Protokoll:
12108

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 108

  • date_rangeDatum: 25. September 1992

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:09 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/108 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 108. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. September 1992 Inhalt: Zusatztagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Aktuelle Entwicklung in der Europapolitik Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . . 9217B Björn Engholm, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein . . . . . . . . . 9221 B Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . 9224 C Peter Conradi SPD . . . . . . . . . . 9225 D Peter Kittelmann CDU/CSU . . . . . . . 9226 B Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 9228A Ingrid Matthäus-Maier SPD. . . . 9228B, 9242 C Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9230 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . . 9232 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 9235 A Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 9236B Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . 9236 C Karl Lamers CDU/CSU . . . . . . . . 9238 C Dr. Thomas Goppel, Staatsminister des Frei- staates Bayern . . . . . . . . . . . . 9240 C Dr. Norbert Wieczorek SPD . . . . . . . 9242 D Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 9244 D Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . 9246 B Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . 9247 B Michael Stübgen CDU/CSU 9248 B Ortwin Lowack fraktionslos . . . . . . 9250B Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches (Drucksache 12/2412) Manfred Reimann SPD 9251 B Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . 9254 A Petra Bläss PDS/Linke Liste . . . . . . 9255 C Dr. Gisela Babel F.D.P. . . . . . . . . 9257 A Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 9258 C Ottmar Schreiner SPD 9261 B Dr. Alexander Warrikoff CDU/CSU . . 9263 C Ottmar Schreiner SPD . . . . . . . 9265 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Antifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne (Drucksachen 12/1193, 12/3268, 12/3292) Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 9266 A Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI , 9267 A Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 9267 D Uwe Lambinus SPD 9268 C Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 9269 A Wolfgang Lüder F.D.P. 9269 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . 9270 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 9271* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9217 108. Sitzung Bonn, den 25. September 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Andres, Gerd SPD 25. 09. 92 Antretter, Robert SPD 25. 09. 92* Bayha, Richard CDU/CSU 25. 09. 92 Blank, Renate CDU/CSU 25. 09. 92 Bleser, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Brandt, Willy SPD 25. 09. 92 Bredehorn, Günther F.D.P. 25. 09. 92 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. von Büllow, Andreas SPD 25. 09. 92 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 09. 92 Herta Deß, Albert CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Eckardt, Peter SPD 25. 09. 92 Eichhorn, Maria CDU/CSU 25. 09. 92 Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 25. 09. 92 Eylmann, Horst CDU/CSU 25. 09. 92 Formanski, Norbert SPD 25. 09. 92 Gallus, Georg F.D.P. 25. 09. 92 Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 09. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. von Geldern, CDU/CSU 25. 09. 92 Wolfgang Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 25. 09. 92 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Großmann, Achim SPD 25. 09. 92 Harries, Klaus CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 25. 09. 92 Hauser CDU/CSU 25.09.92 (Rednitzhembach), Hansgeorg Hollerith, Josef CDU/CSU 25. 09. 92 Ibrügger, Lothar SPD 25. 09. 92 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 25. 09. 92 Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 25. 09. 92 Kampeter, Steffen CDU/CSU 25. 09. 92 Keller, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Klein (München), Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Kolbe, Regina SPD 25. 09. 92 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 25. 09. 92 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 25. 09. 92 Leidinger, Robert SPD 25. 09. 92 Lennartz, Klaus SPD 25. 09. 92 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 25. 09. 92 Elke Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 25. 09. 92 Klaus W. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lühr, Uwe F.D.P. 25. 09. 92 Magin, Theo CDU/CSU 25. 09. 92 Meckelburg, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Mescke, Hedda CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Modrow, Hans PDS/LL 25. 09. 92 Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 25. 09. 92 Neumann (Gotha), SPD 25. 09. 92 Gerhard Oesinghaus, Günther SPD 25. 09. 92 Oostergetelo, Jan SPD 25. 09. 92 Ostertag, Adolf SPD 25. 09. 92 Paintner, Johann F.D.P. 25. 09. 92 Peters, Lisa F.D.P. 25. 09. 92 Pfeffermann, Gerhard O. CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 25. 09. 92 Raidel, Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92* Rempe, Walter SPD 25. 09. 92 Rennebach, Renate SPD 25. 09. 92 Reuschenbach, Peter W. SPD 25. 09. 92 Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 25. 09. 92 Helmut Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 25. 09. 92 Scheu, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Schmalz, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Schmalz-Jacobsen, F.D.P. 25. 09. 92 Cornelia Schmidt (Nürnberg), SPD 25. 09. 92 Renate Dr. Schmude, Jürgen SPD 25. 09. 92 Dr. Schneider CDU/CSU 25. 09. 92 (Nürnberg), Oscar Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 25. 09. 92 Andreas Dr. Soell, Hartmut SPD 25. 09. 92** Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Terborg, Margitta SPD 25. 09. 92 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 25. 09. 92 Titze, Uta SPD 25. 09. 92 Dr. Voigt (Northeim), CDU/CSU 25. 09. 92 Hans-Peter Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 25. 09. 92 Weis (Stendal), Reinhard SPD 25. 09. 92 Weißgerber, Gunter SPD 25. 09. 92 Welt, Jochen SPD 25. 09. 92 Wissmann, Matthias CDU/CSU 25. 09. 92 Wohlleben, Verena SPD 25. 09. 92 Ingeburg Zierer, Benno CDU/CSU 25. 09. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210800000
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Aktuelle Entwicklung in der Europapolitik
Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eine Zeit von zweieinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1210800100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Gemeinschaft steht in diesen Tagen und Wochen in einer für unsere gemeinsame Zukunft entscheidenden Bewährungsprobe. Wenn wir jetzt nicht gemeinsam die Chance nutzen, die der Vertrag von Maastricht bietet, wird die Gemeinschaft um viele Jahre zurückgeworfen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb muß es unser Ziel sein, den in diesem Vertrag festgelegten Kurs konsequent zu halten.
Das Ja Frankreichs zum Vertrag von Maastricht vom vergangenen Sonntag hat uns hierin bestärkt. Ich möchte auch von dieser Stelle aus die Entscheidung des französischen Volkes bei dem Referendum über den Vertrag von Maastricht noch einmal ausdrücklich begrüßen.
Dabei möchte ich drei Aspekte, die sich aus der Analyse der Volksbefragung in Frankreich ergeben, hervorheben:
Erstens. Die ältere Generation, die das Leid und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges — zum Teil noch des Ersten Weltkrieges — erleben mußte, hat mit deutlicher Mehrheit für die Europäische Union gestimmt. Ihre Stimme hat auch für uns besonderes Gewicht.
Zweitens. Nicht minder bemerkenswert ist es, daß die Menschen in den französischen Grenzregionen zu Deutschland, im Elsaß und in Lothringen, mit großer Mehrheit mit Ja gestimmt haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Gerade sie, die stets als erste von den Bruderkriegen der Vergangenheit betroffen waren, haben ein besonderes Gespür für die historische Bedeutung des europäischen Einigungswerkes, für gute Nachbarschaft und offene Grenzen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in dieses Bild paßt auch, daß sich die dänische Bevölkerung im Grenzraum zu Schleswig-Holstein bei dem Referendum im Juni für Maastricht entschieden hatte.
Drittens. Ich halte es für besonders wichtig, daß sich die junge Generation der 18- bis 35jährigen klar für den Vertrag von Maastricht entschieden hat. Sie hat verstanden, daß es vor allem um ihre Zukunft geht, daß Europa für ihr Leben in Frieden und Freiheit entscheidend ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Meine Damen und Herren, es kommt nunmehr entscheidend darauf an, den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union wie vorgesehen bis zum Ende dieses Jahres zu ratifizieren und ihn zum 1. Januar 1993 in Kraft zu setzen. Wir werden hier im Deutschen Bundestag am 8. Oktober Gelegenheit haben, eine intensive und eingehende Diskussion über den Vertrag zu führen.
Mit der Initiative zu den beiden Regierungskonferenzen über die Politische Union sowie über die Wirtschafts- und Währungsunion haben wir uns gemeinsam mit Frankreich unserer besonderen Verantwortung für Europa gestellt. Gerade angesichts des Umbruchs in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit all seinen Risiken war diese Initiative ein klares und unmißverständliches Zeichen dafür, daß es in Westeuropa kein Zurück zu den machtpolitischen Rivalitäten vergangener Zeiten geben darf. Die Lehre aus dieser Erfahrung bestand und besteht in dem immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker.



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Jean Monnet, den viele den „Vater Europas " nennen, hat 1944 — noch mitten im Zweiten Weltkrieg — hierzu geschrieben:
Es wird keinen Frieden in Europa geben, wenn Staaten sich nur auf der Grundlage nationaler Souveränität und der daraus folgenden Politik des Prestiges und des wirtschaftlichen Schutzes neu gruppieren.
Weiter betonte er:
Europa muß geeint werden, und nicht nur durch Zusammenarbeit, sondern durch freiwillige Übertragung der Souveränität der europäischen Nationen an eine Art zentrale Union, eine Union, die Macht hat, Zolltarife zu ermäßigen, einen größeren europäischen Markt zu schaffen und das Wiederaufleben des Nationalismus zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jean Monnet, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak und viele andere aus der Gründergeneration haben recht behalten: Das europäische Einigungswerk hat in den letzten 40 Jahren für uns alle entscheidend zu Frieden, Stabilität, Sicherheit und wirtschaftlichem Wohlstand beigetragen. Es hat uns Deutschen zugleich die Chance zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes eröffnet; denn es schuf jenes Vertrauen in das demokratische Deutschland, das Voraussetzung für die Zustimmung unserer Nachbarn, Partner und Freunde zur deutschen Einheit war.
Meine Damen und Herren, der Vertrag von Maastricht steht voll und ganz in der Kontinuität des europäischen Einigungswerkes, einer Kontinuität, die von Anfang an eine klare politische Dimension hatte. Mit diesem Vertrag haben wir gleichzeitig die Grundlagen dafür geschaffen, mit einer handlungsfähigen Europäischen Union die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Jeder in Europa muß sich darüber im klaren sein: Alles, was wir bisher gemeinsam wirtschaftlich erreicht haben, können wir auf Dauer nur bewahren, wenn wir es auch politisch absichern. Eine Wirtschaftsunion ist nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine Politische Union stützen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, fünf Ziele stehen im Vordergrund des Vertrages von Maastricht:
Erstens die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: Gerade aus deutscher Sicht — vor dem Hintergrund unserer geographischen Lage und unserer Geschichte — ist dies eine Schicksalsfrage. Das Ende des Kalten Krieges und des Kommunismus bedeutet keineswegs, daß wir jetzt weniger wachsam zu sein brauchen. Allein der Krieg im früheren Jugoslawien ist eine ernste Warnung für uns alle. Es ist wahr, daß aus der Lage und Entwicklung in Ost- und Südosteuropa Risiken und Unwägbarkeiten für ganz Europa entstehen können. Wir können sie nur gemeinsam meistern.
Zweitens die stufenweise Entwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion: Wir können unsere wirtschaftliche und monetäre Stabilität nur sichern und unseren Wohlstand nur bewahren, wenn wir mit dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik immer enger zusammenarbeiten. — Keiner in Europa — ich wiederhole: keiner — sollte sich der Illusion hingeben, daß er dazu noch allein in der Lage ist! Gerade die Ereignisse der letzten Wochen haben dies unterstrichen. — Nur so können wir auch unsere gemeinsamen Interessen in der Weltwirtschaft wahren.
Drittens die Erarbeitung einer gemeinsamen Politik in einem so wichtigen Bereich wie dem der inneren Sicherheit: Immer mehr Menschen machen sich große Sorgen wegen der Ausbreitung der internationalen organisierten Kriminalität und der Drogenmafia. Ich setze mich seit Jahren dafür ein, den Kampf dagegen mit aller Entschiedenheit auch auf europäischer Ebene aufzunehmen. Nur mit einer gemeinsamen Politik und einer europäischen Polizeiorganisation haben wir eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, gleichermaßen erfordert die dramatisch zunehmende Zahl von Asylsuchenden aus dem Süden und aus dem Osten, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen nach Westeuropa — vor allem zu uns nach Deutschland — kommen, dringend eine europäische Antwort. Die bisherigen Erfahrungen machen mehr als deutlich, daß nur ein gemeinsames europäisches Handeln das Asylproblem erfolgreich lösen kann. Wir alle wissen: Bei uns setzt dies die Änderung des Grundgesetzes voraus.
Viertens. Der Vertrag von Maastricht vertieft die europäische Zusammenarbeit vor allem dort, wo Schwächen in den letzten Jahren sichtbar wurden. Dies gilt für den Umweltschutz, dessen Bedeutung auch unsere Partner in den letzten Jahren mehr und mehr erkannt haben. Wir alle erinnern uns noch daran, welche Schwierigkeiten wir vor einigen Jahren hatten, als es um die Durchsetzung des Katalysators in der EG ging. Heute ist eine entsprechende Ausrüstung von Neufahrzeugen im Europa der Zwölf eine Selbstverständlichkeit.
Fünftens. Maastricht bringt auch Fortschritte bei der Verstärkung der demokratischen Kontrolle durch das Europäische Parlament. Aber ich füge hinzu: Diese Fortschritte reichen aus unserer Sicht nicht aus. Wir haben das auch während der Vertragsverhandlungen immer wieder deutlich gemacht. Maastricht ist insofern nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Wir werden — gerade angesichts der Erfahrungen der letzten Wochen — noch viel Überzeugungsarbeit bei unseren Partnern leisten müssen, um in den nächsten Jahren, spätestens aber im Rahmen der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz, die demokratische Kontrolle der europäischen Institutionen durch eine weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments durchgreifend zu verbessern. Ich bin sicher, dies ist auch die gemeinsame Meinung des Hohen Hauses.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Diskussion während der vergangenen Monate in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft — auch bei uns in Deutschland — hat gezeigt, wie viele Mißverständnisse, Unsicherheiten, ja Ängste im Hinblick auf den Vertrag noch bestehen.
Viele Menschen befürchten ein zentralistisches Europa. Sie fragen sogar: Werden wir in einem solchen Europa noch Deutsche, Italiener, Belgier oder Franzosen sein? Die Antwort des Vertrages ist eindeutig: Wir bleiben fest in unserer Heimatregion verwurzelt; wir bleiben Deutsche, Italiener, Belgier und Franzosen — und wir sind zugleich Europäer.
Wir müssen den Menschen mehr noch als bisher nahebringen, daß das Europa von Maastricht für sie da ist, daß Maastricht für ein demokratisches, für ein bürgernahes Europa steht, das die nationale Identität — die Kultur, die Traditionen und die Geschichte — aller Mitgliedstaaten und nicht zuletzt auch ihrer Landschaften und Regionen achtet und fördert. Wir haben mit diesem Vertrag eben nicht den Grundstein zu einem europäischen Über-Staat gelegt, der alles einebnet, sondern wir haben uns auf ein Europa verpflichtet, das auf den Grundsatz „Einheit in Vielfalt" gegründet ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

Der Vertrag von Maastricht stärkt zugleich die Rolle der Regionen, bei uns der Bundesländer. Innerstaatlich tragen wir dem durch die angestrebte Grundgesetzänderung Rechnung. Durch den zukünftigen Art. 23 werden die Interessen der Länder gesichert und zugleich elementare Prinzipien unserer gesamtstaatlichen Ordnung als Ziel für die Europäische Union festgeschrieben. Aber — und dies möchte ich mit allem Nachdruck hinzufügen — wir müssen in das europäische Einigungswerk weitaus stärker als bisher auch die Städte und Gemeinden in Deutschland und in Europa einbeziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Föderalismus — dies ist ein altes Thema, und es hat mit Parteipolitik nichts zu tun— betrifft ja nicht nur die Beziehung zwischen Bund und Ländern, sondern gleichermaßen die Beziehung zwischen Ländern und Kommunen. Bedeutung und Verantwortung der Länder und Gemeinden müssen vor allem in der Zusammenarbeit im grenznahen Raum sichtbar werden. Hier wird — jeder kann es erkennen — schon heute ein Stück europäischer Zukunft erfolgreich praktiziert. Denken Sie nur an die Kooperation zwischen Baden und dem Elsaß sowie dem Baseler Raum; denken Sie an das enge Zusammenwirken zwischen dem Saarland, Lothringen und Luxemburg oder im Aachener Drei-Länder-Eck — oder auch an die guten Beziehungen zwischen Schleswig-Holstein und dem Süden Dänemarks.

(Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD])

Meine Damen und Herren, unsere freiheitliche Demokratie lebt vom Engagement und der Eigenverantwortung der Bürger. Ihre Teilhabe am politischen Geschehen setzt voraus, daß Entscheidungen
nach Möglichkeit auf der Ebene getroffen werden, die ihnen am nächsten steht. Nur dies garantiert zugleich Sachnähe und Effizienz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Beim letzten Europäischen Rat in Lissabon wurde auf unseren Antrag ein Arbeitsprogramm zur Umsetzung des Prinzips der Subsidiarität beschlossen. Es ist unbedingt notwendig — auch das ist eine Erfahrung der letzten Monate —, daß wir diesen Begriff, der so schwer verständlich ist, in der Praxis rasch mit Leben erfüllen und damit auch zentralistische Fehlentwicklungen korrigieren. Es geht insgesamt darum, ein vernünftiges Gleichgewicht herzustellen, in dem Gemeinde und Region, Nationalstaat und Europäische Gemeinschaft ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen und so den Interessen der Bürger am besten dienen.
Dies bedeutet, daß die höhere Ebene nur dann tätig werden darf, wenn es unabweisbar notwendig ist, und daß sie sich nicht anmaßen darf, alles bis ins letzte Detail regeln zu wollen. Das gilt für alle, natürlich auch für Brüssel. Wir müssen wegkommen von einer Tendenz, alles und jedes dort regeln zu wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das heißt aber auch — wir sollten dies fairerweise hinzufügen —, daß nationale Verwaltungen ihre Verantwortung dort, wo sie gefordert ist, wahrnehmen und die unbequemen Dinge nicht einfach auf die Gemeinschaft abschieben.
Wir alle sollten uns selbstkritisch fragen, welchen Eindruck die oft zu beobachtende Regelungswut bei den Bürgern hinterläßt, und ob wir nicht Gefahr laufen, das europäische Einigungswerk dadurch in Mißkredit zu bringen. Dieser Vorwurf richtet sich nicht nur gegen Brüssel; das gilt gleichermaßen auch für die Mitgliedstaaten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

So manche europäische Regelung, die bei unseren Bürgern Kopfschütteln hervorruft, geht nämlich in Wahrheit oft auf nationale Vorstöße zum Schutz eigener — auch wirtschaftlicher — Interessen zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Mehrwertsteuererhöhung!)

Meine Damen und Herren, es wäre für mich ein leichtes, hier eine ganze Liste von Beispielen vorzutragen, wo aus allen gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland über das Europäische Parlament, über den Deutschen Bundestag — und aus ihm heraus — sowie über die Parlamente der Bundesländer Vorschläge gemacht worden sind und werden mit dem Ziel, bestimmte Interessen, die ja auch ganz legitim sind, auf europäischer Ebene durchzusetzen. Ich wende mich hier nur vor dem Forum der deutschen Öffentlichkeit gegen den pauschalen Vorwurf, „Brüssel" sei an allem schuld.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)




Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Ich plädiere vielmehr für eine faire Betrachtungsweise. Wenn man ehrlich ist, muß man zugeben, daß hier alle Mitgliedstaaten der EG, auch die Bundesrepublik Deutschland, seit Gründung der Gemeinschaft immer wieder gesündigt haben. Aus solchen Fehlern müssen wir lernen und die notwendigen Konsequenzen ziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der Vertrag von Maastricht hat den Rahmen und die Grundlagen für die Korrektur von Fehlentwicklungen und eine klare Ausrichtung hin zu einem wirklichen Europa der Bürger geschaffen. Es wird eine wesentliche Aufgabe der Sondertagung des Europäischen Rats im Oktober wie der Arbeit der kommenden Monate sein, hierfür die Weichen zu stellen.
Der Vertrag von Maastricht ist nach meiner festen Überzeugung eine geeignete und tragfähige Grundlage für die europäische Einigung. Wir werden an ihm festhalten. Es kommt jetzt darauf an, ihn richtig in die Tat umzusetzen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Unruhe an den europäischen Devisenmärkten hat verständlicherweise zu Fragen nach der weiteren europäischen Integration und der Umsetzung des Maastrichter Vertrages geführt. Es ist richtig, daß die Entscheidungen der italienischen und britischen Regierung, die Interventionen an den Devisenmärkten auszusetzen, ungewöhnlich waren. Aber sie waren eine notwendige Reaktion auf die auf gelaufenen volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte und die vom Umfang her bisher nicht gekannten spekulativen Devisenströme.
Die Gründe für die Spannungen im EWS sind vielfältig. Einseitige Schuldzuweisungen, wie sie in diesen Tagen gelegentlich in Europa zu hören sind, gehen an der Sache vorbei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Ereignisse der letzten Wochen waren natürlich nicht die Folge der deutschen Stabilitätspolitik. Im Gegenteil, Stabilitätspolitik ist das Fundament für das Vertrauen auf den Devisenmärkten und für geordnete Währungsverhältnisse.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich weiß, wie schwierig die Aufgabe der Deutschen Bundesbank in den letzten Wochen und Tagen war. Sie stand immer wieder vor schwierigen Entscheidungen. Ihre vorrangige Aufgabe als unabhängige Notenbank ist und bleibt es, die Geldwertstabilität in Deutschland zu sichern.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Sie hat bei der Erfüllung dieser Aufgabe die volle Unterstützung der Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deutschland leistet damit zugleich einen entscheidenden Beitrag zu einer Stabilitätsgemeinschaft und zu dauerhaftem Wachstum in Europa.
Meine Damen und Herren, die derzeitigen Probleme im EWS sind Folge unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten, die über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden waren. Trotz dieser Unterschiede blieben die EWS-Wechselkurse über viele Jahre unverändert. Wir wissen jedoch, daß es sich um ein System mit festen, aber anpassungsfähigen Wechselkursen handelt — und nicht um eine vorweggenommene europäische Währungsunion — auch das kann man gar nicht oft genug betonen.

(Beifall des Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD])

Dies gilt grundsätzlich bis zum Ende der zweiten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Beim Wechselkurs zwischen dem französischen Franken und der D-Mark besteht, wie beide Regierungen und Zentralbanken gemeinsam festgestellt haben, kein Anpassungsbedarf, weil in Frankreich überzeugende Stabilitätserfolge erzielt worden sind. Die Preis- und Kostensituation ist dort heute in wichtigen Bereichen — auch das sage ich hier gerne einmal — günstiger als bei uns in Deutschland.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Unterstreichen möchte ich, daß Spannungen im EWS kein Grund sind, das System selbst in Frage zu stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das EWS war eine wichtige Grundlage für die Integrationsfortschritte des letzten Jahrzehnts.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat es gemacht?)

Das gilt insbesondere für die Vollendung des Binnenmarktes und damit auch für die Investitions- und Wachstumsimpulse, die hiervon ausgegangen sind und noch ausgehen. Das EWS ist zugleich die Grundlage, von der aus wir das nächste Ziel — die Wirtschafts- und Währungsunion — ansteuern.
Die Turbulenzen auf den Devisenmärkten haben zu einer schwierigen Situation geführt. Aber gerade diese Erfahrungen haben das Konzept des Vertrags von Maastricht für die Wirtschafts- und Währungsunion, wie ich denke, eindrucksvoll bestätigt.

(Ulrich Irmer [F.D.P.]: So ist es!)

Die Schlußfolgerung, meine Damen und Herren, lautet einmal mehr: Ein funktionsfähiger einheitlicher Währungsraum kann nur durch gleichgerichtete wirtschaftspolitische Anstrengungen, insbesondere über eine entschlossene Stabilitätspolitik jedes einzelnen Mitgliedslandes, erreicht werden. Es zeigt sich jetzt, wie wichtig es war und bleibt, daß in den Vertrag von Maastricht klar formulierte Prüfsteine für den Eintritt in die Währungsunion aufgenommen wurden.

(Beifall des Abg. Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.])

Wer diese strengen Kriterien aufweichen will, der muß wissen, daß dies schlimme Folgen hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ungeachtet aller Schwierigkeiten in diesen Tagen dürfen



Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
wir unser großes Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es ist und bleibt eine Aufgabe von historischer Bedeutung für unsere Zukunft, die von uns gewünschte Europäische Union zu vollenden. So will es auch unser Grundgesetz. Es fordert uns auf, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen".
Ich weiß, daß der tiefgreifende Wandel in Europa, dessen Zeuge wir alle seit einigen Jahren sind, viele Menschen in Europa und auch in Deutschland verunsichert. Sie fragen sich, ob nicht das Tempo der Veränderungen zu schnell sei. Meine Gegenfrage ist: Können wir uns überhaupt eine langsamere Gangart leisten? Schon einmal, bei der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, haben wir erlebt, daß es darauf ankommt, eine einmalige Chance beherzt zu ergreifen. Ich bin überzeugt, daß dies auch im Blick auf die europäische Einigung so gilt. Abwarten wäre die falsche Antwort, und Stillstand wäre Rückschritt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern mutig nach vorn gehen. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß wir schon bald von den Ereignissen überrollt werden,
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts steht die Europäische Gemeinschaft in einer besonderen Verantwortung für den ganzen Kontinent. Je schneller wir sie in die Lage versetzen, dieser Verantwortung besser gerecht zu werden, desto erfolgreicher können wir die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft bestehen. Polen und Ungarn, Tschechen und Slowaken und viele andere in Mittel-, Ost- und Südosteuropa setzen ihre Hoffnung auf die Europäische Gemeinschaft, auf die Einigung Europas. Wir dürfen diese Hoffnung nicht enttäuschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

Die Außen-, die Sicherheits- und die Europapolitik entscheiden über unser aller Schicksal. Gerade wir Deutschen können uns am wenigsten provinzielles Denken und nationalen Egoismus leisten.
Die Bundesregierung und ich selbst werden in den kommenden Wochen und Monaten deshalb mit aller Kraft dafür arbeiten, daß der Vertrag von Maastricht wie vorgesehen in Kraft gesetzt wird. Deutschland ist unser Vaterland, Europa unsere Zukunft.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210800200
Als nächster spricht der Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, Herr Engholm.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210800300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mein erstes Wort an die Freunde und Freundinnen in Frankreich richten.

(Zurufe von der CDU/CSU) — Auch Sie werden es noch lernen.


(Heiterkeit bei der SPD)

Die Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler hat Europa einen großen Dienst erwiesen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir uns erinnern: Drei Tage vor der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich im Jahre 1914 wurde Jean Jaurès in Frankreich von einem Attentäter erschossen. Vorher wurde Jaurès als „Jaurès der Deutsche" beschimpft.
Wenn Sie ein anderes Beispiel nehmen: In den letzten Tagen der Weimarer Republik schrieb Carlo Mierendorff in einem Neujahrsartikel: „Besinnung auf Europa tut not".
Was wäre Europa erspart geblieben, wenn man damals auf solche französischen und deutschen Europäer rechtzeitig gehört hätte!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich glaube, Besinnung auf Europa tut auch heute wieder not. Es geht dabei inzwischen um viel mehr als nur um den Vertrag von Maastricht. Es geht um das Zukunfts- und damit das Selbstbewußtsein des neuen Deutschland, und es geht um die Zukunft des gesamten Kontinents Europa.
In den Tagen, als in Berlin die Mauer fiel, hat Europa in einer unglaublichen Einmütigkeit ja zu Deutschland gesagt. Jetzt ist es an der Zeit, daß Deutschland diese Anwort zurückgibt und uneingeschränkt ja zum wachsenden Europa sagt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allen Kritikern im Ausland — und es gibt inzwischen wieder, wie ich finde, mehr als genug — muß man sagen: Wer Furcht hat vor Deutschland, und sei sie noch so unbegründet subjektiv vorhanden, der muß wissen: Ein integriertes Deutschland in einem integrierten Europa ist in der Zukunft der beste Weg für alle Nachbarn und die Deutschen selbst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Ich teile die Auffassung, die auch der Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht hat: Nationale Gefühle und europäische Verantwortung, Liebe zur Heimat und Weltoffenheit schließen sich nicht aus. Die politischen Farben des neuen Deutschland in der Zukunft müssen republikanisch, sozial und europäisch sein.
Mir scheint in diesen Tagen noch wichtiger zu sein, daß die Europäische Gemeinschaft inzwischen der eigentliche Stabilitätsanker des ganzen Europa ist. Ob dieser Anker hält oder ob auch Westeuropa in den Strudel der osteuropäischen Krise hineingerissen wird, auch darüber entscheiden wir mit unserem Votum für Europa.
Die Hoffnung, die wir alle hatten, die Dämonen der Vergangenheit würden gebannt werden, hat sich als Illusion erwiesen. Überall im Osten Europas ist die Pandorabüchse der Vergangenheit wieder geöffnet. Es gibt abgrundtiefen Völkerhaß im ehemaligen Jugoslawien, bewaffnete Auseinandersetzungen in vielen Staaten der GUS. Es gibt Tschechen und Slowaken, die sich trennen. Zahllose alte und neue



Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

ethnische Konflikte brechen auf. Soziale und ökologische Mißstände treiben Millionen Menschen aus ihrer Heimat heraus.
Aber auch im Westen stehen die Warnzeichen an der Wand. Zu viele Zukunftsängste werden zu leichtfertig umgegossen in antieuropäische Parolen. Das Nein zur EG wird stärker, nationalistische Tendenzen wachsen bedrohlich sichtbar. Ich meine, die politisch einzige Antwort heißt jetzt, Europa vor dem schrecklichen Irrweg in den alten oder in jeden neuen Nationalismus zu bewahren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Denen, die heute zögern und skeptisch sind, sage ich: Ein Nein muß nicht nur Stagnation der Gemeinschaft bedeuten; wer nein sagt, riskiert den Zerfall der Europäischen Gemeinschaft insgesamt und damit ihren Rückfall in egoistische Kleinstaaterei mit all den Folgen, die wir aus der Geschichte kennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich bitte von dieser Stelle mit Nachdruck auch die britische Präsidentschaft, alles zu tun, damit das knappe aber gleichwohl deutliche Resultat in Frankreich nicht mißbraucht wird, um die EG schleichend in eine Freihandelszone zurückzuverwandeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dies würde Europa immens schwächen in einer Zeit, in der dieses Europa besonders stark sein muß. Ich bin davon überzeugt, auch unsere britischen — ich darf ja nicht sagen: Freundinnen und Freunde; oder doch? — werden begreifen, daß ein geschwächtes Europa auch für Großbritannien keine erstrebenswerte Zukunft ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir können die Zustimmung für Europa erhalten, indem wir zunächst aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Ich glaube, es ist richtig, deutlich zu sagen, daß viel zu lange Regierungen, Ministerräte und Bürokraten Europa zu einer geheimen Kabinettssache gemacht haben. Auch der Vertrag von Maastricht ist so entstanden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich stimme dem Bundeskanzler zu, daß viel zu lange Regierungen, auch — das sei deutlich unterstrichen — die deutsche Regierung, die EG als Ausrede mißbraucht und Brüssel in die Schuhe geschoben haben, was sie selbst zu verantworten hatten.

(Beifall bei der SPD)

Und viel zu lange wurden dem Europäischen Parlament Rechte verweigert, die für dieses Haus eine absolute Selbstverständlichkeit sind. Diesen Zustand müssen wir ändern.

(Beifall bei der SPD)

Ich bedaure auch, daß immer noch — auch in großen und bedeutenden Blättern der Presse und in elektronischen Medien — über die Lasten der europäischen Einigung geklagt, während über ihre historischen und ökonomischen Leistungen nachdrücklich geschwiegen wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Dabei haben Völker, die über Generationen blutige Kriege gegeneinander führten, erstmals innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sichtbar dauerhaften Frieden geschlossen. Millionen von Menschen in Deutschland, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, leben vom gemeinsamen Markt. Die Wirtschaftsnation Deutschland ist nicht, wie immer wieder gesagt wird, der Zahlmeister der EG, sie hat von dieser EG rechenbar und nachweisbar am meisten profitiert. Das müssen die Deutschen jetzt sehen und begreifen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber die Gemeinschaft ist nicht nur eine große Wirtschaftsmacht. Sie ist auch die erfolgreichste Friedensorganisation, die wir in der Geschichte dieses Kontinents bis zum heutigen Tage gekannt haben.
Inzwischen sind Europamüdigkeit und Politikverdrossenheit eine unheilvolle Allianz eingegangen. Ich glaube, dagegen helfen keine Plakate. Ich bin skeptisch, ob uns der Ruf nach einer Volksabstimmung in dieser Frage wirklich weiterhilft.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man mag darüber streiten, aber ich glaube, wir können unsere gute Verfassung, über deren Reform wir gegenwärtig mit Anstand streiten und die vier Jahrzehnte das Institut des Plebiszits nicht offeriert hat, nicht im Handumdrehen umstülpen. Ich glaube deshalb — die, die anderer Meinung sind, mögen es mir nachsehen —: Wenn wir, was ich möchte, plebiszitäre Elemente in die Verfassung einfügen, sollte der erste plebiszitäre Akt die Abstimmung über die neue Verfassung des gesamten Deutschland sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Die richtige Antwort auf die Vertrauenskrise sind jetzt vertrauensbildende Maßnahmen zur Reform der Gemeinschaft. Manches davon ist im Vertrag von Maastricht enthalten. Es ist unverzichtbar, daß wir uns auf den Weg einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik begeben; denn eine Gemeinschaft, die in der Zukunft nicht mit einer Stimme spräche, wäre in der heutigen Welt eine Gemeinschaft ohne Gewicht. Es ist ein Fortschritt, eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion anzustreben. Die EG wird den Kampf gegen Spekulationen, gegen Herausforderungen aus dem Fernen Osten gemeinsam bestehen, oder sie wird daran untergehen.

(Beifall bei der SPD)

Aber: Maastricht ist nur ein Schritt in die richtige Richtung. Ich schlage vor, wie schon in den vergangenen Monaten auch durch unsere Fraktion zum Ausdruck gebracht, daß wir im Ratifizierungsverfahren im Bundestag und Bundesrat drei Sicherungen



Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

gegen weitere Fehlentwicklungen der EG einbauen.
Erstens. Wir wollen zugrunde legen, daß die künftige Europäische Union demokratisch sein muß. Das heißt: Ein gouvernementales Europa ohne starke demokratische Beteiligungs- und Kontrollrechte darf es mit deutscher Stimme nicht geben.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Wir müssen eine deutliche Trendwende zustande bekommen hin zu mehr und deutlicherer Subsidiarität. Das heißt, wir müssen zentralistische Fehlentwicklungen, die es gegeben hat, in der Zukunft vermeiden. Wir wollen ein Europa, in dem Identitäten und regionale Eigenständigkeiten ein unverrückbares Heimatrecht besitzen.
Drittens. Keine Währungsunion kann ohne das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in eine gemeinsame Währung wirklich erfolgreich sein. Deshalb, Herr Bundeskanzler, glaube ich, daß es ein Fehler war, in Maastricht eine Art Automatismus für den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion unterschrieben zu haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir schlagen deshalb vor, daß Bundestag und Bundesrat vor dem Übergang zur letzten Stufe erneut eine qualifizierte Beratung abhalten. Ich glaube, daß für die Entscheidung in der Zukunft gilt: Harte Stabilitätskriterien sind wichtiger als abstrakte Zeitpläne.

(Beifall bei der SPD)

Und schließlich: Ich glaube, daß die Gemeinschaft ihre sozialpolitische Schlagseite loswerden muß. Es ist unerträglich, daß Versicherungsrichtlinien in Europa in zwölf Monaten verabschiedet werden können, aber die Mitbestimmung der Arbeitnehmer schmort zwölf Jahre in der Schublade. Diese Schlagseite muß beendet werden.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt im übrigen keinen Grund, jetzt nicht auch an der Erweiterung und der Öffnung der Gemeinschaft festzuhalten. Die EFTA-Staaten sollen, wenn sie es möchten, ab 1. Januar 1995 Mitglied der EG sein können. Nach wie vor sollten wir auch für Dänemark, unser Nachbarland, die Tür zur Europäischen Union weit offenhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch die Länder im Osten Europas, die große Hoffnungen auf die Europäische Gemeinschaft setzen, dürfen nicht enttäuscht werden. Durch unterschiedlichste Kooperations- und Assoziierungsabkommen muß ihre Bindung an die Gemeinschaft verstärkt werden. Ich warne jedoch vor leichtfertigen Zusagen über schnelle EG-Beitritte mittel- und osteuropäischer Reformstaaten. Klar ist für uns: Eine Europäische Gemeinschaft, die von Wladiwostok bis nach Lissabon oder vom Nordkap bis nach Nordafrika reicht, ist weder denkbar noch wünschenswert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, ein klares Wort muß auch an die Adresse des Partners Türkei gesprochen werden. Es gibt viele gute Gründe für eine besondere Beziehung zwischen Türken und Deutschen. Den Ausbau dieser besonderen Beziehungen sind wir nicht zuletzt den Menschen aus der Türkei schuldig, die heute bei uns leben und arbeiten. Aber eine EG-Mitgliedschaft der Türkei in absehbarer Zeit wäre von beiden Seiten, weder von der Türkei noch von der Gemeinschaft, zu verkraften.
Die Beziehungen sollten konkret verbessert und weiterentwickelt werden. Dabei gilt, glaube ich, am besten der gute alte sozialdemokratische Grundsatz: Wirtschaftshilfe — gerade in bezug auf die Türkei — ist besser als Militärhilfe.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Ich glaube, sagen zu dürfen: Starke Menschenrechte in der Türkei sind der beste Beitrag der Türken zu einer engen Partnerschaft mit Europa.

