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    Plenarprotokoll 14/33 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 1: Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ............................................ 2663 A Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Vollendung der Einheit Deutschlands Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 2668 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 2674 B Dr. Peter Struck SPD ....................................... 2678 B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 2681 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2683 C Dr. Gregor Gysi PDS ....................................... 2686 C Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident (Bran- denburg) ........................................................... 2688 A Michael Glos CDU/CSU.................................. 2689 D Sabine Kaspereit SPD ...................................... 2691 C Eberhard Diepgen, Reg. Bürgermeister (Berlin) 2693 B Nächste Sitzung................................................ 2695 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 2696 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2663 (A) (C) (B) (D) 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 Beginn: 12.00 Uhr
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    Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) 2696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2696 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Bachmaier, Hermann SPD 19.4.99 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Beer, Angelika BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 19.4.99 Bohl, Friedrich CDU/CSU 19.4.99 Bühler (Bruchsaal), Klaus CDU/CSU 19.4.99* Diller, Karl SPD 19.4.99 Dr. Eid, Ursula BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Dr. Fuchs, Ruth PDS 19.4.99 Großmann, Achim SPD 19.4.99 Hagemann, Klaus SPD 19.4.99 Hampel, Manfred SPD 19.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 19.4.99 Hempelmann, Rolf SPD 19.4.99** Ibrügger, Lothar SPD 19.4.99 Dr. Jens, Uwe SPD 19.4.99 Kolbow, Walter SPD 19.4.99 Koschyk, Hartmut CSU/CSU 19.4.99 Kröning, Volker SPD 19.4.99 Lehn, Waltraud SPD 19.4.99 Dr. Lucyga, Christine SPD 19.4.99* Maaß (Wilhelmshaven), Erich CDU/CSU 19.4.99 Mark, Lothar SPD 19.4.99 Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Moosbauer, Christoph SPD 19.4.99 Mosdorf, Siegmar SPD 19.4.99 Müller (Berlin), Walter PDS 19.4.99 Neumann (Gotha), Gerhard SPD 19.4.99** Dr. Niese, Rolf SPD 19.4.99 Raidel, Hans CDU/CSU 19.4.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 19.4.99 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 19.4.99 Scharping, Rudolf SPD 19.4.99 Scheu, Gerhard CDU/CSU 19.4.99 Schöler, Walter SPD 19.4.99 Schösser, Fritz SPD 19.4.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 19.4.99 Schurer, Ewald SPD 19.4.99 Seidenthal, Bodo SPD 19.4.99 Steen, Antje-Marie SPD 19.4.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 19.4.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19.4.99 Titze-Stecher, Uta SPD 19.4.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Urbaniak, Hans-Eberhard SPD 19.4.99 Vaatz, Arnold CDU/CSU 19.4.99 Wagner, Hans Georg SPD 19.4.99 Dr. Wegner, Konstanze SPD 19.4.99 Weißgerber, Gunter SPD 19.4.99 Willner, Gert CDU/CSU 19.4.99 –––––––– * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Gerhard Schröder


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident!
    Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Heute“, so
    schreibt eine große deutsche Zeitung, „beginnt eine neue
    Zeit“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber so-
    viel ist klar: Mit der heutigen Plenarsitzung endet ein
    weiteres Provisorium in der Geschichte unserer Repu-
    blik. Das alte Reichstagsgebäude – der Präsident hat es
    überzeugend deutlich gemacht – ist bezugsfertig für den
    neuen Deutschen Bundestag.

    Über Geschmack – auch das ist klar geworden – darf
    nicht gestritten werden, und dies ist nicht der Deutsche

    Präsident Wolfgang Thierse






    (A) (C)



    (B) (D)


    Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. Ich
    möchte mich auch persönlich bei Sir Norman Foster be-
    danken und ihm ein großes Lob aussprechen für den
    Mut, aber auch für die Behutsamkeit, mit der er traditio-
    nelle und moderne Elemente zusammengefügt hat.


    (Beifall im ganzen Hause)

    Ich wünsche mir im übrigen, daß die gläserne Kuppel

    über uns, die der Architekt für dieses Haus entworfen
    hat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz un-
    serer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebt
    Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt.

    Unsere Demokratie und unser Parlament – wir sind
    dessen sicher – sind stark und stabil. Der Umzug nach
    Berlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nach-
    kriegsgeschichte; denn wir gehen ja nicht von Bonn
    nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären.

    Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik der
    Verständigung und der guten Nachbarschaft, die feste
    Verankerung Deutschlands in Europa und im Atlan-
    tischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines
    Lebens in Freiheit, all das hat entscheidend dazu beige-
    tragen, daß die „Berliner Republik“ im geeinten
    Deutschland möglich wurde. Wie immer man diesem
    Begriff gegenübersteht, was immer man damit anfangen
    will: Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlin
    die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben. Und
    noch eines wird bleiben: Die Probleme und Aufgaben
    nehmen wir mit, wenn wir von Bonn nach Berlin um-
    ziehen.

    Als Bundestag des demokratischen Deutschland tra-
    gen wir nun in einem Haus mit guter demokratischer
    Tradition Verantwortung. Der aus geheimer, gleicher
    und freier Wahl hervorgegangene Reichstag – dessen
    Gebäude übrigens mindestens im Volksmund noch
    lange Reichstag heißen wird –


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Zu Recht!)


    wurde – der Herr Präsident hat darauf hingewiesen –
    dem Kaiser und Bismarck abgetrotzt.

    Auch wenn manche an der Silbe „Reichs“ Anstoß
    nehmen: Zu seiner konstituierenden Sitzung nach Hitlers
    Machtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht in die-
    sem Gebäude zusammen, sondern in der Potsdamer
    Garnisonskirche. Das Ermächtigungsgesetz – der Herr
    Präsident hat darauf hingewiesen –, das den Reichstag
    faktisch ausschaltete, wurde nicht hier, sondern gegen-
    über, in der Kroll-Oper beschlossen.

    Sicher, der Umzug nach Berlin ist auch eine Rück-
    kehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deut-
    scher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen in
    Deutschland und in Europa gebracht haben. Aber
    „Reichstag“ einfach mit „Reich“ gleichzusetzen wäre
    genauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria oder
    deutschem Zentralismus zu verwechseln.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


    Das föderative Modell deutscher Politik – das gilt es ge-
    rade hier festzustellen – ist bewährt und nicht im gering-
    sten gefährdet.

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir scheint,
    daß dies der richtige Ort und die richtige Zeit ist, eine
    Zwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Es ist
    der richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch für
    den Westen der Republik steht, Berlin das vereinte
    Deutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschen
    macht es viel aus, daß Regierung und Parlament nicht
    mehr fern am Rhein, sondern relativ nahe bei ihnen, näm-
    lich hier an der Spree, sind. Es ist die richtige Zeit, weil
    das vereinte Deutschland auch politisch den Generati-
    onswechsel vollzogen hat. Ich meine damit keineswegs
    nur einen Regierungswechsel. Es gibt kein Land, in dem
    die Ablösung der politischen Generation, die den zweiten
    Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine be-
    deutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Das
    gilt für uns in Deutschland allemal.

    Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz ist es aber
    auch deshalb, weil uns nicht zuletzt die Ereignisse der
    letzten Wochen und Monate dramatisch vor Augen ge-
    führt haben, daß sich Deutschlands Rolle in der Welt
    verändert hat, daß wir heute anders und intensiver in der
    Verantwortung für das Schicksal auch anderer Völker
    stehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittel-
    bar danach der Fall gewesen ist. Dies wiederum sage ich
    ganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wort
    von der „internationalen Solidarität“ so unterschiedlich
    erlebt und erfahren wurde.

    Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheit
    fällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ost-
    deutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung voll-
    bracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungen
    ist, das Ost-West-Gefälle vollständig zu überwinden.
    Gleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, was
    wir miteinander schon erreicht haben, über Leistungsbe-
    reitschaft und Solidarität der Menschen im Osten wie im
    Westen unseres Landes.

    Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeut-
    schen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht Folge mangeln-
    den Leistungswillens der Bevölkerung in den neuen
    Ländern. Und andererseits: Mit finanziellen Hilfen allein
    wären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durch
    das Engagement der Bürgerinnen und Bürger beim Auf-
    bau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft,
    bei den Unternehmensgründungen und den Innovatio-
    nen, bei Hilfe, aber auch bei Selbsthilfe gekommen sind.
    Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damals
    vor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben: „Wir
    sind d a s Volk“ oder:„W i r sind das Volk“ und: „Wir
    sind e i n Volk“.

    Ich will deshalb auch keine detaillierte Auflistung
    dessen vornehmen, was getan worden ist und was noch
    getan werden muß. Unter den laufenden und von dieser
    Bundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegten
    Projekten für den Aufbau Ost möchte ich nur einige we-
    nige hervorheben:

    Da ist erstens das Programm „100 000 Jobs für junge
    Leute“ mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern.

    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland bis
    jetzt 75 000 Vermittlungen in Arbeit und in Ausbildung
    gegeben, davon 33 000 allein in den neuen Bundeslän-
    dern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Zusätzlich sind 17 500 Jugendliche in einem weiteren
    Sonderprogramm in den neuen Ländern untergekom-
    men. Man sieht daran zweierlei: einmal, daß es uns mit
    der Aussage ernst ist, daß wir die Jugendlichen einstei-
    gen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie aus
    der Gesellschaft aussteigen,


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    und zum anderen, daß die Jugendlichen von sich aus er-
    kannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Ein-
    stieg haben, sondern auch eine Pflicht, entsprechende
    Angebote anzunehmen. Ich bin froh darüber, daß sie das
    insbesondere in den neuen Bundesländern in diesem
    Umfang tun.

    Zweitens. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt-
    politik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. Unter
    dieser Bundesregierung – das haben wir versprochen,
    und das werden wir halten – wird es kein Auf und Ab
    vor und nach Wahlen geben,


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nur Ab, kein Auf!)


    dies deshalb, weil wir lieber Arbeit bezahlen, als Ar-
    beitslosigkeit bezahlen zu müssen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Drittens. Die Bundesfinanzhilfen für die Städte-
    bauförderung werden bei 520 Millionen DM für alle
    neuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei ist
    die soziale Stadt. Es geht uns um die Förderung von
    Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wir
    wissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf das
    Leben gerade junger Menschen hat, und wir wissen, daß
    gerade in Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanz
    Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zu-
    wanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozia-
    ler Zündstoff sind oder werden.


    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!)

    Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wir
    uns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme auf
    solche Stadtviertel konzentrieren.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Viertens. Noch in diesem Jahr werden wir die För-
    derinitiative „Innoregio“ starten. Ziel ist es, innovative
    Entwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstüt-
    zen. Denn wir wissen: Ohne eine nachhaltige Förderung
    der Innovation, die zu neuen, international wettbewerbs-

    fähigen Produkten und zu neuen Verfahren auf neuen
    Märkten führt, werden wir die Arbeitslosigkeit gerade in
    den neuen Ländern nicht so erfolgreich bekämpfen kön-
    nen, wie das unsere Aufgabe ist.

    Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können,
    wenn sie nicht gerecht ist, gerade denjenigen gegenüber,
    die aus dem Arbeitsprozeß der sogenannten alten Indu-
    strien herausgefallen sind. Aber unser Land hätte keine
    Zukunft, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mittel
    für die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft ein-
    setzten. In dieser Hinsicht – sagen wir es ganz deutlich –
    hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Ver-
    einigung durchaus schon einiges vorgemacht.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS)


    Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Um-
    weltschutz. 1990 – um ein Beispiel zu nennen – stand
    die alte DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweit
    an der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden die
    Grenzwerte nirgendwo mehr überschritten. In Leipzig
    beispielsweise ist die Belastung um 83 Prozent zurück-
    gegangen. Durch ökologische Modernisierung konnten
    bereits jetzt europaweit mustergültige Regionen im
    Osten Deutschlands geschaffen werden.

    Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikati-
    on. In Ostdeutschland wurde das modernste Netz der
    Welt geschaffen. Das gilt aber auch für manche soge-
    nannte alte industrielle Anlage. Opel in Eisenach, die
    Kraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikro-
    chipherstellung in Dresden zum Beispiel erreichen heute
    Produktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Laut einem jüngst veröffentlichten „Spiegel“-Test
    sind ostdeutsche Hochschulen weit überproportional auf
    den Spitzenplätzen des Landes vertreten. Das betrifft das
    Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden, aber auch
    die Ausstattung und inhaltliche Qualität der universitä-
    ren Ausbildung.

    Diese Entwicklungen zeigen die Chance des Aufbaus
    im Osten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten von Lud-
    wig Erhard. Aber vielleicht gelingt uns ja doch so etwas
    wie ein kleines Wirtschaftswunder, gerade im Osten un-
    seres Landes.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Ein Wissenswunder jedenfalls, ein Technikwunder,
    das müssen wir gemeinsam anstreben. Damit schaffen
    wir die Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftli-
    chen Aufschwung und – das ist von eminenter Bedeu-
    tung – vor allem für mehr Beschäftigung.

    Bei allem dürfen wir nicht vergessen: Berlin ist der
    Ort, an dem sich, wie Willy Brandt einmal gesagt hat,
    „die Teilung der Welt versteinert hat“. Hier treffen so
    kraß wie produktiv die Unterschiede aufeinander, die
    40 Jahre Trennung hinterlassen haben. Diese Stadt bleibt
    – um es mit den Worten von Friedrich Schorlemmer zu
    sagen – „eine besondere Werkstatt der Einheit“.

    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (A) (C)



    (B) (D)


    Westdeutsche verbinden in ihrer Erinnerung mit Ber-
    lin, meist Westberlin; je nach Alter ein Fußballpokal-
    endspiel, ein Rockkonzert oder einen Theaterbesuch.
    Für die Ostdeutschen war Berlin Hauptstadt der DDR,
    ein Ort besonderer Bevorzugung und Machtarroganz
    gegenüber dem, was man „die Republik“ nannte. Berlin
    und Mauer bilden noch lange, nachdem das schändliche
    Bauwerk selbst verschwunden ist, in aller Welt einen
    semantischen Zusammenhang.

    Gewiß: Die schmerzende Wunde des kalten Krieges
    ist vernarbt; aber sie bleibt doch fühlbar. Gleichzeitig
    bündeln sich in dieser Metropole die Probleme der mo-
    dernen Industriegesellschaften: Jeder achte Berliner ist
    Ausländer, jeder sechste ist ohne Arbeit. Das zwingt zur
    Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirk-
    lichkeit. Darin liegt aber auch die Chance des Umzugs
    von Bonn nach Berlin.

