, alle individuellenLebensentwürfe und Lebenssicherheiten, alle Perspekti-ven und Kalküle wurden auf den Kopf gestellt. Es gibtkaum eine Familie zwischen Elbe und Oder, in der sichnicht mindestens ein Mitglied beruflich völlig neu ori-entieren oder – schlimmer – aus dem Arbeitsprozeß aus-scheiden mußte.Und doch kann ich diese Empfindung der großenMehrheit der Menschen in den neuen Ländern vermit-teln. Bei allen Problemen und manchem Schmerz, dermit dem Veränderungsdruck und mit einzelnen Folgendes Umbruchs einhergegangen ist: Wir haben die neuenFreiheiten und Möglichkeiten als große Bereicherung er-fahren.Aber eines ist für die Deutschen in Ost und Westnoch zu tun. Wir wissen noch zuwenig voneinander; wirkommen dadurch zu schnell zu Mißverständnissen undVorurteilen. Meine Damen und Herren, nutzen wir alleden künftigen Sitz von Parlament und Regierung inBerlin als eine Möglichkeit, uns besser kennenzulernen,voneinander zu lernen und die Chancen unterschiedli-
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cher Erfahrungswerte anzuwenden. In vielen Unterneh-men im Osten kann man zum Beispiel erfahren, wie er-folgreich eine gemischte Ossi-Wessi-Geschäftsführungsein kann.Ich freue mich darauf, daß nun viele Neue aus demWesten, dem Norden und dem Süden unseres Vaterlan-des in diese Region kommen. Vertrauen Sie mir bitte:Ihnen wird nicht nur das hiesige Klima, sondern auchdie Weite des Landes, die einen freien Blick gewährenkann, gut gefallen und guttun.
Um Berlin herum erwarten Sie über 3 000 Seen undDeutschlands größte Waldgebiete, viele kleine Dörfer,nicht allzu große Städte sowie 700 Schlösser und Her-renhäuser – einige sind noch zu haben –,
und nicht zuletzt erwartet Sie der rauhe Charme derMärker. Sie, die Neuankömmlinge im Osten, werdenselber erfahren können, wie es denn nun um die innereEinheit der Deutschen steht.Meine Damen und Herren, dabei warne ich vor Über-frachtung des Begriffs und rate zu nüchterner Betrach-tung. Denn es gilt, was die Deutschen in Ost und Westgewollt und gewählt haben: Es gibt heute in ganzDeutschland ein demokratisches System, das auf Betei-ligung der Bürgerinnen und Bürger fußt, ebenso Rechts-sicherheit, Bewegungsfreiheit und ökonomische Effizi-enz. Das sind gemeinsame Grundlagen, und das ist viel.Die Grundprinzipien der Verfassung werden von großenMehrheiten in Ost- und Westdeutschland getragen. Glei-ches gilt für die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.Die Identifikation mit dem vereinten Deutschland ist ge-geben. Auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit istvorhanden, trotz aller gepflegten Vorurteile, die es zwi-schen West und Ost und schließlich auch zwischen Nordund Süd gibt. Übrigens war uns dieses Problem auch inder ehemaligen DDR durchaus geläufig.Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen liegtnicht in der Akzeptanz der Staats-, Rechts- und Werte-ordnung, sondern in den unterschiedlichen persönlichenErfahrungen mit der Funktionsfähigkeit sozialer Markt-wirtschaft. Vom Verlauf dieser Erfahrungen hängt fürdie Zukunft viel ab, vom Empfinden, im gleichen Maßewie im Westen auch im Osten Deutschlands faire Chan-cen wahrnehmen zu können. Erst damit werden die Ost-deutschen die Zeit des Übergangs als abgeschlossen unddie innere Einheit als vollzogen ansehen können.Willy Brandt war sich der Bedeutung der Chancen-gleichheit und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnissefür die nationale Identität bewußt. Er war es, der mit derpolitischen Einheit die soziale Abfederung des Eini-gungsprozesses anmahnte, der darauf achtete, daß Be-schwörungen nationaler Zusammengehörigkeit nicht da-von ablenkten, die Arbeitslosigkeit und eine ungerechteLastenverteilung zu bekämpfen.Weil wir nicht riskieren dürfen, daß die sozialen Fol-gen der Einheit zum Sprengsatz für die Grundwertewerden, auf denen sie basiert, nämlich Menschenwürde,Freiheit und Demokratie, müssen wir – nun von Berlinaus – alles tun, um den Menschen in Ost und West überArbeit und Einkommen ihre persönliche Perspektive imvereinten Deutschland erfahrbar zu machen.
Dafür darf ich fünf Bitten aussprechen, um die sozial-ökonomischen Grundlagen im Osten Deutschlands zufestigen:Lassen Sie uns mehr tun, um die schwache industri-elle Basis auszubauen. Helfen wir den HunderttausendenExistenzgründern, die an Kapitalmangel und Zahlungs-verweigerung leiden. Stärken wir Kultur-, Sport- undFreizeitangebote als soziale Integrationshilfe geradeauch für Jugendliche. Verbessern wir die noch schwacheInfrastruktur und ungenügende Lebensqualität vor allemin großen Wohngebieten.Stellen wir uns darauf ein, daß in benachteiligten Re-gionen noch etwa zehn Jahre Arbeitsförderungsmaß-nahmen und Ausbildungsprogramme nötig sein werden.Das alles ist zu schaffen. Es ist wenig, gemessen anunserer bisherigen Gemeinschaftsleistung; aber es wirdschließlich ganz Deutschland dienen. Denn dieses Landmuß leistungsfähig sein, um wirksam für Frieden undMenschenrechte in Europa und darüber hinaus einzu-treten.
