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ID1403300600

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 14/33 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 1: Rede des Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ............................................ 2663 A Tagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Vollendung der Einheit Deutschlands Gerhard Schröder, Bundeskanzler ................... 2668 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 2674 B Dr. Peter Struck SPD ....................................... 2678 B Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P.......................... 2681 A Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN......................................................... 2683 C Dr. Gregor Gysi PDS ....................................... 2686 C Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident (Bran- denburg) ........................................................... 2688 A Michael Glos CDU/CSU.................................. 2689 D Sabine Kaspereit SPD ...................................... 2691 C Eberhard Diepgen, Reg. Bürgermeister (Berlin) 2693 B Nächste Sitzung................................................ 2695 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 2696 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2663 (A) (C) (B) (D) 33. Sitzung Berlin, Montag, den 19. April 1999 Beginn: 12.00 Uhr
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    Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen (Berlin) 2696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 33. Sitzung. Berlin, Montag, den 19. April 1999 2696 (A) (C) (B) (D) Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt biseinschließlich Bachmaier, Hermann SPD 19.4.99 Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Beer, Angelika BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 19.4.99 Bohl, Friedrich CDU/CSU 19.4.99 Bühler (Bruchsaal), Klaus CDU/CSU 19.4.99* Diller, Karl SPD 19.4.99 Dr. Eid, Ursula BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Dr. Fuchs, Ruth PDS 19.4.99 Großmann, Achim SPD 19.4.99 Hagemann, Klaus SPD 19.4.99 Hampel, Manfred SPD 19.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 19.4.99 Hempelmann, Rolf SPD 19.4.99** Ibrügger, Lothar SPD 19.4.99 Dr. Jens, Uwe SPD 19.4.99 Kolbow, Walter SPD 19.4.99 Koschyk, Hartmut CSU/CSU 19.4.99 Kröning, Volker SPD 19.4.99 Lehn, Waltraud SPD 19.4.99 Dr. Lucyga, Christine SPD 19.4.99* Maaß (Wilhelmshaven), Erich CDU/CSU 19.4.99 Mark, Lothar SPD 19.4.99 Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Moosbauer, Christoph SPD 19.4.99 Mosdorf, Siegmar SPD 19.4.99 Müller (Berlin), Walter PDS 19.4.99 Neumann (Gotha), Gerhard SPD 19.4.99** Dr. Niese, Rolf SPD 19.4.99 Raidel, Hans CDU/CSU 19.4.99 Rübenkönig, Gerhard SPD 19.4.99 Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 19.4.99 Scharping, Rudolf SPD 19.4.99 Scheu, Gerhard CDU/CSU 19.4.99 Schöler, Walter SPD 19.4.99 Schösser, Fritz SPD 19.4.99 Schuhmann (Delitzsch), Richard SPD 19.4.99 Schurer, Ewald SPD 19.4.99 Seidenthal, Bodo SPD 19.4.99 Steen, Antje-Marie SPD 19.4.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 19.4.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19.4.99 Titze-Stecher, Uta SPD 19.4.99 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19.4.99 Urbaniak, Hans-Eberhard SPD 19.4.99 Vaatz, Arnold CDU/CSU 19.4.99 Wagner, Hans Georg SPD 19.4.99 Dr. Wegner, Konstanze SPD 19.4.99 Weißgerber, Gunter SPD 19.4.99 Willner, Gert CDU/CSU 19.4.99 –––––––– * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 20
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Peter Struck


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Da-
    men und Herren! Ich glaube, die Frage, wie dieses Haus
    genannt werden wird, werden die Bürger entscheiden.
    Aber prinzipiell möchte ich Ihnen, Herr Präsident, sa-
    gen: Die SPD-Fraktion steht immer auf Ihrer Seite. Da
    können Sie ganz sicher sein.


    (Beifall bei der SPD)

