Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 12 auf: Aktuelle Stunde
Politische Reaktion auf den Hungerstreik von Gefangenen aus der „Rote-Armee-Fraktion" und anderen
Die Fraktion DIE GRÜNEN, meine Damen und Herren, hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Februar haben Gefangene der Rote-Armee-Fraktion ihren zehnten Hungerstreik begonnen. Sie haben diesen mit einer Erklärung angekündigt, die sich in Form und Inhalt von früheren Erklärungen unterscheidet; sie ist sehr existentiell gehalten. Wer überhaupt hören will, muß dies einfach hören, diesen Versuch, nur noch mit dem eigenen Kopf zu denken und von der eigenen Situation auszugehen. So heißt es: „Wir machen so nicht mehr weiter, aber wir ertragen es so auch nicht mehr. " Oder: „Von allen Seiten will man was von uns, aber wir können nicht zusammen reden und kaum noch handeln." Oder: „Wir wollen jetzt an der gesamten politischen Diskussion teilnehmen."Es gibt in dieser Erklärung Passagen, die die paradoxe Situation andeuten, daß ein extremes Mittel, der Hungerstreik, nicht mehr der Verhärtung dienen soll, sondern der Öffnung. So fordern die Gefangenen am Ende selbst „einen Dialog, eine politische Auseinandersetzung mit allen gesellschaftlichen Gruppen".Das sind neue Töne. Gleichzeitig gibt es alte bekannte Passagen. Es macht keinen Sinn, in diese Erklärung mehr hineinzuinterpretieren, als sie zunächst hergibt. Es macht aber jeden Sinn, in Gespräche einzutreten, die die angedeutete Bereitschaft, über die Gesamtsituation, über alles nachzudenken, aufnehmen und vertiefen. Diese Chance darf nicht vertan werden.Gleichzeitig ist dieser Hungerstreik mit einer tödlichen Dramaturgie verbunden, die jeder ernst nehmen muß. Nach dem anfänglichen Streik aller treten in einer „Hungerstafette" alle zwei Wochen zwei neuein die Reihe der Hungernden ein. Die ersten, KarlHeinz Dellwo und Christa Eckes, hungern heute den 45. Tag. Ihr Gesundheitszustand ist kritisch.Unsere Haltung zu dieser Frage war immer eine dialogische. Es ist der verzweifelte Versuch, gleichzeitig eine Position der solidarischen menschlichen Nähe wie der politischen Differenz auszuhalten. Es ist der Versuch, von keiner Seite instrumentalisiert zu werden. Es ist aber auch der Versuch, eine tödliche Zuspitzung des Konflikts zu vermeiden und die Chance — die geringe Chance — für Verhandlungen offenzuhalten. Das ist in Zeiten wie diesen fast unmöglich.Die Gefangenen — und mehr als sie die Unterstützer-Komitees — fordern uns zur rituellen Wiederholung ihrer Forderungen auf. Die staatlichen Stellen fordern uns auf, uns doch still zu verhalten und den Gefangenen allenfalls zu vermitteln, daß alles doch keinen Sinn hat und daß sie aufhören sollen.Wir sind aber notorisch der Meinung, daß sich etwas bewegen muß. Und wir sind ebenso notorisch der Meinung, daß der Staat in diesem Konflikt am längeren Hebel sitzt, daß er sich nichts vergibt, wenn er endlich einen humanen Strafvollzug herstellt, auch und gerade für diese Gefangenen.Wir haben die Lügerei und auch das Instrumentalisiertwerden gründlich satt. Wir fordern, daß Haftunfähige wie Günter Sonnenberg und Bernd Rößner sofort entlassen werden. Wir finden Isolation unmenschlich und menschenunwürdig. Dazu rechne ich ausdrücklich auch die uneinsichtige Trennung der Gefangenen von den Menschen, mit denen gerade sie eine gemeinsame Geschichte teilen und ohne die kein einziger Schritt der Veränderung für sie möglich sein wird.Wir finden ebenso, daß es zwar verständlich, aber eben doch ein Spiegelbild der staatlichen Sonderbehandlung dieser Gefangenen ist, wenn sie selbst nun für alle RAF-Häftlinge einen einzigen oder zwei Sondertrakte fordern, wo doch einmal Holger Meins für die Forderung nach Normalvollzug gestorben ist.Wir empfinden es als den Gipfel der Absurdität und der Brutalität, wenn die Bundesanwaltschaft Menschen, die in einen Hungerstreik treten, also das letzte Mittel einsetzen, was Gefangenen überhaupt möglich
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9962 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Frau Dr. Vollmerist, um existentielle Forderungen auszudrücken, mit einer Anklage wegen § 129a StGB bedroht.Es ist ja alles kein Spiel. Alle Seiten haben nur noch unheimlich wenig Zeit. Jeder, der die Entwicklung der letzten Jahre studiert hat, weiß, was ablaufen wird, wenn es auf der einen oder auf der anderen Seite zu Toten kommen wird. Es wird zu Toten kommen, wenn nicht gehandelt wird.Ich fordere alle, denen an einer friedlichen Lösung dieses Konfliktes liegt, auf, alles, aber auch alles zu tun, damit es dazu nicht kommt. Ich bitte die Gefangenen, sich von niemandem benutzen zu lassen, sondern bei den eigenen Überlebensinteressen zu bleiben, bei der eigenen Identität. Ich fordere die Unterstützer auf, die Gefangenen nicht in eine unrealistische Hoffnung zu treiben.
Ich fordere die staatlichen Stellen auf, auf menschliche Hoffnungen nicht mit einem tödlichen und doch so nichtssagenden „Wir lassen uns von niemand erpressen" zu reagieren. Wir sind kurz vor der Wiederauflage einer heillosen gesellschaftlichen Polarisierung, die wir schon einmal hatten. Wir sollten überlebensklug genug sein, diese Todesspirale nicht noch einmal bis zum bitteren Ende durchzuprobieren.Da rasen nämlich zwei Gespensterzüge aufeinander zu. Alle sehen es, und niemand will eingreifen. Aber es stimmt nicht, daß die Technik versagt und das Schicksal seinen Lauf nehmen muß. Es sind immer noch Menschen, die die Hebel der Bremsen durch politische Signale in der Hand haben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die inhaftierten Terroristen der Rote-Armee-Fraktion setzen ihren Kampf gegen unseren Staat mit anderer Taktik und Methode fort. Gegenwärtig läuft eine neue, planmäßig organisierte Aktion, die sich an eine lange Reihe früherer Kampagnen anschließt. Durch eine besonders dramatisch auf Leben und Tod angelegte Hungerstreikkette soll der Staat erpreßt werden, vor den Forderungen der terroristischen Häftlinge in die Knie zu gehen.
Ich möchte mit aller Klarheit sagen: Diese unmenschliche Hungertaktik ist ein völlig unzweckmäßiges politisches Druckmittel. Wir fordern die Häftlinge auf, sich zu besinnen und von ihrem selbstzerstörerischen Tun abzulassen. Sympathisanten sollten erkennen, daß das Ziel der Häftlinge die Kapitulation des Rechtsstaates ist. Sie selbst werden nur als Werkzeuge zur Erreichung dieses Ziels benutzt.
Wir alle sollten uns in die Pflicht nehmen — ich sage das ganz besonders auch an die Adresse der GRÜNEN — , dazu beizutragen, das Klima zu entgiften, statt es weiter anzuheizen.
Unverzichtbares Element dieser spektakulären Kampagne gegen die verfassungsmäßige Ordnung ist eine breite Öffentlichkeitsarbeit. Diese Aktuelle
Stunde der GRÜNEN dient genau dem Zweck, öffentliche Aufmerksamkeit auf die RAF-Häftlinge zu lenken.
Wir erinnern daran, daß alle früheren Aktionen von der Mobilisierung einer militanten solidarischen Praxis der Gesinnungsgenossen im terroristischen Umfeld begleitet waren. Es kam zu Brand- und Sprengstoffanschlägen, Sachbeschädigungen, unfriedlichen Demonstrationen und zu Besetzungsaktionen. Vor vier Jahren wurde Ernst Zimmermann im Zusammenhang mit einem Hungerstreik ermordet.
Es ist ohne Zweifel so, daß der militante Protest auf der Straße und die Gewalttaten nicht ohne Wirkung auf die öffentliche Meinung sind. Von daher ist es wichtig, daß der Staat und die Justizbehörden auf rechtsstaatlich einwandfreie Weise fest bleiben und gelassen reagieren.
Ich möchte feststellen: Die verurteilten RAF-Terroristen sind keine politischen Gefangenen und schon gar nicht Kriegsgefangene. Ihre krampfhaften politischen Begründungsversuche für ihre Untaten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich schwerer und schwerster Verbrechen schuldig gemacht haben.
Sie sollen nicht anders behandelt werden — nicht schlechter, aber auch nicht besser — als vergleichbare andere Gewalttäter und Mörder. Wegen der anhaltenden revolutionären Strategie, die aus den Haftanstalten heraus verfolgt wird, muß besonderen Sicherheitserfordernissen beim Strafvollzug entsprochen werden. Die Wahrung der jedem Häftling zustehenden Grund- und Menschenrechte ist dabei ein hohes Gebot.
Gegen die Maßnahmen des Strafvollzugs hat es permanente Proteste der terroristischen Gefangenen gegeben. Ihre Beschwerden sind auch mehrfach der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg vorgetragen worden. Die Kommission hat in keinem Fall eine Verletzung der Menschenrechtskonvention erkennen können. Es gibt keine Folter und keine Isolationshaft in unseren Haftanstalten.
Die Justizbehörden der Bundesländer stehen bei einer sich zuspitzenden Bedrohungslage vor der schwierigen Aufgabe, der Fürsorgepflicht des Staates und der Menschenwürde der Gefangenen ebenso Rechnung zu tragen wie den Erfordernissen eines rechtsstaatlichen Strafvollzugs für gefährliche Gefangene.
Wir vertrauen auf die Fähigkeit unserer Institutionen, mit einer eskalierenden Situation fertigzuwerden, ohne sich erpressen zu lassen und ohne den Forderungen nach irgendeinem Sonderstatus für RAF- Häftlinge nachzukommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9963
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind noch ziemlich am Anfang der Aktuellen Stunde. Ich denke, wir sollten deshalb eine kurze Überlegung anstellen, welchen Sinn sie eigentlich haben soll.
Der Sinn könnte darin bestehen, Einigkeit darüber zu erzielen, daß wir hier genausowenig wie die Kolleginnen und Kollegen in Hamburg, die gestern in der Bürgerschaft diskutiert haben, oder die Kolleginnen und Kollegen in Niedersachsen, die dieses Thema ebenfalls gestern erörtert haben, ein Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Hungerstreikenden sind, auch nicht derjenigen, die sie unterstützen. Die Einigkeit, die wir herstellen sollten, geht auch in eine andere Richtung: daß heute hier kein Platz sein sollte für parteipolitisch motivierte Auseinandersetzungen oder gar den Kampf um die Luftherrschaft über den Stammtischen.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir tragen auch Verantwortung, obwohl wir, jedenfalls nicht im Bundestag, zu dem Kreis der verantwortlich Handelnden gehören. Es geht um Menschenleben. Wir sollten die Verantwortung, die wir gerade auch für die Hungerstreikenden haben, die wegen terroristischer Gewalttaten verurteilt wurden und sich jetzt wieder bis zu ihrem eigenen Tod fanatisch verrennen, ernst nehmen.
Wir tragen aber auch Verantwortung dafür, soweit wir können, dabei mitzuwirken, daß sich jener schreckliche Kreis — Opfer von Menschenleben durch Gewalt, staatliche Reaktion und neue Gewalt — nicht wieder schließt. Er zieht alle diese bitteren Folgen an Leid und Schaden auch für unseren inneren Frieden nach sich, die wir nun wahrhaftig lange genug kennen.
Was können wir heute sagen? Ich denke, wir sollten feststellen, daß es einen Sonderstatus oder Sonderrechte für politisch motivierte Gewalttäter nicht gibt und nicht geben kann, daß sie nicht richtig und auch nicht wünschenswert sind, und zwar weder bei der Anwendung der Strafgesetze noch im Strafvollzug. Wir sollten klar herausstellen, daß das Forderungspaket der Hungerstreikenden deshalb nicht durchsetzbar sein kann und daß es eine schreckliche, ja eine tödliche Illusion wäre, wenn die heutige Aktuelle Stunde bei den Hungerstreikenden selber, bei ihren Angehörigen und bei allen, die mit ihnen sprechen können — dieser Kontakt muß ja ausgebaut werden; ich denke, da sind wir einig — , daran Zweifel aufkommen lassen könnte.
Aber wir sollten auch klar und deutlich erklären, daß wir, wenn wir sagen, es kann keine Sonderrechte und keinen Sonderstatus geben, auch dazu ermutigen müssen, daraus die Folgerungen zu ziehen, wo immer das möglich ist, gerade weil die vorhandene Zeit so schrecklich schnell abäuft: Bei der Begnadigung gibt es sehr dankenswerte Schritte von Ministerpräsidenten der Länder. Bundespräsident von Weizsäcker hat letzte Woche eine wohlüberlegte und durchdachte Entscheidung getroffen. Die Angriffe gegen ihn waren das weniger, weil sie diese Sonderrolle und den Sonderstatus verurteilter Terroristen eher bestätigt haben.
Aber, meine Damen und Herren, noch etwas sollte als Signal von der heutigen Aktuellen Stunde ausgehen: Folgerungen können und müssen auch im Strafvollzug in bezug auf Hungerstreikende und politisch motivierte und wegen terroristischer Gewalttaten verurteilte Straftäter gezogen werden.
Ich spreche hier den Normalvollzug an. Ich frage mich wirklich, und ich frage alle, die verantwortlich handeln müssen, ob es noch ausreichen kann zu erklären, warum das im Einzelfall nicht möglich ist. Ich meine: Nein. Ich spreche auch die Frage der Hochsicherheitstrakte an, deren Auswirkungen — wir wissen das heute — mehr als bedenklich und zweifelhaft sind.
Meine Damen und Herren, es gibt in den letzten Tagen eine ganze Reihe anderer Überlegungen. Sie sind öffentlich geworden; sie hätten schon längst von den zum Handeln Verantwortlichen aufgegriffen werden müssen, ausgelotet werden können,
und wir danken all denen, die das wirklich ernsthaft versuchen.
Uns Sozialdemokraten geht es darum, auch heute diese Aufforderung zu unterstreichen und den Appell an die Verantwortlichkeit der Handlungsbeauftragten zu unterstützen. An der Bestärkung falscher Positionen oder auch an der Verhärtung falscher oder zu starrer Fronten, Herr Laufs, beteiligen wir uns nicht.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Meinung, daß eine Behandlung dieses Themas heute hier im Interesse aller Betroffenen niemandem dienlich und nicht hilfreich ist, und wir meinen auch, daß es einer Verantwortung auch derjenigen bedarf, die diese Anträge heute gestellt haben. Wir werden uns an dieser Debatte deshalb nicht beteiligen.
— Das, Frau Nickels, bestätigt unmittelbar meine Anmerkung.
Ich habe den Zuruf „Feigling" gehört. Der gehört hier nicht her, Frau Nickels. Es ist nicht parlamentarisch, sich gegenüber einem Kollegen so zu äußern.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte die heutige von den GRÜNEN durchgesetzte Aktuelle Stunde für verfehlt, nicht etwa deshalb, weil die Bundesregierung eine öffentliche Diskussion über den gegenwärtigen zehnten Hungerstreik von Inhaftierten aus dem RAF-Bereich in der Sache zu scheuen hätte. Im Gegenteil, zu den Forderungen, den Zielen, der Motiva-
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Bundesminister Engelhardtion der Hungerstreikenden gäbe es viel zu sagen, und es gäbe bei dieser Gelegenheit auch viele grobe Unrichtigkeiten und Unwahrheiten, die umlaufen, zu widerlegen und richtigzustellen. Verfehlt ist diese Aktuelle Stunde nach meiner Überzeugung wegen ihres Zeitpunktes.
Seit dem 1. Februar 1989 dauert jetzt dieser Hungerstreik mit wechselnder Beteiligung nach einem exakt eingehaltenen Plan an. Sechs Gefangene nehmen zur Zeit daran teil, davon zwei durchgehend von Anfang an. Nach allem, was wir wissen, müssen wir den Willen der Hungerstreikenden, ihre Forderungen durchzusetzen, ernst nehmen.In einer solchen Situation muß derjenige, der politische Verantwortung trägt — dies ist neben den für den Strafvollzug zuständigen Justizministern der Länder auch der Bundesjustizminister — eine klare Meinung über die gebotene und angemessene Reaktion des Staates haben. Er muß seine Linie eng mit den anderen Verantwortlichen in Bund und Ländern abstimmen, aber er darf auf keinen Fall öffentlich darüber sprechen. Das berechtigte öffentliche Informationsbedürfnis muß im Interesse einer Lösung der schwierigen Lage vorübergehend zurückstehen. Hierfür bitte ich Sie, meine Damen und Herren, um Verständnis. Zu gegebener Zeit wird man darüber und über vieles mehr einmal öffentlich und in aller Offenheit sprechen müssen. Heute ist dafür jedoch mit Sicherheit nicht der richtige Zeitpunkt. In der aktuellen Situation würden dadurch nach meiner Überzeugung die Ziele gefährdet, die wir jetzt vor Augen haben müssen und die nur durch zähe, beharrliche Kleinarbeit im Stillen verfolgt werden können.Dieser Hungerstreik darf keine Menschenleben fordern, weder am Hungerstreik Gestorbene noch durch neue Terroranschläge Ermordete. Unser Bemühen, die im weitesten Sinne in den Terrorismus Verstrickten für eine freie und friedliche Gesellschaft zurückzugewinnen, darf durch diesen Hungerstreik nicht ein Ende finden.Ich bekenne meine Sorge, daß gerade, was den letzten Punkt betrifft, der jetzige Hungerstreik einen schweren Rückschlag für Bemühungen bedeutet, die seit fast eineinhalb Jahren in aller Stille laufen. Auch hier im Raume sind Personen, die dazu einen Beitrag geleistet haben. Es wäre wirklich traurig, wenn diese schwierige Arbeit jetzt zunichte gemacht würde. Ich kann Ihnen heute nur versichern, daß alle staatlichen Stellen und daß Persönlichkeiten außerhalb des staatlichen Bereichs, die mit den Problemen befaßt sind, mit Sensibilität, mit Augenmaß und mit Vernunft vorgehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Bundesjustizminister hat uns mit vollem Recht auf die besondere Zuständigkeit derLänder für die Unterbringung in Strafanstalten hingewiesen. Die Strafvollzugsbehörden und die Justizministerien der Länder haben die Verantwortung in diesem Bereich. Man sollte meinen, sie hätten genügend Darstellungskraft, um auf Vorwürfe zu erwidern, die gegen sie und die von ihnen veranlaßten Haftbedingungen erhoben werden.Leider zeigt die Erfahrung in den früheren Fällen dieser Art, daß das Gegenteil der Fall ist: Die für viele Außenstehende unübersichtliche Zuständigkeitsverteilung ermöglicht es den Verantwortlichen, in der Deckung zu bleiben. Das aber ist bei krisenhafter Zuspitzung völlig unzureichend; es ist nicht zu verantworten.
Diejenigen, die politisch die Verantwortung haben, dürfen sich nicht wie Zaunkönige im Gestrüpp der föderal geregelten Kompetenzen verstecken, und Sie, Herr Bundesjustizminister, sollten solches Verstecken hier nicht noch ermutigen und dazu ermuntern.
Ich mache eine ausdrückliche Ausnahme für den nordrhein-westfälischen Justizminister Krumsiek, der sich vorgestern sehr vernehmlich und ausführlich geäußert hat. Ich meine, die anderen sollten sich ein Beispiel daran nehmen, sollten reden, sollten aufklären, sollten gesprächsfähig und gesprächsbereit und auch handlungsfähig bleiben, gerade in den bevorstehenden Wochen, statt in den Osterurlaub zu verschwinden.
Andere sitzen dann da und wissen nicht, was sie tun sollen. Auch dafür gibt es Beispiele.Wenn Vorwürfe wegen der Haftbedingungen erhoben werden, wenn von Sonderbedingungen, von Isolation, von Einschränkungen, von Haftunfähigkeit und von anderem gesprochen wird, gibt es ja nur die beiden Alternativen: Sie sind richtig, oder sie sind falsch; in jedem Fall sind sie von öffentlichem Gewicht. Ist daran etwas richtig, so ist es zu ändern, besser heute als morgen. Ist es falsch, wovon ich in weitestem Umfang ausgehe, dann ist zu erläutern, warum es falsch ist, ist der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft zu geben,
sind Vorwürfe zu entkräften, nicht erst bei Zuspitzung, sondern von Anfang an.Wenn Sie, Herr Engelhard, hier sagen, es gebe viel zu sagen, wir brauchten die Auseinandersetzung nicht zu scheuen, dann frage ich: Warum scheuen Sie sie dann? Warum scheuen andere sie und lassen sich darin von Ihnen noch bestärken? Nein, Drückebergerei und Ausschweigen sind in einer solchen Situation völlig unvertretbar.
Wo besondere Haftbedingungen erforderlich sind, da soll man das Erfordernis auch sichtbar machen. Dabei wird man natürlich überprüfen müssen, ob sie
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Dr. Schmudenoch erforderlich sind, und sie gegebenenfalls ändern. Jedenfalls geht es darum, politisch verantwortlich zu handeln und handlungsfähig zu bleiben, statt die Probleme auf die Fachebene abzudrücken und sich auszuschweigen.Die vermeidbare Zuspitzung, den Konflikt mit großer Außenwirkung, sollte man umsichtig vermeiden, und man sollte dabei beweglich bleiben, wo immer es möglich ist.Wenn Gespräche zu führen sind, dürfen sie nicht wegen des laufenden Hungersstreiks verweigert werden. Eine Ablehnung im Hinblick auf den Hungerstreik ist ja nur eine sich stark gebende Sturheit, hinter der sich Schwäche und Unfähigkeit verbergen.
Nein, der Hungerstreik ist kein Hinderungsgrund. Mit denen, mit denen zu reden ist, sollte man immer reden, mit und ohne Hungerstreik.Meine Damen und Herren, auch für Täter aus dem Terrorismusbereich gilt wie für andere Straftäter: Recht muß nicht nur geschehen; es muß auch jederzeit als Recht erkennbar sein. Daß es Recht ist, muß sichtbar gemacht werden. Dabei bleibt die Selbstprüfung, ob man noch richtig handelt, niemandem erspart. Aber das ist in unserem demokratischen Rechtsstaat keine Last und kein Risiko; das ist ein Gewinn. Man sollte davon auch Gebrauch machen.
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in der Vergangenheit ist der Hungerstreik von Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen als politisches Kampfmittel betrachtet und benutzt worden. In der Vergangenheit haben die organisierten Hungerstreiks von RAF-Mitgliedern in der Öffentlichkeit, aus welchen Gründen auch immer, größere Aufmerksamkeit gefunden.
