Protokoll:
14033

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 33

  • date_rangeDatum: 19. April 1999

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 12:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 15:38 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/33 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 1: Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ............................................ 2663 A Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Vollendung der Einheit Deutschlands Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 2668 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 2674 B Dr. Peter Struck SPD ....................................... 2678 B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 2681 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2683 C Dr. Gregor Gysi PDS ....................................... 2686 C Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident (Bran- denburg) ........................................................... 2688 A Michael Glos CDU/CSU.................................. 2689 D Sabine Kaspereit SPD ...................................... 2691 C Eberhard Diepgen, Reg. Bürgermeister (Berlin) 2693 B Nächste Sitzung................................................ 2695 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 2696 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2663 (A) (C) (B) (D) 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 Beginn: 12.00 Uhr
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    Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) 2696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2696 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Bachmaier, Hermann SPD 19.4.99 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Beer, Angelika BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 19.4.99 Bohl, Friedrich CDU/CSU 19.4.99 Bühler (Bruchsaal), Klaus CDU/CSU 19.4.99* Diller, Karl SPD 19.4.99 Dr. Eid, Ursula BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Dr. Fuchs, Ruth PDS 19.4.99 Großmann, Achim SPD 19.4.99 Hagemann, Klaus SPD 19.4.99 Hampel, Manfred SPD 19.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 19.4.99 Hempelmann, Rolf SPD 19.4.99** Ibrügger, Lothar SPD 19.4.99 Dr. Jens, Uwe SPD 19.4.99 Kolbow, Walter SPD 19.4.99 Koschyk, Hartmut CSU/CSU 19.4.99 Kröning, Volker SPD 19.4.99 Lehn, Waltraud SPD 19.4.99 Dr. Lucyga, Christine SPD 19.4.99* Maaß (Wilhelmshaven), Erich CDU/CSU 19.4.99 Mark, Lothar SPD 19.4.99 Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Moosbauer, Christoph SPD 19.4.99 Mosdorf, Siegmar SPD 19.4.99 Müller (Berlin), Walter PDS 19.4.99 Neumann (Gotha), Gerhard SPD 19.4.99** Dr. Niese, Rolf SPD 19.4.99 Raidel, Hans CDU/CSU 19.4.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 19.4.99 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 19.4.99 Scharping, Rudolf SPD 19.4.99 Scheu, Gerhard CDU/CSU 19.4.99 Schöler, Walter SPD 19.4.99 Schösser, Fritz SPD 19.4.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 19.4.99 Schurer, Ewald SPD 19.4.99 Seidenthal, Bodo SPD 19.4.99 Steen, Antje-Marie SPD 19.4.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 19.4.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19.4.99 Titze-Stecher, Uta SPD 19.4.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Urbaniak, Hans-Eberhard SPD 19.4.99 Vaatz, Arnold CDU/CSU 19.4.99 Wagner, Hans Georg SPD 19.4.99 Dr. Wegner, Konstanze SPD 19.4.99 Weißgerber, Gunter SPD 19.4.99 Willner, Gert CDU/CSU 19.4.99 –––––––– * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403300000
Die Sitzung ist er-
öffnet.

Herr Bundespräsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Sir Norman Foster! Sehr geehrte Damen und Her-
ren! Zur ersten Sitzung des Deutschen Bundestages im
umgebauten Reichstagsgebäude in Berlin begrüße ich
Sie alle sehr herzlich. Am 3. Oktober 1990 haben wir an
diesem Ort die deutsche Einigung gefeiert. Am 4. Okto-
ber fand in diesem Haus die erste Sitzung des gemein-
samen, des gesamtdeutschen Bundestages statt. Ein Jahr
zuvor sind in Ostdeutschland wochen- und monatelang
Hunderttausende auf den Straßen für Freiheit in einem
geeinten Deutschland eingetreten.

„Wir sind das Volk!“ – dieser Ruf ist Wirklichkeit
geworden. Fast neun Jahre später zieht der Deutsche
Bundestag in dieses Gebäude ein – eine notwendige und
zwingende Konsequenz der deutschen Einheit. „Dem
Deutschen Volke“ – diese Inschrift unter dem Giebelfeld
des Westportals, die über Jahre hinweg eine leere For-
mel oder bestenfalls ein Versprechen war, steht nun
wieder für den Anspruch an das Parlament und an jeden
einzelnen von uns, den Auftrag unserer Verfassung zu
erfüllen und uns ganz dem Dienst am Volk zu widmen.

Die Parlamentarier des 12. Deutschen Bundestages
haben sich nach einer denkwürdigen Debatte am 21. Juni
1991 für Berlin als wirkliche Hauptstadt und Sitz des
gesamtdeutschen Parlaments ausgesprochen. Der Deut-
sche Bundestag hat damit ein Bekenntnis eingelöst, das
er seit Jahrzehnten verkündet, beschlossen und zu kei-
nem Zeitpunkt widerrufen hat. Am 30. Oktober 1991
entschied der Ältestenrat des Deutschen Bundestages
dann, daß der historische Wallot-Bau als Sitz des ge-
samtdeutschen Parlaments wiederhergestellt und genutzt
werden soll.

Wir erinnern uns: In der Zwischenzeit ist vieles dis-
kutiert worden. Alte Vorbehalte wurden ausgeräumt.
Neue Ängste unserer Nachbarn vor einem wiederaufer-
standenen übermächtigen Deutschland kamen auf. Der
Umzug wurde zeitweise zu einer reinen Kostenfrage
degradiert. Selten zuvor wurde so viel über Kunst im
und am Bau geredet. Das Gebäude verschwand für eine
Woche unter den kunstvollen Hüllen Christos und wurde

hinterher mit neuen Augen gesehen. Aus aller Welt
strömten die Menschen in diese Stadt und konnten sich
von einem neuen, heiteren Berlin überzeugen.

Heute, am 19. April 1999, ist es soweit: Berlin ist von
nun an die politische Metropole Deutschlands, das um-
gebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deut-
schen Bundestages. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
bei aller Bedeutung dieses Tages für die deutsche Ge-
schichte und für diese Stadt, bei allen unterschiedlichen
Auffassungen sind wir uns einig, daß Berlin für Freiheit
und Demokratie, für eine europäische Politik stehen
wird. Wir wollen keine andere Republik, sondern einen
möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen
Wechsel von Bonn nach Berlin. Auch nach diesem Um-
zug wird die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaat-
liche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über
Jahrzehnte hinweg bewährt hat.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Arbeits- und Handlungsfähigkeit, Kontinuität und
Verläßlichkeit, Lösung alter und neuer Probleme, Be-
wältigung von Erblasten und von neuen Herausforde-
rungen – dies sind unsere Handlungsmaximen für Ber-
lin. Politik wird von hier aus gewiß nicht bequemer oder
gemütlicher werden. Die Menschen in Deutschland und
in der Welt vertrauen aber darauf, daß wir die Chance
der deutschen Einheit verantwortungsvoll für unser
Land und für Europa wahrnehmen, daß wir die innere
Einheit vollenden, daß wir den Wechsel nach Berlin
nutzen und uns mit aller Energie den dringenden und so
beschwerlichen Reformnotwendigkeiten stellen: Über-
windung der Massenarbeitslosigkeit, Reform des Sozial-
staates, Steuerreform, Gesundheitsreform, Reform unse-
res Bildungswesens, Modernisierung des Staates, Ver-
besserung der Familienförderung. Der Herausforderun-
gen sind genug, um von Berlin aus viele Neuanfänge zu
wagen.

Wir sollten aber trotzdem, liebe Kolleginnen und
Kollegen, behutsam in der Wortwahl sein. In den letzten
Monaten ist viel von der Bonner und der Berliner Repu-
blik geredet worden. Dabei – wir wissen es – schwingen
Befürchtungen mit, die durch die kriegerischen Ausein-






(B)



(A) (C)



(D)


andersetzungen im Kosovo und die deutsche Beteiligung
daran neue Nahrung bekommen haben mögen. Wer
wollte bestreiten, daß wir es mit einem dramatischen
Einschnitt in der deutschen Politik zu tun haben?

Gibt es – so frage ich mich – einen mehr als zufälli-
gen zeitlichen Zusammenhang mit dem Wechsel der
deutschen Politik von Bonn nach Berlin? Ja, ich glaube,
einen solchen Zusammenhang gibt es. Er ist von gerade-
zu tragischer geschichtlicher Dialektik. Die Wiederkehr
eines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und der
kriegerische Konflikt um das Kosovo haben eine ge-
meinsame Ursache: das Ende des Kommunismus. Es hat
uns das Glück der deutschen Einheit beschert, aber eben
nicht – wie es doch vieler Menschen Hoffnung 1989 und
1990 war – das goldene Zeitalter des Friedens, sondern
neue, alte Gewalt.

Aber man sage nicht, die Rückkehr von Parlament
und Regierung nach Berlin sei die Rückkehr zu einer
kriegführenden deutschen Politik, sei ein Rückfall in
schlimmste deutsche Geschichte. Wer so polemisch
redet, der hat nichts begriffen vom Epochenwechsel
1989/90, einem Epochenwechsel, der auch mittels der
entschlossenen Friedfertigkeit der Akteure bewirkt wur-
de. Deren Ziel aber war die Erringung der elementaren
Menschen- und Freiheitsrechte, die heute im Kosovo
wieder auf schlimmste Weise verletzt werden.

Auch die Entspannungspolitik Willy Brandts vor über
20 Jahren und der Helsinki-Prozeß waren erfolgreiche
Versuche der Einmischung im Sinne der Menschen-
rechte, waren „humanitäre Interventionen“ unter den
Bedingungen atomarer Hochrüstung. Soll jetzt wieder
und weiter eine Nichteinmischungsdoktrin gelten – da-
mals hieß sie Breschnew-Doktrin –, unter der gerade die
Menschen und Bürgerrechtler im Osten Deutschlands
und Europas gelitten haben?

Nein, es ist nicht das Wiederanknüpfen an preußisch-
deutsche Großmachtphantasien, die den Weltfrieden be-
droht haben. Nein, nicht gegen unsere Nachbarn, son-
dern mit unseren europäischen Nachbarn haben die
Deutschen den schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich an
einer internationalen militärischen Aktion zu beteiligen,
die keine Eroberungsziele hat, die auf nichts anderes
zielt als darauf, dem Morden, der Vertreibung, der ethni-
schen Säuberung mitten in Europa Einhalt zu gebieten.
Wer wollte bestreiten, daß dies eine Aktion mit hohem
politischen wie völkerrechtlichen Risiko ist? Sie ist der
schmerzliche Schlußstrich unter viele Fehler und Ver-
säumnisse, die in den Jahren zuvor erfolgt sind. Nur –
und hier spreche ich mit Erhard Eppler, einem entschie-
denen Verfechter der Friedensbewegung der 80er Jahre –:
In einer wirklich tragischen Situation wird man durch
Handeln wie durch Nichthandeln schuldig. Durch
Nichthandeln hätten wir uns vermutlich ungleich schul-
diger gemacht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute von
unserem neuen Plenarsaal im Reichstagsgebäude Besitz
ergreifen, ist eine kritische Innenansicht unserer eigenen
Geschichte geradezu zwingend, eine Selbstvergewisse-
rung darüber, welches historische Erbe wir gerade in
diesem so umstrittenen Gebäude antreten. Wie häufig
war von ihm als Symbol die Rede. Aber ein Symbol

wofür? Für Preußentum? Für Wilhelminismus? Für das
Scheitern der Weimarer Republik? Für Hitlers Diktatur?
Für die Teilung und die Einheit Deutschlands? – Ich will
dazu einige Antworten versuchen.

Natürlich war der historische Reichstag kein preußi-
sches Parlament. Er war bereits weit demokratischer als
der Preußische Landtag. Das Wahlrecht machte keinen
Unterschied mehr zwischen Besitzenden und Besitz-
losen. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht galt für
den Reichstag nicht. Aber dennoch ist nicht zu leugnen,
daß der preußisch-militärische Geist im Jahr 1914 auch
den Reichstag erfaßte und die Legende vom angeblichen
Verteidigungsfall nahezu alle Abgeordneten veranlaßte,
die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg zu bewilli-
gen. Doch es ist wiederum gerade Preußen, das zum
festen demokratischen Bollwerk in der Phase der Wei-
marer Republik wurde. Es mußte 1932 als erstes „ge-
schleift“ werden, bevor die Nationalsozialisten im Fol-
gejahr ihre Machteroberung erfolgreich beenden konn-
ten.

Und der Wilhelminismus? Atmen nicht noch heute
die Gemäuer dieses Hauses den Geist der wilhelmi-
nischen Epoche? Ist es nicht in seinem Gemisch unter-
schiedlicher Baustile, den Tilmann Buddensieg fast
spöttisch den „synthetischen Reichsstil“ genannt hat,
dieser Mischung von Formen der italienischen Hoch-
renaissance, des Neobarock und – mit der alten Kuppel –
der Kombination von Stahl und Glas geradezu ein bau-
liches Wahrzeichen dieser wilhelminischen Epoche?
Immerhin: Die Grundsteinlegung im Jahre 1884 erlebte
die Hammerschläge von Wilhelm I. und seinen Nach-
folgern Friedrich III. und Wilhelm II. Die kritische
Öffentlichkeit vermerkte damals, daß allzuviel Militär
und kaum Parlamentarier an dieser Zeremonie teilge-
nommen hatten – welch ein Unterschied zu heute.

Dennoch wäre es verfehlt, die Identifikation mit dem
Wilhelminismus allzusehr zu strapazieren. Als der Bau
in den 90er Jahren fertig wurde, nannte ihn der Kaiser
öffentlich den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, kujo-
nierte den Architekten Paul Wallot und gebrauchte in
den Briefwechseln sogar den Begriff „Reichsaffenhaus“.
Nein, sowohl das Gebäude wie das, was in ihm geschah,
zielte bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf
parlamentarische Demokratie als in Richtung auf einen
restaurativen Absolutismus. In Debatten um die Kolo-
nialfrage oder um den Schlachtflottenbau, über die, wie
es damals hieß, „gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialdemokratie“ oder über die Friedensresolution
1917 stritten auf der rechten wie der linken Seite des
politischen Spektrums so hervorragende Redner und
Parlamentarierer wie Rudolf von Bennigsen, Eugen
Richter, Wilhelm von Kardorff, Ludwig Windthorst,
Matthias Erzberger, August Bebel oder Friedrich Ebert.

Aber weil es dem Reichstag des Kaiserreiches nicht
gelang, Verfassungsänderungen in Richtung auf erwei-
terte Parlamentsrechte durchzusetzen, war es geradezu
folgerichtig, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheide-
mann am 9. November 1918 von einem Fenster dieses
Hauses aus die Republik ausrief. Und wie selbstver-
ständlich hielten auch zunächst die Arbeiter und Solda-
tenräte ihre Sitzungen im von ihnen besetzten Reichs-

Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


tagsgebäude ab. Endlich galt nun nach 1919 überall in
Deutschland das gleiche Wahlrecht für Frauen. Das
Reich erhielt eine demokratische Verfassung.

Es waren übrigens die drei Parteien, die die Friedens-
resolution im Kriegsjahr 1917 verfaßt hatten, die jetzt
die die Weimarer Republik tragenden Parteien wurden:
die Liberalen, das Zentrum, die Sozialdemokraten. Der
Reichstag wurde also der Ort der parlamentarischen
Auseinandersetzung. Und hier fanden die Trauerfeiern
statt für den ermordeten Walther Rathenau 1922, für den
verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, für
Außenminister Gustav Stresemann. Ab jetzt also der
Reichstag als Ort eines ungetrübten Parlamentarismus?
Bedauerlicherweise ist auch hier die historische Wirk-
lichkeit schwieriger. Bereits nach den Wahlen von 1920
machte das Wort von der „Republik ohne Republikaner“
die Runde. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre
läutete den Untergang dieser ersten Demokratie auf
deutschem Boden ein.

Golo Mann hat den Vorgang für das Parlament
anschaulich so beschrieben:

Der rasende Verfall begann, als, September 1930,
die nationalsozialistische Fraktion von 12 Mitglie-
dern mit einem Schlag auf 107 anwuchs. Nun bra-
chen alle Furien des Hasses ein in den Kuppelsaal
… Der Reichstag hörte zu funktionieren auf: Pan-
dämonium, in dem die Stimme der Mitte, der alt-
modischen, der zur Arbeit, zur wechselseitigen
Achtung … Mahnenden verklangen, wie Stimmen
der Vernunft im Irrenhaus.

Die Totengräber der Demokratie hatten die deutsche
Öffentlichkeit über ihre Ziele nicht im unklaren gelas-
sen. Bereits 1928 hatte Joseph Goebbels freimütig
bekannt:

Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im
Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen
Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstags-
abgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer
eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die
Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bären-
dienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so
ist das ihre eigene Sache … Wir kommen als
Feinde!

Und noch im August 1932 zerstreute er letzte Zweifel
und Illusionen darüber, wie ernst man es meinte:

Haben wir die Macht, dann werden wir sie nie
wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns als
Leichen aus unseren Ämtern heraus.

Trotzdem: Es ist eines der hartnäckigsten und dümm-
sten Vorurteile, das sich mit diesem Gebäude, in dem
wir heute tagen, verknüpft: daß es als Symbol für den
nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und
seine Kriegspolitik stehe. Nichts davon ist wahr. Adolf
Hitler hat in diesem Gebäude nie als Parlamentarier
gesprochen. Es mußte fallen, es mußte brennen, bevor
die NS-Machthaber ihre „deutsche Herrenmoral“ an die
Stelle der angeblichen „Mitleidsmoral“ des demokra-
tischen Parteienstaats setzen konnten.

Otto Wels hielt seine bewegende und bis heute auf-
rüttelnde Rede gegen das Ermächtigungsgesetz nicht
mehr im Reichstagsgebäude, sondern gegenüber, in der
Kroll-Oper. Den Kommunisten waren einfach die Man-
date aberkannt worden; viele von ihnen wie auch man-
che sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete befan-
den sich bereits in sogenannter Schutzhaft. Der Satz
„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre
nicht“ steht bis heute für den Mut der einzigen Oppositi-
onspartei, der Sozialdemokraten, die in dieser Stunde
den nationalsozialistischen und deutschnationalen
Machthabern widerstanden und gegen das Ermächti-
gungsgesetz und damit die Selbstaufgabe des Parlaments
stimmten. Hitlers Appell an den Deutschen Reichstag –
ich zitiere –, „uns zu genehmigen, was wir auch
ohnedem hätten nehmen können“, demonstrierte zu-
gleich die Ausweglosigkeit der Lage bereits zu diesem
Zeitpunkt für alle Parlamentarier.

Gleichwohl wollten auch die Nazis nicht ganz auf die
Symbolkraft dieses Gebäudes verzichten. Nach notdürf-
tiger Teilrestaurierung wurden während der Olympi-
schen Spiele 1936 Führungen für ausländische Besucher
durchgeführt. Die Nazis hatten die Schamlosigkeit, in
diesen Räumen Ausstellungen wie zum Beispiel „Der
ewige Jude“ oder „Bolschewismus ohne Maske“ zu zei-
gen und – bezeichnenderweise am fünften Jahrestag des
Brandes – die Ausstellung über „Entartete Kunst“ hier
zu eröffnen.

Im Mai 1945 war es für die siegreiche sowjetische
Armee ganz selbstverständlich, ihre rote Fahne hier und
nicht auf dem Gebäude der nationalsozialistischen
Machtzentrale, der Reichskanzlei, zu hissen.

Das Reichstagsgebäude hat den Krieg überdauert.
Wie ein Mahnmal stand es nun, insbesondere nach dem
Bau der Mauer, fast Wand an Wand mit dieser künst-
lichen, gewaltsamen innerdeutschen Grenze. Schon
durch seine Höhe war es und blieb es unübersehbar,
auch wenn die beschädigte Kuppel aus Sicherheitsgrün-
den abgetragen werden mußte. Für mich, der im anderen
Teil der Stadt lebte, war der Reichstag ein Symbol für
das ungelöste Problem der deutschen Teilung. Gut
sichtbar über die Mauer hinweg, blieb er ein Blickfang,
war Objekt, steinernes Symbol der Sehnsucht nach
einem geeinten Deutschland, in dem Demokratie, Frie-
den, Freiheit des einzelnen und soziale Gerechtigkeit
gemeinsam ihre Heimat haben.

Und heute, liebe Kolleginnen und Kollegen? Heute
haben wir eine Reihe gewiß schwieriger Probleme, die
wir uns – jedenfalls viele von uns – während der Teilung
und des kalten Krieges immer gewünscht haben: näm-
lich die Probleme der deutschen Einigung. Insofern hat
sich viel geändert. Voraussetzung dafür war, daß ein
Teil Deutschlands, daß die Ostdeutschen in einer gelun-
genen friedlichen Revolution den Wandel von der Dik-
tatur zur Demokratie geschafft haben. Es ist dies das
erste Mal in der deutschen Geschichte, daß ein solcher
Wandel von innen heraus, aus eigener Kraft, in einer
friedlichen und revolutionären Aktion gelungen ist. Es
ist auch das erste Mal, daß Deutschland seine territoriale
Gestalt im Einklang, also mit dem Einverständnis seiner
europäischen Nachbarn gefunden hat. An dieser Stelle

Präsident Wolfgang Thierse






(B)



(A) (C)



(D)


halte ich es für meine Pflicht – das kommt von Herzen –,
der damaligen Bundesregierung und ihrem Kanzler
Helmut Kohl ausdrücklich für diese historische Leistung
zu danken.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieser doppelten, historisch neuartigen Situation ver-
danken wir die Möglichkeit, Berlin wieder zum Sitz von
Parlament und Regierung, also tatsächlich zur Haupt-
stadt machen zu können. Demokratisches Engagement
der Bürger und gutnachbarschaftliche Verständigung
haben diese Möglichkeit geschaffen. Damit symbolisiert
der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin zwei-
fellos etwas Neuartiges, zugleich erfreulich Zivilisatori-
sches in der deutschen Geschichte. Ich jedenfalls finde,
dieses neue Moment unserer Geschichte verweist zu-
gleich auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst
wirklich die deutsche politische Kultur prägen konnten.
An diesen Traditionen müssen wir festhalten.

Ich beginne mit einer Überzeugung, die seit dem
8. Mai 1945 in beiden Teilen Deutschlands gleicherma-
ßen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise gewon-
nen worden ist: dem Antifaschismus und einem unauf-
geregten, unpathetischen Verhältnis zur eigenen Nation.
Natürlich bestreite ich nicht, daß dieser gesamtdeutsche
Neubeginn Ausgangspunkt sehr verschiedener Wege
geworden ist. Im Westen gab es neben dem Anti-
faschismus auch Verdrängung des deutschen National-
sozialismus. Andererseits aber war die Konsequenz kla-
rer und eindeutiger; sie hat im Grundgesetz der Bundes-
republik Deutschland ihren unhintergehbaren Ausdruck
gefunden: Eine stabile, auf die Menschenrechte gegrün-
dete Demokratie sollte jeder Form von Diktatur den
Boden entziehen.

Die DDR setzte dagegen einen anderen Akzent, der
es zuließ, erneut eine Diktatur zu errichten, eine Diktatur
zur Verhinderung des Kapitalismus, der in erster Linie
für Faschismus und Nationalsozialismus verantwortlich
gemacht wurde. Viele wußten von Anfang an, daß dies
ein Irrweg war, viele begriffen es im Laufe der Jahre,
manche erst nach dem Mauerbau, andere noch später,
und einzelne scheinen es noch immer nicht begriffen zu
haben. Daß der sowjetisch dominierte Sozialismus ein
folgenreicher diktatorischer Irrweg war, der zudem auch
ökonomisch funktionsunfähig blieb, kann aber heute
nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Für mich per-
sönlich wiederhole ich: Die Einheit Deutschlands war
mir kein nationales, sie war mir stets ein antitotalitäres,
ein freiheitliches, ein demokratisches Ziel.

Als zweite Tradition, der ich Kontinuität wünsche,
nenne ich das Streben nach sozialem Ausgleich. Wir ha-
ben in der DDR durchaus auch positive Gleichheits-
erfahrungen gemacht, die man nicht geringschätzen
sollte. Aber eine Gleichheit, die alle in eine bestimmte
Schablone pressen, paßförmig für eine einheitliche
Ideologie machen will, meine ich natürlich nicht. Die
Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Mann
und Frau, die Mühe um Chancengleichheit, gleiche
Würde und gleiche Freiheit ungeachtet der Herkunft, der
Rasse, der Religion oder des Geschlechts – das ist die

Gleichheit, die ich meine. Sie ist durchaus gefährdet –
nicht nur im Kosovo, sondern auch hier in Deutschland,
zum Beispiel bei jedem tätlichen Angriff, jeder Diskri-
minierung gegen Menschen, die nichts weiter getan
haben außer anders, südlicher, fremdländischer auszuse-
hen, als manche Rechtsextremisten das für angemessen
oder typisch halten.