Lassen wir uns an diesem Tag dazu ermutigen.
Das Wort für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat der Kollege Michael
Glos.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Noch vor zehn Jah-ren war es für viele von uns ein Traum, daß die TeilungBerlins und die Teilung Deutschlands so schnell über-wunden werden könnten. Der Wettstreit der Systeme istganz klar entschieden: Die Menschen im Osten habenFreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialeMarktwirtschaft gewählt. Wir haben zu allen Zeitenimmer daran geglaubt – das haben nicht alle in diesemHause getan –: Mauer, Stacheldraht und Schießbefehlkonnten nicht das letzte Wort in der deutschen Ge-schichte sein.
Die Menschen in der damaligen DDR haben imHerbst 1989 ein großartiges Kapitel deutscher Ge-schichte geschrieben und durch ihre friedliche Revoluti-on in die Tat umgesetzt. Bei der ersten freien Volks-kammerwahl wurde den Kommunisten eine klare Absa-ge zuteil. Es wurde für die Einheit Deutschlands votiert.
Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe
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Es ist durchaus keine Selbstverständlichkeit – inso-fern ist es ein ganz großer Tag –, daß wir heute imReichstag in Berlin unsere Arbeit als frei gewähltesParlament aufnehmen können. Ich erinnere mich sehrgenau an die vielen Fraktionssitzungen, die insbesonderedie CDU/CSU-Fraktion in diesem Gebäude abgehaltenhat, oder an die vielen damaligen Ausschußsitzungen,als Autos der sowjetischen Militärkommission ständigum diesen Bau kreisten. Gerade wir von der CSU warendamals immer geschlossen vertreten und haben damitauch ein Bekenntnis unseres Glaubens an die EinheitDeutschlands abgelegt.
Es muß auch in dieser Stunde daran erinnert werden:Es war der verstorbene frühere Parteivorsitzende derCSU, Franz Josef Strauß, der die damalige Klage derBayerischen Staatsregierung initiierte, mit der ein ent-sprechendes Urteil zum Grundlagenvertrag erstrittenwurde und mit der die deutsche Einheit nicht nur histo-risch, sondern auch rechtlich offengehalten wurde.
Wir haben nie einen Zweifel an unserem Willen zurWiedervereinigung gelassen. Die deutsche Währungs-union, die ein mutiger Schritt von Helmut Kohl undTheo Waigel gewesen ist, hat einen ganz entscheidendenBeitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet undhat sie unumkehrbar gemacht.
In dieser historischen Stunde ist es angebracht, auch fürdiese Leistung ganz herzlich zu danken.
Das deutsche Vaterland hat die volle innere und äußereSouveränität in Freiheit wiedererlangt. Ohne die Einbin-dung der Bundesrepublik Deutschland in die freiheitlichewestliche Werte- und Verteidigungsgemeinschaft wäredies alles in dieser Form sicherlich nicht erreichbar gewe-sen. Nun wissen wir, daß Bündnisse keine Schönwetter-veranstaltungen sind und daß unsere Solidarität und unserEinsatz im Bündnis jetzt gefordert sind. Wir werden unsals treue, verläßliche Bündnispartner erweisen.In vier Wochen, am 23. Mai, können wir mit Stolzauf den 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgeset-zes der Bundesrepublik Deutschland zurückblicken. DasBonner Grundgesetz war und ist ein Glücksfall für unserLand. Das Grundgesetz mit seinen demokratischenSpielregeln und seinem Katalog von Grundrechten stellteine fundamentale Wertentscheidung für die Deutschendar. Die Annahme unserer Verfassung war eine Ent-scheidung für die politische Freiheit und gegen den To-talitarismus. Sie war eine Entscheidung für den Rechts-staat und gegen die Gewaltherrschaft, und sie war vorallen Dingen eine Entscheidung für eine liberale und ge-gen eine kollektivistische Wirtschaftsordnung.
– Das ist das, was Sie immer gewollt haben!Es war gut und richtig, nach dem Beitritt an unsererbewährten Verfassung festzuhalten. Auf dieser Grundla-ge werden wir auch die künftigen Herausforderungenbewältigen. Der Umzug von Parlament und Teilen derRegierung in die Bundeshauptstadt Berlin darf nicht alshistorische Zäsur verstanden werden. Die Zukunft ge-hört auch in Europa dem Föderalismus und nicht demZentralismus. Ich freue mich, daß der Bundeskanzlerauch heute noch einmal ein Bekenntnis dazu abgelegthat. Wir werden ihn auch in Zukunft daran messen.Wir sind ganz sicher: Die Länder sind das Fundamentdes Hauses Deutschland. Wir werden als CSU gerade inBerlin ein ganz besonderes Wächteramt hinsichtlich desFöderalismus ausüben. Deswegen müssen wir bei allenEntscheidungen in diesem Haus bedenken, daß dieKompetenzen der Länder gewahrt bleiben und nichtweiter ausgehöhlt werden. Sie müssen gestärkt werden.