    Das zweite, was ich sagen möchte: Heute ist ein

    besonderer Tag. Man merkt das an der etwas weihe-
    vollen Stimmung, die üblicherweise nicht im Deut-
    schen Bundestag herrscht. – Ich denke, das wird sich
    ändern. – Man merkt es übrigens auch an der Präsenz
    des Bundesrates, die in diesem Maße auch nicht üb-
    lich ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren Mi-
    nisterpräsidenten, wenn Sie in Zukunft auch so zahl-
    reich dabeisein werden, dann werden wir uns alle sehr
    freuen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Es ist gerade für uns Sozialdemokraten ein denkwür-
    diger Tag, für meine Fraktion in ganz besonderem Ma-
    ße; denn wir Sozialdemokraten kommen zurück – besser
    gesagt kehren zurück – in ein Haus, in dem unsere Par-
    tei, Fraktionen der SPD schon im letzten Jahrhundert für
    mehr Demokratie und für soziale Gerechtigkeit gestrit-
    ten haben, mit August Bebel an der Spitze.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Dennoch kehren wir mit gemischten Gefühlen in dieses
    Haus zurück. Es ist der Ort, an dem die Demokratie von
    ihren Gegnern systematisch mit Füßen getreten wurde,
    der Ort, an dem die größte Niederlage der Demokratie in
    Deutschland vorbereitet wurde. Aber für uns bleibt es
    auch der Ort, an dem Sozialdemokraten in ihrem Kampf
    für eine gerechtere Welt allen Demokratieverächtern die
    Stirn geboten haben.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Es war ein zäher Kampf, ein Kampf der tausend klei-
    nen Schritte. Heute vor 100 Jahren, genau am 19. April
    1899, wurde in diesem Haus für einen dieser kleinen
    Schritte gestritten – von Sozialdemokraten. Die Forde-
    rung nach besseren Arbeitsbedingungen für Verkäufer
    und Heimarbeiter stand auf der Tagesordnung. Es ging
    darum, Arbeiter nicht länger als Menschen zweiter Klas-
    se zu behandeln und sie gegenüber Arbeitgebern mit
    mehr Rechten auszustatten. „Bravo-Rufe bei der SPD-
    Fraktion“ vermerkte das Protokoll, als ein sozialdemo-
    kratischer Tischler aus Dresden am zähen Kampf seiner
    Partei – meiner Partei, unserer Partei – keine Zweifel
    ließ und den Gegnern der sozialdemokratischen Arbei-
    terbewegung voraussagte:

    Wir werden alles einsetzen, um die Gleichberechti-
    gung zwischen Unternehmern und Arbeitern einzu-
    führen; solange der Kampf auch noch nötig sein
    mag, wir werden nicht erlahmen, bis wir das Ziel
    erreicht haben.


    (Beifall bei der SPD)

    Ob Sie, Herr Bundeskanzler, das alles heute noch so
    unterschreiben würden, versehe ich mit einem Fragezei-
    chen. Aber generell möchte ich schon sagen, Herr Bun-
    deskanzler: Es freut mich sehr, daß der erste Regie-
    rungschef, der eine Regierungserklärung im neuen Bun-
    destag, im Reichstag abgegeben hat, ein Sozialdemokrat
    ist.


    (Beifall bei der SPD)

    Auf diese Geschichte des langen Atems sind wir So-

    zialdemokraten stolz. Deshalb empfinde ich es auch als
    gutes Omen, jetzt an diesen Ort zurückzukehren, an dem
    August Bebel, wie er sagte, „die Tretmühle des Parla-
    ments“ erlebt hat.

    Wenn es einen Ort gibt, der für die demokratischen
    Höhen und Tiefen Deutschlands steht, dann ist es dieser
    Bau. – Ich möchte an dieser Stelle, Herr Präsident, all
    denjenigen danken, die in der Baukommission des Älte-
    stenrates an diesem Bau mitgewirkt haben. Ich möchte

    Dr. Wolfgang Schäuble






    (A) (C)



    (B) (D)


    in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Kollegen
    Peter Conradi erwähnen, der heute unter uns ist. –


    (Beifall)

    Wir alle wehren uns dagegen – der Bundestagspräsident,
    der Bundeskanzler haben es ausgesprochen –, den
    Reichstag einseitig als Parlament der Nazi-Macht-
    ergreifung zu sehen. Es ist bezeichnend, daß er den
    Gegnern der Demokratie – vom Kaiserreich bis zum
    Nationalsozialismus – immer ein Dorn im Auge war.
    Für sie war er „Reichsaffenhaus“, „Schwatzbude“ oder
    „Lügenzentrale“. Parlamentarismus als Meinungsbil-
    dung war diesen Hetzern verhaßt. Sie tragen die Ver-
    antwortung dafür, daß sich das Gros der „Insassen“ am
    Ende der Weimarer Republik zu einem „gröhlenden
    Männerchor“ gewandelt hat. So hat es Willy Brandt als
    Alterspräsident 1990 bei der ersten Sitzung des wieder-
    vereinten Bundestages an diesem Ort ausgedrückt. Uns
    muß das Mahnung und Verpflichtung sein. Nie wieder
    darf aus diesem Haus heraus durch Mißachtung und
    Verleumdung des politischen Gegners der Demokratie
    Schaden zugefügt werden.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Willy Brandt hat 1990 allerdings auch daran erinnert,
    daß längst nicht alle Parlamentarier in dieses dumpfe
    Gröhlen eingestimmt haben. Er hat daran erinnert, daß
    200 Mitglieder des Reichstages in Konzentrationslager
    und Gefängnisse verbracht wurden und daß über 100
    Mitglieder des Reichstages wegen ihrer demokratischen
    Überzeugungen das Leben geben mußten. Das zeigt:
    Das Parlament, das in diesem Reichstag vor uns getagt
    hat, gehört nicht zum Verwerflichsten, was deutsche Ge-
    schichte zu bieten hat.