(Beifall im ganzen Hause)

Die dritte Tradition, die ich erwähnen möchte, ist die

der guten Nachbarschaft, des Interessenausgleichs mit
den anderen Völkern und Staaten, die unbedingte euro-
päische Orientierung der Zusammenarbeit und Integra-
tion und der Fortentwicklung der Europäischen Union,
die sich nicht mehr nur auf den ehemaligen Westen
Europas beschränkt.

Das sind nicht alle, aber das sind mir besonders we-
sentliche politische Traditionen, die auch und vor allem
am Parlaments- und Regierungssitz Bonn entwickelt und
in Verträge und Gesetze gegossen worden sind.

Unsere Zukunft hängt von diesen Prinzipien ab. Es
sind Prinzipien, die zur Staatsräson der Bundesrepublik
Deutschland gehören. Wir sollten an dieser Kontinuität
festhalten, statt unsere Zeitrechnung künstlich in eine
angebliche Bonner und eine angebliche Berliner Repu-
blik aufzuteilen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, ja, das Reichstagsgebäude
ist ein Symbol, aber kein eindeutiges. Es ist ein Symbol
für all die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der
deutschen Geschichte, die wir nur als solche und als
Ganzes annehmen können. Indem wir, der 14. Deutsche
Bundestag, künftig an diesem Ort tagen, machen wir
deutlich, daß wir uns dieser Verantwortung und Aufgabe
bewußt sind. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter
die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielen,
werden an diesem Ort ad absurdum geführt. Dieser Ort
ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr zu, er läßt
keinen Schlußstrich zu.

Aber er mahnt uns auch, Lehren zu ziehen. Ge-
schichte ist mehr als nur Objekt für neugierige Rück-
blicke. Die erste, ganz zentrale Lehre, hat der verehrte
Kollege Helmut Kohl in seiner damaligen Funktion als
Bundeskanzler 1983 präzise und treffend so charakteri-
siert:

Das eine bleibt uns als Mahnung festzuhalten, daß
die Republik jeden Tag neu erworben werden muß,
weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht
von selbst versteht.

Herr Kollege Kohl, ich bin Ihnen für diese Worte sehr
dankbar. Und ich würde mir wünschen, daß wir diese
Mahnung als gemeinsamen Auftrag für dieses ganze
Haus verstehen, daß wir durch die Art unserer Debatten
und Auseinandersetzungen, durch die Kultur unseres
Streits täglich die Überlegenheit der Demokratie unter
Beweis stellen, damit totalitäre Ideologen und Demago-
gen in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen.


(Beifall im ganzen Hause)


Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute hat das stabil-
ste und selbstbewußteste Parlament, das wir jemals in
Deutschland hatten, jenes Gebäude bezogen, das un-
übersehbar der Vergangenheit entstammt, aber glei-
chermaßen bereit ist für eine zukunftsgerichtete Politik –
nach innen wie nach außen. Es ist an uns Parlamenta-
riern, diesem Bauwerk viele neue Bausteine an guter
demokratischer Politik hinzuzufügen.

Die fruchtbare Verbindung zwischen Alt und Neu,
zwischen Vergangenheit und Gegenwart – wir haben es
gesehen und bestaunt, vielleicht auch ein bißchen be-
wundert – gilt insbesondere für die Architektur. Daß das
Haus mit seinen inneren und äußeren Strukturen den
Erwartungen gerecht werden kann, daß seine Ausmaße
und Baumassen den Eintretenden aufnehmen statt ab-
schrecken, ist dem Architekt, Sir Norman Foster, zu
verdanken. Er hat mit seinem Konzept eines Neubaus
von Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen
Ursprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaf-
fen. Sie spiegelt die Geschichte dieses Hauses und seiner
Gegenwart und Zukunft mit den Mitteln der baulichen
Gestaltung wider. Er hat Geschichte sichtbar gemacht,
aber er ist nicht dort verharrt. Gleichermaßen hat er
Raum für die demokratischen Strukturen einerseits und
für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments andererseits ge-
schaffen. Dafür ist Sir Norman Foster von dieser Stelle
aus herzlichen Dank zu sagen.


(Beifall im ganzen Hause)

Mein besonderer Dank gilt aber auch meiner Vorgän-

gerin, Frau Professor Rita Süssmuth, die mit unermüdli-
cher Energie die Realisierung dieses Umbauprojektes
vorangetrieben hat. Wir verdanken ihr, daß dieses Haus
so schön geworden ist und so gut für unsere parlamenta-
rischen Zwecke paßt. Herzlichen Dank, Frau Süssmuth.


(Beifall im ganzen Hause)

Unser Dank sollte aber auch der Baukommission,

ihren Mitgliedern und ihrem Vorsitzenden, dem Kolle-
gen Dietmar Kansy, gelten. Er hat die schwierige Arbeit,
die Planungsarbeit in vielfältigen Entscheidungen be-
gleitet. Herzlichen Dank für diese wichtige Arbeit in
unser aller Namen.


(Beifall im ganzen Hause)

Wir sollten selbstverständlich alle diejenigen in unse-

ren Dank einschließen, die – sei es als Bauarbeiter oder
Ingenieurin, sei es als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter
der Verwaltung des Deutschen Bundestages – zum Ge-
lingen dieses Projektes beigetragen haben.


(Beifall im ganzen Hause)

Der Architekt des deutschen Parlaments stammt nicht

aus Deutschland. Man muß es erwähnen. Auch das ist
– nebenbei, aber nicht unwichtig – eine Geste der Dank-
barkeit an die Europäer, die die Einheit unseres Landes
mitgetragen, mehr noch: unterstützt haben. Europa wird
auch eine der zentralen Botschaften sein, die vom politi-
schen Berlin ausgehen wird. War vor einem Jahrzehnt,
als die alten Ost-West-Strukturen aufbrachen, die Zu-
kunft Europas noch ungewiß, so ist der europäische Weg

heute, am Ende dieses 20. Jahrhunderts, eindeutig: Die
deutsche Frage, ein stetiger Risikofaktor im europäi-
schen Staatensystem, ist gelöst, eine Rückkehr zur
Großmachtpolitik undenkbar. Deutschland hat nicht nur
seinen Platz in Europa gefunden, sondern gestaltet die-
ses Europa aktiv mit. Daran haben viele, sehr viele mit-
gewirkt: von Konrad Adenauer über Ludwig Erhard bis
zu Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Helmut
Schmidt und Helmut Kohl. Sie alle nenne ich nur stell-
vertretend.

Deutschland hat zusammen mit seinen Nachbarn die
europäische Integration dynamisiert und die europäische
Währungsunion mit vollen Kräften unterstützt – trotz
großer Widerstände und Bedenken und im Wissen um
die Stärke der eigenen Währung und der damit verbun-
denen Risiken.

Wir Deutsche haben erfahren, was ein geteiltes Land
bedeutet. Deshalb sind wir auch in der besonderen Ver-
antwortung, unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa
auf ihrem Weg in die Europäische Union zu unterstüt-
zen. Wir wollen nicht nur ihre Verbündeten in der
NATO, sondern auch in der Europäischen Union sein.
Damit dies gelingt und vor allem auch auf Dauer Be-
stand hat, brauchen wir beides: die Erweiterungsfähig-
keit der Union und die Beitrittsfähigkeit der zu integrie-
renden Länder. An beidem wird derzeit hart gearbeitet.

Es ist ein gutes Ergebnis in diesem Prozeß, daß aus-
gerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft
und dazu noch hier in der Stadt Berlin der entscheidende
Durchbruch zur Verabschiedung der Agenda 2000 ge-
lungen ist. Sie schafft erst die Voraussetzung dafür, daß
der europäische Integrationsprozeß in Richtung Mittel-
und Osteuropa fortgesetzt werden kann.

Entscheidend für die europäische Einigung wird aber
sein, ob die Bürgerinnen und Bürger von diesem Europa
überzeugt und für dieses Europa bereit sind. Dies wird
ohne eine Verstärkung der demokratischen Strukturen,
ohne eine dringend notwendige Entflechtung der Ver-
fahrensabläufe auf der einen Seite und ohne die Tole-
ranz für andere Kulturen und Lebensentwürfe auf der
anderen Seite nicht möglich sein.

Probleme und Rückschläge gehören zu diesem Pro-
zeß dazu. Gerade wir Deutschen haben diese Erfahrun-
gen hautnah bei der deutschen Einheit gemacht. Wie
schwierig das Zusammenwachsen eines über Jahrzehnte
hinweg geteilten Landes mit konträren Gesellschafts-
strukturen ist, wurde vielen von uns erst nach und nach
deutlich. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Ideal der
deutschen Einheit niemals aufgegeben. Es war zwar Vi-
sion, aber keine Utopie. Mit Zuversicht haben viele, sehr
viele daran festgehalten.

Heute – fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer –
leben wir in mancher Hinsicht noch immer in zwei Ge-
sellschaften. Wir haben erkennen müssen, daß die Höhe
der finanziellen Transfers, die Anzahl der Autobahnen
und Telefonleitungen, die Größe der Kaufhäuser und
ihrer Angebote – so begrüßenswert, so dankenswert all
diese materiellen Leistungen und Fortschritte sind –
eben noch nicht selbstverständlich und garantiert eine
gemeinsame Identität schaffen.

Präsident Wolfgang Thierse






(B)



(A) (C)



(D)


So konnten erneut wechselseitig Ressentiments zwi-
schen Ost- und Westdeutschen wachsen. Für die einen
wurden die Westdeutschen zu „hochnäsigen Kolonial-
herren“, für die anderen die Ostdeutschen zu „undank-
baren Jammerlappen“. Fehlverhalten hier wie dort wird
zum Bild für das Ganze überhöht und für Feind- und
Klischeebilder benutzt, deren Realitätstauglichkeit sich
allenfalls im Bestätigen von Vorurteilen erweist.

Immer noch zu oft neigen wir dazu, das Leben in dem
anderen System nach eigenen, nach oberflächlichen
Maßstäben einzuordnen. Das ist bequem; aber es erzeugt
Vorurteile und Vorbehalte. Warum respektieren wir
nicht die Menschen mit ihren unterschiedlichen Biogra-
phien? Warum gestehen wir nicht anderen das zu, was
wir selbst von anderen erwarten, nämlich Verständnis
und Toleranz? Dazu gehört vor allem, einander ohne
Ängste, Mißtrauen und vorgefertigte Meinungen zu be-
gegnen, uns unsere unterschiedlichen Erfahrungen zu
erzählen, aber auch zuzuhören. Nur so gelangen wir zu
wirklicher Solidarität, einer Solidarität, die die innere
Einheit vollendet. Nur so verstehen wir auch die unter-
schiedlichen Dimensionen gleicher Sachverhalte.

Natürlich ist Arbeitslosigkeit für jeden einzelnen, für
jede Familie in West wie in Ost eine schwer erträgliche
Belastung und Zumutung. Gleichwohl ist die Herausfor-
derung wie die Katastrophe für jeden Ostdeutschen
ungleich größer, weil im System der DDR wenigstens
die Sicherheit des Arbeitsplatzes unverrückbar garantiert
zu sein schien.

Auch der Gebrauch von und der Umgang mit Freiheit
will gelernt sein. Für die Westdeutschen ist es die in
einem langen Prozeß erlebte Erfahrung, daß sie mit
ihren Möglichkeiten und Chancen zugleich auch immer
die Kehrseite von Risiken und Unsicherheiten in sich
birgt. Für die Ostdeutschen waren die Freiheit der Rede
und die Möglichkeit, frei zu reisen, verständliche Ob-
jekte der Sehnsucht. Aber nun müssen sie erst lernen,
daß grenzenlose Freiheit auch Bindungslosigkeit be-
deuten kann, daß frühere Sicherheiten verlorengehen. So
wird nun Freiheit häufig weniger als Chance denn als
Last empfunden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Umzug
von Bonn nach Berlin rücken wir genau an die Naht-
stelle dieses noch offenen Prozesses des Zusammen-
wachsens. In keiner anderen Stadt Deutschlands werden
die Defizite, die besonderen Empfindlichkeiten, aber
auch die Fortschritte auf beiden Seiten deutlicher als
hier in Berlin. Wir Parlamentarier sollten diese Nähe für
unser politisches Wirken nutzen.

Der heutige Tag ist auch ein wichtiger Tag für diese
Stadt und ihre Menschen. Nach Jahren des Hoffens,
Wartens und Vorbereitens spüren die Berliner heute:
Das Parlament, das Herzstück der Demokratie, ist wie-
der inmitten dieser Stadt zu Hause. Dies bedeutet eine
historische Chance und vor allem auch belebende Im-
pulse. Viele alteingesessene Berliner freuen sich auf die
Zuziehenden aus dem Westen. Traditionelles und Inno-
vatives, Pioniergeist und Abgeklärtheit werden in dieser
Stadt eine spannungsreiche Mischung erzeugen, die sie
für ihre neue Rolle brauchen wird. Berlin als die Mitte
von Ost und West in Deutschland und Europa, als die

Stadt mit dem ausgeprägtesten internationalen Charakter
in Deutschland: Es gibt wohl kaum einen geeigneteren
Ort für Dialog, für friedliches Zusammenleben von
Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Berlin
soll ein Beispiel für die Vollendung der Einheit in den
Köpfen und Herzen der Menschen in Deutschland und
in Europa werden. Historische Vorbilder oder Parallelen
gibt es nicht. Alle hier wirkenden Menschen werden die-
sen Teil der Geschichte selber schreiben, und zwar jeden
Tag aufs Neue. Dazu wünsche ich uns allen eine glück-
liche Hand.

Der Deutsche Bundestag ist im guten Sinne des
Wortes ein Arbeitsparlament. Bei aller Kritik, die dieses
Hohe Haus auf sich zieht, manchmal verdient, manch-
mal benötigt und jedenfalls immer verträgt, darf doch
festgestellt werden: Hier wird hart um beste, um durch-
setzbare, um sachgerechte und um verantwortbare Lö-
sungen gerungen. Es wird hart gearbeitet.

Vor diesem Hintergrund ist es gut, den neuen Plenar-
saal des Deutschen Bundestages mit einer ernsthaften
Debatte in Besitz zu nehmen. Angesichts der Beschwer-
nisse, die wir im eigenen Land erleben, angesichts der
Tatsache, daß diese Beschwernisse im Osten Deutsch-
lands, wo nun auch der Deutsche Bundestag seinen Sitz
hat, noch immer größer sind als im Westen, und auch
angesichts des Umstandes, daß wir im Plenum des
Hohen Hauses schon lange nicht mehr herausgehoben
darüber diskutiert haben, ist eine Debatte über die noch
bestehenden Herausforderungen für die Angleichung der
Lebensverhältnisse und die Vollendung der Einheit
Deutschlands ein besonders geeignetes Thema für diese
erste Sitzung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Hause)


Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer
Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Vollendung der Einheit Deutschlands

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä-
rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.


Gerhard Schröder (SPD):
Rede ID: ID1403300100
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Heute“, so
schreibt eine große deutsche Zeitung, „beginnt eine neue
Zeit“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber so-
viel ist klar: Mit der heutigen Plenarsitzung endet ein
weiteres Provisorium in der Geschichte unserer Repu-
blik. Das alte Reichstagsgebäude – der Präsident hat es
überzeugend deutlich gemacht – ist bezugsfertig für den
neuen Deutschen Bundestag.

Über Geschmack – auch das ist klar geworden – darf
nicht gestritten werden, und dies ist nicht der Deutsche

Präsident Wolfgang Thierse






(A) (C)



(B) (D)


Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. Ich
möchte mich auch persönlich bei Sir Norman Foster be-
danken und ihm ein großes Lob aussprechen für den
Mut, aber auch für die Behutsamkeit, mit der er traditio-
nelle und moderne Elemente zusammengefügt hat.


(Beifall im ganzen Hause)

Ich wünsche mir im übrigen, daß die gläserne Kuppel

über uns, die der Architekt für dieses Haus entworfen
hat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz un-
serer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebt
Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt.

Unsere Demokratie und unser Parlament – wir sind
dessen sicher – sind stark und stabil. Der Umzug nach
Berlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nach-
kriegsgeschichte; denn wir gehen ja nicht von Bonn
nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären.

Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik der
Verständigung und der guten Nachbarschaft, die feste
Verankerung Deutschlands in Europa und im Atlan-
tischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines
Lebens in Freiheit, all das hat entscheidend dazu beige-
tragen, daß die „Berliner Republik“ im geeinten
Deutschland möglich wurde. Wie immer man diesem
Begriff gegenübersteht, was immer man damit anfangen
will: Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlin
die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben. Und
noch eines wird bleiben: Die Probleme und Aufgaben
nehmen wir mit, wenn wir von Bonn nach Berlin um-
ziehen.

Als Bundestag des demokratischen Deutschland tra-
gen wir nun in einem Haus mit guter demokratischer
Tradition Verantwortung. Der aus geheimer, gleicher
und freier Wahl hervorgegangene Reichstag – dessen
Gebäude übrigens mindestens im Volksmund noch
lange Reichstag heißen wird –


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Zu Recht!)


wurde – der Herr Präsident hat darauf hingewiesen –
dem Kaiser und Bismarck abgetrotzt.

Auch wenn manche an der Silbe „Reichs“ Anstoß
nehmen: Zu seiner konstituierenden Sitzung nach Hitlers
Machtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht in die-
sem Gebäude zusammen, sondern in der Potsdamer
Garnisonskirche. Das Ermächtigungsgesetz – der Herr
Präsident hat darauf hingewiesen –, das den Reichstag
faktisch ausschaltete, wurde nicht hier, sondern gegen-
über, in der Kroll-Oper beschlossen.

Sicher, der Umzug nach Berlin ist auch eine Rück-
kehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deut-
scher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen in
Deutschland und in Europa gebracht haben. Aber
„Reichstag“ einfach mit „Reich“ gleichzusetzen wäre
genauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria oder
deutschem Zentralismus zu verwechseln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das föderative Modell deutscher Politik – das gilt es ge-
rade hier festzustellen – ist bewährt und nicht im gering-
sten gefährdet.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir scheint,
daß dies der richtige Ort und die richtige Zeit ist, eine
Zwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Es ist
der richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch für
den Westen der Republik steht, Berlin das vereinte
Deutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschen
macht es viel aus, daß Regierung und Parlament nicht
mehr fern am Rhein, sondern relativ nahe bei ihnen, näm-
lich hier an der Spree, sind. Es ist die richtige Zeit, weil
das vereinte Deutschland auch politisch den Generati-
onswechsel vollzogen hat. Ich meine damit keineswegs
nur einen Regierungswechsel. Es gibt kein Land, in dem
die Ablösung der politischen Generation, die den zweiten
Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine be-
deutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Das
gilt für uns in Deutschland allemal.

Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz ist es aber
auch deshalb, weil uns nicht zuletzt die Ereignisse der
letzten Wochen und Monate dramatisch vor Augen ge-
führt haben, daß sich Deutschlands Rolle in der Welt
verändert hat, daß wir heute anders und intensiver in der
Verantwortung für das Schicksal auch anderer Völker
stehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittel-
bar danach der Fall gewesen ist. Dies wiederum sage ich
ganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wort
von der „internationalen Solidarität“ so unterschiedlich
erlebt und erfahren wurde.

Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheit
fällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ost-
deutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung voll-
bracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungen
ist, das Ost-West-Gefälle vollständig zu überwinden.
Gleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, was
wir miteinander schon erreicht haben, über Leistungsbe-
reitschaft und Solidarität der Menschen im Osten wie im
Westen unseres Landes.

Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeut-
schen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht Folge mangeln-
den Leistungswillens der Bevölkerung in den neuen
Ländern. Und andererseits: Mit finanziellen Hilfen allein
wären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durch
das Engagement der Bürgerinnen und Bürger beim Auf-
bau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft,
bei den Unternehmensgründungen und den Innovatio-
nen, bei Hilfe, aber auch bei Selbsthilfe gekommen sind.
Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damals
vor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben: „Wir
sind d a s Volk“ oder:„W i r sind das Volk“ und: „Wir
sind e i n Volk“.

Ich will deshalb auch keine detaillierte Auflistung
dessen vornehmen, was getan worden ist und was noch
getan werden muß. Unter den laufenden und von dieser
Bundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegten
Projekten für den Aufbau Ost möchte ich nur einige we-
nige hervorheben:

Da ist erstens das Programm „100 000 Jobs für junge
Leute“ mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland bis
jetzt 75 000 Vermittlungen in Arbeit und in Ausbildung
gegeben, davon 33 000 allein in den neuen Bundeslän-
dern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zusätzlich sind 17 500 Jugendliche in einem weiteren
Sonderprogramm in den neuen Ländern untergekom-
men. Man sieht daran zweierlei: einmal, daß es uns mit
der Aussage ernst ist, daß wir die Jugendlichen einstei-
gen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie aus
der Gesellschaft aussteigen,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


und zum anderen, daß die Jugendlichen von sich aus er-
kannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Ein-
stieg haben, sondern auch eine Pflicht, entsprechende
Angebote anzunehmen. Ich bin froh darüber, daß sie das
insbesondere in den neuen Bundesländern in diesem
Umfang tun.

Zweitens. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt-
politik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. Unter
dieser Bundesregierung – das haben wir versprochen,
und das werden wir halten – wird es kein Auf und Ab
vor und nach Wahlen geben,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nur Ab, kein Auf!)


dies deshalb, weil wir lieber Arbeit bezahlen, als Ar-
beitslosigkeit bezahlen zu müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Die Bundesfinanzhilfen für die Städte-
bauförderung werden bei 520 Millionen DM für alle
neuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei ist
die soziale Stadt. Es geht uns um die Förderung von
Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wir
wissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf das
Leben gerade junger Menschen hat, und wir wissen, daß
gerade in Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanz
Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zu-
wanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozia-
ler Zündstoff sind oder werden.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!)

Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wir
uns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme auf
solche Stadtviertel konzentrieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Viertens. Noch in diesem Jahr werden wir die För-
derinitiative „Innoregio“ starten. Ziel ist es, innovative
Entwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstüt-
zen. Denn wir wissen: Ohne eine nachhaltige Förderung
der Innovation, die zu neuen, international wettbewerbs-

fähigen Produkten und zu neuen Verfahren auf neuen
Märkten führt, werden wir die Arbeitslosigkeit gerade in
den neuen Ländern nicht so erfolgreich bekämpfen kön-
nen, wie das unsere Aufgabe ist.

Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können,
wenn sie nicht gerecht ist, gerade denjenigen gegenüber,
die aus dem Arbeitsprozeß der sogenannten alten Indu-
strien herausgefallen sind. Aber unser Land hätte keine
Zukunft, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mittel
für die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft ein-
setzten. In dieser Hinsicht – sagen wir es ganz deutlich –
hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Ver-
einigung durchaus schon einiges vorgemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Um-
weltschutz. 1990 – um ein Beispiel zu nennen – stand
die alte DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweit
an der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden die
Grenzwerte nirgendwo mehr überschritten. In Leipzig
beispielsweise ist die Belastung um 83 Prozent zurück-
gegangen. Durch ökologische Modernisierung konnten
bereits jetzt europaweit mustergültige Regionen im
Osten Deutschlands geschaffen werden.

Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikati-
on. In Ostdeutschland wurde das modernste Netz der
Welt geschaffen. Das gilt aber auch für manche soge-
nannte alte industrielle Anlage. Opel in Eisenach, die
Kraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikro-
chipherstellung in Dresden zum Beispiel erreichen heute
Produktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Laut einem jüngst veröffentlichten „Spiegel“-Test
sind ostdeutsche Hochschulen weit überproportional auf
den Spitzenplätzen des Landes vertreten. Das betrifft das
Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden, aber auch
die Ausstattung und inhaltliche Qualität der universitä-
ren Ausbildung.

Diese Entwicklungen zeigen die Chance des Aufbaus
im Osten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten von Lud-
wig Erhard. Aber vielleicht gelingt uns ja doch so etwas
wie ein kleines Wirtschaftswunder, gerade im Osten un-
seres Landes.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ein Wissenswunder jedenfalls, ein Technikwunder,
das müssen wir gemeinsam anstreben. Damit schaffen
wir die Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftli-
chen Aufschwung und – das ist von eminenter Bedeu-
tung – vor allem für mehr Beschäftigung.