    Ob die Politik besser wird, wenn sie krasser mit der
    gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird? Ob die
    Politik klüger wird, wenn sie zwangsläufig in engeren
    und häufigeren Kontakt mit Künstlern und Intellektuel-
    len kommt? Ich hoffe das. Aber es gibt Zyniker, die sa-
    gen: Eher wird die Kunst schlechter, als daß das andere
    eintritt. Ich denke, wir sollten uns auf diese Zyniker
    nicht berufen. Ich sehe mehr Chancen. Wir wären tö-
    richt, wenn wir diese enormen Chancen nicht nutzten.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner [PDS])


    Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitaus
    schwieriger als mit dem wirtschaftlichen Aufbau verhält
    es sich mit dem, was man innere Einheit nennt, mit der
    Überwindung der Mauer in den Köpfen und gelegentlich
    in den Herzen. Ich glaube, die Verständigung über das,
    was war, ist Voraussetzung für die Analyse dessen, was
    ist und was sein soll. Die Mauer – dies gilt es zu erken-
    nen und zu bewahren – wurde von Ost nach West einge-
    drückt, und nicht etwa vom Westen geschleift.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß noch bis
    kurz vor dem 9. November 1989 niemand im Westen
    eine wirklich realistische Einschätzung vom nahenden
    Zusammenbruch der DDR und des Kommunismus hatte.


    (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    – Na ja, Sie vielleicht. Das will ich gerne einräumen. –
    Eine behütet aufgewachsene Generation im Westen hat
    sich allzuoft herausgenommen, Biographien von Men-
    schen aus dem Osten herabzuwürdigen, ohne sich auch
    nur einmal die Frage zu stellen: Wie hätte ich, wie hät-
    ten wir uns denn unter ähnlichen Bedingungen verhal-
    ten?


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Die Anpassungsleistung, die notwendig war, mußte
    fast ausschließlich von den Menschen in den neuen
    Ländern erbracht werden. Das war oft schwierig und

    mitunter sicher unerhört schmerzhaft. Deshalb verdient
    diese Leistung unser aller Respekt.


    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Ich möchte in diesem Zusammenhang einen denk-
    würdigen Satz zitieren, den ich aus aktuellem Anlaß ge-
    hört habe. Da sagt der Kabarettist und Schriftsteller Pe-
    ter Ensikat, als auch er in seiner engsten Umgebung mit
    einem Fall verschwiegener Stasi-Vergangenheit kon-
    frontiert wurde: „Auch in der DDR wurde ich nicht ge-
    lebt. Ich habe gelebt.“ Das heißt dann ja wohl: Der nöti-
    ge Respekt vor den Biographien der Menschen bedingt
    auch Selbstrespekt, ein Bekenntnis jedes einzelnen zu
    seiner eigenen Verantwortlichkeit.

    Ich wünschte mir, wir alle würden uns gelegentlich
    auf folgende Erkenntnis besinnen: Es gab gelingendes,
    glückendes und authentisches Leben mitten in einem
    falschen System, so wie es mißlingendes Leben auch in
    einem richtigen System geben kann.

    Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Ent-
    schädigung der Opfer von SED-Unrecht sagen. Die
    Bundesregierung will Verbesserungen in den Punkten
    erreichen, über die ich bereits vor geraumer Zeit mit den
    Opferverbänden gesprochen habe. Wir wollen eine Er-
    höhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politi-
    sche Häftlinge erreichen. Hierfür brauchen wir die Zu-
    stimmung der Länder. Ich hoffe, daß wir sie bekommen
    werden.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS und des Abg. Walter Hirche [F.D.P.])


    Wir wollen die Leistungen für die Hinterbliebenen
    der ehemaligen politischen Häftlinge verbessern. Hier
    denke ich insbesondere an die nächsten Angehörigen der
    Hingerichteten oder der während der Haft Verstorbenen.
    Beseitigt werden müssen auch die Schwierigkeiten bei
    der Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden.
    Wir müssen mehr tun für die Menschen, die aus den Ge-
    bieten jenseits von Oder und Neiße verschleppt worden
    sind. Lassen Sie uns das zusammen erreichen!


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir
    uns keine Illusionen: Die Unterschiede in der Befindlich-
    keit, auch im Geschichtsbewußtsein, die gegenseitigen
    Ressentiments werden wohl noch eine ganze Weile beste-
    henbleiben. Ohne Frage gibt es Differenzen zwischen
    Ost- und Westdeutschland, genauso wie es auch Kli-
    schees über Ost und West gibt. Diese Unterschiede sind
    eben nicht nur die Folge von 40 Jahren Teilung, sondern
    auch von zehn Jahren Erfahrungen mit der Einheit.

    Was wir voneinander wissen, ist oft zu oberflächlich,
    zu vorurteilsbeladen und ähnliches mehr. Ost- und
    Westdeutsche werden sich noch länger einander zu er-
    klären haben, ohne sich gleich rechtfertigen zu müssen.

    Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen
    anderen Aspekt eingehen. Seit vielen Jahren diskutieren

    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    wir in unserer Gesellschaft, auch hier mitten im Parla-
    ment, über die Anforderungen der Globalisierung, über
    die Notwendigkeit, flexibler auf die Veränderungen der
    ökonomischen Basis in der Arbeitswelt zu reagieren.

    Dabei fällt auf: Diese Diskussion wird fast aus-
    schließlich im Westen Deutschlands geführt. Die große
    Mehrheit in den neuen Ländern hat sich diese Frage
    nämlich gar nicht stellen dürfen. Die Menschen mußten
    es bei der Umgewöhnung in marktwirtschaftliche Ver-
    hältnisse wie selbstverständlich hinnehmen, daß von ih-
    nen Flexibilität und Mobilität erwartet wurde. Gleiches
    an Erwartungen haben die Menschen auch im Westen zu
    erfüllen.

    Heute, so sagen die Zahlen, ist jeder dritte Jugendli-
    che aus den ostdeutschen Ländern gleichsam „auf Wan-
    derschaft“, sucht seine Arbeits- und Bildungsmöglich-
    keit im Westen und an besonders chancenreichen Orten
    im Osten Deutschlands.

    Ich will hier nicht über die möglicherweise heilsamen
    Schockwirkungen – so wird das gelegentlich genannt –
    der deutschen Vereinigung philosophieren. Ich will auch
    nicht behaupten, daß irgend jemand geplant hat, was im
    Osten an tatsächlicher Entwurzelung, an Herausschleu-
    dern aus eingeübten Lebensläufen geschehen ist. Ich sa-
    ge nur, daß auch bei den Mentalitätsunterschieden die
    Situation keineswegs so eindeutig ist, daß die Menschen
    aus den ostdeutschen Ländern in wenigen Jahren ein
    solches Maß an Umstellung vollzogen haben, daß ihnen
    vieles am Besitzstanddenken der „Wessis“, am Behar-
    rungsvermögen auch wider besseres Wissen schlicht un-
    verständlich ist.

    Aber auch das, meine sehr verehrten Damen und Her-
    ren, eröffnet enorme Möglichkeiten. Ich wage zu be-
    haupten: Wenn wir diese Bereitschaft zum Umdenken,
    Umlernen und Umorientieren mit einer klugen und fle-
    xiblen Sozialpolitik absichern, wird unsere Arbeitswelt
    die nötigen Modernisierungsschübe gerade aus dem
    Osten erfahren. Das ist auch gut so, weil wir dann ler-
    nen, daß wir etwas von den Menschen lernen können,
    die hier ihre Aufbauleistungen vollbracht haben.