    Wir kehren heute zurück in ein Gebäude, das wie
    kein zweites an die deutsche Trennung durch die Mauer
    und an das Fehlen von Demokratie im real existierenden
    Sozialismus mahnte. Direkt an der Mauer war der leer-
    stehende Reichstag nach Meinung des ehemaligen Re-
    gierenden Bürgermeisters Klaus Schütz ein Symbol, das
    – seiner Funktion beraubt –, den Zustand der Nation am
    deutlichsten wiedergab. Folgerichtig müssen wir ihn
    jetzt – vereint – wieder mit parlamentarisch-de-
    mokratischem Leben erfüllen. Wir sind in der Pflicht,
    dieses Haus zum Wahrzeichen einer prosperierenden
    Demokratie zu machen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Willy Brandt hat in seiner Rede als Alterspräsident
    1990 ahnungsvoll gesagt:

    Die Mitverantwortung Deutschlands ist in der Welt
    gewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas.

    Seine Befürchtungen sind auf das schlimmste übertrof-
    fen worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.
    Massaker, Vertreibung und Völkermord halten uns in
    den 90er Jahren in Atem. Die Auseinandersetzungen in
    Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo
    forderten und fordern uns Entscheidungen ab, die wir
    1990 in der Freude über die deutsche Vereinigung noch

    für unmöglich gehalten hätten. Es ist eine besondere
    Tragik, daß ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesre-
    gierung in der Geschichte unseres Landes solche Ent-
    scheidungen mit vorzubereiten und zu verantworten hat.

    Am Ende des Jahrhunderts, nach einer langen Phase
    eines oft angespannten Friedens zwischen Ost und West,
    ist das Gespenst des Völkerhasses in Europa wieder vor
    aller Augen. Für viele von uns ist die Erfahrung
    schmerzhaft, daß es ein Heraushalten, ein Zusehen nicht
    geben kann. Manche wollen und können nicht akzeptie-
    ren, daß ausgerechnet Luftangriffe den Frieden bringen
    sollen. Ich glaube, quer durch die Fraktionen ist die Er-
    schütterung über diese Situation groß, und vielen mag es
    ergehen wie mir: Ich stehe zu der Entscheidung der
    NATO; ich bin aber tief verunsichert darüber, daß eine
    solche Entscheidung zum Ende dieses Jahrhunderts
    notwendig ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Die Rückkehr des Parlaments gerade an diesen Ort muß
    uns Verpflichtung sein, nie wieder von Deutschland aus
    einem Völkermord tatenlos zuzusehen.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Für meine Partei, für meine Fraktion ist es eine bittere
    Erfahrung, daß die Warnung der deutschen Sozialdemo-
    kratie vor Hitler allzu lange ungehört blieb, nicht nur im
    eigenen Land, sondern in der gesamten zivilisierten
    Welt. Der „Trümmerhaufen Europa“, wie die SPD ihn
    1934 unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels düster vor-
    ausahnte, hätte womöglich vermieden werden können.
    Um so bindender müssen wir dafür einstehen: Einen
    neuen „Trümmerhaufen Europa“ darf es nicht geben.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir wollen, wie Otto Wels es in seiner mutigen Rede
    gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 gesagt hat, ein
    Europa der Menschlichkeit und der Freiheit.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Angesichts dieser ethnischen Katastrophe keine zwei
    Flugstunden von uns entfernt halte ich es für angemes-
    sen, vorhandene Probleme daheim mit etwas mehr Ge-
    lassenheit zu betrachten. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege
    Schäuble, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, darin aus-
    drücklich zu.

    Die Rückkehr des Parlaments in den Reichstag, die
    Rückkehr nach Berlin, in den Brennpunkt des Zusam-
    menwachsens, ist der Beweis, daß wir alle in diesem
    Haus die Vollendung der inneren Einheit noch energi-
    scher anpacken wollen. Es stimmt, auch neun Jahre nach
    der staatlichen Einheit ist die innere Einheit noch nicht
    vollends gelungen. Aber jeder, der in diesem Land Ver-
    antwortung trägt, müht sich – wenigstens subjektiv –
    nach besten Kräften, dieses Ziel zu erreichen. Bundes-
    präsident Herzog hat in seiner Rede zum Tag der deut-
    schen Einheit im letzten Oktober zu Recht vor der „har-
    monieversessenen Vorstellung“ gewarnt, „die innere

    Dr. Peter Struck






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Einheit sei erst dann erreicht, wenn alle Deutschen so
    ziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten. Das kann
    nicht unser Ziel sein.