Wir müssen uns hüten, Frau Präsidentin, einer schlei-chenden Aushöhlung der Länderzuständigkeiten dasWort zu reden oder im Parlament sogar unsere Hand da-für zu erheben.
Ein lebendiger Föderalismus ist in einer Zeit zuneh-mender Globalisierung wichtiger denn je. Wer allerdingsja zum Föderalismus sagt, der muß auch ja zum Wett-bewerbsföderalismus sagen; denn es ist ganz entschei-dend, daß diejenigen, die überdurchschnittliche An-strengungen unternehmen, von den Früchten der An-strengungen ein Stück profitieren können. Gleichmache-rei löst letztendlich kein Problem, und deswegen tretenwir auch für den Wettbewerbsföderalismus ein.
Dieser Wettbewerbsföderalismus ist nur richtig mög-lich, wenn es starke und leistungsfähige Bundesländergibt. Deshalb brauchen wir in einem geeinten Europader Nationen und Regionen klare Zuständigkeiten. Auchdarüber muß in diesem Hause gestritten werden.Deutschland ist auf dem Wege der Vollendung seinerEinheit. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostund West ist weit vorangeschritten. Man kann sagen, dasGlas sei halb voll oder halb leer. Für mich ist das Glashalb voll. Wahr ist: Insbesondere der wirtschaftliche Ei-nigungsprozeß ist schwieriger, als wir es uns alle vorge-stellt haben. Das lag aber auch daran, daß das Ausmaßder Zerstörung, die Kommunismus und real existieren-der Sozialismus ausgelöst haben, sehr viel größer gewe-sen ist, als wir es uns alle insgesamt vorgestellt haben.
Wahr ist auch: Die Solidarität in Deutschland ist ohnehistorischen Vergleich. Die Menschen in Ost und Westleisten gleichermaßen Beispielloses. Der Prozeß der in-neren Einheit und des inneren Zusammenwachsens istaber nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig. UnsereNation lebt von gemeinsamen geistigen und wertemäßi-gen Grundlagen. Eine dieser Grundlagen muß wiederMichael Glos
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stärker hervorgehoben werden. Wie wir in Umfragen le-sen, ist die Grundlage der Freiheit etwas in den Hinter-grund getreten. Ich glaube, daß das der falsche Weg ist.Eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsord-nung gründet auf Eigenverantwortung und Solidarität.Wer allerdings Solidarität erwartet, der muß auch bereitsein, Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist etwas,was wir den Menschen im Land wieder stärker ins Be-wußtsein rufen müssen, und zwar in beiden Teilen unse-res Landes.
Die Mahnung richtet sich auch an uns hier in diesemHaus: Politik, Staat und Gesellschaft, Schulen und In-stitutionen müssen wieder verstärkt Werte vermitteln,auf denen der moralische, politische und letztendlichauch wirtschaftliche Wiederaufbau nach 1945 gelungenist.Eine weitere Mahnung, die wir beherzigen müssen:Gewalt darf in Deutschland niemals wieder eine Chancehaben. Das müssen wir auch – heute ist soviel von unse-ren ausländischen Mitbürgern gesprochen worden – denausländischen Mitbürgern und Gästen sagen, die inDeutschland leben. Vorhin hat der Kollege Schulz an-gemahnt – Wolfgang Schäuble hat am vergangenenDonnerstag, wie ich meine, zu Recht, noch einmal einenbreiten Konsens bei der Staatsbürgerschaft gefordert –,vielleicht doch noch einmal Gespräche, auch außerhalbdieses Hauses, aufzunehmen, um in dieser existentiellenFrage zu einem Konsens zu kommen. Deswegen fordereich namens der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregie-rung noch einmal auf, in diese Gespräche einzutreten.Diese haben ganz viel mit der inneren Einheit unseresLandes zu tun.
Es wird in diesen Tagen sehr bewußt: Das geeinteDeutschland übernimmt Verantwortung für Frieden,Freiheit und Menschenrechte in Europa. Auch künftigmuß deshalb unser Platz immer an der Seite unsererwestlichen Partner sein. Fünf Jahrzehnte ist Deutschlandvon Bonn aus regiert worden. Es waren fünf gute Jahr-zehnte für unser Vaterland. Der Wechsel vom Rhein andie Spree darf nicht mit einer Verschiebung der politi-schen Grundachse Deutschlands und seines politischenKoordinatensystems einhergehen.