Bei allem dürfen wir nicht vergessen: Berlin ist der
Ort, an dem sich, wie Willy Brandt einmal gesagt hat,
„die Teilung der Welt versteinert hat“. Hier treffen so
kraß wie produktiv die Unterschiede aufeinander, die
40 Jahre Trennung hinterlassen haben. Diese Stadt bleibt
– um es mit den Worten von Friedrich Schorlemmer zu
sagen – „eine besondere Werkstatt der Einheit“.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Westdeutsche verbinden in ihrer Erinnerung mit Ber-
lin, meist Westberlin; je nach Alter ein Fußballpokal-
endspiel, ein Rockkonzert oder einen Theaterbesuch.
Für die Ostdeutschen war Berlin Hauptstadt der DDR,
ein Ort besonderer Bevorzugung und Machtarroganz
gegenüber dem, was man „die Republik“ nannte. Berlin
und Mauer bilden noch lange, nachdem das schändliche
Bauwerk selbst verschwunden ist, in aller Welt einen
semantischen Zusammenhang.

Gewiß: Die schmerzende Wunde des kalten Krieges
ist vernarbt; aber sie bleibt doch fühlbar. Gleichzeitig
bündeln sich in dieser Metropole die Probleme der mo-
dernen Industriegesellschaften: Jeder achte Berliner ist
Ausländer, jeder sechste ist ohne Arbeit. Das zwingt zur
Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit. Darin liegt aber auch die Chance des Umzugs
von Bonn nach Berlin.

Ob die Politik besser wird, wenn sie krasser mit der
gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird? Ob die
Politik klüger wird, wenn sie zwangsläufig in engeren
und häufigeren Kontakt mit Künstlern und Intellektuel-
len kommt? Ich hoffe das. Aber es gibt Zyniker, die sa-
gen: Eher wird die Kunst schlechter, als daß das andere
eintritt. Ich denke, wir sollten uns auf diese Zyniker
nicht berufen. Ich sehe mehr Chancen. Wir wären tö-
richt, wenn wir diese enormen Chancen nicht nutzten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner [PDS])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitaus
schwieriger als mit dem wirtschaftlichen Aufbau verhält
es sich mit dem, was man innere Einheit nennt, mit der
Überwindung der Mauer in den Köpfen und gelegentlich
in den Herzen. Ich glaube, die Verständigung über das,
was war, ist Voraussetzung für die Analyse dessen, was
ist und was sein soll. Die Mauer – dies gilt es zu erken-
nen und zu bewahren – wurde von Ost nach West einge-
drückt, und nicht etwa vom Westen geschleift.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß noch bis
kurz vor dem 9. November 1989 niemand im Westen
eine wirklich realistische Einschätzung vom nahenden
Zusammenbruch der DDR und des Kommunismus hatte.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Na ja, Sie vielleicht. Das will ich gerne einräumen. –
Eine behütet aufgewachsene Generation im Westen hat
sich allzuoft herausgenommen, Biographien von Men-
schen aus dem Osten herabzuwürdigen, ohne sich auch
nur einmal die Frage zu stellen: Wie hätte ich, wie hät-
ten wir uns denn unter ähnlichen Bedingungen verhal-
ten?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Die Anpassungsleistung, die notwendig war, mußte
fast ausschließlich von den Menschen in den neuen
Ländern erbracht werden. Das war oft schwierig und

mitunter sicher unerhört schmerzhaft. Deshalb verdient
diese Leistung unser aller Respekt.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Ich möchte in diesem Zusammenhang einen denk-
würdigen Satz zitieren, den ich aus aktuellem Anlaß ge-
hört habe. Da sagt der Kabarettist und Schriftsteller Pe-
ter Ensikat, als auch er in seiner engsten Umgebung mit
einem Fall verschwiegener Stasi-Vergangenheit kon-
frontiert wurde: „Auch in der DDR wurde ich nicht ge-
lebt. Ich habe gelebt.“ Das heißt dann ja wohl: Der nöti-
ge Respekt vor den Biographien der Menschen bedingt
auch Selbstrespekt, ein Bekenntnis jedes einzelnen zu
seiner eigenen Verantwortlichkeit.

Ich wünschte mir, wir alle würden uns gelegentlich
auf folgende Erkenntnis besinnen: Es gab gelingendes,
glückendes und authentisches Leben mitten in einem
falschen System, so wie es mißlingendes Leben auch in
einem richtigen System geben kann.

Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ent-
schädigung der Opfer von SED-Unrecht sagen. Die
Bundesregierung will Verbesserungen in den Punkten
erreichen, über die ich bereits vor geraumer Zeit mit den
Opferverbänden gesprochen habe. Wir wollen eine Er-
höhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politi-
sche Häftlinge erreichen. Hierfür brauchen wir die Zu-
stimmung der Länder. Ich hoffe, daß wir sie bekommen
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Wir wollen die Leistungen für die Hinterbliebenen
der ehemaligen politischen Häftlinge verbessern. Hier
denke ich insbesondere an die nächsten Angehörigen der
Hingerichteten oder der während der Haft Verstorbenen.
Beseitigt werden müssen auch die Schwierigkeiten bei
der Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden.
Wir müssen mehr tun für die Menschen, die aus den Ge-
bieten jenseits von Oder und Neiße verschleppt worden
sind. Lassen Sie uns das zusammen erreichen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir
uns keine Illusionen: Die Unterschiede in der Befindlich-
keit, auch im Geschichtsbewußtsein, die gegenseitigen
Ressentiments werden wohl noch eine ganze Weile beste-
henbleiben. Ohne Frage gibt es Differenzen zwischen
Ost- und Westdeutschland, genauso wie es auch Kli-
schees über Ost und West gibt. Diese Unterschiede sind
eben nicht nur die Folge von 40 Jahren Teilung, sondern
auch von zehn Jahren Erfahrungen mit der Einheit.

Was wir voneinander wissen, ist oft zu oberflächlich,
zu vorurteilsbeladen und ähnliches mehr. Ost- und
Westdeutsche werden sich noch länger einander zu er-
klären haben, ohne sich gleich rechtfertigen zu müssen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen
anderen Aspekt eingehen. Seit vielen Jahren diskutieren

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


wir in unserer Gesellschaft, auch hier mitten im Parla-
ment, über die Anforderungen der Globalisierung, über
die Notwendigkeit, flexibler auf die Veränderungen der
ökonomischen Basis in der Arbeitswelt zu reagieren.

Dabei fällt auf: Diese Diskussion wird fast aus-
schließlich im Westen Deutschlands geführt. Die große
Mehrheit in den neuen Ländern hat sich diese Frage
nämlich gar nicht stellen dürfen. Die Menschen mußten
es bei der Umgewöhnung in marktwirtschaftliche Ver-
hältnisse wie selbstverständlich hinnehmen, daß von ih-
nen Flexibilität und Mobilität erwartet wurde. Gleiches
an Erwartungen haben die Menschen auch im Westen zu
erfüllen.

Heute, so sagen die Zahlen, ist jeder dritte Jugendli-
che aus den ostdeutschen Ländern gleichsam „auf Wan-
derschaft“, sucht seine Arbeits- und Bildungsmöglich-
keit im Westen und an besonders chancenreichen Orten
im Osten Deutschlands.

Ich will hier nicht über die möglicherweise heilsamen
Schockwirkungen – so wird das gelegentlich genannt –
der deutschen Vereinigung philosophieren. Ich will auch
nicht behaupten, daß irgend jemand geplant hat, was im
Osten an tatsächlicher Entwurzelung, an Herausschleu-
dern aus eingeübten Lebensläufen geschehen ist. Ich sa-
ge nur, daß auch bei den Mentalitätsunterschieden die
Situation keineswegs so eindeutig ist, daß die Menschen
aus den ostdeutschen Ländern in wenigen Jahren ein
solches Maß an Umstellung vollzogen haben, daß ihnen
vieles am Besitzstanddenken der „Wessis“, am Behar-
rungsvermögen auch wider besseres Wissen schlicht un-
verständlich ist.

Aber auch das, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, eröffnet enorme Möglichkeiten. Ich wage zu be-
haupten: Wenn wir diese Bereitschaft zum Umdenken,
Umlernen und Umorientieren mit einer klugen und fle-
xiblen Sozialpolitik absichern, wird unsere Arbeitswelt
die nötigen Modernisierungsschübe gerade aus dem
Osten erfahren. Das ist auch gut so, weil wir dann ler-
nen, daß wir etwas von den Menschen lernen können,
die hier ihre Aufbauleistungen vollbracht haben.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber es
kann, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholt wer-
den: Der deutsch-deutsche Lernprozeß, das Zusammen-
wachsen dessen, was zusammengehört, ist ein beider-
seitiger Prozeß. Er verläuft von Stuttgart nach Schwerin
genauso wie von Rostock nach München. Dabei setze
ich jedenfalls vor allen Dingen auf die jüngere Generati-
on.

Die junge Generation ist viel weniger belastet von 40
Jahren Teilung. Diese Jugend genießt die Einheit in
vollen Zügen, sofern sie erlebt, daß sie in dieser Einheit
eine Zukunftschance hat. Genau um diese Zukunfts-
chance unserer Jugend müssen wir kämpfen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


Denn eine frustrierte Jugend – das haben wir oft genug
bitter erfahren müssen – kann zu Extremismus, zu Haß
und auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Das
müssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


Gerade weil wir uns für die Durchsetzung der Men-
schenrechte überall auf unserem Kontinent einsetzen,
dürfen wir im eigenen Land nicht nachlassen, für eine
offene, tolerante und friedliche Gesellschaft zu arbeiten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, die Einübung demokratischen Bewußtseins und die
Praxis gegenseitigen Verstehens – das sind auch Aufga-
ben der Kultur. Kultur kann und darf nicht vom Staat
verordnet werden. Aber für die Bedingungen, unter de-
nen sich Kultur entfalten kann, ist das Gemeinwesen, ist
der Staat sehr wohl verantwortlich.

In den nächsten zwei Jahren werden wir deshalb zu-
sätzlich 120 Millionen DM für ein kulturelles Investiti-
onsprogramm in den fünf neuen Ländern bereitstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auch die Hauptstadt-Kulturförderung wird in diesem
Jahr um 60 auf 120 Millionen DM verdoppelt. Wie ge-
sagt: Niemand sollte die kulturellen Unterschiede, die
regionalen Eigenheiten einebnen wollen. Die Vorstel-
lung etwa von einem vereinheitlichten Geschichtsbild
aller Deutschen widerspricht unserem Ziel einer offenen,
einer demokratischen Gesellschaft.

Nein, mir geht es nicht um eine „gesamtdeutsche Iden-
tität“, sondern es geht um die Herausbildung einer ge-
meinsamen Identität der Deutschen, der in Deutschland
Lebenden. Dieser Prozeß wird – ich bin dessen sicher –
noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, und er wird
auch von Rückschlägen gekennzeichnet sein. Wenn wir
aber bedenken, wie lange es, um ein Beispiel zu nehmen,
nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gedauert hat, wie-
der zu einem halbwegs dialogfähigen gemeinsamen Be-
wußtsein zu kommen, dann kann man sich ein Bild von
den Zeiträumen machen und dann stehen wir, glaube ich,
mit dem, was von den Menschen in Deutschland im Ma-
teriellen wie im Immateriellen geleistet worden ist, nicht
so schlecht da. Wir sollten uns also darauf einstellen, daß
es noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, bis wir
auch geistig eine „Nation von Staatsbürgern“ sind, wie
Jürgen Habermas sie uns wünscht.

Meine Damen und Herren, ohne die feste Einbindung
in den europäischen Einigungsprozeß und in das Atlanti-
sche Bündnis wäre die deutsche Einheit nicht möglich
geworden. Ebensowenig wäre sie gelungen ohne den
Beitrag der Völker in unseren osteuropäischen Nachbar-
staaten – der Ungarn, der Tschechen, der Polen. Beides
werden, beides dürfen wir nicht vergessen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


Der Umzug nach Berlin, die geographische Verlage-
rung von Parlament und Regierung bringt uns näher her-
an an unsere polnischen Nachbarn, macht deutlich, wie
wichtig Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West,
als Scharnier der europäischen Einigung werden kann
und – ich bin sicher – werden wird. Wir kommen eben
nicht nach Berlin als Rückkehr in eine – wie man es
nannte – „Mittellage“, die zu deutschen „Sonderwegen“
verführen könnte. Nein, wir gehen vorwärts in die Mitte
Europas. Berlin steht deshalb für die Vertiefung und für
die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses.

Das, meine Damen und Herren, macht die wirkliche
Bedeutung der Agenda 2000 aus, die wir, unter deut-
scher Ratspräsidentschaft, vor wenigen Wochen hier in
Berlin beschlossen haben. Bei aller berechtigten Kritik
an Einzelheiten: Es sollte wenigstens versucht werden,
diesen gesamteuropäischen Aspekt zu begreifen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber der Berliner Kompromiß ist darüber hinaus
auch aus deutscher Sicht ein Erfolg, und das insbesonde-
re für Ostdeutschland. Die neuen Bundesländer bleiben
in ihrer Gesamtheit in der höchsten europäischen För-
derkategorie. Über den gesamten Zeitraum der Agenda
werden sie insgesamt 20 Milliarden Euro erhalten. Ost-
berlin wird noch einmal eine Übergangsunterstützung in
Höhe von 729 Millionen Euro erhalten. Darin enthalten
ist eine Sonderzahlung von 100 Millionen Euro, die
wir auf dem Berliner Gipfel aushandeln konnten – für
die schwierige Situation hier in Berlin. Durch den Berli-
ner Kompromiß werden wir zusätzliche Rückflüsse in
Höhe von etwa 700 Millionen DM in Anspruch nehmen
können. Diese sollten wir für besondere Aufgaben nut-
zen.

Die Bundesregierung hat ja, entsprechend der An-
kündigung in der Regierungserklärung vom 10. Novem-
ber 1998, bereits dreimal mit ostdeutschen Landesregie-
rungen vor Ort getagt, um sich die besonderen Probleme
der jeweiligen Regionen vor Augen zu führen. Dabei
wurde – ob in Dresden, ob in Schwerin oder in Erfurt –
eines ganz deutlich: Auf den Nägeln brennen den betrof-
fenen Ländern vor allem Verkehrs- und Infrastruktur-
projekte. Die Bundesregierung wird deshalb den Lan-
desregierungen der ostdeutschen Bundesländer vor-
schlagen, die zusätzlichen Rückflüsse für zusätzliche In-
vestitionen in die dringendsten Verkehrsprojekte der
neuen Bundesländer zu verwenden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den ver-

gangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was
als „neue deutsche Verantwortung“ im Grunde seit Ende
des kalten Krieges und seit der staatlichen Einigung
Deutschlands absehbar war. Es ist Zeit, das immer wie-
der auszusprechen. In diesem Zusammenhang möchte
ich Ismail Kadaré, den bekanntesten und vielfach preis-
gekrönten Schriftsteller Albaniens, zitieren:

Der Balkan ist der Hof des europäischen Hauses,
und in keinem Haus kann Frieden herrschen, solan-
ge man sich in seinem Hof totschlägt.

Weiter schreibt er:
Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das at-
lantische Europa eine neue Seite in der Weltge-
schichte aufgeschlagen... Es geht nicht um materi-
elle Interessen, sondern ums Prinzip: die Verteidi-
gung der Rechte und der Existenz des ärmsten Vol-
kes auf dem Kontinent. So wird Europa zum Euro-
pa der Menschen... Dies ist ein Gründungsakt, und
wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel,
sondern im Schmerz.

Selten – ich gebe es zu – habe ich die Worte eines
Schriftstellers zu einem solchen Problem so treffend ge-
funden. Das sage ich auch ganz persönlich.

Es geht um folgendes: Die Epoche nach dem kalten
Kriege verlangt von uns, daß wir Europa politisch neu
definieren. Für Europa hat es nie eine allgemeingültige
geographische Definition gegeben. In der Geschichte hat
sich Europa immer politisch und dabei gewissermaßen
immer aufs neue definiert.

Was sind die Anforderungen an diese neue Definiti-
on? Mehr als alles andere braucht Europa heute Rechts-
sicherheit und Rechtsfrieden. Beides ist nur dort her-
stellbar, wo sich Europa auch politisch für Europa, und
zwar für ganz Europa, zuständig fühlt und die entspre-
chende Verantwortung auch tatsächlich wahrnimmt. Das
macht die Bedeutung unseres Engagements auf dem
Balkan aus; und insofern stimme ich Ismail Kadaré zu,
wenn er von einem „Gründungsakt“ spricht, den wir
hinter uns haben.

Es geht um den Gründungsakt für ein Europa der
Menschen und der Rechte der Menschen – der Men-
schenrechte. Die Notwendigkeit eines solchen „Grün-
dungsaktes“ gilt insbesondere für unser Land, für
Deutschland nach der Vereinigung. Wir, die wir die
Trennung Europas so schmerzlich erlitten haben, können
nun beweisen, daß wir die Chancen der Einigung be-
herzt ergreifen und daß wir das nicht nur für uns tun. Ich
meine nicht nur die Chancen der institutionellen Eini-
gung, sondern auch und vor allem die der Herstellung
einer gesamteuropäischen Wertegemeinschaft. Das
heißt: Wir bekennen uns heute zu einem Europa der
Menschenrechte, das niemanden auf unserem Kontinent
ausschließt; und dafür kämpfen wir.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfah-
rungen – zumal die der friedlichen Revolution in der
damaligen DDR – zeigen uns: Menschenrechte und De-
mokratie sind in Europa heute machbar bzw. müssen
machbar werden. Denn das ist heute möglich. Freiheit,
das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Demokratie,
Menschenrechte und Solidarität – das alles sind heute
keine Proklamationen mehr, die man über den europäi-
schen Zaun hinwegrufen könnte. Wir sind nach dem En-
de des kalten Krieges eben nicht in eine „Geometrie der
Macht von 1648 bis 1945“ zurückgefallen, wie es uns
manche amerikanischen Historiker vorgerechnet haben.
Nein, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß es
zur Westbindung Europas – und damit auch zur West-
bindung Deutschlands – politisch und kulturell keine
Alternative gibt.

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(B)



(A) (C)



(D)


Deshalb ist für uns Stabilitätspolitik in Europa heute
– ganz aktuell – in erster Linie Menschenrechtspolitik.
Wir wissen aber ebenso: Die friedliche Entwicklung, die
uns in mehr als 50 Jahren Nachkriegszeit in Westeuropa
beschert war, hatte Wohlstand, wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und kulturellen Austausch zur Voraussetzung.
Das war kein Zufall. Auch für Ost- und Südosteuropa
gilt: Friedliche Entwicklung braucht Wohlstand, und der
Wohlstand braucht den Frieden. Diesen Lehrsatz zu be-
herzigen und nach ihm zu handeln ist gerade uns Deut-
schen historischer Auftrag.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir stehen nicht nur in einer historischen Verant-
wortung: als Land zweier Diktaturen in diesem Jahrhun-
dert, als Land, das Völkermord und Aggression über un-
seren Kontinent gebracht hat; nein, wir stehen auch in
einer Verantwortung, die aus unserer Wirtschaftskraft
erwächst. Gesamteuropa, unter Einschluß der Völker des
Balkans, braucht eine gemeinsame, europäische Per-
spektive, eine Perspektive des Friedens, aber, wenn man
ihn dauerhaft sichern will, auch eine Perspektive der
ökonomischen und sozialen Entwicklung. Wir haben
daran mitzuarbeiten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleich hin-
ter diesem Haus, auf der östlichen Seite des Reichstags-
gebäudes, hat nach dem Mauerdurchbruch 1989 jemand
in großen Lettern die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht
an eine Wand geschrieben. Ich wünschte mir, diese
Hymne würde zum Integrationssymbol für Ost und
West, würde zum Selbstverständnis der „Berliner Repu-
blik“ beitragen; denn es gibt kaum einen Text, der auf so
einfache und durchdringende Weise die Verbundenheit
mit dem eigenen Land ohne jede nationale Überheblich-
keit beschreibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb möchte ich zum Schluß jenem anonymen

Fassadenmaler danken – aber nur das eine Mal! –, der
uns diese schönen Worte gewissermaßen ins Blickfeld
geschrieben hat:

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403300200
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzen-
der der CDU/CSU.


Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1403300300
Herr Präsi-
dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich
mit dem Umzug von Bonn nach Berlin beschäftigt hat,

für den ist heute gewiß ein bewegender Tag. Deswegen
gestatten Sie mir die persönliche Bemerkung: Die Tatsa-
che, daß wir als deutsches Parlament heute in der deut-
schen Hauptstadt unsere Arbeit aufnehmen können, hat
viele Gründe. Viele haben daran mitgewirkt, aber einer
vielleicht doch mehr als andere. Deswegen möchte ich
zu Beginn meiner Rede Helmut Kohl herzlich danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ohne sein Festhalten daran, daß die deutsche Frage
offenblieb, solange das Brandenburger Tor zu war – die-
se Worte stammen von jemand anderem; aber das war
die Politik –, und ohne das entschlossene und zugleich
maßvolle und beherrschte Nutzen der Chance, als die
Geschichte sie bot, wären wir heute nicht hier.

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endet jetzt eine
Phase, die den Übergang von der Teilung zur Einheit
markiert, 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes,
50 Jahre nach Entstehen der zwei Staaten in Deutsch-
land, das vor zehn Jahren wiedervereinigt wurde. Ausge-
rechnet in diesen Wochen ist Deutschland im Kosovo
erstmals seit dem zweiten Weltkrieg an anhaltenden
militärischen Kampfaktionen beteiligt. Das ist viel auf
einmal und deshalb Grund genug, sich zu vergewissern,
wo wir stehen, welches die Fundamente sind, wohin wir
gehen und wie wir die Welt sehen, in der wir leben
wollen.

Von diesem Jahr 1999, seinen vielfältigen wider-
sprüchlichen Gedenktagen – vom Goethe-Jahr bis zum
60. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges –
und der Art, wie wir damit umgehen, hängt viel ab, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen, wie unser vereintes
Deutschland an der Schwelle des neuen Jahrhunderts die
Wunden des alten überwindet und Grundlagen für das
neue findet, um Zukunft zu gestalten.

Wenn wir nach der Vollendung der Einheit Deutsch-
lands fragen, dann müssen wir uns der Grundlagen unse-
rer nationalen Gemeinschaft vergewissern. Mir scheint,
daß, unbeschadet aller definitorischen Bemühungen, die
ja ganze Bibliotheken füllen, jedenfalls gemeinsame
Erinnerungen und der Wille zur gemeinsamen Zukunft
dafür unverzichtbar sind – Erinnerung und Zukunft, also
die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Ver-
hältnis zur Geschichte immer wieder neu klären. Das ist
Luther, das ist Goethe, das ist Bismarck, aber es ist eben
auch und vor allem die Geschichte dieses Jahrhunderts:
die Katastrophen zweier Weltkriege, die Tragödie einer
gescheiterten Republik, das Grauen der Nazibarbarei,
das den Namen Auschwitz trägt. Zu diesem Jahrhundert
gehören die 40 Jahre der Teilung und die dann doch
noch erfolgte Rückgewinnung der Einheit in Freiheit.
Auch die Mahnmaldebatte, die wir jetzt im Parlament zu
einem Abschluß bringen müssen, ragt sperrig, aber not-
wendig in das Jahr der Gedenktage 1999 hinein.

Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und das war
sie auch in der Zeit der Teilung. Aber was so leicht ge-
sagt ist, erfordert doch manches: Was wissen die West-
deutschen schon von den 40 Jahren DDR? Wenn wir uns

Bundeskanzler Gerhard Schröder






(A) (C)



(B) (D)


zur Gemeinsamkeit der Geschichte auch in der Zeit der
Teilung bekennen, dann heißt das zuerst, daß wir sie
überhaupt kennen – kennen wollen, kennenlernen. Da
haben die Westdeutschen vielleicht Nachholbedarf. Die
Deutschen in der DDR wußten vom Leben im Westen
mehr – nicht das, was im Zerrbild der SED-Propaganda
ausgemalt wurde, sondern eher durch das Westfernse-
hen, durch die Zunahme von Westreisen, vor allem in
den 80er Jahren. Aber sie wußten letztlich vor allem
deshalb etwas, weil sie Interesse daran hatten, wie es
wohl im Westen sein mochte.

Aber auch Hitler und Auschwitz sind gemeinsame
Vergangenheit. Da haben die Ostdeutschen vielleicht
Nachholbedarf, weil die Kommunisten unter der zuneh-
mend wohlfeilen Formel des Antifaschismus die Ver-
antwortung für diesen Teil unserer Geschichte bequem
auf den Westen abschoben. Beethoven, Goethe, selbst
Luther, Bismarck und Friedrich der Große – das war
auch den DDR-Offiziellen deutsche Geschichte. Bloß
Hitler, den ließ man den Westdeutschen allein.