    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)


    Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber es
    kann, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholt wer-
    den: Der deutsch-deutsche Lernprozeß, das Zusammen-
    wachsen dessen, was zusammengehört, ist ein beider-
    seitiger Prozeß. Er verläuft von Stuttgart nach Schwerin
    genauso wie von Rostock nach München. Dabei setze
    ich jedenfalls vor allen Dingen auf die jüngere Generati-
    on.

    Die junge Generation ist viel weniger belastet von 40
    Jahren Teilung. Diese Jugend genießt die Einheit in
    vollen Zügen, sofern sie erlebt, daß sie in dieser Einheit
    eine Zukunftschance hat. Genau um diese Zukunfts-
    chance unserer Jugend müssen wir kämpfen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Denn eine frustrierte Jugend – das haben wir oft genug
    bitter erfahren müssen – kann zu Extremismus, zu Haß
    und auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Das
    müssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)


    Gerade weil wir uns für die Durchsetzung der Men-
    schenrechte überall auf unserem Kontinent einsetzen,
    dürfen wir im eigenen Land nicht nachlassen, für eine
    offene, tolerante und friedliche Gesellschaft zu arbeiten.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Her-
    ren, die Einübung demokratischen Bewußtseins und die
    Praxis gegenseitigen Verstehens – das sind auch Aufga-
    ben der Kultur. Kultur kann und darf nicht vom Staat
    verordnet werden. Aber für die Bedingungen, unter de-
    nen sich Kultur entfalten kann, ist das Gemeinwesen, ist
    der Staat sehr wohl verantwortlich.

    In den nächsten zwei Jahren werden wir deshalb zu-
    sätzlich 120 Millionen DM für ein kulturelles Investiti-
    onsprogramm in den fünf neuen Ländern bereitstellen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Auch die Hauptstadt-Kulturförderung wird in diesem
    Jahr um 60 auf 120 Millionen DM verdoppelt. Wie ge-
    sagt: Niemand sollte die kulturellen Unterschiede, die
    regionalen Eigenheiten einebnen wollen. Die Vorstel-
    lung etwa von einem vereinheitlichten Geschichtsbild
    aller Deutschen widerspricht unserem Ziel einer offenen,
    einer demokratischen Gesellschaft.

    Nein, mir geht es nicht um eine „gesamtdeutsche Iden-
    tität“, sondern es geht um die Herausbildung einer ge-
    meinsamen Identität der Deutschen, der in Deutschland
    Lebenden. Dieser Prozeß wird – ich bin dessen sicher –
    noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, und er wird
    auch von Rückschlägen gekennzeichnet sein. Wenn wir
    aber bedenken, wie lange es, um ein Beispiel zu nehmen,
    nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gedauert hat, wie-
    der zu einem halbwegs dialogfähigen gemeinsamen Be-
    wußtsein zu kommen, dann kann man sich ein Bild von
    den Zeiträumen machen und dann stehen wir, glaube ich,
    mit dem, was von den Menschen in Deutschland im Ma-
    teriellen wie im Immateriellen geleistet worden ist, nicht
    so schlecht da. Wir sollten uns also darauf einstellen, daß
    es noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, bis wir
    auch geistig eine „Nation von Staatsbürgern“ sind, wie
    Jürgen Habermas sie uns wünscht.

    Meine Damen und Herren, ohne die feste Einbindung
    in den europäischen Einigungsprozeß und in das Atlanti-
    sche Bündnis wäre die deutsche Einheit nicht möglich
    geworden. Ebensowenig wäre sie gelungen ohne den
    Beitrag der Völker in unseren osteuropäischen Nachbar-
    staaten – der Ungarn, der Tschechen, der Polen. Beides
    werden, beides dürfen wir nicht vergessen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (A) (C)



    (B) (D)


    Der Umzug nach Berlin, die geographische Verlage-
    rung von Parlament und Regierung bringt uns näher her-
    an an unsere polnischen Nachbarn, macht deutlich, wie
    wichtig Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West,
    als Scharnier der europäischen Einigung werden kann
    und – ich bin sicher – werden wird. Wir kommen eben
    nicht nach Berlin als Rückkehr in eine – wie man es
    nannte – „Mittellage“, die zu deutschen „Sonderwegen“
    verführen könnte. Nein, wir gehen vorwärts in die Mitte
    Europas. Berlin steht deshalb für die Vertiefung und für
    die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses.

    Das, meine Damen und Herren, macht die wirkliche
    Bedeutung der Agenda 2000 aus, die wir, unter deut-
    scher Ratspräsidentschaft, vor wenigen Wochen hier in
    Berlin beschlossen haben. Bei aller berechtigten Kritik
    an Einzelheiten: Es sollte wenigstens versucht werden,
    diesen gesamteuropäischen Aspekt zu begreifen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Aber der Berliner Kompromiß ist darüber hinaus
    auch aus deutscher Sicht ein Erfolg, und das insbesonde-
    re für Ostdeutschland. Die neuen Bundesländer bleiben
    in ihrer Gesamtheit in der höchsten europäischen För-
    derkategorie. Über den gesamten Zeitraum der Agenda
    werden sie insgesamt 20 Milliarden Euro erhalten. Ost-
    berlin wird noch einmal eine Übergangsunterstützung in
    Höhe von 729 Millionen Euro erhalten. Darin enthalten
    ist eine Sonderzahlung von 100 Millionen Euro, die
    wir auf dem Berliner Gipfel aushandeln konnten – für
    die schwierige Situation hier in Berlin. Durch den Berli-
    ner Kompromiß werden wir zusätzliche Rückflüsse in
    Höhe von etwa 700 Millionen DM in Anspruch nehmen
    können. Diese sollten wir für besondere Aufgaben nut-
    zen.

    Die Bundesregierung hat ja, entsprechend der An-
    kündigung in der Regierungserklärung vom 10. Novem-
    ber 1998, bereits dreimal mit ostdeutschen Landesregie-
    rungen vor Ort getagt, um sich die besonderen Probleme
    der jeweiligen Regionen vor Augen zu führen. Dabei
    wurde – ob in Dresden, ob in Schwerin oder in Erfurt –
    eines ganz deutlich: Auf den Nägeln brennen den betrof-
    fenen Ländern vor allem Verkehrs- und Infrastruktur-
    projekte. Die Bundesregierung wird deshalb den Lan-
    desregierungen der ostdeutschen Bundesländer vor-
    schlagen, die zusätzlichen Rückflüsse für zusätzliche In-
    vestitionen in die dringendsten Verkehrsprojekte der
    neuen Bundesländer zu verwenden.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den ver-

    gangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was
    als „neue deutsche Verantwortung“ im Grunde seit Ende
    des kalten Krieges und seit der staatlichen Einigung
    Deutschlands absehbar war. Es ist Zeit, das immer wie-
    der auszusprechen. In diesem Zusammenhang möchte
    ich Ismail Kadaré, den bekanntesten und vielfach preis-
    gekrönten Schriftsteller Albaniens, zitieren:

    Der Balkan ist der Hof des europäischen Hauses,
    und in keinem Haus kann Frieden herrschen, solan-
    ge man sich in seinem Hof totschlägt.