    (Beifall bei der SPD)

    Daß es Unterschiede im Denken, in Prioritäten, auch

    in politischen Grundüberzeugungen gibt, darf nicht ver-
    ängstigen, weder die Menschen im Westen noch die
    Menschen im Osten. Die Sozialisation in der DDR war
    eine andere als in der Bundesrepublik. Wir müssen dazu
    stehen und dürfen nicht überdramatisieren. Wer in der
    relativ behüteten Welt eines bayerischen Dorfes lebt
    – ich habe selbstverständlich nichts gegen die Bayern –,
    hat Probleme, sich in das pulsierende, hektische Leben
    einer westlichen Großstadt hineinzuversetzen.


    (Zuruf von der SPD: Und umgekehrt! – Heiterkeit)


    Ich nehme aber an, die Kolleginnen und Kollegen der
    CSU-Landesgruppe, Herr Glos, werden das alles hervor-
    ragend meistern. Ich will nur ein Problem beschreiben.

    Genauso wie wir diese Tatsache akzeptieren, müssen
    wir die Unterschiede im Lebensgefühl zwischen Rhein-
    ländern und Sachsen, zwischen Pfälzern und Branden-
    burgern als Selbstverständlichkeit nehmen. Seien wir
    auch gerade hier in Berlin nicht so ungeduldig! Verges-
    sen wir nicht, daß gerade hier Ost und West aufeinan-
    derprallten und beide Teile der Stadt quasi zu Banner-
    trägern des einen oder des anderen Systems hochstili-
    siert wurden. Gerade hier, an der Schnittstelle ehemali-
    ger Unterschiede, kann das Verwachsen der Wunden ein
    Prozeß sein, der besondere Geduld verlangt. Wir müssen
    und wir wollen diese Geduld aufbringen. Ich bin der
    Meinung des Herrn Bundestagspräsidenten: Er erwartet
    von diesem Parlament, daß es, insbesondere hier in der
    Hauptstadt, Verständigungsprozesse anstößt. Dazu will
    ich das Meine tun, dazu will die SPD-Bundestags-
    fraktion das Ihre tun.

    Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost, den der
    Bundeskanzler angesprochen hat, die Entwicklung der
    weiteren wirtschaftlichen Angleichung der Lebensver-
    hältnisse steht auch im Mittelpunkt sozialdemokratischer
    Innenpolitik. Das schlägt sich nicht nur in Bekenntnis-
    sen nieder, sondern auch in konkreten Zahlen. Ich
    möchte nur eine Zahl nennen: Wir haben die Ansätze für
    konsumtive und investive Ausgaben in den neuen Län-
    dern weiter verstärkt. Sie steigen von 89 Milliarden DM
    im letzten Jahr auf rund 100 Milliarden DM in diesem
    Jahr. Wir verstärken und verstetigen dabei in zwei
    Richtungen. Einerseits geht es um die Stabilisierung der
    Aufbauleistungen, andererseits um die verstärkte Förde-
    rung bei Zukunftsfragen. Als besonders wichtige Zu-
    kunftsinvestition seien noch einmal – man kann es nicht
    oft genug betonen – die Bekämpfung der Jugendar-
    beitslosigkeit und das Sonderprogramm der Bundesre-
    gierung mit seinen großen Erfolgen erwähnt.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


    Wir, Parlament und Regierung, kehren nach Berlin
    zurück. Aber der Umzug ist keine Reise in die Vergan-
    genheit. Er markiert den Aufbruch in ein neues Jahrhun-

    dert, in eine trotz aller internationalen Schatten chancen-
    reiche Zukunft. Und: Wir kommen nicht mit leeren
    Händen vom Rhein an die Spree. Wir bringen mit, was
    wir an demokratischen Traditionen in 50 Jahren erar-
    beitet haben. Es sind stabile Traditionen. Wir ziehen
    nicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wir
    bleiben Bundesrepublik Deutschland.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


    Wir sollten nicht leichtfertig von dieser Selbstver-
    ständlichkeit abgehen. Wir wollen und brauchen keine
    andere Republik. „Ein Ortswechsel, kein Richtungs-
    wechsel“, hat Bundespräsident Roman Herzog zu Recht
    bemerkt. Für die Bürger darf nicht das Wo des Parla-
    ments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlas-
    sen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die be-
    sten Lösungen für das Land gerungen wird. Der Bun-
    destag macht entweder gute oder schlechte Gesetze
    – jetzt, nach den neuen Mehrheiten, macht er in der
    Regel gute Gesetze –,


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU)


    ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß man sich,
    ganz unabhängig vom Standort, messen lassen.