Vielleicht sind wir am Ende dieses Jahrhunderts eher
bereit, dazuzulernen, wenn wir uns klarmachen, daß wir
eben alle Nachholbedarf haben. Wenn wir uns um die
ganze Geschichte bemühen, dann dürfen wir auch den
deutschen Osten und sein Erbe – Flucht und Vertrei-
bung, bis zu den Sudetendeutschen und den Rußland-
deutschen – nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die durch diese gut 40 Jahre, bis 1989, zweigeteilte

Geschichte erklärt für mich viel von den Verletzungen,
die als Folge von Teilung und Diktatur auch zehn Jahre
danach spürbar geblieben sind, ja, die zum Teil erst in
den vergangenen zehn Jahren entstanden sind oder ver-
stärkt wurden: „Besser-Wessis“ und „Jammer-Ossis“ –
satirisch gemeint, aber in ihrer Begrifflichkeit und in
dem, was sie beschreiben, Quellen neuer Verletzungen.

Fremdheit und signifikante Einstellungsunterschiede,
etwa zu grundlegenden Positionen der sozialen Markt-
wirtschaft, wie Demoskopen belegen, aber auch zu
Grundfragen der politischen Ausrichtung unserer Bun-
desrepublik Deutschland, von der europäischen Eini-
gung einschließlich der Osterweiterung bis zu den
NATO-Aktionen im Kosovo; Verletzungen durch die ju-
ristische und bürokratische Aufarbeitung der Teilung,
von den Strafverfahren bis zu den Eigentumsfragen, von
Entschädigungsregelungen bis zur Anerkennung von
Bildungsabschlüssen – immer lauert dahinter das Bild,
daß die Wende im Ergebnis Sieger und Besiegte hatte.

Zugegeben, soweit es bis 1989 einen Wettlauf der
Systeme gab, so weit hat in der Tat die Freiheitsordnung
von Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft gesiegt.
Aber deswegen sind die Ostdeutschen nicht die Besieg-
ten. Sie wollten Freiheit und Demokratie, auch soziale
Marktwirtschaft – und die dadurch gegebenen besseren
Chancen für Wohlstand – und soziale Sicherheit. Sie
wollten ja gerade das DDR-System loswerden. Also sind
sie nicht Besiegte, sondern Sieger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Vielleicht rührt das falsche Bild von den Siegern und
Besiegten, das in manchem Herzen nagt und neue Di-
stanz schafft, daher, daß viele, zu viele das Gefühl ha-
ben, ihr Leben in diesen Jahrzehnten vor 1989 sei nichts
mehr wert, sei vergeblich gewesen. Das wird übrigens
ausgerechnet noch von denjenigen politisch ausgebeutet,
die die Hauptverantwortung für das System vor 1989
trugen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Darüber müssen wir uns Rechenschaft ablegen: Auch
die Deutschen, die in der DDR lebten, haben ihre Le-
bensleistung, auf die sie genausoviel oder genausowenig
stolz sein wollen und können wie andere im Westen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Erfolge des Systems gab es, vom Sport einmal abge-
sehen, in der DDR wenig. Das hat ja auch die verfas-
sungspolitische Debatte über Bewahrenswertes aus
DDR-Zeiten im Zuge der Herstellung der staatlichen
Einheit 1990 so eigenartig unkonkret gemacht. Aber die
Lebensleistung der Menschen, die zum Beispiel unter
ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen –
mit Reparationen an die Sowjetunion statt mit Marshall-
plan-Hilfe, ohne Demokratie und mit einem Effizienz
und Leistung eher unterdrückenden stupiden bürokrati-
schen Zentralismus – ihre Heimat doch auch wieder
aufgebaut haben, bleibt unberührt von der Erfolglosig-
keit und dem Zynismus des Systems, in dem sie leben
mußten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie mußten unter der Kuratel eines repressiven und

totalen Überwachungsstaats Mitmenschlichkeit, Nähe
und Anstand leben, und sie haben es getan. Sie haben es
mit ansehen und miterleben müssen, als 1953 ein frei-
heitlicher Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, und
1968 haben die Menschen in der damaligen DDR nach
dem Prager Frühling und seiner brutalen Niederschla-
gung den Mut nicht verloren, sondern ein neues Ver-
ständnis für Bürgerrechte entwickelt und damit ihren
Anteil daran, daß der Helsinki-Prozeß möglich wurde
und Erfolg hatte.

Aber Lebensleistung, die keinem genommen werden
darf, schuf eben nicht Identität in und mit der DDR –
was vielleicht erklären könnte, daß in der DDR sogar
das Gefühl für die Bewahrung unserer deutschen Natio-
nalkultur lebendiger, verbreiteter blieb als teilweise im
Westen. Es entstand eben keine DDR-Identität, und die
SED-Machthaber wußten das übrigens viel besser als
manche linken Anpasser im Westen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie wußten genau, daß sie die gesamtdeutsche Identität
nicht würden ausrotten können. Deswegen haben sie
auch Gorbatschow von vornherein so mißtraut, und in
dem Mißtrauen hatten sie recht: Das mußte das System
beseitigen. Schlecht war es trotzdem nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


Daraus ergibt sich die Lehre: Ohne Freiheit entstehen
Identität, Zugehörigkeit nicht; und – wie wir im ehema-
ligen Jugoslawien grausam studieren müssen – Toleranz
eben auch nicht. Die Freiheit markiert den entscheiden-
den Unterschied in diesen 40 Jahren bis zum Fall der
Mauer. Deshalb war die Freiheit, wie Bundeskanzler
Helmut Kohl einst im Bericht zur Lage der Nation im
geteilten Deutschland sagte, der Kern der deutschen
Frage. Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nur
Sieger, und auch weil wir uns alle die Freiheit nicht al-
lein und nicht nur durch eigene Leistung erworben ha-
ben, sondern sie zum Teil eben auch geschenkt bekamen
– im Westen zuerst durch die Wertegemeinschaft der
freiheitlichen Demokratien und im Osten dann durch das
Offenhalten der deutschen Frage und den Wunsch Euro-
pas, seine Teilung zu überwinden, so daß die Menschen
überall in Europa in Freiheit leben könnten –, gibt es
weder Sieger noch Besiegte. Es gibt auch keinen Grund
– für niemanden in Deutschland –, Dankbarkeit einzu-
fordern oder sie zu schulden für die gemeinsame Arbeit,
Teilung und Unfreiheit als Last unserer Geschichte zu
überwinden. Bei dieser Arbeit haben wir gemeinsam Er-
folg gehabt.

Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Für
die Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Ber-
lin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD und der F.D.P.)


Deshalb mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament
und Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habe
ich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir die-
ses Gebäude mit seiner demokratischen republikani-
schen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dür-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. – Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])


– Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auch
schon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir im
Reichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Be-
zeichnung und schreiben wir keine andere vor.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir ent-
schieden, daß wir künftig im Reichstag tagen. So ein-
fach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer der
Deutsche Bundestag.

Also, die Freiheit war entscheidend. Mit der Freiheit
hängen – richtig verstanden – Solidarität und Gerechtig-
keit untrennbar zusammen. Deshalb war das Grundge-
setz und seine Ordnung das Maß der Dinge – vor dem
Fall der Mauer gerade für die Menschen in der DDR und
bei der Herstellung der staatlichen Einheit für uns alle.
Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, auch
zehn Jahre danach. Vielleicht – nein, gewiß, verehrte
Kolleginnen und Kollegen – haben wir auf diesem Weg
beim Einigungsvertrag und bei seiner oft so bürokratisch
und perfektionistisch wirkenden Umsetzung Fehler ge-
macht. Aber lernen können wir noch immer. Da es 1989

nicht Sieger und Besiegte gab, weil uns nach dem
Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Systeme auferlegt
wurden und wir uns am Ende gemeinsam für die Freiheit
entscheiden konnten, sollten wir bei der Aufarbeitung
der Vergangenheit die Suche nach individueller Schuld
nicht zu sehr in den Vordergrund stellen.

Wir haben auch nicht nur Fehler gemacht. Wir haben
gemeinsam auch viel erreicht. Darauf können und darauf
sollten wir ein wenig stolz sein. Vielleicht ist das Wis-
sen um das gemeinsam Geschaffene und Gelungene
auch eine Vorkehr gegen zuviel Wehleidigkeit der Deut-
schen am Ende dieses Jahrhunderts. Wir, verehrte Kol-
leginnen und Kollegen, haben es nicht am schwersten
auf dieser Welt. Andere beneiden uns eher.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Wir leben in größerem Wohlstand und in größerer so-
zialer Sicherheit als die allermeisten Menschen auf die-
ser Welt – auch in Europa. Das gilt auch für die Men-
schen in den neuen Bundesländern – bei allen Proble-
men und bei allen noch immer im Vergleich zu West-
deutschland bestehenden Unterschieden und Nachteilen.
Aber nichts ist für die Zukunft selbstverständlich.

Die Welt verändert sich. Der Wandel der realen wirt-
schaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse voll-
zieht sich oft schneller und in gewaltigeren Dimensio-
nen, als vielen lieb ist. Dem müssen wir uns stellen. Wer
Bewährtes erhalten will, muß verändern – immer, heute
aber vielleicht mehr als zu früheren Zeiten. Weil Wohl-
stand eher zur Verteidigung von Besitzständen verleitet,
stoßen Innovationen und Reformen auf viel Widerstand
– im Westen übrigens stärker als im Osten, wo die Men-
schen seit 1989 wahrhaft grundstürzende Veränderungen
verkraften mußten. Aber an der Fähigkeit zu zukunfts-
gestaltenden Strukturreformen entscheiden sich trotz al-
ler Widerstände unsere Zukunftschancen. Der Arbeits-
markt verändert sich durch technologische Entwicklung
und Globalisierung rasant, und der Altersaufbau unserer
Bevölkerung auch. Konsequenzen für Renten- und
Krankenversicherung sind ebenso unausweichlich wie
die Reform unserer Schulen und Hochschulen.

Europäische Einigung ist die beste Vorsorge für das
kommende Jahrhundert; aber auch sie fordert – wie wir
beispielsweise bei der Währungsunion gesehen haben
und bei der Osterweiterung noch sehen werden – immer
wieder Mut zu Neuem. Wenn wir – auch unter dem Ge-
sichtspunkt von Friedenssicherung und ökologischer
Nachhaltigkeit – unseren Globus zunehmend als eine
Welt begreifen, als eine Welt, in der Grenzen weniger
trennen und Entfernungen schrumpfen, dann muß uns
dies auch den Blick für globale Zusammenhänge und für
die Unteilbarkeit unserer Verantwortung öffnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Verunsicherung, Angst vor der Zukunft wäre die fal-
sche Antwort. Offenheit als Chance begreifen, Gestal-
tungsaufgaben als Herausforderung, Freude auf Neues,
Neugier auf Künftiges – das kann man auch in diesem

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


wunderbar erneuerten Reichstag so empfinden –, das
alles macht Mut zur Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Basis dafür haben wir in unseren gemeinsamen

Erinnerungen und in den Werten, die Grundlage frei-
heitlichen Zusammenlebens sind. Sie sind unverzichtbar.
Deswegen ist Verantwortung für die Geschichte so we-
nig rückwärts gewandt wie das Eintreten für Grundwerte
wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Menschen-
würde und Toleranz oder auch das Eintreten für Ord-
nungsprinzipien und Institutionen, die Werte vermitteln
können, von der Familie bis zum Subsidiaritätsprinzip.
Wer feste Wurzeln hat, kann weiter ausgreifen. Wer sich
seines Fundaments gewiß ist, hat mehr Kraft zur Inno-
vation, zur Veränderung. Das läßt Zukunft gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Ich sagte schon: Wir haben es nicht am schwersten
auf dieser Welt – genauso wie wir nicht – und schon gar
nicht auf Grund unserer Vergangenheit – ein Monopol
auf Betroffenheit oder Sensibilität haben. Andere sind
auch betroffen, und andere haben auch Sensibilität.

Damit bin ich beim Zusammenhang von Frieden und
Freiheit, auch bei der Unteilbarkeit von Frieden und
Freiheit. Genau darum geht es im Kosovo.

Wir haben vor ein paar Tagen in Bonn – und gewiß
nicht zum letzten Mal – wieder über Völkerrecht, Inter-
ventionsverbot und Universalität von Menschenrechten
diskutiert. Wir werden damit lange nicht zu Ende sein.
Entziehen können wir uns dieser Debatte nicht mehr.
Den Konsequenzen müssen wir uns stellen.

So ist unsere Bundesrepublik Deutschland mit der
Wiedervereinigung auch erwachsen geworden. „Unein-
geschränkt souverän“ nennt das der Staatsrechtler. Wer
aber Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir werden nicht
mehr bevormundet, sondern sind Partner und tragen
deshalb Verantwortung. Weder behütet noch bevormun-
det – das bedeutet erwachsen sein.

Das bedeutet zuerst, daß staatliche Machtentfaltung
auch am Ende dieses Jahrhunderts notwendig bleibt, um
friedliches, freiheitliches Zusammenleben zu sichern. Im
Rechtsstaat haben wir eine verbindliche Rechtsordnung
mit einer die Durchsetzung von Recht sichernden Ge-
richtsbarkeit und staatlichem, auch rechtlich begrenztem
Gewaltmonopol. International, weltweit, aber leider
auch in Teilen Europas haben wir das noch nicht. Des-
halb ist für Sicherheit, für Frieden und Freiheit Machtlo-
sigkeit keine Tugend, sondern Verweigerung von Ver-
antwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das fällt uns Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts

nicht leicht. Aber die Erkenntnis und ihre Konsequenzen
sind unausweichlich: staatliche Machtentfaltung, Durch-
setzung von Regeln für politische, soziale und ökonomi-
sche Sachverhalte und Prozesse. Das läßt sich allerdings
nicht immer so perfektionistisch regeln, wie wir uns das
in unserem – gelegentlich zur Hypertrophie neigenden –
Rechtswegestaat manchmal angewöhnt haben. Das gilt

bei Fragen, wie wir in Zeiten der Globalisierung soziale
Sicherheit und Vollbeschäftigung wahren können, im
Prinzip nicht anders als bei der Debatte um die völker-
rechtlichen Grundlagen von NATO-Aktionen.

Die Anerkennung von Realitäten, die Kraft des Fakti-
schen, die etwa im Völkerrecht beim Interventionsverbot
eine ganz entscheidende Rolle spielt, die stoßen sich mit
manch grundsatzbewegter Rechthaberei, und sie sollten
uns die Prozeßhaftigkeit – also die Veränderbarkeit –
politischer, sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalte
und der Kriterien zu ihrer Beurteilung lehren.

Das alles ist beunruhigend, unbequem. Aber es wird
durch die Einsicht erleichtert, daß wir nicht mehr allein
stehen, letztlich weder allein handeln können noch – vor
allem – wollen.

Natürlich ist auch Integration nicht immer bequem.
Eigene Vorstellungen und Überzeugungen lassen sich
nicht immer so ganz durchsetzen, und Kompromisse
sind ebenso unvollkommen wie unausweichlich. Aber
Integration vermeidet eben Isolierung. Im übrigen wirkt
Integration auch der Gefahr dramatischer Irrwege entge-
gen. Schwerfälligkeit von Entscheidungsprozessen ist
dann insoweit immerhin auch Vorkehr gegen Übermut,
so wie Trägheit, physikalisch betrachtet, eben auch sta-
bilisiert.

Militärische Gewaltanwendung bleibt als Ultima ratio
zur Wahrung von Frieden, Freiheit und grundlegenden
Menschenrechten unverzichtbar, solange wir internatio-
nal eine verbindliche und durchsetzbare Rechtsordnung
und ein Gewaltmonopol nicht haben. Niemals mehr al-
lein – das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleich
unsere Chance an der Schwelle zum nächsten Jahrhun-
dert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Europäische Integration und atlantische Partnerschaft
sind unsere feste Basis. Um sie zu erhalten, müssen wir
selbst verläßliche Partner sein. Das beschreibt unsere
Verantwortung: für uns und unsere Zukunft, für uns und
für Europa.

Besonders in den neuen Ländern tun sich manche
unserer Mitbürger damit schwer – aber wer wollte das
nicht verstehen? – wo man so lange nicht nur dem
Zerrbild der Anti-NATO-Propaganda ausgesetzt war,
sondern wo man vor allem auch unter zuviel staatlicher
Machtentfaltung gelitten hat. Aber zuwenig ist so
falsch wie zuviel. Demokratisch legitimierte, rechtlich
kontrollierte und begrenzte staatliche Machtentfaltung
bleibt notwendig, auch nach dem Zuviel der Diktatu-
ren.

Aber auch das gilt: Wegsehen hilft am Ende nieman-
dem. Das wenigstens hat uns dieses Jahrhundert gelehrt.
Andere haben nicht weggesehen. Deshalb leben wir
heute in Frieden, Freiheit und Einheit. Das ist nicht we-
nig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und gewiß ge-
nug, um darauf eine neue Ernsthaftigkeit unseres Ver-
ständnisses von politischen Prioritäten und Notwendig-
keiten zu gründen.

Dr. Wolfgang Schäuble






(B)



(A) (C)



(D)


Wenn wir den Zusammenhang von Freiheit, Solida-
rität und Gerechtigkeit national, europäisch und weltweit
begreifen, dann finden wir unsere Aufgaben, Aufgaben,
über die wir an Einheit noch vollenden können, was bis-
her unfertig geblieben ist und was uns hilft, die Wunden
von Diktaturen und Teilung zu schließen und Verletzun-
gen auszuheilen.

Über unsere Aufgaben aus der Verantwortung für
Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die
Einheit vollenden, daran, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, läßt sich arbeiten: hier im Reichstag für
Deutschland und für Europa.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1403300400
Lieber Kollege
Schäuble, Sie haben mich in Ihrer Rede direkt angespro-
chen. Ich will deswegen etwas dazu sagen.

Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß mir das
Wort „Reichstag“ in meiner Rede fließend über die Lip-
pen gekommen ist.


(Heiterkeit)

Aber ich glaube nicht, daß Sie mich dafür kritisieren

sollten, daß ich eine Kompromißformulierung des Älte-
stenrates als Parlamentspräsident öffentlich vertrete,
eine Kompromißformulierung zudem, der Sie persönlich
zugestimmt haben, Herr Kollege Schäuble.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hört! Hört!)

Im übrigen halte ich es für meine Pflicht als Parla-

mentspräsident, dafür einzutreten, daß der Name unseres
Parlaments, Bundestag, auch in Berlin eine Chance be-
kommt.


(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich nun dem Fraktionsvorsitzenden

der SPD-Fraktion, dem Kollegen Peter Struck.


Dr. Peter Struck (SPD):
Rede ID: ID1403300500
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich glaube, die Frage, wie dieses Haus
genannt werden wird, werden die Bürger entscheiden.
Aber prinzipiell möchte ich Ihnen, Herr Präsident, sa-
gen: Die SPD-Fraktion steht immer auf Ihrer Seite. Da
können Sie ganz sicher sein.


(Beifall bei der SPD)

Das zweite, was ich sagen möchte: Heute ist ein

besonderer Tag. Man merkt das an der etwas weihe-
vollen Stimmung, die üblicherweise nicht im Deut-
schen Bundestag herrscht. – Ich denke, das wird sich
ändern. – Man merkt es übrigens auch an der Präsenz
des Bundesrates, die in diesem Maße auch nicht üb-
lich ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren Mi-
nisterpräsidenten, wenn Sie in Zukunft auch so zahl-
reich dabeisein werden, dann werden wir uns alle sehr
freuen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist gerade für uns Sozialdemokraten ein denkwür-
diger Tag, für meine Fraktion in ganz besonderem Ma-
ße; denn wir Sozialdemokraten kommen zurück – besser
gesagt kehren zurück – in ein Haus, in dem unsere Par-
tei, Fraktionen der SPD schon im letzten Jahrhundert für
mehr Demokratie und für soziale Gerechtigkeit gestrit-
ten haben, mit August Bebel an der Spitze.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dennoch kehren wir mit gemischten Gefühlen in dieses
Haus zurück. Es ist der Ort, an dem die Demokratie von
ihren Gegnern systematisch mit Füßen getreten wurde,
der Ort, an dem die größte Niederlage der Demokratie in
Deutschland vorbereitet wurde. Aber für uns bleibt es
auch der Ort, an dem Sozialdemokraten in ihrem Kampf
für eine gerechtere Welt allen Demokratieverächtern die
Stirn geboten haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es war ein zäher Kampf, ein Kampf der tausend klei-
nen Schritte. Heute vor 100 Jahren, genau am 19. April
1899, wurde in diesem Haus für einen dieser kleinen
Schritte gestritten – von Sozialdemokraten. Die Forde-
rung nach besseren Arbeitsbedingungen für Verkäufer
und Heimarbeiter stand auf der Tagesordnung. Es ging
darum, Arbeiter nicht länger als Menschen zweiter Klas-
se zu behandeln und sie gegenüber Arbeitgebern mit
mehr Rechten auszustatten. „Bravo-Rufe bei der SPD-
Fraktion“ vermerkte das Protokoll, als ein sozialdemo-
kratischer Tischler aus Dresden am zähen Kampf seiner
Partei – meiner Partei, unserer Partei – keine Zweifel
ließ und den Gegnern der sozialdemokratischen Arbei-
terbewegung voraussagte:

Wir werden alles einsetzen, um die Gleichberechti-
gung zwischen Unternehmern und Arbeitern einzu-
führen; solange der Kampf auch noch nötig sein
mag, wir werden nicht erlahmen, bis wir das Ziel
erreicht haben.


(Beifall bei der SPD)

Ob Sie, Herr Bundeskanzler, das alles heute noch so
unterschreiben würden, versehe ich mit einem Fragezei-
chen. Aber generell möchte ich schon sagen, Herr Bun-
deskanzler: Es freut mich sehr, daß der erste Regie-
rungschef, der eine Regierungserklärung im neuen Bun-
destag, im Reichstag abgegeben hat, ein Sozialdemokrat
ist.


(Beifall bei der SPD)

Auf diese Geschichte des langen Atems sind wir So-

zialdemokraten stolz. Deshalb empfinde ich es auch als
gutes Omen, jetzt an diesen Ort zurückzukehren, an dem
August Bebel, wie er sagte, „die Tretmühle des Parla-
ments“ erlebt hat.

Wenn es einen Ort gibt, der für die demokratischen
Höhen und Tiefen Deutschlands steht, dann ist es dieser
Bau. – Ich möchte an dieser Stelle, Herr Präsident, all
denjenigen danken, die in der Baukommission des Älte-
stenrates an diesem Bau mitgewirkt haben. Ich möchte

Dr. Wolfgang Schäuble






(A) (C)



(B) (D)


in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Kollegen
Peter Conradi erwähnen, der heute unter uns ist. –


(Beifall)

Wir alle wehren uns dagegen – der Bundestagspräsident,
der Bundeskanzler haben es ausgesprochen –, den
Reichstag einseitig als Parlament der Nazi-Macht-
ergreifung zu sehen. Es ist bezeichnend, daß er den
Gegnern der Demokratie – vom Kaiserreich bis zum
Nationalsozialismus – immer ein Dorn im Auge war.
Für sie war er „Reichsaffenhaus“, „Schwatzbude“ oder
„Lügenzentrale“. Parlamentarismus als Meinungsbil-
dung war diesen Hetzern verhaßt. Sie tragen die Ver-
antwortung dafür, daß sich das Gros der „Insassen“ am
Ende der Weimarer Republik zu einem „gröhlenden
Männerchor“ gewandelt hat. So hat es Willy Brandt als
Alterspräsident 1990 bei der ersten Sitzung des wieder-
vereinten Bundestages an diesem Ort ausgedrückt. Uns
muß das Mahnung und Verpflichtung sein. Nie wieder
darf aus diesem Haus heraus durch Mißachtung und
Verleumdung des politischen Gegners der Demokratie
Schaden zugefügt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Willy Brandt hat 1990 allerdings auch daran erinnert,
daß längst nicht alle Parlamentarier in dieses dumpfe
Gröhlen eingestimmt haben. Er hat daran erinnert, daß
200 Mitglieder des Reichstages in Konzentrationslager
und Gefängnisse verbracht wurden und daß über 100
Mitglieder des Reichstages wegen ihrer demokratischen
Überzeugungen das Leben geben mußten. Das zeigt:
Das Parlament, das in diesem Reichstag vor uns getagt
hat, gehört nicht zum Verwerflichsten, was deutsche Ge-
schichte zu bieten hat.

Wir kehren heute zurück in ein Gebäude, das wie
kein zweites an die deutsche Trennung durch die Mauer
und an das Fehlen von Demokratie im real existierenden
Sozialismus mahnte. Direkt an der Mauer war der leer-
stehende Reichstag nach Meinung des ehemaligen Re-
gierenden Bürgermeisters Klaus Schütz ein Symbol, das
– seiner Funktion beraubt –, den Zustand der Nation am
deutlichsten wiedergab. Folgerichtig müssen wir ihn
jetzt – vereint – wieder mit parlamentarisch-de-
mokratischem Leben erfüllen. Wir sind in der Pflicht,
dieses Haus zum Wahrzeichen einer prosperierenden
Demokratie zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Willy Brandt hat in seiner Rede als Alterspräsident
1990 ahnungsvoll gesagt:

Die Mitverantwortung Deutschlands ist in der Welt
gewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas.