Michael Stürmer sprach gestern in der „Welt am Sonn-tag“, sich auf Goethe berufend, von der Angst der Deut-schen vor einer Hauptstadt. Die CSU, wir alle habenkeine Angst vor einer Hauptstadt. Wir sind selbstbewußtgenug, zu wissen, daß es auch noch genügend andereZentren gibt, die wir in Deutschland pflegen. UnserLand besteht aus dieser Vielfalt.Aber Berlin muß ebenso wie Bonn ein Synonym für in-nen- und außenpolitische Berechenbarkeit, für Konti-nuität und selbstverständlich für Liberalität werden undbleiben. Deswegen gibt es für mich keine „Berliner Re-publik“, genausowenig wie es je eine „Bonner Repu-blik“ gegeben hat. Es geht um die gemeinsame deutscheRepublik, die wir insgesamt weiter pflegen und voran-bringen wollen.Ein Allerletztes. Mir gefällt dieses Haus, unser Berli-ner Parlament. Seien wir doch selbstbewußt genug, es sozu nennen, wie es die Leute nennen: Der Bundestagwird künftig im Reichstag tagen.Herzlichen Dank.
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Sabine Kaspereit.
Herr Präsident! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Anläßlich der Übernahmedes Reichstagsgebäudes durch den Deutschen Bundestagdrängt sich die historische Würdigung dieses Tagesförmlich auf. Es ist aber von unserem Parlamentspräsi-denten, dem Bundeskanzler und den meisten meinerVorredner schon viel dazu gesagt worden. Ich will denWürdigungen der Geschichte des Reichstages nicht nocheine weitere hinzufügen.Ich will von meinen Gefühlen sprechen, die mit demReichstag verbunden sind. Tief bewegt und auch einbißchen stolz darauf, heute an dieser Stelle stehen zudürfen, kann ich nicht sagen, daß sich mir ein Traum er-füllt hätte. Wie hätte ich davon träumen können? Fürmich war der Reichstag eine Ruine, auf die ich als DDR-Kind, wenn ich nur nahe genug an die Mauer herankam,einen sehr eingeschränkten Blick hatte – intellektuellund vor allem visuell. Später war der Reichstag einSymbol der Verbundenheit der Westdeutschen mit derInsel Westberlin und noch später die Kulisse für laut-starke Rockkonzerte, die den DDR-Oberen so schrill inden Ohren klangen, daß es mich freute, auch wenn ichselbst nur das Echo der Konzerte in den DDR-Medienwahrnahm.Als ich 1994 als Abgeordnete die konstituierende Sit-zung des 13. Deutschen Bundestages in den Mauern desReichstages erlebte, bekam dieses Haus plötzlich eineandere Dimension für mich. Ich empfand die Wucht undSchwere des Gemäuers als Verantwortung auf meinenSchultern. Daran hat auch der spielerische UmgangChristos mit seiner zauberhaften Verhüllung nichts ge-ändert. Es geht eine Ausstrahlung von diesem Hauseaus, der man sich nur schwer entziehen kann. Wofürsteht dieser Koloß? Steht er für parlamentarische Demo-kratie? Steht er für deren Ende durch die Nazis? Steht erals Symbol des Sieges über die Nazis?Für mich steht er heute als Symbol für den Neuan-fang nach 40 Jahren SED-Regime. Voraussetzung dafürwar der Fall der Mauer, die meine Landsleute aus demOsten zum Einstürzen gebracht haben.
Dieser Neuanfang nach dem Fortfall der Konfrontati-on der Blöcke fordert von uns Parlamentariern innen-wie außenpolitisch mehr Sorgfalt und komplexereMichael Glos
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Sichtweisen sowie mehr Verantwortungsbewußtsein,damit wir die Chance einer langfristigen und allseits ge-achteten Friedensordnung ergreifen können. Dies sageich auch und gerade vor dem Hintergrund der Gescheh-nisse im Kosovo.Für uns Ostdeutsche mit unserer viel aktuelleren, län-geren und auch tiefgreifenderen Diktaturerfahrung, alsdie Westdeutschen sie haben, ist die Rückkehr der ge-samtdeutschen parlamentarischen Demokratie nachBerlin eine besondere Freude und Genugtuung.
Mit dem Widerstand gegen die Verweigerung einerwirklichen parlamentarischen Repräsentanz in der DDRhat angefangen, was wir heute als die gewaltlose Revo-lution des Herbstes 1989 bezeichnen. Mit dem Ruf nachfreien Wahlen hat die Entmachtung des DDR-Machtapparates begonnen, und sie wurde sozusagendurch „Ersatzparlamente“ weitergeführt, durch die run-den Tische auf kommunaler, bezirklicher und nationalerEbene. Natürlich waren diejenigen, die an den rundenTischen saßen, nicht gewählt, und die Zusammenset-zung war auch nicht repräsentativ. Aber die runden Ti-sche hatten etwas, was ein Parlament neben der ein-wandfreien demokratischen Legitimation durch Wahlenbraucht: Sie hatten das Vertrauen all derer, die schonlange kein Vertrauen mehr in ihre Staatsführung gehabthatten.