(Beifall bei der SPD)

Alles das, was wir jetzt vor uns haben, wird nicht gelingen, wenn wir es nicht schaffen, die ganze Faszination, die mit dem zusammenwachsenden Kontinent verbunden ist, gerade auch jungen Menschen neu zu erschließen. Europa und die Europäische Gemeinschaft, das ist wirklich weit mehr als die Bürokratien, über die wir manchmal klagen, das ist weit mehr als nächtliche Agrarministersitzungen mit einem nicht so günstigen Ausgang. Europa, das ist eine unglaubliche kulturelle Vielfalt, die sich unseren Eltern nicht erschließen konnte, weil Grenzen sie daran gehindert haben, sie für sich nutzbar zu machen. Wenn man bedenkt, welche Chancen unsere jungen Menschen in dieser einen Erlebnisgeneration nach dem Kriege heute besitzen, sich Sprachen zu erschließen, Dialekte zu pflegen, Lebensweisen zu haben, Landschaften zu erkunden, dann ist es, wie ich finde, etwas Grandioses, was sich in der letzten Generation auf diesem Kontinent getan hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste )

Bedenken wir einmal, was uns an geistigem Rüstzeug zur Verfügung steht, von der Fülle der geistigen Traditionen des Christentums, von den großen Wurzeln der Aufklärung, vom jüdischen Geistesleben bis hin zu den großen Traditionen der sozialen Demokratie: Wir können aus diesem Kontinent noch weit mehr machen. Wir stecken, wie ich glaube, erst am Anfang grandioser weiterer Möglichkeiten.
Schauen wir uns die Vielfalt der Künste an: von den riesigen Architekturen und Philosophien, von dem Zugang von Kundera und Pavarotti, von den Beatles bis hin zu Hermann Hesse, von Bartok zu Feuchtwanger, von Wajda zu Günter Grass.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

— Ich muß jemanden vergessen haben, den Sie besonders schätzen.

(Heiterkeit)




Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

Ich will damit folgendes sagen: Die Faszination dieses Kultureuropas müssen wir pflegen, bewahren, fördern, erschließen. Ich denke, dies ist für uns allemal faszinierender als jedes „Dallas", jedes „Denver", jedes „Tuttifrutti", was immer man sich vorstellen kann.

(Beifall bei der SPD)

Eine Entscheidung, die für Europa von höchster Bedeutung ist, wird hier in Bonn getroffen: Es ist die über die Steuern und Finanzen in Deutschland. Da die Bundesregierung bis heute zu einer soliden Einheitsfinanzierung nicht fähig ist,

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Was?)

hat sie die Bundesbank zu einer Hochzinspolitik genötigt. Wer heute in Europa, von dieser Hochzinspolitik belastet, die Bundesbank öffentlich kritisiert, meint in Wahrheit die Politik dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich gehe davon aus, daß Sie z. B. auch die Berichte des IWF lesen.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich war sogar dabei!)

Deshalb glaube ich, die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme, die man für Europa und weite Teile der Welt in Deutschland ergreifen kann, ist die Rückkehr zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland.

(Beifall bei der SPD)

Die Sozialdemokraten waren am Aushandeln des Vertrages von Maastricht nicht beteiligt. Sie hätten sich in manchen Punkten einen besseren Vertrag gewünscht. Gleichwohl, es ist ein akzeptabler Kompromiß der zwölf beteiligten Partner entstanden, den wir aus Verantwortung für die Zukunft Deutschlands und Europas unterstützen werden.

(Beifall bei der SPD)

Das Ergebnis in Frankreich, das auch der Bundeskanzler erwähnt hat, ist Anlaß zum Nachdenken und zum Lernen aus Fehlern, aber es ist auch ein Anlaß, wie ich finde, Mut zu schöpfen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)

Es ist einige Jahre her, da lehnte es der Gemeinderat von Bisheim im Elsaß ab, den dort geborenen und im Widerstand gegen Hitler ermordeten Julius Leber zu ehren, weil er dort als Deutscher in Erinnerung war. Kurz darauf hat sich der Bürgermeister der Gemeinde Bisheim beherzt über diesen Beschluß hinweggesetzt. Seit jener Zeit gibt es für den deutschen Widerstandskämpfer in Frankreich einen „Place Jules Leber", über dem bei festlichen Anlässen die Europafahne weht.
Am Sonntag haben fast 70 % der Elsässer für Europa gestimmt. Ich finde, das sind Zeichen, die Mut machen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir, glaube ich, würden als Deutsche unsere Geschichte leugnen, wir würden unseren Kindern den falschen Weg weisen, wenn wir diesen Zeichen des Mutes in Frankreich nicht ein deutliches deutsches Ja folgen ließen.

(Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210800400
Als nächster spricht der Abgeordnete Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1210800500
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit beginnen, daß ich mich als Europäer über das Ja unseres wichtigsten Nachbarn schlicht freue. Wie es früher eine Unfähigkeit zu trauern gab, gibt es heute in unserer Gesellschaft manchmal eine Unfähigkeit, sich über Dinge zu freuen, die wichtig sind.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mir kommt in der öffentlichen Debatte zuwenig die Rede darauf, was ein Nein in Frankreich wirklich bedeutet hätte: Es hätte zu einer Lähmung der europäischen Bewegung geführt, es hätte einen weiteren wirtschaftlichen konjunkturellen Abstieg vorprogrammiert, und es hätte ein endgültiges Scheitern der GATT-Runde mit katastrophalen Konsequenzen zur Folge gehabt. Jedem von uns ist hoffentlich klar, daß ein Nein aus Frankreich uns Europäer auf der internationalen Ebene verhandlungsunfähig gemacht hätte, mit allen Konsequenzen für Wachstum, Arbeitsplätze und soziale Stabilität.
Umgekehrt heißt dies jedoch: Wir bringen die Europäische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion nur weiter, wenn wir uns jetzt diesem Ja unseres wichtigsten Nachbarn auch in Deutschland wirklich würdig erweisen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Wir Liberalen sehen hier drei unabdingbare Notwendigkeiten:
Erstens. Wir stimmen mit allen Fraktionen überein: Europa muß demokratischer werden. Es muß mehr Rechte für das Europäische Parlament, aber auch für unseren Bundestag geben. Das ist jedoch keine Kritik an der Regierung. Niemand hat dies so entschieden gefordert, aber wir müssen zunächst einmal unsere Schwesterparteien in Frankreich und in England davon überzeugen, daß sie von sich aus bereit sind, an das Europäische Parlament zu übertragen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Zweitens. Dieses Europa muß konkreter, klarer, anfaßbarer, nachvollziehbarer, bürgernäher und direkter werden, um nicht das schreckliche Wort von der Subsidiarität zu gebrauchen, mit dem wir keinen Bürger überzeugen können, das unverständlich ist.
Drittens. Europa muß in die Herzen der Bürger. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es sich derzeit nicht nur um eine Europamüdigkeit handelt, sondern teilweise um eine Europafeindschaft. Europa bekommt immer mehr eine Sündenbockfunktion für Populisten und für überforderte Verbände.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dies ist fatal.




Dr. Helmut Haussmann
Ich kann der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, daß es ein Riesenfehler war, die Aufklärungskampagne über Maastricht erst jetzt, nach dem Referendum in Frankreich, zu starten und nicht sofort nach dem Tag, an dem der Vertrag von Maastricht beschlossen wurde.
Aber täuschen wir uns nicht: Politiker, Parteien, Informationsämter allein haben keine Chance. Wir brauchen dringend die Gesellschaft, wir brauchen angesehene Bürger wie Wissenschaftler, Künstler, Sportler, Publizisten, die für Europa in unserer Gesellschaft einstehen. Wir müssen mit der Schizophrenie in unserem Alltag aufräumen: Bei der Arbeit sind die Menschen überwiegend Profiteure von Europa und am Stammtisch Europagegner. Es ist doch absurd: Man produziert tagsüber Autos für Frankreich, man protzt mit den Urlaubsbildern aus Spanien, man fiebert dem Europacup-Endspiel entgegen, macht aber am Stammtisch weiter Stimmung gegen Europa.
Noch absurder ist für mich folgendes. Viele Medienvertreter und Manager, die in Talkshows die Europamüdigkeit schüren, machen tagsüber das große Geld mit Europamarketing und mit Europavisionssendungen. Diese Schizophrenie im Denken muß aufhören, wenn wir in Europa vorankommen wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich finde, so wie es heute in jedem großen Unternehmen, in jedem Verband oder in den Gewerkschaften eine Task Force für den Umweltschutz gibt — und das ist richtig so —, so notwendig wird es in Zukunft sein, daß die Europavision in Großunternehmen, in Gewerkschaften, in großen Verbänden auch organisatorisch und personell verankert sein muß.

(Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Wie geht es nach dem Ja in Frankreich weiter? Ich hoffe, wir werden wie geplant ratifizieren, sicher mit Ergänzungen, mit Verklarungen — das ist okay —, aber nicht mit einem anderen Vertragstext. Dies können wir den kleinen Ländern, die bereits ratifiziert haben, aber auch dem französischen Ja nicht antun.
Meine Damen und Herren, ich will etwas zur Europawährung sagen. Die D-Mark ist heute schon der Stabilitätsanker. Die jetzigen Ereignisse im EWS sind letztlich ein großes Kompliment an die D-Mark.

(Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Nicht nur wegen des hohen Zinses ist die D-Mark so stabil, sondern weil unverändert eine gute Wirtschaftspolitik das Fundament dafür ist. Ich bin gegen eine Kunstwährung.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210800600
Herr Abgeordneter Haussmann, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. — Ich wäre dankbar, wenn die privaten Sprechstunden an der Regierungsbank auf ein Minimum beschränkt würden. Man kann es auch übertreiben.
Herr Dr. Haussmann, Sie können fortfahren.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1210800700
Vielen Dank, Herr Präsident.
Wir müssen unsere Stabilitätserfahrung, unsere Stabilitätseinrichtungen, nämlich die unabhängige Bundesbank, und Frankfurt am Main als Sitz der Europäischen Zentralbank in Europa einbringen, damit aus unserer stabilen Deutschen Mark eine ebenso stabile europäische Mark als die Währung der Europäer wird. Davor braucht sich niemand zu fürchten.

(Beifall bei der F.D.P.)

Ich stimme weitgehend mit den Sozialdemokraten überein: Natürlich gibt es keine Automatik. Aber umgekehrt ist auch richtig: Wir Deutschen, die Regierung, das Parlament, die Deutsche Bundesbank, haben die stabilsten Kriterien in Maastricht verankert. Wenn europäische Länder diese Voraussetzungen erfüllen, kommt es in der Tat zu einer Automatik, die wir ja wollen.
Aber umgekehrt, meine Damen und Herren, müssen Sie sich die Feststellung gefallen lassen: Wenn Deutschland und andere Länder diese Stabilitätskriterien erfüllen, darf es aus deutscher Sicht keinen Ausstieg, kein Opting Out geben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Diese Diskussion ist in England und leider auch in Dänemark längst angelaufen. Wir müssen uns als Deutsche darüber im klaren sein: Entweder gibt es eine europäische Währung mit der D-Mark, oder es gibt keine europäische Währung. Insofern ist der Parlamentsvorbehalt relativ klar: Entweder sind die Voraussetzungen gegeben — dann wird das Parlament mit Ja stimmen —, oder die Voraussetzungen sind nicht gegeben; dann gehe ich davon aus, daß jede deutsche Regierung bereits bei der Regierungskonferenz mit Nein stimmen wird. So einfach ist das.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich bitte die Sozialdemokraten, nicht in Populismus zu verfallen und in der Bevölkerung die Illusion zu schüren, man behalte sich das ja zur Europawährung bis zum letzten Zeitpunkt offen und steige eventuell aus.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210800800
Herr Dr. Haussmann, der Abgeordnete Conradi möchte eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1210800900
Bitte schön.

Peter Conradi (SPD):
Rede ID: ID1210801000
Herr Kollege, hält die Koalition an der Forderung nach der Unabhängigkeit der europäischen Notenbank fest, insbesondere nachdem der französische Präsident in klarer Abweichung vom Vertrag deren Unabhängigkeit in Frage gestellt hat?

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1210801100
Ja, sie hält unverändert daran fest, unterstützt durch die Fraktionen. Ich freue mich, daß Ihre Fraktion von ihrem früheren Antrag abgegangen ist. Noch am 9. November 1991 wollten Sie ja, daß die unabhängige Währungsbank gesamtwirtschaftlichen Zielen in Europa verpflichtet



Dr. Helmut Haussmann
wird. Heute sind Sie auf unserer Linie, indem Sie sagen: Sie ist ausschließlich der Preisstabilität verpflichtet.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: So ist es!)

Ich will für die Freien Demokraten wiederholen: Die D-Mark wird nicht auf dem Altar Europas geopfert, sondern es ist im Grunde umgekehrt, die stabile D-Mark wird europäischer Stabilitätsanker, sie wird zur europäischen Mark. Für die Bevölkerung in Deutschland ist entscheidend, daß die deutsche Regierung in Edingburgh den engen Zusammenhang zwischen europäischer Währung und Währungsbank in Frankfurt am Main herstellt.

(Beifall bei der F.D.P.)

Nur in Frankfurt am Main gibt es eine Bankenwelt, gibt es eine Stabilitätskultur. Daher kann nur Frankfurt am Main Sitz der europäischen Währungsbank werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zum Schluß möchte ich sagen: Wir nehmen die Bedenken der Bürger sehr ernst, aber wir dürfen uns in Europa unseren Schneid nicht von den Populisten abkaufen lassen. Ohne weitere Fortschritte beim Bau des europäischen Hauses würden wir vor der Geschichte versagen.
Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210801200
Das Wort hat der Abgeordnete Peter Kittelmann.

Peter Kittelmann (CDU):
Rede ID: ID1210801300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler Kohl, ich darf Ihnen im Namen der CDU/CSU für Ihr engagiertes und unbeirrbares Eintreten für die europäische Einigung unseren allerherzlichsten Dank sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir werden uns in den nächsten Wochen und Monaten gemeinsam — nicht nur der Bundeskanzler, nicht nur die Mitglieder der Regierung, nicht nur Herr Engholm, der heute hier eine engagierte Rede gehalten hat, sondern wir alle gemeinsam — der Aufgabe nicht entziehen können, mit dem Bürger zu diskutieren.
Als wir am vergangenen Sonntag auf die ersten Hochrechnungen beim französischen Referendum warteten, war uns allen unabhängig von dem knappen Ausgang, der ja erwartet wurde, klar — ich bin sicher, Sie stimmen mit mir überein —: Die Europapolitik muß in Zukunft engagierter, offener, transparenter und durchaus auch kontrovers gestaltet werden. Desinteresse und Desinformationen bilden eine unheilige Allianz, die zu unbegründeten Ängsten führt und im Nachkarten nur sehr schwer auszuräumen ist.
Wir Europapolitiker bemühen sehr gern das Bild vom europäischen Haus. Ich kann nur sagen: Wenn wir die Baupläne nicht übersichtlicher und in ver-
ständlicher Form vorlegen, werden die Bürger nicht in dieses Haus einziehen; sie sind zum Teil dabei, wieder ausziehen zu wollen.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das gilt ja sogar für den Bundestag!)

Kommissionspräsident Jacques Delors hat uns vor wenigen Tagen bei einem Besuch des EG-Ausschusses gesagt, daß es sich bei der jetzigen Krise um ein wesentliches Verhaltensmuster unserer Gesellschaft handelt. Man mag Delors zustimmen, aber das entbindet die Europapolitik nicht von ihrer Verantwortung. Im Gegenteil, sie wird zur Verantwortung gerufen. Europa wird damit zu einem Prüfstein für die Frage, wie es uns Politikern gelingen kann, die immer deutlicher werdende Kluft zwischen Bürgern und Politik zu schließen. Ich denke, wir sollten gemeinsam — Herr Engholm, Ihre Rede war dazu ein wesentlicher Beitrag über die Parteigrenzen hinweg — in den Bereichen, in denen wir gemeinsame Vorstellungen haben, auch zu einer gemeinsamen Sprache finden. Diese gemeinsame Sprache ist letztlich die Voraussetzung für die eingeforderte Durchschaubarkeit europäischer Entscheidungsprozesse.
In diesem Zusammenhang, Herr Engholm, ist Ihnen die CDU/CSU auch dankbar für die Klarstellung, daß auch für die Sozialdemokraten ein Referendum über Maastricht nicht zur Frage steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es ist wichtig, daß die von Außenseitern in Ihrer Partei immer wieder aufgeworfene Frage damit vom Tisch ist.
In Zeiten, in denen sich die politischen Ereignisse überschlagen und die Bürger vehement gegen politische Entwicklungen demonstrieren, neigt man zu Vereinfachungen. Lassen Sie mich darum kurz auf zwei scheinbar gegensätzliche Grundstimmungen in der Bevölkerung eingehen, die die Europäische Gemeinschaft in ihren Grundfesten betreffen. Auf der einen Seite bemerken die Bürger tagtäglich die Unmenge an internationalen Abhängigkeiten, die das politische und gesellschaftliche Leben in mannigfacher Weise bestimmen. Diese Abhängigkeiten sind so vielfältig und teilweise auch so überraschend, daß sie für viele Bürger — aber auch Politiker — nicht mehr überschaubar und vor allen Dingen nicht mehr beeinflußbar erscheinen. Daraus resultieren Unsicherheiten, Unbehagen, Sorgen und Ängste. Was zu kompliziert erscheint, wird abgelehnt oder zumindest ignoriert. Auf der anderen Seite aber wissen doch auch viele, wie wichtig das Netz europäischer oder gar weltweiter Verknüpfungen ist, damit man in der modernen Welt überhaupt existieren oder wirkungsvoll handeln kann.
Entscheidend wird es darum sein, das Netz so zu knüpfen, daß sich die Knoten an der richtigen Stelle finden. Ratlosigkeit und Unbehagen machen sich ja bei vielen auch deshalb breit, weil sie ein gemeinsames europäisches Handeln vermissen: in der Außen-
und Sicherheitspolitik am Beispiel Jugoslawien, in der Innen- und Rechtspolitik am Beispiel Asyl oder am Beispiel organisierter Kriminalität. Ich bin der Überzeugung, daß die Bürger nicht gegen Europa sind, sondern gegen ein Europa, das sie nicht fassen



Dr. Peter Kittelmann
können, das abstrakt bleibt, das scheinbar nationale und regionale Interessen ignoriert, die Einflußnahme einzelner Länder beschneidet, viel Geld kostet, in der Außenwirkung wenig überzeugend ist und sich nur mäßig demokratischer Kontrolle verpflichtet fühlt. Das ist der Tatbestand, aber eben nur die eine Hälfte.
Die andere Hälfte des Tatbestandes ist der Vertrag zur Europäischen Union. Der Herr Bundeskanzler hat eben in der Regierungserklärung den Inhalt noch einmal sehr plastisch dargestellt. Es handelt sich dabei um ein Kompromißpapier, das zwölf Länder mit ihren je eigenen Interessen und Wünschen mittragen sollen. Die Gretchenfrage lautet nun also: Reagiert der Vertrag auf den von mir skizzierten Tatbestand, nämlich einer Grundstimmung, die sich aus Angst vor einem Zuviel an Abhängigkeit und dem Wunsch auch nach enger Zusammenarbeit in ganz bestimmten Bereichen begründet? Der Vertrag reagiert darauf; aber es gibt zwei Schwierigkeiten, erstens:
Er reagiert nicht in dem Maße, in dem es sich die Bundesregierung und wir alle erhofft haben. Er tut es deshalb nicht, weil andere Länder dies bisher verhindert haben, z. B. daß es mehr Demokratie und eine gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik so gibt, wie wir es erwartet haben und erwarten.
Zweitens: Die tatsächlich erreichten positiven Ansätze konnten bisher nicht genügend vermittelt werden.
Für uns, die CDU/CSU, wird es nun also in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, deutlich zu machen, daß der Vertrag genau in den Punkten die ersten Schritte macht, wo sich die Bürger auch gemeinschaftliche Schritte erhoffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

So müssen sie wissen, daß ein Mandat für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erst mit der Ratifizierung gegeben ist. Dazu wird der Kollege Lamers gleich sehr ausführlich Stellung nehmen. Über Klarstellung oder Präzisierung wird zu reden sein. Aber dies muß öffentlich geschehen. Schlimmer nämlich noch als Fehlurteile sind Vorurteile, weil sie sich vernünftiger Argumentation verschließen. Der Bürger wird sich nur mit dem identifizieren, was er zuvor nachvollzogen hat. Teil Europas kann er nur sein, wenn er am Entstehungsprozeß teilnimmt. Dies ist bisher nicht so geschehen, wie wir es uns gewünscht haben. Das gilt übrigens genauso für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, und ich habe auch Verständnis dafür, daß die Länder hier ihr Recht einfordern.
Die Präambel des Vertrages zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, meine Damen und Herren, beruht auf der leidvollen Erfahrung zweier Weltkriege. Der österreichische Vizekanzler Busek hat vor kurzem gesagt: Der Mosaikteppich der inneren Konflikte kann eine Art Dritter Weltkrieg sein, aber es könnte statt dessen eben auch eine neue Welt entstehen. Genau an dieser Nahtstelle zwischen Risiko und Chance entsteht der Vertrag zur Europäischen Union — um die Chancen zu nutzen. Die Präambel des EWG-Vertrages hat dies angekündigt. In ihr bekunden die unterzeichnenden Staaten, die Wirtschaftsgemeinschaft gegründet zu haben — ich zitiere —
in dem festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen.
Diesem Ziel will der Vertragstext näherkommen, und er bereichert damit die Gemeinschaft um eine neue Qualität. Die CDU/CSU folgt genau in ihrer Politik dieser Richtlinie und wird auch dabei bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich bin ein überzeugter Europäer und möchte mithelfen, daß jeder Bürger die Vorteile Europas auch erkennt. Es muß uns wieder gelingen, das persönliche Interesse des Bürgers für sein eigenes Wohlergehen mit der Unabdingbarkeit einer erfolgreichen Zukunft Europas zu verbinden. Die Argumente liegen auf der Hand, aber sie müssen auch genannt und vermittelt werden. Der jetzige Wohlstand — der Bundeskanzler hat das klar herausgestellt — resultiert aus einem europabedingten Aufschwung. Der Binnenmarkt vernichtet nicht Arbeitsplätze; er schafft zahlreiche neue. Der Absatzmarkt für unsere Waren wird nur durch ein gemeinsames starkes Europa gesichert. Offene Märkte und den Abbau von Protektionismus gibt es nur bei Vollendung des Binnenmarktes und eines gemeinsamen Europas. Nur eine gemeinsame Asylpolitik wird verhindern können, daß langfristig mehr und mehr Wirtschaftsflüchtlinge in unser Land kommen. Die Wirtschafts- und Währungsunion macht unser Geld nicht schwächer; sie schafft bei Einhaltung der strengen Kriterien vielmehr eine stabile und sichere Währung.
Eine solche Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Das gemeinsame Europa ist im Interesse eines jeden einzelnen Bürgers, im persönlichen Interesse des Kumpels an der Ruhr, des Landwirts in Mecklenburg-Vorpommern, des Feinmechanikers in Baden-Württemberg und des Angestellten in der Porzellanmanufaktur in Meißen. Vor allen Dingen müssen wir unseren Mitbürgern in den östlichen Bundesländern klarmachen, daß, auch wenn sie im Moment viele, viele andere Sorgen haben, die Zukunft Europas auch ihre Zukunft ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Zur Integration — das heißt: zusammenwirken, zusammenarbeiten und zusammenfassen — gibt es keine Alternative. Desintegration bedeutet Abschottung, Protektionismus, Neid, Unruhe, Unfrieden.
Die Gegner des Maastrichter Vertrages sind äußerst emotionalisiert. Die Vorteile des gemeinsamen Europas werden wir deshalb zwar sachlich aufzeigen; man muß aber als Befürworter nicht nur Rede und Antwort stehen, sondern dies auch mit einer gewissen Leidenschaft tun. Ich füge hinzu: Wir haben allen Grund, unsere Leidenschaft für Europa wieder zu entdecken und zu leben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Unser aller Anliegen muß es sein, die wirtschaftlichen Chancen der Gemeinschaft und ihre friedenstiftenden Vorteile aufzuzeigen. Die Angst, sein nationales Profil zu verlieren und zu einem europäischen



Dr. Peter Kittelmann
Homunkulus zu werden, muß allen Bürgern genommen werden. Tatsache ist, daß es bisher einzelne Nationalstaaten waren, die einander bekämpft haben. Die Europäische Gemeinschaft hingegen basiert gerade darauf, nationale Profile, Kulturen, Eigenheiten, Sprachen und auch Ansprüche zu akzeptieren und aus ihrem Zusammenspiel zu profitieren.
Ich darf mit einem Zitat Erich Kästners, der in meiner Heimatstadt Berlin besonders beliebt ist, enden:
Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht.
Nehmen wir die Fragen der Bürger ernster, diskutieren und beantworten sie und gründen damit eine Europäische Union, die von allen getragen und gelebt wird.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210801400
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1210801500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist vielleicht für die gegenwärtige Politik in der Bundesrepublik Deutschland bezeichnend, daß der Kanzler eigentlich auch die Rede des SPD-Vorsitzenden und der SPD-Vorsitzende die Rede des Kanzlers hätte halten können.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Warum nicht?)

Abgesehen von wenigen Nuancen, bestand eigentlich Identität.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]:Das ist doch nicht schlimm! — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist bei Europa auch gut!)

Ich frage mich — es muß ja wohl gestattet sein, sich das zu überlegen —, wieso es in Frankreich, in Großbritannien, in Dänemark und in vielen anderen Ländern auf ganz breiter Front kritische Stimmen gegen Maastricht gibt und gerade in Deutschland so breite Übereinstimmung herrscht und kritische Stimmen sofort diskreditiert werden, nämlich als antieuropäisch.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Und was ist Ihre Antwort?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210801600
Herr Abgeordneter Dr. Gysi, die Abgeordnete Frau MatthäusMaier möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind sind bereit, zu antworten?

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1210801700
Selbstverständlich.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210801800
Bitte schön.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210801900
Herr Gysi, fänden Sie, da Sie diese Einigkeit kritisieren, es denn besser, wenn es so liefe wie in Frankreich, wo Kommunisten
und Rechtsextremisten zusammen für das Nein gestimmt haben?

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das ist eine sehr gute Frage!)


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1210802000
Ich bedanke mich deshalb für die Frage, weil sie es mir ermöglicht, gleich auf das Problem einzugehen, daß es nämlich ein, wie ich meine, unsägliches Nein von rechts gibt, aber ein positives Nein von links. Ich will versuchen, das zu begründen.

(Lachen bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Sie sitzen in einem Boot!)

— Hören Sie doch erst einmal zu.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Gysi und Schönhuber! — Zurufe von der SPD: Ganz schwach! — Schwächer als schwach!)

Sehen Sie, das Nein von rechts versucht, an Instinkte der Menschen zu appellieren und Angst vor der Aufgabe nationaler Souveränität zu schüren, d. h. ist nationalistischer Natur, und zwar von Grund auf.

(Zuruf von der SPD: Das kommunistische nicht?)

Ich füge hinzu, daß es insofern nicht richtig ist, wenn der Bundeskanzler hier heute erklärt, daß die Nationalstaaten überhaupt nicht beeinträchtigt sind und daß sich an der Nationalstaatlichkeit nichts verändern wird. Das heißt, nicht die Wahrheit zu sagen, und das heißt, die Auseinandersetzung, die auf diesem Gebiet unbedingt geführt werden muß, nicht zu führen. Denn natürlich wird es schrittweise einen Abbau von Nationalstaatlichkeit geben. Das ist in Anbetracht der ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung auch richtig und wichtig. Dazu muß man sich deutlich bekennen.
Ich füge weiter hinzu, daß von uns aus ein klares Ja zu Europa kommt. Aber ein klares Ja zu Europa bedeutet kein Ja zu Maastricht; denn Maastricht ist der falsche Weg. Das ergibt sich aus mehreren Gründen. Wir lehnen den Vertrag wegen grundlegender Unzulänglichkeiten ab. Sie betreffen sowohl die Art seines Zustandekommens als auch den Inhalt. In diesem Europa könnte eine soziale, ökologische und nicht militärische Europäische Gemeinschaft, die ihrer internationalen Verantwortung mit zivilen Mitteln gerecht wird, dabei insbesondere die ost- und südosteuropäischen Staaten einbezieht und sich den Problemen der sogenannten Dritten Welt nicht verschließt, eine bedeutende Rolle spielen.
Ich finde es verheerend, wenn der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein hier erklärt, daß eine Gemeinschaft von Wladiwostok bis zum Kap der Guten Hoffnung weder denkbar noch wünschenswert ist.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Das Kap der Guten Hoffnung ist aber woanders! Es ist mehr im Süden!)

Wenn wir nicht anfangen, wirklich planetar zu denken, werden wir die globalen Probleme dieser Erde



Dr. Gregor Gysi
nicht lösen können und damit die Zivilisation gefährden.
Wir sind für eine europäische Einigung, akzeptieren aber die Ansätze von Maastricht nicht. Ich will das begründen. Wir akzeptieren erstens nicht, daß der Maastrichter Vertrag einen Integrationstyp erneut festschreibt und vertiefen soll, der ausschließlich die währungspolitische Vergemeinschaftung zum Ziel hat. Schon 1970 hatte der sogenannte Werner-Plan einen Stufenplan zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion enthalten, damals aber eine gleichgewichtige Vergemeinschaftung der Währungs- und Wirtschaftspolitik angestrebt. Selbst der Delors-Plan aus dem Jahre 1989 betonte noch diese Notwendigkeit und forderte dazu auf, parallel die Strukturpolitik und den Finanztransfer in entwicklungsschwache Regionen zu verstärken.
Das mit Maastricht vorgelegte Integrationskonzept wird nun ausschließlich auf einen währungspolitischen Kern beschränkt, dem sich alle anderen Politikbereiche unterzuordnen haben. Eine aktive Strukturpolitik wird völlig vernachlässigt. Damit ist absehbar, daß Binnenmarkt und Währungsunion die regionalen Gefälle erheblich vertiefen und mit Sicherheit sogar geographisch verschieben werden. Das jetzige Integrationsprojekt reduziert sich letzten Endes auf einige wenige Kernländer, die sich — um welchen Preis auch immer — durch eine stabile Geldwertentwicklung auszeichnen.
Damit ist Blockbildung verbunden. Damit ist Abschottung gegenüber Osteuropa verbunden. Damit ist auch Abschottung gegenüber der sogenannten Dritten Welt vorgezeichnet. Das wird hier ja auch gesagt. Es kommt hinzu, daß es die Vormachtstellung der starken Staaten eindeutig unterstreicht. Das sehen Sie bereits am Umgang mit dem Nein von Dänemark. In Maastricht ist zwingend vereinbart, daß alle Staaten den Vertrag zu ratifizieren haben; sonst kann er nicht in Kraft treten. Jetzt gibt es ein Nein von Dänemark, und nun interessiert es die anderen Staaten schon nicht mehr, daß es dieses Nein gibt. Sie machen das Ganze trotzdem. Das heißt, sie verletzen den eigenen Vertrag, eben weil Dänemark aus ihrer Sicht nicht so wichtig ist, da es ein kleinerer Staat ist.
Ich glaube auch, daß aus dem Vertrag von Maastricht ein bißchen das Plagiat der deutschen Einigung hervorsticht. Ich finde, das ist eher ein schlechtes Beispiel und sollte nicht europäisch nachgeahmt werden.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch hier soll nämlich überhastet zusammengenagelt werden, was man in der neuen Weltordnung beansprucht oder was gegen Ansprüche anderer — seien sie nun berechtigt oder nicht — abgeschottet werden soll.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Also, vernagelt sind Sie!)

Es ist schon hochinteressant, daß der Bundeskanzler im wesentlichen eine Abwehrbegründung gegeben hat: Maastricht gegen Verbrechen, Maastricht gegen
Asylbewerber. Aber das Wofür ist überhaupt nicht deutlich geworden.
Besonders bedauerlich sind auch die Versäumnisse in der Agrarpolitik; denn es wird weiterhin ein Weg beschritten, der davon ausgeht, daß Agrarflächen stillgelegt werden und daß man den Abbau von Überschüssen finanziert — und das in einer Welt, in der Millionen Menschen hungern oder verhungern. Es gibt eben auch in diesem Vertrag keinen einzigen Schritt, der hier etwa eine Lösung anpeilen würde.
Ferner wurde der Vertrag hinter verschlossenen Türen auf völlig undemokratische Art und Weise zusammengezimmert. Weder die Parlamente der Mitgliedstaaten, geschweige denn die Völker wurden beteiligt. In Dänemark, Irland und Frankreich fanden immerhin Volksentscheide bzw. Volksbefragungen statt. Koalition und SPD lehnen — wenn ich das heute richtig verstanden habe — gemeinsam einen Volksentscheid hier in der Bundesrepublik Deutschland ab. Ich frage mich, weshalb in einer Frage, die für die Lebensverhältnisse der Menschen in den künftigen Jahren und Jahrzehnten von so ausschlaggebender Bedeutung ist, die Menschen eigentlich nicht beteiligt werden sollen. Art. 20 des Grundgesetzes sieht Abstimmungen durch das Volk vor. Es ist nicht wahr, daß die Verfassung geändert werden muß. Es müßte nur ein Ausführungsgesetz beschlossen werden.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ach, reden Sie doch nicht so einen Stuß, Herr Gysi! Das ist doch Stuß!)

Wir werden einen Entwurf einbringen.
Ich füge hinzu, daß ich die Begründung des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein wenig überzeugend finde, die lautet: Wenn schon, dann soll der erste Volksentscheid der über die Verfassung sein. Das ist doch wohl kein inhaltliches Argument gegen einen Volksentscheid über die Maastrichter Verträge. Ich frage mich: Wer fürchtet hier eigentlich die Bevölkerung?

(Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sie haben keine Ahnung von der Verfassung! — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Vom Volk schon gar nicht!)

— Ich bin den Menschen zumindest teilweise sehr viel näher als Sie. Das hat seine Ursache darin,

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Daß Sie ein typischer Arbeiterführer sind!)

daß ich wesentlich mehr durchs Land fahre.
Das Undemokratische an den Maastrichter Verträgen besteht noch in einem weiteren Element — da werden Sie mir vielleicht zustimmen —,

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Mal sehen!)

nämlich darin, daß Befugnisse und Macht von den nationalen Parlamenten verlagert werden, was ich nicht kritisieren würde, wenn die Befugnisse auf das Europäische Parlament verlagert werden würden. Sie werden aber auf die Kommission und auf den EG-Ministerrat verlagert. Das ist eine Verlagerung von



Dr. Gregor Gysi
der Legislative auf die Exekutive und damit an sich schon undemokratisch.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Die werden auch ihr Recht bekommen!)

In diesem Zusammenhang werden auch noch Befugnisse der Lander auf die Bundesregierung und die EG-Kommission verlagert.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Umgekehrt! Sie sind nicht ganz up to date, Herr Kollege!)

Das ist ein weiterer undemokratischer Akt; denn wir leben in einer Zeit, in der wir in erster Linie die Macht und die Machtbefugnisse so weit wie möglich dezentralisieren sollten — das hat der Bundeskanzler heute auch gesagt; aber er hat das Gegenteil davon in Maastricht vereinbart — und die Zentrale mit den Aufgaben betrauen sollten, die sie unbedingt wahrnehmen muß, aber nicht mit anderen. Andernfalls wird das Nein zu Europa tatsächlich in eine Gegnerschaft umgemünzt. Das ist genau der falsche Weg.
Ich füge schließlich hinzu, daß ich glaube, daß gerade dann, wenn Nationalstaatlichkeit abgebaut wird, die Stärkung der Regionen von besonderer Bedeutung ist. Auch das ist versäumt worden. Das gilt für Städte und Gemeinden gleichermaßen. Da hilft auch das Subsidiaritätsprinzip und anderes nicht, um diese Grundrichtung etwa aufzuheben.
Allerdings gibt es eine Ausnahme, und die finde ich schon interessant: Das Subsidiaritätsprinzip wird gerade bei der Ökologie angewandt, d. h. gerade auf dem Gebiet, wo es ganz klar ist, daß eine kleine Region große Schwierigkeiten hat, einen Betrieb zu schließen, der umweltpolitisch nicht vertretbar ist. Dort wird die Verantwortung auf die Region gelenkt und damit festgelegt, daß in der Ökologie wenig passieren wird.
Wir kritisieren auch die sicherheitspolitische Grundlage des Maastrichter Vertrages, und zwar deshalb, weil hier der militärische Einsatz durch eine eurpopaweite Armee geplant ist, in der die Bundesrepublik die führende Rolle spielen soll. Ich sage, die EG kann die Probleme nur lösen, wenn sie friedenstiftend ist, und nicht, wenn sie sich militärisch stärkt, und schon gar nicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland daran beteiligt wird.
Noch verheerender ist, daß versucht wird, das Flüchtlingsproblem durch Mauern und auch durch Polizei und Militär zu lösen. Ich glaube, das ist der falsche Weg. Was wir brauchen, ist eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, die das Elend und den Hunger in der sogenannten Dritten Welt beseitigt und die sozialen Probleme in Osteuropa lösen hilft.
Wir dürfen nicht vergessen — und das scheint mir von besonderer Bedeutung zu sein —, daß die globalen Probleme nicht nur ökologischer, sondern auch sozialer Natur sind und gemeinsam angegangen werden müssen. Deshalb sage ich Ihnen: Der gravierendste Grund für unsere Ablehnung und für unsere Forderung nach Volksentscheid ist die Tatsache, daß die Europäische Sozialunion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden ist. Damit wird ein beispielloser Sozialabbau verbunden sein; denn mit dem Argument, den Wirtschaftsstandort Deutschland
attraktiver zu gestalten, werden permanent die Forderungen zunehmen, Sozialleistungen abzubauen und Rechte der Gewerkschaften einzuschränken. Diese Art von demagogischer Argumentation erleben wir ja nun schon seit Wochen und Monaten. Das ist auch ein Ergebnis von Maastricht.
Ich füge abschließend hinzu, daß der Versuch, über Maastricht auch den Kündigungsschutz abzubauen, Lohnabschlüsse unterhalb der Tarifabschlüsse zu ermöglichen, die Arbeitszeit zu verlängern und Arbeitsschutzrechte, die in der DDR schon sehr weit entwickelt waren, wieder auf einen europäischen Minimalstandard zu reduzieren, die Konflikte schüren muß. Wer so handelt, diskreditiert die Idee von Europa, statt sie zu stärken. Daraus ergibt sich unser Nein zu Maastricht.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210802100
Das Wort hat nun der Abgeordnete Gerd Poppe.

Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1210802200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ergebnis des Referendums in Frankreich hat zwar die Furcht, das große Projekt eines vereinigten Europa könne bei negativem Ausgang auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt sein, für den Augenblick gemindert; andererseits aber führt uns das französische Ja ebenso eindringlich wie das dänische Nein die mangelnde Akzeptanz durch die EG-Bevölkerung vor Augen. Auf solch dünnem Eis läßt sich kein festes Fundament für das europäische Haus bauen.
Wenn wir das ganze Europa der Völker und nicht nur ein Europa der zwölf Regierungen meinen, müssen wir uns die Frage stellen, ob es tatsächlich so entstehen kann, wie es der Maastrichter Vertrag vorzeichnet, und ob das Einverständnis der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger des halben Europa dafür eine ausreichende Grundlage bildet. Und wir müssen uns fragen, welche Nachbesserungen notwendig, in welchem Zeitraum und auf welchem Weg sie jeweils möglich sind und wie dieser Weg einsichtiger und die Schritte für die Bevölkerung nachvollziehbarer werden können. Am letzten Sonntag konnte Erleichterung aufkommen, Begeisterung kaum, am ehesten Nachdenklichkeit angesichts der Überlegung, wie wohl die Deutschen abgestimmt hätten, wären sie an Stelle der Franzosen zu den Wahlurnen gerufen worden.
Sie, meine Damen und Herren, werden sich keine Illusionen darüber machen: Das Ergebnis in der Bundesrepublik wäre vermutlich dem französischen recht nahegekommen. In den ostdeutschen Bundesländern wäre — so ist zu befürchten — auf Grund der bedrükkenden Gemengelage von berechtigten und unbegründeten Ängsten, die auf die voreiligen Versprechungen der letzten zwei Jahre und die daraus folgende Ungeduld angesichts der tatsächlichen Probleme zurückzuführen sind, die Ablehnung wohl noch deutlicher ausgefallen als in den Umfrageergebnissen für die alten Bundesländer.



Gerd Poppe
Es gibt viele Gründe, die Maastrichter Beschlüsse zu kritisieren, keineswegs nur von ganz links oder ganz rechts, was immer man von diesen Kategorien halten mag. Ein Nein muß keineswegs gleichbedeutend sein mit einem Nein zu Europa. Es gibt ebenso viele Argumente für eine Zustimmung trotz aller Defizite, wie sehr oft gesagt wird. Auffällig ist doch, daß bei den bisherigen Abstimmungen oftmals Gründe für die Zustimmung oder Ablehnung ausschlaggebend waren, die mit der Vision eines geeinten Europa nur bedingt zu tun haben.
Der Bundeskanzler hat heute diejenigen genannt, die in Frankreich mit Ja gestimmt haben. Wo wurde denn nun mit Nein gestimmt? In jenen Departements, in denen die ländliche Bevölkerung sich um ihre Zukunft sorgt, und in jenen, in denen die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. In Dänemark kam das Nein u. a. durch die Befürchtung zustande, soziale Standards besonders für Frauen und Umweltstandards kämen ins Wanken.
Eine der ersten Verpflichtungen einer gemeinsamen europäischen Politik müßte demnach sein, auf solche berechtigten Sorgen stärker einzugehen, vor allem durch Verbesserung der sozial-, struktur- und regionalpolitischen Regelungen des Vertragswerkes. Das ist um so mehr von Bedeutung, als diese ungelösten Probleme den wiedererstarkten nationalistischen Strömungen und der dumpfen Ausländerfeindlichkeit, die uns in letzter Zeit so stark beschäftigt, weiteren Auftrieb geben, was die Entwicklung zu einem friedlichen und demokratischen Europa aufs höchste gefährdet.
Solange die ärmeren und sozial verunsicherten EG-Europäer aus dem Zusammenwachsen für sich keine neuen Perspektiven ableiten, werden sie unzufrieden bleiben mit den Unternehmungen zur Rettung von Maastricht aus wirtschaftlich motivierten, für die Betroffenen aber undurchsichtigen Zwecken. Da werden auch keine Werbekampagnen helfen, keine Postwurfsendungen der Bundesregierung, die deren Vorstellungen von der europäischen Zukunft unter dem schönstmöglichen Blickwinkel von Ansichtskarten wiedergeben. Ein unreflektiertes „Weiter so!" wird den Bürgerinnen und Bürgern ihre Sorgen und Ängste nicht nehmen, sondern eher ihre Skepsis erhöhen.
Die anhaltenden Währungsturbulenzen, meine Damen und Herren, tragen das Ihre zur Verunsicherung bei. Es ist anzunehmen, daß sie nicht durch Maastricht verursacht sind; aber was soll die Bevölkerung davon halten, wenn sich Befürworter und Gegner der Währungsunion durch den Währungscrash gleichermaßen bestätigt sehen? Wie anders als zweifelnd sollen sie reagieren, wenn das Phantombild einer scheinbaren Währungsstabilität über Nacht verschwindet und den Befürwortern des unverminderten Tempos dann keine andere Lösung zur Einhaltung des Fahrplanes einfällt, als nur noch den kleineren Teil der Passagiere mitzunehmen? Wenn Maastricht die sogenannte kleine Währungsunion als Übergangslösung auch nicht ausschließt, so ist diese doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die denkbar unglücklichste Werbung für Europa.
Anstatt die aktuellen Schwierigkeiten mit Zweckoptimismus und hilflosen Spekulationen zu überspielen, sollten Bundesregierung und Bundestag sich über eine veränderte Vorgehensweise verständigen, die innerhalb eines vertretbaren Zeitraums zu mehr Transparenz, zur Beseitigung der entscheidenden Defizite des Vertragswerks und demzufolge zu größerer Akzeptanz bei der Bevölkerung führen soll. Dreierlei scheint uns dafür erforderlich: erstens eine Atempause, eine Denkpause, eine Verlangsamung der Gangart auf dem Wege zur Europäischen Union; und das ist keineswegs so etwas wie Stillstand, wie der Bundeskanzler meinte. Seit den jüngsten Entscheidungen der dänischen und der britischen Regierung gibt es keinen so großen Zeitdruck mehr für eine Ratifizierung der Maastrichter Verträge im Deutschen Bundestag. Die gerade erst in Gang gekommene Debatte darf nicht durch eine überhastete parlamentarische Entscheidung wieder blockiert werden. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich mit den elf Partnern der EG auf einen neuen Zeitplan für den weiteren Ablauf zu verständigen.
Zweitens. Auch in der Bundesrepublik Deutschland muß die Zustimmung zu einer Europäischen Union durch das Votum des Volkes abgedeckt werden. Mir sind die Bedenken gegen eine Volksabstimmung wohlbekannt und durchaus verständlich, vor allem das Argument, daß durch eine auf Ja oder Nein zu Maastricht verkürzte Fragestellung der auf Europa bezogene Wille des Volkes nicht zum Ausdruck kommen kann und eher die Freisetzung europafeindlicher nationalistischer Emotionen zu befürchten wäre. Wenn wir diese Gefahr erkennen, dann können wir ihr auch begegnen, indem wir die vorgeschlagene Atempause im Sinne der schon erwähnten Beseitigung der bisherigen Defizite und der Klärung der dazu erforderlichen Schritte und Zeiträume nutzen.
Für eine Entscheidung von solcher Tragweite, die zum Teil jetzt schon Verfassungsrang besitzt und letztendlich auf die Zustimmung zu einer europäischen Verfassung hinauslaufen muß, reicht auch eine überzeugende parlamentarische Mehrheit nicht aus. Dies gilt erst recht angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse.
Wer die Forderung nach einem Referendum als unverantwortlich bezeichnet — das wird uns gegenüber hin und wieder getan —, hat meines Erachtens nicht nur seine demokratischen Grundsätze — sprich: die Umsetzung des Willens seiner Wähler — dem reinen Pragmatismus der Macht unterworfen, sondern auch bereits vor den populistischen Gegenströmungen kapituliert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im übrigen würde ein überhastetes Durchziehen der Verträge die Diskussionen auf Stammtischniveau nicht beenden und die populistischen Argumente der Europagegner nicht schwächen; vielmehr gäbe es ihnen neue Nahrung.

(Detlev von Larcher [SPD]: Aber das ist Zweierlei! — Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Listel)

— Wir wünschen ein Referendum vielleicht aus anderen Motiven als Sie, Herr Gysi, der Sie damit gleich den Wunsch nach einer Ablehnung des Vertragswerkes verbinden. Wir wünschen uns, daß das Vertrags-



Gerd Poppe
werk verbessert wird und daß ein größeres Verständnis für den Weg nach Europa erreicht wird. Dazu, meinen wir, sind diese Atempause und diese Diskussion, die letztendlich zu einem Referendum führt, notwendig.
Wir wünschen das Referendum auch nicht heute und nicht in wenigen Wochen, sondern wir legen Ihnen heute einen Antrag vor, nach dem es am Ende einer öffentlichen Debatte steht, durch die allein die erforderliche Akzeptanz der europäischen Einheit zu erreichen ist.
Drittens. Der Vertrag muß — da hilft ja nun alles nichts — wirklich verbessert oder, wenn Sie so wollen, nachgebessert werden. Einige Probleme habe ich schon angedeutet. Ich möchte mich jetzt auf ganz wenige weitere Beispiele beschränken, da wir ja in Kürze Gelegenheit haben, das Thema weiterzudiskutieren.
Erwähnen möchte ich wenigstens folgende Punkte: Die Kompetenzen der Organe der Gemeinschaft und das Subsidiaritätsprinzip müssen präziser bestimmt werden. Die Menschen müssen wissen, über welche Bereiche europäisch, über welche national und über welche regional entschieden wird und von wem die Entscheidungen kontrolliert werden. Das Dickicht der verschiedenen, von der Unterrichtung bis zur parlamentarischen Mehrheitsfindung gestaffelten Verfahren über das Zusammenwirken von Kommission und Europäischem Parlament soll gelichtet werden.
Das Europäische Parlament sollte mehr Entscheidungsbefugnisse in den Bereichen gemeinsamer Sozial- und Umweltpolitik erhalten. Der Ministerrat sollte öffentlich tagen, nachdem zuvor Debatten der nationalen Parlamente über die Absichten der jeweiligen Regierungen stattgefunden haben. Die sozialen Rechte müssen auf einem hohen Niveau verankert werden, wobei sich kein Staat ausschließen darf.
Sicher muß auch für eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ein gemeinsames Konzept entwickelt werden, dies aber nicht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern verbunden mit der Durchsetzung der unveräußerlichen Menschenrechte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schließlich will ich zum wiederholten und wahrscheinlich nicht zum letzten Male die Unterbelichtung der politischen Union erwähnen. Die Entwicklung seit 1989 muß endlich berücksichtigt und eine klare Perspektive für die Erweiterung auf Gesamteuropa gefunden werden. Dazu gehört ein Konzept der abgestuften Integration für Osteuropa.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Engholm, wir haben überhaupt nicht von Wladiwostok gesprochen; aber wir sprechen sehr wohl beispielsweise von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er auch gesagt!)

Die Klärung dieser nur beispielhaft erwähnten Fragen bedarf wie die der vielen anderen nicht nur weiterer Regierungsverhandlungen, sondern eines
intensiven öffentlichen Diskurses. Wer diesen nicht wünscht, braucht mit einer breiten Zustimmung der Bevölkerung nicht zu rechnen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210802300
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210802400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal ist es gut, die europäischen Belange aus etwas größerer Entfernung zu sehen; das ist jedenfalls der Eindruck, den ich von der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York heute mitbringe. In all den zahlreichen Gesprächen, die ich in den letzten Tagen geführt habe, ist mir das überaus große Interesse deutlich geworden, mit dem man weltweit die Europäische Gemeinschaft und ihre weitere Entwicklung verfolgt.
Das gilt ganz besonders für die mittel- und osteuropäischen Staaten, die in diese Gemeinschaft aufgenommen werden wollen. Mir wurde erneut sehr bewußt, welch große Hoffnungen gerade diese Staaten mit der Gemeinschaft verbinden.
Nicht weniger interessiert am weiteren Fortgang Europas sind die Entwicklungsländer, mit denen die Gemeinschaft neue Formen der Zusammenarbeit und der Partnerschaft erschlossen hat.
Daraus ergibt sich für mich eine zentrale Schlußfolgerung: Wir müssen uns trotz des knappen Nein der Dänen und des knappen Ja der Franzosen jetzt davor hüten, das Europa von Maastricht zu zerreden bzw. zerreden zu lassen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Während viele Menschen in Europa, sicherlich nicht ganz zu Unrecht, von Zweifel und Unsicherheiten geplagt sind, gilt die Gemeinschaft weltweit als Hort der Stabilität und — das kam heute schon mehrfach zum Ausdruck — als Hoffnungsanker.
Die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft haben nach dem französischen Referendum in New York vor zwei Tagen mit Nachdruck eines hervorgehoben: Das Ratifizierungsverfahren muß nun in allen Mitgliedstaaten ohne Neuverhandlungen des Vertrages und im vorgesehenen Terminplan vorangetrieben werden. Dies gilt auch für uns. Unsere Verfassung sieht nun einmal keine Volksabstimmung vor. Dabei sollte es auch bleiben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es darf aber andererseits auch kein „Augen zu und durch" geben. In einzelnen Mitgliedstaaten, darunter in Großbritannien, sind wir ganz zweifellos noch nicht über den Berg. Noch gilt es auch, eine Lösung für das dänische Problem zu finden.
Was an Unzufriedenheit, Unsicherheit und auch Unverständnis in vielen Ländern der Gemeinschaft, uns eingeschlossen, aufgekommen ist, kann nicht einfach beiseite geschoben werden. Das Europa der



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Bürger entsteht eben nicht nur durch Verträge; es muß aus den Herzen der Menschen und aus Verständnis geborener Akzeptanz erwachsen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Deshalb müssen wir in den vor uns liegenden Wochen und Monaten alles tun, um das Vertrauen der Menschen in eine gemeinsame europäische Zukunft zu stärken. Dies ist jetzt die wichtigste Aufgabe der Gemeinschaftspolitik.
Vor allem geht es um eine Antwort auf die Frage: Wie können wir das Unbehagen und die Zweifel unserer Bürger an diesem Vertragswerk auffangen, ohne daß wir die Verträge verändern? Eine Neuverhandlung würde eine Gefährdung alles bisher Erreichten bedeuten. Und ob es in absehbarer Zeit zu einer neuen Einigung kommen würde, ist in meinen Augen zumindest fraglich. Angesichts der anhaltenden politischen Verwerfungen östlich von uns müßte dies zu politischer Unsicherheit auf unserem Kontinent führen.
Eine Vertragsänderung wäre ferner — auch das muß man deutlich sagen — eine Prämie für diejenigen Partner, die die Ratifizierung hinausschieben, und eine Benachteiligung der Länder, die bereits, zum Teil unter nicht unerheblichen Mühen, ratifiziert haben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zudem — das wird meines Erachtens sehr leicht übersehen — wäre sie auch ein Affront gegenüber dem Europäischen Parlament, das sich trotz mancher Bedenken mit Mehrheit zur Zustimmung durchgerungen hat.
Nein, jetzt ist unsere politische und juristische Phantasie gefragt. Es muß eine andere Lösung geben. Die Sondertagung des europäischen Rats am 16. Oktober 1992 in Birmingham kann sie aufzeigen.
Ja, auch in Deutschland gibt es verbreitete Sorge um die Stabilität einer zukünftigen europäischen Währung, um den Verlust der nationalen und kulturellen Identität, Sorge vor Überbürokratisierung und vor Machtlosigkeit gegenüber einer alles entscheidenden, parlamentarisch nicht ausreichend kontrollierten Brüsseler Zentrale. Auf diese Sorgen und Fragen müssen wir eingehen und uns zugleich ins Gedächtnis zurückrufen, was eigentlich der Kern der europäischen Einigung ist, weshalb wir die Europäische Union wollen und weshalb wir sie auch brauchen. Es gibt drei, wie ich meine, herausragende Gründe, die dafür sprechen.
Erstens. Der unseligen europäischen Vergangenheit der Rangstreitigkeiten, Eifersüchteleien, der Hegemonie- und Allianzpolitik setzen wir nur dadurch ein Ende, daß wir die Gefahr eines unguten, übersteigerten Nationalismus durch ein noch engeres Zusammengehen endgültig überwinden. Gerade die letzten Tage und Wochen haben uns doch eigentlich klar gezeigt: Ein Stillstand der Integration bringt die Gefahr einer Auflösung des bereits Erreichten.
Der zweite Grund ist, daß die großen Herausforderungen unserer Zeit wie die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts, die Ernährung einer explosiv anwachsenden Weltbevölkerung, die Bedrohung durch organisiertes Verbrechen und Drogenhandel,
der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern, wodurch wir im Herzen Europas in besonderer Weise betroffen sind, die Schaffung eines globalen und regionalen kollektiven Sicherheitssystems und die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt eben nicht mehr national bewältigt werden können.
Drittens. Die Unabwägbarkeit der Entwicklungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern macht die Gemeinschaft als Stabilitätsanker in stürmischer See notwendiger denn je. Dies erfordert auch, daß wir die Gemeinschaft mit der Vertiefung gleichzeitig erweitern. Festen Halt und Orientierung kann die Gemeinschaft Europa aber nur dann geben, wenn sie sich über den jetzigen Integrationsstand hinaus zur Schicksalsgemeinschaft der Europäischen Union verbindet. Hierzu genügt ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine bloße Koordinierung nationaler Außenpolitiken unserer Meinung nach eben nicht.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine solche Schicksalsgemeinschaft entsteht nur durch eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Und darum geht es ja beim Maastrichter Vertragswerk. Dabei wurde auch die WEU in den Rahmen der Europäischen Union eingefügt und damit ein entscheidender Schritt zur Schaffung einer zukünftigen gemeinsamen europäischen Verteidigung getan.
Richtig ist: Dieser Maastrichter Vertrag mußte die Interessen von zwölf Mitgliedstaaten in Einklang bringen; das war wahrhaftig nicht einfach. Er weist Unzulänglichkeiten auf. Auch wir Deutsche hätten uns bei der Vertragsgestaltung manches anders gewünscht.

(Zurufe von der F.D.P.: Natürlich!)

Trotzdem ist dieser Vertrag mehr als ein „kleinster gemeinsamer Nenner" . In seiner Gesamtheit gesehen stellt er einen erheblichen Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß dar. Man konnte jedenfalls bisher — hoffentlich auch weiterhin — den Eindruck gewinnen, daß sich die Zwölf im Grunde in diesem Vertrag wiederfinden.
Dieser Vertrag steht im übrigen nicht am Ende, sondern am Anfang einer weiteren Entwicklung. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hat sich immer stufenweise vollzogen. Auch jetzt springen wir nicht einfach in das kalte Wasser der Währungsunion; diese Befürchtung ist unbegründet. Zunächst müssen sich die Wirtschaften der Mitgliedstaaten einander nähern. Erst dann werden die Währungen zusammengeführt.

(Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: So ist es!)

Das Europäische Währungssystem hat trotz der Turbulenzen in der vergangenen Woche seine Funktions- und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Wenn der Vertrag von Maastricht bereits in Kraft gewesen wäre und die Märkte über diese Sicherheit verfügt hätten, wäre es wahrscheinlich nicht zu den jüngsten Währungsturbulenzen gekommen.
Ich habe dies bei unserem Zwölfer-Treffen in New York auch den Kollegen, die jetzt etwas in Schwierig-



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
keiten geraten sind, deutlich gesagt und darauf hingewiesen, daß wir natürlich bei der bisherigen Argumentation und der Logik verbleiben müssen. Deshalb bleibt das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion weiterhin richtig. Wir müssen aber verstärkt an den wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung arbeiten.
Auch am Fahrplan für ihre stufenweise Verwirklichung brauchen wir nichts zu ändern. Es können nur diejenigen Mitgliedstaaten von Anfang an eine Währungsunion bilden, die die wirtschafts- und finanzpolitischen Konvergenzvoraussetzungen erfüllen. Vor den vom Europäischen Rat von 1996 bis 1998 zu treffenden Entscheidungen werden Bundestag und Bundesrat erneut damit befaßt werden. Es kann ja wohl kein Zweifel bestehen, daß eine Bundesregierung, die nicht die Mehrheit des Deutschen Bundestages hat, diesen Dingen nicht zustimmen könnte.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben uns insbesondere gemeinsam mit Belgien und Italien dafür eingesetzt, daß das Europäische Parlament die Rechte erhält, die für ein nationales Parlament selbstverständlich sind, und sind dabei durchaus ein gutes Stück weitergekommen. Das letzte Wort hat nicht mehr stets der Rat — mehr war in Maastricht nicht zu erreichen.

(Zuruf von der F.D.P.: Leider wahr!)

Auf der Revisionskonferenz im Jahre 1996, also noch vor Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, werden wir auf weitere Fortschritte drängen.
Die Sorge unserer Bürger, Europa könne sich zu einem bürokratischen Moloch entwickeln, ihre nationale und kulturelle Identität würde verlorengehen, muß zweifellos ernstgenommen werden. Ganz sicher müssen — das kam heute schon mehrfach zum Ausdruck — auch die Brüsseler Prozeduren transparenter gestaltet werden. Der Mann auf der Straße vor allem muß besser verstehen können, wer wie über seine Zukunft Entscheidungen trifft.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Richtig ist sicher auch, daß man in der Vergangenheit bei dem Ziel der Harmonisierung manchmal etwas über das Ziel hinausgeschossen ist. Ein Umdenken hat eingesetzt. Jacques Delors selber hat das Subsidiaritätsprinzip als neue Leitlinie in der Kommissionsarbeit erklärt. Was von den Mitgliedstaaten, von den Ländern, den Regionen, den Gemeinden geleistet werden kann, wird auch dort geregelt werden und nicht zentral von Brüssel aus.
Was ebenfalls noch viel deutlicher werden muß: Die Gemeinschaft wurde nicht gegründet, um Ämter zu schaffen. Sie ist keine Angelegenheit nur von Spezialisten. Sie ist für die Bürger zur Sicherung ihrer Zukunft und der ihrer Kinder geschaffen.
Das Maß an wirtschaftlichen Zukunftschancen, an Freizügigkeit sowie sozialer und innerer Sicherheit, das wir durch die Europäische Gemeinschaft erreicht haben, nehmen wir inzwischen allzuoft als pure Selbstverständlichkeit hin. Gerade uns Deutschen muß aber bewußt bleiben, wie entscheidend unser
Wohlstand auf dem gemeinsamen europäischen Markt beruht, daß wir bisher am meisten von Europa profitiert haben. Ich versuche immer wieder nach draußen zu argumentieren: Wir Deutsche würden im übrigen auch diejenigen sein, die von der Europäischen Union à la Maastricht in Zukunft am meisten profitierten.
Die Europäische Union bringt für uns Bürger kein Weniger, sondern ein Mehr an Rechten im gesamten Raum der Europäischen Gemeinschaft. Unionsbürgerschaft, Niederlassungsfreiheit, kommunales Wahlrecht, stärkere Freizügigkeit sind Beispiele.
Auch künftig werden die Menschen in Europa jedoch ihrer eigenen Geschichte und Kultur treu bleiben können. Es wird keinen europäischen Schmelztiegel geben; das will auch niemand. Einheit in Vielfalt ist vielmehr das Ziel. Die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ist im Vertrag ausdrücklich festgehalten.
Meine Damen und Herren, allein schon die durch den Zerfall der Sowjetunion auf Europa zukommende Herausforderung zeigt, wie dringlich eine größere außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft ist. Dies ist nur durch eine neue Qualität der Zusammenarbeit erreichbar. Der Maastrichter Vertrag bringt eben den Einstieg in diese neue Qualität. In zentralen Fragen gemeinsamen Interesses wird die Europäische Union nicht nur mit einer Stimme sprechen, sondern in Zukunft hoffentlich auch gemeinsam handeln.
Mit Blick auf den Jugoslawien-Konflikt ist die Gemeinschaft oft kritisiert worden. Man muß sich aber fragen und auch fragen dürfen: Was wäre eigentlich geschehen, wenn es den jetzigen Integrationsstand nicht gegeben hätte? Ohne die Bindung durch die Gemeinschaft hätte Europa in diesem Konflikt womöglich vor einer gefährlichen politischen Zerreißprobe gestanden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das wird zu oft von den Euroskeptikern übersehen.
Roland Dumas hat auf der Londoner JugoslawienKonferenz in einem beschwörenden Appell die deutsch-französische Versöhnung und Freundschaft als beispielhaft auch für die Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien bezeichnet. Die enge Verbindung zwischen Deutschen und Franzosen ist in der Tat das eigentliche Unterpfand für die Überwindung des Nationalismus in ganz Europa. Sie stand am Anfang der nunmehr 40jährigen Erfolgsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft. Ohne den deutsch-französischen Schulterschluß geht in Europa wenig; mit ihm geht sehr viel. Dies wird eine Grundmaxime unserer Europapolitik bleiben.
40 Jahre europäische Einigung haben stets auch den nationalen deutschen Interessen gedient. Bitte nicht vergessen: Europa hat Deutschland den Weg zur gleichberechtigten Partnerschaft in Europa und der Welt eröffnet. Ohne die Europäische Gemeinschaft wäre an eine Wiedervereinigung im Einklang mit unseren Nachbarn nicht zu denken gewesen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)




Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Es wäre ein großes historisches Versagen, wenn wir jetzt innehalten würden. Die letzten Wochen haben gezeigt: Wer in Europa Fortschritte verhindert, fordert zwangsläufig den Rückschritt heraus. Seien wir uns bewußt: Als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes Land in der Mitte Europas ist Deutschland in besonderer Weise auf die fortschreitende europäische Integration angewiesen.
Dabei geht es nicht nur um wirtschaftliche Fragen, sondern in erster Linie um die Sicherung eines friedlichen und harmonischen Zusammenlebens mit unseren Nachbarn. Dies ist eben nur dann auf Dauer gewährleistet, wenn wir uns mit diesen Nachbarn möglichst eng verbinden. Ergreifen wir jetzt die Jahrhundertchance zur Schaffung einer solchen engen, dauerhaften und prosperierenden Gemeinschaft der europäischen Völker.
Ich behaupte nach wie vor: Die Menschen in Europa wollen Europa, wenn wir ihnen ihre nationale Identität lassen. Das sollten wir tun, das sollte unsere Politik sein.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1210802500
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ingrid Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210802600
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Es muß uns alle betroffen machen, wie sehr Europa seit Maastricht ins Gerede gekommen ist. Einer der Gründe ist sicher, daß die Menschen Errungenschaften wie Frieden, Freizügigkeit und Wohlstand als etwas völlig Selbstverständliches hinnehmen. Dies alles ist aber nicht selbstverständlich. Nur wenn man Europa weiter aktiv gestaltet, wird man Rückfälle in Nationalismus auf Dauer vermeiden, wie wir sie in anderen Teilen Europas doch sehen.
Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben leider zu einer gewissen Europaverdrossenheit beigetragen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Niemand spricht dem Herrn Bundeskanzler den guten Willen für Europa ab. Aber haben Sie nicht im November 1991 erklärt, „die Politische Union ist das unerläßliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion"? Damit hat der Bundeskanzler wieder einmal Erwartungen erweckt, die später nicht eingelöst wurden; das war schon nicht gut für die deutsche Einheit, und das ist auch nicht gut für Europa.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir dürfen Europa auch nicht an unseren Bürgern vorbei entwickeln. Wir müssen die Sorgen und Ängste der Menschen aufgreifen und ausräumen: wo sie unbegründet sind, durch beharrliche Aufklärung, wo sie begründet sind, durch eine bessere Politik.
Befürchtung Nr. 1: Eine europäische Währungsunion könne nicht funktionieren, die Turbulenzen im Europäischen Währungssystem hätten gezeigt, daß
schon das EWS nicht funktioniere. Das Gegenteil ist richtig, meine Damen und Herren.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sehr gut!)

Das Europäische Währungssystem ist eine Erfolgsgeschichte: nicht nur, daß wir zwei Drittel unseres Exports seit Jahren auf vergleichsweise berechenbaren Währungsrelationen abwickeln können, auch die anderen Länder haben wegen des Wunsches, in der Bandbreite des EWS zu bleiben, ganz erhebliche Stabilitätsanstrengungen unternommen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Abwertungen der letzten Woche sind kein Gegenargument. Es gehört zur Philosophie des EWS, daß es angesichts unterschiedlicher Finanz- und Wirtschaftspolitiken ab und zu zu Wechselkursanpassungen kommt.

(Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth)

Nein, Ursache für die Währungsturbulenzen war nicht die Schwäche des Europäischen Währungssystems, sondern die Schwäche der nationalen Regierungen: der britischen Regierung, die mit dem Pfund zu hoch in das EWS eingestiegen ist und dann aus nationalen Prestigegründen nicht abwerten wollte; die Schwäche der italienischen Regierung, ihre Haushalts- und Finanzpolitik in Ordnung zu bringen; und auch die Schwäche der deutschen Bundesregierung mit ihrer ausufernden Schuldenpolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was?)

Der Schlüssel für die notwendige Zinssenkung liegt, wie jeder weiß, in Bonn. Wer aber ein solches Finanzchaos veranstaltet wie diese Bundesregierung, der darf sich nicht wundern, daß die Zinsen nicht weiter sinken, und der ist mitverantwortlich dafür, daß die Turbulenzen im Europäischen Währungssystem ein solches Ausmaß angenommen haben.

(Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wenn die Welt so einfach wäre!)

Befürchtung Nr. 2: die Deutschen verschenkten die Mark, ohne etwas dafür zu bekommen. Ich sage dagegen: Wenn wir es richtig machen, dann wird unsere Währung noch sicherer und stabiler. Die Bürde, Weltreservewährung Nr. 2 zu sein, ist leichter zu tragen, wenn sie nicht nur von der Mark alleine,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!)

sondern von den breiten Schultern eines stabilen Währungsblocks getragen wird. Nur auf diese Weise können wir auch verhindern, daß die Spekulanten weiter an Oberwasser gewinnen.
Der Bonner „General-Anzeiger" schrieb über die Währungsspekulanten: „Die kostspielige Wechselkursvielfalt der EG-Staaten ist deren liebste Spielwiese. Kein Wunder, daß sie", — die Spekulanten —„der Gedanke an eine einheitliche Währung in Panik versetzt". Ich glaube, der „General-Anzeiger" hat es auf den Punkt gebracht.



Ingrid Matthäus-Maier
Befürchtung Nr. 3: eine Gemeinschaftswährung könne nicht so hart sein wie die D-Mark. Ich stelle klipp und klar fest: Die gemeinschaftliche europäische Währung kommt für uns nur dann in Betracht, wen sie mindestens so stabil ist wie die Mark. Ist das nicht der Fall, dann wird es eine gemeinschaftliche europäische Währung schlicht und einfach nicht geben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Im Vertragstext sind die Voraussetzungen erfüllt. Bundesbankpräsident Schlesinger hat es selbst bestätigt, als er sagte: „Alle für den Erfolg der Währungsunion unverzichtbaren Hauptforderungen sind erfüllt worden." Es kommt jetzt darauf an, daß von dem Vereinbarten nicht abgewichen wird.
Wir werden peinlich genau darauf achten, daß die formal garantierte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank nicht in Frage gestellt wird. Deswegen weisen wir die Äußerung von Präsident Mitterrand zurück, der gesagt hat, die Europäische Zentralbank sei nur für technische Abläufe zuständig.

(Beifall bei der SPD, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Erst recht aber müssen wir verlangen, daß die deutsche Bundesregierung keinen Zweifel an der Unabhängigkeit der Zentralbank aufkommen lassen darf.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist klar!)

Die Art und Weise — da sind wir uns, glaube ich, alle einig —, wie der deutsche Finanzminister in der letzten Woche die Senkung der Leitzinsen im Fernsehen hinausposaunt hat, noch bevor der Zentralbankrat dieses am nächsten Tag beschlossen hat, war in der 40jährigen Geschichte der Bundesbank eine noch nie dagewesene Desavouierung.

(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Es ist schlichtweg falsch, was Sie sagen!)

Dies darf sich nicht wiederholen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210802700
Frau MatthäusMaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210802800
Bitte, Herr Faltlhauser.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1210802900
Frau Kollegin, würden Sie bitte meine Empfehlung annehmen, sich über die präzisen Abläufe zu informieren, bevor Sie das vor dem Plenum des Deutschen Bundestages so behaupten? Würden Sie akzeptieren, daß eine entsprechende Resolution der Bundesbank die Öffentlichkeit bereits erreicht hat, bevor der Finanzminister Entsprechendes in der Öffentlichkeit gesagt hat?

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat gesessen!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210803000
Frau Matthäus-Maier, gestatten Sie auch gleich noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Waigel?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210803100
Ja.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1210803200
Frau Kollegin Matthäus-Maier, könnten Sie verifizieren, in welcher Form ich irgendwo in diesem Zusammenhang etwas gesagt habe, was nicht korrekt gewesen wäre und auch im Zeitablauf mit der Bundesbank in allen Einzelheiten abgestimmt war?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210803300
Herr Kollege Waigel, das ist ganz einfach — und alle haben es am Fernsehen mitbekommen —: Sie haben einen Tag, bevor der Zentralbankrat die Senkung der Zinsen überhaupt erst beschlossen hat, dieses im Fernsehen verkündet. Mein Eindruck, daß das eine Desavouierung der Bundesbank war, ist nicht der Eindruck der Sozialdemokraten alleine, sondern es ist in allen öffentlichen Publikationen von rechts bis links — selbst bei regierungsfreundlichen — dieser Eindruck ausdrücklich bestätigt und kritisiert worden.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210803400
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210803500
Ja.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1210803600
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die finanzpolitische Sprecherin der SPD nicht von Eindrücken, sondern von klaren Erkenntnissen leiten lassen sollte? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Deutsche Bundesbank selber durch ihre Vertretung im Währungsausschuß die Senkung am Sonntag nachmittag angekündigt hat und hat verbreiten lassen, daß ich dies erst danach bestätigt habe, ich tatsächlich also erst nach der Sitzung des Zentralbankrats etwas über die Höhe ausgesagt habe?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210803700
Über die Höhe haben Sie in der Tat erst nach der Sitzung etwas ausgesagt.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Erste Korrektur! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Das habe ich auch nicht anders behauptet.
Herr Kollege, ich nehme zur Kenntnis, daß es offensichtlich nicht Ihre Absicht war, die Deutsche Bundesbank und ihre Autonomie in Frage zu stellen. Aber dann sollten Sie in Zukunft vermeiden, daß sich ein solcher Vorgang wiederholt, dann sind wir alle ein Stück weiter, Herr Waigel.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210803800
Gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210803900
Wir können das noch eine Weile so weitermachen, gerne.

Dr. Theodor Waigel (CSU):
Rede ID: ID1210804000
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Präsident der Bundesbank in Washington und an anderer Stelle ausdrücklich zum Ausdruck gebracht hat, daß sich der Finanzminister und die Regierung im Ablauf zu jedem



Dr. Theodor Waigel
Zeitpunkt korrekt und in Abstimmung mit der Bundesbank verhalten haben?

(Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Melden Sie sich doch in der Debatte zu Wort!)


Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210804100
Herr Waigel, erstens scheint es Sie wirklich getroffen zu haben;

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Man läßt sich ungern verleumden!)

sonst würde dieses Zwischenspiel nicht stattfinden.

(Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Ihre Antworten werden immer schlimmer!)

Zweitens. Sie werden mir sicherlich bestätigen, daß es nach diesem Durcheinander am Wochenende wirklich die Höhe gewesen wäre, wenn das Durcheinander zwischen Bonn und Frankfurt auch noch in aller Öffentlichkeit in Washington bestätigt worden wäre.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Erst verleumden und dann noch sagen, es hat getroffen!)

Erst recht werden wir darüber wachen müssen, daß sich an einer Währungsunion nur solche Länder beteiligen dürfen, die die notwendige Stabilitätspolitik betreiben. Wenn am Tag X nur einige EG-Mitgliedstaaten die Voraussetzungen erfüllen, dann wird die Währungsunion zunächst nur in kleinerem Kreis starten.
Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß man mit einer Kernwährungsunion der stabilsten EG-Länder beginnt, wie ich es bereits seit April 1991, z. B. in einem Aufsatz im „Handelsblatt" , gefordert habe. Aus heutiger Sicht könnten das z. B. Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten und auch Dänemark sein, wenn die Dänen sich anders besinnen. Wenn Österreich und die Schweiz beigetreten sein werden, gehören auch diese sicher dazu.
Ein solches Europa der zwei Geschwindigkeiten wäre kein Beinbruch. Das ist doch auch bisher für die Entwicklung in der EG kennzeichnend gewesen. 1957 haben erst einige mit der EG begonnen; auch 1979 fingen mit dem EWS erst einige an. Andere stießen später hinzu.
Schließlich ist für die Stabilität der Währung wichtig, daß auch die dafür verantwortliche Zentralbank in einem Umfeld der Stabilität tätig ist,

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In Frankfurt, nicht in Bonn!)