Seine Befürchtungen sind auf das schlimmste übertrof-
fen worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.
Massaker, Vertreibung und Völkermord halten uns in
den 90er Jahren in Atem. Die Auseinandersetzungen in
Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo
forderten und fordern uns Entscheidungen ab, die wir
1990 in der Freude über die deutsche Vereinigung noch

für unmöglich gehalten hätten. Es ist eine besondere
Tragik, daß ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesre-
gierung in der Geschichte unseres Landes solche Ent-
scheidungen mit vorzubereiten und zu verantworten hat.

Am Ende des Jahrhunderts, nach einer langen Phase
eines oft angespannten Friedens zwischen Ost und West,
ist das Gespenst des Völkerhasses in Europa wieder vor
aller Augen. Für viele von uns ist die Erfahrung
schmerzhaft, daß es ein Heraushalten, ein Zusehen nicht
geben kann. Manche wollen und können nicht akzeptie-
ren, daß ausgerechnet Luftangriffe den Frieden bringen
sollen. Ich glaube, quer durch die Fraktionen ist die Er-
schütterung über diese Situation groß, und vielen mag es
ergehen wie mir: Ich stehe zu der Entscheidung der
NATO; ich bin aber tief verunsichert darüber, daß eine
solche Entscheidung zum Ende dieses Jahrhunderts
notwendig ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Rückkehr des Parlaments gerade an diesen Ort muß
uns Verpflichtung sein, nie wieder von Deutschland aus
einem Völkermord tatenlos zuzusehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Für meine Partei, für meine Fraktion ist es eine bittere
Erfahrung, daß die Warnung der deutschen Sozialdemo-
kratie vor Hitler allzu lange ungehört blieb, nicht nur im
eigenen Land, sondern in der gesamten zivilisierten
Welt. Der „Trümmerhaufen Europa“, wie die SPD ihn
1934 unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels düster vor-
ausahnte, hätte womöglich vermieden werden können.
Um so bindender müssen wir dafür einstehen: Einen
neuen „Trümmerhaufen Europa“ darf es nicht geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen, wie Otto Wels es in seiner mutigen Rede
gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 gesagt hat, ein
Europa der Menschlichkeit und der Freiheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Angesichts dieser ethnischen Katastrophe keine zwei
Flugstunden von uns entfernt halte ich es für angemes-
sen, vorhandene Probleme daheim mit etwas mehr Ge-
lassenheit zu betrachten. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege
Schäuble, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, darin aus-
drücklich zu.

Die Rückkehr des Parlaments in den Reichstag, die
Rückkehr nach Berlin, in den Brennpunkt des Zusam-
menwachsens, ist der Beweis, daß wir alle in diesem
Haus die Vollendung der inneren Einheit noch energi-
scher anpacken wollen. Es stimmt, auch neun Jahre nach
der staatlichen Einheit ist die innere Einheit noch nicht
vollends gelungen. Aber jeder, der in diesem Land Ver-
antwortung trägt, müht sich – wenigstens subjektiv –
nach besten Kräften, dieses Ziel zu erreichen. Bundes-
präsident Herzog hat in seiner Rede zum Tag der deut-
schen Einheit im letzten Oktober zu Recht vor der „har-
monieversessenen Vorstellung“ gewarnt, „die innere

Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


Einheit sei erst dann erreicht, wenn alle Deutschen so
ziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten. Das kann
nicht unser Ziel sein.


(Beifall bei der SPD)

Daß es Unterschiede im Denken, in Prioritäten, auch

in politischen Grundüberzeugungen gibt, darf nicht ver-
ängstigen, weder die Menschen im Westen noch die
Menschen im Osten. Die Sozialisation in der DDR war
eine andere als in der Bundesrepublik. Wir müssen dazu
stehen und dürfen nicht überdramatisieren. Wer in der
relativ behüteten Welt eines bayerischen Dorfes lebt
– ich habe selbstverständlich nichts gegen die Bayern –,
hat Probleme, sich in das pulsierende, hektische Leben
einer westlichen Großstadt hineinzuversetzen.


(Zuruf von der SPD: Und umgekehrt! – Heiterkeit)


Ich nehme aber an, die Kolleginnen und Kollegen der
CSU-Landesgruppe, Herr Glos, werden das alles hervor-
ragend meistern. Ich will nur ein Problem beschreiben.

Genauso wie wir diese Tatsache akzeptieren, müssen
wir die Unterschiede im Lebensgefühl zwischen Rhein-
ländern und Sachsen, zwischen Pfälzern und Branden-
burgern als Selbstverständlichkeit nehmen. Seien wir
auch gerade hier in Berlin nicht so ungeduldig! Verges-
sen wir nicht, daß gerade hier Ost und West aufeinan-
derprallten und beide Teile der Stadt quasi zu Banner-
trägern des einen oder des anderen Systems hochstili-
siert wurden. Gerade hier, an der Schnittstelle ehemali-
ger Unterschiede, kann das Verwachsen der Wunden ein
Prozeß sein, der besondere Geduld verlangt. Wir müssen
und wir wollen diese Geduld aufbringen. Ich bin der
Meinung des Herrn Bundestagspräsidenten: Er erwartet
von diesem Parlament, daß es, insbesondere hier in der
Hauptstadt, Verständigungsprozesse anstößt. Dazu will
ich das Meine tun, dazu will die SPD-Bundestags-
fraktion das Ihre tun.

Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost, den der
Bundeskanzler angesprochen hat, die Entwicklung der
weiteren wirtschaftlichen Angleichung der Lebensver-
hältnisse steht auch im Mittelpunkt sozialdemokratischer
Innenpolitik. Das schlägt sich nicht nur in Bekenntnis-
sen nieder, sondern auch in konkreten Zahlen. Ich
möchte nur eine Zahl nennen: Wir haben die Ansätze für
konsumtive und investive Ausgaben in den neuen Län-
dern weiter verstärkt. Sie steigen von 89 Milliarden DM
im letzten Jahr auf rund 100 Milliarden DM in diesem
Jahr. Wir verstärken und verstetigen dabei in zwei
Richtungen. Einerseits geht es um die Stabilisierung der
Aufbauleistungen, andererseits um die verstärkte Förde-
rung bei Zukunftsfragen. Als besonders wichtige Zu-
kunftsinvestition seien noch einmal – man kann es nicht
oft genug betonen – die Bekämpfung der Jugendar-
beitslosigkeit und das Sonderprogramm der Bundesre-
gierung mit seinen großen Erfolgen erwähnt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir, Parlament und Regierung, kehren nach Berlin
zurück. Aber der Umzug ist keine Reise in die Vergan-
genheit. Er markiert den Aufbruch in ein neues Jahrhun-

dert, in eine trotz aller internationalen Schatten chancen-
reiche Zukunft. Und: Wir kommen nicht mit leeren
Händen vom Rhein an die Spree. Wir bringen mit, was
wir an demokratischen Traditionen in 50 Jahren erar-
beitet haben. Es sind stabile Traditionen. Wir ziehen
nicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wir
bleiben Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Wir sollten nicht leichtfertig von dieser Selbstver-
ständlichkeit abgehen. Wir wollen und brauchen keine
andere Republik. „Ein Ortswechsel, kein Richtungs-
wechsel“, hat Bundespräsident Roman Herzog zu Recht
bemerkt. Für die Bürger darf nicht das Wo des Parla-
ments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlas-
sen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die be-
sten Lösungen für das Land gerungen wird. Der Bun-
destag macht entweder gute oder schlechte Gesetze
– jetzt, nach den neuen Mehrheiten, macht er in der
Regel gute Gesetze –,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß man sich,
ganz unabhängig vom Standort, messen lassen.


(V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

Es stimmt: Der Umzug verlangt von uns Parlamenta-

riern eine ganze Menge Umstellung. Den Bürgern aber
und auch unseren Nachbarn muß er Kontinuität garantie-
ren. Das Koordinatensystem unserer Politik wird und
darf sich nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin eine
Politik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähig-
keit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.


(Beifall bei der SPD)

Diese Traditionen, die wir in 50 Jahren am Rhein gehegt
haben, bringen wir mit, eine Erfolgsgeschichte, auf die
wir alle alles in allem stolz sein können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nach außen brauchen wir eine Politik, die eine der
guten Nachbarschaft ist und es auch bleibt. Gerade hier
in Berlin können wir Deutschen Europa noch weiter zu-
einanderführen. Gerade hier verstehe ich es als große
Chance, die östlichen Nachbarn noch stärker in die Eu-
ropäische Gemeinschaft einzubinden. Sie wünschen es.
Wir werden ihnen dabei nach Kräften helfen und damit
ein vereintes Europa vorantreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber lassen Sie mich hier genauso klarstellen: Der
Schritt nach Osten bedeutet keine Aufgabe der Westbin-
dung; nein, diese ist und bleibt unabdingbare Vorausset-
zung. Die Nähe zu Brüssel, London, Paris, Rom und
Washington wird nicht deshalb geringer, weil uns in
Berlin nicht mehr so viele Kilometer von Budapest,
Moskau, Prag oder Warschau trennen.

Dr. Peter Struck






(A) (C)



(B) (D)


In seiner Rede als Alterspräsident hat Willy Brandt
1990 hier – der Raum sah etwas anders aus, aber der Ort
ist derselbe – gesagt, seine Visionen seien mit dem Fall
der Mauer noch nicht zu Ende, sein Wunsch sei jetzt,
den Tag zu erleben, an dem auch Europa eins geworden
ist. Es war ihm nicht vergönnt. Wir haben jetzt die
Chance, für uns und unsere Kinder die Sehnsucht dieses
großen Europäers zu verwirklichen. Von Berlin aus ste-
hen wir in der Pflicht für ein Europa, das eines nicht
mehr fernen Tages eins geworden ist.


(Beifall bei der SPD)

Wir wollen ein Europa auf jenen Grundfesten, die der

SPD-Vorsitzende Otto Wels 1933 in seiner Rede gegen
das Ermächtigungsgesetz beschworen hat, ein Europa,
das den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Gerechtig-
keit und der Freiheit verpflichtet ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403300600
Ich gebe dem Vor-
sitzenden der F.D.P.-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.


Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1403300700
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir alle wären heute nicht
hier, wenn es nicht die couragierten Teilnehmer der
Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 gegeben hätte.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wären nicht hier, wenn sich die Freiheit damals
nicht in gewaltfreiem Widerstand und mit großem En-
gagement hätte Bahn brechen können. Das heißt, wir
müssen auch über das Selbstbewußtsein der Deutschen
selbst sprechen.

Wir schulden den Bürgerinnen und Bürgern der ehe-
maligen DDR, von denen viele als Kolleginnen und
Kollegen heute bei uns im Deutschen Bundestag sind,
für dieses Engagement Respekt. Sie haben für die Ver-
wirklichung der deutschen Einheit einen großen Frei-
heitswillen bewiesen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir tagen hier aber auch, weil es in der alten Bundes-
republik Deutschland Persönlichkeiten gab, die in ihrer
eigenen Biographie den Willen zur deutschen Einheit
immer aufrechterhalten haben, auch in Zeiten, als dies
nicht Mode war, als der Wunsch, die deutsche Einheit zu
erreichen, sehr stark in die rechte Ecke gedrängt wurde
und als er eher als ein übles Zurückholen falscher
Bruchstücke der deutschen Geschichte dargestellt wur-
de. Eine dieser Persönlichkeiten ist heute hier. Da jeder
Namen aus seiner politischen Grundrichtung genannt
hat, möchte ich diesen auch nennen. Es handelt sich um
Wolfgang Mischnick, dem wir sehr zu Dank verpflichtet
sind für das, was er getan hat.


(Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten heute weitere Selbstverständlichkeiten
besprechen, und zwar nicht, weil der Ältestenrat bzw.
das Präsidium einen akrobatischen Namensvorschlag für
die Kombination von Plenarbereich und Reichstagsge-
bäude gemacht hat. Die Sprache des aufgeklärten Bür-
gertums in Deutschland präzisiert den Namen. Dieser
Name ist „Reichstag“. Daran führt keine Wortkombina-
tion vorbei.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das, was wir jetzt in einer Zwischenbilanz der deut-
schen Einheit debattieren, wird nicht bestimmt durch
die Bezeichnung „Berliner Republik“ oder „Bonner
Republik“, nicht durch eine Wortbezeichnung für die-
ses Gebäude und den Raum, den wir mit parlamentari-
schen Debatten ausfüllen, und auch nicht – Herr Bun-
deskanzler, das muß ich noch zu Ihrer Regierungser-
klärung sagen – durch volkswirtschaftliche Kennzif-
fern. Was heute hier besprochen werden muß, ist die
innere Verfassung der deutschen Nation. Die ist ganz
entscheidend.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Damit ist nicht die geschriebene Verfassung gemeint.

Die allein reicht nicht. Die Verfassungstradition ist gut.
Ich meine die Nationalversammlung in der Paulskirche,
den gescheiterten Versuch der Weimarer Reichsverfas-
sung, aber dann auch den gelungenen des Grundgeset-
zes. Trotzdem spüren wir im innerdeutschen Zusam-
menwachsen, daß wir den erneuten ernsthaften Versuch
machen müssen, die Zustimmung der Menschen zum
Grundgesetz, zum Vertrag zur deutschen Einheit, zu
Parlament, Marktwirtschaft, föderativem Staatsaufbau
und zum Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Das ist
wichtig; aber nicht die geschriebene Verfassung ist
schon die Sache selbst.

Der erste Bundespräsident dieser Republik, deren
Grundzüge wir hier in Berlin beheimatet sehen wollen,
Theodor Heuss, hat gesagt: Die Deutschen brauchen ein
Maß. – Das heißt, sie brauchen eine Überzeugung für
die Freiheit, die Klarheit, die Freiheit in ihren Grenzen
nicht zu überschreiten. Er hat gesagt, man müsse den
Deutschen ihren billigen Nationalismus abgewöhnen.
Wie wahr in einer Zeit, in der wir wieder spüren, wie
billiger Nationalismus zu Morden führt!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine Haltung mit Weitsicht, all das, was die kulturelle

Dimension einer Freiheit ausmacht, ist mir in Deutsch-
land nicht ausreichend ausgeprägt. Wahrscheinlich muß
man der eigenen Nation sagen: Es gibt europäische
Nachbarländer, die eine breitere kulturelle Dimension
der Freiheit haben. Wenn wir in Deutschland über Frei-
heit sprechen, kann man dies kaum tun, ohne die Di-
mensionen der Gleichheit und der Gerechtigkeit mit zu
beachten, die wichtige Werte sind. Aber Tatsache ist,
daß sich in Deutschland die Werte Freiheit und Gleich-
heit fälschlicherweise dauernd bekämpfen, daß auf der
einen Seite die Anwälte der Freiheit stehen, die auf der
anderen Seite von den Anwälten der Gleichheit konter-
kariert werden.

Dr. Peter Struck






(B)



(A) (C)



(D)


Meine Damen und Herren, Gleichheit und Gerechtig-
keit sind niemals herzustellen durch einen paternalisti-
schen Umverteilungsstaat.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wer Freiheit will, der muß persönliche Verantwortung
übernehmen. Das muß in dieser Zwischenbilanz gesagt
werden. Die Verringerung des Risikos, nach der sich
viele sehnen, vernichtet am Ende die Freiheit, weil zur
Freiheit untrennbar die Bereitschaft zur Übernahme von
Verantwortung einschließlich des Risikos, scheitern zu
können, gehört. Das macht im Kern freiheitliche Gesell-
schaften aus und nicht nur das, was wir uns angewöhnt
haben, mit der Freiheit zu verbinden.

Der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, das, was
wir an Politik gestalten müssen, ist die unbändige Kraft-
anstrengung, Menschen zu eigener Verantwortung zu
befähigen, ihnen die Chancen dazu zu geben und ihnen
Chancengerechtigkeit zu vermitteln. Aber niemals kann
dahinter ein Bild der Gleichheit der Ergebnisse stehen.
Menschen sind unterschiedlich, und wir müssen den
unterschiedlichen Lebensanstrengungen gerecht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Im übrigen – wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst
sind – haben sich in manchen früheren westdeutschen
Milieus Verhaltensweisen entwickelt, die denen sehr an-
genähert waren, die ein sozialistisches System bei den
Menschen erzeugen wollten. Auch viele bei uns haben
geglaubt, es gäbe jährliche Wachstumsraten, ein Staat
sei nur legitim, wenn er verteilen kann, wenn er die
volle Dienstleistungsfähigkeit besitzt. Bei vielen hat sich
das Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen gelok-
kert, und ist der Ärger über das Gemeinwesen gewach-
sen, wenn ein Staat in besonderen Situationen nicht
mehr so leistungsfähig war. Es muß in Deutschland dar-
auf ankommen, das politische Gemeinwesen in Erinne-
rung zu rufen und nicht nur zu glauben, wir lebten in
einem Staat mit dem Verfassungsauftrag zur Wachs-
tumsvorsorge.

Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir in
diesem Land zusammenleben. Das betrifft auch viele
alte westdeutsche Erinnerungen. Seit dem Auftreten Mi-
chail Gorbatschows hat sich doch nahezu alles verän-
dert. Vielleicht haben wir zunächst geglaubt, das beträfe
18 Millionen Deutsche in der früheren DDR, die alten
RGW-Staaten. Alle westeuropäischen Gesellschaften
sind davon erfaßt worden. Nichts ist mehr so, wie es
früher war.

Viele politische Entscheidungen, die wir treffen, tref-
fen wir noch immer so, als lebten wir in der alten Welt.
Sind wir ausreichend in der neuen Wirklichkeit ange-
kommen? Diese Frage stellt sich in einem Zwischenbe-
richt zur Lage der deutschen Nation.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir stehen heute im weltweiten Wettbewerb. Wir
bauen Infrastrukturen auf, wir erheben Steuern und ent-
scheiden damit, ob das mobile Kapital kommt oder geht.

Wir wissen, daß sich der Wettbewerbsdruck verstärkt
hat. Mauer und Stacheldraht – das könnte man heute
noch sagen – waren für die alte westdeutsche Politik
reichlich bequeme Veranstaltungen. Es gab jährliche
Verteilungen, Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet
mehr?“ und unbegrenzte wirtschaftliche Zuwachsraten.

Nun, da sich das geändert hat, frage ich: Haben wir ge-
nügend Kraft, Systeme zu ändern, von denen wir wissen,
daß sie nicht mehr finanzierbar sind? Jeder sagt doch
hinter vorgehaltener Hand: Das geht so nicht mehr weiter.
Haben wir nicht zu viele öffentliche Tabuwächter, die uns
daran hindern? Wir wissen doch alle, daß die Arbeitslo-
sigkeit die lohnbezogenen sozialen Sicherungsysteme, auf
die sich die soziale Sicherheit von Menschen seit Genera-
tionen gründet, an die Grenze der Zerreißprobe gebracht
hat. Jeder von uns in diesem Haus weiß, daß die Rente
nicht stabil bleiben kann, wenn der Anteil der älteren Per-
sonen immer größer, die Lebenserwartung immer höher,
der Anteil der Erwerbspersonen immer kleiner wird, das
Renteneintrittsalter sinkt und die Aufnahme von Arbeit
immer weiter hinausgeschoben wird.

Bundespräsident Herzog hat doch zu Recht gesagt,
daß der Ernstfall in Deutschland zu spät geprobt wird.
Er hat hinzugefügt, lebenslanges Lernen sei richtig, aber
es sollte bitte im Beruf und nicht als Beruf stattfinden.
Daß das Konsequenzen für die sozialen Sicherungssy-
steme hat, ist offensichtlich. Wenn man das Bildungssy-
stem kritisch anspricht, gilt man schon als Feind der
Menschheit, weil man nicht mehr genügend von der so-
zialen Sicherheit redet.

Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheit
einer Gesellschaft gründet sich auf nichts anderes als auf
die Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, soziale Si-
cherheit mit einem freien marktwirtschaftlichen System
zu verbinden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich spreche diese Themen an, weil ich die Befürch-

tung habe, daß eine Politik für Wandel – der Kollege
Schäuble hat das in seinem Beitrag angesprochen –, für
Veränderungen von vielen noch zu stark als Bedrohung
emfpunden wird. Noch sperren sich zu viele gegen Ver-
änderungen. Aber wir wissen alle: Wenn man nicht
rechtzeitig verändert, gibt es hinterher große Verwer-
fungen, und zwar nicht nur sozialer, sondern auch de-
mokratischer Art.

Jetzt beginnt doch erst – egal, welcher Partei man an-
gehört – die Diskussion um die zentrale Frage, wie sich
die Beschäftigung in Zukunft entwickeln wird. Egal,
welches Parteiprogramm man geschrieben hat: Der
Themendruck der Zeit wird uns veranlassen, zu anderen
Lösungen zu kommen, als wir sie heute haben. Mancher
Gewerkschaftstag


(Ingrid Matthäus-Meier [SPD]: Und mancher Unternehmer!)


wird in zwei bis drei Jahren Themen diskutieren müssen,
die vielleicht in ganz anderen Parteiprogrammen stehen,
als man heute denkt.


(Beifall bei der F.D.P.)


Dr. Wolfgang Gerhardt






(A) (C)



(B) (D)


Die sozialen Sicherungssysteme, die wir haben und die
einen großen Teil der Diskussion ausmachen, begleiten
heute die Arbeitslosigkeit, anstatt zum wirklichen Pro-
blemlösungsbereich vorzustoßen.

Wir diskutieren eine Zwischenbilanz zur Lage der
Nation Gott sei Dank nicht mehr in den Kategorien Ost
oder West. Die Probleme haben uns überall erreicht. Die
Veränderungsnotwendigkeiten und der Strukturwandel
stehen jedem ganz klar vor Augen. Wir sollten unseren
Bürgerinnen und Bürgern sagen, daß wir uns nicht nur
als Träger einer Erwerbsbiographie Ost oder West emp-
finden dürfen. Wir sind nicht die Kunden eines Staates,
wir sind Staatsbürger. Ich glaube, daß in Ost wie in
West eine Haltung angebracht wäre, daß wir Beschei-
denheit mit Selbstbewußtsein verbinden und daß wir in
der Lage sind, uns von einem Staat zu emanzipieren, der
uns zwar beschützt, aber uns manchmal in unseren Fä-
higkeiten auch beschneidet. Dringend notwendig ist in
Deutschland ein Bewußtsein, das nicht nur die Risiken
sieht, sondern auch die Chancen. Wir haben doch alle
Chancen in einem Land mit großartiger Infrastruktur,
mit einem öffentlichen Bildungswesen, mit föderativer
Grundverfassung und mit Garanten wie Bundesverfas-
sungsgericht, parlamentarischem System, mit einer offe-
nen Wettbewerbsordnung wie der Marktwirtschaft, um
unsere Probleme zu lösen.

Entscheidend wird sein, ob unsere Gesellschaft insge-
samt Kompetenz im Wandel entfaltet und auch zu An-
strengungen bereit ist, die jenseits von materiellen An-
reizen liegen. Wenn das gelingt, dann können wir opti-
mistisch sein, die Zukunft zu bewältigen. Was jetzt not-
wendig ist, das ist das neue Bürgerbewußtsein in unse-
rem Land, weil wir das Zusammenwachsen wollen, weil
wir die Einheit als Glück begreifen, weil wir wissen, daß
es ohne Internationalität und europäische Vision nicht
geht. Das sind keine Bedrohungen, das sind Chancen.

In der heutigen Debatte – nicht jeder nimmt sie als ein-
fache Debatte routinemäßig auf – würde ich gerne sagen:
Ja, die viel umstrittene, viel mißverstandene und in vielen
Katastrophen gelandete deutsche Nation gibt es. Aber sie
muß in ihrem Bürgerbewußtsein begreifen, daß der Staat
nicht immer nur die anderen sind. Der Staat sind wir; es
geht also auch darum, wie wir uns verhalten.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Welche Tugenden wir ganz persönlich entwickeln,
welche Zivilcourage wir aufbringen und welche Risiko-
bereitschaft wir einbringen, wird das internationale An-
sehen Deutschlands in den nächsten Jahren bestimmen –
nach innen wie nach außen. Darum geht es bei der De-
batte zur Lage der Nation und nicht um den nächsten
Autobahnkilometer oder hundert weitere Telefonan-
schlüsse.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403300800
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wer-
ner Schulz.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Liebe Gäste auf der Empore! Es ist schon ein schönes,
neues und aufregendes Gefühl, hier zu sprechen. Den-
noch habe ich mir den Tag der ersten Sitzung des Deut-
schen Bundestages im umgebauten Reichstag schon et-
was anders vorgestellt: sorgenfreier, feierlich, aber poli-
tische Routine letztlich.