    (V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters)

    Es stimmt: Der Umzug verlangt von uns Parlamenta-

    riern eine ganze Menge Umstellung. Den Bürgern aber
    und auch unseren Nachbarn muß er Kontinuität garantie-
    ren. Das Koordinatensystem unserer Politik wird und
    darf sich nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin eine
    Politik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähig-
    keit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet.


    (Beifall bei der SPD)

    Diese Traditionen, die wir in 50 Jahren am Rhein gehegt
    haben, bringen wir mit, eine Erfolgsgeschichte, auf die
    wir alle alles in allem stolz sein können.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Nach außen brauchen wir eine Politik, die eine der
    guten Nachbarschaft ist und es auch bleibt. Gerade hier
    in Berlin können wir Deutschen Europa noch weiter zu-
    einanderführen. Gerade hier verstehe ich es als große
    Chance, die östlichen Nachbarn noch stärker in die Eu-
    ropäische Gemeinschaft einzubinden. Sie wünschen es.
    Wir werden ihnen dabei nach Kräften helfen und damit
    ein vereintes Europa vorantreiben.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Aber lassen Sie mich hier genauso klarstellen: Der
    Schritt nach Osten bedeutet keine Aufgabe der Westbin-
    dung; nein, diese ist und bleibt unabdingbare Vorausset-
    zung. Die Nähe zu Brüssel, London, Paris, Rom und
    Washington wird nicht deshalb geringer, weil uns in
    Berlin nicht mehr so viele Kilometer von Budapest,
    Moskau, Prag oder Warschau trennen.

    Dr. Peter Struck






    (A) (C)



    (B) (D)


    In seiner Rede als Alterspräsident hat Willy Brandt
    1990 hier – der Raum sah etwas anders aus, aber der Ort
    ist derselbe – gesagt, seine Visionen seien mit dem Fall
    der Mauer noch nicht zu Ende, sein Wunsch sei jetzt,
    den Tag zu erleben, an dem auch Europa eins geworden
    ist. Es war ihm nicht vergönnt. Wir haben jetzt die
    Chance, für uns und unsere Kinder die Sehnsucht dieses
    großen Europäers zu verwirklichen. Von Berlin aus ste-
    hen wir in der Pflicht für ein Europa, das eines nicht
    mehr fernen Tages eins geworden ist.


    (Beifall bei der SPD)

    Wir wollen ein Europa auf jenen Grundfesten, die der

    SPD-Vorsitzende Otto Wels 1933 in seiner Rede gegen
    das Ermächtigungsgesetz beschworen hat, ein Europa,
    das den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Gerechtig-
    keit und der Freiheit verpflichtet ist.


    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)




Rede von Dr. Rudolf Seiters
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich gebe dem Vor-
sitzenden der F.D.P.-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Gerhardt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (F.D.P.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident!
    Meine Damen und Herren! Wir alle wären heute nicht
    hier, wenn es nicht die couragierten Teilnehmer der
    Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 gegeben hätte.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Wir wären nicht hier, wenn sich die Freiheit damals
    nicht in gewaltfreiem Widerstand und mit großem En-
    gagement hätte Bahn brechen können. Das heißt, wir
    müssen auch über das Selbstbewußtsein der Deutschen
    selbst sprechen.

    Wir schulden den Bürgerinnen und Bürgern der ehe-
    maligen DDR, von denen viele als Kolleginnen und
    Kollegen heute bei uns im Deutschen Bundestag sind,
    für dieses Engagement Respekt. Sie haben für die Ver-
    wirklichung der deutschen Einheit einen großen Frei-
    heitswillen bewiesen.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Wir tagen hier aber auch, weil es in der alten Bundes-
    republik Deutschland Persönlichkeiten gab, die in ihrer
    eigenen Biographie den Willen zur deutschen Einheit
    immer aufrechterhalten haben, auch in Zeiten, als dies
    nicht Mode war, als der Wunsch, die deutsche Einheit zu
    erreichen, sehr stark in die rechte Ecke gedrängt wurde
    und als er eher als ein übles Zurückholen falscher
    Bruchstücke der deutschen Geschichte dargestellt wur-
    de. Eine dieser Persönlichkeiten ist heute hier. Da jeder
    Namen aus seiner politischen Grundrichtung genannt
    hat, möchte ich diesen auch nennen. Es handelt sich um
    Wolfgang Mischnick, dem wir sehr zu Dank verpflichtet
    sind für das, was er getan hat.