    Weiter schreibt er:
    Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das at-
    lantische Europa eine neue Seite in der Weltge-
    schichte aufgeschlagen... Es geht nicht um materi-
    elle Interessen, sondern ums Prinzip: die Verteidi-
    gung der Rechte und der Existenz des ärmsten Vol-
    kes auf dem Kontinent. So wird Europa zum Euro-
    pa der Menschen... Dies ist ein Gründungsakt, und
    wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel,
    sondern im Schmerz.

    Selten – ich gebe es zu – habe ich die Worte eines
    Schriftstellers zu einem solchen Problem so treffend ge-
    funden. Das sage ich auch ganz persönlich.

    Es geht um folgendes: Die Epoche nach dem kalten
    Kriege verlangt von uns, daß wir Europa politisch neu
    definieren. Für Europa hat es nie eine allgemeingültige
    geographische Definition gegeben. In der Geschichte hat
    sich Europa immer politisch und dabei gewissermaßen
    immer aufs neue definiert.

    Was sind die Anforderungen an diese neue Definiti-
    on? Mehr als alles andere braucht Europa heute Rechts-
    sicherheit und Rechtsfrieden. Beides ist nur dort her-
    stellbar, wo sich Europa auch politisch für Europa, und
    zwar für ganz Europa, zuständig fühlt und die entspre-
    chende Verantwortung auch tatsächlich wahrnimmt. Das
    macht die Bedeutung unseres Engagements auf dem
    Balkan aus; und insofern stimme ich Ismail Kadaré zu,
    wenn er von einem „Gründungsakt“ spricht, den wir
    hinter uns haben.

    Es geht um den Gründungsakt für ein Europa der
    Menschen und der Rechte der Menschen – der Men-
    schenrechte. Die Notwendigkeit eines solchen „Grün-
    dungsaktes“ gilt insbesondere für unser Land, für
    Deutschland nach der Vereinigung. Wir, die wir die
    Trennung Europas so schmerzlich erlitten haben, können
    nun beweisen, daß wir die Chancen der Einigung be-
    herzt ergreifen und daß wir das nicht nur für uns tun. Ich
    meine nicht nur die Chancen der institutionellen Eini-
    gung, sondern auch und vor allem die der Herstellung
    einer gesamteuropäischen Wertegemeinschaft. Das
    heißt: Wir bekennen uns heute zu einem Europa der
    Menschenrechte, das niemanden auf unserem Kontinent
    ausschließt; und dafür kämpfen wir.

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfah-
    rungen – zumal die der friedlichen Revolution in der
    damaligen DDR – zeigen uns: Menschenrechte und De-
    mokratie sind in Europa heute machbar bzw. müssen
    machbar werden. Denn das ist heute möglich. Freiheit,
    das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Demokratie,
    Menschenrechte und Solidarität – das alles sind heute
    keine Proklamationen mehr, die man über den europäi-
    schen Zaun hinwegrufen könnte. Wir sind nach dem En-
    de des kalten Krieges eben nicht in eine „Geometrie der
    Macht von 1648 bis 1945“ zurückgefallen, wie es uns
    manche amerikanischen Historiker vorgerechnet haben.
    Nein, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß es
    zur Westbindung Europas – und damit auch zur West-
    bindung Deutschlands – politisch und kulturell keine
    Alternative gibt.

    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Deshalb ist für uns Stabilitätspolitik in Europa heute
    – ganz aktuell – in erster Linie Menschenrechtspolitik.
    Wir wissen aber ebenso: Die friedliche Entwicklung, die
    uns in mehr als 50 Jahren Nachkriegszeit in Westeuropa
    beschert war, hatte Wohlstand, wirtschaftliche Zusam-
    menarbeit und kulturellen Austausch zur Voraussetzung.
    Das war kein Zufall. Auch für Ost- und Südosteuropa
    gilt: Friedliche Entwicklung braucht Wohlstand, und der
    Wohlstand braucht den Frieden. Diesen Lehrsatz zu be-
    herzigen und nach ihm zu handeln ist gerade uns Deut-
    schen historischer Auftrag.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Wir stehen nicht nur in einer historischen Verant-
    wortung: als Land zweier Diktaturen in diesem Jahrhun-
    dert, als Land, das Völkermord und Aggression über un-
    seren Kontinent gebracht hat; nein, wir stehen auch in
    einer Verantwortung, die aus unserer Wirtschaftskraft
    erwächst. Gesamteuropa, unter Einschluß der Völker des
    Balkans, braucht eine gemeinsame, europäische Per-
    spektive, eine Perspektive des Friedens, aber, wenn man
    ihn dauerhaft sichern will, auch eine Perspektive der
    ökonomischen und sozialen Entwicklung. Wir haben
    daran mitzuarbeiten.

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleich hin-
    ter diesem Haus, auf der östlichen Seite des Reichstags-
    gebäudes, hat nach dem Mauerdurchbruch 1989 jemand
    in großen Lettern die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht
    an eine Wand geschrieben. Ich wünschte mir, diese
    Hymne würde zum Integrationssymbol für Ost und
    West, würde zum Selbstverständnis der „Berliner Repu-
    blik“ beitragen; denn es gibt kaum einen Text, der auf so
    einfache und durchdringende Weise die Verbundenheit
    mit dem eigenen Land ohne jede nationale Überheblich-
    keit beschreibt.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Deshalb möchte ich zum Schluß jenem anonymen

    Fassadenmaler danken – aber nur das eine Mal! –, der
    uns diese schönen Worte gewissermaßen ins Blickfeld
    geschrieben hat:

    Und weil wir dies Land verbessern
    Lieben und beschirmen wir's
    Und das liebste mag's uns scheinen
    So wie andern Völkern ihrs.

    Vielen Dank.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)




Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzen-
der der CDU/CSU.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Schäuble


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsi-
    dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich
    mit dem Umzug von Bonn nach Berlin beschäftigt hat,

    für den ist heute gewiß ein bewegender Tag. Deswegen
    gestatten Sie mir die persönliche Bemerkung: Die Tatsa-
    che, daß wir als deutsches Parlament heute in der deut-
    schen Hauptstadt unsere Arbeit aufnehmen können, hat
    viele Gründe. Viele haben daran mitgewirkt, aber einer
    vielleicht doch mehr als andere. Deswegen möchte ich
    zu Beginn meiner Rede Helmut Kohl herzlich danken.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Ohne sein Festhalten daran, daß die deutsche Frage
    offenblieb, solange das Brandenburger Tor zu war – die-
    se Worte stammen von jemand anderem; aber das war
    die Politik –, und ohne das entschlossene und zugleich
    maßvolle und beherrschte Nutzen der Chance, als die
    Geschichte sie bot, wären wir heute nicht hier.

    Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endet jetzt eine
    Phase, die den Übergang von der Teilung zur Einheit
    markiert, 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes,
    50 Jahre nach Entstehen der zwei Staaten in Deutsch-
    land, das vor zehn Jahren wiedervereinigt wurde. Ausge-
    rechnet in diesen Wochen ist Deutschland im Kosovo
    erstmals seit dem zweiten Weltkrieg an anhaltenden
    militärischen Kampfaktionen beteiligt. Das ist viel auf
    einmal und deshalb Grund genug, sich zu vergewissern,
    wo wir stehen, welches die Fundamente sind, wohin wir
    gehen und wie wir die Welt sehen, in der wir leben
    wollen.

