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    Plenarprotokoll 12/108 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 108. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. September 1992 Inhalt: Zusatztagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Aktuelle Entwicklung in der Europapolitik Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . . 9217B Björn Engholm, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein . . . . . . . . . 9221 B Dr. Helmut Haussmann F.D.P. . . . . . . 9224 C Peter Conradi SPD . . . . . . . . . . 9225 D Peter Kittelmann CDU/CSU . . . . . . . 9226 B Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 9228A Ingrid Matthäus-Maier SPD. . . . 9228B, 9242 C Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9230 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . . 9232 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 9235 A Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 9236B Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . 9236 C Karl Lamers CDU/CSU . . . . . . . . 9238 C Dr. Thomas Goppel, Staatsminister des Frei- staates Bayern . . . . . . . . . . . . 9240 C Dr. Norbert Wieczorek SPD . . . . . . . 9242 D Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 9244 D Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . 9246 B Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . 9247 B Michael Stübgen CDU/CSU 9248 B Ortwin Lowack fraktionslos . . . . . . 9250B Tagesordnungspunkt 14: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches (Drucksache 12/2412) Manfred Reimann SPD 9251 B Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . 9254 A Petra Bläss PDS/Linke Liste . . . . . . 9255 C Dr. Gisela Babel F.D.P. . . . . . . . . 9257 A Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 9258 C Ottmar Schreiner SPD 9261 B Dr. Alexander Warrikoff CDU/CSU . . 9263 C Ottmar Schreiner SPD . . . . . . . 9265 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Antifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne (Drucksachen 12/1193, 12/3268, 12/3292) Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 9266 A Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI , 9267 A Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 9267 D Uwe Lambinus SPD 9268 C Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 9269 A Wolfgang Lüder F.D.P. 9269 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . 9270 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 9271* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 108. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. September 1992 9217 108. Sitzung Bonn, den 25. September 1992 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Andres, Gerd SPD 25. 09. 92 Antretter, Robert SPD 25. 09. 92* Bayha, Richard CDU/CSU 25. 09. 92 Blank, Renate CDU/CSU 25. 09. 92 Bleser, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Brandt, Willy SPD 25. 09. 92 Bredehorn, Günther F.D.P. 25. 09. 92 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. von Büllow, Andreas SPD 25. 09. 92 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 09. 92 Herta Deß, Albert CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Eckardt, Peter SPD 25. 09. 92 Eichhorn, Maria CDU/CSU 25. 09. 92 Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 25. 09. 92 Eylmann, Horst CDU/CSU 25. 09. 92 Formanski, Norbert SPD 25. 09. 92 Gallus, Georg F.D.P. 25. 09. 92 Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 09. 92 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. von Geldern, CDU/CSU 25. 09. 92 Wolfgang Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 25. 09. 92 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Großmann, Achim SPD 25. 09. 92 Harries, Klaus CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 25. 09. 92 Hauser CDU/CSU 25.09.92 (Rednitzhembach), Hansgeorg Hollerith, Josef CDU/CSU 25. 09. 92 Ibrügger, Lothar SPD 25. 09. 92 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 25. 09. 92 Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 25. 09. 92 Kampeter, Steffen CDU/CSU 25. 09. 92 Keller, Peter CDU/CSU 25. 09. 92 Klein (München), Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Kolbe, Regina SPD 25. 09. 92 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 25. 09. 92 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 25. 09. 92 Leidinger, Robert SPD 25. 09. 92 Lennartz, Klaus SPD 25. 09. 92 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 25. 09. 92 Elke Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 25. 09. 92 Klaus W. Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lühr, Uwe F.D.P. 25. 09. 92 Magin, Theo CDU/CSU 25. 09. 92 Meckelburg, Wolfgang CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Mescke, Hedda CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Modrow, Hans PDS/LL 25. 09. 92 Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 25. 09. 92 Neumann (Gotha), SPD 25. 09. 92 Gerhard Oesinghaus, Günther SPD 25. 09. 92 Oostergetelo, Jan SPD 25. 09. 92 Ostertag, Adolf SPD 25. 09. 92 Paintner, Johann F.D.P. 25. 09. 92 Peters, Lisa F.D.P. 25. 09. 92 Pfeffermann, Gerhard O. CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 25. 09. 92 Raidel, Hans CDU/CSU 25. 09. 92 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92* Rempe, Walter SPD 25. 09. 92 Rennebach, Renate SPD 25. 09. 92 Reuschenbach, Peter W. SPD 25. 09. 92 Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 25. 09. 92 Helmut Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 25. 09. 92 Scheu, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Schmalz, Ulrich CDU/CSU 25. 09. 92 Schmalz-Jacobsen, F.D.P. 25. 09. 92 Cornelia Schmidt (Nürnberg), SPD 25. 09. 92 Renate Dr. Schmude, Jürgen SPD 25. 09. 92 Dr. Schneider CDU/CSU 25. 09. 92 (Nürnberg), Oscar Dr. Schockenhoff, CDU/CSU 25. 09. 92 Andreas Dr. Soell, Hartmut SPD 25. 09. 92** Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25. 09. 92 Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 25. 09. 92 Terborg, Margitta SPD 25. 09. 92 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 25. 09. 92 Titze, Uta SPD 25. 09. 92 Dr. Voigt (Northeim), CDU/CSU 25. 09. 92 Hans-Peter Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 25. 09. 92 Weis (Stendal), Reinhard SPD 25. 09. 92 Weißgerber, Gunter SPD 25. 09. 92 Welt, Jochen SPD 25. 09. 92 Wissmann, Matthias CDU/CSU 25. 09. 92 Wohlleben, Verena SPD 25. 09. 92 Ingeburg Zierer, Benno CDU/CSU 25. 09. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
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    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte mein erstes Wort an die Freunde und Freundinnen in Frankreich richten.

