Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in der Vergangenheit ist der Hungerstreik von Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen als politisches Kampfmittel betrachtet und benutzt worden. In der Vergangenheit haben die organisierten Hungerstreiks von RAF-Mitgliedern in der Öffentlichkeit, aus welchen Gründen auch immer, größere Aufmerksamkeit gefunden.
Jetzt wird uns vom zehnten Hungerstreik seit 1973 berichtet. Er hat dieses Mal eine neue Struktur erhalten; Frau Vollmer ist darauf eingegangen. Erstmals wenden Terroristen in deutschen Gefängnissen eine Methode an, die von IRA-Mitgliedern bis zur letzten Konsequenz durchgehalten wurde. 1981 starben dabei zehn IRA-Mitglieder.
In früheren Jahren wurde in der Öffentlichkeit heftig darum gestritten, ob Häftlinge im Hungerstreik gegen ihren entschiedenen Willen zwangsernährt werden dürften oder gar zwangsernährt werden müßten oder eben nicht. Seit 1985 haben wir eine andere Rechtslage. Sie wurde vom Deutschen Bundestag beschlossen, als gerade der neunte Hungerstreik von RAF-Mitgliedern stattfand.
Heute wie damals stellt man sich die Frage, was Menschen in diese Form der Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat treibt. Ich habe versucht, das mir zugängliche Material, insbesondere die Hungerstreik-Infos, so gründlich zu lesen, wie es bei der Fülle an Arbeit nur möglich war. Die Hauptforderung scheint mir die nach der Zusammenlegung der RAF-
Häftlinge in eine oder zwei große Gruppen zu sein. Dabei wird so argumentiert, als wenn es sich bei diesen Gefangenen nicht auch um Mörder, Räuber oder Erpresser handelte. Nein, sie fühlen sich als Gefangene eines verhaßten Systems, das sie glauben auf jede Weise bekämpfen zu können. Sie glauben, für sich besondere Rechte in Anspruch nehmen zu dürfen. Das Zusammenlegen ganzer Gruppen von Terroristen wäre ein solches besonderes Recht.
Diese Gefangenen befinden sich in den Justizvollzugsanstalten, weil sie große Schuld auf sich geladen haben. Manche von ihnen haben das eingesehen. Bei anderen scheint ein entsprechender Denkprozeß begonnen zu haben. Ich befürchte, daß der gegenwärtige Hungerstreik vor allem dazu dienen soll, die Nachdenklichen unter den Terroristen wieder in die nach meiner Auffassung bestehende Organisation zu zwingen. Dabei wird bewußt in Kauf genommen, daß hier Leben in Gefahr gerät. Der Gefangene muß wissen, daß er wie jede andere Person die Verantwortung für eine freiwillige und eigenverantwortliche Nahrungs- oder Behandlungsverweigerung selbst zu tragen hat. Er kann diese Verantwortung nicht auf einen fiktiven Gegner abwälzen.
Hier sind also Menschen auf dem Wege, in furchtbarer Verblendung das eigene Leben wegzuwerfen, um wieder andere Menschen gegen diesen Staat und gegen unsere Gesellschaft zu mobilisieren. Jeder, der heute in einen Hungerstreik tritt, weiß von unserer Rechtslage. Diese heißt: Mit dem Eingreifen eines Arztes ist so lange nicht zu rechnen, wie der Gefangene diesem ärztlichen Tun widerspricht oder gar Widerstand leistet. Das freie Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen wird anerkannt, wenn es um seine Person und um sein Leben geht. Der einzelne hat gegenüber dem Staat auch keine Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens. Eine Rechtspflicht zum Weiterleben besteht nicht. Insoweit darf der Staat erst dann eingreifen, wenn sich der Betroffene selbst nicht mehr helfen kann, es sei denn, er wünscht von sich aus Hilfe anderer.
Ich sehe, daß es da Abgrenzungsschwierigkeiten zum Sozialstaatsprinzip geben kann, das verbietet, jemanden sich und seinem Schicksal zu überlassen. Das Selbstbestimmungsrecht muß aber wohl Vorrang haben.
Ich möchte wünschen, daß die inhaftierten RAF-Mitglieder einsehen, daß die gegenwärtigen Haftbedingungen bestehenbleiben müssen. Ich bin überzeugt, daß nur so Möglichkeiten zur Selbstbesinnung des einzelnen oder der einzelnen geschaffen werden oder erhalten bleiben können.