    Von diesem Jahr 1999, seinen vielfältigen wider-
    sprüchlichen Gedenktagen – vom Goethe-Jahr bis zum
    60. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges –
    und der Art, wie wir damit umgehen, hängt viel ab, ver-
    ehrte Kolleginnen und Kollegen, wie unser vereintes
    Deutschland an der Schwelle des neuen Jahrhunderts die
    Wunden des alten überwindet und Grundlagen für das
    neue findet, um Zukunft zu gestalten.

    Wenn wir nach der Vollendung der Einheit Deutsch-
    lands fragen, dann müssen wir uns der Grundlagen unse-
    rer nationalen Gemeinschaft vergewissern. Mir scheint,
    daß, unbeschadet aller definitorischen Bemühungen, die
    ja ganze Bibliotheken füllen, jedenfalls gemeinsame
    Erinnerungen und der Wille zur gemeinsamen Zukunft
    dafür unverzichtbar sind – Erinnerung und Zukunft, also
    die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

    Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Ver-
    hältnis zur Geschichte immer wieder neu klären. Das ist
    Luther, das ist Goethe, das ist Bismarck, aber es ist eben
    auch und vor allem die Geschichte dieses Jahrhunderts:
    die Katastrophen zweier Weltkriege, die Tragödie einer
    gescheiterten Republik, das Grauen der Nazibarbarei,
    das den Namen Auschwitz trägt. Zu diesem Jahrhundert
    gehören die 40 Jahre der Teilung und die dann doch
    noch erfolgte Rückgewinnung der Einheit in Freiheit.
    Auch die Mahnmaldebatte, die wir jetzt im Parlament zu
    einem Abschluß bringen müssen, ragt sperrig, aber not-
    wendig in das Jahr der Gedenktage 1999 hinein.

    Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und das war
    sie auch in der Zeit der Teilung. Aber was so leicht ge-
    sagt ist, erfordert doch manches: Was wissen die West-
    deutschen schon von den 40 Jahren DDR? Wenn wir uns

    Bundeskanzler Gerhard Schröder






    (A) (C)



    (B) (D)


    zur Gemeinsamkeit der Geschichte auch in der Zeit der
    Teilung bekennen, dann heißt das zuerst, daß wir sie
    überhaupt kennen – kennen wollen, kennenlernen. Da
    haben die Westdeutschen vielleicht Nachholbedarf. Die
    Deutschen in der DDR wußten vom Leben im Westen
    mehr – nicht das, was im Zerrbild der SED-Propaganda
    ausgemalt wurde, sondern eher durch das Westfernse-
    hen, durch die Zunahme von Westreisen, vor allem in
    den 80er Jahren. Aber sie wußten letztlich vor allem
    deshalb etwas, weil sie Interesse daran hatten, wie es
    wohl im Westen sein mochte.

    Aber auch Hitler und Auschwitz sind gemeinsame
    Vergangenheit. Da haben die Ostdeutschen vielleicht
    Nachholbedarf, weil die Kommunisten unter der zuneh-
    mend wohlfeilen Formel des Antifaschismus die Ver-
    antwortung für diesen Teil unserer Geschichte bequem
    auf den Westen abschoben. Beethoven, Goethe, selbst
    Luther, Bismarck und Friedrich der Große – das war
    auch den DDR-Offiziellen deutsche Geschichte. Bloß
    Hitler, den ließ man den Westdeutschen allein.

    Vielleicht sind wir am Ende dieses Jahrhunderts eher
    bereit, dazuzulernen, wenn wir uns klarmachen, daß wir
    eben alle Nachholbedarf haben. Wenn wir uns um die
    ganze Geschichte bemühen, dann dürfen wir auch den
    deutschen Osten und sein Erbe – Flucht und Vertrei-
    bung, bis zu den Sudetendeutschen und den Rußland-
    deutschen – nicht vergessen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die durch diese gut 40 Jahre, bis 1989, zweigeteilte

    Geschichte erklärt für mich viel von den Verletzungen,
    die als Folge von Teilung und Diktatur auch zehn Jahre
    danach spürbar geblieben sind, ja, die zum Teil erst in
    den vergangenen zehn Jahren entstanden sind oder ver-
    stärkt wurden: „Besser-Wessis“ und „Jammer-Ossis“ –
    satirisch gemeint, aber in ihrer Begrifflichkeit und in
    dem, was sie beschreiben, Quellen neuer Verletzungen.

    Fremdheit und signifikante Einstellungsunterschiede,
    etwa zu grundlegenden Positionen der sozialen Markt-
    wirtschaft, wie Demoskopen belegen, aber auch zu
    Grundfragen der politischen Ausrichtung unserer Bun-
    desrepublik Deutschland, von der europäischen Eini-
    gung einschließlich der Osterweiterung bis zu den
    NATO-Aktionen im Kosovo; Verletzungen durch die ju-
    ristische und bürokratische Aufarbeitung der Teilung,
    von den Strafverfahren bis zu den Eigentumsfragen, von
    Entschädigungsregelungen bis zur Anerkennung von
    Bildungsabschlüssen – immer lauert dahinter das Bild,
    daß die Wende im Ergebnis Sieger und Besiegte hatte.

    Zugegeben, soweit es bis 1989 einen Wettlauf der
    Systeme gab, so weit hat in der Tat die Freiheitsordnung
    von Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft gesiegt.
    Aber deswegen sind die Ostdeutschen nicht die Besieg-
    ten. Sie wollten Freiheit und Demokratie, auch soziale
    Marktwirtschaft – und die dadurch gegebenen besseren
    Chancen für Wohlstand – und soziale Sicherheit. Sie
    wollten ja gerade das DDR-System loswerden. Also sind
    sie nicht Besiegte, sondern Sieger.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Vielleicht rührt das falsche Bild von den Siegern und
    Besiegten, das in manchem Herzen nagt und neue Di-
    stanz schafft, daher, daß viele, zu viele das Gefühl ha-
    ben, ihr Leben in diesen Jahrzehnten vor 1989 sei nichts
    mehr wert, sei vergeblich gewesen. Das wird übrigens
    ausgerechnet noch von denjenigen politisch ausgebeutet,
    die die Hauptverantwortung für das System vor 1989
    trugen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Darüber müssen wir uns Rechenschaft ablegen: Auch
    die Deutschen, die in der DDR lebten, haben ihre Le-
    bensleistung, auf die sie genausoviel oder genausowenig
    stolz sein wollen und können wie andere im Westen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Erfolge des Systems gab es, vom Sport einmal abge-
    sehen, in der DDR wenig. Das hat ja auch die verfas-
    sungspolitische Debatte über Bewahrenswertes aus
    DDR-Zeiten im Zuge der Herstellung der staatlichen
    Einheit 1990 so eigenartig unkonkret gemacht. Aber die
    Lebensleistung der Menschen, die zum Beispiel unter
    ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen –
    mit Reparationen an die Sowjetunion statt mit Marshall-
    plan-Hilfe, ohne Demokratie und mit einem Effizienz
    und Leistung eher unterdrückenden stupiden bürokrati-
    schen Zentralismus – ihre Heimat doch auch wieder
    aufgebaut haben, bleibt unberührt von der Erfolglosig-
    keit und dem Zynismus des Systems, in dem sie leben
    mußten.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Sie mußten unter der Kuratel eines repressiven und

    totalen Überwachungsstaats Mitmenschlichkeit, Nähe
    und Anstand leben, und sie haben es getan. Sie haben es
    mit ansehen und miterleben müssen, als 1953 ein frei-
    heitlicher Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, und
    1968 haben die Menschen in der damaligen DDR nach
    dem Prager Frühling und seiner brutalen Niederschla-
    gung den Mut nicht verloren, sondern ein neues Ver-
    ständnis für Bürgerrechte entwickelt und damit ihren
    Anteil daran, daß der Helsinki-Prozeß möglich wurde
    und Erfolg hatte.

