Protokoll:
10122

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 10

  • date_rangeSitzungsnummer: 122

  • date_rangeDatum: 27. Februar 1985

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 14:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:18 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 10/122 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 122. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 27. Februar 1985 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 9009 A Bericht zur Lage der Nation Dr. Kohl, Bundeskanzler 9009 B Dr. Apel SPD 9017 C Dr. Dregger CDU/CSU 9023 C Frau Dr. Vollmer GRÜNE 9027 C Hoppe FDP 9030 D Diepgen, Regierender Bürgermeister des Landes Berlin 9033 D Büchler (Hof) SPD 9037 A Genscher, Bundesminister AA 9039 D Schlaga SPD 9043 D Lintner CDU/CSU 9045 C Handlos fraktionslos 9047 C Schneider (Berlin) GRÜNE 9049A Dr. Haack SPD 9050 D Windelen, Bundesminister BMB . . . 9053 B Dr. Vogel SPD 9054 B Nächste Sitzung 9058 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 9059* A Anlage 2 INFCE-Empfehlungen betr. den Anreicherungsgrad des Urans bei der Produktion von Kernbrennstäben MdlAnfr 5, 6 07.12.84 Drs 10/2587 Becker (Nienberge) SPD ErgSchrAntw PStSekr Spranger BMI . . 9059* B auf ZusFr Catenhusen SPD Anlage 3 Polnische Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland seit 1980 MdlAnfr 44 11.01.85 Drs 10/2712 Dr. Hupka CDU/CSU ErgSchrAntw StSekr Dr. Fröhlich BMI . 9059*D auf ZusFr Dr. Hupka Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 122. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Februar 1985 9009 122. Sitzung Bonn, den 27. Februar 1985 Beginn: 14.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Berichtigung 121. Sitzung, Seite 9005* C; nach der 21. Zeile ist nach dem Wort „vorgesehen" einzufügen: „steuerlichen Gleichbehandlung von eigengenutzten". Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 1. 3. Breuer 1. 3. Büchner (Speyer) * 1. 3. Dr. von Bülow 28. 2. Dr. Bugl 28. 2. Cronenberg (Arnsberg) 27. 2. Ertl 1. 3. Gallus 1. 3. Frau Gottwald 1. 3. Haehser 1. 3. Dr. Hauff 1. 3. Freiherr Heereman von Zuydtwyck 27. 2. Jung (Düsseldorf) 1. 3. Frau Kelly 1. 3. Dr. Kreile 27. 2. Frau Dr. Lepsius 1. 3. Lohmann (Witten) 27. 2. Mischnik 27. 2. Dr. Müller 1. 3. Polkehn 1. 3. Dr. Scheer 28. 2. Schlottmann 1. 3. Dr. Schöfberger 1. 3. Schröder (Hannover) 27. 2. Frau Simonis 1. 3. Dr. Stark (Nürtingen) 1. 3. Stockhausen 1. 3. Uldall 27. 2. Voigt (Frankfurt) 27. 2. Weinhofer 1. 3. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Ergänzende Antwort des Parl. Staatssekretärs Spranger auf die Zusatzfrage des Abgeordneten Catenhusen (SPD) zu der Frage des Abgeordneten Becker (Nienberge) (SPD) (Drucksache 10/2587 Fragen 5 und 6, 110. Sitzung, Seite 8210 B): Ihre Zusatzfrage: Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Hochtemperaturreaktor in Schmehausen in- Anlagen zum Stenographischen Bericht nerhalb weniger Jahre auf Brennelemente mit niedrig angereichertem Uran umgestellt werden könnte, ohne daß es zu einer Betriebsunterbrechung kommen müßte, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesem Sachverhalt für ihre Zielsetzung, hochangereichertes Uran möglichst wenig einzusetzen? beantworte ich im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Forschung und Technologie wie folgt: Der Bundesregierung ist bekannt, daß eine Umstellung des THTR-300 vom beantragten und genehmigten Thorium/Uran-Kreislauf auf einen anderen Zyklus mit niedrigerer Anreicherung aus heutiger Sicht technisch innerhalb einiger Jahre möglich sein kann. Zu gegebener Zeit werden für den THTR-300 unter Auswertung der Betriebserfahrungen mit dem Betreiber die sicherheitstechnischen und betrieblichen Voraussetzungen einer Umstellung auf niedrig angereichertes Uran zu prüfen sein. Bei der Planung von Nachfolgerreaktoren dieser Linie wird der Einsatz von Brennelementen mit niedriger angereichertem Uran verfolgt. Anlage 3 Ergänzende Antwort des Staatssekretärs Dr. Fröhlich auf die Frage des Abgeordneten Dr. Hupka (CDU/CSU) (Drucksache 10/2712 Frage 44, 114. Sitzung, Seite 8489): In der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 17. Januar 1985 haben Sie im Anschluß an die Beantwortung der Frage 44 die Zusatzfrage gestellt, wie viele der dem Ausländerzentralregister zwischen 1980 und 1984 gemeldeten 20 952 polnischen Staatsangehörigen, die zugezogen sind, ohne einen Asylantrag gestellt zu haben, wieder zurückgegangen sind. Die Bundesregierung kann diese Frage nicht beantworten, weil ihr entsprechende Angaben nicht zur Verfügung stehen. Dies beruht zum einen darauf, daß nicht alle polnischen Staatsangehörigen, die in ihr Heimatland zurückkehren, sich bei den zuständigen deutschen Behörden abmelden und zum anderen darauf, daß bei der Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland Zählkontrollen nicht durchgeführt werden.
Gesamtes Protokol
Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1012200000
Die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um drei Zusatzpunkte erweitert werden. Diese Punkte sind in der Liste „Zusatzpunkte zur verbundenen Tagesordnung", die Ihnen vorliegt, aufgeführt:
1. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
— Drucksache 10/955 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuß)