    (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


    Wir sollten heute weitere Selbstverständlichkeiten
    besprechen, und zwar nicht, weil der Ältestenrat bzw.
    das Präsidium einen akrobatischen Namensvorschlag für
    die Kombination von Plenarbereich und Reichstagsge-
    bäude gemacht hat. Die Sprache des aufgeklärten Bür-
    gertums in Deutschland präzisiert den Namen. Dieser
    Name ist „Reichstag“. Daran führt keine Wortkombina-
    tion vorbei.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Das, was wir jetzt in einer Zwischenbilanz der deut-
    schen Einheit debattieren, wird nicht bestimmt durch
    die Bezeichnung „Berliner Republik“ oder „Bonner
    Republik“, nicht durch eine Wortbezeichnung für die-
    ses Gebäude und den Raum, den wir mit parlamentari-
    schen Debatten ausfüllen, und auch nicht – Herr Bun-
    deskanzler, das muß ich noch zu Ihrer Regierungser-
    klärung sagen – durch volkswirtschaftliche Kennzif-
    fern. Was heute hier besprochen werden muß, ist die
    innere Verfassung der deutschen Nation. Die ist ganz
    entscheidend.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Damit ist nicht die geschriebene Verfassung gemeint.

    Die allein reicht nicht. Die Verfassungstradition ist gut.
    Ich meine die Nationalversammlung in der Paulskirche,
    den gescheiterten Versuch der Weimarer Reichsverfas-
    sung, aber dann auch den gelungenen des Grundgeset-
    zes. Trotzdem spüren wir im innerdeutschen Zusam-
    menwachsen, daß wir den erneuten ernsthaften Versuch
    machen müssen, die Zustimmung der Menschen zum
    Grundgesetz, zum Vertrag zur deutschen Einheit, zu
    Parlament, Marktwirtschaft, föderativem Staatsaufbau
    und zum Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Das ist
    wichtig; aber nicht die geschriebene Verfassung ist
    schon die Sache selbst.

    Der erste Bundespräsident dieser Republik, deren
    Grundzüge wir hier in Berlin beheimatet sehen wollen,
    Theodor Heuss, hat gesagt: Die Deutschen brauchen ein
    Maß. – Das heißt, sie brauchen eine Überzeugung für
    die Freiheit, die Klarheit, die Freiheit in ihren Grenzen
    nicht zu überschreiten. Er hat gesagt, man müsse den
    Deutschen ihren billigen Nationalismus abgewöhnen.
    Wie wahr in einer Zeit, in der wir wieder spüren, wie
    billiger Nationalismus zu Morden führt!


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Eine Haltung mit Weitsicht, all das, was die kulturelle

    Dimension einer Freiheit ausmacht, ist mir in Deutsch-
    land nicht ausreichend ausgeprägt. Wahrscheinlich muß
    man der eigenen Nation sagen: Es gibt europäische
    Nachbarländer, die eine breitere kulturelle Dimension
    der Freiheit haben. Wenn wir in Deutschland über Frei-
    heit sprechen, kann man dies kaum tun, ohne die Di-
    mensionen der Gleichheit und der Gerechtigkeit mit zu
    beachten, die wichtige Werte sind. Aber Tatsache ist,
    daß sich in Deutschland die Werte Freiheit und Gleich-
    heit fälschlicherweise dauernd bekämpfen, daß auf der
    einen Seite die Anwälte der Freiheit stehen, die auf der
    anderen Seite von den Anwälten der Gleichheit konter-
    kariert werden.

    Dr. Peter Struck






    (B)



    (A) (C)



    (D)


    Meine Damen und Herren, Gleichheit und Gerechtig-
    keit sind niemals herzustellen durch einen paternalisti-
    schen Umverteilungsstaat.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Wer Freiheit will, der muß persönliche Verantwortung
    übernehmen. Das muß in dieser Zwischenbilanz gesagt
    werden. Die Verringerung des Risikos, nach der sich
    viele sehnen, vernichtet am Ende die Freiheit, weil zur
    Freiheit untrennbar die Bereitschaft zur Übernahme von
    Verantwortung einschließlich des Risikos, scheitern zu
    können, gehört. Das macht im Kern freiheitliche Gesell-
    schaften aus und nicht nur das, was wir uns angewöhnt
    haben, mit der Freiheit zu verbinden.