    (Zurufe von der CDU/CSU) — Auch Sie werden es noch lernen.


    (Heiterkeit bei der SPD)

    Die Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler hat Europa einen großen Dienst erwiesen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn wir uns erinnern: Drei Tage vor der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich im Jahre 1914 wurde Jean Jaurès in Frankreich von einem Attentäter erschossen. Vorher wurde Jaurès als „Jaurès der Deutsche" beschimpft.
    Wenn Sie ein anderes Beispiel nehmen: In den letzten Tagen der Weimarer Republik schrieb Carlo Mierendorff in einem Neujahrsartikel: „Besinnung auf Europa tut not".
    Was wäre Europa erspart geblieben, wenn man damals auf solche französischen und deutschen Europäer rechtzeitig gehört hätte!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich glaube, Besinnung auf Europa tut auch heute wieder not. Es geht dabei inzwischen um viel mehr als nur um den Vertrag von Maastricht. Es geht um das Zukunfts- und damit das Selbstbewußtsein des neuen Deutschland, und es geht um die Zukunft des gesamten Kontinents Europa.
    In den Tagen, als in Berlin die Mauer fiel, hat Europa in einer unglaublichen Einmütigkeit ja zu Deutschland gesagt. Jetzt ist es an der Zeit, daß Deutschland diese Anwort zurückgibt und uneingeschränkt ja zum wachsenden Europa sagt.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Allen Kritikern im Ausland — und es gibt inzwischen wieder, wie ich finde, mehr als genug — muß man sagen: Wer Furcht hat vor Deutschland, und sei sie noch so unbegründet subjektiv vorhanden, der muß wissen: Ein integriertes Deutschland in einem integrierten Europa ist in der Zukunft der beste Weg für alle Nachbarn und die Deutschen selbst.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Ich teile die Auffassung, die auch der Bundeskanzler zum Ausdruck gebracht hat: Nationale Gefühle und europäische Verantwortung, Liebe zur Heimat und Weltoffenheit schließen sich nicht aus. Die politischen Farben des neuen Deutschland in der Zukunft müssen republikanisch, sozial und europäisch sein.
    Mir scheint in diesen Tagen noch wichtiger zu sein, daß die Europäische Gemeinschaft inzwischen der eigentliche Stabilitätsanker des ganzen Europa ist. Ob dieser Anker hält oder ob auch Westeuropa in den Strudel der osteuropäischen Krise hineingerissen wird, auch darüber entscheiden wir mit unserem Votum für Europa.
    Die Hoffnung, die wir alle hatten, die Dämonen der Vergangenheit würden gebannt werden, hat sich als Illusion erwiesen. Überall im Osten Europas ist die Pandorabüchse der Vergangenheit wieder geöffnet. Es gibt abgrundtiefen Völkerhaß im ehemaligen Jugoslawien, bewaffnete Auseinandersetzungen in vielen Staaten der GUS. Es gibt Tschechen und Slowaken, die sich trennen. Zahllose alte und neue