— Drucksache 10/2836 —
Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Schoppe

(Erste Beratung 67. Sitzung)

2. Beratung des Antrags des Abgeordneten Drabiniok und der Fraktion DIE GRÜNEN
Transport von dioxinhaltigen Abfällen aus der Pentachlorphenol- Produktion der Firma Dynamit- Nobel, Rheinfelden
— Drucksache 10/2920 —
3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
— Drucksache 10/2928 —
Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland
Hierzu liegen auf Drucksache 10/2927 ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und auf Drucksache 10/2935 ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung fünf Stunden vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort zum Bericht.

Dr. Helmut Kohl (CDU):
Rede ID: ID1012200100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland im Frühjahr des Jahres 1985 findet in einem politischen und geschichtlichen Augenblick statt, in dem verständlicher- und, wie ich denke, auch notwendigerweise unsere Gedanken zurückgehen in das Jahr 1945, 40 Jahre zurück zum Ende der Barbarei der Nazis, des Dritten Reiches, des Zusammenbruchs des Reiches, aber auch zur Chance der Freiheit, die sich damit für den größeren Teil unseres Vaterlandes auftat.
Deutschland ist geteilt, ungeteilt aber ist der Wille des deutschen Volkes zur Einheit in Freiheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ob vor 40 Jahren, ob heute, ob morgen: die Freiheit bleibt Kern der deutschen Frage. Die Einheit der Nation soll und muß sich zuallererst in der Freiheit ihrer Menschen erfüllen.
Unsere Deutschlandpolitik, die Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung der Koalition der Mitte, hat sich auch seit meinem letzten Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland — einigen Belastungen zum Trotz — nach Zielsetzung, Anlage und Methode bewährt. Zwei Ereignisse der jüngsten Zeit zeigen die Chancen dieser Politik, erinnern uns aber auch an die Grenzen:
Am 16. Dezember, vor wenigen Monaten, wurde ohne viel öffentliches Aufsehen, fast beiläufig, die Autobahnbrücke über das Werratal zwischen Wartha und Eisenach eröffnet. Die Bundesrepublik Deutschland hat diese Brücke, das größte Brückenbauwerk in der DDR, entscheidend gefördert. Diese Brücke lädt zu Hoffnungen ein, daß sie Thüringen und Hessen verbindet, Goethes Weimar und Goethes Frankfurt, aber auch den Messeplatz Leipzig mit Wirtschaftszentren in der Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen, wir wünschen, daß viele Menschen diese Brücke benutzen können — in beiden Richtungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zustimmung des Abg. Bahr [SPD])