Ich meine, das ist ein entscheidender Grund dafür, daß die Europäische Zentralbank nach Deutschland kommen muß.
Viertens fürchten viele Menschen den im Maastrichter Vertrag festgelegten Automatismus, demzufolge 1999 die Gemeinschaftswährung kommen soll. Wir Sozialdemokraten wollten diesen Automatismus nie. Wir haben ihn abgelehnt. Herr Bundeskanzler, ich frage Sie, warum Sie sich nicht an Ihre Worte vom 6. November 1991 hier im Bundestag gehalten haben. Dort haben Sie gesagt: „Kein Mitgliedstaat wird gegen seinen Willen zur Mitgliedschaft in der Endstufe zur Wirtschafts- und Währungsunion gezwungen. " Dies heißt, daß ein Automatismus nicht in Frage kommen kann.
Ich verweise darauf, daß die SPD in der Verfassungskommission ausdrücklich ihren Vorbehalt zu Protokoll gegeben hat. Ich bin Herrn Außenminister Kinkel dafür dankbar, daß er heute hier die Klarstellung vorgenommen hat, daß vor dem Beginn der dritten Stufe Bundestag und Bundesrat erneut entscheiden müssen. Wir fordern Sie auf, dies den anderen Mitgliedstaaten in Europa mitzuteilen.

(Beifall bei der SPD)

Fünftens schließlich wird befürchtet, der Zeitraum für eine Europäische Währungsunion bis 1999 sei zu kurz bemessen; es wird gefordert, am besten solle der Vertrag überhaupt keine Jahreszahl enthalten. Ich sehe das anders. Man mag das für ehrgeizig halten. Aber ohne ehrgeizige Ziele kommen wir doch nicht voran. Das ist doch auch die Erfahrung des täglichen Lebens: Nur ein konkreter, überschaubarer Termin übt den Disziplinierungsdruck auf alle EG-Länder aus, ihre Haushalts- und Finanzpolitik in Ordnung zu bringen.
Ich weiß aus vielen Gesprächen, z. B. mit Italienern, Spaniern, Portugiesen und Griechen, daß sie das genauso wie wir sehen. Nur das Wissen, daß man jetzt das Ruder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik herumreißen muß, um in Europa nicht auf Dauer ins Abseits zu geraten, zwingt z. B. Italien dazu, ernsthaft an die Sanierung der Staatsfinanzen heranzugehen. Höchste Zeit ist es ja mittlerweile. Ohne Druck, auch zeitlichen Druck, geht in Europa leider viel zu wenig. Übrigens habe ich den Eindruck, daß auch der Bundesregierung ein solcher Stabilitätsdruck aus Brüssel guttun würde, um auf den Pfad stabilitätspolitischer Solidität zurückzufinden.

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])

Denn Deutschland erfüllt ja heute leider nicht die Voraussetzungen, um selber an der Europäischen Währungsunion teilzunehmen. Das muß sich bald ändern.

(Beifall bei der SPD)

Viele Menschen fühlen sich verunsichert, wenn sie den Namen ECU für die neue Gemeinschaftswährung hören. Wir sollten dieses Gefühl der Menschen ernst nehmen. Warum können wir uns nicht darauf einigen, bei der gemeinschaftlichen europäischen Währung mit den gewohnten Währungsbezeichnungen weiterzumachen, also z. B. in Frankreich vom Euro-Franc, in Holland vom Euro-Gulden oder in Deutschland eben von der Euro-Mark zu sprechen. Ich glaube, das wäre eine gute Sache.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war Waigels Vorschlag!)

Aber das reicht nicht aus. Wir müssen auch den Mißmut ernst nehmen, der sich bei den Bürgern in bezug auf Europa aufgestaut hat. Da kann man nicht nur aufklären; da gibt es auch echte Mißstände, die man ändern muß. Der Bundeskanzler hat jetzt selber über die sogenannte Regelungswut von Brüssel gesprochen. Ich finde das gut. Aber daß die Bundesregierung das tut, ist doch ein bißchen erstaunlich;



Ingrid Matthäus-Maier
denn wir wissen alle, daß es eine Frage nicht nur der Kommission, sondern aller nationalen Regierungen ist.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Unter anderem!)

Ich gebe Ihnen einen Vorschlag mit, damit endlich das Schwarze-Peter-Spiel aufhört: Ist nun die Kommission an der Regelungswut schuld, oder sind es die nationalen Regierungen?

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Oder ist es die Opposition?)

Da gibt es eine einfache Lösung. Setzen Sie beim kommenden Gipfel in England durch, daß die Ministerräte künftig öffentlich tagen! Dann wissen wir, an wem es liegt.

(Beifall bei der SPD — Peter Conradi [SPD]: Damit die Mauschelei aufhört!)

Sie tun Europa keinen Gefallen, wenn Sie sich bei unbequemen Entscheidungen wahrheitswidrig hinter Europa verstecken. Es war nicht gut für Europa, daß Sie die Erhöhung der Mehrwertsteuer wahrheitswidrig den angeblichen Zwängen der europäischen Harmonisierung in die Schuhe geschoben haben.

(Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

Bis heute gibt es die Richtlinie nicht.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das stimmt!)

Glauben Sie etwa, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, daß Sie Europa bei unseren Bürgern in ein gutes Licht rücken, wenn die Menschen lesen, daß Milliarden und Abermilliarden von Steuergeldern für europäische Agrarexportsubventionen aus dem Fenster geworfen werden? Die Menschen werden doch zu Recht wütend, wenn sie z. B. lesen, daß die Europäische Gemeinschaft hunderttausend Tonnen Rindfleisch an Brasilien für eine Mark pro Kilo verkauft, selber aber sechs Mark pro Kilo zahlt, so daß der Steuerbürger in Europa pro Kilo Rindfleisch fünf Mark Subventionen dazuzahlt.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Bitte ohne Emotionen!)

Glauben Sie, daß bei den Menschen die Europa-Begeisterung ausbricht, wenn die Europäische Gemeinschaft im sogenannten Delors-II-Paket völlig überzogene Finanzforderungen aufstellt, während zu Hause hinten und vorne das Geld fehlt und den Bürgern dauernd mit Steuer- und Abgabenerhöhungen in die Tasche gegriffen wird?
Nein, meine Damen und Herren; sorgen Sie dafür, daß auch in Brüssel, wenn neue Aufgaben finanziert werden müssen, erst einmal gespart wird! Vertreten Sie dort die Interessen der deutschen Bürger! Glauben Sie etwa, daß diese Schnapsidee mit der neuen Bananensteuer die Freude der Bürger an Europa wachsen läßt?

(Unruhe bei der CDU/CSU)

Unterlassen Sie das! Wir müssen der Kritik an Europa
den Boden entziehen, damit Leute wie Schönhuber,
Gauweiler von der CSU und Brunner von der F.D.P.

(Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Und Matthäus-Maier!)

mit ihren antieuropäischen Parolen keinen Zulauf erhalten.
Ich komme zum Schluß.

(Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir Sozialdemokraten haben den Maastrichter Vertrag nicht ausgehandelt. Er enthält Mängel und Fehler. Trotz dieser Mängel ist er ein Fortschritt auf dem Weg zu einem geeinten Europa. Deshalb werden wir Sozialdemokraten dem Vertrag zustimmen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210804200
Als nächster spricht der Abgeordnete Karl Lamers.

(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Jetzt kommt endlich Niveau in die Debatte!)


Karl Lamers (CDU):
Rede ID: ID1210804300
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis der teilweise turbulenten Ereignisse der letzten Wochen ist ohne jeden Zweifel: Für den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses kommt auf die Bundesrepublik Deutschland, vor allem auf die Bundesregierung, eine noch größere Verantwortung zu.
In einer solchen Situation ist es gut, feststellen zu können, daß die Rede des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei signalisiert und deutlich gemacht hat, daß es hier einen Konsens zwischen den großen Fraktionen des Bundestages gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bedauere ein wenig, daß der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein uns hat verlassen müssen. Das ändert nichts daran, daß diese Feststellung zutrifft.
Ich bedauere etwas mehr, Frau Kollegin MatthäusMaier, daß Sie glaubten, in dieser Situation auf eine etwas billige und polemische Art den Versuch unternehmen zu müssen, dem Bundesfinanzminister und dem Bundeskanzler europäische Unzulänglichkeiten vorzuwerfen.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ja!)

Das ist in beiden Fällen so offenkundig unsinnig, daß es in ihrem eigenen Interesse und dem ihrer Fraktion besser gewesen wäre, wenn Sie darauf verzichtet hätten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Über den Bundeskanzler brauche ich hier wirklich nichts zu sagen.

(Uwe Lambinus [SPD]: Sehr wahr!)

Aber was den Bundesfinanzminister angeht, will ich feststellen: Es war eine mutige, weitsichtige und erfolgreiche Tat des Vorsitzenden der CSU, dem Vertrag über die Währungsunion zuzustimmen. Denn die Voraussetzungen, die wir zur Gültigkeit in



Karl Lamers
diesem Vertrag formuliert haben, zweifellos so restriktiv sind, daß ich es, offen gestanden, vorher nicht für möglich gehalten habe, sie durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es kann in der Tat keine Frage sein, daß auf diesem Feld der Währungspolitik die besondere deutsche Verantwortung am klarsten zum Ausdruck kommt. Die Bundesbank, ja die Bundesrepublik Deutschland — auch dieses Parlament und die Bundesregierung — treffen bei allen ihren finanzpolitisch relevanten Entscheidungen zugleich europäische Entscheidungen.
Ich halte es für notwendig, uns allen, besonders den Kritikern, die Frage vorzulegen, was die Alternative zu dieser Währungsunion wäre. — Die Alternative der Währungsunion ist schon in der Reaktion der internationalen Finanzmärkte auf das Referendum in Dänemark sehr deutlich geworden.

(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: So ist es!)

Das Ergebnis war, daß ganz Europa für das internationale Anlagekapital uninteressanter geworden ist, daß die ohnehin schwächeren Währungen noch schwächer geworden sind und daß die Führungs- und Ankerfunktion der D-Mark noch stärker betont worden ist — ein den Dänen in der Tat bekanntes Ergebnis,

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Ja, und für die Engländer!)

die nicht zuletzt aus Furcht vor der Vormacht der D-Mark in einem vereinten Europa so gestimmt haben. Wenn wir von „Führungs- und Ankerfunktion der D-Mark" sprechen, hören unsere europäischen Partner natürlich noch etwas anderes heraus und benutzen dann weniger freundliche Ausdrücke.
Wir müssen uns darüber im klaren sein: Daß die Bundesbank und die Bundesrepublik Deutschland entscheiden und daß die anderen folgen müssen, ist auf Dauer nicht durchzuhalten.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Deswegen, so wiederhole ich, war es eine wahrhaft kluge, weitsichtige, ich scheue mich nicht zu sagen: weise Entscheidung, der Währungsunion in dem Augenblick zuzustimmen, als wir unsere Bedingungen für sie durchsetzen konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte mit Nachdruck an uns alle, vor allem aber an die Frau Kollegin Matthäus-Maier, appellieren — Sie selbst haben es gesagt; der Kollege Haussmann hat es ganz klar gesagt —: Es wird keine Währungsunion geben, wenn die Bedingungen nicht stimmen. Aber wir als das Parlament, wir als Bundesrepublik Deutschland dürfen zu allerletzt den Eindruck erwecken, als wollten wir nur konditioniert zustimmen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wenn die Vorbehaltsfrage geklärt ist!)

Das kann nicht unserer Verantwortung entsprechen.
Frau Matthäus-Maier, Sie wissen, daß dieser Eindruck
entsteht, und zwar je nachdem, wie Sie das in Ihrem
Antrag formulieren. Ich finde, wir sollten das unter allen Umständen vermeiden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sollten auch etwas anderes unseren Bürgern klar sagen: Wenn die Voraussetzungen stimmen — ich wiederhole: nur dann wird es die Währungsunion geben —, dann ist sie kein Geschenk an die anderen, sondern dann liegt sie nicht zuletzt im deutschen Interesse.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir betreiben diese Politik nicht, um anderen einen Gefallen zu tun, auch nicht des verständlichen Prestigebedürfnisses anderer wegen. Wir betreiben eine Politik im deutschen Interesse. Aber wir wissen eben, daß die Interessen aller unserer Partner, vor allem derjenigen, mit denen wir in der Europäischen Gemeinschaft verbunden sind, schon heute nicht von den deutschen Interessen zu trennen sind.
Es wird viel von der mangelnden Zustimmung der Bürger gesprochen, und es wird nach den Ursachen gesucht. Dabei wird die „Regelungswut" genannt. Aber der Bundeskanzler hat hier selber zugegeben — ich erinnere Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, daran —, daß wir manchmal selber daran schuld sind, wenn in Brüssel geregelt wird, was nicht unbedingt geregelt werden muß. Aber wir wollen doch nicht so tun, als wäre der Bürger von der Regelungswut in Brüssel mehr betroffen als von der Regelungswut in seiner Gemeinde. Ich selber habe in einem Jahr drei widersprüchliche Müllbescheide bekommen. Von Brüssel habe ich noch überhaupt keine Regelung erfahren.

(Peter Conradi [SPD]: Die geben auch keine Bürgerbescheide heraus!)

— Herr Kollege, die Bürger wissen in der Regel doch überhaupt nicht, woher die neue Regelung kommt. Manchmal wird etwas auf Europa geschoben, was nachweislich nicht das geringste damit zu tun hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte davor warnen, bei der Kritik zu kurz zu analysieren. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes. Die Ängste, die bei den Bürgern aller europäischen Länder vorhanden sind, haben in der Regel gar nichts mit Europa zu tun. Diese Angst sitzt viel tiefer. Die Menschen haben das Gefühl, sie würden von den gewaltigen neuen Herausforderungen in ihrem Land und außerhalb dieser Europäischen Gemeinschaft überwältigt. Es gibt die allgemeine Tendenz, sich ins nationale Schneckenhaus zurückziehen zu wollen.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das ist das Problem! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wir müssen sie da rausholen!)

Es ist uns bewußt, daß die Probleme damit vollends unlösbar werden. Aber die Bürger fühlen sich unsicher und glauben, sich in das Schneckenhaus — bei uns in die D-Mark-Festung -- zurückziehen zu können. Das ist, wie wir alle wissen, eine Illusion; das ist



Karl Lamers
Flucht vor der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit heißt Europa.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wenn wir jetzt also um die Zustimmung der Bürger kämpfen müssen — ich bin sicher, daß wir das gemeinsam tun werden —, dann müssen wir auch die wirklichen Ursachen dieser Ängste kennen. Ich sage nochmals: Sie stecken viel tiefer, als das manche sehen.
Wir reden nur noch über Wirtschaft und Geld.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Engholm hat von Kultur geredet!)

— Darüber habe ich mich auch besonders gefreut, Frau Kollegin Matthäus-Maier. Im allgemeinen aber reden wir über Geld und Wirtschaft.
Wir brauchen uns hier nicht gegenseitig zu versichern, wie wichtig dieser Bereich ist, wie sehr er die Grundlage ist. Aber wir reden viel zu wenig über die ideelle Ausrichtung und über die ideelle Basis dieses Europas.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir reden überhaupt nicht über die Aufgaben, die über dieses Europa hinausreichen. Es wäre gut, wenn wir ein wenig mehr von den Aufgaben, die dieses Europa hat, redeten und vor allem danach handelten.
Es ist schon zu Recht darauf hingewiesen worden: Wenn wir im Konflikt um das frühere Jugoslawien einen größeren Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens hätten leisten können, dann gäbe es manche Kritik nicht. Aber auch was der Kollege Haussmann gesagt hat, ist richtig: Das ist nicht so leicht, wie sich das manche vorstellen.
Wenn die Gemeinschaft in Rio ein noch überzeugenderes Bild geboten hätte — ich nenne das Stichwort der globalen Umweltprobleme —, dann wäre die Zustimmung von manchen jungen Menschen, auch in Frankreich, noch etwas eindeutiger ausgefallen. Aber es ist in der Tat eine der besten Nachrichten gewesen, daß in Frankreich die junge Generation mit der ganz überwältigenden Mehrheit zugestimmt hat,

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Wir brauchen also konkrete Erfolge. Wir müssen auch mehr über die ideellen Grundlagen und über die weiterführenden Ziele der Gemeinschaft mehr sprechen. Wir sind uns alle einig — ich stelle das mit großer Genugtuung fest —, daß dieses Europa nicht stillstehen bleiben kann.
Ich bitte die Briten, ihr Herz über die Hürde zu werfen.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die brauchen den Tunnel!)

Das insulare Bewußtsein, das Gefühl, in diesem nationalen Schneckenhaus die Entscheidung selber treffen zu können, ist wieder gewachsen. Aber es ist eine Illusion.
Wir wollen weitergehen. Wir wollen, wenn es irgendwie geht, mit allen weitergehen. Aber weitergehen müssen wir in jedem Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210804400
Als nächster spricht Herr Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Herr Dr. Goppel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210804500
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler! Vielen herzlichen Dank, daß ich Gelegenheit habe, in Ihrer so wichtigen Debatte zu einem so entscheidenden Zeitpunkt, eine knappe Woche nach der französischen Abstimmung, für den Bundesrat ein kurzes Wort zu sagen.
Wir sind ein föderativer Bundesstaat mit zwei Kammern. Da ist es schade, wenn die Zeiten so eng werden, daß wir gleichzeitig tagen müssen. Das wird in den nächsten Wochen öfters der Fall sein. Es ist bedauerlich, daß wir — ich bitte um Verständnis, daß ich das auch deutlich sage — in einer solchen Lage zeitgleich im Bundesrat über einen anderen Schwerpunkt, den Art. 23, debattieren und einander nicht etwas mehr zuhören können. Ich sage das frei von beißender Kritik und von Spott, einfach mit der Bitte, ein wenig mehr aufeinander zuzugehen.
Lassen Sie mich als zweites vielleicht mit einem Außeneinstieg versuchen, den richtigen Ansatz für unsere Diskussion zu finden, auch aus der Sicht des Bundesrates.
Die Österreicher sind auf dem Weg nach Europa; Sie wissen das. Sie wissen auch, daß am vorigen Dienstag in der entsprechenden österreichischen Kammer die Regierung eine positive Haltung eingenommen und das Parlament positiv abgestimmt hat, daß aber die Meinung in der Bevölkerung eher gegenteilig ist. Wenn wir heute abstimmen würden, dann hätten auch wir — wir wissen es alle —, so sehr wir Europa beschwören, womöglich keine Mehrheit dafür.

(Widerspruch der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

— Die Frage ist, wie lange wir vorher diskutiert haben, Frau Wieczorek. Bei dem jetzigen Stand der Dinge ist es ausgesprochen schwierig.

(Zuruf der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

— Das ändert nichts daran, daß ich mit Ihnen einer positiven Meinung bin. Was soll's?
In Österreich ist die Vorgabe so gewesen, daß die Regierung den Kultusminister gebeten hat, für die Europäische Gemeinschaft vorzuarbeiten und den Schulklassen beizubringen, was eine Europäische Gemeinschaft sei.
Der Lehrer, selber nicht informiert, fragt die Kinder, was sie für Antworten wüßten. Da sie keine wissen, schickt er sie nach Hause und sagt: Fragt die Eltern!
Am nächsten Morgen ist die Klasse voll besetzt. Der erste meldet sich, der Max. Und der Max sagt: Herr Lehrer, mein Vater hat gesagt, Europäische Gemein-



Staatsminister Dr. Thomas Goppel
schaften ist, wenn alle aus einem Topf Brei essen, nur einem jeden schmeckt er anders.
Da fragt er den zweiten. Der sagt: Mein Vater hat gesagt, die Europäische Gemeinschaft ist, wenn alle an einem Strick ziehen, nur jeder in einer anderen Richtung.
Die dritte, eine Schülerin, sagt: Es ist so wie ein blauer Strauß von Iris mit goldenen Sonnenblumen, umgeben vom rot-weiß-roten Band der Vaterlandsliebe. Da sagt er: Sehr schön; auch recht.
Da meldet sich einer, der sagt: Europäische Gemeinschaft ist ein großer Dampfer auf einem großen Meer bei einem großen Sturm. — Warum? Da sagt er: Allen ist zum Speien, aber keiner kann aussteigen.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Ich glaube, das artikuliert das, was unsere Bürger empfinden. Sie sehen, daß in der Frage Jugoslawien die Einheit, die wir brauchen, nicht hergestellt ist. Sie sehen, daß in der Frage einer Europäischen Gemeinschaft nicht absehbar ist, daß wir wirklich ganz stabil bleiben und daß unsere Währung stabil bleibt. Und sie sehen, daß in der politischen Union vieles nicht erledigt ist.
Was will ich damit sagen? Ich bin damit schon beim dritten Gesichtspunkt: Was immer wir in der Zukunft tun, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, das Allerwichtigste ist, daß wir das Vertrauen der Bürger zu Europa erwerben und uns überall erdiskutieren, der Bundesrat ebenso wie die Bundesregierung und der Bundestag. Wir sind weit weg von dem, was die Menschen bei uns bewegt. Wir täten uns den größten Tort an, wenn wir uns in der Debatte so verhielten, als ob wir nun mit „Helm auf und durch" quer durch das Gelände könnten und das Thema dann am Ende mit der Rückendeckung unserer Bürger erledigten.
Wenn am 16. Oktober in London verhandelt wird, muß aus deutscher Sicht gesagt werden, wie die Spielräume, die das Maastrichter Vertragswerk läßt, genutzt werden sollen.

(Beifall der Abg. Heidemarie WieczorekZeul [SPD])

Es geht nicht um Nachbesserungen. Das ist eine fehlerhafte, unschöne, unsaubere und, ich würde sogar sagen, fast scharlatanische Diskussion derer, die in dieser Debatte immer so tun, als ob alles bis zur Abgabe von Souveränität festgelegt wäre. Es geht darum, zu sagen, wie Spielräume, die vorhanden sind, die die Regierungschefs bzw. die Außenminister eigens gelassen haben, genutzt werden können.
Ich habe das am Anfang kritisch bewertet. Mittlerweile bin ich der Meinung: Gott sei Dank ist das alles offen. Da bleibt eine Menge zur Veränderung von Europa, auch im Sinn der eigenen nationalen Souveränität, auch der regionalen Identität. Es bestehen hier also viele Möglichkeiten.
Die Liste muß in London bekanntgemacht werden, damit unsere Partner wissen, was in der Zukunft entfaltet werden kann. In Edinburgh muß es ein Stück weitergehen. Wenn 1996 über eine politische Union
als Vertragsteil weiterverhandelt wird, dann müssen die Voraussetzungen für die Währungsunion stehen.
Der Herr Bundeskanzler hat gesagt: Ohne politische Union gibt es keine Währungsunion. Dies muß vorbereitet werden; es ist bis dato offen.
Lassen Sie mich dazusagen: Ich bin dabei sehr dankbar; denn die deutsche Bundesregierung hat mit den Regierungschefs zusammen in Lissabon einen entscheidenden Schritt getan, um zu belegen, daß das europäische Vertragswerk von Maastricht nicht eine endgültig festgeschriebene Masse ist.
Herr Gysi ist nicht mehr da. Er ist wahrscheinlich wieder dabei, die Volksabstimmung vorzubereiten, die unzulässig ist.

(Horst Kubatschka [SPD]: Mit dem Gauweiler zusammen!)

— Nein; das ist nicht wahr.

(Heiterkeit)

Ich darf Ihnen sagen: Der große Unterschied zwischen beiden ist folgender. Wenn Sie Herrn Gysi nachlesen, dann werden Sie all das, was er jetzt gesagt hat, bei Auswechslung von EG und RGW in seinen Reden von früher wiederfinden. Beim Peter Gauweiler werden Sie durchgängig die Entwicklung einer Position auf Grund einer einzigen Überzeugung finden, die er hat.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die ist trotzdem nicht richtig!)

— Frau Hellwig, den Streit fechte ich noch leicht aus.
Die wesentliche Frage für mich an dieser Stelle ist, daß die Regierungschefs bereits im Juni dieses Jahres in Lissabon erklärt haben, daß der Art. 3 b des Vertrags, die Subsidiarität, was ich hier nicht zu erläutern brauche, nicht eine Einbahnstraße von den nationalen Staaten hin zur Zentrale ist. Also, die Aufgaben, die noch nicht bei der EG sind, werden geprüft, ob sie bei Beachtung des Subsidiaritätsprinzips überhaupt verlagert werden können. Es wird von den Regierungschefs und der Kommission ausdrücklich erklärt, daß sie auch bereit sind, die schon bei der EG geregelten Materien daraufhin zu prüfen, ob sie denn nicht besser zur Nation oder zu den Ländern — je nachdem, wie es intern geregelt ist — zurückkehren.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Die Landwirtschaft!)

Ich halte das für einen ganz wesentlichen Ansatz, den unsere Neinsager hervorheben, die die Volksabstimmung wollen, weil sie sonst ihre Mehrheit nicht kriegen. Das ist der einzige Grund. Ich finde, es ist das Unfaire in der Diskussion, daß Sie nie bereit sind, zuzugeben, daß Sie entlang des Grundgesetzes — sage ich jetzt vorsichtig —

(Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht dem zugehört, was ich gesagt habe!)

in der Debatte immer nur einfordern, daß man zu
etwas, was noch nicht geregelt ist, nein sagen können
muß. Überlegen Sie, was Sie dem Volk zumuten! Eine



Staatsminister Dr. Thomas Goppel
Ermächtigungsklausel, daß das Volk beschließen oder verneinen soll, ist im Vertrag nicht festgelegt,
Der Bundeskanzler hat heute früh vor Ihnen ausdrücklich gesagt, daß es notwendig ist, die politische Union mit der Währungsunion im Einklang zu sehen. Ich stimme ihm zu. Ich bin dankbar, daß es so gesagt worden ist.
Ich komme zur letzten Bemerkung. In den nächsten Wochen steht als eine unserer gemeinsamen Aufgaben der Art. 23 GG zur Abstimmung an, zusammen mit unserer Ratifizierung. Ich bin der Bundesregierung und dem Bundestag dankbar, daß wir diese Diskussion aufgeschlossen führen konnten. Sie ist die Meßlatte, an der föderative Ordnung in der Zukunft in der EG gemessen wird. Deswegen ist der Art. 23 von Bedeutung. Was wir hier gemeinsam an Aufteilung von Zuständigkeit rechtzeitig finden, wird eines Tages auch in anderen Staaten Maßstab für die Zusammenarbeit auf nationaler und anderer Ebene sein.
In dem Zusammenhang ist auch wichtig, daß wir das als Meßlatte für die Form der Beteiligung betrachten, die wir uns jeweils auf den unterschiedlichen Ebenen zugestehen. Was zwischen Bund und Ländern möglich ist, muß auch zwischen Ländern und Kommunen möglich sein.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Aber es muß eben als Aufgabe gemeinsam gemacht werden. Ich höre das „Aha!" mit Wohlgefallen, weil es bestätigt, daß ich mit meiner Meinung so falsch nicht liege.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Wie ist das mit dem Regionalausschuß, Herr Staatsminister?)

— Frau Hellwig, Sie wollen viel, viel mehr als das, was Sie mir zugestehen. Das ist ganz etwas anderes. Aber das ist selbstverständlich jeder Dame unbenommen. Dies sage ich, auch wenn das vielleicht für manche schon wieder eine sexistische Bemerkung gewesen sein mag.

(Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Ich habe es nicht so verstanden!)

Lassen Sie mich schließen. Unsere Hauptaufgabe ist es, nach außen zu dritt, nämlich aus den drei Ebenen, unsere Abgeordneten im Europarat, Sie im Bundestag, wir aus der Sicht der Länder, an einem Strang zu ziehen und dafür zu sorgen, daß die deutsche Position, die in Maastricht eine in der Währungsunion, Herr Bundesfinanzminister, exzellente Ergebnislage vorfindet, in der Politischen Union für die nächsten Jahre eine Ausgangsbasis erhält, die viel Gestaltungsraum läßt, den wir allerdings nutzen müssen, um das auch gegenüber den elf Partnern zu vertreten.
Im Moment besteht die Gefahr, daß uns überall dort, wo wir auftreten, diejenigen, die uns mahnen, wir sollten das alles bleibenlassen, einen großen Strich durch die Rechnung machen, weil die anderen elf uns nachsagen, es sei doch wohl nicht der glücklichste Fall, daß in Deutschland zwar insgesamt immer wieder gesagt werde, man wolle Europa, wenn es aber ans Eingemachte gehe, beginne man, sich zu drücken.
Es gibt eine Reihe von Beispielen, die bis in die CSU hineingehen, das möchte ich gar nicht bestreiten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

— Das ist der kleine Unterschied für diejenigen, die sich in der Diskussion befinden. — Ich sehe überhaupt keinen Grund, etwas zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist. Dafür bin ich um so hartnäckiger in anderem. Da ich heute früh zugehört habe, wie oft Sie etwas verteidigt haben, Frau Matthäus-Maier z. B., was sich als nicht richtig herausgestellt hat,

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was denn?)

muß ich sagen, da bin ich der Hehrere von uns beiden. Die Diskussion mit dem Herrn Bundesfinanzminister zeigt es.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210804600
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210804700
Ja.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1210804800
Da ich meine Rede von vor einer halben Stunde noch sehr gut im Kopf habe,

(Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: So sicher ist das nicht!)

frage ich Sie, an welchem konkreten Beispiel ich heute morgen etwas verteidigt habe, was sich als falsch erwiesen hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Alles!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210804900
Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie haben dem Herrn Bundesminister der Finanzen etwas unterstellt, was der Herr Bundesfinanzminister in konkreten Daten zurückzuweisen imstande war. Sie haben daraufhin Ihre Behauptungen wiederholt, und das ist die Art, die ich nicht schätze.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

Ich bin derjenige, der an der Stelle sagt: Gut, es tut mir leid, das habe ich nicht genau gewußt, ich freue mich, daß es anders ist. Warum auch nicht?

(Zuruf von der SPD)

Ich habe das sehr genau angehört. Ich meine, unsere europäische Position muß sein, daß wir gemeinsam in einer klaren und geschlossenen Front aus deutscher Sicht unsere föderative Ordnung als Modell für eine europäische Einigung vortragen, weil das zur Folge hat, daß Zentralismus abnimmt, Vielfalt zunimmt und Einheit daraus wächst.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210805000
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (SPD):
Rede ID: ID1210805100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das französische „Ja" zur Ratifizierung erlaubt es, den Maastricht-Prozeß fortzusetzen. Ich sage ausdrücklich den Prozeß. Das ist zu



Dr. Norbert Wieczorek
begrüßen. Es hat aber auch deutlich gemacht, daß das dänische „Nein" kein Zufallsergebnis war und daß das Motto, das danach ausgegeben wurde „Augen zu und durch", wahrscheinlich falsch war.
Wenn ein Mann wie Jacques Delors, wie am Mittwoch gegenüber dem Europa-Ausschuß, seine tiefe Besorgnis über die Krise in der EG zum Ausdruck gebracht hat, ist das ernst zu nehmen. Es ist wohl auch kein Zufall, daß der Kanzler und Präsident Mitterrand jetzt von einem „Interpretationspapier zum Vertrag" sprechen. Wenn ein Sondergipfel ansteht, ist wohl auch klargeworden, daß die Kritik am Vertrag nicht unberechtigt ist. Die Krise mag insofern nützlich sein, wenn sie offenkundige Schwächen in der Demokratieentwicklung der EG, in der Transparenz der Entscheidungsprozesse, in der Entbürokratisierung und Dezentralisierung und bei einzelnen Regelungen zu beseitigen hilft. Weitere Integration ist im Interesse der Wirtschaft, der Friedenssicherung und der Selbstbehauptung Europas notwendig. Sie wird aber gefährdet, wenn legitime Kritik nicht aufgenommen wird. Dies ist die Lehre sowohl aus dem dänischen wie aus dem franzöischen Referendum.

(Beifall bei der SPD)

Diese Lehre muß gezogen werden, wenn wir das rechtlich klare Nein in Dänemark, das den Vertrag eigentlich erst einmal nicht existent gemacht hat, überwinden wollen. Das gilt erst recht auch für die sehr kritische Situation hinsichtlich der Ratifizierung in Großbritannien. Sie wird von Tag zu Tag unwahrscheinlicher. Hier muß man die Kritik aufnehmen.
Ich glaube nicht, daß das allein mit Aufklärung getan ist. Das mag notwendig sein, da stimme ich zu. Aber es ist bemerkenswert, daß in Frankreich jeder Bürger diesen Vertrag zugesandt bekam und anschließend in den Umfragen das Nein-Votum stieg. In Dänemark sind ebenfalls 500 000 Exemplare verteilt worden. Da mag es auch einen Zusammenhang geben.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Ich meine das nicht ganz so spöttisch, wie ich es gesagt habe. Ich glaube nämlich, daß es vielmehr daran liegt, Kollege Faltlhauser, daß wir in einer Zeit wirtschaftlicher Schwäche nicht nur in Europa, sondern auch in Japan und in den USA den bisherigen wirtschaftlichen und politischen Prozeß nicht so fortsetzen können wie bisher.
Der Bürger, der gewohnt war, Integration mit Wohlstandsmehrung zu verbinden, erlebt diese zur Zeit nicht. Die ersten konkreten Auswirkungen des Binnenmarktes sind für ihn — ob er nun recht hat oder nicht, ist unerheblich, es kommt auf sein Empfinden an — eher negativ: die Mehrwertsteuererhöhung von Herrn Waigel, die Diskussion in den Betrieben über Arbeitsplatzverlagerungen nach Südeuropa, die hohen Zinsen mit ihren negativen Beschäftigungswirkungen. Er steht daher aus diesen materiellen Gründen der Wirtschafts- und Währungsunion skeptisch gegenüber.
Es ist auch die Asymmetrie des Maastrichter Vertrages im wirtschafts- und währungspolitischen Teil, die für mich im Vordergrund steht. Diese Asymmetrie
besteht darin, daß für den geldwirtschaftlichen Teil per saldo gute Regelungen gefunden sind, daß aber das, was die Lebensinteressen der Bürger berührt, nämlich Arbeitsplätze und ökonomische Sicherheit, im Vertrag nicht direkt zu finden ist, sondern eigentlich nur über die abstrakten Formulierungen zur Währungsunion vermittelt wird, da allerdings mit einem Inhalt, der erst einmal wachstumsdämpfende Wirkungen hat, sonst ist Konvergenz in den Inflationsländern nicht möglich. Das muß man klar sehen.
Es ist richtig, daß bei der gegebenen wirtschaftlichen Integration in der EG, aber auch bei der weltwirtschaftlichen Verflechtung nationale Wirtschaftspolitik ihre Grenzen erreicht hat. Der Vertrag bleibt aber recht vage, wenn es darum geht, z. B. eine koordinierte Beschäftigungspolitik zu betreiben. Zu Recht ist das nicht an Brüssel überwiesen worden. Das sehe ich auch so. Nur, die Koordinierung in dieser Politik ist sehr vage beschrieben, aber sie ist notwendig. Der Bürger muß sich daher fragen, was ihm der Vertrag bringt. Denn Währungspolitik ist für ihn schlechthin abstrakt, auch wenn die D-Mark in der Bundesrepublik Teil unserer Identität ist. Der Währungspolitiker kritisiert diese Asymmetrie zwischen Währungs- und Wirtschaftsunion unter dem Gesichtspunkt der Währungspolitik. Der Bürger aber sieht sein Sicherheitsbedürfnis, seine Zukunftsaussichten nicht hinreichend berücksichtigt. Ich glaube daher, daß der Maastricht-Prozeß politisch besser abgesichert werden muß. Das gilt nicht nur für die angesprochene Wirtschaftspolitik, sondern auch für die Bereiche Außen- und Verteidigungspolitik und andere politische Bereiche. Die Zeit, in der sich unter dem Druck des Ost-West-Verhältnisses die politische Übereinstimmung in weiten Bereichen relativ einfach erreichen ließ, ist vorbei.

(Beifall bei der SPD)

Die weitere Integration muß damit nach meiner tiefen Überzeugung im politischen Bereich ansetzen und kann nicht nur über die Wirtschaftspolitik vorangetrieben werden.
Wenn jetzt Anlaß und Möglichkeit besteht, auf verschiedenen Wegen nachzubessern — darüber darf ja jetzt geredet werden, ohne daß man verdächtigt wird, man wolle den Vertrag in die Luft sprengen —, dann ist das für die Interpretation der Vertragsabsichten, für seine Durchführung, aber auch für seine Akzeptanz gut.
Wir haben in den letzten Wochen ein weiteres Problem erlebt, nämlich, daß ein Teil bestehender Integration plötzlich stark gefährdet ist. Ich meine das, was wir im EWS erlebt haben. Das EWS ist in die Krise gekommen, weil sich die Volkswirtschaften der Partnerländer realwirtschaftlich auseinanderentwickelt haben, aber aus politischen Prestigegründen die im Währungssystem vorgesehenen Wechselkursanpassungen nicht durchgeführt haben. Ein Punkt, den übrigens die Bundesbank seit Jahren kritisiert.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das Prestigedenken, wie auch immer es motiviert war, ist wirtschaftlich und politisch teuer geworden. Der Versuch einiger Partnerländer, ihre Währungen



Dr. Norbert Wieczorek
trotz ihrer inneren wirtschaftlichen Schwächen zu halten, ist gescheitert. Mit dem Nein der Dänen haben die Märkte gemerkt, daß sie diese Schwäche ausnutzen können. Deswegen beschimpfe ich nicht die Spekulanten. Sie haben ihre Rolle gespielt, sie haben diese Schwächen schonungslos offengelegt — ich glaube, das muß man deutlich sagen —, sie haben als Korrektiv gewirkt. Es hat sich aber auch exemplarisch gezeigt, daß Währungspolitik allein wirtschaftliche Differenzen im realwirtschaftlichen Bereich nicht beheben kann und daß, wenn die Krise offenbar wird, im Gegenteil die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit um so mehr gefährdet wird. Das ist die gegenwärtige Lehre aus der Situation des Europäischen Währungssystems, auch für Maastricht und die geplante Währungsunion.
Ich bin übrigens dafür, daß wir das Währungssystem fortsetzen. Ich kann mir auch Verbesserungen vorstellen. Ich würde es begrüßen, wenn im Zuge der Diskussion um eine Neukonzipierung des Währungssystems z. B. die Partnerländer ihre Zentralbanken in die Unabhängigkeit entließen. Das wäre hilfreich.

(Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl! Sehr gut!)

Ich könnte mir auch vorstellen, daß man die unbeschränkte Interventionspflicht, die praktisch eine Interventionsverpflichtung nur für die Bundesbank ist, vielleicht beschränkt. Immerhin sind nach meinem Kenntnisstand von der Bundesbank über 90 Milliarden DM in den letzten 14 Tagen in Interventionen geflossen. Das ist verbesserungsfähig.

(Zustimmung des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU])

Aber ich möchte mit aller Deutlichkeit vor einer Tendenz warnen, die man aus der Presse entnehmen konnte und auch sonst hörte, daß man überlegt, wenn es mit Maastricht nicht so richtig weitergeht, aus dem EWS eine vorgezogene Währungsunion zu machen und dann die Integration über die Währungsunion voranzutreiben. Das halte ich für gefährlich. Ich kann mir vorstellen — der Vertrag sieht das auch vor —, daß nach den Kriterien nur eine kleine Gruppe von Ländern mit der Währungsunion 1999 beginnt. Seit der Stellungnahme von Herrn Kinkel ist klar, daß dies nicht mehr automatisch geschieht, sondern daß der Deutsche Bundestag und der Deutsche Bundesrat dazu etwas zu sagen haben.

(Beifall bei der SPD)

Nur, die Partnerländer müssen dies auch rechtlich anerkennen. Dies bleibt noch zu leisten, Herr Kinkel.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das haben wir doch schon einmal im Plenum beschlossen! — Widerspruch bei der SPD)

— Das haben wir beschlossen, aber die Partnerländer müssen es rechtlich anerkennen. Sehen Sie sich einmal den Vertrag an, Herr Kollege. Danach können wir zwar Nein sagen, aber die anderen können über uns bestimmen. Das ist noch nicht geregelt.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Da nickt auch Herr Faltlhauser!)

Aber das bekommen wir noch hin, ich sehe die Tendenzen bei Ihnen.
Aber mir kommt es auf etwas anderes an. Mir kommt es darauf an, daß man sich darüber im klaren sein muß, daß bei einer Währungsunion, an der nur wenige teilnehmen, die Struktur der EG geändert werden muß. Dies gilt für den Ministerrat, das gilt für die Kommission, und das gilt auch für das Parlament. Sonst kann das Ganze nicht funktionieren. Deswegen warne ich davor, jetzt so locker vom Hocker — wie wir es in den Zeitungen lesen können — zu sagen: Machen wir doch aus dem EWS eine vorgezogene Währungsunion. Man sollte daraus nicht wieder den Fehlschluß ziehen, man könne über die Wirtschaft und erst recht nur über die Währung als Teil der Wirtschaft die europäische Integration voranbringen. Davor warne ich ausdrücklich, denn das führt zu nichts. Wer — sollte es anders kommen — sagt, dann gehen wir aber danach vor, der muß dies im Rahmen der Gemeinschaft tun, mit gemeinschaftlichen Regelungen und mit Zustimmung aller Partnerländer. Sonst kann das nicht funktionieren.
Das EWS ist es wert, gerettet zu werden. Die dafür notwendige Anpassung der Wechselkurse hat zum Teil stattgefunden. Wir wünschen uns, daß wir ein vernünftiges Realignment bekommen, und zwar deshalb, weil dadurch Ruhe auf den Märkten einkehren würde, weil damit die rezessiven Wirtschaften, die wir überall in Europa haben, die mit für dieses Europamißtrauen, für diese leichte Abneigung, die wir verspüren, verantwortlich sind, überwunden werden könnten. Dies würde den entscheidenden Vorteil bringen, daß die Bundesbank in ihrer Hoheit die Zinssenkungen vornehmen kann, die sie durch die Wirkung einer Aufwertung, die die Inflation dämpft, vertreten kann. Damit ist aber nicht der Teil geregelt, lieber Theo Waigel, den Sie als Finanzminister noch im Rahmen Ihrer Haushalts- und Finanzpolitik regeln müssen. Aber dies wäre ein gutes Signal für die weitere Entwicklung in Europa, weil dann die Chance besteht, im Laufe der nächsten zwölf Monate die gegenwärtige Krisensituation zu überwinden und dadurch eine größere Zustimmung für Europa zu bekommen, als dies jetzt der Fall ist.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1210805200
Als nächster Redner spricht Herr Abgeordneter Faltlhauser.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1210805300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem vorübergehenden Ausstieg Englands aus dem Europäischen Währungssystem — ich hoffe vorübergehend — rief der stellvertretende Parteivorsitzende der Konservativen, Tim Smith, in die bereitstehenden Mikrophone: „Die Deutschen haben gegen das Pfund Sabotage betrieben. " Diese eilfertige Schuldzuweisung ist ökonomisch falsch, und sie ist politisch, wie ich meine, unanständig! Wir müssen sie ausdrücklich zurückweisen.
Die Anpassung des EWS war — das hat der Kollege Wieczorek schon betont — das notwendige und folgerichtige Ergebnis ökonomischer Grundtatsachen. Die Leistungskräfte der verschiedenen Volkswirtschaften innerhalb der EG liegen noch sehr weit auseinander.



Dr. Kurt Faltlhauser
Konvergenz und Harmonie der wirtschaftlichen Grunddaten sind in Europa bei weitem noch nicht erreicht. Der Druck, der zur Anpassung der Lira und auch des Pfundes geführt hat, hat dokumentiert, daß eine solide Währung nicht auf Konferenzen beschlossen werden kann, sondern daß sich jedes Land selbst eine solide Währung erarbeiten muß.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Die Probleme sowohl der Italiener als auch der Briten sind weitgehend hausgemacht. Dies muß auch Herrn Smith gesagt werden, wobei bei England — das hat die Kollegin Matthäus-Maier schon angedeutet — noch der zu hohe Eintritt des Pfundes in das EWS vor zwei Jahren hinzukommt. Die notwendigen Währungsanpassungen sind, wie ich meine, zu lange verzögert worden. Wir haben in den letzten zwei Wochen erlebt, daß sich notwendige Korrekturen der Wechselkurse durch politische Festlegungen — und seien sie noch so kategorisch — auf Dauer nicht verhindern lassen.

(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Völlig richtig!)

Dies sollten unsere Freunde in England erkennen. Hier von Sabotage zu reden, zeugt von wirtschaftspolitischer Selbstgefälligkeit. Wir müssen die Bundesbank, die ihre gesetzliche Pflicht zur Wahrung der Stabilität erfüllt, ausdrücklich vor unsachlichen Angriffen in Schutz nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für die Stabilität oder Instabilität der Wechselkurse kommt es auf die Realitäten des wirtschaftlichen Zustandes der einzelnen Mitgliedsländer an. Mir persönlich sind deshalb die Spekulationen gegen den Franc völlig unverständlich. Frankreich betreibt eine hervorragende und vorbildliche Stabilitätspolitik und hat beste Ergebnisse vorzuweisen. Dies sollte bei den Spekulationen gesehen werden, diese sollten sich an den Grundtatsachen orientieren.
Welche Schlußfolgerungen müssen wir aus den Erfahrungen mit der Anpassung des EWS und den Unruhen in den letzten Tagen ziehen?
Erstens. Wir müssen alles tun, um das EWS zu erhalten. Es ist das richtige System. Es muß nur richtig gehandhabt werden. Es ist punktuell falsch gehandhabt worden. Dies hat zu entsprechenden Verzerrungen geführt.
Zweitens. Mit Blick auf die Maastrichter Verträge möchte ich eine positive Schlußfolgerung aus diesen Unruhen ziehen. Die von den Märkten erzwungenen Realignments sind eine nachhaltige Mahnung für alle Maastrichter Vertragspartner, die in diesem Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien tatsächlich ernst zu nehmen und intensiv daran zu arbeiten, diese Kriterien zu erfüllen. Die ständigen Appelle des Finanzministers Theo Waigel, die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages müßten eng und streng interpretiert werden, sind jetzt durch die Wechselkursgeschehnisse nachhaltig bestätigt worden. Politische Beschlüsse und guter Wille allein können diese gewünschten Wechselkursrelationen nicht halten.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist fest entschlossen, auf die strikte Einhaltung der Konvergenzkriterien auf dem Wege in die dritte Stufe der Währungsunion zu drängen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir werden dies in einem Entschließungsantrag — ich hoffe gemeinsam mit der Opposition — noch einmal ausdrücklich unterstreichen. Wir wollen nicht, daß politische Willenskundgebungen und nationales Prestigedenken ökonomische Sachverhalte überdekken.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Drittens. Was uns im übrigen nach diesen Turbulenzen besorgt machen muß, sind die von mir bereits genannten Schuldzuweisungen über die Grenzen hinweg. Der monetäre Fremdenhaß — wie ihn Wilhelm Hankel in einem „Handelsblatt"-Beitrag genannt hat — ist nicht der Geist, mit dem man eine Währungsunion macht und der eine Währungsunion zusammenhält. Wir brauchen nicht nur eine Konvergenz der ökonomischen Ergebnisse, sondern auch eine Konvergenz des ökonomischen Denkens und des ökonomischen Strebens. Wenn die Bestrebungen einzelner Länder darin bestehen, eigene Versäumnisse durch unsinnige Schuldzuweisungen zuzudekken, verspricht dies nichts Gutes für den Bestand einer Währungsunion.
Nun ist in allen politischen Lagern modern geworden, noch eine Volksabstimmung über die Verträge von Maastricht zu wollen. Ich hielte eine Volksabstimmung über die Maastrichter Verträge für einen gravierenden Fehler.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wohl wahr!)

Dabei möchte ich nicht schlicht auf die Gegebenheiten des Grundgesetzes verweisen. Dieser Hinweis würde auch viele Bürger nicht befriedigen, die von dem Wunsch nach unmittelbarer Beteiligung beseelt sind. Ich möchte vielmehr auf einen politischen Aspekt hinweisen. Viele Franzosen, Politiker und andere, haben sich im Frühsommer immer wieder gefragt, was Präsident Mitterrand veranlaßt haben mag, ohne Not das Risiko des Referendums zu Maastricht einzugehen. Wie groß dieses Risiko war, hat das „petite oui" in Frankreich gezeigt. Man stelle sich vor, welches Signal die Bundesrepublik Deutschland ihren Partnern in Europa geben würde, wenn wir nach dem riskanten französischen Spiel, das gerade noch gutgegangen ist, unsererseits ohne Verpflichtung und ohne rechtliche Grundlage das Risiko des plebiszitären Scheiterns eingehen würden.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Verrückt und unverantwortlich!)

Das wäre ein Signal der Resignation, das wäre ein Signal des Versteckten Nein und ein Signal fahrlässigen Populismus. Nein, eine Volksabstimmung können und sollten wir nicht machen!
Bundestag und Bundesrat als Organe einer repräsentativ verfaßten demokratischen Ordnung sind diejenigen, die die ausreichende demokratische Legitimation geben können und müssen. Um so wichtiger ist eine angemessene Beteiligung des Bundestages zu



Dr. Kurt Faltlhauser
den einzelnen im Vertrag vorgesehenen Entscheidungszeitpunkten auf dem Weg in die dritte Stufe. Die Fraktion der SPD hat hierzu bereits eine Formulierung vorgelegt. Darüber müssen wir noch diskutieren.
Wir stehen dabei in einem Abwägungsprozeß: Einerseits müssen wir den Ideen einer Volksbefragung das Element einer qualifizierten Mitsprache des deutschen Parlaments deutlich gegenüberstellen. Wir sollten aber andererseits auch vor einer einseitigen Opting-out-Klausel zurückweichen. Ich empfehle, daß sich die Ideenfinder einmal die Erklärung zur Rolle der nationalen Parlamente im Vertragstext von Maastricht anschauen. Hier könnte der Anknüpfungspunkt für weitere Formulierungen liegen.
Auf dem Sondergipfel am 16. Oktober sollten meiner Ansicht nach neue positive Ansätze und Ideen entwickelt werden. Bundeskanzler Kohl hat damit unter Hinweis auf die Entschlackung bürokratischer Anmaßung auf europäischer Ebene schon begonnen.
Wir werden die Zustimmung der Bevölkerung für unseren Weg nach Europa nicht durch Farbbroschüren erlangen, sondern nur durch verständliche politische Entscheidungen und durch mutiges Eintreten aller Führungspersönlichkeiten innerhalb und außerhalb dieses Hauses für Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD — Eduard Oswald [CSU/CSU]: Sehr beeindruckend!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210805400
Ich erteile als nächstem Redner unserem Kollegen Ulrich Irmer das Wort.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1210805500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich knüpfe an das an, was der Kollege Faltlhauser soeben zur Volksabstimmung gesagt hat. Mein Eindruck ist, daß sowohl in Dänemark als auch in Frankreich viele Menschen überhaupt nicht richtig gewußt haben, was eigentlich zur Abstimmung stand.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: So ist es!)

Ich habe ferner den Eindruck, daß viele der Kritiker bei uns auch sagen: Wir lehnen Maastricht ab, obwohl sie in Wahrheit etwas ganz anderes meinen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)

Viele bei uns sind mit der EG, wie sie sich heute präsentiert, unzufrieden. Es gibt in der Tat verschiedene Kritikpunkte, die durchaus berechtigt sind. Aber das ist genau der Grund, weshalb wir Maastricht umsetzen wollen. Die Logik, die hinter Maastricht steht, ist ja, daß wir die jetzige EG aus ihrer Unvollkommenheit heraus zu einem Gebilde weiterentwikkeln wollen, das uns allen besser gefällt, als das heute der Fall ist.
Ich will ein paar Beispiele geben. Die französischen Bauern z. B. — das wurde hier vorhin gesagt — haben mehrheitlich zwar gegen Maastricht gestimmt, aber sie haben eigentlich dagegen gestimmt, daß die Agrarpreise in ihren Augen zu niedrig sind. Davon steht im Vertrag von Maastricht aber überhaupt nichts
drin. Insofern war das überhaupt kein Votum zu Maastricht. Aber es ist ganz klar: Wir müssen in der weiteren Entwicklung unserer EG auch die EG-Agrarpolitik gründlich reformieren.
Ich nenne einen zweiten Punkt. Es wird mit Recht beklagt, daß die EG nicht in der Lage gewesen ist, das Blutvergießen in Jugoslawien zu verhindern. Das ist außerordentlich bedauerlich. Aber es wäre ein völliger Fehlschluß, daraus jetzt abzuleiten, daß die EG nichts tauge und auch in Zukunft nichts taugen könne, oder auf Grund dessen etwa gegen Maastricht zu reden. Der Vertrag von Maastricht ist ja gerade darum bemüht, diesen bedauerlichen Zustand zu ändern und der EG endlich die Möglichkeiten zu geben, die sie braucht, um in Zukunft eine überzeugende gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreiben zu können.

(Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Insofern ist die Kritik, die hier an Maastricht ansetzt, auch falsch.
Dann wird gesagt: Da in Brüssel bildet sich ein undurchschaubarer Wasserkopf. Die Menschen mögen das nicht. Sie wollen nicht den Zentralismus. Sie befürchten, ihre nationale Identität zu verlieren. Auch diese Sorgen sind außerordentlich ernst zu nehmen. Nur, auch da versuchen wir ja, durch Maastricht etwas zu ändern.
Es gibt dieses wirklich schreckliche Wort Subsidiaritätsprinzip. — Jetzt ist es mir, glaube ich, zum erstenmal gelungen, dieses Wort sogar ohne Stottern richtig auszusprechen. Da hatte vorhin sogar der Bundeskanzler gewisse Schwierigkeiten.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Das ist ein fast unaussprechliches Wort, das aus diesem Grunde ja auch niemand versteht. Wir müssen das begreiflich machen. Soll ich Ihnen einmal sagen, was damit gemeint ist?
Es lohnt sich, einen Blick in die Tagesordnung dieses Hauses vom gestrigen Tage zu werfen. Da haben wir uns, zwar nicht in Form einer Aussprache — Gott sei Dank —, aber durch Abstimmung mit so atemberaubenden Themen wie den folgenden befaßt: „Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit, maximales Drehmoment und maximale Nutzleistung des Motors von zweirädrigen oder dreirädrigen Kraftfahrzeugen".

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist zu hoch für Sie! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Soll ich Ihnen das erklären?)

Es geht weiter: „Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über den Einbau der Beleuchtungs-
und Lichtsignaleinrichtungen für zweirädrige oder dreirädrige Kraftfahrzeuge". — Dann geht es weiter — das ist eine ganz lange Liste; ich wähle nur Beispiele aus —:

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Die Redezeit reicht nicht aus!)

„Legislative Entschließung (Verfahren der Zusammenarbeit: Erste Lesung) mit der Stellungnahme des
Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kom-



Ulrich Irmer
mission an den Rat für eine Richtlinie über die vorstehenden Außenkanten

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aufhören!)

vor der Führerhausrückwand an Kraftfahrzeugen der Klasse N".
Meine Damen und Herren, damit hat sich dieses Hohe Haus gestern beschäftigt. Nun behaupte ich ja nicht, daß die nationale Identität der Dänen oder der Italiener oder der Belgier oder der Deutschen daran zugrunde ginge, daß die EWG einen solchen Unsinn regelt. Das ist sicher keine Frage der nationalen Identität, aber es zeigt, auf welchem gefährlichen Wege wir uns bisher befunden haben.
Darauf gibt jetzt genau das Subsidiaritätsprinzip — ich habe es schon wieder geschafft! — die Antwort. Es besagt nämlich: In Zukunft soll auf der EG-Ebene wirklich nur das geregelt werden, was absolut dort hingehört. Der britische Premierminister Major — die Briten sind ja sehr pragmatische Menschen — hat kürzlich einen Ausdruck gebraucht, den ich heute früh in der Zeitung gelesen habe. Er hat gesagt, Nichteinmischung sei das Prinzip. Vielleicht können wir einmal darüber nachdenken, ob das ein geeigneteres Wort sein könnte.
Die EG soll sich nicht in Dinge einmischen, die die Nationen, die die Regionen oder die auch die Gemeinden besser regeln können. Der Bundesratsminister Goppel, der dankenswerterweise noch hier ist, hat ja vorhin gesagt, daß die Regionen eine solche bedeutende Rolle spielen sollen. Auch das steht übrigens im Vertrag von Maastricht, und zwar zum erstenmal; das hat es früher in der Form nicht gegeben. Herr Goppel, ich möchte nur an Sie appellieren: Der Freistaat Bayern ist ja im Inneren bedauerlicherweise außerordentlich zentralistisch.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Aha!)

Wenn in dem Regionalausschuß, der jetzt gegründet wird, nur Vertreter der Bundesländer, aber keine Oberbürgermeister oder Kreisvertreter sitzen, dann finde ich das außerordentlich bedauerlich. Die Regionalisierung hört nämlich nicht auf der Ebene der Bundesländer auf, sondern sie sollte auch weiter unten angesiedelt werden.

(Beifall des Abg. Wolfgang Mischnick [F.D.P.])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210805600
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1210805700
Ja.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210805800
Bitte sehr.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1210805900
Herr Kollege Irmer, sind Sie mit mir aber auch der Auffassung, daß es sehr viele Bereiche gibt, in denen die Harmonisierung bestimmter technischer Vorschriften wie beispielsweise solcher, die Sie hier vorgelesen haben, durchaus notwendig ist und einen Fortschritt für die Produktion im gemeinsamen Europa und für die europäische Wirtschaft bedeuten kann, und daß wir jetzt nicht den Fehler machen sollten, das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem wir all diese Harmonisierungsbestrebungen nur deshalb wieder über Bord werfen, weil Kritik an Maastricht geübt wird?

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1210806000
Nein, Herr Kollege Hitschler, mit Sicherheit nicht. Ich will hier auch nicht den Eindruck erwecken -- das liegt mir nämlich sehr fern —, als ob ich die EG wegen solcher Auswüchse insgesamt kritisierte. Ich sage nur: Maastricht ist ein Schritt in genau die richtige Richtung. Hier wird nämlich zum erstenmal festgelegt, daß wirklich in jedem Einzelfall überprüft werden muß oder überprüft werden sollte, ob es vernünftig ist, dies auf der europäischen Ebene zu regeln. Wir sollten es selbstverständlich immer tun, wenn es wirklich unausweichlich ist. Aber wir sollten uns eben davor hüten, es auch in Fällen zuzulassen, in denen keine dringende Notwendigkeit dafür ersichtlich ist. Das ist damit gemeint, und nur das wollte ich erklären.
Wir sollten einmal überlegen, ob wir hier im Bundestag nicht vielleicht einen Ausschuß einsetzen, der auch einmal überprüft, was bisher alles schon an Europa gegangen ist oder von dort genommen worden ist und ob wir es vielleicht wieder zurückholen können. Das halte ich für einen vernünftigen Vorschlag.
Meine Damen und Herren, ganz wichtig ist noch eines: Viele kritisieren Maastricht, weil sie sagen, das alles reiche nicht aus, das sei unzulänglich. Aber wenn ich in Verhandlungen über einen Arbeitsvertrag stehe und mir nicht so viel geboten wird, wie ich gerne hätte, dann werde ich doch nicht sagen, dann nehme ich die Stelle überhaupt nicht, sondern ich bin arbeitslos und warte darauf, daß mir jemand mehr bietet. Maastricht ist ein Prozeß. Es ist ein wesentlicher, wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir wollen ja gar nicht stehenbleiben.
Hier ist schon gesagt worden: Wenn Maastricht ratifiziert ist, muß weiterverhandelt werden. Dann muß insbesondere über die Demokratisierung der Gemeinschaft verhandelt werden. Ich habe schon vor Jahren gesagt — das war damals richtig —: Die EG, die von Beitrittskandidaten verlangt, daß sie demokratisch strukturiert sind, müßte, wenn sie bei sich selbst einen Beitrittsantrag stellen würde, wegen undemokratischer Umtriebe abgelehnt werden.

(Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Das habe ich vor Jahren gesagt. Leider ist das heute immer noch richtig. Jetzt wollen wir deshalb aber nicht jammern; Maastricht bringt da schon gewisse Fortschritte. Aber die haben nicht ausgereicht.
Es ist ja ein hochinteressanter Vorgang, daß nun, nach dem knappen Ergebnis des französischen Referendums, ausgerechnet die Franzosen und die Briten sagen: Wir müssen das Demokratiedefizit in der Gemeinschaft bekämpfen. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Besser spät als nie. Darum hat doch die Bundesregierung letztes Jahr in Maastricht gekämpft. Da ist sie doch nicht müde geworden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir können sie nur dazu beglückwünschen, daß sie
erklärt hat, sie werde sich schon in Birmingham und
dann auf allen Folgekonferenzen weiterhin dafür



Ulrich Irmer
einsetzen, daß endlich demokratische Zustände in der EG eintreten, daß die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt werden.
Meine Damen und Herren, eine ganz wichtige Perspektive sollten wir in dieser Debatte nicht aus dem Auge lassen: Der Ost-West-Konflikt ist überwunden, aber die Welt ist dadurch nicht sicherer geworden. Rings um uns herum — wir sehen es — sind wieder Probleme möglich, an die man vorher nicht gedacht hatte. Kriege sind in Europa wieder möglich geworden. Da sollten doch wir diejenigen sein, die mit allem Ernst und mit aller Zuversicht an den Institutionen festhalten, die sich bisher bei uns bewährt haben und die ein Maß an Stabilität für uns und unsere Miteuropäer gewährleisten, an das ohne diese Institutionen nun überhaupt nicht zu denken wäre. Was würden unsere Nachbarn im Osten, die neuen, jungen Demokratien dort, froh sein, wenn sie etwas Vergleichbares hätten wie unsere Europäische Gemeinschaft, die auf dem Wege zur Europäischen Union ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Eines sollten wir hier auch sagen: Wer die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union nur als westeuropäische Union begreift, der springt zu kurz. Wir dürfen die jungen, neuen Demokratien östlich von uns nicht vergessen. Wir müssen sie einbeziehen in diesen Prozeß.

(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU] — Ortwin Lowack [fraktionslos]: Wo steht das im Maastricht-Vertrag?)

Gerade das ist die innere Logik, weshalb wir auf diesem Wege weitergehen müssen, um auch dort Stabilität anzubieten und auf Dauer herzustellen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210806100
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach unserer Übersicht dauert diese Debatte noch etwa 15 Minuten. Als nächster hat unser Kollege Michael Stübgen das Wort.

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1210806200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ergebnisse der Referenden in Dänemark und Frankreich, welche weltweit für Schlagzeilen gesorgt haben, andererseits auch viele Sorgen ausgelöst und zumindest am Sonntag zu einer großen Erleichterung geführt haben, haben für mich deutlich aufgezeigt, daß Europa und die europäische Politik neben dem vieldiskutierten Demokratiedefizit, wogegen wir etwas unternehmen und wogegen auch schon in Maastricht Schritte unternommen worden sind, noch zwei andere Defizite hat, die heute auch schon angesprochen wurden und gegen die wir ebenfalls etwas unternehmen müssen. Ich würde sie formulieren als ein Öffentlichkeitsdefizit und ein Legitimationsdefizit der gegenwärtigen europäischen Politik.
Die Bürger Europas sind — das hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt — mittel- und langfristig nicht bereit, Europa anzunehmen, solange Europapolitik nach den Gepflogenheiten der klassischen Außenpolitik in Gestalt von Vereinbarungen hinter
verschlossenen Türen, Papers und Nonpapers, geschnürten Maßnahmen- und Richtlinienpaketen betrieben wird. Diese Handlungsweise ist für den Bürger und manchmal auch für den interessierten Politiker, selbst den Bundespolitiker, undurchschaubar. Der Bürger will die Möglichkeit der Mitgestaltung haben. Schließlich betrifft Europa die Lebensgestaltung eines jeden einzelnen Bürgers.
Ich glaube, wir alle oder fast alle in diesem Hause sind uns über die Notwendigkeit des Zusammenwachsens Europas auf der Grundlage der Maastrichter Verträge einig. Doch diese Notwendigkeit muß auch von den Bürgern erkannt werden. Es reicht nicht, in der Politik das Richtige zu tun, z. B. den europäischen Einigungsprozeß durch Maastricht voranzutreiben und zu lenken, sondern diese richtige Politik muß von den Bürgern, für die sie schließlich gemacht wird, auch als richtig erkannt und mitgetragen werden. Dazu müssen die Strukturen der Gesetzgebung transparent sein. Demokratische Strukturen müssen für alle erkennbar sein.
Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung demokratischer Strukturen in der europäischen Gesetzgebung gespielt. Eigenartigerweise ist Deutschland bei der Frage der parlamentarischen Kontrolle der Politik des Ministerrats und der parlamentarischen Kontrolle der Politik der Regierung im Ministerrat Schlußlicht in Europa. Dies entspricht in keiner Weise den Vorstellungen des Bürgers von Demokratie. Der Staat sind die Bürger. Das heißt, politische Entscheidungsprozesse müssen von der Öffentlichkeit nachvollziehbar und beobachtbar sein. Als Ostabgeordneter kann ich nur darauf hinweisen, daß gerade in den neuen Bundesländern, in denen das Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis noch jung und ausgesprochen sensibel ist, die Angst vor der vermeintlich übermächtigen, bürgerfernen Brüsseler Bürokratie — und damit meine ich nicht nur die Kommission—besonders groß ist und das Interesse — ich spreche gar nicht von Akzeptanz — für Europa besonders klein ist.
Wie sollen nun die so nötige Transparenz und Demokratisierung erfolgen? Das ist heute schon von vielen angesprochen worden. Ich möchte auf zwei Punkte aufmerksam machen:
Der Einfluß des Europaparlaments und des deutschen Parlaments, des Deutschen Bundestages, muß gestärkt werden; denn beide repräsentieren die parlamentarische Kontrolle, die entscheidendes Element der Demokratie ist.
In den Verträgen von Maastricht sind einige Rechte des Europäischen Parlaments erweitert worden. Innerhalb der Organisationsstruktur des Deutschen Bundestages ist ein Ausschuß für Europaangelegenheiten besonders geeignet zur koordinativen, federführenden Beratung und Kontrolle europäischer Entscheidungsabläufe, um eine optimale Unterrichtung und Einbindung des Parlaments zu gewährleisten. Selbstverständlich bleibt er auf unterstützende Mitarbeit der jeweiligen Fachausschüsse angewiesen.
Da wir hier das Rad nicht noch einmal erfinden müssen, könnte ich mir vorstellen, daß dieser Europa-



Michael Stübgen
oder Unionsausschuß der Form nach mit dem dänischen Marktausschuß und dem Inhalt, der Kompetenz nach mit dem Europaausschuß des britischen Parlamentes vergleichbar ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die zu benennenden Mitglieder sollen kompetente, vom Bundestag beauftragte Verhandlungspartner gegenüber der Bundesregierung sein. Zwischen Parlament und Unionsausschuß müssen ein ständiger Dialog und eine ständige Zusammenarbeit stattfinden. Selbstverständlich ist der Ausschuß dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig und muß ihm in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten. Der Ausschuß muß von der Bundesregierung über bevorstehende Beschlüsse auf Europaebene rechtzeitig und umfassend informiert werden, damit dieser die Möglichkeit hat, eine fundierte Stellungnahme abzugeben, welche die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen zu berücksichtigen hat. Ein Abweichen soll nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe, z. B. außen- und integrationspolitischer Gründe, möglich sein, worüber der Bundestag ebenso zu unterrichten ist wie über die gesamten Verhandlungsergebnisse.

(Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Die Zuständigkeit und Arbeitsmöglichkeiten der Fachausschüsse für EG-Vorlagen wären auf ihren Gebieten, wenn wir die Konstruktion dieses Unionsausschusses hätten, nicht geschmälert — das möchte ich allen denen sagen, die da wohl etwas Bedenken haben —, sondern diese Aktivitäten sollen von dem Unionsausschuß politisch gestützt und koordiniert werden. Der Unionsausschuß wäre demnach eine Art Clearingstelle des Parlaments — dieser Ausdruck stammt übrigens nicht von mir.
Der 1. Ausschuß dieses Hauses berät zur Zeit über eine dazu notwendige Grundgesetzergänzung und die Formulierung der Art. 23 und 45. Die Koalitionsfraktionen wollen einen dementsprechenden Antrag im Parlament einbringen. Dies muß meines Erachtens zwingend zeitgleich mit der Ratifizierung der Maastrichter Verträge erfolgen.
Es sei darauf hingewiesen, daß dem Bundesrat derartige Rechte, wie ich sie jetzt für den Bundestag einfordere, schon seit langer Zeit zuerkannt worden sind bzw. er sie sich schon vor langer Zeit geholt hat, nämlich 1987 bei der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte. Wir wollen nur nachziehen und nehmen uns ein Beispiel an dem, was Sie vor einigen Jahren geschafft haben.
Allerdings, meine sehr verehrten Damen und Herren, muß auch auf etwas anderes geachtet werden: Es darf nicht passieren, daß bei einer Ausweitung der Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung in den europäischen Gremien beeinträchtigt wird. Sich gegenseitig ausschließende Voten der Europaausschüsse von Bundesrat und Bundestag könnten möglicherweise — ich meine, darüber müssen wir diskutieren — durch eine Besetzung des neuen Unionsausschusses nach dem Vorbild des britischen Systems von Unter- und Oberhaus verhindert werden. In Großbritannien ist der Europaausschuß mit Mitgliedern des Oberhauses und des Unterhauses besetzt, und diese
müssen der Regierung gemeinsam ein Votum vorschlagen. Ich würde mich freuen, mit dem Bundesrat in einer ähnlichen Form zusammenarbeiten zu können. Wie gesagt, darüber muß diskutiert werden, denn es ist auch wichtig, daß die Bundesregierung natürlich handlungsfähig bleiben muß.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Noch ein Wort zur Verbesserung der Transparenz: Frau Matthäus-Maier, ich würde mich freuen, wenn Sie mir jetzt zuhörten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Er spricht Sie an, Frau Matthäus-Maier!)

— Danke schön. — Ich hätte mich gefreut, wenn Sie vorhin einen konkreten Vorschlag gemacht hätten, wie wir z. B. im Bereich des Öffentlichkeitsdefizits Verbesserungen beim EG-Ministerrat erreichen können. Es reicht nicht aus, pauschal zu sagen, er solle jetzt öffentlich tagen; die Bundesregierung solle das durchsetzen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum denn nicht?)

— Lassen Sie mich ausreden. — Wir haben dieses Thema gestern im Europaausschuß beraten, und ich habe mir überlegt, wie man das praktizieren könnte. Das ist an sich nicht so schwer, denn wir haben andere Vorbilder. Man braucht nur darauf zu verweisen, wie es woanders funktioniert. Ich sehe ein, daß die Fachausschüsse — wie auch im Bundestag und im Bundesrat — nicht öffentlich tagen sollen. Aber die abschließenden Verhandlungen und Abstimmungen im Ministerrat sollten meines Erachtens öffentlich sein. Das ist ein konkreter Vorschlag, über den wir, wie gesagt, diskutieren müssen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja prima, das habe ich doch auch vorgeschlagen! — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Es geht darum, daß die Leute die Willensbildung sehen!)

Sie haben gesagt, es solle öffentlich getagt werden. Wie eigentlich? Die abschließenden Sitzungen des Ministerrats könnten, wie die Sitzungen des Bundesrates, den wir in Deutschland haben und der eine ähnliche Konstruktion hat wie der EG-Ministerrat, öffentlich stattfinden. Mir ist nicht bekannt, daß diese Struktur die Effizienz der Arbeit des Bundesrates bisher beeinträchtigt hat. Deswegen sollte man versuchen, diese Öffentlichkeit herzustellen.
Zum Schluß möchte ich noch kurz zu einem für mich besonders wichtigen Thema kommen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210806300
Herr Kollege, aber Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1210806400
Ja, entschuldigen Sie, ein Satz noch, weil das für mich besonders wichtig ist. Die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern erwarten auch, daß ich das sage. Es handelt sich um die 18 Beobachter aus den neuen Bundesländern im Europäischen Parlament.



Michael Stübgen
Zu meinem großen Erstaunen ist in den Maastrichter Verträgen diese Angelegenheit mit keinem Wort erwähnt,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein großer Fehler!)

obwohl sich die Bundesregierung intensiv dafür eingesetzt hat, daß sie den Status der ordentlichen Mitglieder bekommen. Es hat offensichtlich unter den Gipfelteilnehmern Differenzen und heimliche Absprachen gegeben. Dies ist ein schlechtes Beispiel für die Art und Weise, wie manchmal europapolitisch agiert wird und wie es eigentlich nicht sein darf,

(Beifall im ganzen Hause)

da eine solche Handlungsweise jedes demokratische Prinzip negiert.

(Ortwin Lowack [fraktionslos]: Welche Konsequenz ziehen Sie denn daraus?)

Deshalb sage ich mit großem Ernst und großem Nachdruck: Es ist für mich von fundamentaler Bedeutung — ich glaube, auch für Deutschland —, daß spätestens auf dem Gipfel in Edinburgh, besser noch auf dem Sondergipfel in Birmingham die entsprechende Entschließung des Europäischen Parlaments zu diesem Thema auch umgesetzt wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210806500
Meine Damen und Herren, als letztem Redner erteile ich das Wort unserem Kollegen Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1210806600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat angekündigt, er werde eine große Informationskampagne zu Maastricht starten. Nur, es kann doch wohl nicht darum gehen, daß man eine große Informationskampagne zu Lasten des deutschen Steuerzahlers startet, um über eigene Versäumnisse und Fehler hinwegzutäuschen. Die Bürger haben es längst satt, hinter das Licht geführt und manipuliert zu werden. Leistung muß überzeugen, nicht teure, vom Steuerzahler zu bezahlende Werbung. Der Herr Bundeskanzler will eine interpretierende Erklärung zu Maastricht abgeben. Er will sogar die Regelungswut auf europäischer Ebene abstellen. Ich halte das für einen schlechten Witz. Hat nicht der Bundeskanzler gerade im französischen Fernsehen Maastricht als ein Nonplusultra verteidigt? Was soll denn dann eine interpretierende Erklärung, wo soll sie hinführen, was soll mit ihr erreicht werden? Wer ist denn verantwortlich für die Regelungswut auf der europäischen Ebene, wenn nicht der Bundeskanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt oder zumindest bestimmen sollte.

(Zuruf von der CDU/CSU: So stellt sich der kleine Max Politik vor!)

Es muß vermieden werden, daß Deutschland ein unverdaulicher Klotz in Europa würde, meint der Bundeskanzler. Ich frage Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ist das wirklich das wichtigste Problem? Brauchen wir nicht vielmehr erst eine Stand-
ortbestimmung für Deutschland, eine Definition unserer langfristigen Interessen und Prioritäten? Müssen wir nicht einmal erst die deutsche Einheit geistig und wenigstens ansatzweise wirtschaftlich vollziehen? Wahrscheinlich übersteigt das den Horizont des Bundeskanzlers. Aber brauchen wir nicht vor allem erst einmal eine Politik, an deren Ende — ich sage das ganz offen, vor allem an junge Menschen gerichtet — Deutschland als eine Hoffnung und Zukunft für Europa steht? Wer sonst soll denn unsere Probleme lösen und Perspektiven vor allem auch für unsere jungen Menschen geben? Wir können doch eine Lösung unserer Probleme nicht von England, Frankreich, Portugal, Spanien oder Irland erwarten. Wir müssen unsere Probleme zuerst bei uns selbst lösen.
Es wäre erbärmlich, wenn Europa nicht das des Geistes, der Freiheit und großer Ideen, sondern das einer immer mächtiger werdenden und unkontrollierbaren zentralen Institution würde. Maastricht ist leistungsfeindlich. Es schöpft Wirtschaftskraft ab und leitet sie in viele dunkle Kanäle. Es treibt die Inflation an, wie ich Ihnen gerne an vielen Einzelbeispielen erläutern würde, wenn ich dazu einmal die Zeit eingeräumt bekäme. Es treibt die Inflation an und bedeutet neue Leistungen Deutschlands, die wir überhaupt nicht mehr erbringen können. Es ist undemokratisch und perspektivlos gegenüber neuen wichtigen Mitgliedsländern. Ich frage Sie hier im deutschen Parlament: Wo ist denn eigentlich die für uns Deutsche besonders wichtige atlantische Perspektive? Wo ist beispielsweise die Perspektive für Ost- und Mittelostsowie für Südosteuropa, die hier beschworen wurde, ohne daß darüber ein einziges Wort in Maastricht gefallen ist? Wo ist der Aufschrei aus der Fraktion, der einmal Ludwig Erhard angehört hat, daß in Zukunft die Industriepolitik einer Planifikation, einer Reglementierung unterworfen ist? Oder gibt es die Marktwirtschaftler in dieser Fraktion nicht mehr? Und wo ist die Perspektive für die in der Zwischenzeit längst todkranke deutsche Landwirtschaftspolitik?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen, daß wir uns bis zuletzt dagegen gewehrt haben!)