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    ethnische Konflikte brechen auf. Soziale und ökologische Mißstände treiben Millionen Menschen aus ihrer Heimat heraus.
    Aber auch im Westen stehen die Warnzeichen an der Wand. Zu viele Zukunftsängste werden zu leichtfertig umgegossen in antieuropäische Parolen. Das Nein zur EG wird stärker, nationalistische Tendenzen wachsen bedrohlich sichtbar. Ich meine, die politisch einzige Antwort heißt jetzt, Europa vor dem schrecklichen Irrweg in den alten oder in jeden neuen Nationalismus zu bewahren.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Denen, die heute zögern und skeptisch sind, sage ich: Ein Nein muß nicht nur Stagnation der Gemeinschaft bedeuten; wer nein sagt, riskiert den Zerfall der Europäischen Gemeinschaft insgesamt und damit ihren Rückfall in egoistische Kleinstaaterei mit all den Folgen, die wir aus der Geschichte kennen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine Damen und Herren, ich bitte von dieser Stelle mit Nachdruck auch die britische Präsidentschaft, alles zu tun, damit das knappe aber gleichwohl deutliche Resultat in Frankreich nicht mißbraucht wird, um die EG schleichend in eine Freihandelszone zurückzuverwandeln.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Dies würde Europa immens schwächen in einer Zeit, in der dieses Europa besonders stark sein muß. Ich bin davon überzeugt, auch unsere britischen — ich darf ja nicht sagen: Freundinnen und Freunde; oder doch? — werden begreifen, daß ein geschwächtes Europa auch für Großbritannien keine erstrebenswerte Zukunft ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir können die Zustimmung für Europa erhalten, indem wir zunächst aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Ich glaube, es ist richtig, deutlich zu sagen, daß viel zu lange Regierungen, Ministerräte und Bürokraten Europa zu einer geheimen Kabinettssache gemacht haben. Auch der Vertrag von Maastricht ist so entstanden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Ich stimme dem Bundeskanzler zu, daß viel zu lange Regierungen, auch — das sei deutlich unterstrichen — die deutsche Regierung, die EG als Ausrede mißbraucht und Brüssel in die Schuhe geschoben haben, was sie selbst zu verantworten hatten.

    (Beifall bei der SPD)

    Und viel zu lange wurden dem Europäischen Parlament Rechte verweigert, die für dieses Haus eine absolute Selbstverständlichkeit sind. Diesen Zustand müssen wir ändern.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bedaure auch, daß immer noch — auch in großen und bedeutenden Blättern der Presse und in elektronischen Medien — über die Lasten der europäischen Einigung geklagt, während über ihre historischen und ökonomischen Leistungen nachdrücklich geschwiegen wird.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