Angesichts des Krieges im Kosovo wird jedoch die
Geschichte in einer Weise lebendig, daß mir die feierli-
che Routine etwas fehlt. Wir müssen über uns selbst, un-
sere Geschichte, unsere Stellung in Europa und der Welt
in einer Weise neu nachdenken, wie ich es mir vor zehn
Jahren nicht hätte träumen lassen.

Heute sind wir ein Volk, dem dieses Haus gewidmet
ist. Damit geht die Bundesrepublik Deutschland nach 50
Jahren Grundgesetz an den zentralen Ort der deutschen
Geschichte zurück und stellt sich der politischen Ver-
antwortung dieser Geschichte. Nach dem Mauerbau, der
sicher nicht nur eine Sichteinschränkung brachte, konnte
man vom Osten aus von diesem Haus eigentlich nur die
Fahne sehen, die Fahne, die sich heute in der Glaskuppel
spiegelt, die Fahne, die plötzlich massenhaft auf den
Leipziger Montagsdemos auftauchte – nicht im natio-
nalen Überschwang, sondern als ein Symbol für bürger-
liche Freiheit, als Wunsch nach staatlicher Einheit.

Wir haben im Prozeß der Einheit im Verlauf der
letzten Jahre viel erreicht – trotz der Anfangsfehler und
der fatalen Fehleinschätzungen. Die Ostdeutschen haben
mit viel Fleiß und mit Hilfe der Westdeutschen ein
enormes Pensum bewältigt. Es war absehbar, daß der
Vollzug der Einheit in rechtlicher, sozialer und wirt-
schaftlicher Hinsicht mindestens eine Generation dauern
würde. So gesehen, können wir auf das Erreichte wirk-
lich stolz sein, ohne uns zufrieden zurückzulehnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Auch nach neun Jahren ist längst nicht alles im Lot,
sind weitere Fördermittel nötig, ist die Arbeitslosigkeit
unzumutbar hoch, steht die Wirtschaft noch auf wackli-
gen Beinen, wissen viele nicht, ob man das Ärgste hinter
sich hat oder jetzt in einer Gesellschaft lebt, deren beste
Zeiten vorbei sind. Die Bundesregierung hat dem Auf-
bau Ost höchsten Stellenwert eingeräumt, damit das Ost-
West-Gefälle eher im „Memorial“ statt in der aktuellen
Statistik erscheint, damit mehr junge Leute eine Lehr-
stelle und Lebensperspektive im Osten finden und damit
endlich mehr dorthin ziehen statt von dort weg.

Die innere Einheit Deutschlands zu vollenden ver-
langt aber nicht nur die bessere Einbeziehung der Men-
schen aus den fünf neuen Bundesländern – oder wie die-
ses Wortungetüm heißt –, sondern auch die Anerken-
nung der ausländischen Mitbürger als gleichberechtigte
Staatsbürger.


(Beifall beim BÜNNDIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich finde es deswegen gut, Herr Schäuble, daß Sie letz-
ten Donnerstag in der Kosovo-Debatte – zwar an unpas-

Dr. Wolfgang Gerhardt






(B)



(A) (C)



(D)


sender Stelle, dennoch möchte ich es noch einmal auf-
greifen, damit es nicht verlorengeht – das Angebot ge-
macht haben, diese unselige Polarisierung einzustellen
und gemeinsam eine tragfähige Lösung zu finden. Ich
glaube, das ist auch ein Beitrag zur inneren Einheit.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich habe keine Antwort bekommen!)


Die Enttäuschung über die hohe Arbeitslosigkeit und
die Enttäuschung über die Geschwindigkeit des wirt-
schaftlichen Aufschwungs haben auch Zweifel an der
Demokratie geweckt – nicht nur im Osten, wie das so oft
behauptet wird; wir sollten uns da nichts vormachen.
Aus unserer Geschichte wissen wir aber, daß die Demo-
kratie nicht auf dem Boden von Armut gedeiht. Ange-
sichts weltweiter Veränderungen stehen wir erneut vor
der Aufgabe, den Zusammenhalt zwischen Demokratie
und Sozialstaat zu festigen. Deshalb dürfen soziale Ge-
rechtigkeit und solidarischer Lastenausgleich kein ein-
maliger Kraftakt in einem Land sein, das sich der sozia-
len Marktwirtschaft verpflichtet hat und guttut, daran
festzuhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach der Wiedervereinigung ist die Wiederbelebung
der Gesellschaft gefragt, die Verständigung über Bin-
dungskräfte, Ziele und gemeinsame Werte. Demokratie
ist keine Sache von Berufsdemokraten. Der Ruf „Wir
sind das Volk!“ sollte nicht als historische Episode, son-
dern als Daueranspruch verstanden werden. Die innere
Einheit vollenden verlangt eine stärkere Einbeziehung
des Souveräns, was mit der gelegentlichen Einblendung
der berühmten Sonntagsfrage nicht getan ist.

Mit dem Umzug des Parlamentes verbindet sich die
Hoffnung auf eine bessere Qualität und Akzeptanz der
Politik. Die erträgliche Leichtigkeit am Rhein hat ein
Ende.


(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was für ein Quatsch!)


Die Standortveränderung wird – davon bin ich überzeugt
– auch den Blickwinkel und die Richtung verändern.
Der Osten rückt näher, die EU-Osterweiterung wird in
doppelter Hinsicht eine naheliegende Aufgabe, die Me-
tropolen- und Großstadtkonflikte lassen sich nicht über-
sehen.

Wenn wir das Bonner Raumschiff verlassen und
wirklich in Berlin ausschwärmen, werden wir die neuen
sozialen Spannungen und die politischen Herausforde-
rungen der Gesellschaft erleben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In Berlin wird sich die Vision der sozialen Stadt testen
lassen, Herr Bundeskanzler. Davor muß uns aber nicht
bange sein, wenn wir bessere Politik als einen Anspruch
an uns selbst, als Rückgewinn von Kompetenz, Legiti-
mation und Handlungskraft verstehen. Darum dürfen wir
den Kakao, durch den man uns gelegentlich zieht, nicht
noch selbst erzeugen.

Hier und heute wird nicht der Plenarbereich Reichs-
tagsgebäude, sondern der Deutsche Bundestag einge-
weiht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit der Zeit wird sich das im Volksmund herumspre-
chen, wenn wir uns zu dieser Republik, ihren Grund-
werten und Traditionen bekennen. Bekanntlich sind
auch Berliner Taxifahrer helle, und von der Reichsbahn
spricht keiner mehr.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Politik muß im Parlament geschehen – sichtbar
und nachvollziehbar. Das Haus selbst bietet die besten
Voraussetzungen. Es könnte die neue Mitte von Berlin
werden. Wenn wir offen sind, wird es ein Anziehungs-
punkt wie zu den Volksfestzeiten der Reichstagsverhül-
lung durch Christo. Doch wer politischen Entscheidun-
gen ausweicht und selbst immer häufiger das Bundes-
verfassungsgericht anruft, muß sich über das gesetzge-
berische Echo von dort nicht wundern. Beispiel: Famili-
enlastenausgleich. Ich will gar keine einseitige Schuld-
zuweisung betreiben, denn das war eine Kopfnuß für uns
alle. Bei den vielen Fördertöpfen, die wir haben, müssen
wir vor allen Dingen den Nachwuchs unserer Gesell-
schaft besser fördern. Das ist eine große Aufgabe für die
Koalition.

Nicht nur was vor uns liegt, ist beachtlich. Wir müs-
sen in der Politik, beim Autofahren, den Rückspiegel im
Auge behalten, um hinter uns liegende, auf uns zurol-
lende Gefahren zu erkennen. In unserer Gesellschaft le-
ben heute Opfer und Täter aus zwei Diktaturen neben-
einander. Wie schwierig die Verständigung selbst nach
Jahrzehnten ist, hat die Bubis-Walser-Debatte gezeigt.
Wieviel schwieriger sie erst ist, wenn die inneren Nar-
ben noch frisch sind, können wir daraus ableiten.

Ich möchte an dieser Stelle dem Leiter und den Mit-
arbeitern der Gauck-Behörde ausdrücklich dafür danken,
daß sie in sorgfältiger Kleinarbeit die Aktenablage und
die Mechanismen eines totalitären Herrschaftsapparates
offengelegt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Es hat nicht die befürchtete Lynchjustiz gegeben, im
Gegenteil: ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach
Akteneinsicht, Aufklärung und kritischer Auseinander-
setzung.

Wir dürfen die Akten, Augen und Ohren nicht zuma-
chen, sondern müssen aufeinander zugehen. Das ver-
langt den Mut des ersten Schrittes, der allemal besser ist
als die verdrucksten Reaktionen im Blitzlicht der Medi-
en. Mag sein, daß etliche die Vergangenheitsdebatte satt
haben. Mal flott aus Wittenberg oder anderswo geäu-
ßerte Schlußstrich- oder Amnestieforderungen helfen
aber nicht weiter.


(Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


Werner Schulz (Leipzig)







(A) (C)



(B) (D)


Im Namen vieler Bürgerrechtler und SED-Opfer er-
kläre ich hier: Wir sind zur Versöhnung bereit. Alle,
die sich ihrer Mitschuld und ihrer Mitveranwortung
stellen, sollten, wenn nicht schon längst geschehen,
eine Chance im vereinten Deutschland erhalten. Wahr-
lich nicht strenggenommen liefert die PDS sogar den
organisierten Beweis der zweiten Chance. Darum soll-
ten Sie den unverschämten Begriff „Siegerjustiz“ fal-
lenlassen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


ein Begriff übrigens, mit dem die Unverbesserlichen
nach dem zweiten Weltkrieg die Rechtsprechung der
Alliierten verunglimpft haben.

Ich habe Anfang der 90er Jahre darauf gehofft, daß
die Demokratie, ähnlich wie in Ostdeutschland, überall
in Osteuropa zum Zuge kommt. Doch wir erleben seit
geraumer Zeit, daß auf dem Balkan ein primitiv-brutaler
Nationalismus wütet. Hier im ehemaligen Reichstag
sollten wir uns daran erinnern, zu welch schrecklichen
Folgen der Nationalismus geführt hat. Zuerst wurde die
Demokratie zerschlagen, dieses Haus in Brand gesteckt
und dann Europa.

Heute vor 56 Jahren begann der Aufstand im War-
schauer Ghetto. Es war ein heroischer Widerstand der-
jenigen Juden, die sich nicht deportieren lassen woll-
ten, junge Frauen und junge Männer. Es war kein
Kampf um das Recht zu leben, sondern um das Recht,
würdig zu sterben. Nur wenige sind diesem Inferno
entkommen, so der stellvertretende Kommandant Ma-
rek Edelmann. Er hat uns schon beim Völkermord in
Bosnien aufgefordert, dem mit Militär Einhalt zu ge-
bieten. Auf meine bange Frage, ob wir Deutschen dort
hingehen können, wo wir Unheil angerichtet haben, hat
er mir damals geantwortet, daß gerade das vereinte
Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte
nicht das Recht zur Zurückhaltung, sondern die Pflicht
zum Eingreifen hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Vielleicht lassen sich die Gegenstimmen, die es dazu
gibt, zumindest von einem solchen Zeitzeugen ins Ge-
wissen reden. Mich hat das tief beeindruckt.

In diesem Haus liegt ein Vermächtnis, meine Damen
und Herren, das heißt: Nie wieder Faschismus, nie wie-
der Krieg! Ich bitte, künftig auch die Reihenfolge zu be-
achten! Denn „nie wieder Faschismus“ heißt, nie wieder
Völkermord, nie wieder Vertreibung, nie wieder Terror,
Mord und Totschlag gegen Minderheiten zuzulassen und
damit rechtzeitig Kriege einzudämmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und F.D.P.)


Im Interesse aller Europäer geht es darum, daß Natio-
nalismus und Rassismus auf diesem Kontinent keine
Chance bekommen. Deswegen dürfen wir auch im eige-
nen Land nicht wegschauen. Von Skinheads und Rechts-
radikalen sogenannte „nationalbefreite Zonen“ in Saal-

feld, Wurzen oder anderswo sind ein Angriff auf die
Zivilgesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)


„Ausländer raus“ ist die Geisteshaltung, die im Extrem
bis zur Vertreibung der Albaner aus Pristina führt.

Wir hatten im letzten Bundestag eine bewegende De-
batte zur Wehrmachtsausstellung. Die Bilder von Mas-
senexekutionen, um die es da ging, laufen wieder, erst in
Bosnien, jetzt im Kosovo. Wir sollten nicht nur in Aus-
stellungen gehen, sondern auch so weit, um das mit allen
Mitteln zu unterbinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeorndeten der PDS)


Vielleicht erleben wir mit dem schmerzhaften
NATO-Eingriff zur Wahrung der Menschenrechte die
Geburtsstunde eines neuen Völkerrechts: daß es keinen
Anspruch auf Souveränität gibt, wenn eine Staatsmacht
auch nur Teile des eigenen Volkes umbringt. Ich habe
Verständnis für Zweifel und Respekt vor Bedenken, ob
man ein solch schlimmes Übel wie Luftkrieg gegen ein
unerträgliches Übel wie Völkermord einsetzen kann.
Doch eines möchte ich hier persönlich klar ansprechen,
denn wir suchen je auch die politische Auseinanderset-
zung in diesem Haus: Es geht mir schon an die Nieren,
wenn Leute, die mich früher mit dem Symbol „Schwer-
ter zu Pflugscharen“ als Staatsfeind behandelt haben,
mich heute wegen meiner Haltung zum Einsatz im Ko-
sovo an den PDS-Kriegspranger stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Gesellschaftswissenschaftler, die uns Lenins „The-
sen vom gerechten Krieg“ eingeimpft und den Ein-
marsch in die CSSR und Afghanistan als Inbegriff des
Klassenkampfes dargestellt haben, Funktionäre, die
gegen das Malen von Panzern im Kindergarten, Wehr-
kunde in den Schulen, vormilitärische Ausbildung an
den Universitäten, gegen die Militarisierung einer gan-
zen Gesellschaft kein Sterbenswörtchen verloren ha-
ben, weil es ihr Programm war, die nur durch äußeren
Druck ihren Kampfgruppenanzug abgelegt haben, ge-
hen heute wie Friedensengel auf Demonstrationen, um
Gregor Gysi zuzujubeln, der wie der unbefleckte Enkel
von Karl Liebknecht so tut, als habe er hier die kaiser-
lichen Kriegskredite abgelehnt, und dann etwas später
Milosevic die Hand gibt. Das ist schon atem- und
glaubwürdigkeitsberaubend.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Was in Jugoslawien geschieht, verweist auf den Zu-
stand Europas. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhun-
derts scheint wieder lebendig zu sein. Das Haus Europa,
das Michail Gorbatschow skizziert hat, ist ein unfertiges
Haus im Umbau, in das immer mehr Bewohner einzie-
hen wollen. Wir brauchen jetzt eine verbindliche Haus-
ordnung in einem Haus ohne Folterkeller und Todes-

Werner Schulz (Leipzig)







(B)



(A) (C)



(D)


zelle. Doch eine solche neue europäische Friedensord-
nung bekommen wir nur, wenn wir Europa als Ganzes
begreifen, wenn wir der Gefahr einer erneuten Spaltung
entgegentreten. Die innere Einheit zu vollenden heißt
heute, die innere Einheit Europas zu festigen und voran-
zubringen. Deswegen müssen wir die osteuropäischen
Reformstaaten, Rußland, auch Serbien in die Demokra-
tie mitnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ohne demokratischen Fortschritt wird es auch in Ost-
europa keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben.
Aber ohne sichtbare wirtschaftliche Verbesserung wer-
den dort auch die demokratischen Grundregeln nicht
greifen. Wir müssen in unserem Land das Bewußtsein
dafür schaffen, daß sich der Aufbau Ost nicht mehr al-
lein auf die neuen Bundesländer beschränkt. Wer mit
militärischer Gewalt – bei aller moralischen Berechti-
gung – Zerstörung anrichtet, muß auch bereit sein, bei
der Beseitigung der Schäden, beim Wiederaufbau Serbi-
ens, mitzuhelfen. Das ist eine geschichtliche Erfahrung,
auf die wir mit Erfolg verweisen, wenn wir vom „EU-
Marshallplan“ reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Das vereinte Deutschland hat Verantwortung in einer
neuen Dimension zu tragen. Deswegen müssen wir un-
sere eigenen Probleme schneller lösen. Europa braucht
das vereinte Deutschland. Daß die Teilung nur durch
Teilen überwunden werden kann, hat eine europäische
Tragweite bekommen.

Natürlich bietet der Umzug vom Rhein an die Spree
auch die Chance zur Inventur. Der Reformbedarf be-
stand übrigens schon vor der Vereinigung. Seit Jahren
kommt hinzu, daß sich etliche westdeutsche Ge-
brauchsmuster an der ostdeutschen Realität reiben.
Möglicherweise steigt jetzt sogar die Veränderungsbe-
reitschaft. Für das Grundinventar allerdings gilt die
Formel „Bewahren und erneuern.“ Deswegen halte ich
überhaupt nichts von dem Begriff der „Berliner Repu-
blik“,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P. den ein um Originalität bemühter Kolumnist der „FAZ“ aufgebracht hat und den jetzt einige blumig umschreiben. Wir sollten bei der Bundesrepublik bleiben. Sie ist ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Ich empfinde das ganz authentisch, weil ich zwei Staaten miteinander vergleichen kann. Ich hätte allerdings nichts – dabei geht es mir nicht um ein Wortspiel, sondern um eine Entwicklung – gegen eine „Deutsche Demokratische Bundesrepublik“ einzuwenden. Vielleicht kommen wir so der Geschichte näher, daß der demokratische Aufbruch Ost leider nur als Systemzusammenbruch verkannt wurde. In jedem Falle sind wir gut beraten, meine Damen und Herren, wenn wir uns in aller Bonner Bescheiden heit unserer Berliner Verantwortung stellen. Möge uns hier viel Gutes gelingen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403300900
Für die PDS-
Fraktion spricht nun der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1403301000
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Nicht Gebäude machen Geschichte,
sondern Menschen. Den Streit um die Symbolik von
Gebäuden halte ich deshalb, von Ausnahmen abgesehen,
für eher müßig. Wichtig wird sein, was die Abgeordne-
ten und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger hier trei-
ben, welche Politik hier gemacht, ob hier Demokratie
und Freiheit gelebt und für Frieden, Chancengleichheit
und soziale Gerechtigkeit wirksam gestritten wird.


(Beifall bei der PDS)

Da es darauf ankommt, was wir hier machen, meine

auch ich, ein historisch entstandener Name sollte blei-
ben. Das heißt, der Deutsche Bundestag berät in einem
Gebäude, das Reichstag und nicht anders heißt.


(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die Wende in der DDR 1989 vollzog sich friedlich.

Die vielen politisch Ohnmächtigen wurden mächtiger
und die damals politisch Mächtigen ohnmächtig. Die ei-
nen setzten keine Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele
ein, und die anderen verzichteten dann auch auf den
Einsatz ihrer Gewaltpotentiale, vielleicht weil sie spür-
ten, sie könnten höchstens verzögern, nicht aber wirk-
sam verhindern. Diese Friedlichkeit, diese Gewaltfrei-
heit können wir heute ganz anders schätzen, wenn wir
an Jugoslawien und vor allem an das Kosovo denken.

Die PDS-Fraktion und ich selbst hatten es aus ver-
schiedenen Gründen, von denen wir einen Teil selbst ge-
setzt haben, nie leicht im Bundestag. Aber wir haben
immer geschätzt, daß wir hier Dinge sagen können, von
denen wir in der Volkskammer bis 1989 fast nichts hät-
ten sagen können. Dennoch macht der öffentliche Um-
gang mit der PDS einen Teil auch der kulturellen Pro-
bleme der Vereinigung deutlich. Deshalb sage ich Ihnen,
Herr Schulz: Der merkwürdigste Vorwurf, den ich hier
immer wieder höre, ist – das wird nach der Aufzählung
von lauter Untaten der SED hinzugefügt –, daß die PDS
heute eine andere Position dazu hat; eigentlich ist es der
Vorwurf, daß wir nicht immer noch so denken wie da-
mals. Aber das fände ich wirklich sehr viel schlimmer,
und deshalb finde ich diesen Vorwurf ziemlich daneben.


(Beifall bei der PDS – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie denken dummerweise so, wie es gerade opportun ist! Chefopportunist!)


Ich sage meinen Kolleginnen und Kollegen in der
Fraktion immer: Wir sind nicht hier, damit wir es leicht
haben; das wollen wir ja auch gar nicht. Zur Demokratie
gehört auch, zu akzeptieren, daß es in einer so zentralen
Frage wie der Frage Krieg-Frieden gänzlich voneinander
abweichende Auffassungen gibt. Wenn es aber stimmt,
daß über 60 Prozent der Bevölkerung für den Krieg der

Werner Schulz (Leipzig)







(A) (C)



(B) (D)


NATO gegen Jugoslawien und über 30 Prozent dagegen
sind, dann bleibt doch, daß der letztgenannte Teil der
Bevölkerung im Bundestag völlig unterrepräsentiert ist.


(Beifall bei der PDS)

Ich will es hier noch einmal ganz klar sagen – wie ich

es übrigens schon im Oktober 1998 im Bundestag in
Bonn und danach bei anderen Gelegenheiten gesagt und
geschrieben habe –: Die jugoslawische Führung und
speziell Milosevic begingen und begehen schlimmste
Menschenrechtsverletzungen und damit Verbrechen im
Kosovo. Meine Gespräche am Sonnabend mit vertriebe-
nen Kosovo-Albanern in Albanien haben das erneut für
mich dramatisch bestätigt. Dazu darf nicht geschwiegen
werden; dagegen muß auch etwas getan werden. Aber so
wie Herr Fischer mit Herrn Milosevic geredet hat, damit
es gar nicht erst zum Krieg kommt, so habe ich halt mit
ihm geredet, um zu sehen, ob es einen Weg gibt, aus
diesem Krieg herauszukommen.


(Beifall bei der PDS)

Aber die PDS ist und bleibt auch eine entschiedene

Gegnerin des völkerrechtswidrigen Krieges der NATO
gegen Jugoslawien. Es leiden immer die Völker, nicht
die politisch Verantwortlichen. Zerstörte Wasserwerke
und Heizkraftwerke, zerstörte Düngemittelfabriken tref-
fen die serbische Bevölkerung und nutzen keinem Ko-
sovo-Albaner.
Es entstehen immer mehr Haß und Feindschaft. Deshalb
muß der NATO-Krieg ebenso beendet werden, wie die
Verbrechen im Kosovo beendet werden müssen.


(Beifall bei der PDS)

Deshalb brauchen wir wieder Politik, Gespräche, Di-
plomatie und auch Wirtschaft statt Krieg. Die Bomben
auf Jugoslawien haben die Leiden der Kosovo-Albaner
nicht gelindert; sie sind im Gegenteil ständig schlimmer
geworden.

Am 3. Oktober 1990 gab es die staatliche Vereini-
gung in Deutschland. Aber deshalb sind die Gesell-
schaften noch lange nicht vereint. Ein Grundproblem,
das sich in Polen, Tschechien und anderen osteuropäi-
schen Ländern nicht stellte: Als die DDR unterging,
wurde aus ihr nichts wirklich existentiell im vereinigten
Deutschland gebraucht. Vieles ging unter, und vieles,
was blieb, blieb nicht aus Notwendigkeit, sondern im
Wege der Gnade. Das gilt für die Wirtschaft, die Wis-
senschaft und die Kultur. Die Ostdeutschen wollten aber
nicht Gnade, sondern Respekt. Das ist der Kern der
kulturellen Differenz.

Wenn Sie, Herr Schäuble, sagen, daß die Leistungen
der Ostdeutschen ohne ihr Verschulden außer im Sport
zu nichts geführt hätten, so sage ich: Das ist eben nicht
wahr. Dieser Satz ist nicht ausreichend. Haben sie wirk-
lich zu nichts geführt? Gab es nicht auch respektable
Filme der DEFA? Gab es nicht auch ausgezeichnete In-
szenierungen an Theatern und Opern? Gab es nicht auch
sozialverträgliche Mieten und Kindergärten? Vieles muß
und kann man an der DDR scharf kritisieren. Wenn man
aber solche positiven Dinge nicht sieht und von ihnen-
nicht spricht, wird die kulturelle Differenz nur vertieft,

weil man dann die Alltagserfahrungen der Ostdeutschen
negiert.


(Beifall bei der PDS)

Demütigend ist und bleibt, wenn die neuen Bundes-

länder in einigen alten Bundesländern häufig vor allen
Dingen als Kostenfrage diskutiert werden. Herr
Schäuble hat sich darüber beschwert, daß von Siegern
und Besiegten gesprochen wird. Aber wenn Hundert-
tausende in Prozesse zu ihrem Grundstückseigentum
und ihren Nutzerrechten verwickelt werden und viele
ihr Grundstück tatsächlich verlassen müssen, dann
empfinden sie es eben so. Warum ist es eigentlich bis
heute nicht gelungen, endlich dafür zu sorgen, daß alle
Ausbildungsabschlüsse aus der DDR anerkannt wer-
den?