Offenbar wissen die Leute gar nicht mehr, was sich draußen bei uns abspielt.
Wenn der Herr Bundeskanzler den miserablen Zustand unserer inneren Sicherheit beklagt und auf Europa hinweist: Die ungeheure Zunahme von Vergehen und Verbrechen in Deutschland hat mit Europa nichts oder am allerwenigsten zu tun. Hier wird doch nur von den eigenen Versäumnissen und der eigenen Unfähigkeit abgelenkt.
Ich freue mich, daß vorhin der Herr Bundesaußenminister klargestellt hat, daß das, was der Bundeskanzler gemeint hat, zum 1. Januar 1993 könnte Maastricht in Kraft treten, so nicht haltbar ist. Aber immerhin, das ist eine offenbare Diskrepanz in der Regierung. Viele Mißstände müßten wir erst einmal in Deutschland und in Europa beseitigen, bevor wir uns neuen Verpflichtungen zuwenden.
Ich komme politisch aus der europäischen Bewegung, habe an unzähligen europäischen Initiativen und bei der Bildung von europäischen Gruppen mit-



Ortwin Lowack
gewirkt. Ich warne vor Maastricht, ich warne vor einem falschen Weg nach Europa.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210806700
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/3311 und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/3310 sollen zur federführenden Beratung an den EG-Ausschuß, der Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zusätzlich zur Mitberatung an den Rechtsausschuß überwiesen werden.
Ich höre und sehe keinen Widerspruch. — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches — Drucksache 12/2412 —
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. — Ich höre und sehe auch dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserem Kollegen Manfred Reimann.

Manfred Reimann (SPD):
Rede ID: ID1210806800
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist ein kleines Wunder, daß wir jetzt endlich, zehn Jahre nach Beginn der Diskussion 1982, hier im Bundestag die Debatte über die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches beginnen. Daß die Regierungskoalition in dieser elementaren Angelegenheit so weit hinter den Gegebenheiten der Arbeitswelt herhinkt, ist teilweise schon ein Armutszeugnis. Ich frage: Warum weigert sich die Bundesregierung eigentlich seit ihrer Amtsübernahme 1983 so beharrlich, einem schon damals vorliegenden guten Gesetzentwurf und Ansatz der SPD entsprechende Taten folgen zu lassen?
Der Beschluß des Bundestages im Jahre 1981 wollte die in diversen Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien aufgesplitterten Einzelregelungen zum Arbeitsschutz — dies sind mittlerweile über 1 000, die selbst einem Fachmann den Überblick verwehren — zu einem einheitlichen, grundlegenden Gesetz zusammenfassen.
Es war damals ein einstimmiger Beschluß; ich möchte das in Erinnerung rufen. Wir alle, meine Damen und Herren, waren uns darüber einig, daß der deutsche Arbeitsschutz den neuen Erkenntnissen angepaßt gehört, auch weil z. B. der öffentliche Dienst und die Landwirtschaft weitgehend ausgeschlossen waren und weil in der Wirtschaft arbeitsschutzrechtliche Bestimmungen — man mag es glauben oder nicht — auch von der Größe eines Unternehmens abhängig sind.
Zum Einstieg wurden von der sozialliberalen Koalition 1983 SPD-Referentenentwürfe hinterlassen. Diese bildeten eine gute Arbeitsbasis, so daß man
meinen sollte, die Bundesregierung hätte daraus etwas entwickeln können. Sie hat aber nichts daraus entwickelt; das ist sehr bedauerlich.
Nun drängt die Zeit. Die Regierung wird mit den Zeitvorgaben der EG, zum 1. Januar 1993 ein einheitliches Arbeitsschutzrecht zu schaffen, endlich aus ihrem Dornröschenschlaf herausgerissen. Leider steht zu befürchten, daß auf Grund der jahrelangen Versäumnisse in dieser Regierung zu diesen zentralen Fragen wegen des Drucks seitens der EG jetzt geflickschustert wird, was ich sehr bedauern würde und was wir als Sozialdemokraten auch verhindern möchten. Deshalb haben wir unseren Antrag für heute vorbereitet und eingebracht.
Im Hinblick auf die europäischen Anforderungen an den Arbeitsschutz muß gesagt werden, daß die von der EG vorgegebenen Richtlinien teilweise auch Lükken in unserem nationalen Recht schließen. So wurde z. B. in diesem Frühjahr hier im Plenum über drei Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation debattiert. Ich rufe in Erinnerung: Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigungen, Lärm und Vibration am Arbeitsplatz, Sicherheit bei der Verwendung von Asbest und Arbeitsschutz im Bauwesen schlechthin.
Inzwischen wurden diese Gesetzentwürfe ohne Aussprache durch die zweite und dritte Lesung gebracht. Im Prinzip wäre daran nichts auszusetzen, außer: Die genannten Verordnungen und Richtlinien sind nicht weitgehend genug, und sie vergrößern den vorhandenen Vorschriftendschungel. Solche Richtlinien — das ist unsere Meinung — sollten wir als Elemente in ein strukturiertes Regelwerk einbringen.
Trotzdem muß in diesem Zusammenhang ganz deutlich davor gewarnt werden, sich nur mit den Anforderungen des EG-Rechts — welche Lücken auch immer es ausfüllen mag — zufriedenzugeben. Wir haben die Möglichkeit, über die EG-Anforderungen hinaus unsere eigenen Arbeitsschutzrechte zu gestalten, und wir müssen dies zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung der Bundesrepublik auch tun.
Viele Aspekte im Bereich Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit und Gesundheitsvorsorge sind in anderen Ländern, auch in EG-Mitgliedstaaten, bereits erforscht worden oder werden zur Zeit bearbeitet. Hier erfolgt die Zusammenarbeit — wir reden immer von diesem großen Europa — bedauerlicherweise nur sehr sporadisch. Viele wichtige Forschungsarbeiten werden hier nur per Zufall bekannt. Dabei müßten sie manchmal einfach nur übersetzt werden, und es bräuchte nicht in jedem Land gesondert geforscht zu werden. Mit einer konstruktiven Kooperation über die Grenzen hinweg wären einerseits Millionen an Forschungsgeldern einzusparen, andererseits ist zum Wohle der arbeitenden Menschen der Zeitfaktor von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Um ein Arbeitsschutzrecht aus einem Guß zu bekommen, plädieren wir für die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches, analog dem Sozialgesetzbuch, welches sich in mehreren Büchern der Problematik stellt und diese Problematik regelt. Vor allem rechtlich verbindliche Bestimmungen über die



Manfred Reimann
Pflichten der Arbeitgeber beim Gesundheitsschutz, der Gesundheitsvorsorge, der Gesundheitsförderung sowie der Kontrolle zur Einhaltung der Schutzmaßnahmen und die Schaffung institutioneller Voraussetzungen für die Umsetzung des Arbeitsschutzes sollen Inhalt des Gesetzbuches werden.
Unter dem Begriff Arbeitsschutz ist mehr als nur der Schutz vor schweren oder gar tödlichen Unfällen zu verstehen. Allein in der Europäischen Gemeinschaft wurden bei mehr als 4,5 Millionen Arbeitsunfällen jährlich nach Aussage der Kommission an die 40 Milliarden für soziale Folgeleistungen ausgegeben.
Wir wissen, daß an Arbeitsunfällen jährlich ca. 8 000 Personen sterben. Die jährlich betroffene Zahl von Personen, die am Arbeitsplatz Unfälle oder Berufskrankheiten erleiden, wird EG-weit auf ca. 10 Millionen geschätzt.
Auf Deutschland bezogen — ich beziehe mich auf die Statistiken der alten Länder —, muß man feststellen, daß sich die arbeitende Bevölkerung in drei Drittel aufteilt: Ein Drittel erreicht das Rentenalter nach dem Arbeitsleben ohne nennenswerte Beeinträchtigungen, ein Drittel wird vor Erreichen der Altersgrenze berufs- oder erwerbsunfähig, und ein Drittel stirbt vor Erreichen der Altersgrenze weg. Das macht die Dramatik dieser Arbeitsschutzgesetzgebung im Grunde genommen deutlich.
Ziel des Arbeitsschutzes muß es aber sein, allen berufstätigen Menschen einen Ruhestand ohne berufsbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen zu ermöglichen. Es ist erfreulich, daß wir bei den Arbeitsunfällen mit tödlichem Ausgang einen Rückgang zu verzeichnen haben. Bedauerlich ist es aber, daß wir im Laufe des Jahres 1989 wieder einen Anstieg registrierten, und zwar bei den angezeigten Berufsunfällen um 4,8 %, bei den Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit um 6 % und bei den Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung um 9,5 %. Dabei ist erstaunlich, daß im gleichen Zeitraum die Zahl der erstmals entschädigten Berufskrankheiten nur um 1,2 % stieg. Das ist ein Problem, das uns seit Jahren begleitet. Wir sollten uns einmal der Überprüfung dieser Zahlen stellen und festzustellen versuchen, ob restriktive Auslegungen bei den Ärzten und medizinischen Einrichtungen die Ursache dafür sind, daß die Zahlen so weit auseinanderklaffen.
Aber selbst diese Zahlen sind eigentlich geschönt, weil nur solche Krankheiten als Berufskrankheiten gelten, die in die Berufskrankheitenliste aufgenommen sind und damit anerkannt und statistisch erfaßt werden. Viele Arbeitsstoffe, deren Schädlichkeit auch hinsichtlich Spätfolgen längst nachgewiesen ist, fehlen immer noch in der Liste der Gefahrstoffe, und viele Krankheiten, die durch den Umgang mit gerade diesen Stoffen ausgelöst werden, gelten dementsprechend nicht — noch nicht — als Berufskrankheiten. Dieser Rest geht zu Lasten der allgemeinen Sozialversicherung. Ich nenne an dieser Stelle einmal eine Auswahl der bisher nicht erfaßten Bereiche: Erkrankungen der Gelenke und des Stützapparates, Rheuma, Gefährdungen durch Mehrfachbelastungen, schlechte Arbeitsorganisation, Leistungsdruck, Schichtarbeit, Streß und vieles mehr.
Neue Erkenntnisse werden nur sehr langsam in gesetzliche Regelungen umgesetzt. Bis die Liste der anerkannten Berufskrankheiten urn einen weiteren Punkt ergänzt werden kann, fließt jeweils noch viel Wasser den Rhein hinunter. Es ist ein aufwendiger und schwieriger Weg, um im Einzelfall eine Erkrankung als berufs- oder arbeitsbedingt anerkannt zu bekommen. Für manche Witwe kommt es noch viel schlimmer, wenn der Lebensgefährte verstorben ist: Es geht bis zum Wiederausgraben von Menschen, um Berufskrankheiten feststellen zu können.
Die geschätzten Folgekosten arbeitsbedingter, aber nicht als solcher erfaßter Krankheiten und Unfälle belaufen sich auf etwa 80 Milliarden DM jährlich — ebenfalls eine Schätzung für die alten Länder der Bundesrepublik Deutschland.
Bei der Einführung neuer Technologien, neuer Arbeitsverfahren oder neuer Arbeitsstoffe sind ganz besondere Anforderungen zu beachten. Erprobte Problemlösungen können mit Einführung neuer Verfahren sehr schnell hinfällig werden. Dann müssen neue Lösungen parat stehen. Neue Arbeitsstoffe müssen sich hinsichtlich ihrer chemischen Zusammensetzung oder Strahleneinwirkung genauestens auf etwaige gesundheitsschädigende Effekte überprüfen lassen. Die bestehenden Schutzbestimmungen müssen neuen Arbeitsstoffen fortlaufend angepaßt werden, nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Verwaltung und in Dienstleistungsbetrieben. Der Arbeitsschutz in Deutschland ist bisher viel zu sehr auf den technischen Bereich eingeengt.
Auch der psychische Bereich darf auf keinen Fall unterschätzt werden. In unserer hochtechnisierten Welt wird in zunehmenden Maße durch den vermehrten Einsatz von Maschinen körperliche Arbeit reduziert. Es entstehen nichtkörperliche Arbeitsarten mit neuartigen Anforderungen an die menschliche Psyche, zugleich aber auch mit zusätzlichen Belastungen.
Kenntnis und guter Wille der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer reichen häufig nicht aus, um sicherzustellen, daß Arbeit am Arbeitsplatz und in der Arbeitsumgebung nicht krank macht. Deshalb müssen in angemessenem Maße Normen zur Stützung gesundheitsfördernden Verhaltens entwickelt werden. Hier ist auch die Eigeninitiative der Belegschaft gefordert.
Eine viel zu häufig unterschätzte Belastung stürmt in den letzten Jahren auf die Betroffenen ein und wirkt kontraproduktiv auf deren eigenes, gesundheitlich orientiertes Engagement: die Angst vor der steigenden Arbeitslosigkeit. Es ist dringend davor zu warnen, daß sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Druck setzen lassen, so daß die Qualität des Arbeitsschutzes am Arbeitsplatz zu ihren eigenen Lasten geht. Wir brauchen letztlich eine ganzheitliche Betrachtung der Arbeitssituation, eine Betrachtung also, die sowohl die betriebliche als auch die private Lebenswirklichkeit der arbeitenden Bevölkerung berücksichtigt.
Meine Damen und meine Herren, ohne unser heutiges Thema zu verlassen, möchte ich Sie an die aktuelle Debatte zur Gesundheitsreform erinnern. Gestatten Sie mir den Hinweis: Auch verantwortungsbewußte



Manfred Reimann
Arbeitsschutzbestimmungen leisten in erheblichem Maße ihren Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems. Denn eine humane Arbeitswelt und ein ökonomischer Erfolg schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern im Gegenteil, sie ergänzen einander notwendig und stärken letztlich den Wirtschaftsstandort Deutschland, dessen angebliche Gefährdung in letzter Zeit so leichtfertig geradezu herbeigeredet wird. Vorbeugender Gesundheitsschutz ist kein Luxusartikel. Das muß an dieser Stelle noch einmal ganz klar und deutlich betont werden.
Unser Antrag, im stichwortartigen Überblick dargestellt, heißt:
Erstens. Das Arbeitsschutzrecht muß — ähnlich wie das Sozialgesetzbuch — zu einem Arbeitsschutzgesetzbuch, das aus mehreren Einzelbüchern besteht, zusammengefaßt werden. Ich sagte dies schon am Anfang. Nach einem allgemeinen Teil sollen in jeweils eigenen Büchern folgende Bereiche normiert werden: innerbetriebliche Organisation des Arbeitsschutzes und der Gesundheitsförderung; Geräte- und Anlagensicherheitsrecht; Arbeitszeitrecht; Gesundheitsschutz für besonders schutzbedürftige Personengruppen sowie Gesundheitsschutz der Beschäftigten vor besonderen Gefahren, Gefahrstoffen und Einwirkungen.
Zweitens. Ausweitung des betrieblichen Gesundheitsschutzes über die engen Grenzen des traditionell technisch orientierten Arbeitsschutzes hinaus in Richtung auf Gesundheitsförderung und Gesundheitsvorsorge.
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie Leben und körperliche Unversehrtheit stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Diese elementaren Grundrechte sollte der Gesetzgeber mit einem umfassenden Schutz des Lebens und der Gesundheit in der Arbeitswelt gewährleisten, und zwar auf der Basis des jeweils neuesten Standes der Sicherheitstechnik, Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene plus sonstigen aktuellen arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen.
Drittens. Informations- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer in allen Fragen des betrieblichen Gesundheitsschutzes, einschließlich des Rechts auf Verweigerung der Arbeitsleistung bei begründetem Verdacht auf eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers, die zu Gefahren für Leben oder Gesundheit der Arbeitnehmer führen könnte.
Viertens. Schaffung von mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch besetzten Arbeitsschutzbeiräten. Außerdem haben die unteren Landesbehörden Vertrauensbeamte für die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten und Gewerkschaften zu bestellen.
Fünftens. Es ist eine der EG-Rahmenrichtlinie entsprechende Generalklausel der Arbeitgeberverpflichtung für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten aufzunehmen. Die bisherige Generalklausel in § 120a Gewerbeordnung, die den Gesundheitsschutz der Beschäftigten unter die wirtschaftliche Prämisse der „Natur des Betriebs" stellt, ist zu streichen.
Sechstens. Das neue Gesetzbuch muß einheitlich für alle abhängig Beschäftigten gelten, also auch für den öffentlichen Dienst, Beamtinnen und Beamte, aber auch für Berufsausbildungen und berufsausbildungsähnliche Verhältnisse, Heimarbeit und Praktika. Ferner müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Fremdfirmen den eigenen Arbeitern im Arbeitsschutz gleichgestellt werden, falls die Arbeitsbedingungen der Fremdfirma schlechter sind.
Siebtens. Verpflichtung des Arbeitgebers zur systematischen Erfassung betrieblicher Belastungsdaten und deren Auswertung und Umsetzung in betriebliche Arbeitsschutzprogramme. Die systematische Erfassung der betrieblichen Belastungsdaten ist im Hinblick auf die Zunahme chronischer Gesundheitsschädigungen oder Langzeitgesundheitsschädigungen der Beschäftigten ein Mittel der Prävention. Dies wird zu einer zentralen Frage der Bekämpfung der Ursachen von Krankheiten am Arbeitsplatz.
Achtens. In bestimmten Arbeitsbereichen — besondere Gefahren, hohe Belastungen usw. — muß ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt eingeführt werden.
Neuntens. Die Aufhebung der besonderen Geheimhaltungspflicht soll Behörden und Wissenschaft ermöglichen, Datendokumentationen auszuwerten.
Zehntens. Bündelung der Gewerbeaufsichtsdienste der Länder und der Technischen Aufsichtsdienste der Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaften) zur Effektivierung der Überwachungstätigkeit in den Betrieben.
Elftens. Einführung der Beweislastumkehr bei der Anerkennung von Berufskrankheiten durch die Unfallversicherungsträger. Die Liste der anerkannten Berufskrankheiten ist in ein- bis zweijährigen Abständen dem jeweiligen Stand der arbeitsmedizinischen und epidemiologischen Erkenntnisse anzupassen. Ich bin mir sicher, daß bei uns gerade dieser Punkt noch lebendige Debatten auslösen wird. Ich glaube, es ist die einzige Chance für den sozial Schwachen, zu seinem Recht zu kommen, wenn die Beweislastumkehr zugunsten des sozial Schwachen eingeführt wird.
Zwölftens. Neuregelung des Arbeitszeitrechts mit einer Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden, der wöchentlichen Arbeitszeit auf 38 Stunden und fünf Tage sowie der Beschränkung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.
Darüber hinaus müssen spezielle Regelungen in bezug auf Dritt- und Umweltschutz — z. B. Chemikalienrecht, Gentechnikrecht — ihre Gültigkeit behalten. Es muß eine Integration des existierenden Gerätesicherheitsgesetzes in ein Buch über Geräte- und Anlagensicherheitsrecht erfolgen.
Diese zwölf Punkte machen klar, daß sich die bundesdeutsche Gesetzgebung im Arbeitsschutz auf Dauer keinesfalls mit den jetzigen Lösungen zufriedengeben darf. Wie sollen wir denn jemals wirksamere Maßnahmen in unserem Land — von einer europäischen Lösung ganz abgesehen — in den Griff bekommen, wenn nicht endlich die Arbeitsschutznormen an die veränderten Realitäten der Arbeitswelt angepaßt werden? Lassen Sie mich noch einmal sagen: Bei einer ausreichenden Prävention im



Manfred Reimann
Arbeitsleben lassen sich nicht nur Millionen, sondern Milliarden einsparen, abgesehen von dem sozialen Elend, welches man den arbeitenden Menschen, die von Unfällen und Krankheit verschont bleiben, ersparen kann.
Wir als Vertreter der Legislative haben eine sozialpolitische Fürsorgepflicht gegenüber den arbeitenden Menschen. Wir sollten dieser Fürsorgepflicht gerecht werden. Ich bin mir darüber im klaren, daß diese schwierige Materie, die sicherlich nicht ganz so strittig ist wie vieles andere in der politischen Debatte, einer Regelung zugeführt werden muß, die vielen Millionen arbeitenden Menschen und ihren Familien in der Bundesrepublik dient. Dies hat oft einen wesentlich höheren politischen Stellenwert und ist von einer höheren politischen Brisanz als manches, über das wir hier oft und viel diskutieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210806900
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Hans-Joachim Fuchtel.

Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1210807000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zum Kollegen Manfred Reimann bin ich der Meinung, daß die Koalition und die Opposition bezüglich der Bewertung und der Einordnung des Arbeitsschutzes gar nicht so weit auseinanderliegen. Sie formulieren das Wünschenswerte und noch etwas darüber hinaus; das ist auch die Aufgabe einer Opposition. Wir realisieren das Machbare; das ist die Aufgabe der Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wünschen etwas mehr Planung und damit auch etwas Bürokratie. Das liegt im Wesen der Sozialdemokraten. Wir machen es etwas weniger planerisch und dafür mittelstandsfreundlicher. Das ist eben die Stärke dieser Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für den Arbeitnehmer ist es im übrigen zweitrangig, ob alles in einem schönen Buch zusammengeschrieben ist. Es kommt nur darauf an, daß es in der Praxis auch wirkt, und dafür wollen wir sorgen.
Niemand kann behaupten, daß sich in Deutschland in den letzten Jahren nichts getan hat. Ich nenne nur die Gefahrstoffverordnung, das Chemikaliengesetz, das Gerätesicherheitsgesetz und die Ratifikation der internationalen Abkommen. Deutschland gehört in der Zwischenzeit unter den 154 Mitgliedstaaten der IAO zur Spitzengruppe der 15 Staaten, die die meisten Ratifikationen vorgenommen haben. 90 % der Staaten haben weniger Übereinkommen unterschrieben. Das Spezielle in Deutschland ist auch noch, daß hier die unterschriebenen Abkommen tatsächlich umgesetzt werden.
Manche versuchen trotzdem, den deutschen Arbeitsschutz mit Hinweis auf Statistiken herunterzureden. Vergleiche in Europa hinken deswegen, weil es keinen einheitlichen Begriff des Arbeitsunfalls in der EG gibt. So schlecht kann es auch gar nicht sein. Sonst hätten wir in den letzten Jahren hier im Bundestag nicht immer wieder über Entschließungen debattiert, wo es uns darauf ankam, daß der hohe deutsche Standard bei einer europäischen Norm nicht abgesenkt wird. Im übrigen ist die Zahl der meldepflichtigen Unfälle bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften zwischen 1970 und 1990 immerhin um 679 000 gesunken, und das bei einer Zunahme der Zahl der Berufstätigen.
Hier wird in der Praxis sehr viel geleistet. Ich meine, es steht uns Politikern sehr gut an, wenn wir den Beteiligten dafür dankbar sind.
Warum kommen so viele Ausländer und wollen vom deutschen Arbeitsschutz etwas lernen? Wenn schon so viele Ausländer kommen und unser hohes Niveau als vorbildlich einschätzen, warum sind manche in Deutschland dann selbst so pessimistisch? Gerade die Gewerkschaften sollten auf das Erreichte stolz sein, denn sie haben es schließlich mitgeschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: War das richtig: Die Asylbewerber kommen wegen des Arbeitsschutzes?)

Trotzdem sind natürlich Verbesserungen denkbar. Wir wollen auch eine weitere Entwicklung des Arbeitsschutzrechts. Wir wollen das vor allem im gesamten Europa. Denn es kann nicht akzeptiert werden, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Rükken der Arbeitnehmer — egal, ob in Deutschland, in Italien oder sonstwo in der EG — ausgetragen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist das Verdienst der deutschen Bundesregierung, daß sie 1988 die soziale Dimension in Europa eingebracht hat. Daraus ist die Europäische Sozialcharta entstanden. Dies führt zu der Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz, vor deren Umsetzung in nationales Recht wir im Augenblick stehen. Da frage ich: Sollen wir ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit der Entwicklung eines neuen Arbeitsschutzgesetzbuches beginnen,

(Dr. Ulrich Böhme [Unna] [SPD]: Ja, genau!)

oder wollen wir nicht besser erst einmal die inhaltlichen Entwicklungen zum Abschluß bringen, um dann das Ganze neu zu kodifizieren?

(Manfred Reimann [SPD]: Nochmals zehn Jahre warten?)

Heute sagt uns die Opposition — diese. Erfahrung machen wir mit Ihnen —, daß wir ein neues Gesetzbuch machen sollen. Morgen hält uns die gleiche Opposition vor, daß wir die europäischen Richtlinien nicht rechtzeitig umgesetzt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Da kann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion der Regierung nur empfehlen, den Kurs zu halten. Dieser Kurs heißt: zunächst das breit angelegte Arbeitsschutzrahmengesetz — wobei mit der Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz bereits ein wichtiger Aspekt verwirklicht ist —, dann ein neues Arbeitszeitgesetz, Beibehaltung der Spezialgesetze wie Chemikaliengesetz oder Gefahrstoffverordnung. Wir wissen alle:



Hans-Joachim Fuchtel
Arbeitsschutz ist ein Gebot der Humanität und der wirtschaftlichen Vernunft. In erster Linie geht es um den Menschen. Hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich Schicksale und menschliches Leid, das soweit wie möglich verhindert werden muß.
Am besten geschieht das durch Maßnahmen der Prävention. Hier sind wir uns einig: Der präventive Gedanke muß im künftigen Arbeitsschutzbegriff stärker verankert sein. Denn er ist der Schlüssel für die Verwirklichung eines Arbeitsschutzes, der bewußt auf den sozialen Aspekt der Marktwirtschaft abhebt.
Im neuen Arbeitsschutzrahmengesetz muß Arbeitsschutz daher alle Maßnahmen zur Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit umfassen und gibt damit eine Definition dessen, was geschehen muß. Ich denke, daß wir wenigstens von der Tendenz her hier ähnlich denken.
Die Aufgabe besteht darin, vernünftige und praktische Abgrenzungen zu finden. Wir brauchen nicht allzuviel Kleingedrucktes, aber wir brauchen die Motivation vor Ort, um einen wirksamen Arbeitsschutz durchzuführen. Man kann nicht alles zur Chefsache machen. Aber die Qualität der betrieblichen Verantwortung wird sehr wohl auch am Dialog zwischen allen Beteiligten in der Firma sichtbar. Dazu gehört zweierlei: erstens die konsequente Verpflichtung des Arbeitgebers zur Ermittlung und Bewertung von Gefahrensituationen und die Durchführung der erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen und zweitens eine klare Aussage zu den Rechten und Pflichten des einzelnen Arbeitnehmers im Blick auf sein Gesundheitsinteresse.
Für unsere Betriebe ist es aber auch sehr wichtig, daß Behörden und Institutionen ihre Besuche koordinieren und daß die Zahl dieser Besuche begrenzt ist. Wenn an einem Tag die Berufsgenossenschaft kommt und am nächsten Tag die Gewerbeaufsicht zum gleichen Problem, haben wir die Fälle der Verärgerung, die sicher nicht zur Kooperation beitragen. Deswegen werden wir alle Vorschriften auf das Ziel einer verbesserten Kooperation und Koordination im Arbeitsschutz überprüfen müssen. Das ist im Antrag der SPD weniger enthalten, dafür ist ihr Wunschkatalog natürlich noch etwas länger.
Es ist nicht unsere Absicht, den Betrieben Programme zur betrieblichen Gesundheitsförderung vorzuschreiben. Sie verlangen von Beamten doch auch nicht, daß sie Sturzhelme zum Schutz gegen herunterfallende Aktenordner tragen.

(Ottmar Schreiner [SPD]: War das ein Witzversuch?)

Wir können auch nicht erkennen, wieso das gut funktionierende Arbeitsschutzwesen weiterer Beiräte bedarf. Die Leute sollen ihrer Verantwortung im Betrieb gerecht werden. Heute braucht alles Beiräte, und niemand denkt daran, welche Ressourcen das alles in Anspruch nimmt, die an anderer Stelle fehlen.
Ich fasse zusammen: Wir werden das Niveau des Arbeitsschutzes weiterentwickeln, konsequent und zügig, national und europäisch, wobei den Belangen
sowohl der einzelnen Arbeitnehmer als auch der Volkswirtschaft Rechnung getragen wird. Mit dem Arbeitsschutzrahmengesetz wird die Koalition nach den erfolglosen Versuchen zur Schaffung eines solchen Gesetzes in den Jahren 1928, 1959 und 1981 erstmals eine umfassende Grundlage schaffen. Wir werden uns davon nicht durch eine langatmige Diskussion über ein später einmal sicher sinnvolles Arbeitsschutzgesetzbuch abhalten lassen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210807100
Jetzt hat unsere Kollegin Petra Bläss das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1210807200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt immer mehr Menschen in der Bundesrepublik, die krank werden, weil ihnen ihre Arbeit fehlt, weil sie sich nutzlos und ausgegrenzt fühlen. Doch das Paradoxe ist, daß auch die Zahl derjenigen wächst, die trotz eines relativ gesicherten Arbeitsplatzes gesundheitliche Probleme haben, ihre Arbeitsumwelt als Belastung empfinden und oft vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Also auch Arbeit macht krank.
Der DGB geht davon aus, daß gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen Hauptursache für Krankenstand, Schwerbehinderung, Frühinvalidität und Frühsterblichkeit sind. Schätzungen zufolge sterben jährlich 200 000 Menschen an den langfristigen Folgen einer krankmachenden Arbeitsumwelt. Seit langem ist bekannt, daß etwa zwei Drittel der Beschäftigten im gewerblichen Bereich wegen Erwerbsunfähigkeit, Frühverrentung oder Tod das Rentenalter nicht erreichen.
Die Gesundheitsrisiken im Arbeitsleben sind größer geworden, sie haben sich qualitativ verändert, und sie treten als Mehrfachbelastungen auf. Zusammengenommen hat das in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme arbeitsbedingter Erkrankungen bewirkt. 1990 haben sie mit fast 58 000 Anzeigen einen vorläufigen Höchststand erreicht. Zugenommen haben vor allem psychische Erkrankungen und Gesundheitsschäden an Bindegewebe, Muskeln und Skelett. Allein 58 % der Frühverrentungen gehen heute auf derartige Erkrankungen zurück. Frauen sind dabei überdurchschnittlich stark betroffen.
Zusammengenommen haben aber auch Hauterkrankungen und Erkrankungen des Nervensystems und der Sinnesorgane durch Lärmbelästigungen, Stäube, Gifte und ähnliches. Obwohl empirische Untersuchungen und arbeitsmedizinische Forschung den Zusammenhang arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und tatsächliche Erkrankung immer besser nachweisen können, gibt es in der BRD die erschrekkende Tendenz, daß trotz erhöhter Anzeigen die Anerkennung von Berufskrankheiten und ihre Entschädigung weiter rückläufig ist. 1990 wurden nur noch 7,9 % aller angemeldeten arbeitsbedingten Krankheiten auch wirklich entschädigt.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wie sah das in Bitterfeld aus? — Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Und Wismut AG!)




Petra Bläss
Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die äußerst starre Anerkennungspraxis in der Bundesrepublik, der zufolge Tausende Beschäftigte trotz schwerer Exposition gegenüber krankmachenden Arbeitsbedingungen an ihrem Arbeitsplatz aushalten müssen.
Mit dieser bedrückenden Situation sind jetzt auch die Beschäftigten in den neuen Bundesländern konfrontiert — und dies unter dem ohnehin riesigen Druck des drohenden Arbeitsplatzverlustes.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist unglaublicher Unsinn, was Sie da reden! — Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist wirklich toll!)

— Ich denke, über Arbeitsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik muß man eine sehr kritische Diskussion führen, aber diese ist heute im Bundestag nicht angesagt. Es liegt ein Antrag der SPD zum Arbeitsschutz in der Bundesrepublik Deutschland vor.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich solch ein Unsinn!)

Anders als etwa in Dänemark gibt es in der BRD keine Bewertungskriterien zur Erfassung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, sonst sähe die Bilanz arbeitsbedingter Erkrankungen vermutlich noch bedrohlicher aus.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist schade, daß man sich das anhören muß!)

— Sie können j a hinausgehen, wenn Sie nicht zuhören wollen.
Das Ausmaß von im Arbeitsumfeld erworbenen chronischen oder tödlich ausgehenden Gesundheitsschäden kann so lange kaschiert werden, wie es keine Institution gibt, wo zentral und systematisch arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken erfaßt, dokumentiert und ausgewertet werden. Das ist für mich kein falscher Zentralismus.
Zur Verschleierung trägt auch der enggefaßte Berufskrankheitenkatalog bei, wie er bis heute in der BRD existiert, und schließlich der Umstand, daß bei bestehenden Arbeitsschutzregelungen ganze Bereiche der Arbeitswelt gar nicht erfaßt werden, so der öffentliche Dienst und die Landwirtschaft. Gerade was den öffentlichen Dienst betrifft, ist dies absolut unzeitgemäß: Durch die technologische Entwicklung — Laserdrucker, Bildschirmarbeit usw. — haben gerade hier die arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken enorm zugenommen.
Meine Damen und Herren, der Handlungsbedarf für die Neuordnung des Arbeitsschutzes ist riesengroß. Daß die Bundesregierung offensichtlich erst internationalen Druck braucht, um sich hier zu rühren, ist wirklich verantwortungslos. Statt den seit langem angekündigten Gesetzentwurf endlich auf den Tisch zu legen, beglückt uns Bundesarbeitsminister Blüm mit einer neuen Arbeitszeitordnung, die mit der Festschreibung des Zehn-Stunden-Tages allen Gesundheitsschutzüberlegungen ins Gesicht schlägt.
Frau Ministerin Merkel freut sich im Frauenausschuß über die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen, wohl wissend, daß gerade Nacht-
und Schichtarbeit zu einem der gravierendsten arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken gerechnet wird — natürlich nicht nur bei Frauen, aber bei ihnen besonders. Ich hätte mir entsprechend der Querschnittsaufgabe des Frauenministeriums gewünscht, daß von dort Druck wenigstens zur Aktualisierung und zur zeitgemäßen Gestaltung des Frauenarbeitsschutzes entwickelt wird.
Meine Damen und Herren, mindestens Art. 30 des Einigungsvertrages hätte ausreichend Anlaß geboten, die Neuregelung des Arbeitsschutzes in Angriff zu nehmen, und die Aufforderung, den — ich zitiere — „Arbeitsschutz in Übereinstimmung mit dem Recht der EG und dem damit konformen Teil des Arbeitsschutzrechts der ehemaligen DDR zeitgemäß (...) zu regeln", hätte zudem dafür wichtige Impulse liefern können.
Im alten DDR-Arbeitsschutzrecht — die Praxis, das betone ich durchaus, mag davon weit entfernt gewesen sein — war neben einem umfassenden Gesundheitsziel auch die Pflicht zur Prävention und Gesundheitsförderung festgeschrieben. Auch der Berufskrankheitenkatalog konnte sich sehen lassen. Neue Volksseuchen wie die Erkrankungen von Stütz- und Bewegungsapparaten waren darin ebenso aufgeführt wie krankmachende chemische, physikalische und biologische Risikofaktoren.
Ein Hauptproblem der gegenwärtigen Arbeitsschutzregelungen besteht nicht nur in dem defizitären Regelungsbereich, sondern vor allem darin, daß ganz unterschiedliche Zuständigkeits- und Verantwortungsebenen bestehen. Für die Betroffenen ist dieses Gewirr kaum zu durchschauen, geschweige denn handhabbar. Notwendig erscheint es mir — wie es auch im Antrag der SPD gefordert wird —, ein einheitliches Gesetz zu schaffen mit dem Ziel, Prävention, Gesundheitsförderung und Abbau gesundheitsgefährdender Stoffe im Arbeitsumfeld umfassend zu regeln und sich nicht nur an europäischen Mindeststandards zu orientieren, wie die Bundesregierung das zu beabsichtigen scheint. Im Zentrum müßte dabei die Reform der Berufskrankheitenregelung stehen.
Aber auch der Frauenarbeitsschutz hat dringenden Reformbedarf. Insbesondere seine ein Jahrhundert alten Schutzkriterien bedürfen einer Aktualisierung entsprechend technologischer und sozialer Entwicklung.
Die Aufsichtskompetenz über den Vollzug von Arbeitsschutzregelungen müßte grundsätzlich beim Gesetzgeber liegen, der die dafür erforderlichen Institutionen entsprechend großzügig auszustatten hätte. Diese Bereiche sollten mit der eindeutigen Aufgabenstellung „Prävention und Arbeitsschutz" ausgebaut werden. Gemeinsam mit den Berufsgenossenschaften ist eine entsprechende Aufsichts- und Kontrollkompetenz einzuräumen. Gleichzeitig halte ich es für unabdingbar, daß Entscheidungen über Arbeitsschutzmaßnahmen auch im Mitbestimmungsrecht betrieblicher Interessenvertretungen festgeschrieben werden.



Petra Bläss Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210807300
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Gisela Babel das Wort.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1210807400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die heutige Debatte, denn sie gibt Gelegenheit, die Bedeutung des Arbeitsschutzes in unserer Sozialen Marktwirtschaft hervorzuheben. Arbeitsschutz ist und darf kein Stiefkind der wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion sein. Es geht um ein hohes und schützenswertes Gut:

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der PDS/Linke Liste)

die Gesundheit und Sicherheit aller Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz, auf Baustellen, in Fabriken oder in den Büros.