    Dabei haben Völker, die über Generationen blutige Kriege gegeneinander führten, erstmals innerhalb der Europäischen Gemeinschaft sichtbar dauerhaften Frieden geschlossen. Millionen von Menschen in Deutschland, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, leben vom gemeinsamen Markt. Die Wirtschaftsnation Deutschland ist nicht, wie immer wieder gesagt wird, der Zahlmeister der EG, sie hat von dieser EG rechenbar und nachweisbar am meisten profitiert. Das müssen die Deutschen jetzt sehen und begreifen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Aber die Gemeinschaft ist nicht nur eine große Wirtschaftsmacht. Sie ist auch die erfolgreichste Friedensorganisation, die wir in der Geschichte dieses Kontinents bis zum heutigen Tage gekannt haben.
    Inzwischen sind Europamüdigkeit und Politikverdrossenheit eine unheilvolle Allianz eingegangen. Ich glaube, dagegen helfen keine Plakate. Ich bin skeptisch, ob uns der Ruf nach einer Volksabstimmung in dieser Frage wirklich weiterhilft.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Man mag darüber streiten, aber ich glaube, wir können unsere gute Verfassung, über deren Reform wir gegenwärtig mit Anstand streiten und die vier Jahrzehnte das Institut des Plebiszits nicht offeriert hat, nicht im Handumdrehen umstülpen. Ich glaube deshalb — die, die anderer Meinung sind, mögen es mir nachsehen —: Wenn wir, was ich möchte, plebiszitäre Elemente in die Verfassung einfügen, sollte der erste plebiszitäre Akt die Abstimmung über die neue Verfassung des gesamten Deutschland sein.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Die richtige Antwort auf die Vertrauenskrise sind jetzt vertrauensbildende Maßnahmen zur Reform der Gemeinschaft. Manches davon ist im Vertrag von Maastricht enthalten. Es ist unverzichtbar, daß wir uns auf den Weg einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik begeben; denn eine Gemeinschaft, die in der Zukunft nicht mit einer Stimme spräche, wäre in der heutigen Welt eine Gemeinschaft ohne Gewicht. Es ist ein Fortschritt, eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion anzustreben. Die EG wird den Kampf gegen Spekulationen, gegen Herausforderungen aus dem Fernen Osten gemeinsam bestehen, oder sie wird daran untergehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Aber: Maastricht ist nur ein Schritt in die richtige Richtung. Ich schlage vor, wie schon in den vergangenen Monaten auch durch unsere Fraktion zum Ausdruck gebracht, daß wir im Ratifizierungsverfahren im Bundestag und Bundesrat drei Sicherungen



    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    gegen weitere Fehlentwicklungen der EG einbauen.
    Erstens. Wir wollen zugrunde legen, daß die künftige Europäische Union demokratisch sein muß. Das heißt: Ein gouvernementales Europa ohne starke demokratische Beteiligungs- und Kontrollrechte darf es mit deutscher Stimme nicht geben.

    (Beifall bei der SPD)

    Zweitens. Wir müssen eine deutliche Trendwende zustande bekommen hin zu mehr und deutlicherer Subsidiarität. Das heißt, wir müssen zentralistische Fehlentwicklungen, die es gegeben hat, in der Zukunft vermeiden. Wir wollen ein Europa, in dem Identitäten und regionale Eigenständigkeiten ein unverrückbares Heimatrecht besitzen.
    Drittens. Keine Währungsunion kann ohne das Vertrauen von Bürgerinnen und Bürgern in eine gemeinsame Währung wirklich erfolgreich sein. Deshalb, Herr Bundeskanzler, glaube ich, daß es ein Fehler war, in Maastricht eine Art Automatismus für den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion unterschrieben zu haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir schlagen deshalb vor, daß Bundestag und Bundesrat vor dem Übergang zur letzten Stufe erneut eine qualifizierte Beratung abhalten. Ich glaube, daß für die Entscheidung in der Zukunft gilt: Harte Stabilitätskriterien sind wichtiger als abstrakte Zeitpläne.