Jetzt wird uns vom zehnten Hungerstreik seit 1973 berichtet. Er hat dieses Mal eine neue Struktur erhalten; Frau Vollmer ist darauf eingegangen. Erstmals wenden Terroristen in deutschen Gefängnissen eine Methode an, die von IRA-Mitgliedern bis zur letzten Konsequenz durchgehalten wurde. 1981 starben dabei zehn IRA-Mitglieder.
In früheren Jahren wurde in der Öffentlichkeit heftig darum gestritten, ob Häftlinge im Hungerstreik gegen ihren entschiedenen Willen zwangsernährt werden dürften oder gar zwangsernährt werden müßten oder eben nicht. Seit 1985 haben wir eine andere Rechtslage. Sie wurde vom Deutschen Bundestag beschlossen, als gerade der neunte Hungerstreik von RAF-Mitgliedern stattfand.
Heute wie damals stellt man sich die Frage, was Menschen in diese Form der Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat treibt. Ich habe versucht, das mir zugängliche Material, insbesondere die Hungerstreik-Infos, so gründlich zu lesen, wie es bei der Fülle an Arbeit nur möglich war. Die Hauptforderung scheint mir die nach der Zusammenlegung der RAF-
Häftlinge in eine oder zwei große Gruppen zu sein. Dabei wird so argumentiert, als wenn es sich bei diesen Gefangenen nicht auch um Mörder, Räuber oder Erpresser handelte. Nein, sie fühlen sich als Gefangene eines verhaßten Systems, das sie glauben auf jede Weise bekämpfen zu können. Sie glauben, für sich besondere Rechte in Anspruch nehmen zu dürfen. Das Zusammenlegen ganzer Gruppen von Terroristen wäre ein solches besonderes Recht.
Diese Gefangenen befinden sich in den Justizvollzugsanstalten, weil sie große Schuld auf sich geladen haben. Manche von ihnen haben das eingesehen. Bei anderen scheint ein entsprechender Denkprozeß begonnen zu haben. Ich befürchte, daß der gegenwärtige Hungerstreik vor allem dazu dienen soll, die Nachdenklichen unter den Terroristen wieder in die nach meiner Auffassung bestehende Organisation zu zwingen. Dabei wird bewußt in Kauf genommen, daß hier Leben in Gefahr gerät. Der Gefangene muß wissen, daß er wie jede andere Person die Verantwortung für eine freiwillige und eigenverantwortliche Nahrungs- oder Behandlungsverweigerung selbst zu tragen hat. Er kann diese Verantwortung nicht auf einen fiktiven Gegner abwälzen.
Hier sind also Menschen auf dem Wege, in furchtbarer Verblendung das eigene Leben wegzuwerfen, um wieder andere Menschen gegen diesen Staat und gegen unsere Gesellschaft zu mobilisieren. Jeder, der heute in einen Hungerstreik tritt, weiß von unserer Rechtslage. Diese heißt: Mit dem Eingreifen eines Arztes ist so lange nicht zu rechnen, wie der Gefangene diesem ärztlichen Tun widerspricht oder gar Widerstand leistet. Das freie Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen wird anerkannt, wenn es um seine Person und um sein Leben geht. Der einzelne hat gegenüber dem Staat auch keine Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens. Eine Rechtspflicht zum Weiterleben besteht nicht. Insoweit darf der Staat erst dann eingreifen, wenn sich der Betroffene selbst nicht mehr helfen kann, es sei denn, er wünscht von sich aus Hilfe anderer.
Ich sehe, daß es da Abgrenzungsschwierigkeiten zum Sozialstaatsprinzip geben kann, das verbietet, jemanden sich und seinem Schicksal zu überlassen. Das Selbstbestimmungsrecht muß aber wohl Vorrang haben.
Ich möchte wünschen, daß die inhaftierten RAF-Mitglieder einsehen, daß die gegenwärtigen Haftbedingungen bestehenbleiben müssen. Ich bin überzeugt, daß nur so Möglichkeiten zur Selbstbesinnung des einzelnen oder der einzelnen geschaffen werden oder erhalten bleiben können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie hungern, und sie nennen es Streik; nicht alle tun es, aber doch eine erkleckliche Anzahl von inhaftierten Mitgliedern der sogenannten RAF, verurteilt teils wegen Mordes, teils wegen anderer schwerster Straftaten zu hohen Freiheitsstrafen. Das
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Dr. PennerZiel der Aktion ist vage: Zusammenlegung ist das eine Stichwort, Dialog mit der Gesellschaft ein anderes.Wir wissen, der Strafvollzug muß die Balance in seinem inneren Gefüge halten und muß mit nicht einfachen Problemen fertig werden. Ich denke nicht nur an den § 101 des Strafvollzugsgesetzes, der die Umstände künstlicher Ernährung gesetzlich absichert. Der Handlungsspielraum ist sehr begrenzt, selbst wenn die Formel „der Staat darf nicht erpreßbar sein" nicht beschworen wird und damit Handlungsmöglichkeiten auf nahezu Null gebracht werden.Nein, die konkreten Fragen sind hier entscheidend. Bei Terroristen sind manche Möglichkeiten verstellt, die sonst offen erschienen, auch wenn einiges heutzutage mehr unter dem Gesichtspunkt Befürchtung oder gar Angst vor Gefährdung eingeordnet werden kann und der realen Lage nicht mehr entsprechen dürfte.Wichtig bleibt: Gerade die Kontakte miteinander und untereinander unterliegen nicht der Disposition von Häftlingen.Ich will nicht verhehlen, daß Schwächen im Verständnis staatlichen Strafens häufig in der Sackgasse ausschließlichen Reagierens steckenbleiben, das Handlungsmöglichkeiten des Staates verstellt und damit das Gesetz des Handelns jenen überlassen kann, denen das eigentlich nicht zukommen darf.Ich weiß aber andererseits, daß gerade bei schwersten Straftaten der Strafcharakter der Sühne gewichtig ist, auch weil das Ansteigen übermächtig werdender privater Vergeltungssuche gerade dadurch aufgefangen wird.Das darf jedoch nicht als Brücke für schematisiertes Handeln verstanden werden. Strafvollzug und Strafvollstreckung erlauben nach dem geltenden Recht differenziertes Vorgehen auch bei Tätern, die gefährlich sind, die gefährlich gewesen sind oder die sich gefährlich gebärden. In diesem Rahmen ist es nicht verantwortungslos, sondern eher das Gegenteil mit zu bedenken, wie sich ein Handeln oder Unterlassen von Behörden für oder gegen die innere Sicherheit auswirken kann.Gerade deshalb ist es wichtig, daß die nun nicht gerade für weltentrückte Duseleien und Verschwommenheiten ausgewiesenen Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik dabei Anstöße geben, um aus den Problemen herauszukommen. Gerade weil sie über die Mauern von Vollzugsanstalten hinaussehen müssen und den Schutz vor Straftaten draußen mit zu garantieren haben, hat das einen einleuchtenden Grund.Gegenwärtig geht es vorrangig darum, Straftaten zu verhindern und menschliches Leben zu schützen und zu bewahren. So verstehe ich auch die Signale aus dem Sicherheitsbereich. Gewiß dürfen wir nicht der Gefahr erliegen, beklagte Sachverhalte für gegeben zu erachten, weil sich die beschwerdeführenden Häftlinge größerer öffentlicher Aufmerksamkeit sicher sein können als andere. Aber ebenso falsch wäre es, auch nur den Eindruck unbeweglicher Prinzipienreiterei zu erwecken, wenn es denn so wäre.Wir möchten dazu ermutigen, den Rat gerade der auf die Wahrung der Interessen der inneren Sicherheit verpflichteten Behörden unbefangen zu gewichten.Keiner wird auf den Gedanken kommen, die Justiz dabei in die Ecke des Rechtsbruchs oder der Bevorzugung zu manövrieren. Aber richtig bleibt: Justiz kann auch Geschehen außerhalb der Justizvollzugsanstalten beeinflussen. Es ist zu hoffen, daß es gelingt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann nicht verhehlen, daß ich mich über die drei Beiträge zu diesem Thema aus der SPD-Fraktion wundere. Zwei ließen meines Erachtens erkennen, worum es hier geht und was ihre Einstellung dazu ist, obwohl wir für den Haftvollzug nicht unmittelbar zuständig sind. Aber es gab einen seltsamen Beitrag des Kollegen Schmude. Ich habe mich gefragt: Was wollte er eigentlich sagen? Ist er der Meinung, wir hätten Isolationshaft im Knast, wir hätten unmenschliche Haftbedingungen, oder ist er nicht dieser Meinung?
Ist er der Meinung, daß der Hungerstreik der Gefangenen — der zehnte an der Zahl — ein vernünftiges Mittel ist oder nicht? Wenn jemand so spricht, wie es meine Großmutter einmal charakterisiert hat: „So kannst Du es sagen; da kann jeder herauslesen, was er will" , dann halte ich das nicht für eine gute Rede.
Manche Leute meinen, solche Reden seien gute Reden. Ich bin der Auffassung, es war keine, Herr Schmude, weil ich nicht herausgehört habe, wofür Sie sind und was Sie wollen.Meine Damen und Herren, es spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle: Haben wir in der Bundesrepublik Isolationshaft, haben wir unmenschliche Haftbedingungen für die terroristischen Gefangenen,
haben wir Folter?
Diese Kampfbegriffe gilt es kurz zu untersuchen. Ich möchte das an Hand des Beispiels einer Gefangenen tun, die sich am Hungerstreik beteiligt. Ich möchte untersuchen, unter welchen Bedingungen sie hier bei uns in Haft ist. Ich möchte den Namen zu ihrem Schutz vorläufig nicht nennen. Der spielt auch keine Rolle. Es ist ein geprüfter, nachweisbarer Fall.Es geht zunächst einmal um den Haftraum. Der beträgt 9 Meter.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9967
Dr. Stark
— 9 Quadratmeter, Frau Däubler-Gmelin. Unsere Abgeordnetenzimmer — nicht ihres — im Langen Eugen haben nicht viel mehr.
Sie hat als Grundausstattung Bett, Tisch, Schrank, Stuhl, Waschbecken mit Ablage und Wandspiegel, Toilette, Wandlampe, Steckdose, Bilderleiste.
— Ja, das ist wichtig. Das hat übrigens ein SDP-Minister so aufgezählt — damit das klar ist.
An persönlichen Gegenständen hat sie zahlreiche eigene Kleidungsstücke — sie darf eigene Kleidung tragen — , Körperpflegemittel und Kosmetika, eine Lese- und Tischlampe, Schreibmaschine, zahlreiche Aktenordner und Schnellhefter mit Schriftstücken, Radio mit Kassettenrekorder und 20 Musikkassetten, Tageszeitungen und Tageszeitschriften. Diese Gefangene bezieht insgesamt zehn Zeitungen täglich, darunter die „taz", die „Welt", die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", „Herald Tribune" , „Spiegel",
„Demokratie Palästina", „Middle East" und „Kurdistan-Report". Das sind Tatsachen. Sie darf 30 Bücher im Zimmer haben. Sie hat nebenan einen Raum, wo sie weitere Zeitschriften und Bücher und die persönliche Habe unterbringen kann.Sie hat Gemeinschaftshofgang. Der Minister beschreibt noch, daß der Hof eine Grünfläche mit Bäumen und Sträuchern als Bepflanzung aufweise. Sie kann am Gemeinschaftsgottesdienst teilnehmen und hat Umschluß, d. h. es gibt einen gemeinsamen Raum mit Fernseher und Tischtennisplatte.
Meine Damen und Herren, wer hier behauptet, das sei Isolationshaft oder Folterhaft — —
— Entschuldigung, dann lesen Sie doch die Infos, verehrte Frau.
Es kamen Anklänge von Frau Vollmer, daß die Haftbedingungen unmenschlich seien. Das hat sie gesagt.
Dieser Kampfbegriff muß weg, meine Damen und Herren.Wenn Sie dann noch wissen, daß diese Gefangene im Jahr tausend Briefe bekommt und tausend abschickt — —
— Sehr gut. Aber Sie liegen falsch. Es sind nicht 971, es sind 917, Frau Däubler-Gmelin.
Ich will damit nur sagen, daß in unserem Hause damit Schluß sein sollte zu behaupten, bei uns finde Isolationshaft, Folterhaft, Knast im Knast statt. Die Gefangenen in diesem Sinne werden bei uns — ich bin sehr vorsichtig — nicht schlechter als übrige Gefangene behandelt. Das muß einmal als Tatsache festgehalten werden.Jetzt noch zu dem eigentlichen Problem, zu dem Problem Hungerstreik. Wir sollten uns in diesem Hause einig sein, daß das kein Mittel ist, um überhaupt ins Gespräch mit den Gefangenen zu kommen, wie das manche von uns erfreulicherweise, aber auch naiverweise versuchen. Ich habe alles verfolgt, was von Herrn Pohl, Herrn Dellwo und anderen als Ziel dieses Hungerstreiks angeführt wurde. Ich habe auch die Debatte der GRÜNEN verfolgt. Sie sind da ja auch verschiedener Meinung, bezüglich des Ziels der Hungerstreikenden.
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ja, ein letzter Satz. — Ich glaube, der Hungerstreik ist der falsche Versuch. Ich kann — wie andere — an die Gefangenen nur appellieren, in ihrem Interesse von diesem sinnlosen Unternehmen abzulassen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Lieber Herr Westphal! Kolleginnen und Kollegen! Hier ist gesagt worden, das sei der zehnte Hungerstreik. Das ist richtig. Die Frage ist nur — wir kennen die Geschichte; es endete mit Toten — : Soll das eine unendliche Geschichte sein? Soll sich das wiederholen? Wir GRÜNEN meinen nein. Dieser tödliche Mechanismus muß durchbrochen werden. Darum haben wir auch die Aktuelle Stunde beantragt.Herr Wolfgramm, es ist Zeit, das Schweigen zu brechen, denn das wäre jetzt ein Totschweigen, es wäre tödliches Schweigen. Wir haben vier Wochen geschwiegen und gehandelt. Wir haben alles mögliche versucht. Aber jetzt sind die Gefangenen in einem Stadium, in dem sie ins Koma fallen können und in dem Handlung angesagt ist.
Damit bin ich bei der Rolle des Staates. In der gestrigen Debatte über die Große Anfrage, die wir gestellt haben, ist hier sehr oft der starke Staat beschworen worden. Hier wurde gesagt: Der Staat muß stark sein.
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9968 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Frau NickelsDer Staat darf sich nicht erpressen lassen. Er muß fest sein.Ich frage Sie — ich möchte auch gern, daß Sie das vielleicht auch mal bedenken — : Was ist für Sie eigentlich Stärke? Was ist für Sie Festigkeit? Was ist für Sie Mut, und was ist für Sie Größe? Sie können sich hier nicht herausreden, und Sie dürfen nicht mehr schweigen, und das Reden allein reicht auch nicht mehr. Sie können sich nicht mehr herausreden, sondern Sie müssen handeln.Sie können sich nicht darum herumdrücken, daß Sie am längeren Hebel sitzen. Wir sind ein Staat, der Machtmittel hat. Die Gefangenen sind eingesperrt wegen bestimmter Taten. Die Staatsgewalt sitzt am längeren Hebel. Wer stärker ist, wer mehr Mittel und Macht hat, wer mehr Handlungsmacht hat, hat auch erheblich mehr Verantwortung.Ich wünsche mir einen Staat, der seine Stärke, seinen Mut, seine Festigkeit und seine Standhaftigkeit in wirklichem Mut, in Großmut zeigt und hier etwas riskiert, was Menschenleben nicht gefährdet und nicht Tödlichkeit befördert, sondern dem lebendigen Menschen und dem Leben dient. In dem Sinne muß hier gehandelt werden. Hier kann nicht mehr geschwiegen und nur geredet werden.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Vollmer, Sie haben die Freilassung von Herrn Rößner gefordert. Sie wissen wie ich, daß Herr Rößner unter ärztlicher Aufsicht steht. Sie wissen vielleicht auch, daß ein Gutachten über seine Haftfähigkeit erstellt wird. Je nach Ausgang dieses Gutachtens wird Herr Rößner entweder als haftunfähig entlassen, oder aber er wird in Haft bleiben.Meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, ich habe Verständnis für Ihre Haltung; denn ich frage mich auch: Was und wem nützt diese Debatte? Wem nützt es, Frau Vollmer, wenn Sie sich hier herstellen oder wenn Sie auf Ihrem Parteitag Anfang März beschließen und verkünden, Sie seien gegen diese sogenannte Isolationsfolter? Wem nützt es, daß Sie Verständnis für den Hungerstreik äußern, weil Sie meinen, die dort Hungernden stemmten sich mit Recht gegen eine unmögliche staatliche Gewalt? Wem nützt das?Bestärken Sie durch solche Parolen, durch solche Erklärungen nicht den Durchhaltewillen der Hungernden? Ist es wirklich Ihre Absicht, daß die Hungernden in den Zellen bis zum Hungertod durchhalten?Sie müssen sich doch ernsthaft fragen, ob ein solches Verhalten, ob ein solches Vorgehen und ob diese Debatte heute in den Hungernden, in den Terroristen, nicht die Illusion weckt, es könnte vielleicht doch das Ziel erreicht werden, daß in der Gesellschaft ein Klima entsteht, das den Staat zwingt, ihren Forderungennachzugeben. Frau Vollmer, die Terroristen lassen nicht ab, sie sind verbohrt und sind fanatisch ihren Zielen verhaftet. Das erklären sie am Beginn ihres Hungerstreiks; schriftlich sagen sie es uns.Wem also nützt es? Ich möchte Sie bitten, auch einmal auf Ihre Genossinnen in Berlin, auf die AL, einzuwirken, wenn sie verkünden, sie seien für die Abschaffung des sogenannten Gesinnungsstrafrechts, für die Abschaffung der sogenannten Gesinnungsjustiz, und wenn sie sagen, sie würden es nicht als Gewalt ansehen, wenn ziviler Ungehorsam und Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet wird. Wem nützt denn das?
— Frau Däubler-Gmelin, Sie müssen sich doch ernsthaft fragen — —
— Wenn Sie das mit einer so billigen Bemerkung von oben herab glauben abtun zu müssen, tun Sie mir furchtbar leid. Es geht hier um Menschenleben. Darum geht es in der Tat!
Es geht hier um Menschenleben, und das Problem dieser Debatte — um darauf noch einmal zurückzukommen — ist: Wem nützt es, wenn Sie hier in einer solchen Weise und wenn die AL in Berlin in einer solchen Weise, wie sie es getan hat, in den Gefangenen, die doch oft hoffnungslos sein müssen — das verstehe ich ja —, die Hoffnung keimen lassen oder die Illusion wecken, sie könnten vielleicht doch noch die Revolution verwirklichen?
Sie wollen doch von der Revolution nicht ablassen. Das betonen sie doch in ihrer Erklärung zum Hungerstreik.Ich meine, wir sollten alles tun — das hat der von meinem Kollegen Stark vorhin zitierte Herr Krumsiek deutlich gemacht — , den Weg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen. Das geht aber nicht durch Zusammenlegung. Es geht vielmehr nur — das wurde in dieser Erklärung, die Sie auch schriftlich haben, von Herrn Minister Krumsiek in Nordrhein-Westfalen auch klar und deutlich festgestellt —,
indem sich die Terroristen von ihren Straftaten abwenden, indem sie von ihren politischen Zielen — wie sie es nennen — , von ihren verbrecherischen Zielen — wie ich es nenne — ablassen und umkehren. Dann ist ein Weg zurück, dann ist vielleicht auch ein Weg zu einer Begnadigung möglich, und dann ist ein Weg zumindest zu einer vorzeitigen Strafentlassung mög-
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Geislich, aber nicht, indem sie unter psychischen Druck gesetzt werden, der sie so weit treibt, daß sie unter Umständen sogar in den Hungertod gehen. Deswegen nützt, so meine ich, diese Debatte heute, wenn wir sie so beginnen, wie Sie, Frau Vollmer, sie begonnen haben, nichts, am wenigsten den Terroristen.
Es tut mir leid, die Debatte unterbrechen zu müssen. Zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Wüppesahl das Wort.
Wüppesahl: : Herr Vogel, ich stimme Ihnen zu: Es wäre gut, wenn Herr Mahrenholz endlich entschiede. Ich habe eine Redezeit von fünf Minuten beantragt, und heute wird das Spielchen wie gestern mit mir getrieben; es werden diesmal nur drei Minuten konzediert. Sie wissen, daß ich vor dem Bundesverfassungsgericht eine Mindestredezeit von fünf Minuten beantragt habe, und das ist, verdammt noch mal, mehr als sachgerecht.
— Notfalls natürlich zu jedem Tagesordnungspunkt! Aber das käme natürlich nur in Betracht, wenn es eine Gruppe von Fraktionslosen gäbe, weil es unsinnig wäre, wenn eine Person zu jedem Tagesordnungspunkt der laufenden Sitzungswoche qualifizierte Debattenbeiträge abliefern wollte,
weswegen, Herr Gerster, ich mich ja auch nur einmal oder zweimal oder vielleicht dreimal pro Sitzungswoche zu Wort melde.
: Das ist schon
schlimm genug!)
Wir haben jetzt wieder folgende Situation. Ich habe einen fünfminütigen Redebeitrag zur Geschäftsordnung. Aber fünf Minuten zur Sache darf ich nicht reden. Das ist völlig abstrus.
Ich möchte einen Sachbeitrag von fünf Minuten leisten. Frau Däubler-Gmelin, sagen Sie doch Ihrem Fraktionskollegen, der zur Zeit als präsidierender Kollege den Vorsitz in unserem Hause ausübt, daß wir dem Plenum insgesamt drei Minuten Redezeit hätten ersparen können, wenn ich fünf Minuten zur Sache hätte reden können, statt jetzt zusätzlich drei Minuten lang einen Beitrag zur Geschäftsordnung zu liefern.
Meine Damen und Herren, es ist sogar so gewesen, daß diese Regelung in der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zu Nachfragen geführt hat, ob man sich denn tatsächlich um zwei Minuten streiten müsse. Da war Unverständnis nicht nur bei Mitgliedern des Senats, sondern auch bei anderen Personen, die vor dem BVG eine Aussage entweder als Sachverständige oder als Zeugen gemacht haben.
Ich verzichte heute morgen ausnahmsweise auf die Inanspruchnahme des vollen Redekontingentes. Ich möchte Sie allerdings bitten, mir jetzt die fünf Minuten zur Sache zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Wüppesahl hat das Recht, zur Geschäftsordnung zu sprechen.
Dafür sieht unsere Geschäftsordnung eine mögliche Redezeit von fünf Minuten vor. Der Präsident hatte seine Wortmeldung selbstverständlich angenommen, auch in einer Aktuellen Stunde, und hatte ihm dafür drei Minuten zugeteilt.