Einen Monat nach diesem Brückenschlag wurde mitten in Berlin an der Bernauer Straße im Vor-streifen der Mauer von der DDR eine neugotische Backsteinkirche gesprengt, um die Grenze besser kontrollieren zu können. Daß diese Kirche „Versöhnungskirche" hieß, drängt schmerzliche Gedanken auf.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Der Bau einer Brücke, um West und Ost zu verbinden, und die Sprengung einer Kirche, um Ost und West zu trennen: beides ist deutsche Wirklichkeit an der Jahreswende 1984/85, Beide Ereignisse sind weit mehr als nur Impressionen zur Lage in Deutschland; sie sind Symbole und Erfahrungen, die uns politisch und menschlich bewegen.
Der Bau der Brücke zeigt die Richtung, in die wir zu gehen haben. Die Sprengung der Kirche zeigt, wie lang, wie schwer und wie ungewiß der Weg ist, der noch vor uns liegt, um mit der Teilung Europas auch die Spaltung Deutschlands zu überwinden.
In diesem Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland will ich mich vor allem auf fünf Punkte konzentrieren.
Erstens. Nation und Freiheit zu verbinden — das ist der Maßstab, vor dem unsere Deutschlandpolitik bestehen muß.
In der Geschichte Europas bilden seit dem Zeitalter der Aufklärung Nation und Freiheit eine spannungsreiche ideelle Einheit. Von Anfang an war in dieser Idee der Nation ebenso viel Schöpferkraft wie Sprengkraft enthalten.
Seit der Französischen Revolution wird die europäische Geschichte von der Auseinandersetzung bestimmt, die aus dieser Spannung entstand — geistig, wirtschaftlich und militärisch. Die Geschichte unseres eigenen Volkes lehrt uns: Wo Freiheit unterdrückt wird, gehen schließlich Menschen zugrunde.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerade der 40. Jahrestag des 8. Mai 1945 erinnert uns Deutsche auf die eindringlichste Weise an das kostbare Gut der Freiheit und an die Verantwortung für die Bewahrung von Frieden und Freiheit. Dieser Tag ist ein Tag der Selbstbesinnung, ein Tag der Erinnerung und der Trauer ebenso wie der Dankbarkeit und der Hoffnung. Es war der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, der kurz nach seiner Wahl das Wort prägte, der 8. Mai 1945 sei ein Tag tiefer Paradoxie, „weil wir" — so sagte er — „erlöst und vernichtet in einem gewesen sind".
Wir trauern um die Opfer der Gewaltherrschaft, des Rassenwahns und eines total geführten Krieges. In diese Trauer mischt sich die Scham für das, was im deutschen Namen an Verbrechen geschah.
Erinnerung ist auch notwendig angesichts der fortdauernden Haftung, die uns für die Schreckenstaten des Dritten Reiches obliegt.
Der 8. Mai, meine Damen und Herren, erweckt aber auch Gedanken der Dankbarkeit. Die Deutschen waren befreit vom Schrecken des Krieges und von den tausend Verstrickungen, die der totalitäre NS-Staat geschaffen hatte.
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Aber Befreiung brachte er nicht allen. Unser Vaterland, die Mitte Europas, wurde geteilt. Für die Deutschen in der DDR und für unsere östlichen europäischen Nachbarvölker wurde der 8. Mai auf bisher unabsehbare Zeit zum Tag der Ablösung der einen Diktatur durch eine andere.
Aber auch Hoffnung bedeutet dieser Tag: Hoffnung, daß die Vision der Patrioten des Hambacher Festes 1832 und der Paulskirche 1848, die ein freies Deutschland in einem freien Europa erstrebten, bis heute und in der Zukunft zu den Möglichkeiten auch der deutschen Geschichte gezählt werden kann.
Aus dieser Hoffnung schöpften die Menschen an dem tiefsten Punkt deutscher Geschichte die Kraft für einen Neubeginn. Sie konnten auf dem Fundament aufbauen, das von jenen Deutschen errichtet worden war, die den Widerstand gegen Hitler gewagt hatten — dem moralischen Fundament für unsere demokratische Ordnung und den sozialen Rechtsstaat.
Nur vier Jahre nach dem Ende von Krieg und Diktatur erlebten wir in diesem, im freien Teil unseres Vaterlandes die Geburtsstunde einer neuen, einer freiheitlichen Republik. Ganz bewußt — man muß es immer wieder in Erinnerung rufen — haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rats die Schlußabstimmung über das Grundgesetz auf den 8. Mai 1949 gelegt. Damals wandte sich Carlo Schmid, einer der großen Männer der deutschen Nachkriegsgeschichte, in einer eindrucksvollen Rede an die Besatzungsmächte und an die Bürger der neuen deutschen Republik. Er sagte:
Wenn wir auf beiden Seiten nach dem Gesetz der Solidarität handeln, dann wird man einmal sagen können, daß an dem vierten Jahrestag des 8. Mai 1945, an dem das blutige Siegel unter den Zusammenbruch einer Herrschaft des Verderbens gedrückt worden ist, hier in Bonn etwas geschaffen wurde, das die Tore zu einer besseren Zukunft Deutschlands, einer Zukunft Europas, aller Völker Europas weit aufgestoßen hat.
Heute, meine Damen und Herren, können wir mit Stolz feststellen, daß der freiheitliche Neubeginn des Jahres 1949 eine stabile deutsche Demokratie ermöglicht hat. Aus einem zerstörten Land entstand ein Gemeinwesen, das im Frieden mit sich selbst und mit seinen Nachbarn lebt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unser Grundgesetz ächtet Aggression von Verfassung wegen. Krieg und Gewalt werden für uns nie wieder ein Mittel der Politik sein. Als friedlicher Staat streben wir Freiheit für alle Deutschen an.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wie uns der 8. Mai 1945 an das Unheil von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert und zur Selbstbesinnung mahnt, so steht der 8. Mai 1949 auch für die neue Chance, die wir im freien Teil unseres Vaterlandes erhalten haben. Beides bestimmt heute die Lage unserer Nation. Die Teilung unseres Vaterlandes tragen wir als Last in der Folge des von Hitler verschuldeten Krieges. Die Entscheidung für Freiheit und Demokratie begreifen wir als Auftrag für ganz Deutschland und Europa.