(Konrad Gilges [SPD]: Aber daraus muß man die politischen Konsequenzen ziehen, Frau Kollegin!)

— Darüber sind wir uns sicher einig.
Zeitgemäßer Arbeitsschutz bedarf fortwährend gemeinsamer Anstrengung auf betrieblicher Ebene, aber auch darüber hinaus. Diese Anstrengungen leisten heute Betriebs- und Personalräte ebenso wie Unternehmer, die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebs- und Werksärzte, Unfallversicherungsträger und Gewerbeaufsichtsämter. Diese Arbeit, die heute geleistet wird, verdient unsere Anerkennung.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie hat für die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz vielfach eine größere Bedeutung als andere öffentlichkeitswirksame Aktionen, wenngleich sie sich oftmals eher im Hintergrund, in den Regelwerken, in Unfallverhütungsvorschriften und praktischen Anweisungen der Betriebe, vollzieht. Arbeitsschutz ist ein eigenständiger wichtiger Bereich und kein Anhängsel des Verbraucher- und Umweltschutzes.
Das Bemühen um sichere und gesunde Arbeitsplätze in Deutschland und in der EG wird sicherlich jedermann in diesem Hohen Hause unterstützen. Selbstbewußt können wir sagen, daß in der Bundesrepublik ein hoher Sicherheitsstandard vorhanden ist, obwohl in der Diskussion gelegentlich der Eindruck erweckt wird, als befänden wir uns auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Natürlich ist nichts so gut, als daß es nicht noch verbessert werden könnte. Neue Gefahren oder Gefährdungen, die aus der technologischen Entwicklung und der Umgestaltung der Arbeitsbedingungen resultieren, müssen ebenso energisch angepackt werden wie die seit langem bekannten Gefahren.
Nun plädiert die SPD mit dem heute vorgelegten Antrag für ein umfassendes Arbeitsschutzgesetzbuch.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Die SPD kann nichts dafür, daß sie immer die Unterstützung der PDS hier im Hause erhält. Da muß man sie in Schutz nehmen.

(Widerspruch bei der SPD)

— Ich wollte Ihnen eigentlich einen Gefallen tun.
Ein solcher Gedanke mag insbesondere Juristen, die sich an großen Kodifikationen wie dem BGB orientieren, verlockend erscheinen. Aber früher gemachte Erfahrungen mit ähnlich großen Vorhaben müßten mehr als nachdenklich stimmen. Es besteht die Gefahr, daß um des großen Wurfes willen notwendige Fortentwicklungen nicht oder nur verzögert kommen. Für eine solche umfassende Kodifikation müßten mehrere sehr strittige Fragen gelöst werden. Ich nenne die von der SPD geforderte Erweiterung der Mitbestimmung sowie die Umkehr der Beweislast bei Anerkennung von Berufskrankheiten.
Auch Überlegungen auf Länderseite, Gesetze, die sowohl den Arbeits- als auch den Verbraucher- und Umweltschutz betreffen, zu zergliedern und teilweise in einem solchen Gesetzbuch zusammenzufassen, zeigen die Schwierigkeiten, die einer solchen Kodifikation im Wege stehen.
Das ganze Vorhaben wäre aber verfehlt, wenn es nicht alle Bereiche umfaßte. Skepsis erscheint um so mehr angebracht, als der Arbeitsschutz, wie ich ihn sehe, eine typische Querschnittsaufgabe ist, die in allen Bereichen der Wirtschaft und Verwaltung Anwendung finden muß. Ich halte es daher für viel wichtiger, daß wir uns auf Regelungen beschränken, wie sie das BMA im Arbeitsschutzrahmengesetz plant, um die Frist bis Beginn des Jahres 1993 auch wirklich einhalten zu können.
Um die EG-Richtlinien auch für kleinere und mittlere Betriebe umsetzen zu können, bedarf es noch einer Menge Arbeit.
Selten denkt der Gesetzgeber über das, was er anrichtet, in letzter Konsequenz genügend nach. Dem Antrag entnehme ich, daß jeder Arbeitgeber — ich wiederhole: jeder — Programme und Handlungskonzepte für eine umfassende betriebliche Gesundheitsförderung zu erarbeiten und durchzuführen hat.

(Zuruf von der SPD: Haben Sie etwas dagegen?)

Meine Damen und Herren, meine lieben Kollegen, eine solche Forderung müßten ja auch wir Abgeordnete als Mini-Arbeitgeber mit unseren ein oder zwei Mitarbeitern unmittelbar wahrnehmen und erfüllen. Und jetzt würde es mich schon sehr interessieren, wie die Kollegen von der Opposition, die dies formuliert haben, z. B. den Faktor Streß, unter dem nicht nur die Abgeordneten, sondern gelegentlich auch die Mitarbeiter zu leiden haben, aus ihren Büros hinausbekommen, wie sie ihn abbauen wollen. Oder haben die SPD-Mitarbeiter keinen Streß? Wir sind da gern bereit, von Ihnen zu lernen, wie Sie diese Belastungsstrukturen bei uns abbauen und den vorbeugenden betrieblichen Gesundheitsschutz verbessern wollen.
Sicher ist es richtig — und durch die EG-Richtlinie auch vorgegeben —, daß im Rahmen des vom BMA geplanten Arbeitsschutzrahmengesetzes einheitliche Regelungen für alle Arbeitnehmer, also auch für den öffentlichen Dienst, geschaffen werden. Aber ich



Dr. Gisela Babel
meine, wir sollten gerade beim Arbeitsschutzrahmengesetz darauf achten, daß in allen Bereichen mindestens auf das gleiche Niveau im Arbeitsschutz und in der Überwachung hingearbeitet wird. Ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn Bund, Länder und Kommunen hier mit gutem Beispiel vorangehen würden.
Der Kollege Reimann hat in der Debatte vom 29. April nachhaltig gefordert, daß die Überlagerung nationalen Rechts durch EG-Recht nicht zu einer Verschlechterung der Arbeitsschutzsituation in der Bundesrepublik führen darf. Darin sind wir uns sicherlich einig.
Was jedoch die Überlegungen der SPD zum Verhältnis Unfallversicherungsträger und Staat betrifft, so können wir diese nicht teilen. Gerade bei der hohen Bedeutung, die die F.D.P.-Bundestagsfraktion dem dualen System und darin den Berufsgenossenschaften mit ihrer Selbstverwaltung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern beimißt, lehnen wir die Überlegungen ab, die letztlich auf eine Einschränkung und Gängelung der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung hinauslaufen. Zwar halten wir eine möglichst enge Kooperation zwischen Berufsgenossenschaften und Ländern vor Ort für notwendig, sie ist aber in einigen Bereichen heute durchaus schon vorhanden; man müßte sie verbessern. Die SPD-Vorschläge schießen jedoch über das Ziel hinaus, wie überhaupt Staat und Bürokratie in diesen Vorschlägen fröhlich wuchern.
Die Umsetzung der einschlägigen EG-Richtlinien durch staatliches Recht macht es meines Erachtens unerläßlich, den Präventionsauftrag der Berufsgenossenschaften auch auf die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren auszudehnen und ihnen auch die Kontrolle staatlicher Arbeitsschutzvorschriften mit Ausnahme des sozialen Arbeitsschutzes zu übertragen.
Meine Damen und Herren, arbeitsmedizinisch frühzeitige und rechtzeitige Prävention ist gerade bei den großen Volkskrankheiten, die zum Teil auch arbeitsbedingte Ursachen haben können, unerläßlich. Die dafür aufgewandten Gelder zahlen sich aus, vielfach schon im Betrieb, wenn krankheitsbedingte Fehlzeiten gemindert und Unfälle vermieden werden können, aber erst recht gesamtwirtschaftlich in unseren sozialen Sicherungssystemen. Sparen am verkehrten Ende kommt letztlich allen teuer zu stehen. Manches, was wir heute durch teure Kuren „reparieren", könnte durch sachgerechte Prävention vermieden werden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Endlich hat es geklickt! — Weitere Zurufe von der SPD: Richtig, so ist es!)

Ich nehme an, daß wir uns da einig sind.
Den Appell des Kollegen Reimann, möglichst gemeinsam Lösungen anzustreben, nehme ich positiv auf.

(Zuruf von der SPD: Also nicht nur den von der PDS?!)

— Nicht nur den von der PDS! — Denn wichtiger als alle formalen Änderungen ist es, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die Wirtschaft und die Politik für die wachsende Bedeutung und den Stellenwert des
Arbeitsschutzes zu sensibilisieren. Ein gemeinsames Zusammenwirken kann dazu nur hilfreich sein.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210807500
Meine Damen und Herren, ich erteile nun dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Horst Günther, das Wort.

Horst Günther (CDU):
Rede ID: ID1210807600
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnnen und Kollegen! Arbeitsschutz sollte das gemeinsame Anliegen aller sein, die Verantwortung für die Gesundheit der arbeitenden Menschen tragen. Ich gehe davon aus, daß wir uns da alle einig sind. Eine wirksame Prävention muß vor der Heilbehandlung, vor der Rehabilitation und natürlich vor der Entschädigung stehen.
Frau Kollegin Bläss, lassen Sie mich schon hier sagen: Ich bin froh, daß die 16 bis 17 Millionen Menschen in der ehemaligen DDR endlich einen vernünftigen Arbeitsschutz genießen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das, was in der ehemaligen DDR in Gesetzen, Verordnungen oder Büchern stand, war das eine, die grausame Wirklichkeit war das andere. Das hat nun endlich ein Ende!

(Konrad Gilges [SPD]: Das gibt es auch bei uns! Schauen Sie sich doch einmal an, was in den Sozialgerichten los ist!)

— Kollege Gilges, ich würde die Situation in unseren Betrieben nicht mit den katastrophalen Zuständen vergleichen, die dort geherrscht haben.

(Konrad Gilges [SPD]: Das hat doch keiner getan!)

— Sie erweckten aber soeben den Eindruck. Im übrigen werden unsere Vorschläge auch dem Auftrag des Einigungsvertrages gerecht werden.
Versäumnisse bei der Prävention schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie führen auch — Kollege Reimann, da sind wir uns völlig einig — zu Folgekosten in Milliardenhöhe in den sozialen Sicherungssystemen, einschließlich der Krankenversicherung. Fehlzeiten, Krankheitskosten, Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten und Produktionsausfälle — das wären die Folgen mangelhaften Arbeitsschutzes.
Wir müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen hierfür neu gestalten. Deshalb muß diese Legislaturperiode auch eine Legislaturperiode des Arbeitsschutzes werden.
Wir haben in Deutschland ein hohes Niveau im Arbeitsschutz; das ist wohl unbestritten. Unsere technischen Anlagen zählen zu den sichersten der Welt. Unser System genießt im Ausland hohes Ansehen, und deutsche Hilfe im Auf- und Ausbau eigener Arbeitsschutzsysteme wird ständig in Anspruch genommen. Wie hätte sonst die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle in den letzten zehn Jahren um 40 % und



Parl. Staatssekretär Horst Günther
seit 1970 um 63 % sowie die Zahl der schweren Arbeitsunfälle ohne Todesfolge seit 1970 um 45 % zurückgehen können?
Auch in den letzten Jahren hat es bei unseren Bemühungen keinen Stillstand gegeben. Es gab, Kollege Reimann, keinen Dornröschenschlaf!
1986 ist die Gefahrstoffverordnung grundlegend erneuert und seitdem mehrfach angepaßt worden. Wir haben uns in diesem Rahmen dafür eingesetzt, die Verwendung von Asbest immer weiter einzuschränken. Wir wollen ein europaweites Verbot, auch gegen den Willen einiger EG-Mitgliedstaaten.
Wir haben 1990 das Chemikaliengesetz novelliert mit dem Ziel, Chemikalien am Arbeitsplatz intensiver als bisher auf gefährliche Eigenschaften prüfen zu können.
Wir haben Vorschläge zur Einbeziehung von Klein-und Mittelbetrieben in die Betreuung durch Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit erarbeitet.
Wir haben die Arbeitsschutzforschung durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und im Rahmen des Forschungsprogramms „Arbeit und Technik" kontinuierlich gefördert.
Im Rahmen der deutschen Einigung haben wir die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin in Berlin errichtet.
Bei der Einführung des westdeutschen Arbeitsschutzsystems in den neuen Bundesländern ist sehr gute Aufbauarbeit geleistet worden. Hier möchte ich besonders den Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer und den Berufsgenossenschaften noch einmal ein herzliches Wort des Dankes sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben durch Förderung von Modellmaßnahmen in den neuen Ländern Anstöße gegeben und Beratungshilfen geleistet, 1992 mit über 20 Millionen DM.
In Dortmund entsteht die Deutsche ArbeitsschutzAusstellung, ein wichtiges Projekt, um das Thema „Arbeitsschutz" im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit fester zu verankern. Das ist ganz wichtig. Darin sind wir uns sicherlich einig.
Die Fortschritte im Arbeitsschutz sind aber nicht nur durch die Arbeit der staatlichen Stellen und der Selbstverwaltung zustande gekommen. Ich habe hier besonders den zahlreichen Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie vielen Wissenschaftlern zu danken, die — zumeist ehrenamtlich — in zahlreichen Ausschüssen mitgewirkt haben und diese Arbeit sicherlich auch fortsetzen werden. Ich denke z. B. an die Fachausschüsse der Berufsgenossenschaften, den Gefahrstoffausschuß, die Ausschüsse für überwachungsbedürftige Anlagen und den Ausschuß für technische Arbeitsmittel, aber auch an die Beiräte bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin. Dort wird gute Arbeit geleistet.
Meine Damen und Herren, der Arbeitsschutz hat sich in den letzten Jahren zu einem Bereich entwikkelt, der wie kein anderer sozialpolitischer Bereich von Europa beeinflußt wird. Die Bundesregierung hat
hieran maßgeblich mitgewirkt. Deutschland hat während seiner EG-Präsidentschaft Anfang 1988 die soziale Dimension der europäischen Einigung ins Zentrum der politischen Diskussion gebracht; Kollege Fuchtel hat soeben schon darauf hingeweisen. Ich will noch hinzufügen: Unter Leitung von Bundeskanzler Helmut Kohl hat die Verwirklichung der sozialen Dimension des Europäischen Binnenmarktes an Konturen gewonnen. Dementsprechend haben die Staats- und Regierungschefs auf dem Straßburger Gipfel 1989 die „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer", also die Europäische Sozialcharta, angenommen.
Damit das Anliegen des Arbeitsschutzes europaweit Unterstützung findet, haben die Arbeits- und Sozialminister das Jahr 1992 zum „Europäischen Jahr für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz" erklärt. In vielen Aufklärungskampagnen und -veranstaltungen arbeitet auch die Bundesregierung daran mit, den Arbeitsschutz verstärkt ins Bewußtsein der Bürger unseres Landes zu bringen.
Mittlerweile liegt ein ganzes Bündel von europäischen Richtlinien zum Arbeitsschutz vor. Kernstück ist die sogenannte Rahmenrichtlinie zum betrieblichen Arbeitsschutz. Diese Richtlinie ist von Deutschland maßgeblich mitgestaltet worden. Sie geht von einem modernen Arbeitsschutzbegriff aus. Arbeitsschutz ist heute mehr als Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten; Arbeitsschutz umfaßt alle Maßnahmen zur Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit.
Darüber hinaus gibt es bislang neun Einzelrichtlinien zu speziellen Sachgebieten. Ich nenne z. B. nur die Richtlinie über Bildschirmarbeitsplätze.
Auch national bedarf unser Arbeitsschutzrecht der Neuordnung. Die Regelungen sind teilweise zersplittert, wie im betrieblichen Arbeitsschutz, und teilweise veraltet, wie die Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938. Darüber sind wir uns im Grundsatz völlig einig.

(Wolfgang Roth [SPD]: Sie haben zehn Jahre Zeit gehabt!)

— Davor gab es auch noch 13 Jahre, Kollege Roth.
Nach Verabschiedung der wesentlichen EG-Richtlinien haben wir ein Konzept für die Neuordnung entwickelt. Es wird in Form von Thesenpapieren schon seit dem letzten Jahr mit den Sozialpartnern, den Fachkreisen, den Bundesländern und den Berufsgenossenschaften fach- und sachgerecht und eingehend erörtert. Dieses Konzept enthält drei Bausteine: die Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz, eine Neuordnung des Arbeitszeitrechts und ein Gesetz über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit.
Der erste Baustein betrifft die Neuregelung der technischen Sicherheit von Geräten, Maschinen und Anlagen. Die entsprechende Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz ist vom Deutschen Bundestag schon verabschiedet und steht im Gesetzblatt. Wir haben damit in diesem Bereich die notwendigen Voraussetzungen für den Europäischen Binnenmarkt geschaffen.



Parl. Staatssekretär Horst Günther
Die Novelle bringt eine stärkere Einbeziehung des Handels in die Verantwortung für die Abgabe sicherer Geräte. Sie verbessert Eingriffsmöglichkeiten der Gewerbeaufsichtsbehörden, wenn sie unsichere Geräte antreffen, und enthält eine Neuregelung des Prüfwesens.
Der zweite Baustein ist ein modernes Arbeitszeitgesetz. Den Referentenentwurf hat der Minister in der letzten Woche vorgestellt.
Die Modernisierung und Flexibilisierung der Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938 ist in der Tat schon seit langem überfällig. Mit dem neuen Arbeitszeitgesetz wollen wir neue Weg gehen.
Der Staat legt den gesundheitlich notwendigen Rahmen fest; die Tarifpartner füllen diesen Rahmen aus. Das bedeutet konkret ein Ja zu mehr Flexibilität und Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit, aber ein Nein zur Sonntagsarbeit. In der Vergangenheit haben wir den Sonntag als gemeinsamen Ruhetag der Arbeitnehmer erfolgreich verteidigt. 82,2 % aller Beschäftigten in den alten Bundesländern müssen an Sonn- und Feiertagen nie arbeiten, 9,1 % nur gelegentlich. Wir meinen, daran sollte sich auch nichts ändern.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Ich begrüße es, daß auch in der europäischen Arbeitszeitrichtlinie der Sonntag im Prinzip als wöchentlicher Ruhetag vorgesehen ist. Daran haben wir maßgeblich mitgewirkt.
Unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen die Probleme der Nachtarbeit. Nicht Nachtarbeitsverbote für bestimmte Personengruppen sind der richtige Weg, sondern besondere Schutzvorschriften für alle, die Nachtarbeit leisten. Hierbei werden wir auch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nachtarbeit Rechnung tragen.
Ich kenne, wenn auch nicht ganz vollständig, seit gestern einige Vorschläge, die, glaube ich, die sozialdemokratische Fraktion vorgelegt hat. Dazu will ich nur grundsätzlich sagen: Überreglementierung lohnt sich auch in diesem Falle sicherlich nicht und wird nicht immer von Vorteil sein. Ich lese da z. B., daß nachts leichte Mahlzeiten angeboten werden sollen. Das ist eine Überreglementierung, die man nicht in ein Gesetz hineinschreiben sollte. Wofür haben wir die Tarifpartner, wofür haben wir das Betriebsverfassungs- und das Personalvertretungsgesetz?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Der dritte Baustein bei der Neuordnung des Arbeitsschutzes ist ein Gesetzentwurf über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit, den wir in Kürze vorstellen werden. Mit diesem Gesetz betreten wir in der Gestaltung des Arbeitsschutzrechts in dreierlei Hinsicht Neuland:
Erstens werden die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern für den Arbeitsschutz im Betrieb umfassend gesetzlich geregelt. Diese Regelungen werden über den klassischen Arbeitsschutzbegriff hinausgehen und Aspekte der Humanisierung der Arbeit mit einbeziehen. Der Gesetzentwurf wird alle Maßnahmen umfassen, die
dazu beitragen, Leben und Gesundheit der arbeitenden Menschen zu schützen, ihre Arbeitskraft zu erhalten und die Arbeit menschengerechter zu gestalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

§ 120a der Gewerbeordnung wird dann nach 100 Jahren ausgedient haben. Damit wird auch die dort enthaltene Einschränkung entfallen, daß der Arbeitgeber den Gesundheitsschutz nur so weit zu gewährleisten hat, „wie es die Natur des Betriebes gestattet". — Das freut Sie besonders, Kollege Reimann; Sie haben das soeben auch angesprochen.
Künftig soll es zu den grundlegenden Pflichten des Arbeitgebers gehören, die Gefahrensituation in seinem Betrieb zu ermitteln und zu bewerten, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Aspekte der Arbeit zu sorgen, den Arbeitsschutz schon in der Planungsphase mit einzubeziehen, Arbeitsplätze und Arbeitsverfahren menschengerecht zu gestalten und bei technischen Maßnahmen den aktuellen Stand der Technik, also nicht nur die allgemein anerkannten Regeln der Technik, zu berücksichtigen.
Hinzu kommen Rechte, sich mit Vorschlägen zu allen Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes an den Arbeitgeber und bei Verletzung von Arbeitsschutzpflichten an die Behörden zu wenden. Um eine Schutzvorschrift zu nennen: Die Beschäftigten dürfen dadurch keine Nachteile erleiden.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf wird auch klarstellen, daß Arbeitnehmer im Falle einer Arbeitseinstellung bei erheblicher und unmittelbarer Gefahr nicht benachteiligt werden dürfen.
Zweitens werden die Arbeitsschutzregelungen grundsätzlich einheitlich für alle abhängig Beschäftigten gelten, also für Arbeiter, Angestellte und Beamte gleichermaßen. Damit werden wir in der Bundesrepublik Deutschland erstmals ein einheitliches Recht im betrieblichen Arbeitsschutz für Wirtschaft und Verwaltung haben.
Drittens. Wir wollen den Auftrag der Unfallversicherungsträger auch auf die Verhütung arbeitsbedingter Erkrankungen ausdehnen. Bisher haben sie eine Zuständigkeit nur für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Konkrete Fortschritte sind also geplant.
Mit dieser Neuordnung werden wir den Arbeitsschutz in Deutschland ein großes Stück nach vorne bringen. Mir sind konkrete Fortschritte für die Arbeitnehmer wichtiger als eine lange Diskussion über die Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches. Wenn wir erst die Probleme ausdiskutieren, die mit der Festlegung des Inhalts eines Arbeitsschutzgesetzbuches verbunden sind, werden wir die dringend notwendige Neuordnung verzögern und auch die Umsetzungsfristen für EG-Richtlinien weit überschreiten. Diese Diskussion sollten wir im Anschluß an die jetzt notwendigen Gesetzesvorhaben führen. Mit der von mir vorgeschlagenen Neugestaltung ist für die Zukunft überhaupt nichts verbaut.
Ein besonderes Kennzeichen des Arbeitsschutzes in Deutschland ist das duale System mit seiner einer-



Parl. Staatssekretär Horst Günther
seits staatlichen und andererseits selbstverwalteten Ausprägung. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Ich denke, es muß auch in Zukunft erhalten werden. Das heißt auch, daß die Berufsgenossenschaften weiterhin die Möglichkeit haben müssen, branchenspezifische Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen, mit denen sie staatliche Regelungen konkretisieren bzw. darüber hinausgehende Anforderungen stellen können.
Eine parallele Rechtsetzung durch staatliche und Unfallverhütungsvorschriften sollte allerdings unterbleiben. Die Berufsgenossenschaften sollen vielmehr auch die Einhaltung des staatlichen Rechts überwachen können. Dafür brauchen wir beim Vollzug eine noch bessere Koordinierung der Überwachungstätigkeit beider Aufsichtsdienste. Es geht um eine funktionierende Kooperation. Ich setze darauf, daß die Beteiligten hierfür vernünftige Lösungen finden werden.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein guter Arbeitsschutz besteht nicht nur in Rechtsvorschriften; alle am Arbeitsleben Beteiligten müssen mitmachen. Jeder gute Unternehmer weiß: Sein wertvollstes Kapital sind die Leistungsfähigkeit, die Motivation, die Kreaktivität und natürlich auch die Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Schlagwort „Arbeit macht krank" — ich habe das soeben schon einmal in anderer Form gehört, Frau Bläss — darf keine Gültigkeit haben. Ich appelliere deshalb an die Betriebe: Bauen Sie einen wirksamen Arbeitsschutz auf! Wer gesunde Unternehmen haben möchte, muß für gesunde Mitarbeiter sorgen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210807700
Meine Damen und Herren, jetzt erteile ich unserem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1210807800
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie ernst der Bundesarbeitsminister das Thema „Verbesserung des Arbeitsschutzes" nimmt, kann man schon daran ablesen, daß er hier heute gar nicht da ist. Das ist ein erstaunlicher Vorgang. Er hat zwar jeden Tag Zeit, ein neues „sozialpolitisches Ferkel durchs Dorf zu jagen": Abschaffung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Abschaffung der Entgeltzahlung bei Feiertagen, Streichung von Feiertagen — als nächster Vorschlag fehlt nur noch die Zusammenlegung von Weihnachten und Ostern. Es ist ja erstaunlich, wie weit die Phantasiewelt des Arbeitsministers reicht —, aber hier, bei einer so entscheidenden Debatte, ist Fehlanzeige.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er wurde hervorragend durch seinen Staatssekretär vertreten!)

Wenn Sie die Schlagzeilen der Boulevardpresse darüber verfolgen, was der Blüm alles plant und alles vorhat, dann müßten Sie annehmen, er hätte sie nicht mehr alle.
So Ludger Reuber, Pressesprecher von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, am Freitag vor Journalisten.

(Lachen bei der SPD — Horst Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Das sind alles Falschmeldungen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Die Verwirrung scheint auf dieser Seite des Hauses komplett zu sein.

(Zustimmung bei der SPD)

Schade ist, daß die Führung des Ministeriums das Thema nicht angemessen ernst nimmt. Täte sie dies, wäre sie aus vielen Kompensationsnöten in der Pflegesicherung heraus.

(Beifall bei der SPD)

Ich will versuchen, Ihnen dies zu belegen.
Das Thema „Arbeitsschutz" führt in Deutschland ein öffentliches Schattendasein. Die interessierte Fachwelt beklagt immer wieder, der Schutz der Arbeitsumwelt habe in der Bundesrepublik keine politische Lobby. Tatsächlich weist der Arbeitsschutz dramatisch schlechtere Schutzmaßstäbe für den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer auf als der allgemeine Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Die Folgen sind verheerend und von beträchtlichem Umfang. Von dem, was von den Koalitionsrednern ständig vorgetragen wurde, kann angesichts der Fakten und der Zahlen überhaupt keine Rede sein.
Ich will einige wenige Beispiele herausgreifen.
Kollege Reimann hat in seinem Vortrag bereits darauf hingewiesen, daß ein Drittel der deutschen Arbeitnehmerschaft vor Erreichen der Altersgrenze berufsunfähig wird, ein weiteres Drittel vorher stirbt und nur ein restliches Drittel das Rentenalter arbeitend und einigermaßen gesund erreicht. Es ist erschreckend genug, daß Lebenserwartung und gesundheitlicher Zustand in hohem Maße von der Schichten- und Berufszugehörigkeit des Menschen abhängig sind. Wir sind auf diesem Gebiet tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft.
Im Endbericht der Enquete-Kommission „Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung" der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages heißt es dazu einmütig — ich zitiere —:
Personen in der unteren sozialen Schicht geben etwa doppelt so häufig einen schlechten Gesundheitszustand an wie Personen in der obersten sozialen Schicht. Es deutet nichts darauf hin, daß dieses Ergebnis auf eine höhere Klagsamkeit der Betroffenen zurückzuführen ist.
Und weiter:
In der Arbeitswelt befinden sich im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern umfassende Studien über den Zusammenhang von Arbeitsbelastungen und Gesundheitszustand erst im Anfangsstadium, die Gesundheitsberichterstattung ist wenig entwickelt und kaum institutionalisiert . . .
Dann kommt man zu der Schlußfolgerung:
Die Gesundheitsprobleme sind schichtabhängig unterschiedlich verteilt.



Ottmar Schreiner
Wie Sie es allein schon vor diesem Hintergrund wagen können, an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei Arbeitnehmern zu rütteln, ist geradezu abenteuerlich.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund dieser Kritik ist es völlig unbegreiflich, daß ausgerechnet das Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Arbeit und Technik" des Bundesforschungsministeriums, in dem auch das Bundesarbeitsministerium „seine Füße" hat und das gerade der Humanisierung des Arbeitslebens dienen soll, in 1993 und den Folgejahren weiter drastisch reduziert werden soll. So soll z. B. im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes die sogenannte Wirkungsforschung, d. h. Forschungen zur Wirkung von Arbeitsmaterialien und Arbeitsstoffen, zur Arbeitsverdichtung usw. hinsichtlich Belastungen, Krankheiten bzw. gesundheitlichen Gefährdungen, ganz gestrichen werden. Ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge aber ist präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht möglich.
Erklären Sie mir nicht, daß die Bundesregierung dabei ist, ihre Bemühungen im Bereich des Arbeitsschutzes zu intensivieren, wenn die praktischen Schritte genau auf das jeweilige Gegenteil abzielen!
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Tatsache ist auch, daß zwischen den zugelassenen Grenzbelastungswerten für Gefahrstoffe innerhalb und außerhalb der Betriebe gewaltige Unterschiede bestehen. So beträgt z. B. der Grenzwert für Asbestbelastungen außerhalb der Betriebe 400 Fasern/cm3 innerhalb des Betriebes beläuft sich der gleiche Wert auf 250 000 Fasern/cm3 liegt also um ein Vielfaches höher.
Den Arbeitnehmern und ihrer Gesundheit nützt auch der beste Umweltschutz nichts, wenn in manchen Bereichen der Arbeitsumwelt steinzeitähnliche Verhältnisse herrschen. Das Ziel eines verbesserten Arbeitsschutzes ist klar: menschengerechte Arbeitsgestaltung.
Die Forderung nach wirksamen Präventionsmaßnahmen hat ein weiteres Ziel, nämlich die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz erreichte das Ausfallvolumen des Produktionsfaktors Arbeit infolge von krankheits- und unfallbedingten Fehltagen allein im Jahr 1990 eine Höhe von knapp 90 Milliarden DM. Das ist, ganz nebenbei bemerkt, mehr als das Dreifache dessen, was die Pflegeversicherung kosten würde, wobei die „Reparaturkosten am Menschen" bei Krankheit und Unfällen nicht eingerechnet sind. Vermutlich wäre der Betrag dann um ein Wesentliches höher anzusetzen.
Wenn Sie also ernsthaft Kompensationsfelder zur Finanzierung der Pflege suchen: Hier bietet sich ein Feld — im Interesse der Menschen und im Interesse der Verbesserung der Arbeitsproduktivität — geradezu an.
Zwischen Ökonomie und Gesundheitspolitik wird häufig ein Spannungsverhältnis gesehen. Gesundheit und Wohlbefinden aber machen Produktivitätsreserven frei und zahlen sich mittelfristig auch für die
Unternehmungen aus. Das ist sogar übereinstimmender Erkenntnisstand in der Europäischen Gemeinschaft. Selbst Großbritannien wirkt an der Festsetzung von höheren EG-Normen zum Arbeitsschutz aktiv mit.
Wir Sozialdemokraten beteiligen uns sehr gerne an der Diskussion über die ökonomisch-sozialen Bedingungen des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Der betriebliche Krankenstand ist ohne Zweifel yolks- und betriebswirtschaftlich ein ganz erheblicher Kostenfaktor; ich habe die Zahlen soeben genannt. Auf der anderen Seite ist der Krankenstand beeinflußbar und damit auch veränderbar.
Betrachtet man die Arbeitsunfähigkeit etwas näher, so zeigt sich, daß Ihre Strategie, Pflegeversicherung durch Wiedereinführung von Karenztagen im Krankheitsfall, auch aus nachfolgenden Gründen völlig abwegig ist und den noch einzuführenden Straftatbestand der versuchten Vollksverdummung erfüllt.
Die Kurzzeitarbeitsunfähigkeiten bis zu einer Woche machen lediglich ca. 7 % bis 10 % des Tagesvolumens der Arbeitsunfähigkeiten aus. Bei ein bis drei Tagen Abwesenheit sind es bei den Betriebskrankenkassen gerade noch 1,5 % und bei den Ortskrankenkassen ca. 3 % des Krankenstandsvolumens.
Das heißt im Klartext: Selbst wenn unterstellt würde, daß die von Ihnen erfundenen Blaumacher — noch einmal: 1,5 % bzw. 3 % des Krankenstandsvolumens — hier zu finden wären, so wäre dennoch völlig klar, daß damit der betriebliche Krankenstand nicht im geringsten erklärt werden könnte. Ganz im Gegenteil: Betriebsbezogene Untersuchungen zum Arbeitsunfähigkeitsgeschehen haben zu der Erkenntnis geführt, daß insbesondere typische Belastungskonstellationen am Arbeitsplatz und in betrieblichen Arbeitsbereichen mit spezifischen Erkrankungen verbunden sind.
Meine Damen und Herren, allein diese wenigen Zahlen zeigen, daß Sie mit der von Ihnen angezettelten Karenztagedebatte hoffnungslos hinter dem Mond sind. Mir ist schleierhaft, aus welchen sachlichen Gründen die Fortsetzung dieser Diskussion noch Sinn macht. Ich nehme an, daß nach mir noch einer dieser Koalitionsfreaks reden wird. Er müßte mir einmal erklären, wie die Fortsetzung dieser Debatte angesichts der Zahlen, die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und den betroffenen Kassen veröffentlicht werden, inhaltlich begründet wird.

(Zuruf von der SPD: Das können die nicht!)

Das Gebot der Stunde heißt Prävention, wirksamerer Arbeitsschutz, nicht die Bestrafung von Kranken.
Der Arbeitsschutz kann und muß ein zentraler Hebel werden, die Gesundheit der Arbeitnehmer zu erhalten und zu fördern und gleichzeitig einen erheblichen Beitrag zur Förderung der betrieblichen Produktivität zu leisten. Wir wollen den Standort Deutschland stärken. Wir wollen vor allem und gleichzeitig eine humane Arbeitsgestaltung für und mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Meine Damen und Herren, gerade wir Sozialpolitiker wissen, daß die hohe Abgabenlast — Steuern und Sozialversicherungsbeiträge — die Arbeitnehmer in



Ottmar Schreiner
besonderem Maße bedrückt. Alle Vorschläge der Koalitionsfraktionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung laufen auf eine zusätzliche und zudem völlig einseitige Belastung der Arbeitnehmerschaft hinaus.

(Beifall bei der SPD)

Dabei müßte auch Ihnen bekannt sein, daß das Ausweichen in Schwarzarbeit und legale, nicht von der Sozialversicherung erfaßte Tätigkeiten um so attraktiver wird, je stärker der Ertrag aus regulärer Erwerbsarbeit geschmälert wird.

(Beifall bei der SPD — Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist wahr!)

Wir wissen als Sozialdemokraten gleichermaßen, daß die Höhe der Lohnnebenkosten die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe beeinflußt. Die Sozialversicherung der Bundesrepublik rutscht vor allem durch die hohen Kosten der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland in die roten Zahlen. Ohne diese Folgelast der Vereinigung wäre nach Sicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ausreichener finanzieller Spielraum vorhanden, um die Einführung einer Pflegeversicherung sogar ohne zusätzliche Belastung der Beitragszahler zu verkraften. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis schlägt das Institut vor, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wieder zu senken und statt dessen die Kosten der ostdeutschen Arbeitslosigkeit anders zu finanzieren.
Wir Sozialdemokraten haben immer wieder die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe gefordert, um die sozialen Lasten gerechter zu verteilen.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Noch viel sinnvoller aber wäre es, die Arbeitslosigkeit, vor allen Dingen in Ostdeutschland, entschiedener zu bekämpfen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Auch dazu haben wir dem Parlament zahllose Vorschläge unterbreitet.
Meine Damen und Herren, zum Schluß: Das Grundgesetz des Arbeitsschutzes, nämlich die deutsche Gewerbeordnung, stammt aus dem Jahre 1869. Im Gegensatz dazu hat der Umweltschutz ein modernes, wenn auch in manchen Fragen nicht ausreichendes Grundgesetz, nämlich das Bundesimmissionsschutzgesetz, das in den späten 70er Jahren verabschiedet worden ist. Dies bedeutet, daß im Bereich des Arbeitsschutzes mit mittelalterlichen Instrumenten gegen moderne, neuzeitliche Gefahren gearbeitet wird. Das ist die Lage.
Wir fordern Sie mit großem Nachdruck auf, das europäische Jahr des Arbeitsschutzes gemeinsam mit uns für eine durchgreifende Modernisierung und Verbesserung des Arbeitsschutzes zu nutzen.
Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210807900
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als letztem Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt unserem Kollegen Dr. Alexander Warrikoff das Wort.

(Zuruf von der SPD: Ein Koalitionsfreak!)


Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1210808000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte meine Bemerkungen, wie es diesem Thema angemessen ist, sehr friedlich beginnen.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das würde ich nicht tun!)

— Das kann ich in der Tat jetzt nicht mehr tun. Sie haben, Herr Kollege Schreiner, von den Koalitionsfreaks gesprochen. Ich nehme an, daß Sie das englische Wort meinen. Sie haben damit ein Wort benutzt, das in etwa in die Gegend von „Mißgeburten" geht. Ich finde, das ist ein Höhepunkt der Geschmacklosigkeit. Ein Höhepunkt der Geschmacklosigkeit! Es ist unglaublich, was Sie da gesagt haben!

(Ottmar Schreiner [SPD]: Ein deutscher Freak ist etwas völlig anderes!)

— Wer hat denn englisch geredet, Sie oder ich?

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das liegt an dem deutschen Sprachgebrauch!)

Der zweite Gesichtspunkt, auf den ich hinweisen möchte, ist der,

(Ottmar Schreiner [SPD]: Wo sind wir denn hier zu Hause?)

daß wir hier ein sehr ernstes Thema besprechen, nämlich das Thema des Arbeitsschutzes.