Die runden Tische waren offen für alle.Warum spreche ich diese Erfahrungen und Erinne-rungen an? Weil wir heute einen neuen Abschnitt deut-scher Geschichte beginnen, der ohne das eben Gesagteüberhaupt nicht denkbar wäre und zu Zeiten der deut-schen Teilung trotz aller Sonntagsreden von allen Seitenauch nicht gedacht worden ist. Deshalb hätte ich nie da-von träumen können, heute hier zu stehen.Das Vergangene der 40 Jahre vor 1989 und sein Endedürfen genausowenig vergessen werden wie das der Jah-re vor 1945. Das Verwerfliche daran darf nicht von Ge-wohnheit und Gleichgültigkeit des täglichen Lebens unddes politischen Alltags glattgeschliffen werden. Ich willnicht zulassen, daß im Schatten von Rechtsradikalen dasUnrecht des DDR-Systems bis zur Unauffälligkeit ver-schwimmt.
Wer konsequent die Verfolgung von Machenschaftenbei der Privatisierung volkseigener Betriebe fordert,kann nicht gleichzeitig einen Schlußstrich unter dasUnrecht ziehen wollen, unter dem zwar unmittelbarnicht die Mehrheit der DDR-Bürger zu leiden hatte,aber mit Sicherheit jeder, der sich dagegen aufzulehnengewagt oder den Versuch unternommen hat, ihm zuentkommen.
Wenn wir von symbolischen Sitzungen der Bundes-tagsfraktionen und der Bundesversammlungen absehen,begann politisches Leben eigentlich erst mit der demo-kratischen Volkskammer nach den ersten freien Wahlenin der DDR in den Reichstag einzuziehen.Die Bundestagsfraktion der SPD hat sich als ersteganz bewußt dafür entschieden, den Reichstag für dieZusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Abge-ordneten der Volkskammer zu nutzen. Die anderen da-maligen Bundestagsfraktionen sind ihr in unterschiedli-cher Weise bald gefolgt. Das Reichstagsgebäude alsBindeglied zwischen den frei gewählten Parlamentender beiden deutschen Staaten – das ist unter den Funk-tionen, die dieses Haus je innehatte, wahrlich nicht diegeringste.
Ich denke, das dürfte den 99jährigen Sozialdemokra-ten Josef Felder, den einzigen noch lebenden Abgeord-neten des Reichstages, der diese Debatte von Münchenaus sicher verfolgt, sehr freuen.
Ich möchte Josef Felder von dieser Stelle aus sehr herz-lich grüßen.
Der Alltag der deutschen Einigung nach den Festta-gen des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990zeigt: Dies waren nur die Feiern zur Grundsteinlegung.An der Vereinigung muß noch lange und auch hart gear-beitet werden. Anstrengende Arbeit ist nicht nur bei derWirtschaftsförderung und der Angleichung der Lebens-verhältnisse erforderlich, sondern sie muß auch beimZusammenführen zweier Gesellschaften geleistet wer-den, deren Entwicklungswege nicht unterschiedlicherhätten sein können.Vieles ist erreicht worden. Die Westdeutschen habenhingenommen, daß ihr Realeinkommen ungefähr aufdem Stand von 1990 verharrt. Die Ostdeutschen habensich tiefgreifenden Veränderungen unterzogen. Vielehaben in den vergangenen neun Jahren mindestens ein-mal den Arbeitsplatz wechseln müssen oder die Erfah-rung von Arbeitslosigkeit gemacht. Vor allem die Frau-en in den neuen Bundesländern betrifft der Wandel oftgenug negativ.
Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig.Wenn es auch der Mehrzahl der Ostdeutschen heutedeutlich besser geht als im Jahre der Vereinigung, so istdie Vereinigung doch nur an wenigen ohne Spuren vor-beigegangen. Für das Viele, was noch zu tun bleibt, ver-sprechen wir ostdeutschen Parlamentarier uns von einemin Berlin arbeitenden Bundestag ein genaueres Hinsehenauf das, was in den neuen Ländern geschieht, eine un-mittelbarere Erfahrung der Gemeinsamkeiten und Ge-gensätze von Ost und West sowie die schnellere undSabine Kaspereit
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wirksame Umsetzung der daraus gewonnenen Erkennt-nisse in politisches Handeln.Ein guter Freund hat mir im vergangenen Herbst sei-ne Gedanken im Rahmen der Einsichtnahme in seineStasiakte aufgeschrieben. Ich war nicht so sehr von dengeschilderten Einzelheiten der Bespitzelung beeindruckt.Darüber gibt es viele erschütternde Berichte. Viel beein-druckender war für mich sein persönlicher Umgang mitder Tatsache, daß er sich unter Inkaufnahme von Isolie-rung und beruflicher Nachteile nicht, wie von der SEDverlangt, von seinen Verwandten im Westen losgesagthatte. Er schließt mit den Worten:Es ist Oktober 1998. Nächste Woche fliegen meineFrau und ich für drei Wochen ganz weit weg. Wo-hin, das müssen wir niemandem mehr sagen. Nie-manden müssen wir um Genehmigung bitten. Da-nach kehren wir sehr gern wieder nach Hause zu-rück. Und das liegt zum Glück seit acht Jahrenwieder mitten in Deutschland!