    Der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, das, was
    wir an Politik gestalten müssen, ist die unbändige Kraft-
    anstrengung, Menschen zu eigener Verantwortung zu
    befähigen, ihnen die Chancen dazu zu geben und ihnen
    Chancengerechtigkeit zu vermitteln. Aber niemals kann
    dahinter ein Bild der Gleichheit der Ergebnisse stehen.
    Menschen sind unterschiedlich, und wir müssen den
    unterschiedlichen Lebensanstrengungen gerecht werden.


    (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


    Im übrigen – wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst
    sind – haben sich in manchen früheren westdeutschen
    Milieus Verhaltensweisen entwickelt, die denen sehr an-
    genähert waren, die ein sozialistisches System bei den
    Menschen erzeugen wollten. Auch viele bei uns haben
    geglaubt, es gäbe jährliche Wachstumsraten, ein Staat
    sei nur legitim, wenn er verteilen kann, wenn er die
    volle Dienstleistungsfähigkeit besitzt. Bei vielen hat sich
    das Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen gelok-
    kert, und ist der Ärger über das Gemeinwesen gewach-
    sen, wenn ein Staat in besonderen Situationen nicht
    mehr so leistungsfähig war. Es muß in Deutschland dar-
    auf ankommen, das politische Gemeinwesen in Erinne-
    rung zu rufen und nicht nur zu glauben, wir lebten in
    einem Staat mit dem Verfassungsauftrag zur Wachs-
    tumsvorsorge.

    Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir in
    diesem Land zusammenleben. Das betrifft auch viele
    alte westdeutsche Erinnerungen. Seit dem Auftreten Mi-
    chail Gorbatschows hat sich doch nahezu alles verän-
    dert. Vielleicht haben wir zunächst geglaubt, das beträfe
    18 Millionen Deutsche in der früheren DDR, die alten
    RGW-Staaten. Alle westeuropäischen Gesellschaften
    sind davon erfaßt worden. Nichts ist mehr so, wie es
    früher war.

    Viele politische Entscheidungen, die wir treffen, tref-
    fen wir noch immer so, als lebten wir in der alten Welt.
    Sind wir ausreichend in der neuen Wirklichkeit ange-
    kommen? Diese Frage stellt sich in einem Zwischenbe-
    richt zur Lage der deutschen Nation.


    (Beifall bei der F.D.P. und der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


    Wir stehen heute im weltweiten Wettbewerb. Wir
    bauen Infrastrukturen auf, wir erheben Steuern und ent-
    scheiden damit, ob das mobile Kapital kommt oder geht.

    Wir wissen, daß sich der Wettbewerbsdruck verstärkt
    hat. Mauer und Stacheldraht – das könnte man heute
    noch sagen – waren für die alte westdeutsche Politik
    reichlich bequeme Veranstaltungen. Es gab jährliche
    Verteilungen, Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet
    mehr?“ und unbegrenzte wirtschaftliche Zuwachsraten.

    Nun, da sich das geändert hat, frage ich: Haben wir ge-
    nügend Kraft, Systeme zu ändern, von denen wir wissen,
    daß sie nicht mehr finanzierbar sind? Jeder sagt doch
    hinter vorgehaltener Hand: Das geht so nicht mehr weiter.
    Haben wir nicht zu viele öffentliche Tabuwächter, die uns
    daran hindern? Wir wissen doch alle, daß die Arbeitslo-
    sigkeit die lohnbezogenen sozialen Sicherungsysteme, auf
    die sich die soziale Sicherheit von Menschen seit Genera-
    tionen gründet, an die Grenze der Zerreißprobe gebracht
    hat. Jeder von uns in diesem Haus weiß, daß die Rente
    nicht stabil bleiben kann, wenn der Anteil der älteren Per-
    sonen immer größer, die Lebenserwartung immer höher,
    der Anteil der Erwerbspersonen immer kleiner wird, das
    Renteneintrittsalter sinkt und die Aufnahme von Arbeit
    immer weiter hinausgeschoben wird.

    Bundespräsident Herzog hat doch zu Recht gesagt,
    daß der Ernstfall in Deutschland zu spät geprobt wird.
    Er hat hinzugefügt, lebenslanges Lernen sei richtig, aber
    es sollte bitte im Beruf und nicht als Beruf stattfinden.
    Daß das Konsequenzen für die sozialen Sicherungssy-
    steme hat, ist offensichtlich. Wenn man das Bildungssy-
    stem kritisch anspricht, gilt man schon als Feind der
    Menschheit, weil man nicht mehr genügend von der so-
    zialen Sicherheit redet.

    Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheit
    einer Gesellschaft gründet sich auf nichts anderes als auf
    die Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, soziale Si-
    cherheit mit einem freien marktwirtschaftlichen System
    zu verbinden.