Zweitens. Wir — die Bundesrepublik Deutschland — gehören zum Westen. Nur dadurch hat die Freiheit der Deutschen eine Chance.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Vor nunmehr dreißig Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtliche Souveränität erlangt und zugleich fortgeführt, was im Vertrag von Locarno gedanklich angelegt war: die Einfügung der Deutschen in ein Europa freier Völker. Mit dem Vertrag von Locarno vor sechzig Jahren wollten Austen Chamberlain, Gustav Stresemann und Aristide Briand die Grundlage für diesen Weg schaffen. Dabei wußten die Außenminister Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands um die europäische Bedeutung einer dauerhaften Verständigung zwischen den Völkern, vor allen Dingen zwischen Deutschen und Franzosen.
Der Beginn der Schlacht von Verdun, für immer ein Symbol der Sinnlosigkeit des Krieges und jetzt endlich auch für den Wert der Versöhnung, lag damals erst zehn Jahre zurück. Der Vertrag von Locarno vor 60 Jahren scheiterte in der Folgezeit an nationalistischer Kurzsichtigkeit und vermeintlich unüberwindbarer Erbfeindschaft.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in den Pariser Verträgen — einschließlich des damals neugefaßten Deutschlandvertrags — haben wir uns definitiv auf die Idee der europäischen Einigung festgelegt. Im europäischen Rahmen wollen wir unsere Zukunft gestalten und als Friedenswerk in Europa die nationale Frage der Deutschen lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Mit den Pariser Verträgen, die im Mai dieses Jahres dreißig Jahre in Kraft sind, wurde die Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat auf Dauer Mitglied der Bündnisgemeinschaft des freien Westens. Unser Bekenntnis zu Europa ist eine historische Entscheidung, eine politische Tatsache, und sie ist vor allem eine Wertentscheidung für das Europa des Christentums und der Aufklärung, der sozialen Gerechtigkeit und des Rechtsstaates. Wir stehen im Inneren wie nach außen auf der Seite der Freiheit. Die Wertegemeinschaft des westlichen Bündnisses und unsere demokratische Staatsordnung entsprechen einander. In dieser Übereinstimmung kommt die Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck. Es gibt für uns keinen Mittelweg zwischen Demokratie und Diktatur. Wer einen dritten Weg sucht, bringt unsere Freiheit in Gefahr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Konrad Adenauers unzweideutige Entscheidung für die Westbindung, für die Wertegemeinschaft mit den freiheitlichen Demokratien war die Abkehr von jeder Versuchung zu nationalen Sonderwegen. Diese Grundentscheidung ist und bleibt irreversibel.
Ebenso gilt heute und auf Dauer die Verpflichtung der Drei Mächte, Frankreich, Großbritannien und USA, auf die besonderen deutschen Ziele und Interessen, wie sie im Deutschlandvertrag formuliert sind.
Weil die Freiheit der Kern der deutschen Frage ist, ist unser Platz an der Seite unserer Partner und Freunde im Westen. Unsere Freunde begreifen ihrerseits, daß sich durch uns die ganze deutsche Nation mit ihrem Anspruch auf freie Selbstbestimmung ihnen anvertraut. Freiheit und Selbstbestimmung sind unteilbar. Das ist die Bündnisraison des Westens.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Bindung an die freiheitlichen Demokratien des Westens war Konsequenz einer weitsichtigen Entscheidung in europäischer Verantwortung. Westeuropa braucht, um frei zu bleiben, einen stabilen, freiheitlichen Staat in Deutschland, so wie der Schutz durch unsere Partner für den Bestand unserer eigenen Freiheit unentbehrlich ist.
Auch für die Einheit Deutschlands werden wir nicht den Preis der Freiheit zahlen. Die Bewahrung freiheitlicher Lebensform, für uns wir für unsere Nachbarn, hat Vorrang vor allen anderen Zielen.
Gerade auch die Menschen jenseits der Trennungslinie zwischen West und Ost brauchen die Ausstrahlungs- und die Anziehungskraft unseres Beispiels freiheitlicher Ordnung im Westen.
Mit dieser Wirkung ist die deutsche, die europäische Freiheitsfrage ein vitales Element für einen friedlichen Wandel in Europa.
Drittens. Unsere Deutschlandpolitik ist Arbeit für Europa.
Europa ist geteilt, weil ein Teil Europas unfrei ist. Deutschland ist geteilt, weil ein Teil Deutschlands unfrei ist. Natürlich ist die deutsche Frage zuallererst die Sache der Deutschen. Weil aber Deutschland das geographische und geopolitische Mittelstück Europas ist, ist diese Frage mit den europäischen Interessen stets aufs engste verknüpft. Sie war, durch die europäische Geographie und das Gewicht Deutschlands bestimmt, immer eine europäische Zentralfrage. In ihrem Zentrum steht heute die Freiheit für die Europäer, die jenseits der Trennungslinie zwischen West und Ost leben.
Europa wie Deutschland wollen frei zur Einheit finden. Der Schlüssel ist die Selbstbestimmung. Der zu erschließende Freiheitsraum sind die Menschenrechte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es geht nicht um Grenzen, nicht um Hoheitsgebiete, es geht nicht um Souveränität im Sinne des klassischen Nationalstaates. Es geht um Selbstbestimmung und Menschenrechte. Es geht um Volkssouveränität. Nicht souveräne Staaten, sondern souveräne Völker werden den Bau Europas dereinst vollenden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer heute in resignierter Schicksalsfügung einen Schlußstrich unter die deutsche Frage ziehen will, formuliert eine Absage an das Selbstbestimmungsrecht und an die Verwirklichung von Menschenrechten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Er gibt der Freiheit aller Europäer für die Zukunft
keine Chancen. Und er hat die Geschichte nicht
begriffen — ihre Kontinuität so wenig wie den viel-