    Aber Lebensleistung, die keinem genommen werden
    darf, schuf eben nicht Identität in und mit der DDR –
    was vielleicht erklären könnte, daß in der DDR sogar
    das Gefühl für die Bewahrung unserer deutschen Natio-
    nalkultur lebendiger, verbreiteter blieb als teilweise im
    Westen. Es entstand eben keine DDR-Identität, und die
    SED-Machthaber wußten das übrigens viel besser als
    manche linken Anpasser im Westen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Sie wußten genau, daß sie die gesamtdeutsche Identität
    nicht würden ausrotten können. Deswegen haben sie
    auch Gorbatschow von vornherein so mißtraut, und in
    dem Mißtrauen hatten sie recht: Das mußte das System
    beseitigen. Schlecht war es trotzdem nicht.


    (Beifall bei der CDU/CSU)


    Dr. Wolfgang Schäuble






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Daraus ergibt sich die Lehre: Ohne Freiheit entstehen
    Identität, Zugehörigkeit nicht; und – wie wir im ehema-
    ligen Jugoslawien grausam studieren müssen – Toleranz
    eben auch nicht. Die Freiheit markiert den entscheiden-
    den Unterschied in diesen 40 Jahren bis zum Fall der
    Mauer. Deshalb war die Freiheit, wie Bundeskanzler
    Helmut Kohl einst im Bericht zur Lage der Nation im
    geteilten Deutschland sagte, der Kern der deutschen
    Frage. Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nur
    Sieger, und auch weil wir uns alle die Freiheit nicht al-
    lein und nicht nur durch eigene Leistung erworben ha-
    ben, sondern sie zum Teil eben auch geschenkt bekamen
    – im Westen zuerst durch die Wertegemeinschaft der
    freiheitlichen Demokratien und im Osten dann durch das
    Offenhalten der deutschen Frage und den Wunsch Euro-
    pas, seine Teilung zu überwinden, so daß die Menschen
    überall in Europa in Freiheit leben könnten –, gibt es
    weder Sieger noch Besiegte. Es gibt auch keinen Grund
    – für niemanden in Deutschland –, Dankbarkeit einzu-
    fordern oder sie zu schulden für die gemeinsame Arbeit,
    Teilung und Unfreiheit als Last unserer Geschichte zu
    überwinden. Bei dieser Arbeit haben wir gemeinsam Er-
    folg gehabt.

    Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Für
    die Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Ber-
    lin.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD und der F.D.P.)


    Deshalb mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament
    und Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habe
    ich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir die-
    ses Gebäude mit seiner demokratischen republikani-
    schen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dür-
    fen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P. – Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])


    – Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auch
    schon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir im
    Reichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Be-
    zeichnung und schreiben wir keine andere vor.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir ent-
    schieden, daß wir künftig im Reichstag tagen. So ein-
    fach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer der
    Deutsche Bundestag.

    Also, die Freiheit war entscheidend. Mit der Freiheit
    hängen – richtig verstanden – Solidarität und Gerechtig-
    keit untrennbar zusammen. Deshalb war das Grundge-
    setz und seine Ordnung das Maß der Dinge – vor dem
    Fall der Mauer gerade für die Menschen in der DDR und
    bei der Herstellung der staatlichen Einheit für uns alle.
    Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, auch
    zehn Jahre danach. Vielleicht – nein, gewiß, verehrte
    Kolleginnen und Kollegen – haben wir auf diesem Weg
    beim Einigungsvertrag und bei seiner oft so bürokratisch
    und perfektionistisch wirkenden Umsetzung Fehler ge-
    macht. Aber lernen können wir noch immer. Da es 1989

    nicht Sieger und Besiegte gab, weil uns nach dem
    Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Systeme auferlegt
    wurden und wir uns am Ende gemeinsam für die Freiheit
    entscheiden konnten, sollten wir bei der Aufarbeitung
    der Vergangenheit die Suche nach individueller Schuld
    nicht zu sehr in den Vordergrund stellen.

    Wir haben auch nicht nur Fehler gemacht. Wir haben
    gemeinsam auch viel erreicht. Darauf können und darauf
    sollten wir ein wenig stolz sein. Vielleicht ist das Wis-
    sen um das gemeinsam Geschaffene und Gelungene
    auch eine Vorkehr gegen zuviel Wehleidigkeit der Deut-
    schen am Ende dieses Jahrhunderts. Wir, verehrte Kol-
    leginnen und Kollegen, haben es nicht am schwersten
    auf dieser Welt. Andere beneiden uns eher.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


    Wir leben in größerem Wohlstand und in größerer so-
    zialer Sicherheit als die allermeisten Menschen auf die-
    ser Welt – auch in Europa. Das gilt auch für die Men-
    schen in den neuen Bundesländern – bei allen Proble-
    men und bei allen noch immer im Vergleich zu West-
    deutschland bestehenden Unterschieden und Nachteilen.
    Aber nichts ist für die Zukunft selbstverständlich.

    Die Welt verändert sich. Der Wandel der realen wirt-
    schaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse voll-
    zieht sich oft schneller und in gewaltigeren Dimensio-
    nen, als vielen lieb ist. Dem müssen wir uns stellen. Wer
    Bewährtes erhalten will, muß verändern – immer, heute
    aber vielleicht mehr als zu früheren Zeiten. Weil Wohl-
    stand eher zur Verteidigung von Besitzständen verleitet,
    stoßen Innovationen und Reformen auf viel Widerstand
    – im Westen übrigens stärker als im Osten, wo die Men-
    schen seit 1989 wahrhaft grundstürzende Veränderungen
    verkraften mußten. Aber an der Fähigkeit zu zukunfts-
    gestaltenden Strukturreformen entscheiden sich trotz al-
    ler Widerstände unsere Zukunftschancen. Der Arbeits-
    markt verändert sich durch technologische Entwicklung
    und Globalisierung rasant, und der Altersaufbau unserer
    Bevölkerung auch. Konsequenzen für Renten- und
    Krankenversicherung sind ebenso unausweichlich wie
    die Reform unserer Schulen und Hochschulen.

    Europäische Einigung ist die beste Vorsorge für das
    kommende Jahrhundert; aber auch sie fordert – wie wir
    beispielsweise bei der Währungsunion gesehen haben
    und bei der Osterweiterung noch sehen werden – immer
    wieder Mut zu Neuem. Wenn wir – auch unter dem Ge-
    sichtspunkt von Friedenssicherung und ökologischer
    Nachhaltigkeit – unseren Globus zunehmend als eine
    Welt begreifen, als eine Welt, in der Grenzen weniger
    trennen und Entfernungen schrumpfen, dann muß uns
    dies auch den Blick für globale Zusammenhänge und für
    die Unteilbarkeit unserer Verantwortung öffnen.