Diese Möglichkeit zu reden hat er bis jetzt nicht in Anspruch genommen, sondern die Möglichkeit, zur Geschäftsordnung zu sprechen.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß der kleinsten der Fraktionen des Hauses in einer Aktuellen Stunde sieben Minuten zur Verfügung stehen. Ein einzelner Abgeordneter, der nicht einer Fraktion angehört, kann dann nicht das volle Rederecht für fünf Minuten in einer Aktuellen Stunde verlangen.
Ich rufe den Abgeordneten Wüppesahl zu seinem Redebeitrag von drei Minuten auf.
— Ich habe nicht gehört, daß Sie einen Antrag gestellt haben. Bitte schön, reden Sie jetzt! Sie haben drei Minuten.
Ich habe den Antrag formuliert, aber mir reicht es, wenn es im stenographischen Protokoll steht.Meine Damen und Herren, das Thema der Aktuellen Stunde lautet: Politische Folgerungen aus dem Hungerstreik der Gefangenen. Ich denke, das ist im Grunde relativ einfach zu beantworten: erstens Ende der Isolationshaft, zweitens Zusammenlegung der dafür kämpfenden Gefangenen und drittens keine Kriminalisierung von Menschenrechtsforderungen in der Bundesrepublik.Diese drei Essentials sind auch die wesentlichen Forderungen einer Demonstration heute nachmittag in Hamburg. Der letzte Punkt sollte besonders zu denken geben, nämlich daß Menschen gleich in den Geruch des § 129a StGB gelangen, wenn sie sich gegen solche Haftbedingungen einsetzen, die ich gerade geschildert habe.Die Debatte heute ist in der Qualität nur in einer Nuance von der unterschieden, die wir gestern erleben konnten. Diese Nuance wird in einer etwas differenzierteren Position der SPD zum Ausdruck ge-
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Wüppesahlbracht, die meines Erachtens aber noch längst nicht ausreichend ist. Wir haben hingegen aus den Gliederungen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in diesem Fall von der ASJ, ganz andere Forderungen zu der augenblicklichen Problemsituation. Die Forderungen der ASJ gehen dahin, daß die Haftbedingungen aufgegeben werden müssen und daß Personen, die nicht unbedingt bereit sind, ihre früheren Kampfgefährten oder Kampfgefährtinnen zu verraten, herausgelassen werden müssen, also begnadigt werden sollten. Solche deutlichen Worte konnte ich heute nicht vernehmen. —Dies bedaure ich in der Tat. Substantiell steht hinter solchen Forderungen, die inzwischen auch von Sozialdemokraten erhoben werden, natürlich die Überlegung, daß — dem entspricht auch die Handhabung seitens des Staates gegenüber diesen Gefangenen — diese Gefangenen eben nicht vergleichbar sind mit solchen, die, sagen wir einmal: gemeine Kriminalität begangen haben.
Wenn sich Personen aus diesen Reihen von dem abwenden, was sie bislang als Ideologie aufrechterhalten haben — auch davon, den militanten Kampf als Mittel der politischen Auseinandersetzung fortführen zu wollen — , dann gibt es seitens dieser Gesellschaft auch keinen sinnvollen Grund mehr, sich vor diesen Personen schützen zu wollen. Vielmehr ist die Aufrechterhaltung der Haft als solche und im besonderen der Isolationshaft dann nichts anderes als nackte Rache.
Meine Damen und Herren, die Situation — um das einmal plastisch zu machen — ist wirklich alles andere als unbedrohlich. Peter-Jürgen Boock, der nun gerade noch zu denjenigen gehört, die aus der Logik der RAF eigene Gesinnungsgenossen verraten haben, hat gestern morgen beim Besuch seines Rechtsanwalts Eiter gespuckt, er hat Fieber. Erst dann, als endlich ein Arzt zu ihm kam, wurde festgestellt, er hat eine schwere Bronchitis. Das ist sicherlich auch nicht viel weniger gravierend als der erste Verdacht auf schwere Lungenentzündung.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich mache den Schlußsatz.
Gleichzeitig sagt der Hamburger Justizsenator, seinen Gefangenen gehe es gut. Das ist ein sozialdemokratischer Justizsenator. Ich meine, das sollte nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei den anderen beiden Fraktionen im Hause Nachdenklichkeit in dieser Richtung auslösen, daß schnelle Handlungen erforderlich sind.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jürgen Schmude wußte, wovon er sprach. Er hatte 1981 einen Hungerstreik zu bestehen. Ich denke, jeder hier im Hause konnte registrieren, was richtig angewandte Staatlichkeit und Menschlichkeit vermochten. Die Pflicht, Leben zu schützen, ist Verfassungsauftrag, und die Hinwendung, sich um den anderen zu kümmern, ist Gebot aller demokratischen Parteien.
Gesetze, gar Strafgesetze, bilden notwendige Mittel hierzu, aber nicht die alleinigen und nicht die ersten. Wesentlich ist immer der Dialog, wesentlicher als alles andere. Sprachlosigkeit entzieht einer parlamentarischen Demokratie den Boden.
Das gilt auch für Gefangene, für wegen terroristischer Straftaten Verurteilte, für solche, die sich verstrickt haben und eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen müssen.Ein in sich ruhender Staat kann großzügig sein, aber er hat Grenzen zu beachten. Gleiches muß gleichbehandelt werden. Privilegien darf es nicht geben. Und er hat seine Bürger zu schützen.Der Hungerstreik, zu dem die GRÜNEN die Akutelle Stunde verlangt haben, läuft, wie wir gehört haben, nach dem nordirischen Plan. Er ist sorgfältig vorbereitet. Die Gefangenen sagen, sie hungerten bis zum bitteren Ende, bis zum Tod.Dahinter steckt weiter auch die unausgesprochene Frage — und das müssen wir bedenken — : Was geschieht, wenn sich einer zu Tode gehungert hat? Ihr Ziel ist, zusammengelegt zu werden, eine sogenannte interaktionsfähige Gruppe oder deren zwei bilden zu können. Das bedeutete, um es hier auszusprechen, ein Zusammenlegen von 27 Gefangenen oder die Bildung zweier Gruppen mit 14 bzw. 13 Gefangenen.Diesem Ziel kann nicht entsprochen werden, es sei denn — was keiner fordert — , allen anderen Gruppen, z. B. solchen der organisierten Berufskriminalität, wird dasselbe Privileg zugebilligt. Ich sage: Auch Sicherheitsgründe stehen dagegen. Wer jetzt von „politischen Gefangenen" spricht, muß wissen, was auf ihn zukommt. Da haben Leute Asylantenheime angezündet.Herr Wüppesahl, wir gehen davon aus, daß auf Grund sorgfältiger ärztlicher Untersuchungen bei denen, die in sehr kritischer Verfassung sind — vier sind es —, die angemessenen und alle überzeugenden staatlichen Maßnahmen ergriffen werden. Es gibt sicher Gefangene in Sonderbehandlung in Niedersachsen. Es ist ihnen zugesagt worden, daß sie bei Streikabbruch in den normalen Vollzug zurückkehren müssen. Auch das sollte als Appell verstanden werden.Nur, Herr Wüppesahl: Von Isolationsfolter, von Unmenschlichkeit oder gar von Rache kann keine Rede
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Dr. de Withsein, und davon sollten auch wir hier nicht sprechen.
Sie können ja, wie Sie wissen, alle miteinander kommunizieren — das beweist der Streikplan — , und sie können sich auch über das Tagesgeschehen informieren, denn ihnen stehen genügend Zeitungen und praktisch jede erforderliche Lektüre zur Seite.Dennoch sage ich auch: Wir hier im Bundestag können nicht genau übersehen — es gibt ja bekanntlich, worauf hingewiesen wurde, elf Länderjustizminister und einen Bundesminister der Justiz, dem selbst keine Justizvollzugsanstalt untersteht —, wo es bisher ungenutzte Ansatzpunkte zu einem Dialog gibt. Aber Bunkermentalität wollen wir nicht. Das gilt für alle Seiten.Ich sage auch das: Sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung muß immer unser Gebot sein. Auch ich habe Zweifel am Sinn dieser Veranstaltung hier. Sie könnte falsche Hoffnungen erzeugen und ebenso zu Versteinerungen führen. Aber ich meine: Wenn wir sie schon haben, sollten wir sie nutzen und als Angebot verstehen.Dieser Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist weder illegitim-legalistisch noch gnadenlos, wie wir wissen. Er ist auch nicht uneinsichtig und korrekturunfähig. Er hält sich auch nicht am bloßen Prestige fest. Er ist in seinen Teilen dialogbereit. Er darf nicht fixiert sein. Er muß und wird bei seinen Entscheidungen stets das Interesse aller Bürger im Auge haben. Bitte verstehen Sie das, wer auch immer gemeint ist, als Appell.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Info-Blätter, die von den Angehörigen der RAF-Häftlinge veröffentlicht werden, mit einer Mischung aus Erschrecken und Ratlosigkeit gelesen. Natürlich ist man zunächst immer wieder erschrocken über das Maß an Fanatismus, an Menschenverachtung, das aus den Verlautbarungen der Hälftlinge selbst spricht. Größer war allerdings noch das Erschrecken darüber, daß dieser Fanatismus in größerem Maße wieder auf die Angehörigen und Sympathisanten übergegriffen zu haben scheint.Wir Angehörigen — heißt es dort —sind mit dem Kampf unserer Kinder, Geschwister, Freunde fest und solidarisch verbunden.Dort wird also nicht ein mäßigender Einfluß ausgeübt.
Man versucht nicht, die Häftlinge von ihrem Tun abzuhalten. Nein, man stärkt ihnen den Rücken und versucht, ihnen den Eindruck zu vermitteln, daß sich überall in der Bundesrepublik und in der Welt Solidaritätskomitees bilden. Welch eine schreckliche Verirrung, Frau Nickels: Eltern halten ihre Kinder nicht von einem qualvollen Selbstmord ab,
sondern versuchen, ihn zu einem Instrument im politischen Kampf zu machen.
Ich erkenne ausdrücklich an, Frau Dr. Vollmer, daß Sie diese Gefahr der Instrumentarisierung sehen und an die Häftlinge appelliert haben, sich dem zu widersetzen.Ich sprach von Ratlosigkeit. Diese Ratlosigkeit stellt sich ein, weil man kaum eine Möglichkeit sieht, diese Mauer aus politischer Verblendung, irrationalem Fanatismus und unmenschlicher Verhärtung zu durchbrechen. Vergessen wir nicht die Ziele, die propagiert werden! Es geht um Zusammenlegung, und zwar nicht nur um Zusammenlegung der RAF-Häftlinge, sondern aller, die sich dem Hungerstreik anschließen, und es geht um freie politische Information und Kommunikation der Gefangenen mit allen gesellschaftlichen Gruppen, also doch auch mit den Gruppen, die, offen oder versteckt, mit den Zielen der RAF sympathisieren. Es ist doch etwas blauäugig, wenn Sie meinen, das sei ein Angebot zu einem offenen demokratischen Diskurs.Das alles sind nur vordergründige Ziele. Karl-Heinz Dellwo schreibt:Es geht uns nicht um Zusammenlegung und Normalvollzug als Selbstzweck, es geht um das Aufsprengen des Betongehäuses der Macht.
An anderer Stelle heißt es:
Wir wollen die Freiheit. Und zur Freiheitserlangung gebrauchen wir das Zusammensein.Das sind die Ziele. Die müssen wir auch ernst nehmen.Meine Damen und Herren, der Staat kann doch in einer solchen Situation nicht nachgeben. Er kann doch einer Gruppe von Straftätern keine Sonderrechte einräumen. Hier sind viele freundliche und schöne Worte, sehr ungenau und sibyllinisch, gemacht worden. Es geht aber um diese Frage der Gleichheit vor dem Gesetz.
Sollen denn in Zukunft in den Fällen des organisierten Verbrechens die verurteilten Mitglieder einer Bande,
die sich mit Mädchenhandel, mit Rauschgift, mit Diebstahl, mit Erpressung nach Mafiamethoden befaßt,das Recht auf Zusammenlegung haben? Oder bleiben
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Eylmannwir im politischen Bereich: Würden Sie sich denn auch für Zusammenlegung einsetzen, wenn es sich um eine terroristische Gruppe von Neonazis handelte? Wir müssen uns doch darüber einig sein, daß das nicht möglich ist. Der Staat, die Rechtsgemeinschaft der Bürger, kann hier nicht nachgeben, will er sich nicht selbst in die „unumkehrbare Glaubwürdigkeitskrise" — davon spricht der Häftling Rolf Heißler — begeben, die die RAF zu propagieren versucht. Der Staat würde dann das Recht beugen.Aber er kann natürlich etwas tun. Er kann Signale geben, Frau Dr. Vollmer. Aber diese Signale sind gegeben worden. Der Staat kann das Recht nicht beugen. Er darf der Erpressung nicht nachgeben. Aber er kann Gnade üben. Bernhard Vogel hat Klaus Jürgen Jünschke und Manfred Grashof begnadigt. Der Bundespräsident ist mit der Begnadigung von Angelika Speitel bis an die Grenze dessen gegangen, was einem Teil unserer Mitbürger verständlich gemacht werden kann.
Ich stehe voll hinter dieser Entscheidung und begrüße diese Entscheidung.
Diese Entscheidung macht nämlich deutlich, daß dies kein Staat der starren Rechtsanwendung und erst recht kein Staat der Rache ist, sondern ein Staat, zu dessen für das Zusammenleben aufgestellten Maximen auch die Barmherzigkeit gehört, aus der letztlich die Gnade fließt.Jeder RAF-Häftling weiß, daß dieser Staat ihn nicht im Stich läßt, wenn er aus dieser Gruppe von Gewalt und Mord wirklich ausscheren will. Dann wird ihm geholfen, dann kann er mit Gnade, mit Barmherzigkeit rechnen.Der jetzige Hungerstreik scheint mir ein letzter verzweifelter Versuch zu sein, durch psychischen Druck diese Gruppe dennoch zusammenzuhalten.Ich appelliere an alle, von außen jedenfalls diesen Druck nicht zu verstärken und sich jeder Mitarbeit in den Hungerstreikkomitees zu versagen.Diese Bitte und Aufforderung geht insbesondere an Sie, die Fraktion DIE GRÜNEN.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Die Lage auf dem Arbeitsmarkt
— Drucksache 11/2375 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute morgen die Möglichkeit, die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt zu erörtern und vielleicht auch eine Bilanz der bisherigen Bemühungen der Bundesregierung zu ziehen, der Situation auf dem Arbeitsmarkt Herr zu werden.Wenn man die Arbeitsmarktsituation nach sechs Jahren Kohl-Regierung zu bilanzieren versucht, fallen vier Sachverhalte ins Auge.Erstens. Die Zahl der registrierten Arbeislosen bleibt seit 1983 auf einem Niveau von 2,2 bis 2,3 Millionen im Jahresdurchschnitt stabil, und dies trotz wirtschaftlichen Aufschwungs, hoher privatwirtschaftlicher Gewinne, der höchsten Exportrate seit Bestehen der Bundesrepublik, arbeitsplatzschaffender bzw. erhaltender Arbeitszeitverkürzungen, teilweise gegen den erbitterten Widerstand der Bundesregierung von den Gewerkschaften durchgesetzt, massiver Manipulationen seitens der Bundesregierung an den Arbeitslosenstatistiken und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen auch unter starker Beteiligung von Bundesländern, Städten und Gemeinden mit einem Entlastungseffekt von ca. 450 000 potentiell Arbeitslosen.Der zweite Faktor, der auffällt: Laut Jahresgutachten des Sachverständigenrats betrug der Zuwachs der Zahl der Erwerbstätigen in dem Zeitraum 1982 bis 1988 etwa 380 000; die Selbstständigen eingerechnet. Der Zuwachs der Zahl der Arbeitslosen war deutlich über 500 000. Das heißt, wenn es jemals eine Strategie gab, die Strategie der Bundesregierung: „Hohe Gewinne gleich hohe Investitionen gleich Abbau von Arbeitslosigkeit" ist in der Vergangenheit und in der Gegenwart kläglich gescheitert.
Sie ist zur arbeitsmarktpolitischen Lebenslüge der Koalition geworden.Der dritte Punkt. Es fällt auf, daß die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen ist. Zum Beispiel hat sich seit 1982 die Zahl der Langzeitarbeitslosen bis 1988 auf über 700 000 entwickelt. Das entspricht mehr als einem Drittel aller Arbeitslosen. Diese Zahl hat sich in der Zeit Ihrer Regierung verdoppelt. Damit konzentriert sich die Massenarbeitslosigkeit immer mehr auf einen bestimmten Teil der Erwerbsbevölkerung, der systematisch aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt wird.
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SchreinerIn diesem Zusammenhang eine aktuelle Anmerkung. Es ist geradezu ein Gipfel der politischen Geschmacklosigkeit, wenn auf der einen Seite in den Koalitionsfraktionen beschlossen wird, für Gut- und Höchstverdienende die steuerliche Absetzbarkeit von Haushaltshilfen einzurichten, und auf der anderen Seite völlig die Tatsache vergessen wird, daß es mehr als 1,4 Millionen Jugendliche in den Haushalten der Arbeitslosen gibt und die Einkommenslage dieser Haushalte von Ihrer Steuerreform nicht im geringsten profitiert hat, daß diese Haushalte vielmehr zusätzlich über die Erhöhung der Verbrauchsteuern bluten müssen. Es ist ein Zeugnis des Verlustes jeglicher sozialer Wahrnehmungsfähigkeit und des Verlustes jeglicher Sensibilität für soziale Gerechtigkeit.
Diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben, wenn sie jemals ein solches besessen haben, ihr soziales Gewissen völlig verloren.
Was viertens auffällt: Die systematische Ausgrenzung eines bestimmten Teils der Bevölkerung aus dem Erwerbsleben hat besondere Gründe. Die Arbeitslosigkeit spaltet diese Republik in wachsendem Maße in Armenhäuser und Wohlstandsinseln. Darauf ist zuletzt im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung vor wenigen Tagen noch einmal hingewiesen worden.
Dort heißt es wörtlich, daß die Berufsbildung für mögliche Chancengleichheit zu sorgen habe, das Zahlenwerk aber deutlich mache, daß die Berufs- und Lebenschancen des einzelnen Jugendlichen zunehmend von der regionalen Wirtschaftsstruktur, die immer stärker auseinanderfällt, geprägt würden.Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit konzentriert sich in Regionen mit starkem strukturellem Wandel: an der norddeutschen Küste mitsamt den großen Städten Hamburg und Bremen, im Ruhrgebiet, im Saarland und in einigen anderen Regionen. Die Beschäftigungsverluste bei den traditionellen Altindustrien können von diesen Regionen aus eigenen Kräften nicht mehr aufgefangen werden.Ich erinnere noch einmal daran: Wir sind in einem verfassungswidrigen Zustand. Laut Art. 106 des Grundgesetzes hat jede staatliche Politik für annähernd gleiche Lebensverhältnisse in der gesamten Bundesrepublik zu sorgen. Die Bundesregierung läßt diese Entwicklung nicht nur treiben, nein, sie verschärft sie noch.Wir haben Dutzende von Beispielen, wo die Arbeitslosigkeit z. B. in den westdeutschen, nordrheinwestfälischen Großstädten mehr als zwei- oder dreimal so hoch gestiegen ist wie in bestimmten süddeutschen oder südwestdeutschen Städten.
Dies hängt mit den hohen Beschäftigungsverlusten im Bereich der sogenannten Altindustrien zusammen. — Wenn Sie „Warum?" fragen, kann ich Ihnen dafür gute Beispiele geben. Nach der Kohlerunde 1987 werden allein im Saarland weitere 5 000 Arbeitsplätze im Bergbau unmittelbar und wird mindestens die gleiche Größenordnung in den Zulieferbereichen indirekt abgebaut. Die Bundesregierung laviert in der Frage der weiteren Zukunft etwa der deutschen Steinkohle seit Jahr und Tag und auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt
dahin. Es gibt handfeste Anzeichen, daß die 1987 beschlossenen Opfer, die wiederum die Notstandsregionen in besonderem Maße treffen, nicht für sich bleiben werden, sondern daß in diesen Regionen weiter mit massiven Arbeitsplatzverlusten, insbesondere im deutschen Steinkohlebergbau, zu rechnen ist, ohne daß es erkennbare Strategien der Bundesregierung gibt, wie dieser Situation mit dem Aufbau von Ersatzarbeitsplätzen abgeholfen werden könnte.
Die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit führt dazu, daß immer mehr Menschen in materielle Not geraten. Mehr als ein Drittel der Langzeitarbeitslosen hat keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen. Sie erleiden psychosoziale und gesundheitliche Krisen. Arbeitslosigkeit macht krank und zerstört soziale Strukturen.Einige Regionen bluten auf Grund der immer stärkeren Sozialhilfelasten völlig aus. In Köln beispielsweise stiegen die Sozialhilfeausgaben von 130 Millionen DM im Jahre 1982 auf über 270 Millionen DM jetzt, in Hattingen von 6 Millionen DM im Jahre 1980 auf jetzt annähernd 14 Millionen DM; die Beispiele lassen sich fortsetzen. In diesen Regionen unterbleiben auf Grund massiv gestiegener Sozialhilfekosten die notwendigen Investitionen, während die Kommunalfinanzen in anderen Regionen von der guten Gewinnlage der Unternehmen profitieren, so daß ungerechtfertigt große Steuerkraftunterschiede zwischen Städten und Gemeinden gleicher Funktion und Größenordnung existieren und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Bundesrepublik — im Gegensatz zu dem Verfassungsgebot — immer stärker auseinanderläuft. Ich betone noch einmal: Sie spalten die Bundesrepublik in verfassungswidriger Weise in wohlhabende und arme Regionen.