(Beifall bei der PDS)

Was wurde eigentlich dagegen getan, daß sich die Ge-
hälter und Löhne in den neuen Bundesländern zwischen
60 und 85 Prozent der Gehälter und Löhne in den alten
Bundesländern eingependelt haben, daß die Preise je-
doch bei 100, zum Teil sogar bei über 100 Prozent lie-
gen? Das verträgt sich einfach nicht miteinander. Das
führt nicht nur zu sozialen, sondern auch zu erheblichen
kulturellen Differenzen. Menschen in den neuen Bun-
desländern verlieren ihre Grundstücke heute häufig we-
gen überhöhter Wasser-, Abwasser- und Straßenbaube-
teiligungsgebühren. Das ist für sie – wie ich finde, zu
Recht – nicht nachvollziehbar. Man hätte so etwas nie
zulassen dürfen.

Natürlich ist im Osten auch vieles aufgebaut worden:
Stadtzentren, Telekommunikation, Wohnungen, ich
könnte noch vieles andere nennen. Das alles ist wahr.
Der Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen aber ist
die Kehrseite. Arbeitslosigkeit ist überall schlimm; sie
ist im Osten jedoch doppelt so hoch wie im Westen. Es
ist eine Tatsache: Seit der Vereinigung hat Reichtum in
der Gesellschaft zugenommen; aber auch Armut ist be-
achtlich angewachsen. Mit der Einheit kommen wir
meines Erachtens in dem Maße voran, in dem wir Ar-
beitslosigkeit wirksam bekämpfen, soziale Gerechtigkeit
herstellen und Extremismus, Ausländerfeindlichkeit und
Rassismus überwinden.

Als Berliner möchte ich Ihnen noch gerne sagen: Wir
Berliner sind manchmal etwas muffelig, das ist wahr.
Ich will auch nicht bestreiten, daß wir gerne meckern.
Wir sind aber eigentlich nicht weniger herzlich als
Rheinländer. Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie einfach
gerne. In Berlin kulminieren alle Widersprüche dieser
Gesellschaft und auch der Vereinigung. Begreifen wir
Berlin als Herausforderung und nehmen wir diese Her-
ausforderung an, weil es auch eine Chance ist –


(Beifall bei der PDS)

für uns, für die Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland und für unsere Nachbarn. Wir sollten auch
in diesem Gebäude demonstrieren: Einheit verlangt
nicht Einheitlichkeit, sondern Anerkennung und Respekt
in der jeweiligen Unterschiedlichkeit.


(Beifall bei der PDS)


Dr. Gregor Gysi






(B)



(A) (C)



(D)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403301100
Ich gebe das Wort
dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr.
Manfred Stolpe.


(Brandenburg)

Herren! In dieser Stunde stellen wir dankbar fest, daß
Wort gehalten wurde: Wort gehalten an den Beschlüssen
des Deutschen Bundestages seit 1949, Wort gehalten am
Einigungsvertrag und Wort gehalten am Beschluß über
die „Vollendung der Einheit Deutschlands“. Auch was
sich vor zehn Jahren im Frühjahr 1989 ankündigte, als
die Unzufriedenheit Tausender DDR-Bürger über Un-
freiheit, Gängelei und deutsche Trennung drängender
wurde, hat heute ein wichtiges Ziel erreicht: Der Umzug
des Bundestages nach Berlin ist das vollzogene Be-
kenntnis zu Einheit und Freiheit für alle Deutschen.

Vor zehn Jahren, am 19. April 1989, machte ich in
meinem persönlichen Tagebuch drei Eintragungen: Mit
der DDR-Regierung war über eine Vereinfachung der
Besuchsreisen nach Westberlin zu sprechen – erfolglos;
mit dem Bezirk Cottbus gab es Streit wegen dessen For-
derung, schon die Anfertigung von Kopien staatlich ge-
nehmigen zu lassen; am Kloster Chorin verhandelte eine
Menschenrechtsgruppe über den Zusammenhang von
sozialen Rechten und Freiheitsrechten.

Die Menschen in der DDR begannen, offen zu reden;
bisherige Tabus galten nicht mehr. Was jahrzehntelang
ertragen wurde, war unerträglich geworden. Da bahnte
sich etwas an, was in seinen Dimensionen und Wirkun-
gen noch niemand richtig erahnen konnte. Es folgte eine
friedliche Revolution, in der die einen den Mut zur offe-
nen Auflehnung fanden und die anderen ihren Machtap-
parat nicht zur blutigen Unterdrückung einsetzten.

Am Ende haben sich die Menschen in der DDR in
freier Selbstbestimmung für die staatliche Einheit ent-
schieden. Wir haben mit dieser Entscheidung damals ei-
nen Wechsel auf die Zukunft unterschrieben und durften
auf Fairneß und Grundsatztreue der Vertragspartner wie
auch der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik
vertrauen.

Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren voll-
zog sich in Deutschland eine erstaunliche und großartige
Gemeinschaftsleistung: Die Deutschen im Osten zeigten
umfassenden Veränderungswillen, trugen geduldig die
Lasten des radikalen Umbruchs und schufen eine be-
achtliche Aufbauleistung. Die Deutschen im Westen
bewiesen eine historisch unvergleichbare Solidarität
durch einen riesigen Finanztransfer und Zehntausende
Aufbauhelfer in Verwaltung und Wirtschaft des Ostens.


(Beifall bei der SPD)

Im Ergebnis sind die gesellschaftlichen Strukturen ge-
staltet und die Grundlagen für eine wettbewerbsfähige
Wirtschaft geschaffen worden.

Die deutsche Einheit – und in deren Folge die Ent-
scheidung für den Umzug von Parlament und Regierung
– ist der Wille des Volkes und das Ergebnis der europäi-
schen Entspannung. Ohne europäischen Friedensprozeß

für Sicherheit und Zusammenarbeit wäre das Wunder
der Einheit nicht Wirklichkeit geworden.


(Beifall bei der SPD)

Dank und Respekt zollen wir der Bereitschaft der vier

Siegermächte und den europäischen Nachbarstaaten, die
deutsche Einheit ermöglicht und gebilligt zu haben.
Nach allem, was Deutsche anderen Menschen angetan
haben, durften wir dieses Vertrauen nicht selbstver-
ständlich erwarten. Wir werden es auch von Berlin aus
rechtfertigen.


(Beifall bei der SPD)

Nun also konnten die Deutschen zusammenkommen.

Schon bald aber mußten wir feststellen, daß der deutsch-
deutsche Umgang gelernt sein will. Denn der Einheit
gingen 45 Jahre einer sehr verschiedenen politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im
geteilten Deutschland voraus. Da sind unterschiedliche
soziale Systeme entstanden, die auch die Menschen un-
terschiedlich geprägt haben.

Wir im Osten erlebten nun einen dreidimensionalen
Umbruch: Da ist zum einen der Wandel der politischen
Struktur, der Übergang von einer Diktatur mit all ihren
Formen der Repression zu einem demokratische Rechts-
staat. Da ist zum anderen der wirtschaftliche Wandel,
der Übergang von einer Staatsplanwirtschaft zur Wett-
bewerbswirtschaft. Schließlich – was gelegentlich über-
sehen wurde – ist da die dritte Dimension, der Umbruch
für den einzelnen, der Übergang von einem Bevormun-
dungssystem, das von der Wiege bis zur Bahre reichte,
hin zu einem System der Eigenverantwortung und der
Selbstbehauptung. Diese subjektive Seite ist es, die viel
Verunsicherung mit sich bringt. Denn die Umstellung
für den einzelnen war radikal. Die Erfahrungen sind oft
ein Schock gewesen, vor allem die nicht erwarteten Er-
fahrungen, zu denen insbesondere die unerwartete Mas-
sen- und Langzeitarbeitslosigkeit gehört.


(Beifall bei der SPD)

Die Biographie jedes einzelnen, alle individuellen

Lebensentwürfe und Lebenssicherheiten, alle Perspekti-
ven und Kalküle wurden auf den Kopf gestellt. Es gibt
kaum eine Familie zwischen Elbe und Oder, in der sich
nicht mindestens ein Mitglied beruflich völlig neu ori-
entieren oder – schlimmer – aus dem Arbeitsprozeß aus-
scheiden mußte.

Und doch kann ich diese Empfindung der großen
Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern vermit-
teln. Bei allen Problemen und manchem Schmerz, der
mit dem Veränderungsdruck und mit einzelnen Folgen
des Umbruchs einhergegangen ist: Wir haben die neuen
Freiheiten und Möglichkeiten als große Bereicherung er-
fahren.

Aber eines ist für die Deutschen in Ost und West
noch zu tun. Wir wissen noch zuwenig voneinander; wir
kommen dadurch zu schnell zu Mißverständnissen und
Vorurteilen. Meine Damen und Herren, nutzen wir alle
den künftigen Sitz von Parlament und Regierung in
Berlin als eine Möglichkeit, uns besser kennenzulernen,
voneinander zu lernen und die Chancen unterschiedli-






(A) (C)



(B) (D)


cher Erfahrungswerte anzuwenden. In vielen Unterneh-
men im Osten kann man zum Beispiel erfahren, wie er-
folgreich eine gemischte Ossi-Wessi-Geschäftsführung
sein kann.

Ich freue mich darauf, daß nun viele Neue aus dem
Westen, dem Norden und dem Süden unseres Vaterlan-
des in diese Region kommen. Vertrauen Sie mir bitte:
Ihnen wird nicht nur das hiesige Klima, sondern auch
die Weite des Landes, die einen freien Blick gewähren
kann, gut gefallen und guttun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)


Um Berlin herum erwarten Sie über 3 000 Seen und
Deutschlands größte Waldgebiete, viele kleine Dörfer,
nicht allzu große Städte sowie 700 Schlösser und Her-
renhäuser – einige sind noch zu haben –,


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

und nicht zuletzt erwartet Sie der rauhe Charme der
Märker. Sie, die Neuankömmlinge im Osten, werden
selber erfahren können, wie es denn nun um die innere
Einheit der Deutschen steht.

Meine Damen und Herren, dabei warne ich vor Über-
frachtung des Begriffs und rate zu nüchterner Betrach-
tung. Denn es gilt, was die Deutschen in Ost und West
gewollt und gewählt haben: Es gibt heute in ganz
Deutschland ein demokratisches System, das auf Betei-
ligung der Bürgerinnen und Bürger fußt, ebenso Rechts-
sicherheit, Bewegungsfreiheit und ökonomische Effizi-
enz. Das sind gemeinsame Grundlagen, und das ist viel.
Die Grundprinzipien der Verfassung werden von großen
Mehrheiten in Ost- und Westdeutschland getragen. Glei-
ches gilt für die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.
Die Identifikation mit dem vereinten Deutschland ist ge-
geben. Auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist
vorhanden, trotz aller gepflegten Vorurteile, die es zwi-
schen West und Ost und schließlich auch zwischen Nord
und Süd gibt. Übrigens war uns dieses Problem auch in
der ehemaligen DDR durchaus geläufig.

Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen liegt
nicht in der Akzeptanz der Staats-, Rechts- und Werte-
ordnung, sondern in den unterschiedlichen persönlichen
Erfahrungen mit der Funktionsfähigkeit sozialer Markt-
wirtschaft. Vom Verlauf dieser Erfahrungen hängt für
die Zukunft viel ab, vom Empfinden, im gleichen Maße
wie im Westen auch im Osten Deutschlands faire Chan-
cen wahrnehmen zu können. Erst damit werden die Ost-
deutschen die Zeit des Übergangs als abgeschlossen und
die innere Einheit als vollzogen ansehen können.

Willy Brandt war sich der Bedeutung der Chancen-
gleichheit und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse
für die nationale Identität bewußt. Er war es, der mit der
politischen Einheit die soziale Abfederung des Eini-
gungsprozesses anmahnte, der darauf achtete, daß Be-
schwörungen nationaler Zusammengehörigkeit nicht da-
von ablenkten, die Arbeitslosigkeit und eine ungerechte
Lastenverteilung zu bekämpfen.

Weil wir nicht riskieren dürfen, daß die sozialen Fol-
gen der Einheit zum Sprengsatz für die Grundwerte

werden, auf denen sie basiert, nämlich Menschenwürde,
Freiheit und Demokratie, müssen wir – nun von Berlin
aus – alles tun, um den Menschen in Ost und West über
Arbeit und Einkommen ihre persönliche Perspektive im
vereinten Deutschland erfahrbar zu machen.


(Beifall bei der SPD)

Dafür darf ich fünf Bitten aussprechen, um die sozial-

ökonomischen Grundlagen im Osten Deutschlands zu
festigen:

Lassen Sie uns mehr tun, um die schwache industri-
elle Basis auszubauen. Helfen wir den Hunderttausenden
Existenzgründern, die an Kapitalmangel und Zahlungs-
verweigerung leiden. Stärken wir Kultur-, Sport- und
Freizeitangebote als soziale Integrationshilfe gerade
auch für Jugendliche. Verbessern wir die noch schwache
Infrastruktur und ungenügende Lebensqualität vor allem
in großen Wohngebieten.

Stellen wir uns darauf ein, daß in benachteiligten Re-
gionen noch etwa zehn Jahre Arbeitsförderungsmaß-
nahmen und Ausbildungsprogramme nötig sein werden.

Das alles ist zu schaffen. Es ist wenig, gemessen an
unserer bisherigen Gemeinschaftsleistung; aber es wird
schließlich ganz Deutschland dienen. Denn dieses Land
muß leistungsfähig sein, um wirksam für Frieden und
Menschenrechte in Europa und darüber hinaus einzu-
treten.


(Beifall bei der SPD)

Lassen wir uns an diesem Tag dazu ermutigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403301200
Das Wort für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat der Kollege Michael
Glos.


Michael Glos (CSU):
Rede ID: ID1403301300
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor zehn Jah-
ren war es für viele von uns ein Traum, daß die Teilung
Berlins und die Teilung Deutschlands so schnell über-
wunden werden könnten. Der Wettstreit der Systeme ist
ganz klar entschieden: Die Menschen im Osten haben
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale
Marktwirtschaft gewählt. Wir haben zu allen Zeiten
immer daran geglaubt – das haben nicht alle in diesem
Hause getan –: Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl
konnten nicht das letzte Wort in der deutschen Ge-
schichte sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Menschen in der damaligen DDR haben im

Herbst 1989 ein großartiges Kapitel deutscher Ge-
schichte geschrieben und durch ihre friedliche Revoluti-
on in die Tat umgesetzt. Bei der ersten freien Volks-
kammerwahl wurde den Kommunisten eine klare Absa-
ge zuteil. Es wurde für die Einheit Deutschlands votiert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe (Brandenburg)







(B)



(A) (C)



(D)


Es ist durchaus keine Selbstverständlichkeit – inso-
fern ist es ein ganz großer Tag –, daß wir heute im
Reichstag in Berlin unsere Arbeit als frei gewähltes
Parlament aufnehmen können. Ich erinnere mich sehr
genau an die vielen Fraktionssitzungen, die insbesondere
die CDU/CSU-Fraktion in diesem Gebäude abgehalten
hat, oder an die vielen damaligen Ausschußsitzungen,
als Autos der sowjetischen Militärkommission ständig
um diesen Bau kreisten. Gerade wir von der CSU waren
damals immer geschlossen vertreten und haben damit
auch ein Bekenntnis unseres Glaubens an die Einheit
Deutschlands abgelegt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es muß auch in dieser Stunde daran erinnert werden:

Es war der verstorbene frühere Parteivorsitzende der
CSU, Franz Josef Strauß, der die damalige Klage der
Bayerischen Staatsregierung initiierte, mit der ein ent-
sprechendes Urteil zum Grundlagenvertrag erstritten
wurde und mit der die deutsche Einheit nicht nur histo-
risch, sondern auch rechtlich offengehalten wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben nie einen Zweifel an unserem Willen zur

Wiedervereinigung gelassen. Die deutsche Währungs-
union, die ein mutiger Schritt von Helmut Kohl und
Theo Waigel gewesen ist, hat einen ganz entscheidenden
Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet und
hat sie unumkehrbar gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


In dieser historischen Stunde ist es angebracht, auch für
diese Leistung ganz herzlich zu danken.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ist es!)


Das deutsche Vaterland hat die volle innere und äußere
Souveränität in Freiheit wiedererlangt. Ohne die Einbin-
dung der Bundesrepublik Deutschland in die freiheitliche
westliche Werte- und Verteidigungsgemeinschaft wäre
dies alles in dieser Form sicherlich nicht erreichbar gewe-
sen. Nun wissen wir, daß Bündnisse keine Schönwetter-
veranstaltungen sind und daß unsere Solidarität und unser
Einsatz im Bündnis jetzt gefordert sind. Wir werden uns
als treue, verläßliche Bündnispartner erweisen.

In vier Wochen, am 23. Mai, können wir mit Stolz
auf den 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgeset-
zes der Bundesrepublik Deutschland zurückblicken. Das
Bonner Grundgesetz war und ist ein Glücksfall für unser
Land. Das Grundgesetz mit seinen demokratischen
Spielregeln und seinem Katalog von Grundrechten stellt
eine fundamentale Wertentscheidung für die Deutschen
dar. Die Annahme unserer Verfassung war eine Ent-
scheidung für die politische Freiheit und gegen den To-
talitarismus. Sie war eine Entscheidung für den Rechts-
staat und gegen die Gewaltherrschaft, und sie war vor
allen Dingen eine Entscheidung für eine liberale und ge-
gen eine kollektivistische Wirtschaftsordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD)


– Das ist das, was Sie immer gewollt haben!

Es war gut und richtig, nach dem Beitritt an unserer
bewährten Verfassung festzuhalten. Auf dieser Grundla-
ge werden wir auch die künftigen Herausforderungen
bewältigen. Der Umzug von Parlament und Teilen der
Regierung in die Bundeshauptstadt Berlin darf nicht als
historische Zäsur verstanden werden. Die Zukunft ge-
hört auch in Europa dem Föderalismus und nicht dem
Zentralismus. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler
auch heute noch einmal ein Bekenntnis dazu abgelegt
hat. Wir werden ihn auch in Zukunft daran messen.

Wir sind ganz sicher: Die Länder sind das Fundament
des Hauses Deutschland. Wir werden als CSU gerade in
Berlin ein ganz besonderes Wächteramt hinsichtlich des
Föderalismus ausüben. Deswegen müssen wir bei allen
Entscheidungen in diesem Haus bedenken, daß die
Kompetenzen der Länder gewahrt bleiben und nicht
weiter ausgehöhlt werden. Sie müssen gestärkt werden.


(Anke Fuchs [Köln] [SPPD]: Das haben Sie aber artig gesagt!)


Wir müssen uns hüten, Frau Präsidentin, einer schlei-
chenden Aushöhlung der Länderzuständigkeiten das
Wort zu reden oder im Parlament sogar unsere Hand da-
für zu erheben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ein lebendiger Föderalismus ist in einer Zeit zuneh-

mender Globalisierung wichtiger denn je. Wer allerdings
ja zum Föderalismus sagt, der muß auch ja zum Wett-
bewerbsföderalismus sagen; denn es ist ganz entschei-
dend, daß diejenigen, die überdurchschnittliche An-
strengungen unternehmen, von den Früchten der An-
strengungen ein Stück profitieren können. Gleichmache-
rei löst letztendlich kein Problem, und deswegen treten
wir auch für den Wettbewerbsföderalismus ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Dieser Wettbewerbsföderalismus ist nur richtig mög-
lich, wenn es starke und leistungsfähige Bundesländer
gibt. Deshalb brauchen wir in einem geeinten Europa
der Nationen und Regionen klare Zuständigkeiten. Auch
darüber muß in diesem Hause gestritten werden.

Deutschland ist auf dem Wege der Vollendung seiner
Einheit. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost
und West ist weit vorangeschritten. Man kann sagen, das
Glas sei halb voll oder halb leer. Für mich ist das Glas
halb voll. Wahr ist: Insbesondere der wirtschaftliche Ei-
nigungsprozeß ist schwieriger, als wir es uns alle vorge-
stellt haben. Das lag aber auch daran, daß das Ausmaß
der Zerstörung, die Kommunismus und real existieren-
der Sozialismus ausgelöst haben, sehr viel größer gewe-
sen ist, als wir es uns alle insgesamt vorgestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wahr ist auch: Die Solidarität in Deutschland ist ohne

historischen Vergleich. Die Menschen in Ost und West
leisten gleichermaßen Beispielloses. Der Prozeß der in-
neren Einheit und des inneren Zusammenwachsens ist
aber nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig. Unsere
Nation lebt von gemeinsamen geistigen und wertemäßi-
gen Grundlagen. Eine dieser Grundlagen muß wieder

Michael Glos






(A) (C)



(B) (D)


stärker hervorgehoben werden. Wie wir in Umfragen le-
sen, ist die Grundlage der Freiheit etwas in den Hinter-
grund getreten. Ich glaube, daß das der falsche Weg ist.

Eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsord-
nung gründet auf Eigenverantwortung und Solidarität.
Wer allerdings Solidarität erwartet, der muß auch bereit
sein, Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist etwas,
was wir den Menschen im Land wieder stärker ins Be-
wußtsein rufen müssen, und zwar in beiden Teilen unse-
res Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Mahnung richtet sich auch an uns hier in diesem

Haus: Politik, Staat und Gesellschaft, Schulen und In-
stitutionen müssen wieder verstärkt Werte vermitteln,
auf denen der moralische, politische und letztendlich
auch wirtschaftliche Wiederaufbau nach 1945 gelungen
ist.

Eine weitere Mahnung, die wir beherzigen müssen:
Gewalt darf in Deutschland niemals wieder eine Chance
haben. Das müssen wir auch – heute ist soviel von unse-
ren ausländischen Mitbürgern gesprochen worden – den
ausländischen Mitbürgern und Gästen sagen, die in
Deutschland leben. Vorhin hat der Kollege Schulz an-
gemahnt – Wolfgang Schäuble hat am vergangenen
Donnerstag, wie ich meine, zu Recht, noch einmal einen
breiten Konsens bei der Staatsbürgerschaft gefordert –,
vielleicht doch noch einmal Gespräche, auch außerhalb
dieses Hauses, aufzunehmen, um in dieser existentiellen
Frage zu einem Konsens zu kommen. Deswegen fordere
ich namens der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregie-
rung noch einmal auf, in diese Gespräche einzutreten.
Diese haben ganz viel mit der inneren Einheit unseres
Landes zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Die Sie gespalten haben!)


Es wird in diesen Tagen sehr bewußt: Das geeinte
Deutschland übernimmt Verantwortung für Frieden,
Freiheit und Menschenrechte in Europa. Auch künftig
muß deshalb unser Platz immer an der Seite unserer
westlichen Partner sein. Fünf Jahrzehnte ist Deutschland
von Bonn aus regiert worden. Es waren fünf gute Jahr-
zehnte für unser Vaterland. Der Wechsel vom Rhein an
die Spree darf nicht mit einer Verschiebung der politi-
schen Grundachse Deutschlands und seines politischen
Koordinatensystems einhergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Michael Stürmer sprach gestern in der „Welt am Sonn-
tag“, sich auf Goethe berufend, von der Angst der Deut-
schen vor einer Hauptstadt. Die CSU, wir alle haben
keine Angst vor einer Hauptstadt. Wir sind selbstbewußt
genug, zu wissen, daß es auch noch genügend andere
Zentren gibt, die wir in Deutschland pflegen. Unser
Land besteht aus dieser Vielfalt.
Aber Berlin muß ebenso wie Bonn ein Synonym für in-
nen- und außenpolitische Berechenbarkeit, für Konti-
nuität und selbstverständlich für Liberalität werden und
bleiben. Deswegen gibt es für mich keine „Berliner Re-
publik“, genausowenig wie es je eine „Bonner Repu-

blik“ gegeben hat. Es geht um die gemeinsame deutsche
Republik, die wir insgesamt weiter pflegen und voran-
bringen wollen.

Ein Allerletztes. Mir gefällt dieses Haus, unser Berli-
ner Parlament. Seien wir doch selbstbewußt genug, es so
zu nennen, wie es die Leute nennen: Der Bundestag
wird künftig im Reichstag tagen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403301400
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Sabine Kaspereit.


Sabine Kaspereit (SPD):
Rede ID: ID1403301500
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Anläßlich der Übernahme
des Reichstagsgebäudes durch den Deutschen Bundestag
drängt sich die historische Würdigung dieses Tages
förmlich auf. Es ist aber von unserem Parlamentspräsi-
denten, dem Bundeskanzler und den meisten meiner
Vorredner schon viel dazu gesagt worden. Ich will den
Würdigungen der Geschichte des Reichstages nicht noch
eine weitere hinzufügen.