    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Ich spreche diese Themen an, weil ich die Befürch-

    tung habe, daß eine Politik für Wandel – der Kollege
    Schäuble hat das in seinem Beitrag angesprochen –, für
    Veränderungen von vielen noch zu stark als Bedrohung
    emfpunden wird. Noch sperren sich zu viele gegen Ver-
    änderungen. Aber wir wissen alle: Wenn man nicht
    rechtzeitig verändert, gibt es hinterher große Verwer-
    fungen, und zwar nicht nur sozialer, sondern auch de-
    mokratischer Art.

    Jetzt beginnt doch erst – egal, welcher Partei man an-
    gehört – die Diskussion um die zentrale Frage, wie sich
    die Beschäftigung in Zukunft entwickeln wird. Egal,
    welches Parteiprogramm man geschrieben hat: Der
    Themendruck der Zeit wird uns veranlassen, zu anderen
    Lösungen zu kommen, als wir sie heute haben. Mancher
    Gewerkschaftstag


    (Ingrid Matthäus-Meier [SPD]: Und mancher Unternehmer!)


    wird in zwei bis drei Jahren Themen diskutieren müssen,
    die vielleicht in ganz anderen Parteiprogrammen stehen,
    als man heute denkt.


    (Beifall bei der F.D.P.)


    Dr. Wolfgang Gerhardt






    (A) (C)



    (B) (D)


    Die sozialen Sicherungssysteme, die wir haben und die
    einen großen Teil der Diskussion ausmachen, begleiten
    heute die Arbeitslosigkeit, anstatt zum wirklichen Pro-
    blemlösungsbereich vorzustoßen.

    Wir diskutieren eine Zwischenbilanz zur Lage der
    Nation Gott sei Dank nicht mehr in den Kategorien Ost
    oder West. Die Probleme haben uns überall erreicht. Die
    Veränderungsnotwendigkeiten und der Strukturwandel
    stehen jedem ganz klar vor Augen. Wir sollten unseren
    Bürgerinnen und Bürgern sagen, daß wir uns nicht nur
    als Träger einer Erwerbsbiographie Ost oder West emp-
    finden dürfen. Wir sind nicht die Kunden eines Staates,
    wir sind Staatsbürger. Ich glaube, daß in Ost wie in
    West eine Haltung angebracht wäre, daß wir Beschei-
    denheit mit Selbstbewußtsein verbinden und daß wir in
    der Lage sind, uns von einem Staat zu emanzipieren, der
    uns zwar beschützt, aber uns manchmal in unseren Fä-
    higkeiten auch beschneidet. Dringend notwendig ist in
    Deutschland ein Bewußtsein, das nicht nur die Risiken
    sieht, sondern auch die Chancen. Wir haben doch alle
    Chancen in einem Land mit großartiger Infrastruktur,
    mit einem öffentlichen Bildungswesen, mit föderativer
    Grundverfassung und mit Garanten wie Bundesverfas-
    sungsgericht, parlamentarischem System, mit einer offe-
    nen Wettbewerbsordnung wie der Marktwirtschaft, um
    unsere Probleme zu lösen.

    Entscheidend wird sein, ob unsere Gesellschaft insge-
    samt Kompetenz im Wandel entfaltet und auch zu An-
    strengungen bereit ist, die jenseits von materiellen An-
    reizen liegen. Wenn das gelingt, dann können wir opti-
    mistisch sein, die Zukunft zu bewältigen. Was jetzt not-
    wendig ist, das ist das neue Bürgerbewußtsein in unse-
    rem Land, weil wir das Zusammenwachsen wollen, weil
    wir die Einheit als Glück begreifen, weil wir wissen, daß
    es ohne Internationalität und europäische Vision nicht
    geht. Das sind keine Bedrohungen, das sind Chancen.

    In der heutigen Debatte – nicht jeder nimmt sie als ein-
    fache Debatte routinemäßig auf – würde ich gerne sagen:
    Ja, die viel umstrittene, viel mißverstandene und in vielen
    Katastrophen gelandete deutsche Nation gibt es. Aber sie
    muß in ihrem Bürgerbewußtsein begreifen, daß der Staat
    nicht immer nur die anderen sind. Der Staat sind wir; es
    geht also auch darum, wie wir uns verhalten.


    (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Welche Tugenden wir ganz persönlich entwickeln,
    welche Zivilcourage wir aufbringen und welche Risiko-
    bereitschaft wir einbringen, wird das internationale An-
    sehen Deutschlands in den nächsten Jahren bestimmen –
    nach innen wie nach außen. Darum geht es bei der De-
    batte zur Lage der Nation und nicht um den nächsten
    Autobahnkilometer oder hundert weitere Telefonan-
    schlüsse.

    Herzlichen Dank.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)