Das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit ist regional differenziert zu betrachten. Neben Hannover, Hamburg, Bremen, Köln und anderen Städten sind insbesondere die Regionen mit einem starken Strukturwandel Zentren der Langzeitarbeitslosigkeit: das Ruhrgebiet, das Saarland, die Küste. Während in diesen Gebieten das Beschäftigungsniveau immer noch — und zum Teil erheblich — unter dem von 1980 liegt und fast 40 % der Arbeitslosen dort Dauerarbeitslose sind, gibt es Beschäftigungsgewinne in anderen Regionen. Eklatant kann das Problem vor allem an der Zunahme der Zahl von Arbeitslosen, die länger als zwei Jahre arbeitslos sind, dargelegt werden: Waren es Ende 1982 in Hannover 1 800 Personen, so sind es heute bereits über 10 000 Personen. In Dortmund waren es 1980 2 000 Personen; heute sind es über 11 000. In Oberhausen stieg ihre Zahl im gleichen Zeitraum von 800 auf 5 100 Personen. Das heißt, diejenigen
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SchreinerRegionen, in denen der strukturelle Wandel in besonderem Maße greift, bezahlen die beschäftigungspolitische Untätigkeit der Bundesregierung damit, daß sie in wachsendem Maße ausbluten und zu Notstandsregionen zu verkommen drohen.Wenn man versucht, die Tatenlosigkeit der Bundesregierung auf diesem Feld zu bewerten — ich wiederhole: Sie spalten die Republik in arm und reich —, ergibt sich folgendes. Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit hat für die Bundesregierung in der Vergangenheit erkennbar nie eine wesentliche Rolle gespielt. Ihre soziale Botschaft war: Die Starken werden sich durchsetzen, die Schwächeren mögen sehen, wie sie zurechtkommen. Ihrer Politik ist ein soziales Gewissen völlig fremd.Ein besonders eklatantes Beispiel für die Behandlung des Themas Arbeitslosigkeit durch die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ist die Art und Weise, wie Sie mit der Initiative der Evangelischen Kirche Deutschlands zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit umgesprungen sind. Sie haben mit uns gemeinsam vor einem dreiviertel Jahr — das waren zumindest die Fraktionen der Regierungskoalition — beteuert, daß auf diesem Feld zwingender Handlungsbedarf besteht. Bis zum heutigen Tag, rund eineinhalb Jahre nachdem über die Initiative der Evangelischen Kirche zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Deutschen Bundestag gesprochen worden ist, ist nicht das Geringste geschehen. Sie haben sich ständig aus der Behandlung des Themas herausgestohlen und davor gedrückt.
Sie haben nicht ein einziges Mal versucht, mit uns auf diesem Feld etwas Konstruktives hinzubekommen. Es gab die erklärte Aussage der Regierungsfraktionen im Ausschuß. Ich frage die Regierungsfraktionen: Von wem lassen Sie sich eigentlich erpressen?
Warum haben Sie bisher Ihr Wort nicht gehalten, mit uns gemeinsam Initiativen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit im Deutschen Bundestag einzubringen?
Welches sind die Gründe dafür, daß Sie nach einem dreiviertel Jahr einen fortgesetzten Wortbruch begehen?
Wer in der Bundesregierung hindert Sie eigentlich daran, Ihren Fraktionswillen durchzusetzen? Wer hindert Sie eigentlich daran, Ihr eigenes Wort, das Sie uns und den Langzeitarbeitslosen gegeben hatten, zu halten? Sind Sie nur willenlose Hampelmänner, die von der Regierung vorgeführt werden, oder haben Sie einen eigenen Willen, der sich politisch auch durchsetzen kann?
Herr Kollege, diesen Begriff nehmen Sie bitte lieber wieder zurück.
Das ist doch in der Tat die Frage. Wenn die Fraktionen den Langzeitarbeitslosen das Wort gegeben haben, sie wollten in diesem Hause gemeinsam etwas tun, und sich nach über einem Jahr Behandlung dieses Themas überhaupt nichts bewegt, dann muß doch die Frage erlaubt sein,
was eigentlich diese Fraktionen überhaupt noch bewegen können oder ob sie nur noch ein willenloses Anhängsel der Regierungsbürokratie sind. Es muß doch erlaubt sein, diese Frage zu stellen.
Ich will Ihnen noch eines zur politischen Bewertung sagen, Herr Bundesminister. Wir haben handfeste Beweise und Anhaltspunkte — das kann man nachlesen — , daß die Wahlergebnisse z. B. der Republikaner in Berlin — und nicht nur in Berlin — zum erheblichen Teil auf das Konto arbeitsloser Jugendlicher gehen.
Das heißt, Sie haben einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen verzweifeltem Wahlhandeln von verzweifelten Jugendlichen und dem Aufkommen, dem Heraufdämmern eines neuen Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ich sage Ihnen: Die Republikaner, die NPD und andere radikale Strömungen sind im wesentlichen auch eine böse Frucht der Arbeitslosigkeit.
Sie züchten die Schlangen auf diesem Feld dadurch selbst, daß Sie dieser Entwicklung in den vergangenen Jahren völlig tatenlos gegenübergetreten sind.Es gibt eine Fülle von konkreten Beispielen, die zeigen, daß Sie durch Ihre Politik wesentlich mit dazu beigetragen haben, daß sich in der Bundesrepublik Deutschland immer mehr Haß und Angst auf Ausländer und Aussiedler projizieren.
Auch insoweit sind Sie durch Ihr arbeitsmarktpolitisches Versagen an dem drohenden Zerfall der politischen Stabilität in der zweiten deutschen Demokratie mitschuldig geworden.
Ich sage Ihnen ein weiteres Beispiel. Sie haben durch die neunte AFG-Novelle drastische Einsparungen bei dem einzigen Instrument vorgenommen, das in den vergangenen Jahren der Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit gedient hat,
an den Qualifizierungsmaßnahmen, an den AB-Maßnahmen. Sie haben deshalb gekürzt, weil Sie Luft haben wollten für zusätzliches Geld, Sprachförderung für Aussiedler, wohlwissend, daß in diesem Jahr Ihre eigenen Kalkulationen im Bereich der Sprachförderung um mindestens 1 Milliarde DM zu knapp liegen. Das heißt, Sie spielen die eine notleidende
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SchreinerGruppe gegen die andere Gruppe aus. Die Sprachförderung für Aussiedler ist eine verdammte Pflicht und Schuldigkeit der gesamten staatlichen Gemeinschaft, aber nicht der Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit, der Arbeitnehmer.
Das ist der wesentliche Unterschied.
Auch wir sind sehr dafür, die Integrationsbemühungen für die Aussiedler, die sich für unser Land entschieden haben, fortzusetzen. Es darf aber nicht einseitig auf dem Buckel der Arbeitnehmerschaft ausgetragen werden. Auch hier haben Sie Anhaltspunkte dafür geliefert, daß sich Haß und Ängste entwickeln können, die ihren politischen Niederschlag auch bei den Wahlen gefunden haben.
Wir sagen: Die gegenwärtige Situation bedarf einer doppelten Antwort. Sie bedarf erstens der Bekämpfung der Ursachen von Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in den notleidenden Regionen. Wir brauchen ausreichende, starke, bundesweit organisierte investive Sonderprogramme für die Notstandsregionen, für die Krisenregionen. Wir brauchen auch die Förderung und Konzentration von Forschungsvorhaben. In diesen Regionen verhält es sich zur Zeit genau umgekehrt.
Wenn wir auf Dauer Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in den Krisengebieten abbremsen wollen, müssen wir an die Ursachen herangehen. Dann müssen wir dort Ersatzarbeitsplätze schaffen, wo auf Grund des zunehmenden Beschäftigungsverlustes in den traditionellen Altindustrien enorme Beschäftigungsdefizite entstanden sind.Der zweite Punkt. Wenn man die Folgen von Massenarbeitslosigkeit bekämpfen will, braucht man die Wiederherstellung der traditionellen arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Wir brauchen darüber hinaus arbeitsmarktpolitische Sonderprogramme, die auf die besonderen Bedürfnisse insbesondere der Langzeitarbeitslosen zugeschnitten sind — über die herkömmlichen Instrumente hinaus.
Sie sind zu beidem nicht mehr in der Lage, weder zur Bekämpfung der Ursachen noch zur Bekämpfung der Folgen. Ihre Koalition befindet sich in der Agonie, in der Auflösung. Sie sollten das deutsche Volk vor Ihrer weiteren Regierungstätigkeit verschonen und eine demokratische Auszeit beantragen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag gibt uns in der Tat Gelegenheit, einige Fakten über die tatsächliche wirtschaftliche Situation in unserem Land und auch über die Arbeitsmarktpolitik und die Arbeitsmarktentwicklung darzustellen.Ich denke, Herr Schreiner, es wäre besser, wenn wir uns alle miteinander in dieser so wichtigen Frage nicht mit Schlagworten und Polemik oder gar mit Schwarzmalerei, sondern mit den Tatsachen auseinandersetzten.
Unsere Wirtschaft ist in hervorragender Verfassung in das nunmehr siebte Jahr des Aufschwungs gestartet.
Entgegen Ihren Vorhersagen noch im vergangenen Jahr, daß 2 bis 3 % wirtschaftliches Wachstum unerreichbar und völlig utopisch seien, haben wir im vergangenen Jahr ein Wachstum von 3,4 % erreicht
und damit den höchsten Zuwachs seit 1979.In so einer Situation, meine Damen und Herren, reden Sie z. B. in Ihrem Antrag davon, daß die wirtschaftliche Lage labil sei und daß wir uns in einer Stagnationsphase befänden.
Ich frage mich: Können oder wollen Sie denn die objektiv vorhandenen Fakten nicht sehen, oder sind Sie vielleicht einfach nicht in der Lage, aktuelle Tendenzen zu erkennen und auch die Konjunkturentwicklungen richtig einzuschätzen? Diese gute wirtschaftliche Entwicklung hat sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt.
Ich werde dies im folgenden auch darlegen: Seit dem Herbst vergangenen Jahres geht die Zahl der Arbeitslosen im Vorjahresvergleich ständig zurück. Die Arbeitslosenquote ist derzeit auf dem niedrigsten Stand seit 1982.
— Verfolgen Sie doch einmal die Zahlen, Frau Kollegin. — Falls Sie es vergessen haben sollten: In den letzten Jahren der SPD-geführten Bundesregierung, nämlich von 1980 bis 1982, hat sich die Arbeitslosenzahl nicht etwa nach unten, sondern nach oben bewegt,
und zwar in einer ganz rasanten Entwicklung, nämlich um über eine Million. Auch der Anstieg der Zahl
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9976 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Frau Hasselfeldtder offenen Stellen setzt sich kontinuierlich fort; im Februar 1989 gab es 24 % mehr offene Stellen als im Februar 1988. Noch interessanter ist die Entwicklung der Zahl der Beschäftigten. Seit dem Tiefpunkt der Beschäftigungsentwicklung vom Herbst 1983 ist die Zahl der Beschäftigten bis heute um fast eine Million gestiegen. Das sind die Anzeichen, das sind die Fakten auf unserem Arbeitsmarkt.
Ich möchte gar nicht im Detail darauf hinweisen, wie das während Ihrer Regierungszeit war. Sie haben nämlich Tausende von Arbeitsplätzen verspielt; man kann Ihnen das genau nachweisen. Zahlen sprechen hier mehr als Worte.
Heute spielen Sie sich als diejenigen auf, die ein Patentrezept für zunehmende Beschäftigung haben.Meine Damen und Herren, mit Schwarzmalerei, mit Schlagworten läßt sich langfristig keine Politik machen und läßt sich auch die Situation der Betroffenen nicht verbessern.
Ich denke, wir sollten die Diskussion an einem sachgerechten Problemaufriß und den sich daraus ergebenden Maßnahmen aufhängen.Wo liegen nun die Probleme? Die Arbeitsvermittlung ist am schwierigsten bei ungelernten Arbeitslosen, bei denen, deren Qualifikation am Arbeitsmarkt nicht gefragt ist,
sowie bei denjenigen, die gesundheitliche oder andere Einschränkungen haben. Deshalb war und ist neben einer vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik unsere Arbeitsmarktpolitik darauf ausgerichtet,
den sozialen Schutz einerseits und die Eingliederungsmöglichkeiten der Betroffenen andererseits zu verbessern. Deshalb haben wir auch die Voraussetzungen für die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld verbessert
und das für Fortbildung und Umschulung zur Verfügung stehende Geld stärker als bisher auf die Arbeitslosen konzentriert. Heute verlangen Sie noch mehr Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen, noch mehr Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und ähnliches. Vergleichen Sie doch einmal das, was Sie für diese Maßnahmen, für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen während Ihrer Regierungszeit ausgegeben haben in einer ähnlichen wirtschaftlichen undArbeitsmarktsituation, mit dem, was wir heute ausgeben!
Im Arbeitsbeschaffungsbereich waren beispielsweise 1982 unter 30 000, 1988 und sogar noch in diesem Jahr über 100 000 Arbeitnehmer bei Fortbildung. Bei Umschulung haben wir ein ähnliches Verhältnis.
Eine weitere Ausweitung — das muß uns allen klar sein — hätte eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zur Folge, und dies wollen wir den Beitragszahlern eben nicht zumuten.
Die Analyse des Arbeitsmarktes sollten wir nicht einseitig vornehmen. Wie ist denn die Realität in vielen Regionen und Branchen? Das Handwerk sucht händeringend Auszubildende,
und auch in den strukturschwachen Gebieten ist der Bedarf an Arbeitskräften vielfach nicht zu decken.
Mir erzählen viele mittelständische Unternehmer, daß die Auftragslage hervorragend sei, aber daß so mancher Auftrag wegen Mangel an geeigneten Fachkräften gar nicht angenommen werden könne.
Wir alle kennen doch aus Pressemeldungen die Klagen des Handwerks und der Industrie über den Facharbeitermangel. Angesichts einer solchen Situation kann man doch nicht von Massenarbeitslosigkeit und von der Notwendigkeit globaler Beschäftigungsprogramme sprechen.Wenn wir auf der einen Seite einen so enorm hohen Bedarf an gewerblich-technischen Facharbeitern, an Naturwissenschaftlern und an Ingenieuren haben wie heute, dann paßt es einfach nicht zusammen, wenn auf der anderen Seite ein zunehmendes Erwerbspotential insbesondere an Frauen vorhanden ist, die nach wie vor mehrheitlich in Dienstleistungs-, in Büro-, Verwaltungs- und Erziehungsberufe gehen wollen. Das sind Tatsachen.
Diese Diskrepanz können Sie auch mit einem Beschäftigungsprogramm, wie es auch immer angelegt sein mag, nicht aus der Welt schaffen.
Der Lösungsweg liegt vielmehr in einem entsprechenden Berufswahlverhalten sowie in Anpassungsmaßnahmen, die wir im Rahmen der Fortbildung und Umschulung seit Jahren erfolgreich praktizieren.Bei den Frauen liegen die Probleme natürlich etwas differenzierter. Tatsache ist, daß die meisten Frauen Beruf und Familie miteinander verbinden wollen, und das ist in der Praxis oft nicht ganz einfach, vor allem
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Frau Hasselfeldtwegen der fehlenden Teilzeitarbeitsplätze und wegen der Schwierigkeiten nach Zeiten der Kindererziehung.Dieses Problem ist im übrigen nicht neu. Sie hätten sehr lange Zeit gehabt, hier etwas für die Frauen zu tun. Sie haben in diesem Fall null Komma null für die Frauen getan.
Wir haben immerhin bei den letzten Novellierungen zum Arbeitsförderungsgesetz deutliche Verbesserungen beim Zugang zu den Qualifizierungsmaßnahmen mit durchgesetzt.
Zu Recht, Herr Schreiner, haben Sie von den unterschiedlichen regionalen Arbeitsmarktbedingungen gesprochen. Ich darf in diesem Zusammenhang aber darauf hinweisen, daß wir erst im vergangenen Jahr das Strukturhilfegesetz verabschiedet haben mit einer jährlichen Finanzhilfe von 2,45 Milliarden DM,
um die unterschiedliche Wirtschaftskraft in den einzelnen Ländern auszugleichen. Ich darf in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß bei den Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit, und zwar durch die Bank bei allen Ausgaben, ob das die arbeitsmarktpolitischen Ausgaben wie ABM oder Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen oder natürlich auch die Leistungen für die Arbeitslosen sind,
eine Umschichtung zwischen Süd und Nord stattfindet, daß hier mit Mitteln der Beitragszahler aus den strukturstärkeren Gebieten, im besonderen aus dem südlichen Teil unseres Landes, die strukturschwächeren Gebiete, insbesondere im Norden, unterstützt werden.
Im übrigen, meine Damen und Herren, ist es den Ländern unbenommen, mit einer entsprechenden regionalen Wirtschaftspolitik und auch durch Stärkung der Eigenkräfte der strukturschwachen Gebiete insgesamt zu ausgeglichenen Bedingungen beizutragen.
Beispielsweise in Bayern hat sich der Arbeitsmarkt in den ländlichen und revierfernen Gebieten positiv entwickelt.
— Da müssen Sie sich zunächst einmal konkret informieren, sehr geehrter Herr Ehrenberg. So hoch ist sie bei weitem nicht mehr.
Der Bezirk Deggendorf kommt schon nicht mehr in die Förderung durch ABM. In Bayern hat sich der Arbeitsmarkt in den ländlichen Gebieten positiv entwickelt. Sie können bei uns gerne Nachhilfeunterricht in Sachen regionale Wirtschaftspolitik, solide Haushaltsführung, Investitionstätigkeit des Staates oder auch Förderung der Kommunen nehmen.
Meine Damen und Herren, angesichts der hervorragenden konjunkturellen Entwicklung und deren positiver Wirkung auf den Arbeitsmarkt ist Ihr Antrag überflüssig. Er beinhaltet Pauschalbeurteilungen und Pauschalforderungen, die den tatsächlichen Gegebenheiten und Problemen eben nicht Rechnung tragen. Die bisherige wirtschaftliche Entwicklung sowie deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben alle Ihre negativen Prognosen Lügen gestraft.
Sie haben gezeigt, daß wir auf dem richtigen Kurs sind, und auf dem werden wir auch fortfahren.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Frieß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde!
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist wieder einmal auf der Tagesordnung. Wir alle reden drüber, doch alles bleibt beim alten.
Die Bundesregierung verkündet wie immer — das haben wir ja gerade gehört — , alles sei bestens, jeder, der Arbeit suche, finde auch welche.
Die wirtschaftliche Lage sei nicht zu beklagen. Mich wundert allerdings, daß Sie sogar bei Ihrem jetzigen Zustand nicht ein bißchen kleinlauter geworden sind.Konkret heißt das dann: Die Unternehmer machen Gewinne, der Erwerbslose wird aus seiner Wohnung geschmissen. Die Tornados und die Leopards werden gekauft, die Sozialhilfeempfängerin hat nichts zum Essen. Doch nach Meinung der CDU
geht es uns ja so gut.Ich denke, Sie von der CDU/CSU und der FDP sollten doch endlich einmal zugeben, daß es Sie einen
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Frau FrießDreck interessiert, den Arbeitslosen wirklich Arbeit zu beschaffen.
Ja, Sie haben sogar ein verschärftes Interesse daran, eine hohe Anzahl Erwerbsloser als Druckpotential zu erhalten.
Die einzige Arbeitsmarktpolitik, die Sie derzeit betreiben, ist Statistiken zu manipulieren, Erwerbslose als Faulpelze zu diskriminieren und Frauen als Zuverdienerinnen zu diffamieren.
In den letzten Jahren hat die Bundesregierung nichts unversucht gelassen, die Erwerbslosenstatistik so niedrig wie möglich zu halten.
Deshalb hat sie Ausländerinnen mit einer Rückkehrhilfe abgeschoben, über 60 000 ältere Menschen per Gesetz aus der Statistik gelöscht und erwerbslose Frauen mit Kindern als dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehend erklärt. Menschen, die sich nicht alle drei Monate beim Arbeitsamt melden, sind ab sofort abgemeldet.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung auch sogenannte Beschäftigungsmaßnahmen wie ABM geschaffen, die einzig und allein dem Zweck dienen, Menschen zu verwahren und aus der Statistik zu verbannen, ganz zu schweigen von den Menschen, von denen Sie von der CDU immer schweigen: von der sogenannten stillen Reserve, von den mindestens 1,5 Millionen Menschen — es sind vor allem Frauen —, die auf Ihre Versprechungen überhaupt keinen Pfifferling mehr geben und sich deshalb gar nicht erst erwerbslos melden.Im Klartext heißt das: Die Bundesregierung hat die Arbeitslosenstatistik um mindestens 2 Millionen Menschen bereinigt. Anstatt Ihrer beschönigenden Zahl von 2 Millionen gibt es folglich mindestens 4 Millionen Erwerbslose.
— Das muß sie ja auch nicht.Davon ist fast jeder Zweite über ein Jahr ohne Arbeit; mindestens jeder Dritte bezieht keine Leistungen nach dem AFG mehr und fällt entweder in die Sozialhilfe oder ist auf sonstige Almosen angewiesen.Doch das ist Ihnen von der CDU/CSU und FDP im Grunde ganz egal. Hauptsache, die Wirtschaft flutscht und Ihre Pfründe sind gesichert.
Die Verdoppelung der Unternehmergewinne seit 1980 um 250 Milliarden DM, Ihre Investitionen in Rationalisierungen und menschenvernichtende Rüstungsproduktion sprechen eine deutliche Sprache.
Für den Normalbürger, den erwerbslosen Tay E. mit drei Kindern, springt nichts heraus, und das wollen Sie auch nicht; denn Sie brauchen diese Erwerbslosen. Sie brauchen die Ausgegrenzten als Spiegelbild für die anderen, um diesen zu zeigen, wie es ihnen ergehen könnte und wie gut es ihnen jetzt noch geht. Dabei schaffen Sie ein Klima der Angst, das Ihnen den massiven Abbau von Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenrechten und ihrer Interessenvertretung erleichtert, nach dem Motto Ihres Ministers Blüm: „Ein befristeter Vertrag ist besser als kein Vertrag."Beispiele hierfür gibt es genug. Es sei erinnert an das Beschäftigungsförderungsgesetz, besser zu nennen: Entlassungsförderungsgesetz, an die Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes und an die geplante Änderung des Ladenschlußgesetzes.
Ihr Interesse ist dabei, Menschen verschiedener Klassen zu schaffen. Die Ausgegrenzten, die selber schuld an ihrer Misere sind, den abgesicherten Facharbeiter und dazwischen die größere Zahl derer, die je nach konjunktureller Lage geheuert oder gefeuert werden.Wenn Ihr Kollege Herr Wagner jetzt von einer Koalition mit den Republikanern spricht, dann sind Sie sich mit den Rechtsextremen auf jeden Fall in einem Ziel einig,
in dem Ziel die deutsche Volksgemeinschaft der „Leistungswilligen" zu schaffen, d. h. den braven, autoritätshörigen, leistungswilligen deutschen Arbeiter, der flexibel zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung steht, heranzuziehen.
— Können Sie bitte wieder leise sein?
Augenblick, ich glaube schon, daß wir einer neuen Kollegin die Möglichkeit geben sollten, in Ruhe zu Ende zu lesen. Zwischenrufe sind erlaubt, aber man darf es nicht übertreiben; man muß auch die Chance geben.
Bitte schön, Frau Frieß.
Alle Menschen, die nicht in dieses Bild passen, werden ausgegrenzt und abgeschoben, auch der Ausländer und die Ausländerin, die
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Frau Frießin Ihren Augen der deutschen Volksgemeinschaft nicht dienen, sondern diese nur ausnutzen wollen. Das Bündnis schwarz-braun ist in dieser Frage perfekt.
Zum Schluß noch zu Ihnen von der SPD. In der Opposition haben Sie ja immer eine große Klappe. Sie wollen alles im Interesse der Menschen verändern. Doch was bieten Sie als Lösung an? Sie wollen die Wirtschaft ankurbeln; das steht in Ihrem Arbeitsmarktpapier. Das will die CDU auch.