Ich gebe nun demRegierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diep-gen, das Wort.Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister
: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Knapp 50 Jahre nach der Verabschiedungdes Grundgesetzes kommt heute der Deutsche Bundes-tag zum erstenmal in ordentlicher Sitzung in diesem Ge-bäude zusammen. Dieser Tag ist – auch in dieser De-batte – gewürdigt worden als historischer Tag, als Mei-lenstein für diese Stadt und sicherlich auch als Meilen-stein für die gesamte Bundesrepublik Deutschland.Sie werden am Ende dieser Debatte – auch wenn sichdie Begriffe wiederholen – sicher Verständnis dafür ha-ben, daß ich Ihnen ein Stück persönliche Empfindungwiedergebe. Die Sitzung des frei gewählten gesamtdeut-schen Parlaments war und ist für mich und vielleicht fürviele Berlinerinnen und Berliner die Verwirklichungeines politischen Traums.Wenn ich von der vorangegangenen Rede ausgehe,dann merke ich, wie unterschiedlich Erfahrungen undBegrifflichkeiten im zusammenwachsenden Deutschlandwaren. Aber es war für mich ein Traum, der oft als Uto-pie und als politische Lebenslüge einer ganzen Gesell-schaft diskreditiert wurde. Ich erinnere an die Freiheits-kundgebung auf dem Platz vor dem Reichstag. Ich höredie Stimme von Ernst Reuter: „Ihr Völker der Welt:Schaut auf diese Stadt!“ „Schaut auf diese Stadt“ warnicht nur auf Berlin bezogen, sondern das war auf Wün-sche zur Unterstützung im Kampf gegen Totalitarismus,für Freiheit und für Demokratie bezogen. Das betrafdeswegen viel mehr als „nur“ Berlin.
Wir standen nicht nur deshalb auf dem Platz vor demReichstag, weil das der große Platz in der Stadt war, aufdem Hunderttausende zusammenkommen konnten, son-dern wir standen vor dem Gebäude, das Hoffnung undErwartung auf Demokratie und Wiedervereinigung wi-derspiegelte.Für mich war das alles mit Ziel und Motivation ver-bunden. Ziel und Motiv für politisches Handeln liegenfür mich in all den Erfahrungen, in all dem, was wir inder Nachkriegszeit erleben mußten: von den Berichtenüber den Volksaufstand in Ungarn, über den Bau derMauer oder, noch früher – da war ich noch etwas jünger–, über den Volksaufstand, der auch in besonderer Wei-se von Berlin ausgegangen ist.Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an dievielen Staatsgäste, die ich selbst in einen Flügel diesesGebäudes, den Ostflügel, führen durfte, um ihnen vondort aus einen Blick über die Mauer zu ermöglichen undall die Sehnsüchte und Hoffnungen zu erläutern. Das istfür mich „Reichstag“.Eine geschichtliche Entwicklung findet hier heute ei-nen, wie ich finde, demonstrativen Abschluß, und oftverspottete Hoffnungen werden Wirklichkeit. Deswe-gen, meine Damen und Herren, hängen viele Berliner soan diesem Reichstag.Damit muß ich, glaube ich, zu aktuellen weiteren De-batten nichts sagen. Nur, Herr Kollege Struck – er istjetzt nicht da –, gerade das Auf und Ab der Geschichtedes Reichstags bzw. dessen, was sich an demokratischenEntwicklungen in diesem Reichstag vollzogen hat, be-weist, daß die Rückkehr in dieses Gebäude ein Sieg derDemokratie ist, ein Sieg der Demokratie!
Meine Damen und Herren, das heutige Datum istauch ein Eckpfeiler für die innere Einheit des Landes. Esgab hier eine Bestandsaufnahme, die ein Stück weitüberlagert war von dem, was wir an neuen Erfahrungen,an neuer internationaler Verantwortung in den Ausein-andersetzungen auf dem Balkan heute mitgestalten müs-sen.Es gab die Bilanz zu den Fragen der inneren Einheit.Diese Bilanz war insgesamt positiv. Die Wiedervereini-gung hat sich – das ist in der heutigen Zeit am wichtig-sten – in Frieden vollzogen. Es gab keine unüberwindli-chen sozialen Eruptionen. Die Demokratisierung undvielleicht auch ein Elitewechsel sind im Gegensatz zuanderen Staaten gelungen.Viele Städte, einst vom Verfall bedroht, sind lie-benswert renoviert worden. Die Infrastruktur im OstteilBerlins und im Ostteil Deutschlands ist grundlegendmodernisiert worden. Die Produktionsstätten – der Bun-deskanzler hat darauf hingewiesen – können sich im in-ternationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Aberauch dies ist hier betont worden: Die politischen, gesell-schaftlichen und verwaltungsmäßigen Veränderungen,der Aufbau einer völlig neuen wirtschaftlichen und ins-besondere auch industriellen Basis in den sogenanntenjungen Bundesländern haben den Menschen ErheblichesSabine Kaspereit
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abverlangt. Ich bin mir, meine Damen und Herren, ganzsicher: Künftige Generationen werden davon mit Be-wunderung sprechen. Es wäre schön, wenn ein StückAnerkennung und Respekt auch heute selbstverständli-cher Gegenstand der politischen Diskussion wäre. Dashaben die Menschen verdient.