    (Beifall bei der SPD)

    Und schließlich: Ich glaube, daß die Gemeinschaft ihre sozialpolitische Schlagseite loswerden muß. Es ist unerträglich, daß Versicherungsrichtlinien in Europa in zwölf Monaten verabschiedet werden können, aber die Mitbestimmung der Arbeitnehmer schmort zwölf Jahre in der Schublade. Diese Schlagseite muß beendet werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Es gibt im übrigen keinen Grund, jetzt nicht auch an der Erweiterung und der Öffnung der Gemeinschaft festzuhalten. Die EFTA-Staaten sollen, wenn sie es möchten, ab 1. Januar 1995 Mitglied der EG sein können. Nach wie vor sollten wir auch für Dänemark, unser Nachbarland, die Tür zur Europäischen Union weit offenhalten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Auch die Länder im Osten Europas, die große Hoffnungen auf die Europäische Gemeinschaft setzen, dürfen nicht enttäuscht werden. Durch unterschiedlichste Kooperations- und Assoziierungsabkommen muß ihre Bindung an die Gemeinschaft verstärkt werden. Ich warne jedoch vor leichtfertigen Zusagen über schnelle EG-Beitritte mittel- und osteuropäischer Reformstaaten. Klar ist für uns: Eine Europäische Gemeinschaft, die von Wladiwostok bis nach Lissabon oder vom Nordkap bis nach Nordafrika reicht, ist weder denkbar noch wünschenswert.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Ich meine, ein klares Wort muß auch an die Adresse des Partners Türkei gesprochen werden. Es gibt viele gute Gründe für eine besondere Beziehung zwischen Türken und Deutschen. Den Ausbau dieser besonderen Beziehungen sind wir nicht zuletzt den Menschen aus der Türkei schuldig, die heute bei uns leben und arbeiten. Aber eine EG-Mitgliedschaft der Türkei in absehbarer Zeit wäre von beiden Seiten, weder von der Türkei noch von der Gemeinschaft, zu verkraften.
    Die Beziehungen sollten konkret verbessert und weiterentwickelt werden. Dabei gilt, glaube ich, am besten der gute alte sozialdemokratische Grundsatz: Wirtschaftshilfe — gerade in bezug auf die Türkei — ist besser als Militärhilfe.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Ich glaube, sagen zu dürfen: Starke Menschenrechte in der Türkei sind der beste Beitrag der Türken zu einer engen Partnerschaft mit Europa.

    (Beifall bei der SPD)

    Alles das, was wir jetzt vor uns haben, wird nicht gelingen, wenn wir es nicht schaffen, die ganze Faszination, die mit dem zusammenwachsenden Kontinent verbunden ist, gerade auch jungen Menschen neu zu erschließen. Europa und die Europäische Gemeinschaft, das ist wirklich weit mehr als die Bürokratien, über die wir manchmal klagen, das ist weit mehr als nächtliche Agrarministersitzungen mit einem nicht so günstigen Ausgang. Europa, das ist eine unglaubliche kulturelle Vielfalt, die sich unseren Eltern nicht erschließen konnte, weil Grenzen sie daran gehindert haben, sie für sich nutzbar zu machen. Wenn man bedenkt, welche Chancen unsere jungen Menschen in dieser einen Erlebnisgeneration nach dem Kriege heute besitzen, sich Sprachen zu erschließen, Dialekte zu pflegen, Lebensweisen zu haben, Landschaften zu erkunden, dann ist es, wie ich finde, etwas Grandioses, was sich in der letzten Generation auf diesem Kontinent getan hat.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste )

    Bedenken wir einmal, was uns an geistigem Rüstzeug zur Verfügung steht, von der Fülle der geistigen Traditionen des Christentums, von den großen Wurzeln der Aufklärung, vom jüdischen Geistesleben bis hin zu den großen Traditionen der sozialen Demokratie: Wir können aus diesem Kontinent noch weit mehr machen. Wir stecken, wie ich glaube, erst am Anfang grandioser weiterer Möglichkeiten.
    Schauen wir uns die Vielfalt der Künste an: von den riesigen Architekturen und Philosophien, von dem Zugang von Kundera und Pavarotti, von den Beatles bis hin zu Hermann Hesse, von Bartok zu Feuchtwanger, von Wajda zu Günter Grass.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    — Ich muß jemanden vergessen haben, den Sie besonders schätzen.