    (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Verunsicherung, Angst vor der Zukunft wäre die fal-
    sche Antwort. Offenheit als Chance begreifen, Gestal-
    tungsaufgaben als Herausforderung, Freude auf Neues,
    Neugier auf Künftiges – das kann man auch in diesem

    Dr. Wolfgang Schäuble






    (A) (C)



    (B) (D)


    wunderbar erneuerten Reichstag so empfinden –, das
    alles macht Mut zur Zukunft.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die Basis dafür haben wir in unseren gemeinsamen

    Erinnerungen und in den Werten, die Grundlage frei-
    heitlichen Zusammenlebens sind. Sie sind unverzichtbar.
    Deswegen ist Verantwortung für die Geschichte so we-
    nig rückwärts gewandt wie das Eintreten für Grundwerte
    wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Menschen-
    würde und Toleranz oder auch das Eintreten für Ord-
    nungsprinzipien und Institutionen, die Werte vermitteln
    können, von der Familie bis zum Subsidiaritätsprinzip.
    Wer feste Wurzeln hat, kann weiter ausgreifen. Wer sich
    seines Fundaments gewiß ist, hat mehr Kraft zur Inno-
    vation, zur Veränderung. Das läßt Zukunft gestalten.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


    Ich sagte schon: Wir haben es nicht am schwersten
    auf dieser Welt – genauso wie wir nicht – und schon gar
    nicht auf Grund unserer Vergangenheit – ein Monopol
    auf Betroffenheit oder Sensibilität haben. Andere sind
    auch betroffen, und andere haben auch Sensibilität.

    Damit bin ich beim Zusammenhang von Frieden und
    Freiheit, auch bei der Unteilbarkeit von Frieden und
    Freiheit. Genau darum geht es im Kosovo.

    Wir haben vor ein paar Tagen in Bonn – und gewiß
    nicht zum letzten Mal – wieder über Völkerrecht, Inter-
    ventionsverbot und Universalität von Menschenrechten
    diskutiert. Wir werden damit lange nicht zu Ende sein.
    Entziehen können wir uns dieser Debatte nicht mehr.
    Den Konsequenzen müssen wir uns stellen.

    So ist unsere Bundesrepublik Deutschland mit der
    Wiedervereinigung auch erwachsen geworden. „Unein-
    geschränkt souverän“ nennt das der Staatsrechtler. Wer
    aber Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir werden nicht
    mehr bevormundet, sondern sind Partner und tragen
    deshalb Verantwortung. Weder behütet noch bevormun-
    det – das bedeutet erwachsen sein.

    Das bedeutet zuerst, daß staatliche Machtentfaltung
    auch am Ende dieses Jahrhunderts notwendig bleibt, um
    friedliches, freiheitliches Zusammenleben zu sichern. Im
    Rechtsstaat haben wir eine verbindliche Rechtsordnung
    mit einer die Durchsetzung von Recht sichernden Ge-
    richtsbarkeit und staatlichem, auch rechtlich begrenztem
    Gewaltmonopol. International, weltweit, aber leider
    auch in Teilen Europas haben wir das noch nicht. Des-
    halb ist für Sicherheit, für Frieden und Freiheit Machtlo-
    sigkeit keine Tugend, sondern Verweigerung von Ver-
    antwortung.


    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das fällt uns Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts

    nicht leicht. Aber die Erkenntnis und ihre Konsequenzen
    sind unausweichlich: staatliche Machtentfaltung, Durch-
    setzung von Regeln für politische, soziale und ökonomi-
    sche Sachverhalte und Prozesse. Das läßt sich allerdings
    nicht immer so perfektionistisch regeln, wie wir uns das
    in unserem – gelegentlich zur Hypertrophie neigenden –
    Rechtswegestaat manchmal angewöhnt haben. Das gilt

    bei Fragen, wie wir in Zeiten der Globalisierung soziale
    Sicherheit und Vollbeschäftigung wahren können, im
    Prinzip nicht anders als bei der Debatte um die völker-
    rechtlichen Grundlagen von NATO-Aktionen.

    Die Anerkennung von Realitäten, die Kraft des Fakti-
    schen, die etwa im Völkerrecht beim Interventionsverbot
    eine ganz entscheidende Rolle spielt, die stoßen sich mit
    manch grundsatzbewegter Rechthaberei, und sie sollten
    uns die Prozeßhaftigkeit – also die Veränderbarkeit –
    politischer, sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalte
    und der Kriterien zu ihrer Beurteilung lehren.

    Das alles ist beunruhigend, unbequem. Aber es wird
    durch die Einsicht erleichtert, daß wir nicht mehr allein
    stehen, letztlich weder allein handeln können noch – vor
    allem – wollen.

    Natürlich ist auch Integration nicht immer bequem.
    Eigene Vorstellungen und Überzeugungen lassen sich
    nicht immer so ganz durchsetzen, und Kompromisse
    sind ebenso unvollkommen wie unausweichlich. Aber
    Integration vermeidet eben Isolierung. Im übrigen wirkt
    Integration auch der Gefahr dramatischer Irrwege entge-
    gen. Schwerfälligkeit von Entscheidungsprozessen ist
    dann insoweit immerhin auch Vorkehr gegen Übermut,
    so wie Trägheit, physikalisch betrachtet, eben auch sta-
    bilisiert.

    Militärische Gewaltanwendung bleibt als Ultima ratio
    zur Wahrung von Frieden, Freiheit und grundlegenden
    Menschenrechten unverzichtbar, solange wir internatio-
    nal eine verbindliche und durchsetzbare Rechtsordnung
    und ein Gewaltmonopol nicht haben. Niemals mehr al-
    lein – das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleich
    unsere Chance an der Schwelle zum nächsten Jahrhun-
    dert.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Europäische Integration und atlantische Partnerschaft
    sind unsere feste Basis. Um sie zu erhalten, müssen wir
    selbst verläßliche Partner sein. Das beschreibt unsere
    Verantwortung: für uns und unsere Zukunft, für uns und
    für Europa.

    Besonders in den neuen Ländern tun sich manche
    unserer Mitbürger damit schwer – aber wer wollte das
    nicht verstehen? – wo man so lange nicht nur dem
    Zerrbild der Anti-NATO-Propaganda ausgesetzt war,
    sondern wo man vor allem auch unter zuviel staatlicher
    Machtentfaltung gelitten hat. Aber zuwenig ist so
    falsch wie zuviel. Demokratisch legitimierte, rechtlich
    kontrollierte und begrenzte staatliche Machtentfaltung
    bleibt notwendig, auch nach dem Zuviel der Diktatu-
    ren.

    Aber auch das gilt: Wegsehen hilft am Ende nieman-
    dem. Das wenigstens hat uns dieses Jahrhundert gelehrt.
    Andere haben nicht weggesehen. Deshalb leben wir
    heute in Frieden, Freiheit und Einheit. Das ist nicht we-
    nig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und gewiß ge-
    nug, um darauf eine neue Ernsthaftigkeit unseres Ver-
    ständnisses von politischen Prioritäten und Notwendig-
    keiten zu gründen.

    Dr. Wolfgang Schäuble






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Wenn wir den Zusammenhang von Freiheit, Solida-
    rität und Gerechtigkeit national, europäisch und weltweit
    begreifen, dann finden wir unsere Aufgaben, Aufgaben,
    über die wir an Einheit noch vollenden können, was bis-
    her unfertig geblieben ist und was uns hilft, die Wunden
    von Diktaturen und Teilung zu schließen und Verletzun-
    gen auszuheilen.

    Über unsere Aufgaben aus der Verantwortung für
    Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die
    Einheit vollenden, daran, verehrte Kolleginnen und
    Kollegen, läßt sich arbeiten: hier im Reichstag für
    Deutschland und für Europa.


    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)