Bundeskanzler Dr. Kohl
fältigen Wandel auf deutschem Boden in der Mitte Europas.
Auch als europäische Zentralfrage ist die deutsche Frage nicht von der Art, daß sie für abgeschlossen erklärt werden könnte, nicht von Politikern und auch nicht von Historikern. Sie gehört zu den großen Gestaltungsaufgaben unseres Kontinents, seit vor Jahrhunderten in Europa ein Mächtesystem entstand. Sie hatte immer zum Gegenstand und hat es noch, wie Deutschland in Europa eingefügt wird und wie die Deutschen sich einfügen und ihre europäische Verantwortung annehmen oder verweigern.
Der freiwillige Zusammenschluß der europäischen Völker, mit dem wir im westlichen Teil Europas begonnen haben, ist ein zwar mühsamer, aber hoffnungsvoller Ansatz. Wir meinen es ernst damit, und ich werde selbst meine ganze Kraft darin einsetzen, 1985 zu einem Jahr wichtiger Weichenstellungen für Europa zu machen.
Indem wir das europäische Einigungswerk weiter voranbringen, bereiten wir in historischer Perspektive den Weg für eine spätere Aufhebung der Teilung unseres Kontinents. Meine Damen und Herren, unsere geschichtliche Leistung wird einmal daran gemessen, daß wir Nation und Freiheit bewahren und zugleich in Europa das größere Vaterland finden. Wir suchen die Antwort auf die deutsche Frage nicht in Alleingängen, nicht gegen unsere Nachbarn, nicht gegen unsere Nachbarn im Westen und nicht gegen unsere Nachbarn im Osten, und nicht in einer Auflehnung gegen die Geschichte. Das deutsche Haus ist nur zu bauen auf dem Fundament der Menschen- und Bürgerrechte und unter dem Dach eines vereinten Europas. Dabei wissen wir: Die Überwindung der Teilung Europas ist ein gesamteuropäischer Auftrag und nicht nur eine Aufgabe Westeuropas.
Viertens. Unsere Deutschlandpolitik ist ein Beitrag zur Vertiefung und Verstetigung der Ost-WestBeziehungen.
Sie ist langfristig angelegt, sie ist berechenbar, und sie ist ein Element praktischer Friedensarbeit in Europa.
Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung — ich darf das wiederholen — bleibt bestimmt durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, den Deutschland-Vertrag, den Moskauer und den Warschauer Vertrag von 1970, das Viermächteabkommen von 1971, die Briefe zur deutschen Einheit sowie die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages vom 17. Mai 1972, den Grundlagenvertrag mit der DDR und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1973 und Juli 1975.
Meine Damen und Herren, diese Dokumente bekräftigen gänzlich unmißverständlich die deutschen Rechtspositionen, das Festhalten am Friedensvertragvorbehalt ebenso wie unsere Bereitschaft zum Ausgleich und zur Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn; das heißt vor allem auch mit unseren polnischen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