    (Heiterkeit)




    Ministerpräsident Björn Engholm (Schleswig-Holstein)

    Ich will damit folgendes sagen: Die Faszination dieses Kultureuropas müssen wir pflegen, bewahren, fördern, erschließen. Ich denke, dies ist für uns allemal faszinierender als jedes „Dallas", jedes „Denver", jedes „Tuttifrutti", was immer man sich vorstellen kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Eine Entscheidung, die für Europa von höchster Bedeutung ist, wird hier in Bonn getroffen: Es ist die über die Steuern und Finanzen in Deutschland. Da die Bundesregierung bis heute zu einer soliden Einheitsfinanzierung nicht fähig ist,

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Was?)

    hat sie die Bundesbank zu einer Hochzinspolitik genötigt. Wer heute in Europa, von dieser Hochzinspolitik belastet, die Bundesbank öffentlich kritisiert, meint in Wahrheit die Politik dieser Bundesregierung.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Ich gehe davon aus, daß Sie z. B. auch die Berichte des IWF lesen.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich war sogar dabei!)

    Deshalb glaube ich, die wichtigste vertrauensbildende Maßnahme, die man für Europa und weite Teile der Welt in Deutschland ergreifen kann, ist die Rückkehr zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Sozialdemokraten waren am Aushandeln des Vertrages von Maastricht nicht beteiligt. Sie hätten sich in manchen Punkten einen besseren Vertrag gewünscht. Gleichwohl, es ist ein akzeptabler Kompromiß der zwölf beteiligten Partner entstanden, den wir aus Verantwortung für die Zukunft Deutschlands und Europas unterstützen werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Das Ergebnis in Frankreich, das auch der Bundeskanzler erwähnt hat, ist Anlaß zum Nachdenken und zum Lernen aus Fehlern, aber es ist auch ein Anlaß, wie ich finde, Mut zu schöpfen.

    (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)

    Es ist einige Jahre her, da lehnte es der Gemeinderat von Bisheim im Elsaß ab, den dort geborenen und im Widerstand gegen Hitler ermordeten Julius Leber zu ehren, weil er dort als Deutscher in Erinnerung war. Kurz darauf hat sich der Bürgermeister der Gemeinde Bisheim beherzt über diesen Beschluß hinweggesetzt. Seit jener Zeit gibt es für den deutschen Widerstandskämpfer in Frankreich einen „Place Jules Leber", über dem bei festlichen Anlässen die Europafahne weht.
    Am Sonntag haben fast 70 % der Elsässer für Europa gestimmt. Ich finde, das sind Zeichen, die Mut machen.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Wir, glaube ich, würden als Deutsche unsere Geschichte leugnen, wir würden unseren Kindern den falschen Weg weisen, wenn wir diesen Zeichen des Mutes in Frankreich nicht ein deutliches deutsches Ja folgen ließen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Als nächster spricht der Abgeordnete Haussmann.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Prof. Dr. Helmut Haussmann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte damit beginnen, daß ich mich als Europäer über das Ja unseres wichtigsten Nachbarn schlicht freue. Wie es früher eine Unfähigkeit zu trauern gab, gibt es heute in unserer Gesellschaft manchmal eine Unfähigkeit, sich über Dinge zu freuen, die wichtig sind.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Mir kommt in der öffentlichen Debatte zuwenig die Rede darauf, was ein Nein in Frankreich wirklich bedeutet hätte: Es hätte zu einer Lähmung der europäischen Bewegung geführt, es hätte einen weiteren wirtschaftlichen konjunkturellen Abstieg vorprogrammiert, und es hätte ein endgültiges Scheitern der GATT-Runde mit katastrophalen Konsequenzen zur Folge gehabt. Jedem von uns ist hoffentlich klar, daß ein Nein aus Frankreich uns Europäer auf der internationalen Ebene verhandlungsunfähig gemacht hätte, mit allen Konsequenzen für Wachstum, Arbeitsplätze und soziale Stabilität.
    Umgekehrt heißt dies jedoch: Wir bringen die Europäische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion nur weiter, wenn wir uns jetzt diesem Ja unseres wichtigsten Nachbarn auch in Deutschland wirklich würdig erweisen.