Sie wollen die Erwerbslosigkeit der Deutschen, allerdings auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf EG-Ebene beseitigen. Das will auch die CDU.Sie wollen der Wirtschaft nicht wehtun, und dabei wissen Sie, daß das Heilmittel Wirtschaftswachstum eher Arbeitsplätze wegrationalisiert als schafft. Ihnen ist deshalb auch klar, daß nur durch Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur Änderungen möglich sind, und dazu sind Sie von der SPD nicht bereit.Die Koalitionsvereinbarung in Berlin zur Gewerbesteuer und zur Ausbildungsplatzabgabe verdeutlicht dies. Ihr Gerede von einer Änderung ist, wenn Sie nichts Gegenteiliges beweisen, nur eine hohle Phrase.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Prognosen der Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung sind, wie jedermann weiß, oft ein Glücksspiel, Herr Kollege Schreiner. Dies muß auch die SPD mit ihrem im vorigen Jahr eingebrachten Antrag erfahren. Der vor einem Jahr prognostizierte Konjunkturabschwung und die Einmüdung in eine Stagnationsphase haben nicht stattgefunden. Die Realitäten sehen ganz anders aus: reales Wirtschaftswachstum 3,5 %, Preissteigerungsrate 1,5 %, Zunahme des privaten Verbrauchs 3 %.
— darauf komme ich noch — , deutliche Zunahme der Investitionen sowie der Ex- und Importe. Das ist ein Erfolg unserer Politik.
Herr Kollege Schreiner, wenn Sie sich hier hinstellen und die strukturelle Problematik beklagen, dann darf ich darauf verweisen, daß wir ein Strukturhilfegesetz mit jährlich 2,4 Milliarden DM für Dorfsanierungen, Erschließungen und Wiedernutzbarmachungen von Gewerbeflächen sowie für Umweltschutzmaßnahmen verabschiedet haben. Alles das, was Sie hier vorgetragen haben, haben wir schon realisiert.
Das ist ein Beitrag für strukturschwache Gebiete und ein Beitrag für mehr Beschäftigung.
Selbst auf dem weiterhin problematischen Arbeitsmarkt hat es nicht, wie von manchen befürchtet, Einbrüche gegeben. Wenn jetzt sogar der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit — er ist ja nicht gerade wegen überschäumenden arbeitsmarktpolitischen Optimismusses bekannt — vorsichtig andeutet, die Zahl der Arbeitslosen könnte im Jahresverlauf unter die 2-
Millionen-Grenze sinken, so zeigt dies die positive Beschäftigungsentwicklung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?
Ja, bitte schön.
Bitte schön, Herr Schreiner.
Herr Kollege Heinrich, würden Sie mir erstens einräumen, daß das sogenannten Strukturhilfegesetz der Bundesregierung von den Bundesländern mehr oder weniger aufgenötigt werden mußte und würden Sie mir zweitens einräumen, daß das Volumen des Strukturhilfegesetzes nicht annähernd ausreicht, die Beschäftigungsverluste in den traditionellen Altindustrien einigermaßen zu kompensieren, und würden Sie mir drittens einräumen, . . .
Zwei sind nur erlaubt, Herr Schreiner.
... daß der gerade zitierte Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in den letzten Jahren mehrfach öffentliche Investitionsprogramme gefordert hat?
Nach unseren Regeln kann man eine Frage zweiteilen, aber nicht dreiteilen. — Sie brauchen also nur die ersten zwei beantworten.
Herr Kollege Schreiner, Sie können sich nicht hier hinstellen und uns Untätigkeit vorwerfen. Wir machen Programme, wir finanzieren diese Programme mit, und Sie sagen dann: Das alles hat keinen Wert. Wo ist hier Ihre Logik der Argumentation?
Lassen Sie mich das mit einigen Fakten vom Februar 1989 untermauern: 210 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr, 16 % mehr offene Stellen bei den Arbeitsämtern — da kann man unterstellen, daß tatsächlich noch mehr vorhanden sind —, niedrigste Arbeitslosenzahl von Jugendlichen unter 20 Jahren in einem Februarmonat seit 1980 — die Frau Kollegin hat darauf schon hingewiesen — , Rückgang der Kurzarbeiterzahl um 43 % gegenüber dem Vorjahr, 190 000 Er-
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9980 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Heinrichwerbstätige mehr im Vergleich zu den Vorjahreszahlen, saisonbereinigte Arbeitslosenzahl 2,051 Millionen, Arbeitslosenquote 8,9 % gegenüber 9,9 % vor einem Jahr. Nehmen Sie diese Zahlen doch zur Kenntnis und polemisieren Sie hier nicht herum.
Diese positive Entwicklung war nur durch eine solide Wirtschaftspolitik und eine aktive Arbeitsmarktpolitik möglich.
— Von 1982 bis 1988, Frau Kollegin Steinhauer, wurden mehr als doppelt so viel Finanzmittel für den Arbeitsmarkt aufgewandt,
und zwar 7 Milliarden DM 1982 und über 15 Milliarden DM 1988.
Diese Zahlen stehen im deutlichen Widerspruch zu der von der Opposition immer wieder behaupteten Untätigkeit unsererseits.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die jüngsten Beschlüsse im Zusammenhang mit dem Kassensturz in dieser Woche sind genau in der richtigen Richtung.
Jetzt lassen Sie sich einmal aufklären.
— Jetzt hören Sie doch zu. Sie können überhaupt nicht argumentieren, wenn Sie meine Argumente nicht gehört haben.
— Das ist das Problem.Sowohl die Förderung des Wohnungsbaus als auch insbesondere die als Sonderausgabe abzugsfähige Familien- und Pflegehilfe werden zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Bei letzteren kann man mit mehr als hunderttausend neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen rechnen.
Diese Arbeitsverhältnisse bringen rund eine halbe Milliarde DM Mehreinnahmen in die Sozialversicherungskassen. Im ganzen ist das deshalb ein sehr sinnvoller und vor allem auch ordnungspolitisch richtiger Weg.Gerade bei der Arbeitslosenquote verdeckt die magische Prozentzahl, welche Bewegung sich auf demArbeitsmarkt vollzieht. 1988 hat es 3,67 Millionen Zu- und Abgänge aus der Arbeitslosigkeit gegeben.
Deshalb fordern wir, nicht nur die Zu-, sondern auch die Abgänge aus der Arbeitslosigkeit in den üblichen Monatsberichten zu erfassen.Wenn trotz des deutlichen Beschäftigungsanstiegs die Arbeitslosigkeit nicht stärker abgenommen hat, so ist das zum einen auf die wachsende Sogwirkung zurückzuführen, die eine positive Arbeitsmarktsituation ausübt, und zum anderen auf die zunehmende, von uns positiv beurteilte Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie auf die weiterhin verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängenden geburtenstarken Jahrgänge.Positiv hat sich insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit entwickelt. Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit lag bei Jugendlichen unter 20 Jahren bei 4,2 Monaten, unter 25 Jahren bei 4,5 Monaten, während sie ansonsten bei 6,7 Monaten liegt. In bestimmten Regionen und Berufen sind die Auszubildenden knapp,
und das nicht nur in den Fertigungsberufen. So kamen in Bayern auf einen nicht vermittelten Bewerber 14 unbesetzte Ausbildungsstellen, in Baden-Württemberg 8 und in Nord-Bayern 7.
Zunehmender Fachkräftemangel, aber auch Mangel an einfachen qualifizierten Arbeitnehmern wird von Betrieben aus vielen Teilen der Bundesrepublik beklagt,
obwohl Hunderttausende Arbeitsuchende und Arbeitswillige registriert sind. Warum ist es für Betriebe in Gebieten mit niedriger Arbeitslosigkeit nicht möglich, Fach- und Hilfskräfte zu bekommen, während oftmals nur wenige Kilometer entfernt die Arbeitslosenquote signifikant höher liegt? Hier darf ich an den Kollegen Cronenberg erinnern, der immer wieder sagt,
in Dortmund liege die Arbeitslosigkeit bei über 15 %, und in der Ortschaft, aus der er kommt, aus Arnsberg im Sauerland, eine halbe Autostunde von Dortmund entfernt,
seien keine Facharbeiter zu bekommen. Das ist doch das Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9981
HeinrichIch wehre mich gegen generelle Bestrebungen, nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Statistik zu bekämpfen.
Das ist ein falscher Weg.
Wir müssen aber, so meine ich, stärker als bisher den einzelnen ins Blickfeld nehmen. Da gibt es den durch Konkurs seiner Firma arbeitslos gewordenen älteren Buchhalter ohne Computerkenntnisse. Es gibt aber auch denjenigen, der sich mit Arbeitslosenhilfe und ein wenig Schwarzarbeit häuslich eingerichtet hat und ansonsten seinen Hobbys — Pilze suchen, Gartengestaltung — nachgeht.
— Das gibt es. Das ist eine realistische Schilderung.
— Jetzt hören Sie einmal weiter zu. Es gibt aber auch eine leider immer größer werdende Zahl von Langzeitarbeitslosen,
und zwar trotz guter Konjunktur und einer weiteren Zunahme der Zahl der Beschäftigten.
— Ach, Herr Schreiner, ich dachte schon — —
— Wir haben doch beides. Jetzt hören Sie doch zu. Sie können doch nicht leugnen, daß die Schilderung vorhin nicht realistisch war.
Ich wiederhole: Es gibt eine leider immer größer werdende Zahl von Langzeitarbeitslosen, und zwar trotz guter Konjunktur und einer weiteren Zunahme der Zahl von Beschäftigten. Die Gründe, die zur Langzeitarbeitslosigkeit führen, sind weitestgehend bekannt: Einem immer anspruchsvoller werdenden Arbeitsmarkt steht eine Gruppe von unqualifizierten oder nicht qualifizierbaren,
häufig auch älteren oder behinderten Menschen gegenüber.
— Auf die Frauen komme ich noch zu sprechen. — Für den Bereich der Langzeitarbeitslosen wird es höchsteZeit, daß die erfolgreichen Modelle, die ja schon existieren, in der Breite umgesetzt werden.
Die Tarifparteien müssen erkennen, daß sie nicht nur für die Menschen tätig sein dürfen, die in Arbeit sind, sondern daß sie auch aufgefordert sind, sich mehr um diejenigen zu sorgen, die draußen stehen. Den Handlungsspielraum dafür haben die Tarifparteien. Nur, sie handeln nicht.Ich fordere auch die Kirchen, die Kommunen, die Arbeitsverwaltung, die Wohlfahrtsverbände und natürlich auch uns selber auf
— ach, Sie können halt nicht zuhören — , sich zusammen an einen Tisch zu setzen und dieses Problem einfallsreich, kreativ anzugehen. Um erfolgreich zu sein, muß sicher auch noch ein großer Berg von Bürokratie beiseite geschafft werden. Auch das behindert intelligente und kreative Modelle.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Unruh?
Bitte sehr.
Bitte schön, Frau Unruh.
Herr Kollege, sind Sie nicht meiner Meinung, daß wir als Gesetzgeber über das Arbeitsförderungsgesetz Maßnahmen zu ergreifen haben, daß es nicht so viele Arbeitslose geben darf, deren Existenz nicht gesichert ist?
Wollen Sie jetzt eine Antwort von mir haben, oder wollen Sie die Antwort geben? Dann können Sie sich hinterher draußen unterhalten.
Frau Kollegin, wir haben im Arbeitsförderungsgesetz eine Vielzahl von Schwerpunkten gebildet, und wir konzentrieren unsere Mittel auf genau die Problemgruppen, die ich soeben genannt habe, nämlich auf die Arbeitslosen und auf die von Arbeitslosigkeit Bedrohten. Ich glaube deshalb, daß das auf Grund der finanziellen Lage der richtige Weg ist.Zur Gruppe der besonders zu Fördernden gehören auch Frauen, die nach der Familienphase wieder erwerbstätig werden möchten. Es wurden Modelle eingerichtet — auch die haben Sie offensichtlich gar nicht zur Kenntnis genommen — , deren Aufgabe es ist, Berufsrückkehrerinnen in der zweiten Lebenshälfte, die zukunftsträchtige Berufe zu ergreifen wünschen, zu beraten und sie über betriebsnahe Qualifizierungsmaßnahmen und Möglichkeiten zur erneuten Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu informieren.
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9982 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
HeinrichWerte Kolleginnen und Kollegen, wir haben einmal zusammenstellen lassen, was an Lohnkostenbeihilfen im Zusammenhang mit Neueinstellungen von Arbeitnehmern nach den verschiedensten Gesetzen gewährt wird. Das ist ein Betrag von insgesamt über 1,61 Milliarden DM. Diesen erheblichen Betrag sollten wir, meine ich, nicht in vielen Maßnahmen verkleckern, sondern wir sollten statt dessen lieber klotzen. Es auf einige wenige Maßnahmen zu beschränken, nämlich auf Maßnahmen für die besonders Betroffenen, erscheint mir dringend notwendig. Insofern stellt die umstrittene 9. AFG-Novelle einen richtigen Schritt in diese Richtung dar, denn die Arbeitsverwaltung hat nunmehr die Möglichkeit, Frau Kollegin, die vorhandenen begrenzten Ressourcen im Rahmen ihres Ermessens auf besonders Hilfsbedürftige zu lenken.Nachdenklich stimmt auch, daß sich fast 70 000 Nicht-Leistungsempfänger in den letzten drei Monaten nicht bei der Bundesanstalt für Arbeit gemeldet haben und — entgegen der gesetzlichen Regelung — weiterhin in der Statistik geführt werden. Hier muß man nachfragen. Nachdenklich stimmt es auch, wenn nach dem Mikrozensus 1987 jeder fünfte Erwerbslose nicht kurzfristig, d. h. innerhalb von 14 Tagen, verfügbar sein soll. Selbst wenn diese Zahl zum Teil auf die unterschiedlichen Erhebungsmethoden zurückzuführen ist, sollte man, so meine ich, auch dem nachgehen.
Gerade weil wir trotz vorhandener Lichtblicke auf dem Arbeitsmarkt weiterhin für ältere und weniger qualifzierte Mitbürger erhebliche Arbeitsmarktprobleme sehen, halten wir die Verlängerung befristeter arbeitsrechtlicher Regelungen für unerläßlich.Die SPD-Forderungen sind ja nicht neu: Beschäftigungsprogramme, Herr Schreiner, wenn auch unter neuem Titel, und Arbeitsmarktabgabe. Wie das Ungeheuer von Loch Ness taucht diese Vorstellung von Zeit zu Zeit bei den Sozialdemokraten auf. Eine Arbeitsmarktabgabe würde aber gerade die kleinen Selbständigen, die alle wirtschaftlichen Risiken alleine zu tragen haben und die die eigentlichen Träger jedes Beschäftigungsaufschwungs sind, zusätzlich belasten.
Welche Konsequenzen dies für den ersten Arbeitsmarkt haben wird, ist unschwer zu erraten: nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze.
In die gleiche Richtung zielt auch die SPD-Vorstellung eines Sechsstundentages. Schon jetzt sind wir Weltspitze bei der Arbeitszeitverkürzung.
Arbeitszeitverkürzungen sind, so meine ich, nur dann vertretbar, wenn gleichzeitig entsprechende Flexibilität gesichert ist.
In diesem Kontext sehe ich den Tarifabschluß in der Druckindustrie als ein problematisches Signal an. Denn wir in der Bundesrepublik Deutschland können beim schärfer werdenden europäischen Wettbewerb nicht so tun, als befänden wir uns auf der Insel der Seligen, die unabhängig von der Entwicklung um sie herum nur nach eigenem Gutdünken verfahren können.
Man muß feststellen: Manche haben dies noch nicht erkannt. Auf Grund Ihrer Zwischenrufe komme ich zu dem Ergebnis, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, dazugehören.Wenn darüber hinaus die Personalzusatzkosten weiter steigen, so ist das ein Alarmsignal.
Wir müssen deshalb verstärkte Anstrengungen unternehmen, um den Produktionsstandort Bundesrepublik weiter attraktiv zu halten. Wir müssen auch weiterhin Anstrengungen zu einer sinnvollen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unternehmen, aber wir dürfen nicht mit den Rezepten aus der Mottenkiste Politik machen, denn dadurch sichern wir nicht Arbeit und Beschäftigung, sondern bekommen genau das Gegenteil: Wir gefährden Arbeitsplätze.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen von der SPD, ich hätte mir eigentlich gewünscht, daß diese Aussprache heute morgen etwas sachlicher verläuft. Wenn Sie mir genau zugehört hätten,
hätten Sie sehr wohl feststellen können, daß wir in der Vergangenheit positive Entwicklungen verzeichnen konnten, und Sie hätten gemerkt, daß ich zukunftsgerichtete Vorschläge dafür gemacht habe, wie man mit dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit fertig werden und beim Problem der Eingliederung von Frauen einen Schritt vorankommen kann. Leider Gottes war es durch Ihre unqualifizierten Zwischenrufe nicht möglich, hier in einen konstruktiven und fruchtbaren Dialog einzutreten.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Beitrag des FDP-Kollegen war von Überheblichkeit und von Desinteresse am Schicksal der Arbeitslosen gekennzeichnet.
Was werden die Arbeitslosen im ArbeitsamtsbezirkHeide in Schleswig-Holstein zu dem Beispiel mit denPilzen sagen? Dort ist jeder fünfte arbeitslos. Herr Kol-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9983
Heyennlege Heinrich, Sie haben hier einen zynischen Beitrag zu Lasten der Arbeitslosen geleistet!
Wir haben Massenarbeitslosigkeit. Ich will Ihnen eine ganz nüchterne Zahl nennen: 685 000 Langzeitarbeitslose sind statistisch erfaßt. Wenn man die statistischen Bereinigungen der vergangenen Jahre berücksichtigt, sind es mehr als 800 000. 350 000 davon sind schon mehr als zwei Jahre arbeitslos. Herr Kollege Heinrich, hören Sie zu! Das sind nicht doppelt so viele, das sind viermal so viele wie im Jahr 1982, die mehr als zwei Jahre arbeitslos sind.
Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit beträgt zur Zeit 13,6 Monate.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
Bitte, die Zeit wird ja nicht angerechnet.
Herr Kollege Heyenn, wenn Sie meiner Rede richtig zugehört haben: Können Sie mir zustimmen, daß ich sowohl den pilzesammelnden Arbeitslosen mit zusätzlich als Schwarzarbeit ausgeübter Nebentätigkeit als auch die entsprechende Problematik erwähnt habe, und können Sie bestätigen, daß diese Situationsbeschreibung zutrifft?
Herr Kollege Heinrich, Sie wissen genausogut wie ich, daß nach Untersuchungen der Bundesanstalt für Arbeit maximal 3 % bis 4 % der registrierten Arbeitslosen scheinarbeitslos sind. Mit solchen Beispielen wie dem, das Sie gewählt haben, diffamieren Sie die gesamten Arbeitslosen in der Bundesrepublik und stellen sie ins gesellschaftliche Abseits.
— Kollege Scharrenbroich, Ihr Verhalten gegenüber den Arbeitslosen, die Verarmung, die soziale Deklassierung als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist ein Skandal. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nehmen die Realität einfach nicht mehr wahr.
Sie täuschen — wir haben eben ein Beispiel dafür erlebt — die Bürger, um Ihr eigenes Nichtstun zu verschleiern. Tatsache ist doch: Es gibt rund eine halbe Million gemeldete Arbeitslose mehr als 1982. Tatsache ist: 1983 hat die Regierung Kohl einen Rückgang der Arbeitslosigkeit um eine Million versprochen. Herausgekommen ist kein Rückgang, herausgekommen ist ein Anstieg um eine halbe Million.
Die wachsende Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, ist ein besonderes Problem der altindustrialisierten Regionen. Dort sind fast 40 % der Arbeitslosen Dauerarbeitslose. Die regionalen Entwicklungslinien laufen grundgesetzwidrig weit auseinander. Die Sozialhilfelasten in den altindustrialisierten Regionen wachsen ins Unerträgliche.
Herr Abgeordneter Heyenn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schemken?
Wenn Sie sie mir nicht auf die Zeit anrechnen, Herr Präsident.
Ich werde es nicht tun.
Herr Kollege Heyenn, können Sie bestätigen, daß 1983 und später Wirtschaftsinstitute und insbesondere der DGB, aber auch Ihre Fraktion teilweise Arbeitslosigkeit in Höhe von 3 Millionen, 3,5 Millionen und 4 Millionen vorausgesagt haben?
Das ist in der Gesellschaft mit Sicherheit prognostiziert worden, Herr Kollege Schemken. Wenn ich die Arbeitslosen in der stillen Reserve und diejenigen, die Sie aus der Statistik herausmanipuliert haben, zu den fast 2,5 Millionen gemeldeten Arbeitslosen addiere, bin ich exakt bei dieser Zahl.
Die Gewerkschaften, die Kirchen und wir fordern seit langem gezielte Maßnahmen zur Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose. Unser Antrag vom Dezember 1987 liegt dem Hause vor:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die von der Evangelischen Kirche Deutschlands vorgelegte Denkschrift Gezielte Hilfen für Langzeitarbeitslose unverzüglich aufzugreifen und dem Deutschen Bundestag alsbald ein Konzept zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zuzuleiten.Die Bundesregierung hat nicht reagiert. Sie hat kein Konzept erarbeitet, sie hat andererseits auch nicht erklärt, daß sie ihre Hausaufgaben nicht zu tun gedenke. Sie hat einfach nichts gemacht. Sie hat versucht, das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit einfach auszusitzen. Das führt zur Regierungsunfähigkeit, und diesen Zustand, meine Damen und Herren, führen Sie uns heute vor.Ich erinnere erneut an das Ergebnis der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung am 18. Juni 1988. Der Kollege Egert hat damals als Ausschußvorsitzender gesagt: Es geschieht im Leben eines Ausschußvorsitzenden selten, daß ihn alle Fraktionen autorisieren, eine gemeinsame Erklärung abzugeben. Er hat dann gesagt, daß sich alle Parteien fest vorgenommen haben, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken.Das haben die Mitglieder der Koalitionsfraktionen offenbar sofort nach der Sitzung vergessen. Wollten sie nicht, oder durften sie nicht? Gleich nach dieser
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9984 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
HeyennAnhörung kam die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz. Das war ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die, wie die evangelische Kirche, Hilfen für Langzeitarbeitslose gefordert haben. Aber Sie haben die noch vorhandenen Hilfen abgebaut.
Die Qualifizierungsmaßnahmen werden durch die 9. Novelle massenweise abgebaut. Diese Maßnahmen vor dem Hintergrund der notwendigen Vorbereitung auf den europäischen Binnenmarkt abzubauen ist töricht und dumm. Das Wissen und das Können der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind der entscheidende Standortvorteil der Bundesrepublik Deutschland, den es zu erhalten gilt.Wie die Faust aufs Auge paßt zum Abbau der Qualifizierungsmaßnahmen das Gejammere Ihrer Freunde über den Fachkräftemangel.
Auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden in großem Umfang abgebaut, bundesweit 24 To weniger Mittel. Durch die massive Kürzung der Mittel wie der Förderungssätze werden Selbsthilfegruppen, die finanzschwachen Kommunen und die Wohlfahrtsverbände aus dem Kreis der Träger von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgegrenzt.Wir fordern wie die evangelische Kirche, wie die Gewerkschaften eine Erweiterung des öffentlich geförderten Arbeitsmarkts und ein Dauerkonzept, denn das bisherige ABM-Konzept ist überholt. Bei der Fortentwicklung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, meine Damen und Herren, muß es um normale Investitions- und Dienstleistungsaufgaben der Kommunen gehen. Gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Aufgabenfelder müssen besetzt werden. Dabei geht es vorrangig um die ökologische Erneuerung und die Modernisierung sozialer Dienste.Der Industriegesellschaft geht die Arbeit nicht aus. Im Gegenteil: Arbeit liegt brach. Bei der Erweiterung des öffentlich geförderten Arbeitsmarkts müssen vorrangig Beschäftigungen für die inzwischen annähernd 800 000 Langzeitarbeitslosen gefunden werden.Wir fordern eine Regionalisierung der Arbeitsförderung. Wir fordern gezielte Maßnahmen zum Abbau der Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Wir fordern eine konsequente Bekämpfung der illegalen Beschäftigung. Wer glaubt, die Probleme mit der Einführung eines Sozialversicherungsausweises lösen zu können, der hat von den Realitäten keine Ahnung.
Wir fordern Sie auf: Beenden Sie Ihr kaltschnäuziges Nichtstun. Statt die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, bekämpfen Sie die Arbeitslosen und die Statistik. Kohl, Späth, Geißler wollen Hunderttausende aus der Statistik werfen, nach dem Motto: Da sind Leute gemeldet, die die Gesellschaft ausnutzenund nicht daran denken zu arbeiten — die Pilze des Kollegen Heinrich.
Da wird frech behauptet, 500 000 suchten nur einen Teilzeitarbeitsplatz. Keiner kann die Zahl belegen; sie ist frei erfunden. Da wird frech behauptet, 300 000 Arbeitslose leisteten Schwarzarbeit. Das ist eine böse Unterstellung, das ist billiges Stammtischniveau.
Da wird frech behauptet, 300 000 bis 400 000 Arbeitslose seien nicht vermittelbar. Wer soll das eigentlich sein? Wen schreiben Sie da eigentlich kaltschnäuzig ab?Tatsache ist: Unser System der Arbeitsförderung ist gegen Ausbeutung geschützt. Tatsache ist: Der Anteil unechter Arbeitsloser ist verschwindend klein. Tatsache ist: Es gibt gravierende Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt. Heißt das, wenn ich Sie richtig verstehe, daß dort, wo die Arbeitslosenquote sehr hoch ist — wie bei mir in Heide in Schleswig-Holstein — , die Menschen zehnmal so faul sind wie in anderen Ecken dieser Republik? Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Sie haben es immerhin geschafft — da will ich Ihnen einen Erfolg attestieren — , rund 170 000 Arbeitslose wegzudefinieren. In der Arbeitslosenstatistik sind Sie erfolgreich, ohne daß ein einziger Arbeitsloser zusätzlich in Arbeit gekommen wäre.
Da kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen: weiter so, CDU/CSU! Schon mehr als 100 000 arbeitslose Leistungsempfänger sind offiziell aus der Statistik verschwunden, davon rund 62 000 ältere, die auf ihre Rente warten, fast 42 000 vorübergehend Kranke.Seit einem guten Jahr haben Sie mit der 8. Novelle zum AFG beschlossen, Arbeitslose, die weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe beziehen und drei Monate nicht mehr beim Arbeitsamt waren, aus der Statistik zu streichen. Das Motiv war klar: Flächendeckend angewandt, kann man so eine Menge Arbeitslose loswerden. Bis zu 60 000 sind schon aus der Statistik verschwunden,
170 000 Arbeitslose wurden statistisch weggedrückt, aber noch immer gibt es eine halbe Million mehr Arbeitslose als 1982.
Das sind „Erfolge".
Für die Statistikmanipulationen sind nicht die Arbeitsämter verantwortlich zu machen, denn sie müssen nach den Vorgaben der Koalition arbeiten. Der rüde Ton des Bundesarbeitsministers gegenüber dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, er werde ihn zum Vollzug des AFG rechtsaufsichtlich anweisen, ist schon ein neuer Stil unter christlichen Partei-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9985
Heyennfreunden. Das ist, meine ich, Ausdruck der Endzeitstimmung der Koalition.Der Minister will, daß sich die Arbeitsämter vorrangig mit der Statistikbereinigung befassen, statt Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln. Ist das nicht ein trauriges Beispiel Ihrer Unfähigkeit zu regieren?Die wundersame Abnahme der Arbeitslosenzahl in den letzten Monaten erklärt sich, abgesehen vom ausgefallenen Winter, aus eben dieser Statistikbereinigung.
Als nächstes wollen Sie die Arbeitslosenstatistik vom Grunde her frisieren. In den Vermerken des Arbeitsministeriums heißt es: Der Minister wünscht, vom BMA aus künftig die auf alle Erwerbspersonen bezogene Arbeitslosenquote zu verwenden bzw. stärker in den Vordergrund zu stellen. Damit kann man, zugegeben, die Arbeitslosenquote um fast einen Prozentpunkt senken, ohne auch nur einen einzigen Arbeitslosen zusätzlich vermittelt zu haben. Der Minister wünscht ein schöneres Erscheinungsbild der Arbeitsmarktstatistik.
Es ist wie bei der Gesundheitsreform: Eine schreckliche Sache soll schöngeredet werden; aber den Menschen wird nicht geholfen.Unser Kollege Kraus von der CSU hat vor 14 Tagen die Bundesregierung gefragt: Wie bewertet sie, die Bundesregierung, die Tatsache, daß in den Niederlanden durch Durchforstung der Arbeitslosenstatistik und Änderungen der Kriterien zur Feststellung der Arbeitslosigkeit die gezählten Arbeitslosen zum 1. Januar 1989 auf 430 000 gesunken sind, während am Tag zuvor noch 700 000 Arbeitslose gezählt wurden?Die Antwort: Die Bundesregierung verfolgt mit Interesse das Experiment in den Niederlanden.
Tatsache ist, meine Damen und Herren: Die Botschaft der Bundesrepublik in Den Haag hat zu Jahresanfang den Arbeitsminister, den Wirtschaftsminister, das Bundeskanzleramt und das Bundespresseamt informiert. Tatsache auch: Das Bundeskanzleramt drängt das BMA, entsprechende Regelungen umzusetzen. Eine Delegation aus Kanzleramt und Arbeitsministerium hat sich vor Ort in den Niederlanden bereits erkundigt, wie man es denn machen könne. Sie wollen einen Befreiungsschlag. Sie wollen, niederländischem Beispiel folgend, mehr als ein Drittel der Arbeitslosen mit einem Streich aus der Statistik heraus haben. Daran arbeiten Sie ganz konkret. Aber Sie arbeiten nicht an der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit.
Wir haben die Hoffnung verloren. Sie sind zu einer Politik zugunsten der Arbeitslosen, zu einer Politik für neue Arbeitsplätze nicht fähig. Sie sind regierungsunfähig. Ich meine auch, Sie werden, wie gestern gesagt,pfleglich miteinander untergehen, weil Sie versagt haben.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Sinn einer parlamentarischen Debatte, daß wir in Rede und Antwort die Argumente austauschen. Mit der Kollegin aus der GRÜNEN-Fraktion kann ich das leider nicht mehr, da sie den Saal bereits verlassen hat. Auch das ist ein Ausdruck Ihrer parlamentarischen Dialogfähigkeit.
Auch dem Kollegen Schreiner kann ich leider nicht mehr antworten.
— Gut, kann passieren, das nehme ich zurück.
Nun aber zum Kollegen Heyenn: Herr Kollege Heyenn, wie kommen Sie darauf, wir hätten aus der Statistik 170 000 Arbeitslose herausmanipuliert? Wie kommen Sie auf diese Zahl? Kann man hier einfach Behauptungen in die Welt setzen, ohne sie belegen zu müssen? Einen Punkt will ich nennen: In der Statistik zählen wir die über 58jährigen Arbeitslosen nicht mehr, wenn sie sich nicht mehr dem Arbeitsamt zur Vermittlung zur Verfügung stellen. Das war ein Vorschlag, der auf eine Idee des Parlamentarischen Staatssekretärs Buschfort zurückgeht, der bekanntlich Ihrer Partei angehört.
— Ich kann Ihnen, Herr Ehrenberg, die entsprechenden Zitate vorlesen. Es gibt auch einen Sinn. Warum soll sich ein 58jähriger, dessen Vermittlungschancen leider Gottes derzeit sehr schlecht sind, immer dem Arbeitsamt zur Verfügung stellen, das ganze Ritual von Vermittlungsgesprächen über sich ergehen lassen, wenn er nicht mehr arbeiten will?
Wenn er will, geht er zum Arbeitsamt und wird weiter gezählt. Er entscheidet, ob er aus der Statistik ausscheiden will, er allein, kein Bundesarbeitsminister.
Er allein sagt: Ich will mit 60 in die Rente. Ich will nicht mehr zur Vermittlung. — Warum wollen Sie da der Vormund sein und sagen: Nein, du mußt hin und mußt gezählt werden?
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9986 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Bundesminister Dr. BlümIch darf noch einmal darauf hinweisen, daß die Aufnahme in die Arbeitslosenstatistik darauf basiert, daß man Arbeit sucht. Wenn man sie als 58jähriger nicht mehr sucht, kann man auch nicht als Arbeitsloser gezählt werden. Wenn Sie, Herr Heyenn, diese Personen meinen, dann kämen Sie auf rund 60 000 Betroffene. Das verheimlichen wir nicht; das steht in der Statistik. Der Abstand zu Ihrer Zahl beträgt aber 110 000. Sie haben nämlich die Zahl 170 000 genannt.
Wenn alle Erwerbspersonen bei der Quotenermittlung stärker in den Blickpunkt genommen werden sollen, so folgen wir damit erstens einer Übung in allen OECD-Ländern. Wenn wir uns in Europa schon auf den Binnenmarkt zubewegen, dann muß auch die Vergleichbarkeit hergestellt werden. Was aber das zweite und noch wichtigere ist, ist, daß die Arbeitslosenquote — bezogen auf alle Erwerbspersonen — seit August 1982 in den Statistiken der Bundesanstalt ausgewiesen wird. Gehe ich recht in der Annahme, daß im August 1982 diese Regierung noch nicht im Amt war? Wenn Sie sich also über angebliche Manipulationen der Statistik beschweren, dann bitte bei der Vorgängerregierung und nicht bei uns, Ich beschwere mich nicht. Ich halte die genannte Arbeitslosenquote im Sinne der Vergleichbarkeit für einen brauchbaren Maßstab.Wenn Sie bezüglich der Teilzeitarbeitslosen sagen, die Angaben seien aus der Luft gegriffen: Wieso aus der Luft gegriffen, Herr Heyenn? Die Angaben befinden sich in der Statistik der Bundesanstalt. Wir haben rund 240 000 — im letzten Monat waren es genau 230 000 — Arbeitssuchende, die nur Teilzeitarbeit suchen, die zum Arbeitsamt gegangen sind und gesagt haben: Ich will nur Teilzeitarbeit. Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, kein Mensch wüßte etwas darüber?Was die stille Reserve anbelangt, verwende ich das Zitat der von mir sehr geschätzten Kollegin Anke Fuchs, die zu der Zeit, als sie noch bei Herrn Ehrenberg im Dienst stand, gesagt hat: Stille Reserve? Was ist das? Wer arbeitslos ist, geht zum Arbeitsamt. Wer zum Arbeitsamt geht, ist arbeitslos. Wer nicht hingeht, den kann ich nicht zählen.
Das ist, finde ich, eine sehr solide Argumentation.
Wer Arbeit sucht, braucht doch nur zum Arbeitsamt zu gehen.
Wir manipulieren doch niemanden in die stille Reserve. Aber ich kann doch nicht vermuten, wer noch Arbeit sucht. Das wären doch alles Vermutungen.Ich will die Debatte hier auch wirklich mit Zahlen führen. Sie sagen: Der Ansatz für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sei zurückgegangen. Wir haben den Haushaltsansatz des letzten Jahres zwar von 3,4 Milliarden DM auf 3,2 Milliarden DM reduziert, liegen damit aber immer noch beim Dreifachen dessen, was Sie ausgegeben haben. Einer, der nur einDrittel gemacht hat, wirft uns vor, wir würden zuwenig machen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Haack.
Herr Bundesarbeitsminister, teilen Sie die Auffassung der EKD in der Studie zu Langzeitarbeitslosen, daß sich die Langzeitarbeitslosen deswegen nicht mehr zur Verfügung stellen, nicht mehr melden, weil sie das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und in den Sinn arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ihrerseits verloren haben und von daher individuelle Lösungen suchen?
Die Maßnahmen für die Langzeitarbeitslosen, Herr Kollege, haben wir verstärkt. Wir geben dafür mehr Geld aus als je zuvor. Sie sollten durch solche Fragestellungen nicht sozusagen die Resignation befördern. Sie sollten mit dazu beitragen, daß die Langzeitarbeitslosen die ganze Palette der Instrumente
— ich kann es Ihnen ja gerne erklären — unsere Arbeitsmarktpolitik nutzen. Wie gesagt, wir geben für sie mehr Geld aus als je zuvor.
Wir haben beispielsweise die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verdreifacht
und die Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen verdoppelt.
Sie werden doch hoffentlich nicht behaupten, die Arbeitslosenzahl habe sich verdoppelt. Für beides, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wie für Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesanstalt, gibt es aber aus meiner Sicht objektive Grenzen, nicht Grenzen, die vom guten oder schlechten Willen abhängen. Sie können ja die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht ins Unendliche ausdehnen und dann noch sagen, die Maßnahmen würden sich ja selber tragen. Sonst könnten wir ja zwei Millionen Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unterbringen, dann wäre das Problem gelöst. Es gibt deshalb objektive Grenzen, weil die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den normalen Arbeitsmarkt vordringen und dort Arbeitsplätze beseitigen. Wer das nicht glaubt, soll sich einmal mit den Kollegen der ÖTV unterhalten, die sich immer darüber beschweren, daß durch das Anbieten von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Planstellen der Kommunen wegfallen, sozusagen der Beitragszahler das zahlt, was die Kommunen aus ihren Steuersäckeln
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9987
Bundesminister Dr. Blümzu bezahlen haben. Also gibt es doch objektive Grenzen dafür!
Die Qualifizierungsmaßnahmen haben wir — ich gebe es zu — auf eine Rekordhöhe gebracht. Wir geben doppelt sowie Geld hierfür aus, wie zu sozialdemokratischer Zeit. Aber auch für Qualifizierungsmaßnahmen gibt es objektive Grenzen. Würden wir nämlich die Zahl immer weiter erhöhen, würden sich die Betriebe aus der Erfüllung dieser Aufgabe zurückziehen. In der Tat gibt es Anzeichen dafür, daß man die Bundesanstalt zum bequemen Ersatzmann für die Erfüllung betrieblicher Pflichten macht.
Was mir zu denken gibt, ist, daß der Anteil der Arbeitslosen an den Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesanstalt abnimmt und der Anteil derjenigen, die in Beschäftigung sind, zunimmt. Für diese ist, glaube ich, nicht das Arbeitsamt, nicht die Bundesanstalt zuständig, sondern sie müssen in den Betrieben weitergebildet werden.
Nach meinem Verständnis gehört es zum modernen Unternehmer, nicht nur in Sachgüter zu investieren, sondern auch — das ist ebenfalls seine Pflicht — Menschen zu qualifizieren, und zwar nicht nur die jungen, sondern auch die älteren.Ich glaube, daß die Vermittlungschancen der älteren Arbeitnehmer auch deshalb abgenommen haben, weil wir noch immer in dem Leitbild befangen sind, als sei Bildung etwas für das erste Drittel des Lebens. Nein, berufliche Bildung wird den Arbeitnehmer auch darüber hinaus begleiten, und es wird auch nicht nur Aufstiegsbildung sein, denn auch dies wäre eine Überforderung. Es wird eine Bildung sein müssen, mit der sich der Schlosser in seinem erlernten Beruf— und zwar im Betrieb und nicht durch die Bundesanstalt — qualifiziert. Wenn die Bundesanstalt das immer extensiver anbietet, dann ziehen sich die Betriebe aus einer Pflicht zurück, die ihre erste Pflicht ist.
— Gut, dann appellieren wir — Herr Ehrenberg, ich widerspreche Ihnen gar nicht — gemeinsam an sie, aber es brauchen sich hier ja nicht alle angesprochen zu fühlen.
— Ja, gut. Ich glaube, daß es in Sachen Qualifizierung vorbildliche Unternehmen gibt, daß sich viele eine Scheibe von denen abschneiden können, während andere den bequemen Ausweg suchen. Letztere lassen sich von der Bundesanstalt für Arbeit Arbeitnehmer qualifizieren, die sie selbst in ihren Betrieben qualifizieren müßten. Wenn wir darin sowie auch darin, daß es für ABM eine Grenze gibt, übereinstimmen, ist das ja erfreulich.Ich möchte noch auf das Argument des Kollegen Schreiner eingehen, wir würden eine Arbeitsmarktpolitik machen, bei der die notleidenden Länder im Stich gelassen werden. Die Zahlen sagen etwas anderes. Wenn ich einmal die Zahlen für 1985 bis 1987 nehme, dann stelle ich fest: 62 % der Leistungen der Bundesanstalt gehen an die Nordländer, nämlich 64 Milliarden DM, und 37 %, also 39 Milliarden DM, an die Südländer. Unter dem Dach der Bundesanstalt findet eine Umverteilung von Süden nach Norden statt, weil es im Norden mehr Probleme gibt. Aber die Zahlen widerlegen die Behauptung, wir ließen die strukturschwachen Länder im Stich. Auch die Strukturhilfe, die wir anbieten, ist ja eine Maßnahme, die gerade jenen Ländern helfen soll, die durch eine schwierige Arbeitsmarktlage in Not geraten sind.Herr Kollege Heyenn, ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihnen oder dem Kollegen Schreiner den Siegespreis im Berufswettbewerb der Malermeister, Sparte Schwarzmaler, überreichen soll. Freilich, die Arbeitslosenzahl ist in die Höhe gegangen. Herr Heyenn, hier steht doch niemand, der selbstzufrieden sagt: Keine Anstrengung nötig, wir sind am Ziel. — Ich habe heute morgen auch niemanden so reden hören. Aber zur Wahrheit gehört auch, daß wir im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit vorwärtskommen.
Wenn Sie das leugnen, schaden Sie nicht nur Ihrer Wahrheitsliebe und auch nicht nur den Koalitionsparteien, sondern Sie nehmen Unternehmern und Arbeitnehmern den Antrieb, sich anzustrengen. Das werden Sie erreichen, wenn Sie ein Klima entstehen lassen, bei dem man den Eindruck gewinnen muß, es sei alles umsonst gewesen.1 Million neue Arbeitsplätze: Ist das nichts? Das ist das Gegenteil dessen, was es in der Zeit gab, als wir die Regierung übernommen haben. Damals gab es in der Beschäftigungsstatistik rote Zahlen. Jetzt gibt es schwarze Zahlen. Merke dir: Rote Zahlen sind schlecht, schwarze Zahlen sind gut.
Es bleibt dabei, daß wir — Sie können sagen, das sei zuwenig — im letzten Jahr 177 000 neue Arbeitsplätze geschaffen haben, daß wir im Januar 1989 190 000 mehr Arbeitsplätze hatten als ein Jahr zuvor.Viele fragen sich verwundert: Wieso schlägt sich das nicht mit denselben Zahlen in der Arbeitslosenstatistik nieder, d. h. warum sinkt die Arbeitslosenzahl nicht entsprechend? Ich gebe zu, daß das auf den ersten Blick verwunderlich erscheint. Das hängt damit zusammen, daß mehr Mitbürger als zuvor nach Arbeit nachfragen. Vor allem hängt es damit zusammen, daß mehr Frauen — was ich gar nicht kritisiere, sondern nur beschreibe — mehr als je zuvor nach Erwerbsarbeit nachfragen. Von den 1 Million neuen Arbeitsplätzen sind zwei Drittel den Frauen zugute gekommen. Zwei Drittel! Wir haben die höchste Quote von erwerbstätigen Frauen, seitdem in der Bundesrepublik überhaupt eine Beschäftigungsstatistik geführt wird. Wir kommen also voran.Ich denke, daß man nicht mit mehr Planung vorankommt, sondern daß wir die Wirtschaft vorwärtsbringen müssen. Deshalb ist Wachstum gut. Deshalb muß mehr investiert werden. Es wird doch jeder zugeben, daß wir die erstaunliche Leistung vollbracht haben, im
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9988 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Bundesminister Dr. Blümsiebten Jahr einen konjunkturellen Anstieg zu verzeichnen. Das ist eine wichtige Voraussetzung — damit werden noch nicht alle Probleme gelöst — für eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt.Die Zahl der Kurzarbeiter ist zwischen 1983 und 1988 fast um eine halbe Million zurückgegangen. Kurzarbeit ist auch eine Form von Arbeitslosigkeit; das ist Teilarbeitslosigkeit.Das Lehrstellenproblem galt als eine drohende Katastrophe in der Republik. Man kann heute sagen: Es werden wieder Lehrlinge gesucht. Ist das keine Wende?
Die Zahl der arbeitslosen jungen Menschen unter 20 Jahren hat sich seit 1983 halbiert.Seite Mitte 1988 sinkt die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit kontinuierlich. Im Februar 1989 lag die Zahl der Arbeitslosen um 212 000 niedriger als im Februar des Vorjahres. Das ist der stärkste Februar-Rückgang seit 20 Jahren. Ich trage das deshalb vor, um den Mut und die Hoffnung auf dem Arbeitsmarkt zu stärken. Gute Nachrichten befördern etwas, schlechte Nachrichten tun das Gegenteil.
Die den Arbeitsämtern im Februar 1989, Herr Ehrenberg, neu angebotenen 166 000 offenen Stellen sind der höchste Zugang in einem Februar seit neun Jahren. Die Arbeitsämter haben im Februar 1989 156 000 Personen vermittelt. Das ist mehr als in jedem anderen Februar seit 1980.Wir sind noch lange nicht am Ziel. Ich sage nicht, daß wir mit unseren Anstrengungen aufhören sollten. Aber wir kommen voran. Allerdings bergauf kommt man natürlich langsamer voran als bergab. Das weiß jeder Radfahrer.
Deshalb freue ich mich auf die Frage von Frau Unruh, wenn der Herr Präsident sie gestattet.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Minister, ich höre Ihnen immer gerne zu. Sie strahlen ja etwas aus, was Mut machen soll. Meine Frage ist die: Haben Sie sich mit Ihren großen Phantasien, die die Bürger draußen ja gar nicht erkennen, etwas vorgestellt — —
— Das glaube ich nicht.