(Zuruf von der SPD: Seltene Einsichten!)

Diese Einsicht wäre beim Kollegen Schreiner überaus wertvoll gewesen, denn er hat sich veranlaßt gefühlt, zur Pflege und zur Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern zu reden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Das hängt doch alles miteinander zusammen!)

— Wenn Sie den Zusammenhang zwischen Arbeitsschutz und Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern sehen, kann ich Ihnen auch nicht helfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Zurück zur Sache. Wir sind uns in der Tat — deswegen hatte ich gehofft, daß es eine Diskussion — —

(Zuruf von der SPD: Tun Sie doch was!)

— Nein, eine Diskussion hat einen versöhnlichen Charakter; deswegen bin ich besonders enttäuscht, daß das so eröffnet wurde. Aber wir sind uns im Ziel einig, und zwar nicht nur bei der Verhütung der Unfälle, sondern auch beim Gesundheitsschutz; da besteht also vollkommenes Einvernehmen.
Wir sind auch der Auffassung, daß es sich hier um ein sich bewegendes Ziel handelt, daß also Gesundheitsschutz und Unfallschutz nie das Ziel erreichen können, das wir wollen, sondern daß wir eine Dynamik haben und wir dauernd verbessern müssen und nie das Ziel erreichen können.
Wir sind uns allerdings mit der Opposition in der Bewertung des gegenwärtigen Zustands nicht einig.



Dr. Alexander Warrikoff
Das ist nicht ganz unwichtig; denn wenn man Politik für die Zukunft machen will, muß man auch den gegenwärtigen Zustand betrachten. Da zitiere ich aus Ihrem Antrag, „daß außerordentlich große Defizite im Vollzug vorhanden sind", „daß ein unkoordiniertes Nebeneinander existiert" . In Ihrem Redebeitrag, Herr Kollege Schreiner, haben Sie die Ausdrücke „verheerend" und „steinzeitlich" benutzt.

(Konrad Gilges [SPD]: Das ist doch so!)

Ich muß sagen, wer sich so mit der Wirklichkeit unseres Arbeitsschutzes befaßt, beleidigt die vielen, vielen Menschen, die mit großem Erfolg und großem Engagement ununterbrochen an dieser Aufgabe arbeiten.

(Zurufe von der SPD)

Er beleidigt die Betriebsräte, er beleidigt die Gewerkschaften, er beleidigt die Berufsgenossenschaften, er beleidigt die Arbeitgeber und die Unfallschutzbeauftragten.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: Jetzt beleidigen Sie sogar mich!)

— Dem möchte ich ungern widersprechen. (Lachen bei der SPD)

— Der Kollege Schreiner kann Behauptungen aller Art aufstellen; ich muß dem ja nicht widersprechen.
Es ist sehr wohl ein Wort der Anerkennung am Platze, das ich hiermit aussprechen möchte. Ich möchte auch darauf hinweisen, daß sehr viele Länder, die die neue Arbeitsschutzorganisation aufbauen, sich hilfesuchend und in voller Anerkennung an uns wenden; ich erwähne die Länder Osteuropas, von Rußland bis zur Tschechoslowakei; neuerdings hat auch die Türkei darum gebeten, daß wir beim Aufbau helfen.
Jetzt kommt ein Gedanke, bei dem wir offenbar verschieden bewerten, bei dem ich aber dankbar wäre, wenn Sie ihn zur Kenntnis nehmen würden. Die Unfälle — da besteht Einvernehmen; das hatten Sie auch zitiert — gehen zurück, insbesondere die schweren Unfälle, worüber wir uns freuen.

(Konrad Gilges [SPD]: Das sind immer noch 8 000 Tote!)

— Jeder einzelne ist zuviel.
Aber die Zahl der Probleme mit dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz wird größer. Meine Damen und Herren, das hat nur sehr vordergründig seinen Grund darin, daß etwa die Arbeitsplätze weniger gesund wären. Es hat, wenn man ehrlich ist, seinen Grund darin, daß wir die Zusammenhänge zwischen Arbeit und Krankheit sehr viel besser als früher erkennen. Über Jahrzehnte haben Menschen in Asbestfabriken gearbeitet, sind krank geworden, und keiner hat gewußt, woran es liegt.

(Manfred Reimann [SPD]: Aber als sie es gewußt haben, haben sie noch lange darin gearbeitet!)

— Das muß dann abgestellt werden, und da sind wir auch vollkommen einig.
Aber die Tatsache, daß wir jetzt mehr Berufskrankheiten entdecken, spricht nicht notwendig dafür, daß es mehr Berufskrankheiten gibt, sondern sie spricht auch dafür, daß sich die Methoden der Erkennung verbessert haben.
Übrigens ist Ihr Hinweis — ganz erstaunlich —, daß der Arbeitsschutz in der Landwirtschaft und im öffentlichen Dienst weitgehend ausgeklammert ist, natürlich vollkommen falsch. Selbstverständlich gibt es im öffentlichen Dienst und in der Landwirtschaft Arbeitsschutz.
Aber Ihr Hauptpunkt ist der Gesichtspunkt, daß Sie sagen: Die Zersplitterung muß beseitigt werden.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Ich habe gar nichts zur Landwirtschaft gesagt!)

Sie verlangen daher ein einheitliches Arbeitsschutzrecht für alle Beschäftigten. Daher — das ist der Grund — dieses Arbeitsgesetzbuch.
Meine Damen und Herren, eine Einheitlichkeit des Arbeitsschutzes ist per se nicht denkbar, weil wir uns an außerordentlich verschiedene Risiken wenden. Selbstverständlich sind die Arbeitsschutz-Detailvorschriften in einem Bergwerk vollkommen anders als in einer Automobilfabrik. In Chemiefabriken gibt es noch nicht einmal innerhalb einer Branche dieselben Vorschriften, sondern es gibt ein sehr weit gefächertes Programm verschiedener Richtlinien.
Deswegen ist sehr wohl zu überlegen, ob man nicht möglichst wenig in Gesetze hineinschreibt und statt dessen — wie das auch bisher der Fall ist — möglichst viel in untergesetzlicher Form regelt, z. B. in Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, allgemeinen Verwaltungsvorschriften, technischen Regeln und Normen, auch deswegen, weil die sehr viel schneller als Gesetze — das brauche ich nicht zu erläutern — technischen, gesundheitlichen Erkenntnissen anpaßbar sind. Wir sind uns in der Tendenz, möglichst viel in das Gesetz hineinzuschreiben, nicht ohne weiteres einig, u. a. wegen dieses Gesichtspunktes.
Aber es gibt noch einen zweiten, sehr ernsten Gesichtspunkt, von dem ich mich freuen würde, wenn Sie sich damit auseinandersetzen würden. Wir haben Spezialgesetze, z. B. das Gentechnikgesetz oder auch das Chemikaliengesetz, das Gerätesicherheitsgesetz. Diese Gesetze enthalten eine Fülle von Vorschriften zum allgemeinen Gesundheitsschutz, zum Schutz u. a. der Verbraucher, zum Schutz der Umwelt und zum Arbeitsschutz. Mir scheint — ich bin gern bereit, im einzelnen darüber zu diskutieren — aber die Herausnahme des Arbeitsschutzes aus dem Chemikaliengesetz oder aus dem Gentechnikgesetz, wo es in einem Spezialgebiet in sich geschlossen mit anderen — —

(Zurufe von der SPD)

— Nein. Ich habe Ihren Antrag gelesen. Ich habe gefürchtet, daß Sie einsprechen; deswegen habe ich Ihren Antrag extra mitgebracht und lese ihn Ihnen vor.

(Ottmar Schreiner [SPD]: Lesen Sie einmal ganz vor!)

— Ich lese den SPD-Antrag vor. Nach einem allgemeinen Teil sollte folgendes geregelt werden: „Gesund-



Dr. Alexander Warrikoff
heitsschutz der Beschäftigten vor besonderen Gefahren, Gefahrstoffen und Einwirkungen". Das ist also spezifisch. Wir sagen, daß dies nicht notwendigerweise in einem Arbeitsgesetzbuch geschehen sollte, sondern Z. B. in anderen spezifischen Gesetzen.
Meine Damen und Herren, dagegen gibt es in der Tat Dinge, die allgemein geregelt werden können, und zwar die Dinge, die für alle Betriebe, auch für alle Arbeitnehmer identisch sind. Deswegen sagen wir zu dem Arbeitsschutzrahmengesetz ja, das der entsprechenden EG-Richtlinie entspricht.
Wenn Sie jetzt, Herr Reimann, der Bundesregierung Untätigkeit vorwerfen, darf ich darauf hinweisen, daß die EG-Richtlinie zum Arbeitsschutz ganz besonders auch auf die nachdrückliche Arbeit der Bundesregierung zurückzuführen ist. Daß wir hier jetzt eine EG-Richtlinie haben, ist auch der Bundesregierung zu verdanken, bei der auch ich mich bei dieser Gelegenheit dafür bedanken möchte, und zwar im Namen der Arbeitnehmer.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In diesem allgemeinen Arbeitsschutzrahmengesetz, das wir einigermaßen— das nehme ich jedenfalls an, Herr Staatssekretär — rechtzeitig verabschieden werden, werden die Dinge stehen, die sich in der Tat für alle Betriebe eignen, nämlich die allgemeinen Pflichten der Arbeitgeber, Rechte und Pflichten der Arbeitnehmer, Vorsorgeuntersuchungen und vieles andere mehr.
Von einzelnen Punkten, die Sie angesprochen haben, möchte ich nur zwei herausgreifen. Sie wollen die außerordentliche Fülle von Institutionen, die es im Arbeitsschutz schon jetzt — zum größten Teil zu Recht — gibt, auch noch durch Arbeitsschutzbeiräte erweitern, also eine zusätzliche Bürokratie einführen, von der wir prinzipiell wenig halten.
Ich möchte auch den Gesichtspunkt der allgemeinen Gesundheitsförderung im Betrieb herausgreifen. Ich wäre dankbar, wenn Sie darüber noch einmal nachdenken würden. Irgendwo sind wir ja nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Menschen. Die allgemeine Gesundheitsförderung der Arbeitsnehmer ist nicht Sache des Betriebs, sondern gehört in andere Bereiche. Wir wollen ja nicht den vollkommen „verbetriebten" Menschen haben. Ich habe keine Lust, mit meinem Mitarbeiter — wir haben ja alle Mitarbeiter — früh einige Runden um den Langen Eugen zu drehen, weil ich mich für seine Gesundheit verantwortlich fühle. Das sollte wirklich den Mitarbeitern selbst überlassen werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210808100
Würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner gestatten?

Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1210808200
Ja, bitte.

Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1210808300
Ich will nur versuchen, die anfänglichen Mißverständnisse zwischen uns beiden auszuräumen, und Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß das Wort Freak im Deutschen nicht, wie Sie angenommen haben, Mißgeburt oder ähnliches bedeutet; denn nach dem Wörterbuch der deutschen Umgangssprache bedeutet Freak Sonderling, Außenseiter, und im Duden steht: jemand, der sich nicht in das normale Leben integrieren will.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)


Dr. Alexander Warrikoff (CDU):
Rede ID: ID1210808400
Herr Kollege Schreiner, ich hatte den Eindruck, daß Sie, wenn Sie sich der englischen Sprache befleißigen, dann auch die englische Bedeutung benutzen, aber Sie haben eine Transformation vorgenommen.

(Zuruf von der SPD: Im deutschen Parlament wird deutsch geredet!)

Ich meine aber sehr ernsthaft, meine Damen und Herren, wenn Kollege Schreiner dies hier als eine Art Entschuldigung anbringt, bin ich gern bereit, sie entgegenzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte noch über einen letzten Punkt sprechen. Herr Kollege Reimann, Sie haben von der Beweislastumkehr gesprochen. Wir haben keine Beweispflicht des Arbeitnehmers. Sie wissen doch hoffentlich, daß wir das Offizialprinzip haben und die Berufsgenossenschaften von Amts wegen ermitteln. Eine Beweislastumkehr kann also nicht in Frage kommen. Trotzdem kann man darüber nachdenken, ob sich das verbessern läßt.
Meine Damen und Herren, Sie haben ja große Worte über das Arbeitsgesetzbuch gefunden. Das ist aber doch nur ein formaler Mantel. Wir müssen darum ringen, daß wir einen besseren Arbeitsschutz bekommen; das ist eine Aufgabe, die nie aufhören wird. Aber wir sollten keine Energie dararuf verwenden, das in irgendwelchen Büchern zu machen. Es kommt darauf an, daß der Arbeitsschutz verbessert wird, nicht aber darauf, in welchen Gesetzbüchern das steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210808500
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage in Drucksache 12/2412 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den letzten Punkt unserer heutigen Tagesordnung auf, den Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Antifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne
— Drucksachen 12/1193, 12/3268, 12/3292 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brudlewski Wolfgang Lüder
Uwe Lambinus
Interfraktionell ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.



Vizepräsident Helmuth Becker
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1210808600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An sich könnte man in Anbetracht der Zahlen hier im Hause etwas lockerer reden, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Das Thema ist leider sehr ernst, und ich finde es schon ein bißchen erschreckend, daß sich der Deutsche Bundestag im letzten Tagesordnungspunkt am Freitag, vorher wissend, daß da natürlich kaum noch jemand hier ist und wir fast allein unter uns sein werden,

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war nicht der Grund! Fragen Sie Ihren Geschäftsführer!)

mit einer so wichtigen Frage beschäftigt. Außerdem bestand ja sogar die Absicht, nicht einmal eine Aussprache darüber zu führen.
Wir haben vor einem Jahr, nach den ungeheuerlichen Ausschreitungen von Hoyerswerda, beantragt, in der gesamten Bundesrepublik Deutschland eine Kampagne durchzuführen, die sozusagen aus den Erfahrungen der Anti-Aids-Kampagne schöpft, ohne etwa gleich zu sein. Damals haben sich Bundestag und Bundesregierung entschlossen, in einer wirklich breiten Kampagne die Menschen einfach aufzuklären, ihnen Ängste zu nehmen und Schutzmaßnahmen zu empfehlen. Ich glaube, das hat durchaus Wirkung erzielt.
Nun bin ich mir darüber im klaren, daß man Neonazitum, Rechtsextremismus, Gewalttaten und Rassismus und entsprechende Ausschreitungen nicht allein mit einer Aufklärungskampagne wirksam bekämpfen kann. Das ist völlig klar. Aber es wäre ein wichtiges Element, und es würde vor allem, wenn es im Auftrag der Bundesregierung geschehen und diese die finanziellen Mittel dafür bereitstellen würde, bedeuten, daß das Legitimationsgefühl abgebaut wird, das bei vielen Täterinnen und Tätern vorhanden ist, die meinen, daß sie sich eigentlich auf einer Woge bewegen, die durchaus partiell Zustimmung findet. Es würde ganz deutlich werden: Hier geschieht etwas, was gegen den Willen des Bundestages und der Bundesregierung ist. Wir könnten auch einen Beitrag leisten, Vorurteile abzubauen. Vorurteile sind massenhaft vorhanden, und sie sind sehr kompliziert abzubauen. Ich sage immer: Eine Kernspaltung ist leichter als der Abbau eines Vorurteils.
In der Aufklärungsarbeit muß man Qualität anbieten; sie muß breit angelegt sein. Wir müssen dazu übergehen, die Vorzüge einer multikulturellen Gesellschaft zu erörtern. Wir müssen erklären, wie dieses Deutschland sich in der Geschichte entwickelt hat, wenn wir nur die Zeit vom Mittelalter an nehmen. Wir müssen erklären, welche große Bedeutung die Zuwanderung der Hugenotten für die Entwicklung Deutschlands hatte, welche große Bedeutung die Zuwanderung der osteuropäischen Juden für die Entwicklung Deutschlands hatte, d. h. welche Vorteile dieses Land dadurch hatte, daß es sich eigentlich schon seit Jahrhunderten multikulturell zu organisieren begann.
Es gab dann ab 1933 einen furchtbaren Tiefschlag in dieser Richtung. Das ist klar. Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß wieder eine solche Stimmung entsteht,
die nicht nur nationalistisch ist, sondern zudem auch für die Entwicklung der Kultur dieses Landes ganz großen Schaden nach sich ziehen wird, wenn nämlich Ausländerinnen und Ausländer nicht mehr zu uns kommen, weil sie vor dieser Bundesrepublik Deutschland Angst haben. Und machen wir uns nichts vor, diese Angst ist schon ziemlich verbreitet, und zwar auf Grund der Bilder, die über dieses Deutschland durch die Welt gehen, und sie ist ja auch nicht unbegründet. Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben und aus Gesprächen sagen, daß inzwischen auch israelische Bürgerinnen und Bürger wieder Angst haben, neue Angst haben, nicht nur die alte, nach Deutschland zu kommen.
Hier ist eine ganz breite Kampagne notwendig, in der wir die Vorzüge dieser multikulturellen Gesellschaft deutlich machen. Wir müssen zeigen, weshalb wir uns ganz entschieden gegen Rassismus wenden, welche Gefahren damit verbunden sind, welche Vorurteile dahinterstecken, daß man soziale Probleme lösen kann, aber mit Sicherheit nicht auf Kosten der Schwächsten in dieser Gesellschaft. Wir müssen deutlich machen, daß wir, auch wenn es keine einzige Ausländerin und keinen einzigen Ausländer in diesem Land gäbe, das Wohnungsproblem immer noch nicht gelöst hätten, auch nicht die Frage der Arbeitslosigkeit. Hier werden Angriffe in einer Richtung gestartet, die zumindest hinsichtlich der zum Teil dahinterstehenden sozialen Ursachen völlig falsch ist und keine Lösung bringt.
Das aber läßt sich nicht durch eine Bundestagsdebatte machen. Hier bedarf es einer breiten Aufklärung. Deswegen sage ich Ihnen mit aller Entschiedenheit: Daß es ein Jahr gedauert hat, bis über diesen Antrag überhaupt im Ausschuß beraten wurde, ist in Anbetracht der Entwicklung, die es in Deutschland gab, bereits eine Schande.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Dieser Antrag soll jetzt abgelehnt werden, und ein völlig verschwommener, verwaschener Antrag soll dagegengesetzt werden, der die Bundesregierung überhaupt nicht bindet, der uns von diesem Anliegen weit entfernt. Eine massenhafte Kampagne wird es dann nicht geben, die wenigstens in Ansätzen der Anti-Aids-Kampagne gleichwertig wäre. Das bedeutet, daß das Problem des Rassismus in Deutschland — zumindest fahrlässig — wahnsinnig unterschätzt wird, wenn es nicht sogar einige gibt, die ganz zufrieden sind, daß die Entwicklung so läuft, wie sie läuft. Davor möchte ich hier mit aller Entschiedenheit warnen.
Danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210808700
Herr Kollege Dr. Gysi, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Tagesordnung und der Ablauf im Ältestenrat einstimmig festgelegt worden sind.
Ich rufe nun den nächsten Redner auf. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, der Kollege Eduard Lintner.




Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1210808800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Gysi, bereits vorweg kann ich Ihnen versprechen: Sie haben vorschnell geurteilt, denn das, was Sie verlangen, ist in dem Handlungsbericht, den ich für die Bundesregierung jetzt zu geben habe, enthalten.
Sie wissen, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung die Übergriffe auf Ausländer- und Asylunterkünfte stets auf das schärfste verurteilt hat. Wie wir ebenfalls alle wissen, können diese eben nicht allein mit polizeilichen Mitteln und Strafverfolgungsmaßnahmen beendet werden, so wichtig die konsequente Bekämpfung dieser Dinge durch Polizei und Justiz sicherlich auch ist. Unerläßlich erscheinen uns vor allem die Beseitigung der Ursachen für diese Ausschreitungen und die Aufklärung über die Unsinnigkeit und Schädlichkeit fremdenfeindlicher Aktionen wie auch, ihre Beeinflussung durch rechtsextremistische Propaganda und Haßtiraden aufzuzeigen.
Entsprechend dem Beschluß der Innenministerkonferenz und der Justizministerkonferenz vom Oktober des vergangen Jahres appelliert die Bundesregierung daher an die demokratischen Parteien, an Schulen, an Kirchen, an Jugendorganisationen und an alle demokratischen Kräfte, vor allem auch an die Medien, sich an der beschlossenen gesamtgesellschaftlichen Aufklärungskampagne nach Kräften zu beteiligen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Reicht der Appell aus?)

— Lassen Sie mich erst zum Ende kommen. Dann können Sie immer noch urteilen. — Die Aufklärungskampagne muß sich an die Öffentlichkeit insgesamt wenden, vor allem aber an die Jugend, und über eine bessere Kenntnis der Zusammenhänge und der notwendigen politischen Maßnahmen hinaus auf eine Betonung von Werten der Humanität, der Menschenwürde und der Toleranz abzielen. Dies sind die Ziele der vom Bundesinnenministerium ergriffenen Maßnahmen.
Jetzt zu den Maßnahmen selbst. Noch in diesem Jahr sollen in Zusammenarbeit mit einem Verlag Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe I aller Schularten in einer Auflagenhöhe von 500 000 Exemplaren und ein Lehrerbegleitheft erarbeitet werden. Um auch im außerschulischen Bereich möglichst viele Jugendliche anzusprechen, werden in einer Medienkooperation mit mehreren Jugendzeitschriften, die auch in der entsprechenden Szene gelesen werden — dies ist sehr wichtig —, redaktionelle Beiträge und Anzeigen entwickelt, die noch in diesem Jahr veröffentlicht werden.
Ich war bei den Gesprächen selbst dabei, und ich darf mich bei dieser Gelegenheit für die wirklich große Bereitschaft der Redaktionen bedanken, die unserem Anliegen und dann den gemeinsamen Anstrengungen entgegengebracht worden sind.
Für das Haushaltsjahr 1993 sind 6 Millionen DM, für 1994 3 Millionen DM im Haushaltsplanentwurf des BMI für diese Aufklärungskampagne vorgesehen. Die Mittel sind durch den Haushaltsausschuß des Bundestages allerdings qualifiziert gesperrt. Sie sollen nur entsperrt werden, wenn sich auch die Länder in den entsprechendem finanziellen Umfang beteiligen.
Geplant sind auf dieser finanziellen Grundlage u. a.: die Fortsetzung der erwähnten Anzeigenkampagne in Jugendzeitschriften und ihre eventuelle Ausdehnung auf Tageszeitungen, Fensehspots, die Durchführung von Seminaren für Lehrkräfte und Jugendbetreuer sowie die Ausarbeitung eines Leitfadens, der Lehrern, Ausbildern, Mitarbeitern von Jugendämtern und anderen denkbaren Multiplikatoren einen möglichst guten Überblick über die vorhandenen Materialien und ihre Eignung für unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten gibt.
Desweiteren hat das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in enger Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium ein Faltblatt mit dem Titel „Ausländer und Asyl in Deutschland" sowie Fernsehspots und Anzeigenmotive mit dem Logo „Halt! Keine Gewalt" entwickelt.
Auch in der Bundeszentrale für politische Bildung wird das Thema Fremdenfeindlichkeit intensiv behandelt. Ich verweise hierzu z. B. auf die PZ vom Juli dieses Jahres mit dem Titel „Nachbarn mit dem Fremdenpaß". Weitere spezielle Ausgaben zum Thema Fremdenfeindlichkeit sind in Vorbereitung.
Eine ressortübergreifende Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die durch Beschluß der Innenministerkonferenz vom Mai dieses Jahres eingesetzt worden ist, führt gegenwärtig eine Bestandsaufnahme durch, die darauf abzielt, alle Aktivitäten zu erfassen, die in den Bereichen der Fachministerkonferenzen sowie von den Ländern selbst ergriffen, gefördert oder geplant sind, um der Fremdenfeindlichkeit und den auf ihr basierenden gewalttätigen Ausschreitungen durch Aufklärung und Ursachenbeseitigung entgegenzuwirken.
Diese gemeinsamen Anstrengungen, meine Damen und Herren, sind nicht nur nötig, sie sind geradezu unentbehrlich. Ich möchte an dieser Stelle deshalb insbesondere an die Länder appellieren, sich darauf für die nächsten Jahre konkret einzustellen.
Wenn Sie nun Ihre Kritik überdenken, Herr Dr. Gysi, dann, so glaube ich, werden Sie feststellen, daß das, was von Ihnen so nachhaltig gefordert worden ist, von der Bundesregierung größtenteils bereits in die Wege geleitet wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist ein Antrag von vor einem Jahr! Da ist überhaupt nichts in die Wege geleitet!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210808900
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hartmut Büttner das Wort.

Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1210809000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüngsten Übergriffe auf Asylbewerber und andere Ausländer in allen Teilen unseres Landes sind in der Tat ein alarmierendes Zeichen. Es erfüllt mich mit Scham, daß Gewalt erneut zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung in Deutschland geworden ist. Die Angriffe gegenüber Andersdenkenden, der Sturm auf Unterkünfte von Asylbewerbern, auf Ausländerheime und Aussiedlerwohnungen sind ein Schlag gegen die politische Kultur in Deutschland.



Hartmut Büttner (Schönebeck)

Der Deutsche Bundestag hat die Verpflichtung, die Ursachen dieser schlimmen Entwicklung zu ergründen und gezielte Maßnahmen einzuleiten. In der Tat: Notwendig sind Verbesserungen im gesetzgeberischen Bereich. Notwendig sind wirksame Mittel für Polizei, Justiz und Strafverfolgung. Notwendig ist auch eine Verbesserung von sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, verstärkter Wohnungsbau und eine sinnvolle Jugendarbeit.
Aber ebenso notwendig ist die geistige Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus. Dabei ist es, meine Damen und Herren, völlig unerheblich, ob wir es mit linkem oder rechtem Extremismus zu tun haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jede politische Ideologie, die Gewalt gegenüber Sachen oder Personen in Kauf nimmt oder anwendet, muß auf den energischen Widerstand aller Demokraten treffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Lieber Herr Gysi, nach dem Antrag der PDS sollen wir nun eine „antifaschistische Aufklärungskampagne" durchführen. Die PDS hat ja mit dieser Art offizieller Kampagnen aus den 40 Jahren ihrer Existenz erhebliche Erfahrungen gesammelt, als sie noch den Namen SED führte.

(Beifall der Abg. Angela Stachowa [PDS/ Linke Liste])

— Wer jetzt voreilig klatscht, muß sich natürlich fragen lassen, wie wirksam denn diese Art von Volksaufklärung gewesen ist. Mehr Toleranz, Nächstenliebe und Achtung vor dem Leben anderer sind dabei leider nicht unbedingt herausgekommen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Jetzt widersprechen Sie dem Staatssekretär!)

— Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion begrüßt sehr wohl, was der Staatssekretär für die Bundesregierung vorgetragen hat. Wir begrüßen, daß sich die Bundesregierung bereits seit Monaten um eine wirksame Ursachenbeseitigung bemüht.

(Uwe Lambinus [SPD]: Fristgemäß!)

Das gilt für das gesamte Parlament. Bund und Länder haben eine gesamtgesellschaftliche Aktion gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit gestartet, die wir alle insgesamt unterstützen sollten. Dabei ist es richtig und gut, daß Schulen, Kirchen, Verbände und Jugendorganisationen daran beteiligt werden; denn Lehrer, Jugendleiter, Kirchenvertreter, aber gerade auch die Idole der jungen Generation müssen in diese Diskussion einbezogen werden.
Die inhaltliche Diskussion mit jungen Menschen über Schädlichkeit und Unsinnigkeit extremistischer Ausschreitungen muß dort geschehen, wo sie sich aufhalten. Sie muß in und mit den Medien der jungen Generation geführt werden.
Deshalb sollten wir die Aktivitäten der Regierung in diesem Fall schon unterstützen, jugendnahe Materialien zu erstellen und 144 Einzelprojekte in ca. 30 Brennpunktaktionen zu verwirklichen. Ich denke, es ist aber auch wichtig, daß sich die Bundesländer
dieser Aufgabe nicht entziehen. Sie sollten sich angemessen personell und finanziell an dieser echten Gemeinschaftsaufgabe beteiligen.
Unsere Fraktion geht davon aus, daß der Deutsche Bundestag seinerseits für die Fortsetzung und Ausweitung seiner Aktion gegen Fremdenfeindlichkeit und Extremismus die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen wird. Ich denke, unstrittig dürfte sein: Gemeinsam wollen wir dafür sorgen, daß nicht Intoleranz und Haß, sondern Toleranz und demokratische Mittel das Markenzeichen der deutschen Jugend sind.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210809100
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Uwe Lambinus das Wort.

Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1210809200
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die menschenverachtenden Übergriffe auf Ausländer, Asylbewerber und ihre Unterkünfte fordern staatliches Handeln. Dies darf sich jedoch nicht in notwendigen polizeilichen Maßnahmen und dem Tätigwerden der Justiz erschöpfen.
Heute, so meine ich, rächen sich fürchterlich: erstens die zum Teil völlig unglaubwürdige, unwahrhaftige, antifaschistische Agitation in der früheren DDR und zweitens das jahrzehntelange Leugnen und das Nicht-für-wahr-haben-wollen vieler wissenschaftlicher Studien über das latente Vorhandensein faschistoider Tendenzen bei einem Teil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, auch im Westen.

(Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ Linke Liste und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In einer Zeit zunehmender geistig-moralischer Orientierungslosigkeit und stärkster sozialer Verunsicherung sind schändliche Ausbrüche und deren beschämende Begleitumstände, wie wir sie an vielen Orten unseres Landes — nicht nur in den fünf neuen Bundesländern — erleben müssen, fast eine zwangsläufige Entwicklung.
Ich sagte, staatliches Handeln ist gefordert. Aus diesem Grund schlägt der Innenausschuß einmütig — gegen die Stimmen der PDS, die einen eigenen Antrag eingebracht hatte — die Annahme eines Antrags vor, der nicht nur die Bundesregierung und die Bundesländer ermutigen soll, ihre Aufklärungsmaßnahmen über den Rechtsextremismus verstärkt fortzusetzen, sondern auch an alle demokratischen Kräfte, die Parteien, die Gewerkschaften, die politischen Stiftungen, die freien Träger und die Kirchen, appelliert, sich dieser Problematik verstärkt anzunehmen.
Darüber hinaus wird in diesem Antrag gefordert, daß sich die Bundesländer finanziell stärker an den Programmen der Jugendhilfe beteiligen. Wir Sozialdemokraten stimmen dieser Beschlußempfehlung nachdrücklich zu.



Uwe Lambinus
Aber, meine Damen und Herren, damit ist es nicht getan. Es muß auch ein Ende haben, daß prominente Politiker argumentative Steilvorlagen für randalierende Rechtsextremisten und verführte Jugendliche liefern.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210809300
Herr Kollege Lambinus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann?

Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1210809400
Bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210809500
Bitte, Frau Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1210809600
Trifft es zu, daß sich der Innenausschuß nur deshalb mit diesen Fragen beschäftigt hat, weil vorher ein Antrag der PDS/Linke Liste in den Bundestag eingebracht wurde? Ich möchte gern durch diese Frage die Verhältnisse klarstellen.

Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1210809700
Frau Kollegin Dr. Enkelmann, ich habe im Innenausschuß bereits zum Ausdruck gebracht, daß ich es sehr bedauere, daß der Innenauschuß oder auch die anderen Parteien — das habe ich sehr selbstkritisch gesagt — nicht von sich aus initiativ geworden sind, sondern daß es eines Antrags Ihrer Fraktion bedurft hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe gesagt, daß prominente Politiker argumentative Steilvorlagen für randalierende Rechtsextremisten und verführte Jugendliche liefern. Diesbezüglich erinnere ich beispielsweise an den skandalösen Vorgang, daß der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, unser Kollege Dr. Wolfgang Bötsch, seinem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Heiner Geißler vorwarf, daß dieser sich parteischädigend verhalten habe, weil er anläßlich einer Veranstaltung der Jungen Union dazu aufgefordert hat, daß sich junge Leute schützend vor Asylbewerberheime stellen sollten, und darüber hinaus auf die Fluchtursachen hinwies.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das haben Sie mißverstanden, Herr Kollege!)

— Nein, die Presseveröffentlichung ist sehr eindeutig.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie glauben doch nicht alles, was in der Presse steht?)

— Ich habe kein Dementi gesehen, Herr Kollege. Ein solches würde ich aber sehr begrüßen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nun regen Sie sich doch nicht so auf!)

— Nein, da rege ich mich auf; den wer so redet, wie es
in der Zeitung mit wörtlichen Zitaten wiedergegeben
wurde, macht sich mitschuldig an jedem Steinwurf
und an jeder Brandstiftung und an jedem Mordversuch.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich, was Sie hier sagen!)

Ich füge hinzu: Wenn man so redet, dann ist dies geistige Wegbereitung des rechten Terrors.

(Beifall der Abg. Andreas Lederer [PDS/ Linke Liste] — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/ CSU]: Herr Kollege, das nehmen Sie jetzt sofort zurück!)

Wir müssen mitmenschliche Barmherzigkeit fördern und vernünftig organisieren. Wir dürfen sie nicht zur politischen Untugend erklären. Darum geht es.
Nur wenn wir als Abgeordnete — bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung — auch unsere eigene Sprache und unser Handeln disziplinieren, sind unsere Appelle glaubwürdig.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das hätten Sie gerade besser einmal gemacht!)

— Das habe ich getan. Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210809800
Meine Damen und Herren, als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich unserem Kollegen Wolfgang Lüder das Wort.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1210809900
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Gysi, nur um der geschäftsordnungsmäßigen Wahrheit willen wollen wir doch festhalten, daß bis heute nur die Anmahnung Ihrer Gruppe, dieses Thema aufzunehmen, auf der Tagesordnung stand. Diese Anmahnung kam verdammt spät. Sie haben aber dieses Recht, und davon haben Sie Gebrauch gemacht.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist ja unerhört! Wo gibt es denn so etwas?)

Wir müssen dabei aber folgendes festhalten: Als wir erinnert wurden — dafür bin ich dankbar —,

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Es ist schade, daß Sie daran erinnert werden müssen!)

haben wir sehr schnell zu einer Resolution gefunden, die von allen drei Fraktionen dieses Hauses getragen wurde. Ichglaube, dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir demokratische Kultur in unserem Staat wahrnehmen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber, meine Damen und Herren, ich sage auch folgendes sehr deutlich: Mit dem allein, was wir hier fordern, kann es sein Bewenden nicht haben. Das ist kein Wort für eine Kampagne. Der Kampagnestaat der DDR hat nur dazu geführt, daß der rechtsradikale Bodensatz gezüchtet wurde, der in Rostock dann an der Straße stand. Auch dies ist eine Kausalitätsfrage,



Wolfgang Lüder
der wir in der Enquete-Kommission sicher noch näher nachgehen werden.

(Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Aber Herr Kollege Lüders, es findet doch z. B. eine Kampagne größten Ausmaßes gegen Asylbewerber statt!)

Meine Damen und Herren, wenn wir zutreffend bewerten wollen, was an Rechtsradikalismus in den letzten Wochen sichtbar geworden ist, wenn wir richtig einschätzen wollen, welche Gefahr von der Gewalttätigkeit gegen ausländische Bürger in Ost- und jetzt auch in Westdeutschland ausgeht, wenn wir die Dimensionen der Demokratiegefährdung sehen wollen, die von den beifallklatschenden Randtätern, die sich sonst als friedliche Bürger gebärden, ausgehen, dürfen wir nicht übersehen, was früher in den 30er Jahren in Deutschland möglich war. Wir sollten die Lehren aus dieser Zeit ziehen.
Lieber Herr Lintner, ich sage Ihnen in aller Offenheit: Nur mit „Unsinnigkeit" zu argumentieren, wenn es darum geht, zu bewerten, was dort geschah, das ist mir zu kurz gegriffen. Hier sind Elemente der undemokratischen Auseinandersetzung sichtbar geworden, die ich nicht akzeptieren kann und die wir durch politische Erklärungen und politisches Handeln deutlicher als bisher zurückweisen müssen.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wenn sich z. B. im Innenausschuß der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern hinstellt und sagt, in Rostock habe Gott sei Dank keiner Schaden erlitten

(Konrad Gilges [SPD]: Das ist ein politischer Versager!)

— und das in Anbetracht einer Situation, in der für einige Vietnamesen Lebensgefahr bestand, weil sie eingeschlossen waren und zu verbrennen drohten, und in der Polizeibeamte Schaden an ihrer Gesundheit und an ihrer körperlichen Integrität genommen haben —, so zeigt dies, daß auch hier noch Nachhilfe notwendig ist.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wir sollten anfangen, an dem, was wir beschlossen haben, zu arbeiten. Das, was die Bundesregierung bisher eingeleitet hat, begrüße ich dankbar.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und des Abg. Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/ CSU])

Ich fordere auch die Länder auf, daran mitzuwirken. Ich habe Verständnis für den Haushaltsausschuß, der sagt: Dies kann ja wohl gerade im Bildungsbereich nicht eine alleinige Aufgabe des Bundes sein. Nein, hier darf keiner kneifen.
Aber wir sind gefordert, darauf zu achten, daß die Maßstäbe, mit denen wir in der freiheitlichen Demokratie den Mitmenschen ohne Rücksicht auf seinen Paß beurteilen, stimmen. Mir reicht es nicht aus, zu sagen: Wir sind gegen Ausländerfeindlichkeit. Nein, Leute, laßt uns doch besser sagen: Wir sind für die Freundlichkeit gegenüber den Menschen mit dem fremden Paß. Wir sollten nicht nur eine Abwehrhaltung gegenüber den Ausländern einnehmen.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei der SPD und dem Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS/ Linke Liste])

Ignatz Bubis hat in einer seiner ersten Presseerklärungen nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des Zentralrats der Juden darauf hingewiesen, daß Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus dieselben rechtsradikalen Wurzeln haben. Ich glaube, er hat recht. Das sollte uns mahnen.

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und der CDU/CSU sowie bei der SPD und der PDS/ Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1210810000
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3292, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Innenausschuß die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltungen der Gruppe PDS/Linke Liste ebenfalls angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch den 7. Oktober 1992, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.