    (Beifall bei der F.D.P.)

    Wir Liberalen sehen hier drei unabdingbare Notwendigkeiten:
    Erstens. Wir stimmen mit allen Fraktionen überein: Europa muß demokratischer werden. Es muß mehr Rechte für das Europäische Parlament, aber auch für unseren Bundestag geben. Das ist jedoch keine Kritik an der Regierung. Niemand hat dies so entschieden gefordert, aber wir müssen zunächst einmal unsere Schwesterparteien in Frankreich und in England davon überzeugen, daß sie von sich aus bereit sind, an das Europäische Parlament zu übertragen.

    (Beifall bei der F.D.P.)

    Zweitens. Dieses Europa muß konkreter, klarer, anfaßbarer, nachvollziehbarer, bürgernäher und direkter werden, um nicht das schreckliche Wort von der Subsidiarität zu gebrauchen, mit dem wir keinen Bürger überzeugen können, das unverständlich ist.
    Drittens. Europa muß in die Herzen der Bürger. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß es sich derzeit nicht nur um eine Europamüdigkeit handelt, sondern teilweise um eine Europafeindschaft. Europa bekommt immer mehr eine Sündenbockfunktion für Populisten und für überforderte Verbände.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dies ist fatal.




    Dr. Helmut Haussmann
    Ich kann der Regierung den Vorwurf nicht ersparen, daß es ein Riesenfehler war, die Aufklärungskampagne über Maastricht erst jetzt, nach dem Referendum in Frankreich, zu starten und nicht sofort nach dem Tag, an dem der Vertrag von Maastricht beschlossen wurde.
    Aber täuschen wir uns nicht: Politiker, Parteien, Informationsämter allein haben keine Chance. Wir brauchen dringend die Gesellschaft, wir brauchen angesehene Bürger wie Wissenschaftler, Künstler, Sportler, Publizisten, die für Europa in unserer Gesellschaft einstehen. Wir müssen mit der Schizophrenie in unserem Alltag aufräumen: Bei der Arbeit sind die Menschen überwiegend Profiteure von Europa und am Stammtisch Europagegner. Es ist doch absurd: Man produziert tagsüber Autos für Frankreich, man protzt mit den Urlaubsbildern aus Spanien, man fiebert dem Europacup-Endspiel entgegen, macht aber am Stammtisch weiter Stimmung gegen Europa.
    Noch absurder ist für mich folgendes. Viele Medienvertreter und Manager, die in Talkshows die Europamüdigkeit schüren, machen tagsüber das große Geld mit Europamarketing und mit Europavisionssendungen. Diese Schizophrenie im Denken muß aufhören, wenn wir in Europa vorankommen wollen.

    (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

    Ich finde, so wie es heute in jedem großen Unternehmen, in jedem Verband oder in den Gewerkschaften eine Task Force für den Umweltschutz gibt — und das ist richtig so —, so notwendig wird es in Zukunft sein, daß die Europavision in Großunternehmen, in Gewerkschaften, in großen Verbänden auch organisatorisch und personell verankert sein muß.

    (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

    Wie geht es nach dem Ja in Frankreich weiter? Ich hoffe, wir werden wie geplant ratifizieren, sicher mit Ergänzungen, mit Verklarungen — das ist okay —, aber nicht mit einem anderen Vertragstext. Dies können wir den kleinen Ländern, die bereits ratifiziert haben, aber auch dem französischen Ja nicht antun.
    Meine Damen und Herren, ich will etwas zur Europawährung sagen. Die D-Mark ist heute schon der Stabilitätsanker. Die jetzigen Ereignisse im EWS sind letztlich ein großes Kompliment an die D-Mark.

    (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

    Nicht nur wegen des hohen Zinses ist die D-Mark so stabil, sondern weil unverändert eine gute Wirtschaftspolitik das Fundament dafür ist. Ich bin gegen eine Kunstwährung.