Haben Sie sich einmal vorgestellt, daß alle Menschen, die arbeiten müssen, um ihre Familie zu ernähren, einmal irgendwie unkündbar werden könnten wie z. B. Beamte und Angestellte im öffentlichen
Dienst nach 15 Jahren? Haben Sie sich einmal solche Gedanken gemacht?
Ja, Frau Unruh. Ich meine, ein schöner Gedanke: Jeder ist unkündbar. Nur: Nicht alle guten Vorsätze erreichen das Ziel.Bleiben wir doch einmal bei der Idee, bei der Utopie, es gäbe die Unkündbarkeit. Ich fürchte, daß dann viele Arbeitnehmer gar nicht mehr eingestellt würden, daß es dann möglicherweise ein älterer Arbeitnehmer schwer hätte. Verstehen Sie? Nicht jeder gute Wille erreicht sein Ziel. Bekanntlich ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Deshalb: Unkündbarkeit würde den Arbeitsmarkt unbeweglich machen. Was macht denn ein Betrieb, der das, was er verkaufen will, nicht mehr an den Mann bringen kann, aber unkündbare Arbeitnehmer hat? Der Betrieb müßte schließen und auch noch die Arbeitsplätze gefährden, die er gar nicht kündigen wollte. Insofern ist eine Marktwirtschaft eine höchst mobile und flexible Wirtschaftsordnung mit Risiken. Sie hat uns aber auch einen Wohlstand geschaffen, den keine Planwirtschaft zustande bringt.Deshalb glaube ich, daß ein Thema lautet, auch die Beschäftigungsmöglichkeiten zu erhöhen. Beispielsweise findet auch unsere Gesundheitsreform — das mag für manchen überraschend sein — ihre Rechtfertigung im Kampf gegen die Lohnnebenkosten. Unsere Gesundheitsreform hat nicht nur diesen Zweck, sie hat aber auch den Zweck, durch Zurückdrängen der Lohnnebenkosten neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.Stellen Sie sich vor, wir hätten nichts gemacht, dann hätten wir demnächst Krankenversicherungsbeiträge von 20 %, Rentenversicherungsbeiträge im nächsten Jahrhundert von 35 % — das sind 55 % — , dann noch Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 10 %. Wenn Sie dann noch Steuern zahlen, dann führt es bald dazu, daß Sie Geld mitbringen müssen, wenn Sie arbeiten wollen. Das zeigt die ganze Ausweglosigkeit. Deshalb braucht man den Mut zu Reformen, auch im Sozialsystem.
— Zu wessen Lasten? Wir sparen zugunsten der Beitragszahler. Das sind Millionen von Arbeitnehmern. Wir sparen, um neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen.
Meine Damen und Herren, vielleicht sollte ich das Statistikargument noch aufnehmen. Ich teile Ihre Auffassung: Im Mittelpunkt unserer Anstrengungen muß der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit stehen und nicht statistische Übungen. Dennoch muß die Statistik doch stimmen. Gerade eine Partei wie die sozialdemokratische, die so sehr auf Planung Wert legt, braucht doch Daten, die verläßlich sind. Deshalb meine Fragen: Ist es unzumutbar, wenn Personen, die gar nicht mehr leben, aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen werden? Ist es wider die Natur, wenn sich ausländische Arbeitslose, die längst in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, nicht länger in der deutschen Arbeitslo-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9989
Bundesminister Dr. Blümsenstatistik befinden? Ist es Böswilligkeit, wenn ich erwarte, daß die Arbeitsämter Arbeitnehmer, die sich selbst eine Beschäftigung gesucht haben, nicht weiter in der Arbeitslosenstatistik führen? Ist es unverschämt, den Arbeitslosen zuzumuten, sich alle drei Monate bei dem Arbeitsamt zu melden und zu sagen, ob sie denn noch weiter Arbeit suchen? Wenn sie sich nicht melden müssen, schleppe ich möglicherweise jemanden zehn Jahre in der Arbeitslosenstatistik als arbeitslos mit, der längst Arbeit gefunden hat oder der vielleicht gar keine Arbeit mehr sucht.Das alles ist kein Kampf gegen die Statistik, aber die Statistik muß verläßlich sein. Wenn es in der Arbeitslosenstatistik im September 1988 67 000 Arbeitslose gab, die keine Leistungen bezogen haben und seit vier Monaten — teilweise auch viel länger — keinen Kontakt zum Arbeitsamt hatten, so ist das ein Sachverhalt, bei dem ich meine, daß man um der Verläßlichkeit von Statistiken willen solchen Fragen nachgehen kann, ohne in den Verdacht zu geraten, man wolle durch Statistikübungen das Arbeitslosenproblem lösen.
Herr Bundesminister, ich bin weit davon entfernt, in Ihre verfassungsmäßigen Rechte einzugreifen, aber ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn die Gesamtdebattenzeit nicht überschritten werden soll, geht das auf Kosten der nachfolgenden Redner Ihrer Fraktion.
Herr Präsident, da es nicht auf Kosten der nachfolgenden Redner, von denen ich weiß, daß sie wichtige Beiträge leisten, gehen soll, schließe ich an dieser Stelle meinen Beitrag.
Nein, es ist das verfassungsmäßige Recht, Herr Abgeordneter Weng.
Frau Abgeordnete Vennegerts hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihre Schönfärberei, Herr Minister Blüm, wird Ihnen nichts nützen. Es ist schon wirklich peinlich, wie Sie über die Massenarbeitslosigkeit hier gesprochen haben.
In dieser Woche wurde im Fernsehen eine Sendung über den Duisburger Stadtteil Bruckhausen ausgestrahlt.
Dort lebt über die Hälfte der Menschen von der Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe. Eine beklemmende Wirklichkeit hinter der Fassade der vermeintlichen Wohlfahrtsgesellschaft wurde offenbar: Sozial deklassierte und ausgegrenzte Menschen müssen in heruntergekommenen Wohnungen leben, teilweise ohne Strom. Bei diesen Opfern der Massenarbeitslosigkeit geht es um das nackte Überleben.
Es dürften inzwischen einige Millionen Menschen sein, die in der Bundesrepublik in offener oder versteckter Armut leben müssen. Das ist leider die traurige Realität, meine Damen und Herren.
Wer die Fernsehsendung über Duisburg-Bruckhausen gesehen hat,
muß den Eindruck gewinnen, daß es in der materiell reichen Bundesrepublik inzwischen so etwas wie die soziale Apartheid gibt.
Im 200. Jahr nach der welthistorisch bedeutsamen bürgerlichen Revolution in Frankreich sind deren Losungen in der Bundesrepublik nicht für alle Menschen verwirklicht. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, dies gilt offensichtlich nicht für die Dauererwerbslosen und die Sozialhilfeempfängerinnen, die mit 700 oder 800 DM im Monat auskommen müssen, und dies in einer Gesellschaft, die im Fernsehen, Rundfunk und in den Zeitungen wahre Reklamefeldzüge für schnelle Autos, teuren Schmuck und ähnlichen Luxus führt. Luxus, der Ersatz für Solidarität und Humanität!Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit hat zur Entsolidarisierung und brutalen Ausgrenzung von Minderheiten geführt. Inzwischen ist schon mehr als ein Drittel der Beschäftigten mindestens einmal arbeitslos gewesen. Die Regierung stellt sich nicht auf die Seite der Schwachen, im Gegenteil, sie unterstützt die Unternehmer in ihrer Forderung nach längeren Maschinenlaufzeiten. Wir GRÜNEN dagegen treten für eine Politik ein, die dauerhafte sinnvolle Arbeit und existenzsichernde Einkommen für alle anstrebt. Wir haben dazu zahlreiche Vorschläge ausgearbeitet. Ich erinnere an unser Programm „Umbau der Industriegesellschaft" , Schritte zur Überwindung von Erwerbslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung, an unsere Gesetzentwürfe zur Arbeitszeitverordnung, zum Überstundenabbau und zur Förderung lokaler Beschäftigungsinitiativen, an unsere Konzepte zur existenzsichernden Grundsicherung für diejenigen, die ansonsten durch die Maschen des Sozialstaates fallen.
Wer Arbeitslosigkeit und Armut überwinden will, muß die Arbeit und die Einkommen umverteilen. Es gibt keinen anderen Weg. Dabei kommt der Verkürzung der Erwerbsarbeit eine zentrale Bedeutung zu. Es war deshalb ein Schritt in die richtige Richtung, als die Gewerkschaft ÖTV der Verkürzung der Wochenarbeitszeit, verbunden mit niedrigen Lohn- und Gehaltssteigerungen, zugestimmt hat. Die öffentlichen
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9990 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
Frau VennegertsArbeitgeber haben dabei einige Milliarden DM für bereits eingeplante höhere Personalausgaben gespart, die für Neueinstellungen ausgegeben werden sollten. Was ist damit passiert? Wenn sich Bundesländer, wie Baden-Württemberg, Hessen und auch das Saarland mit Ministerpräsident Oskar Lafontaine, weigern, Neueinstellungen im öffentlichen Dienst vorzunehmen, kommt dies einem Betrugsmanöver nahe.
Dies ist eine fatale Politik, die zukünftige beschäftigungsfördernde Arbeitszeitverkürzung konterkariert, eine Politik, mit der die Massenarbeitslosigkeit verfestigt wird.Wir GRÜNEN wollen eine aktive Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik. Das Beispiel Schwedens beweist, daß Massenarbeitslosigkeit kein unentrinnbares Schicksal sein muß. Massenarbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, muß auch bei uns gesellschaftlich geächtet werden.
Es kommt eben auch auf eine Regierung an, die etwas gegen Arbeitslosigkeit tun will. Da haben Sie versagt. Im übrigen beweist Schweden auch, daß Sonderprogramme, die Sie immer so diffamieren, gegen Arbeitslosigkeit keineswegs zu dem von Ihnen vielbeschworenen Staatsbankrott führen müssen. Den Staatsbankrott bekommen Sie ganz alleine mit Ihrer Politik hin.
Es muß daran erinnert werden, daß die jährlichen Kosten der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik schon gegenwärtig bei 55 Milliarden DM liegen.
Die Arbeitslosigkeit und auch die Umweltschäden konzentrieren sich in der Bundesrepublik in bestimmten Krisenregionen. In der regionalen Strukturpolitik müssen deshalb neue Akzente gesetzt werden. Das Instrumentarium der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung" sollte weiterentwickelt werden. Neben der Arbeitslosigkeit und der Wirtschaftskraft müssen auch die Umweltbedingungen als Kriterium für die Bestimmung von Fördergebieten berücksichtigt werden.Ziel einer sinnvollen regionalen Strukturpolitik muß es sein, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen, z. B. im Bereich Altlastensanierung, Recyclingwirtschaft, Energieeinsparung und soziale Dienstleistungen. Es gibt durchaus Maßnahmen, um die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, z. B. Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Erwerbslosen, wie das zum Teil im SPD-Antrag, der hier vorliegt, richtig angesprochen worden ist.Unerträglich und beschämend ist es, wie sich diese Regierung verhält: passiv und ignorant gegenüberMillionen von Menschen, die unverschuldet, Herr Minister, in Not geraten sind.
Nach jeder neuen Wahlniederlage dieser Koalition behaupten Sie, es liege nicht an Ihrer Politik. Sie glauben, Ihren Schwindel nur besser und mediengerechter verkaufen zu müssen.
Das versuchen Sie wohl auch mit diesem Flugblatt, in dem Sie von der CDU den lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern frohe Ostern wünschen und sagen, Sie seien mit dem zufrieden, was Sie erreicht hätten, und führen die wenigen Arbeitsplätze an, die Sie geschaffen haben.
Das ist Zynismus, das sind faule Eier. Sie werden die Quittung für diese Politik erhalten, einen Teil haben Sie schon bekommen.
Das Wort hat der Abgeordnete Doss.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kollege Heyenn sprach von einem Skandal. Ich empfinde es als einen Skandal, wie ein Teil der politisch tätigen Menschen mit der Attitüde der höheren Moral Horrorszenarien aufbaut, die mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun haben
und die uns daran hindern, in einer sachlichen Diskussion die wirklich drängenden Probleme zu lösen. Es ist wirklich unerträglich, wie Sie als die besseren Menschen die Bemühungen anderer, für die Massenarbeitslosigkeit, wo sie ist, bedrängend und bedrückend ist, darstellen.
— Sehen Sie, Sie sprechen jetzt wieder von „Sprüchen". Das ist das ganze Vokabular, auf das sich das reduziert, was Sie hier im Grunde genommen zum Anlaß dieser sehr ernsten Debatte von sich geben. Ich finde das bedauerlich; Ihre Dialogfähigkeit ist stark eingeschränkt.
— Das tue ich doch.
— Ich beginne damit. Das war ein hervorragender Beitrag von großem geistigem Anspruch.Der vorliegende Antrag der SPD — ich habe mich damit wirklich beschäftigt, weil es der Respekt vor Ihrer wirklich großen Fraktion gebietet — ist insoweit interessant, als er deutlich macht, daß die SPD mit ihrer Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik auf fal-Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135, Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9991Dossschen Analysen aufbaut — ich will das gleich nachweisen — und danach konsequent zu falschen Ergebnissen kommt, was nicht unlogisch ist.Der SPD-Antrag spricht von mäßigem Wirtschaftsaufschwung und von einer Stagnation der Konjunkturentwicklung. Tatsache ist, daß mit 3,5 % Wachstum 1988 die größte Steigerung des Bruttosozialproduktes in den 80er Jahren erfolgt ist.Der SPD-Antrag spricht von einem schwachen Beschäftigungsanstieg, der zum Erliegen gekommen sei. Tatsache ist: Ende 1988 gab es 145 000 Arbeitsplätze mehr als 1987. Von 1984 bis 1988 wurden mehr als 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen.Der SPD-Antrag spricht von steigenden Arbeitslosenzahlen 1987 und 1988. Tatsache ist, Herr Kollege: Im Dezember 1988 hatten wir 120 000 Arbeitslose weniger als im Dezember 1987, trotz weiter zunehmender Erwerbsbeteiligung der Frauen — das ist eine Realität —,
trotz 50 000 mehr Zugängen als Abgängen aus dem Erwerbsleben — das ist ja doch eine Realität — und trotz 243 000 deutscher Aus- und Übersiedler. Meine Damen und Herren, das können Sie doch nicht völlig ignorieren. Auch das ist doch ein Teil der Realität.
Der SPD-Antrag spricht von einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen von 1982 bis 1988 um fast eine halbe Million. Tatsache ist, daß die Zahl der Arbeitslosen im gleichen Zeitraum um rund 20 000 abgenommen hat. Das ist nicht so wahnsinnig viel, zugegeben.
— Von 1982 bis 1988.
— Es ist doch gar nicht wahr.
Die Zahl der Kurzarbeiter ist um eine halbe Million zurückgegangen und die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen um 60 000.Der SPD-Antrag spricht weiter von 22,44 Millionen abhängig Beschäftigten und von einer nur unwesentlichen Zunahme bis 1988. Tatsache ist, daß wir mit rund 26,2 Millionen Beschäftigen den höchsten Beschäftigungsstand erreicht haben, den die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Geschichte kennt.Also, ich finde, man sollte die Ablehnung der Volkszählung nicht so weit treiben, daß man deren Ergebnisse nicht mehr zur Kenntnis nimmt.
Der SPD-Antrag geht von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen Konjunktur und Arbeitsmarktentwicklung aus. Dieser Zusammenhang besteht. Das beweisen die Zahlen von 1981 und 1982. 1981 gab es Null-Wachstum. Sie werden sich erinnern, oder haben Sie es vielleicht schon verdrängt? Es gab 186 000 verlorene Arbeitsplätze und 420 000 Arbeitslose mehr. Das war ein explosiver Anstieg um rund 43 %. 1982 gab es 1 % Minuswachstum, 441 000 verlorene Arbeitsplätze und 560 000 Arbeitslose mehr. Das war noch einmal eine Explosion um 44 %.
Der Zusammenhang zwischen Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung besteht. Er ist nur nicht ausschließlich wirksam. Das ist das Problem, über das man mit Ihnen reden muß. Hier würde unser, wenn man so will, beschäftigungspolitischer Nachhilfeunterricht für die SPD ansetzen müssen.Nur wer daran glaubt, daß es eine Monokausalität der Arbeitslosigkeit gibt, ist zu dem Vorschlag fähig, scheinbare Wachtumsdefizite durch staatliche Programme zu kompensieren, um auf diese Weise die notwendigen Arbeitsplätze zu schaffen. Daraus ist die Illusion entstanden, Arbeitslosigkeit könnte allein durch staatliche Maßnahmen beseitigt werden.
Vollbeschäftigung wäre demnach nur eine Frage der Höhe der einzusetzenden Mittel.Tatsache ist jedoch: Arbeitslosigkeit hat viele, aber vor allem strukturelle Ursachen, die zu ignorieren Beschäftigungspolitik zur Erfolglosigkeit verurteilt. Es kann nur verwundern, daß die SPD aus ihren eigenen Erfahrungen von 1974 bis 1982 nichts gelernt hat: 17 Konjunkturprogramme, 50 Milliarden DM Kosten, Beschäftigungseffekt gleich Null, darüber hinaus noch kontraproduktiv durch wettbewerbsverzerrende Nebenwirkungen und über 1,2 Millionen zusätzliche Arbeitslose.Natürlich erkennt die Bundesregierung die Notwendigkeit des Einsatzes öffentlicher Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit an. Mit 3,3 Milliarden DM haben wir 1988 die Mittel für ABM gegenüber 1982 vervierfacht. 5,6 Milliarden wurden für berufliche Weiterbildung und für aktive Arbeitsmarktpolitik insgesamt 6,9 Milliarden DM ausgegeben. Der Bundesregierung vor diesem Hintergrund beschäftigungspolitische Tatenlosigkeit, wir hier geschehen, vorzuwerfen, das ist schon ganz schön unverfroren.
Eine Million zusätzliche Arbeitsplätze in sechs Jahren, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind wirklich ein beschäftigungspolitischer Erfolg einer Wirtschaftspolitik ohne teure manipulative staatliche Eingriffe in den Markt.
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9992 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989
DossMan hat den Eindruck, als wehre sich die SPD dagegen, die tatsächlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit zu erkennen und zu diskutieren. Eine differenzierte Betrachtung könnte ja dem Killerargument Massenarbeitslosigkeit die Schlagkraft nehmen.
Das Erzielen von Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt ist nicht so einfach, wie hier dargetan. Mit Schlagworten und Parolen ist da nichts zu machen.
Die Voraussetzungen dafür sind stabile politische Rahmenbedingungen und eine stabile positive Konjunkturentwicklung.Sind diese Voraussetzungen gegeben, müssen wir zunächst die Frage stellen: Wie können wir die Betriebe befähigen, die benötigte Zahl von Arbeitsplätzen zu schaffen?Zweite Frage: Wie lösen wir das in verschiedenen Branchen und Regionen bestehende Problem des gravierenden Arbeitskräftemangels insbesondere bei Facharbeitern.Die dritte Frage: Inwieweit sind Arbeitslose in bestehende und neu zu schaffende Stellen zu vermitteln?Diese Fragen zu tabuisieren nutzt niemandem. Ihre Beantwortung von der monatlichen Statistik der Bundesanstalt zu verlangen hat nichts mit Bilanzschönung zu tun. Eine umfassende Problembeschreibung geht der Lösung notwendigerweise voraus.Die Diagnose der Ursachenforschung kommt aber im Antrag der SPD zu kurz. Der Vorschlagskatalog ist demzufolge unvollständig, überholt, ordnungspolitisch bedenklich und dort, wo er Arbeit weiter verteuert, kontraproduktiv.
Ich kann der SPD nur raten, ihren Antrag zurückzuziehen.Denken wir gemeinsam darüber nach, wie wir die mittelständischen Betriebe — dort sind die meisten Arbeitsplätze — in die Lage versetzen können, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wie sie investieren können, wie wir die Arbeitslosen befähigen, die Arbeitsplätze, die unbesetzt sind, zu besetzen und wie wir die Bundesanstalt für Arbeit beim Verwalten entlasten, damit sie sich wieder stärker dem Vermitteln zuwenden kann.Das Problem Arbeitslosigkeit lösen wir nicht mit mehr Staat, sondern nur mit mehr Markt, mit mehr privater Initiative, mit mehr Wettbewerb und mehr Leistung. Arbeit entsteht durch Arbeit und nicht durch Verordnung und erst recht nicht durch zweckfremde Anträge, die das Problem der Arbeitslosigkeit im Prinzip zu polemischen Auseinandersetzungen degradieren.Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Ehrenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe wirklich mit großem Vergnügen den ersten Satz von Herrn Doss gehört, in dem er dazu aufforderte, hier eine sachbezogene Diskussion zu führen. Nur, lieber Herr Doss, zur sachbezogenen Diskussion gehört redlicher und ehrlicher Umgang mit den Fakten.
Das genau, Herr Doss, haben Sie leider nicht getan.
— In den Fakten können Sie mir nirgendwo auch nur den geringsten nicht redlichen Umgang nachweisen.
Aber der Herr Doss stellt sich hier hin und sagt: Die Arbeitslosigkeit ist von 1982 bis 1988 um 20 000 zurückgegangen. — Ich lese Ihnen die Zahlen aus der amtlichen Statistik vor: Arbeitslose 1982: 1 833 000, Arbeitslosigkeit 1988: 2 240 000.
— Wenn Sie 1983 gesagt haben, dann sind es 2,2 Millionen; aber 1983, bitte, ist Ihre Regierungsverantwortung.
— Ja, ich weiß; zu diesem Erbe möchte ich auch noch etwas sagen. — Sie haben übrigens 1982 gesagt; vielleicht haben Sie 1983 gemeint, aber gesagt haben Sie 1982.
Ich habe mich bei meinem Kollegen rückversichert.
— Auf Nachfrage — ich habe einen Zwischenruf gemacht — haben Sie 1982 wiederholt.
— Das, was Sie dazwischenmurmeln, zeigt genau Ihren unredlichen Umgang mit der Statistik: Sie arbeiten mit einzelnen, herausgerissenen Monatszahlen, statt mit der einzigen aussagefähigen Jahreszahl.Wenn der Arbeitsminister auf den guten Februar hinweist, hätte er redlicherweise zumindest hinzufügen müssen, daß dies der einzige Februar seit hundert Jahren war, in dem schon die Osterglocken geblüht haben, was sonst noch nie der Fall war.
Trotz dieser so guten Februarzahlen, verehrter Herr Blüm, betrug die Arbeitslosenquote im Februar in Leer 22,3 %, in Emden 21,1 %, in Heide in Holstein 18 %, in Vechta 17,9 %, in Wilhelmshaven 15 %, ähnlich die ganze Nordseeküste entlang und in vielen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9993
Dr. EhrenbergStädten im Ruhrgebiet. Ich würde doch sehr herzlich bitten und von der Bundesregierung erwarten, daß sie zumindest in Fragen der Beschäftigungspolitik die massiven Forderungen des Präsidenten der Bundesanstalt nach einem breiten Investitonsprogramm ernst nimmt.