Ohne Frage: Es gibt weiteren Handlungs- und Ent-wicklungsbedarf. Es geht um Arbeitsplätze, um denAusbau von Wissenschaft und Forschung. Es geht umProdukte, die im internationalen Markt konkurrenzfähigsind. Wichtig ist auch die innere Entwicklung. Aus mei-ner Sicht gab es auf dem Weg der letzten Jahre sehrviele emotionale Verletzungen und Mißverständnisse.Die unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaft-lichen Erfahrungen wurden nicht ausreichend für diegemeinsame Zukunft genutzt. Die gemeinsame Zukunft,das ist der Aufbau im ganzen deutschen, ich benutze denBegriff hier: Vaterland – in Ost und West, in Nord undSüd. Es ist richtig, daß nicht alles aus dem sogenanntenWesten zu erhalten und aus dem sogenannten Osten zuverändern war. Lernen ist keine Einbahnstraße im zu-sammenwachsenden Deutschland und darf auch nicht sobegriffen werden.
Meine Damen und Herren, bei allen notwendigenkritischen Anmerkungen – eine Herausforderung für dieZukunft – können die Menschen dieses Landes auf dasstolz sein, was sie geleistet haben. Diese Leistung gibtuns aus meiner Sicht die Gewißheit, den weiteren Wegerfolgreich gestalten zu können. Denn die Leistungsfä-higkeit der Menschen in Ost und West beweist genaudies. Mein Wunsch ist es, daß weniger in den Kategori-en von Ost und West gedacht wird, sondern daß über dieGrenzen einzelner Bundesländer hinweg gemeinsameStärken herausgearbeitet werden. Der Verfassungsauf-trag nach gleichwertigen Lebensverhältnissen – übrigensnicht nach gleichen Lebensverhältnissen – wird aus-drücklich durch regionale Vielfalt ergänzt, das heißtdurch regionale Schwerpunktsetzung auch in dem, wassich Menschen im einzelnen unter Lebensqualität vor-stellen.Wir können also auf dem aufbauen, was bisher gelei-stet worden ist. Die geleistete materielle Hilfe ist Grund-lage und Zukunft dabei, insbesondere für die neuen Bun-desländer. Diese Länder brauchen die Solidarität. Nur sokann sichergestellt werden, daß die bisher erfolgte Hilfenicht nutz- und erfolglos wird. Gleichzeitig darf sich dasEngagement allerdings nicht im Materiellen erschöpfen.Es kommt auf den Umgang miteinander an.Richard Schröder hat vor einem Monat in Weimar ge-fragt, wann man von einem Gelingen der Einheit spre-chen könne. Er nannte zwei Bedingungen: zum einen,daß wir mit den Ost-West-Unterschieden ebenso gelas-sen umgehen wie mit den Nord-Süd-Unterschieden. Da-hinter steckte sicherlich die Erkenntnis, daß in der weite-ren Entwicklung dieser Republik die Unterschiede zwi-schen Nord und Süd etwas stärker zu beachten sein wer-den als bisher sozusagen das eher traditionelle, vor demHintergrund der gegenwärtigen Entwicklung noch imVordergrund stehende Gefälle zwischen Ost und West.Zum anderen wies er darauf hin, daß wir uns so anein-ander gewöhnen müssen, daß wir in Umrissen eine ge-meinsame Geschichte erzählen könnten, und zwar aucheine gemeinsame Geschichte von den zurückliegenden50 Jahren. Auch 40 Jahre DDR – nicht nur 40 JahreBundesrepublik Deutschland – sind ein Stück gemein-same Geschichte. Über die Differenzierung 40 Jahre und10 Jahre müssen wir intensiv nachdenken. Jedenfallskommt es darauf an, daß diese Zeit als die Geschichtedes deutschen Volkes insgesamt – in den gegenseitigenAbhängigkeiten – begriffen wird. Ich glaube, die Men-schen erwarten von uns, an dieser Generationenaufgabezu arbeiten. Der Umzug nach Berlin kann dabei helfen.Denn unsere Stadt weitet den Blick auf das Schicksalder Menschen östlich der Elbe in besonderer Weise.Durch die Wiedervereinigung und den Umzug sinddie Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland im we-sentlichen nicht geändert worden. Dennoch ist der Um-zug mehr als ein bloßer Ortswechsel. Der Zusammen-bruch des Kommunismus und die fortschreitende Glo-balisierung erfordern Weiterungen, die mit dem NamenBerlin verbunden sein werden. Das wiedervereinigteDeutschland mit seiner Hauptstadt Berlin steht für Ver-antwortung und Verläßlichkeit, für strukturelle Reformund gesellschaftliche Modernisierung sowie für eine er-weiterte Bündnisfähigkeit, und zwar nicht nur in derbewährten Form nach Westen, sondern auch nach Osten.Berlin war über Jahrzehnte ein Symbol für die geteilteNation. Heute ist es ein Sinnbild für die Überwindung derTeilung. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme kön-nen wir Berliner und, so meine ich, wir Deutsche ins-gesamt stolz darauf sein, daß die Wiedervereinigung derStadt wie auch die Wiedervereinigung insgesamt bisherauch im sozialen Frieden gelungen ist. In Berlin wirdes am ehesten gelingen, die 40 Jahre lang geteilte deut-sche Nachkriegsgeschichte zusammenzudenken und denGrundstein für die Zukunft zu legen, in der Ost und Westnur noch geographische Richtungen sind.Als Hauptstadt bildet Berlin eine Klammer für unserLand. Denn, meine Damen und Herren, nur eine Nation,die keine sein will, braucht keine Hauptstadt. Ich habedie Sorge vernommen – es gab ja Auseinandersetzungenmit dem Thema –, Berlin stehe für Zentralismus. Ichglaube, diese Sorge ist unbegründet. Der Föderalismusist in Deutschland tief verwurzelt. Jedoch muß die Auf-gabe des Gesamtstaates, muß die Rolle der Nation imzusammenwachsenden Europa jetzt, weil der Bundestageben in Berlin tagt, von Berlin aus neu definiert werden.Wir müssen Sorge dafür tragen, daß unser in vielem be-währte bundesstaatliche System nicht durch Globalisie-rung und Partikularisierung einer Erosion zum Opferfällt und daß sich keine Gräben beispielsweise zwischenarmen und reichen Ländern auftun. Der kooperativeFöderalismus hat sich in den 50 Jahren bewährt. Aberauch künftig werden wir daran erinnern – möglicherwei-se erinnern müssen –, daß die Bundesrepublik ein Bun-desstaat mit gesamtstaatlichen Verantwortungen und ge-samtstaatlicher Identität ist – und kein Staatenbund.
Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen
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Das größer gewordene Deutschland erhält mit Berlineine Hauptstadt, die mehr als nur ein Verwaltungssitzist. Berlin ist eine Bühne, eine Arena, ein Labor. MeineDamen und Herren, ein Blick aus dem Fenster genügt,um zu sehen, daß Sie nicht in eine fertige Stadt gekom-men sind. Aber eine Baustelle, eine Werkstatt ist auchein inspirierender Ort für ein Parlament, das immer imLeben steht. Dieser Genius loci, der an die historischeVerantwortung genauso erinnert wie an die Aufgabendes Tages, ist das, was wir vermitteln wollen.Willy Brandt hat konsequent angemahnt, das Ver-sprechen einzuhalten, nach dem Berlin im Falle derWiedervereinigung Hauptstadt werden würde – auchweil das „mehr als eine symbolische Form von Solida-rität mit dem Osten unserer größer gewordenen Bundes-republik“ bedeutet. Wolfgang Schäuble hat in derHauptstadtdebatte im Jahr 1991 in seiner richtungswei-senden Rede für Berlin gekämpft und sich danach füreinen schnellen Umzug an die Spree eingesetzt.Er sagte – das will ich hier vor allen Dingen heraus-stellen –, es gehe nicht um den „Wettstreit zweier Städ-te, nicht um Struktur- und Regionalpolitik, sondern umdie Zukunft unseres Landes“. Ich kann Ihnen nur sagen:Die Geschichte hat beiden Rednern recht gegeben. Ichsage heute allen Bewohnerinnen und Bewohnern vonBonn Dank für das, was geleistet wurde.
Aber hier ging es eben nicht um eine regionale Ent-scheidung.Als Hauptstadt – ich wiederhole das – bildet Berlineine Klammer für unser Land. Eine Nation, die keinesein will, braucht keine Hauptstadt. Aber wir wolleneine Hauptstadt haben und wollen auch eine Nation sein.Berlin wird demokratisches Selbstverständnis, demo-kratische europäische Zukunft, aber auch ein Stück weitStolz und Würde für das ganze Deutschland darstellen.Für uns in Berlin geht ein langgehegter Wunsch inErfüllung. Ich muß daran erinnern: Über Jahrzehnte be-kundete das Abgeordnetenhaus von Berlin zu Beginnseiner Sitzungen seinen – ich zitiere – „unbeugsamenWillen“, daß die Mauer fallen und Deutschland mit sei-ner Hauptstadt Berlin wiedervereinigt werden muß.Heute sind Einigkeit und Recht und Freiheit im ganzendeutschen Vaterland verwirklicht. Das Herz der deut-schen Demokratie wird hier im Reichstag schlagen. Da-für sind wir dankbar.Sie haben Verständnis dafür, wenn ich sage: WirBerliner sind stolz darauf, an dieser Entwicklung einbißchen mitgewirkt zu haben. Ich jedenfalls heiße Siealle herzlich willkommen in dieser Stadt, in der Bundes-hauptstadt Berlin. Von diesem Gebäude mögen gute Be-schlüsse zum Wohle der Menschen in unserem Landausgehen, Beschlüsse – wie der Bundestagspräsidentsagte – mit Weisheit und Beschlüsse, die von Glück ge-tragen werden.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, wir sind am Ende der ersten Sitzung im
neugestalteten Reichstag. Ich denke, wir können nach
diesen Stunden sagen, daß wir uns hier im Reichstag
auch künftig wohl fühlen und parlamentarisch zu Hause
sein werden.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages fin-
det in Bonn statt. Ich berufe sie auf Mittwoch, den
21. April 1999, 13 Uhr ein.
Die heutige Sitzung ist geschlossen.