Ich will von meinen Gefühlen sprechen, die mit dem
Reichstag verbunden sind. Tief bewegt und auch ein
bißchen stolz darauf, heute an dieser Stelle stehen zu
dürfen, kann ich nicht sagen, daß sich mir ein Traum er-
füllt hätte. Wie hätte ich davon träumen können? Für
mich war der Reichstag eine Ruine, auf die ich als DDR-
Kind, wenn ich nur nahe genug an die Mauer herankam,
einen sehr eingeschränkten Blick hatte – intellektuell
und vor allem visuell. Später war der Reichstag ein
Symbol der Verbundenheit der Westdeutschen mit der
Insel Westberlin und noch später die Kulisse für laut-
starke Rockkonzerte, die den DDR-Oberen so schrill in
den Ohren klangen, daß es mich freute, auch wenn ich
selbst nur das Echo der Konzerte in den DDR-Medien
wahrnahm.

Als ich 1994 als Abgeordnete die konstituierende Sit-
zung des 13. Deutschen Bundestages in den Mauern des
Reichstages erlebte, bekam dieses Haus plötzlich eine
andere Dimension für mich. Ich empfand die Wucht und
Schwere des Gemäuers als Verantwortung auf meinen
Schultern. Daran hat auch der spielerische Umgang
Christos mit seiner zauberhaften Verhüllung nichts ge-
ändert. Es geht eine Ausstrahlung von diesem Hause
aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Wofür
steht dieser Koloß? Steht er für parlamentarische Demo-
kratie? Steht er für deren Ende durch die Nazis? Steht er
als Symbol des Sieges über die Nazis?

Für mich steht er heute als Symbol für den Neuan-
fang nach 40 Jahren SED-Regime. Voraussetzung dafür
war der Fall der Mauer, die meine Landsleute aus dem
Osten zum Einstürzen gebracht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieser Neuanfang nach dem Fortfall der Konfrontati-
on der Blöcke fordert von uns Parlamentariern innen-
wie außenpolitisch mehr Sorgfalt und komplexere

Michael Glos






(B)



(A) (C)



(D)


Sichtweisen sowie mehr Verantwortungsbewußtsein,
damit wir die Chance einer langfristigen und allseits ge-
achteten Friedensordnung ergreifen können. Dies sage
ich auch und gerade vor dem Hintergrund der Gescheh-
nisse im Kosovo.

Für uns Ostdeutsche mit unserer viel aktuelleren, län-
geren und auch tiefgreifenderen Diktaturerfahrung, als
die Westdeutschen sie haben, ist die Rückkehr der ge-
samtdeutschen parlamentarischen Demokratie nach
Berlin eine besondere Freude und Genugtuung.


(Beifall bei der SPD)

Mit dem Widerstand gegen die Verweigerung einer

wirklichen parlamentarischen Repräsentanz in der DDR
hat angefangen, was wir heute als die gewaltlose Revo-
lution des Herbstes 1989 bezeichnen. Mit dem Ruf nach
freien Wahlen hat die Entmachtung des DDR-
Machtapparates begonnen, und sie wurde sozusagen
durch „Ersatzparlamente“ weitergeführt, durch die run-
den Tische auf kommunaler, bezirklicher und nationaler
Ebene. Natürlich waren diejenigen, die an den runden
Tischen saßen, nicht gewählt, und die Zusammenset-
zung war auch nicht repräsentativ. Aber die runden Ti-
sche hatten etwas, was ein Parlament neben der ein-
wandfreien demokratischen Legitimation durch Wahlen
braucht: Sie hatten das Vertrauen all derer, die schon
lange kein Vertrauen mehr in ihre Staatsführung gehabt
hatten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Die runden Tische waren offen für alle.
Warum spreche ich diese Erfahrungen und Erinne-

rungen an? Weil wir heute einen neuen Abschnitt deut-
scher Geschichte beginnen, der ohne das eben Gesagte
überhaupt nicht denkbar wäre und zu Zeiten der deut-
schen Teilung trotz aller Sonntagsreden von allen Seiten
auch nicht gedacht worden ist. Deshalb hätte ich nie da-
von träumen können, heute hier zu stehen.

Das Vergangene der 40 Jahre vor 1989 und sein Ende
dürfen genausowenig vergessen werden wie das der Jah-
re vor 1945. Das Verwerfliche daran darf nicht von Ge-
wohnheit und Gleichgültigkeit des täglichen Lebens und
des politischen Alltags glattgeschliffen werden. Ich will
nicht zulassen, daß im Schatten von Rechtsradikalen das
Unrecht des DDR-Systems bis zur Unauffälligkeit ver-
schwimmt.


(Beifall bei der SPD)

Wer konsequent die Verfolgung von Machenschaften
bei der Privatisierung volkseigener Betriebe fordert,
kann nicht gleichzeitig einen Schlußstrich unter das
Unrecht ziehen wollen, unter dem zwar unmittelbar
nicht die Mehrheit der DDR-Bürger zu leiden hatte,
aber mit Sicherheit jeder, der sich dagegen aufzulehnen
gewagt oder den Versuch unternommen hat, ihm zu
entkommen.


(Beifall)

Wenn wir von symbolischen Sitzungen der Bundes-

tagsfraktionen und der Bundesversammlungen absehen,

begann politisches Leben eigentlich erst mit der demo-
kratischen Volkskammer nach den ersten freien Wahlen
in der DDR in den Reichstag einzuziehen.

Die Bundestagsfraktion der SPD hat sich als erste
ganz bewußt dafür entschieden, den Reichstag für die
Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Abge-
ordneten der Volkskammer zu nutzen. Die anderen da-
maligen Bundestagsfraktionen sind ihr in unterschiedli-
cher Weise bald gefolgt. Das Reichstagsgebäude als
Bindeglied zwischen den frei gewählten Parlamenten
der beiden deutschen Staaten – das ist unter den Funk-
tionen, die dieses Haus je innehatte, wahrlich nicht die
geringste.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich denke, das dürfte den 99jährigen Sozialdemokra-
ten Josef Felder, den einzigen noch lebenden Abgeord-
neten des Reichstages, der diese Debatte von München
aus sicher verfolgt, sehr freuen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich möchte Josef Felder von dieser Stelle aus sehr herz-
lich grüßen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Alltag der deutschen Einigung nach den Festta-
gen des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990
zeigt: Dies waren nur die Feiern zur Grundsteinlegung.
An der Vereinigung muß noch lange und auch hart gear-
beitet werden. Anstrengende Arbeit ist nicht nur bei der
Wirtschaftsförderung und der Angleichung der Lebens-
verhältnisse erforderlich, sondern sie muß auch beim
Zusammenführen zweier Gesellschaften geleistet wer-
den, deren Entwicklungswege nicht unterschiedlicher
hätten sein können.

Vieles ist erreicht worden. Die Westdeutschen haben
hingenommen, daß ihr Realeinkommen ungefähr auf
dem Stand von 1990 verharrt. Die Ostdeutschen haben
sich tiefgreifenden Veränderungen unterzogen. Viele
haben in den vergangenen neun Jahren mindestens ein-
mal den Arbeitsplatz wechseln müssen oder die Erfah-
rung von Arbeitslosigkeit gemacht. Vor allem die Frau-
en in den neuen Bundesländern betrifft der Wandel oft
genug negativ.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!)


Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig.
Wenn es auch der Mehrzahl der Ostdeutschen heute

deutlich besser geht als im Jahre der Vereinigung, so ist
die Vereinigung doch nur an wenigen ohne Spuren vor-
beigegangen. Für das Viele, was noch zu tun bleibt, ver-
sprechen wir ostdeutschen Parlamentarier uns von einem
in Berlin arbeitenden Bundestag ein genaueres Hinsehen
auf das, was in den neuen Ländern geschieht, eine un-
mittelbarere Erfahrung der Gemeinsamkeiten und Ge-
gensätze von Ost und West sowie die schnellere und

Sabine Kaspereit






(A) (C)



(B) (D)


wirksame Umsetzung der daraus gewonnenen Erkennt-
nisse in politisches Handeln.

Ein guter Freund hat mir im vergangenen Herbst sei-
ne Gedanken im Rahmen der Einsichtnahme in seine
Stasiakte aufgeschrieben. Ich war nicht so sehr von den
geschilderten Einzelheiten der Bespitzelung beeindruckt.
Darüber gibt es viele erschütternde Berichte. Viel beein-
druckender war für mich sein persönlicher Umgang mit
der Tatsache, daß er sich unter Inkaufnahme von Isolie-
rung und beruflicher Nachteile nicht, wie von der SED
verlangt, von seinen Verwandten im Westen losgesagt
hatte. Er schließt mit den Worten:

Es ist Oktober 1998. Nächste Woche fliegen meine
Frau und ich für drei Wochen ganz weit weg. Wo-
hin, das müssen wir niemandem mehr sagen. Nie-
manden müssen wir um Genehmigung bitten. Da-
nach kehren wir sehr gern wieder nach Hause zu-
rück. Und das liegt zum Glück seit acht Jahren
wieder mitten in Deutschland!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403301600
Ich gebe nun dem
Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diep-
gen, das Wort.

Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister

(Berlin): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen

und Herren! Knapp 50 Jahre nach der Verabschiedung
des Grundgesetzes kommt heute der Deutsche Bundes-
tag zum erstenmal in ordentlicher Sitzung in diesem Ge-
bäude zusammen. Dieser Tag ist – auch in dieser De-
batte – gewürdigt worden als historischer Tag, als Mei-
lenstein für diese Stadt und sicherlich auch als Meilen-
stein für die gesamte Bundesrepublik Deutschland.

Sie werden am Ende dieser Debatte – auch wenn sich
die Begriffe wiederholen – sicher Verständnis dafür ha-
ben, daß ich Ihnen ein Stück persönliche Empfindung
wiedergebe. Die Sitzung des frei gewählten gesamtdeut-
schen Parlaments war und ist für mich und vielleicht für
viele Berlinerinnen und Berliner die Verwirklichung
eines politischen Traums.

Wenn ich von der vorangegangenen Rede ausgehe,
dann merke ich, wie unterschiedlich Erfahrungen und
Begrifflichkeiten im zusammenwachsenden Deutschland
waren. Aber es war für mich ein Traum, der oft als Uto-
pie und als politische Lebenslüge einer ganzen Gesell-
schaft diskreditiert wurde. Ich erinnere an die Freiheits-
kundgebung auf dem Platz vor dem Reichstag. Ich höre
die Stimme von Ernst Reuter: „Ihr Völker der Welt:
Schaut auf diese Stadt!“ „Schaut auf diese Stadt“ war
nicht nur auf Berlin bezogen, sondern das war auf Wün-
sche zur Unterstützung im Kampf gegen Totalitarismus,
für Freiheit und für Demokratie bezogen. Das betraf
deswegen viel mehr als „nur“ Berlin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir standen nicht nur deshalb auf dem Platz vor dem
Reichstag, weil das der große Platz in der Stadt war, auf
dem Hunderttausende zusammenkommen konnten, son-
dern wir standen vor dem Gebäude, das Hoffnung und
Erwartung auf Demokratie und Wiedervereinigung wi-
derspiegelte.

Für mich war das alles mit Ziel und Motivation ver-
bunden. Ziel und Motiv für politisches Handeln liegen
für mich in all den Erfahrungen, in all dem, was wir in
der Nachkriegszeit erleben mußten: von den Berichten
über den Volksaufstand in Ungarn, über den Bau der
Mauer oder, noch früher – da war ich noch etwas jünger
–, über den Volksaufstand, der auch in besonderer Wei-
se von Berlin ausgegangen ist.

Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an die
vielen Staatsgäste, die ich selbst in einen Flügel dieses
Gebäudes, den Ostflügel, führen durfte, um ihnen von
dort aus einen Blick über die Mauer zu ermöglichen und
all die Sehnsüchte und Hoffnungen zu erläutern. Das ist
für mich „Reichstag“.

Eine geschichtliche Entwicklung findet hier heute ei-
nen, wie ich finde, demonstrativen Abschluß, und oft
verspottete Hoffnungen werden Wirklichkeit. Deswe-
gen, meine Damen und Herren, hängen viele Berliner so
an diesem Reichstag.

Damit muß ich, glaube ich, zu aktuellen weiteren De-
batten nichts sagen. Nur, Herr Kollege Struck – er ist
jetzt nicht da –, gerade das Auf und Ab der Geschichte
des Reichstags bzw. dessen, was sich an demokratischen
Entwicklungen in diesem Reichstag vollzogen hat, be-
weist, daß die Rückkehr in dieses Gebäude ein Sieg der
Demokratie ist, ein Sieg der Demokratie!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, das heutige Datum ist
auch ein Eckpfeiler für die innere Einheit des Landes. Es
gab hier eine Bestandsaufnahme, die ein Stück weit
überlagert war von dem, was wir an neuen Erfahrungen,
an neuer internationaler Verantwortung in den Ausein-
andersetzungen auf dem Balkan heute mitgestalten müs-
sen.

Es gab die Bilanz zu den Fragen der inneren Einheit.
Diese Bilanz war insgesamt positiv. Die Wiedervereini-
gung hat sich – das ist in der heutigen Zeit am wichtig-
sten – in Frieden vollzogen. Es gab keine unüberwindli-
chen sozialen Eruptionen. Die Demokratisierung und
vielleicht auch ein Elitewechsel sind im Gegensatz zu
anderen Staaten gelungen.

Viele Städte, einst vom Verfall bedroht, sind lie-
benswert renoviert worden. Die Infrastruktur im Ostteil
Berlins und im Ostteil Deutschlands ist grundlegend
modernisiert worden. Die Produktionsstätten – der Bun-
deskanzler hat darauf hingewiesen – können sich im in-
ternationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Aber
auch dies ist hier betont worden: Die politischen, gesell-
schaftlichen und verwaltungsmäßigen Veränderungen,
der Aufbau einer völlig neuen wirtschaftlichen und ins-
besondere auch industriellen Basis in den sogenannten
jungen Bundesländern haben den Menschen Erhebliches

Sabine Kaspereit






(B)



(A) (C)



(D)


abverlangt. Ich bin mir, meine Damen und Herren, ganz
sicher: Künftige Generationen werden davon mit Be-
wunderung sprechen. Es wäre schön, wenn ein Stück
Anerkennung und Respekt auch heute selbstverständli-
cher Gegenstand der politischen Diskussion wäre. Das
haben die Menschen verdient.


(Beifall)

Ohne Frage: Es gibt weiteren Handlungs- und Ent-

wicklungsbedarf. Es geht um Arbeitsplätze, um den
Ausbau von Wissenschaft und Forschung. Es geht um
Produkte, die im internationalen Markt konkurrenzfähig
sind. Wichtig ist auch die innere Entwicklung. Aus mei-
ner Sicht gab es auf dem Weg der letzten Jahre sehr
viele emotionale Verletzungen und Mißverständnisse.
Die unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaft-
lichen Erfahrungen wurden nicht ausreichend für die
gemeinsame Zukunft genutzt. Die gemeinsame Zukunft,
das ist der Aufbau im ganzen deutschen, ich benutze den
Begriff hier: Vaterland – in Ost und West, in Nord und
Süd. Es ist richtig, daß nicht alles aus dem sogenannten
Westen zu erhalten und aus dem sogenannten Osten zu
verändern war. Lernen ist keine Einbahnstraße im zu-
sammenwachsenden Deutschland und darf auch nicht so
begriffen werden.


(Beifall)

Meine Damen und Herren, bei allen notwendigen

kritischen Anmerkungen – eine Herausforderung für die
Zukunft – können die Menschen dieses Landes auf das
stolz sein, was sie geleistet haben. Diese Leistung gibt
uns aus meiner Sicht die Gewißheit, den weiteren Weg
erfolgreich gestalten zu können. Denn die Leistungsfä-
higkeit der Menschen in Ost und West beweist genau
dies. Mein Wunsch ist es, daß weniger in den Kategori-
en von Ost und West gedacht wird, sondern daß über die
Grenzen einzelner Bundesländer hinweg gemeinsame
Stärken herausgearbeitet werden. Der Verfassungsauf-
trag nach gleichwertigen Lebensverhältnissen – übrigens
nicht nach gleichen Lebensverhältnissen – wird aus-
drücklich durch regionale Vielfalt ergänzt, das heißt
durch regionale Schwerpunktsetzung auch in dem, was
sich Menschen im einzelnen unter Lebensqualität vor-
stellen.

Wir können also auf dem aufbauen, was bisher gelei-
stet worden ist. Die geleistete materielle Hilfe ist Grund-
lage und Zukunft dabei, insbesondere für die neuen Bun-
desländer. Diese Länder brauchen die Solidarität. Nur so
kann sichergestellt werden, daß die bisher erfolgte Hilfe
nicht nutz- und erfolglos wird. Gleichzeitig darf sich das
Engagement allerdings nicht im Materiellen erschöpfen.
Es kommt auf den Umgang miteinander an.

Richard Schröder hat vor einem Monat in Weimar ge-
fragt, wann man von einem Gelingen der Einheit spre-
chen könne. Er nannte zwei Bedingungen: zum einen,
daß wir mit den Ost-West-Unterschieden ebenso gelas-
sen umgehen wie mit den Nord-Süd-Unterschieden. Da-
hinter steckte sicherlich die Erkenntnis, daß in der weite-
ren Entwicklung dieser Republik die Unterschiede zwi-
schen Nord und Süd etwas stärker zu beachten sein wer-
den als bisher sozusagen das eher traditionelle, vor dem
Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung noch im

Vordergrund stehende Gefälle zwischen Ost und West.
Zum anderen wies er darauf hin, daß wir uns so anein-
ander gewöhnen müssen, daß wir in Umrissen eine ge-
meinsame Geschichte erzählen könnten, und zwar auch
eine gemeinsame Geschichte von den zurückliegenden
50 Jahren. Auch 40 Jahre DDR – nicht nur 40 Jahre
Bundesrepublik Deutschland – sind ein Stück gemein-
same Geschichte. Über die Differenzierung 40 Jahre und
10 Jahre müssen wir intensiv nachdenken. Jedenfalls
kommt es darauf an, daß diese Zeit als die Geschichte
des deutschen Volkes insgesamt – in den gegenseitigen
Abhängigkeiten – begriffen wird. Ich glaube, die Men-
schen erwarten von uns, an dieser Generationenaufgabe
zu arbeiten. Der Umzug nach Berlin kann dabei helfen.
Denn unsere Stadt weitet den Blick auf das Schicksal
der Menschen östlich der Elbe in besonderer Weise.

Durch die Wiedervereinigung und den Umzug sind
die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland im we-
sentlichen nicht geändert worden. Dennoch ist der Um-
zug mehr als ein bloßer Ortswechsel. Der Zusammen-
bruch des Kommunismus und die fortschreitende Glo-
balisierung erfordern Weiterungen, die mit dem Namen
Berlin verbunden sein werden. Das wiedervereinigte
Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin steht für Ver-
antwortung und Verläßlichkeit, für strukturelle Reform
und gesellschaftliche Modernisierung sowie für eine er-
weiterte Bündnisfähigkeit, und zwar nicht nur in der
bewährten Form nach Westen, sondern auch nach Osten.

Berlin war über Jahrzehnte ein Symbol für die geteilte
Nation. Heute ist es ein Sinnbild für die Überwindung der
Teilung. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme kön-
nen wir Berliner und, so meine ich, wir Deutsche ins-
gesamt stolz darauf sein, daß die Wiedervereinigung der
Stadt wie auch die Wiedervereinigung insgesamt bisher
auch im sozialen Frieden gelungen ist. In Berlin wird
es am ehesten gelingen, die 40 Jahre lang geteilte deut-
sche Nachkriegsgeschichte zusammenzudenken und den
Grundstein für die Zukunft zu legen, in der Ost und West
nur noch geographische Richtungen sind.

Als Hauptstadt bildet Berlin eine Klammer für unser
Land. Denn, meine Damen und Herren, nur eine Nation,
die keine sein will, braucht keine Hauptstadt. Ich habe
die Sorge vernommen – es gab ja Auseinandersetzungen
mit dem Thema –, Berlin stehe für Zentralismus. Ich
glaube, diese Sorge ist unbegründet. Der Föderalismus
ist in Deutschland tief verwurzelt. Jedoch muß die Auf-
gabe des Gesamtstaates, muß die Rolle der Nation im
zusammenwachsenden Europa jetzt, weil der Bundestag
eben in Berlin tagt, von Berlin aus neu definiert werden.
Wir müssen Sorge dafür tragen, daß unser in vielem be-
währte bundesstaatliche System nicht durch Globalisie-
rung und Partikularisierung einer Erosion zum Opfer
fällt und daß sich keine Gräben beispielsweise zwischen
armen und reichen Ländern auftun. Der kooperative
Föderalismus hat sich in den 50 Jahren bewährt. Aber
auch künftig werden wir daran erinnern – möglicherwei-
se erinnern müssen –, daß die Bundesrepublik ein Bun-
desstaat mit gesamtstaatlichen Verantwortungen und ge-
samtstaatlicher Identität ist – und kein Staatenbund.


(Beifall der Abgeordneten Anke Fuchs [Köln] [SPD])


Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin)







(A) (C)



(B) (D)


Das größer gewordene Deutschland erhält mit Berlin
eine Hauptstadt, die mehr als nur ein Verwaltungssitz
ist. Berlin ist eine Bühne, eine Arena, ein Labor. Meine
Damen und Herren, ein Blick aus dem Fenster genügt,
um zu sehen, daß Sie nicht in eine fertige Stadt gekom-
men sind. Aber eine Baustelle, eine Werkstatt ist auch
ein inspirierender Ort für ein Parlament, das immer im
Leben steht. Dieser Genius loci, der an die historische
Verantwortung genauso erinnert wie an die Aufgaben
des Tages, ist das, was wir vermitteln wollen.

Willy Brandt hat konsequent angemahnt, das Ver-
sprechen einzuhalten, nach dem Berlin im Falle der
Wiedervereinigung Hauptstadt werden würde – auch
weil das „mehr als eine symbolische Form von Solida-
rität mit dem Osten unserer größer gewordenen Bundes-
republik“ bedeutet. Wolfgang Schäuble hat in der
Hauptstadtdebatte im Jahr 1991 in seiner richtungswei-
senden Rede für Berlin gekämpft und sich danach für
einen schnellen Umzug an die Spree eingesetzt.

Er sagte – das will ich hier vor allen Dingen heraus-
stellen –, es gehe nicht um den „Wettstreit zweier Städ-
te, nicht um Struktur- und Regionalpolitik, sondern um
die Zukunft unseres Landes“. Ich kann Ihnen nur sagen:
Die Geschichte hat beiden Rednern recht gegeben. Ich
sage heute allen Bewohnerinnen und Bewohnern von
Bonn Dank für das, was geleistet wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P)


Aber hier ging es eben nicht um eine regionale Ent-
scheidung.

Als Hauptstadt – ich wiederhole das – bildet Berlin
eine Klammer für unser Land. Eine Nation, die keine
sein will, braucht keine Hauptstadt. Aber wir wollen
eine Hauptstadt haben und wollen auch eine Nation sein.
Berlin wird demokratisches Selbstverständnis, demo-

kratische europäische Zukunft, aber auch ein Stück weit
Stolz und Würde für das ganze Deutschland darstellen.

Für uns in Berlin geht ein langgehegter Wunsch in
Erfüllung. Ich muß daran erinnern: Über Jahrzehnte be-
kundete das Abgeordnetenhaus von Berlin zu Beginn
seiner Sitzungen seinen – ich zitiere – „unbeugsamen
Willen“, daß die Mauer fallen und Deutschland mit sei-
ner Hauptstadt Berlin wiedervereinigt werden muß.
Heute sind Einigkeit und Recht und Freiheit im ganzen
deutschen Vaterland verwirklicht. Das Herz der deut-
schen Demokratie wird hier im Reichstag schlagen. Da-
für sind wir dankbar.

Sie haben Verständnis dafür, wenn ich sage: Wir
Berliner sind stolz darauf, an dieser Entwicklung ein
bißchen mitgewirkt zu haben. Ich jedenfalls heiße Sie
alle herzlich willkommen in dieser Stadt, in der Bundes-
hauptstadt Berlin. Von diesem Gebäude mögen gute Be-
schlüsse zum Wohle der Menschen in unserem Land
ausgehen, Beschlüsse – wie der Bundestagspräsident
sagte – mit Weisheit und Beschlüsse, die von Glück ge-
tragen werden.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1403301700
Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, wir sind am Ende der ersten Sitzung im
neugestalteten Reichstag. Ich denke, wir können nach
diesen Stunden sagen, daß wir uns hier im Reichstag
auch künftig wohl fühlen und parlamentarisch zu Hause
sein werden.

Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages fin-
det in Bonn statt. Ich berufe sie auf Mittwoch, den
21. April 1999, 13 Uhr ein.

Die heutige Sitzung ist geschlossen.