Oder wird ein ehemaliger CDU-Staatssekretär schon so ignoriert wie die SPD bei ihren Vorschlägen? Hier sind die Dinge, die wiegen, und alle Statistik hin und her ändert nichts daran.Mogeln Sie sich doch nicht immer daran vorbei, daß, seit Sie regieren, das Arbeitslosenniveau bei 2,2 Millionen liegt und noch nie wieder heruntergekommen ist, sechs Jahre lang. Das ist ein in der Bundesrepublik vorher völlig unbekannter Tatbestand.
An dem können Sie nicht vorbeidiskutieren.
— Ja, die Erblast wirkt ewig.
Lieber Herr Doss, nach Ihrer Statistik haben wir jetzt die höchste Beschäftigtenzahl, die es je gab. Auch das stimmt nicht. Lieber Herr Doss, schauen Sie in die amtliche Statistik. 1980 hatten wir 23 Millionen Arbeitnehmer und 1988 100 000 weniger. Bei den Erwerbstätigen — wenn Sie diese Zahlen hinzunehmen— waren es 1988 200 000 weniger.
— Sie nehmen die Zahl 26 Millionen. Ich sage Ihnen auch hier die amtlichen Zahlen, Herr Doss: 1980 26,32 Millionen, 1988 26,13 Millionen. Das sind 200 000 weniger und nicht mehr. Dann sollten wir nicht mehr über Statistik streiten, sondern dazu kommen — —
— Jetzt reden Sie einmal über Erwerbstätige und einmal über Beschäftigte. Es sind 22,4 Millionen Beschäftigte und 26 Millionen Erwerbstätige. Wir können über beide Zahlen reden. Beide Zahlen sind 1988 kleiner als 1980.
Herr Abgeordneter Doss, ich bin ja ein Freund von Zwischenrufen. Aber man kann es auch übertreiben. Zur Zeit hat der Abgeordnete Ehrenberg das Wort
und nicht Sie.
Herr Doss wird gebeten, in der amtlichen Statistik nachzulesen und, wenn Sie dann noch wollen, auch beim Sachverständigenrat, der Ihnen in diesem Gutachten in der Arbeitsmarktpolitik bei der Vollbeschäftigung die ärgste Zielverfehlung der Wirtschafts- und Finanzpolitik bescheinigt.
Meine Damen und Herren, das so hochgelobte Wirtschaftswachstum, das war 1988 ein stolzes Ergebnis.
— Aber ja, ich hätte gern ein viel größeres. Sie sollten nämlich wissen, Herr Heinrich — wahrscheinlich tun Sie es nicht, sonst würden Sie sich nicht so damit brüsten — , daß die stolzen 3,4 % unterhalb des Durchschnitts der OECD liegen. Dort wurden nämlich 4 erreicht.
Die gesamten 80er Jahren durch
lag die Bundesrepublik mit ihrer Wachstumsrate unterhalb des OECD-Durchschnitts.
— Aber ich bitte Sie. Sie haben uns in den 70er Jahren gescholten, weil wir in der OECD im Wirtschaftswachstum und bei der Beschäftigung unbestritten eine Lokomotivrolle gehabt haben.
Auch das stimmt bei Ihren Zahlen nicht, Herr Doss. Von 1976 bis 1980 ist die Zahl der Beschäftigten um 1,1 Millionen gestiegen, auf Grund der von Ihnen so geschmähten Investitions- und Arbeitsmarktprogramme.
Wenn Sie diese Zahlen endlich zur Kenntnis nehmen würden, dann, Herr Doss, kämen wir vielleicht auch dazu, darüber zu reden, wie man tatsächlich zu mehr Beschäftigung kommen kann.
Sie haben unter anderem gesagt, es sei beabsichtigt, die Betriebe mehr in die Lage zu versetzen, Neueinstellungen vorzunehmen. Ich würde gern um Ihre Mithilfe werben, die Steuerpolitik so zu differenzieren, daß Investitionen begünstigt und Finanzanlagen benachteiligt werden, aber nicht umgekehrt, wie Sie es mit der Steuerreform tun. Das ist der wichtigste Grund.
Das zweite, was ich dieser Regierung am meisten vorwerfe, ist: Sie haben sich vor dem Hintergrund Ihrer Wahlergebnisse in Berlin und in Hessen mit sehr rechts außen angesiedelten Parolen auf die Problematik der Aussiedler und Asylanten eingeschossen. Dabei übersehen Sie völlig — davon spricht kein Mensch — , daß Ihre Politik dazu geführt hat, daß wir 1988 einen Kapitaltransfer — 1982, als wir regierten, hat Herr Stoltenberg bei 4 Milliarden DM dazu „Kapitalflucht" gesagt — von 120 Milliarden DM gehabt haben.
9994 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17, März 1989
Dr. Ehrenberg
Das hat mit Zahlungsbilanzüberschüssen nur wenig zu tun, denn, lieber Herr Vogt, der Leistungsbilanzüberschuß betrug 85 Milliarden DM, nicht 120 Milliarden DM. Mindestens diese 35 Milliarden DM hätten hier bei einer besseren Steuerpolitik beschäftigungswirksam angelegt werden können.
Aber die Bundesregierung macht nicht diese Kapitalflucht in Höhe von 120 Milliarden DM zum öffentlichen Thema, sondern Sie machen statt dessen die Leistungen des Fremdrentengesetzes zum öffentlichen Thema.
Ich würde Ihnen nach den Wahlergebnissen in Berlin und Hessen — die das Ergebnis Ihrer Politik sind; sieben Jahre Massenarbeitslosigkeit verursachen einen Ruck nach rechts, den Sie jetzt bestätigt bekommen haben — : Fangen Sie an, hiergegen konkret etwas zu tun. Der einzig vernünftige Beitrag bestünde darin, die Beschäftigungslage mit einer expansiven Finanzpolitik und einer auf Wirtschaftswachstum abgestellten Steuerpolitik zu verbessern. Das wäre auch der einzig vernünftige Beitrag zur Aussiedlerproblematik, der — wenn das richtig gemacht würde — hier einen großen Beschäftigungsschub auslösen könnte. Voraussetzung ist allerdings, daß Sie gewillt sind, das Richtige zu tun. Sie könnten unsere moralische Verpflichtung mit der ökonomischen Zweckmäßigkeit verbinden, wenn Sie nicht falschem Verteilungsdenken mit einem Drücken der Lohnquote und anderem nachhängen würden.
Herzlichen Dank.
Bevor ich dem Abgeordneten Scharrenbroich das Wort gebe, muß ich dem Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy wegen einer unqualifizierten Bemerkung einen Ordnungsruf erteilen.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Damit die Zuhörer wissen, worüber wir reden: Wir reden über einen Antrag der SPD aus dem Jahre 1988. Er ist folgendermaßen überschrieben: „Die Lage auf dem Arbeitsmarkt." — Ich muß sagen: Ich halte es für eine Zumutung, daß wir heute über dieses unveränderte Papier beraten müssen,
denn Sie können ja nichts dafür, daß Sie — wie in diesem Papier — immer wieder Ihr Sammelsurium sozialdemokratischer Vorschläge hier vorbringen und daß Ihnen nichts Neues einfällt. Aber daß Sie auch noch beabsichtigen, die Lage so zu diskutieren, wie Sie sie im Jahre 1988 schwarzgemalt haben, das ist eine Zumutung.
Ihr Antrag ist eine Ansammlung von Falschmeldungen dieses Horrorszenarios. Das fängt ja schon bei der Überschrift an. Sie hätten heute besser gesagt: Sozialdemokratisches Zerrbild der erfolgreichen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung.
Aber Ihr Antrag ist trotzdem von Bedeutung, weil er ein wichtiges Selbstzeugnis der Sozialdemokratie ist. Sozialdemokraten verfälschen die Wirklichkeit, und sie verbreiten Zukunftsängste. Das wird in diesem Papier dokumentiert.
Erste Falschmeldung: Sie beschreiben nicht die Lage auf dem Arbeitsmarkt, sondern bieten ein Zerrbild. Falschmeldung Nummer 2: Sie reden von einem wirtschaftlichen Abschwung. Die Wirklichkeit dagegen: Wir haben im siebten Jahr ein hohes Wirtschaftswachstum.
Das ist ein Rekord in der Wirtschaftsgeschichte dieser Bundesrepublik. Das hatten wir noch nie gehabt!
Nach dem Wirtschaftswachstum von 3,4 % im Jahre 1988 streiten wir uns im Augenblick darum, ob im Jahre 1989 das Wirtschaftswachstum 2,5 oder 3 % beträgt. Das ist unser Problem!
Herr Abgeordneter Schreiner, ich möchte Sie doch allen Ernstes bitten, nicht zu übertreiben. Es war eben, als Sie nicht im Saal waren, bei Ihrer Fraktion wesentlich sachlicher und ruhiger als jetzt.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, fahren Sie fort.
Falschmeldung Nr. 3: Sie reden von einem schwachen Beschäftigungsanstieg. Die Wirklichkeit dagegen: Seit 1983 ist die Zahl der Beschäftigten Jahr für Jahr gestiegen. Man kann davon ausgehen, daß wir noch nie so viele Beschäftigte in der Bundesrepublik hatten, wie jetzt erreicht.
Herr Ehrenberg, damit Sie mit Ihren Zahlen nicht ganz durcheinanderkommen, möchte ich Ihnen ein Schaubild zeigen, das ich mitgebracht habe. Es zeigt den Abstieg bei den Beschäftigtenzahlen und den Wiederaufstieg, seit es eine CDU/CSU-Bundesregierung gibt. Herr Ehrenberg, ich will Ihnen auch sagen, wer seinerzeit Arbeitsminister war: Das waren Sie, danach war Herr Westphal Arbeitsminister, und der Kanzler hieß Helmut Schmidt.
Bitte schön, Herr Dr. Ehrenberg.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9995
Könnten Sie vielleicht an Hand Ihrer Tabelle bestätigen, daß wir den höchsten Beschäftigungsstand nicht jetzt haben, sondern daß dieser Stand 1980 nach der Zahl der Erwerbstätigen um 200 000 und nach der Zahl der unselbständig Beschäftigten um 100 000 höher war, nicht niedriger?
Nein, Herr Ehrenberg, ich habe mein Manuskript genau vorgelesen und habe gesagt: Man kann davon ausgehen, daß wir noch nie so viele Beschäftigte in der Bundesrepublik hatten, wie jetzt erreicht. Wenn die Beschäftigtenzahlen vom März vorliegen, wird das bestätigt sein.
Falschmeldung Nr. 4: Die SPD erweckt den Eindruck, unter unserer Regierung würde die Arbeitslosigkeit ständig zunehmen. Die Wirklichkeit sieht so aus: 900 000 im Jahre 1980 und Verdoppelung bis 1982 auf 1,8 Millionen.
— Herr Ehrenberg, auch dafür habe ich ein Schaubild. Damals, als die Arbeitslosigkeit hochging, waren Sie Arbeitsminister. Hier oben haben wir es dann
wenigstens gehalten. Dafür gibt es einen Grund. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat bei der Vorlage der jüngsten Arbeitsmarktzahlen gesagt — ich zitiere — :
Obwohl nach wie vor mehr Frauen wieder oder neu auf den Arbeitsmarkt kommen und obwohl die große Zahl von Aussiedlern — mehr als 60 sind im erwerbsfähigen Alter — Arbeitsplätze nachfragen, obwohl die 2. Ausländergeneration, in der Bundesrepublik Deutschland geboren, ins erwerbsfähige Alter hineinwächst, glaube ich,
— so der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit —
daß bei einer Fortsetzung der derzeitigen Entwicklung berechtigte Hoffnung besteht, in diesem Jahr das eine oder andere Mal die 2-Millionen-Grenze zu unterschreiten.
Das ist ein sehr wichtiges Zitat des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit.
Herr Scharrenbroich, gestatten Sie dem Abgeordneten Reimann eine Zwischenfrage?
Ja, wenn es nicht angerechnet wird.
Meine Großzügigkeit ist ja nun bekannt. — Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Eine ganz kurze Zwischenfrage, Herr Kollege Scharrenbroich: Ist es richtig, daß die jetzige Regierung bei ihrer Amtsübernahme den Wählern versprochen und angekündigt hatte, innerhalb ihrer ersten Wahlperiode die Arbeitslosigkeit um eine Million abzubauen? Ist das richtig?
Es ist richtig, daß wir keine Vorstellung hatten, wie schwer es war, den Schaden, den Sie angerichtet hatten, wieder zu beheben.
Man könnte die Reihe sozialdemokratischer Falschmeldungen, die in diesem Selbstzeugnis belegt sind, beliebig fortsetzen. Wir kommen auf dieses Selbstzeugnis sicher noch oft zu sprechen, auch darauf, daß entgegen Ihren Aussagen die real verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner in den letzten Jahren ständig gestiegen sind.
Die Realeinkommenssteigerung ist uns wichtig, denn für die Menschen heißt das mehr Wohlstand, und für den Arbeitsmarkt heißt es mehr Nachfrage und deshalb mehr Beschäftigung.Die Lage am Arbeitsmarkt bessert sich zusehends, obwohl — darauf mache ich aufmerksam — einige gesetzgeberische Maßnahmen, die wir inzwischen beschlossen haben, noch gar nicht Wirkung zeigen können. Ich nenne hier vor allem die dritte Stufe der Steuerreform 1990. Sie beläßt Einkommen beim Konsumenten und entlastet natürlich massiv die Unternehmen in Form der Personengesellschaften. 90 unserer Unternehmen sind Personengesellschaften, die durch diese Senkung auch der Einkommensteuer profitieren, und das ist gut für die Arbeitsplätze. Die dritte Stufe schafft einen Nachfrageimpuls von 19 Milliarden DM.In einer arbeitsmarktpolitischen Debatte muß, glaube ich, natürlich auch darauf aufmerksam gemacht werden, daß die in dieser Legislaturperiode beschlossenen Zukunftsreformen die internationale Konkurrenzfähigkeit des Standortes Bundesrepublik verbessern. Mit der Rentenreform und mit der Gesundheitsreform sichern wir das hohe Wohlstandsniveau und stoppen gleichzeitig den Anstieg der Lohnnebenkosten.In einer arbeitsmarktpolitischen Debatte darf man auch nicht verschweigen, daß die Koalitionsbeschlüsse dieser Woche im Rahmen der — wie man das so nennt — „Operation Kassensturz" auch arbeitsmarktpolitisch positive Wirkungen haben. Das gilt ohne Zweifel besonders für die Impulse zugunsten des Wohnungsbaus. Wir schaffen Anreize zur Investition von Privatkapital. Wir provozieren damit etwa 10 Milliarden DM jährlich an Investitionen.Auch die arbeitsmarktpolitischen Wirkungen aus den familienpolitischen Beschlüssen von gestern möchte ich hier betonen. Ich meine dabei nicht nur das Kindergeld, das etwa 800 Millionen DM für den Konsum freisetzt
— darauf komme ich zu sprechen, Herr Kollege Schreiner —, sondern ich meine vor allem die Verlängerung des Erziehungsurlaubs um ein halbes Jahr, das Kernstück der gestrigen Beschlüsse. Natürlich ist dies alles aus familienpolitischen Gründen beschlos-
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Scharrenbroichsen worden. Aber daß der Arbeitsmarkt entlastet wird, wenn Beschäftigte ein halbes Jahr länger nicht mehr erwerbstätig sind, dann ist das sehr wichtig, und das wird seine Arbeitsmarktwirkung haben.
Herr Schreiner, weil Sie schon wieder den Sozialneid mobilisieren, muß es hier im Klartext ausgesprochen werden: Auch die gestern beschlossene Familien- und Pflegehilfe wird sich auf den Arbeitsmarkt positiv auswirken.
Wir hatten die Diskussion nur, weil wir das nicht unbedingt im familienpolitischen Konzept beschlossen haben wollten. Aber daß das arbeitsmarktpolitisch wirkungsvoll ist, daran gibt es keinen Zweifel.
— Herr Schreiner, Sie können doch nicht in Sonntagsreden fordern, daß wir die Zahl der sozialversicherungsfreien Arbeitsverhältnisse erniedrigen, aber wenn hier jetzt ein Instrument angeboten wird, daß sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse steuerlich abgesetzt werden können, das dann als falsch darstellen. Das ist doch nicht mehr wahr.
Natürlich ist arbeitsmarktpolitisch richtig, was die Koalition beschlossen hat. Es ist auch eine wichtige Abrundung unseres Pflegekonzeptes,
daß man dort, wo Schwerstpflegefälle zu Hause sind, die Kosten beschränkt abziehen darf.Aus dem gestrigen Beschluß ist vor allem hervorzuheben, daß es heißt:Der Rahmen des Bundeshaushaltes 1990 wird auf eine Zuwachsrate von 3 % begrenzt.Das ist auch wirtschafts- und beschäftigungspolitisch wichtig, weil die Wirtschaft jetzt weiß, daß wir keine Zinstreiberei betreiben, daß wir trotz dieser wichtigen Leistungsverbesserungen die Inflation nicht beschleunigen.
Herr Abgeordneter Schreiner, wenn Sie sich etwas mehr zurückhalten würden, dann würde diesem Ihrem Wunsche eher Rechnung getragen.
Herr Schreiner, ich habe mir ein Zitat des Kollegen Dreßler aus der Diskussion vom 10. März mitgebracht. Ich will es Ihnen dann einmal vorlesen. Orientieren Sie sich bitte an Ihrem sozialdemokratischen Kollegen, der sagt:
Meine Kolleginnen und Kollegen ..., der bekannte Schriftsteller Egon Erwin Kisch hat ein Buch geschrieben, dessen Titel heißt „Nichts ist erregender als die Wahrheit". Ich stelle fest, der Titel trifft wohl auf diese Minute und damit auch auf Ihre Stimmungslage zu.
Herr Schreiner, also alles ein bißchen ruhiger!
Die regional zu hörenden Klagen der Arbeitgeber, sie fänden keine Arbeitskräfte mehr, sind schon ein Beweis dafür, daß wir uns wenigstens in einigen Regionen einer besseren Beschäftigungslage nähern. Aber — deswegen muß das deutlich gesagt werden — es hilft nicht, wenn wir nur einzelne Maßnahmen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit ergreifen. Wichtig ist — das ist der Kernsatz unserer Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik: Je stärker die allgemeine Arbeitslosigkeit abnimmt — auf diesem Wege sind wir — , um so mehr Chancen haben Langzeitarbeitslose, dann von den Unternehmen gesucht und eben auch eingestellt zu werden. Auf diesem Wege ist diese Bundesregierung. Wir werden uns davon auch durch Ihre Falschmeldungen nicht abbringen lassen.
Nun hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär von Wartenberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wort zu Ostern zum Schluß dieser Debatte: Es macht Spaß, mit Herrn Kollegen Ehrenberg zu diskutieren, weil er gern mit Statistiken spielt und heute in seiner Rede die Lokomotivfunktion der SPD/FDP-Regierung in seiner Amtszeit dargestellt hat. Herr Kollege Ehrenberg, in Ihrer Amtszeit als Arbeitsminister von 1976 bis 1982 stieg die Arbeitslosigkeit um 750 000.
Herr Kollege Ehrenberg, das ist die „Lokomotivfunktion". Vom Herbst 1976 bis zum Herbst 1982 stieg die Arbeitslosigkeit um 800 000.
Sie sollten darstellen, daß in Ihrer Regierungszeit von 1969 bis 1982 die Arbeitslosigkeit von 125 000 auf über 2 Millionen gestiegen ist.
Das ist genau der Punkt, an dem Sie mit Taschenspielertricks arbeiten. Sie zitieren immer nur dann am liebsten die Jahresdurchschnittszahlen, wenn sie günstig sind, und vergessen völlig, daß wir gerade im Jahre 1982 einen massiven Beschäftigungseinbruch zu verzeichnen hatten, nämlich vom Mai 1982 mit 1,6 Millionen Arbeitslosen auf 2,2 Millionen Arbeitslose im Dezember desselben Jahres. Das ist ungefähr der Ist-Zustand von heute.
Sie können doch nicht annehmen, daß eine Regierung, die im Oktober 1982 ins Amt getreten ist, innerhalb von zwei oder drei Monaten diesen Beschäftigungseinbruch, der zu verzeichnen war, gleich umdreht. Wir mußten bei 2,2 Millionen Arbeitslosen beginnen, Politik zu machen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. März 1989 9997
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Wir wollen ja alle konzertiert zum Schluß kommen.
Jeder interpretiert die Statistik so, wie er es haben will. Jetzt interpretiere ich sie einmal und darf fortsetzen, was Sie prognostiziert haben. Im Juli des Jahres 1982, also vor der Wende in Bonn, hat Wolfgang Roth im Bonner „Express" ausgeführt, daß, wenn die SPD weiterregiert, im nächsten Winter die 2-MillionenGrenze überschritten wird. Das war schon eine richtige Prognose. Horrorzahlen wie in England von 3,2 Millionen Menschen ohne Arbeit schienen auch bei uns nicht mehr unmöglich zu sein.
Das war die Ausgangsposition der SPD vor der Regierungsübernahme durch CDU/CSU und FDP.
Hätten Sie weiterregiert, hätten Sie über 3 Millionen Arbeitslose gehabt. Dadurch, daß wir sie heute nicht haben, haben wir unser politisches Versprechen, 1 Million Arbeitslose zu verhindern, wahr gemacht. Wir haben nur etwas über 2 Millionen Arbeitslose.
Mit Ihrem Antrag vom Mai 1988, in dem Sie mit völlig falschen Prognosen — die Zitate haben die Kollegen in der Debatte vorgetragen — gearbeitet haben,
mit einer Verdrehung der Tatsachen wollten Sie selbst uns suggerieren, daß der Wirtschaftsaufschwung am Arbeitsmarkt vorbeigegangen ist.
Das wird dadurch nicht zutreffender.
Die Zahl der Arbeitsplätze ist um 1 Million gestiegen. Die von Ihnen angekündigte drohende Arbeitslosenzahl von über 3 Millionen ist verhindert worden. Der Arbeitsmarkt geht am Wirtschaftsaufschwung nicht vorbei. Er wäre am Wirtschaftsaufschwung vorbeigegangen, wenn wir Ihre Politik betrieben hätten.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag der Fraktion der SPD zur Lage auf dem Arbeitsmarkt auf Drucksache 11/2375 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Zusätzliche Vorschläge werden offensichtlich nicht gemacht. Dann ist dies so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung. Es ist mir ein Bedürfnis, denjenigen, die so lange ausgeharrt haben, für ihre Geduld zu danken. Ich wünsche Ihnen für die Osterpause mindestens einige erholsame Tage.
Die Sitzung ist geschlossen.