In meiner Regierungserklärung vom 4. Mai, nach der Bundestagswahl 1983, habe ich bekräftigt und für die Bundesregierung erklärt:
Die Bundesrepublik Deutschland wird im Rahmen ihrer Friedenspolitik ihren Kurs der Verständigung, der Vertrauensbildung und der Zusammenarbeit auch mit den Staaten des Warschauer Pakts beharrlich und ohne jede Illusion über die bestehenden Gegensätze weiterverfolgen.
Die Grundlagen sind die geschlossenen Verträge, nach deren Buchstaben und Geist wir unsere Politik mit dem Osten gestalten wollen.
An Polen gerichtet ist auch heute zu sagen: Wir alle wollen Aussöhnung und Verständigung. Wir bekräftigen jetzt und für die Zukunft den Warschauer Vertrag und die darin zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen verankerte „Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen" als „eine grundlegende Bedingung für den Frieden".
Wir, die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen, haben gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche und werden solche auch in Zukunft nicht erheben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in den Gebieten jenseits der polnischen Westgrenze leben heute polnische Familien, denen diese Landschaften in zwei Generationen zur Heimat geworden sind. Wir werden dies achten und nicht in Frage stellen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Auch dieses Wort an unsere polnischen Nachbarn gehört zur Standortbestimmung im Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland. Ich vergesse dabei im Jahre 1985 — in der Erinnerung 40 Jahre zurück — nicht das Schicksal von Millionen unserer Landsleute, für die das Kriegsende den Verlust ihrer Heimat bedeutete, der sie sich auch heute noch besonders verbunden fühlen. Auf der Flucht und bei der Vertreibung fanden mehr als zwei Millionen Menschen — Frauen, Männer, Kinder — den Tod.
Zum Glück für Deutschland und Europa ging die Rechnung jener nicht auf, die die Vertriebenen und Flüchtlinge schon als sozialen Sprengstoff des neuen Deutschland sahen. Es war — das gehört auch in diesen Bericht — eine große Stunde der deutschen Nachkriegsgeschichte, als sich die Vertriebenen und Flüchtlinge — trotz ihrer bitteren Erfahrung — fünf Jahre nach dem Krieg in ihrer Stuttgarter Charta feierlich zum Gewaltverzicht, zur Versöhnung und Zusammenarbeit mit den Län-



Bundeskanzler Dr. Kohl
dern Osteuropas ausgesprochen haben. Das war und ist eine klare Absage an jede Form von Revanchismus, das ist eine Botschaft des Friedens.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Unsere heimatvertriebenen Mitbürger haben, wie jeder von uns weiß, einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Entwicklung unseres Landes und zur Verständigung mit unseren Nachbarn geleistet. Ich bin sicher, daß die Vertriebenen — auch jene, die die Kinder vertriebener Eltern sind — auf diesem Weg des Friedens weitergehen. Meine Bitte ist, daß jeder — wer auch immer für die Vertriebenen spricht — durch die Wahl seiner Worte jeden Zweifel am Willen zur Verständigung ausschließt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Vertragstreue und Berechenbarkeit sind für uns selbstverständlich — auch im Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland. Wir bieten Verläßlichkeit, und ebenso erwarten wir Verläßlichkeit.
Fragen der deutschen Staatsangehörigkeit stehen nicht zur Disposition.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für uns gibt es nur eine deutsche Staatsangehörigkeit. Wir bürgern niemanden aus. Die Bundesregierung hat 1972 beim Abschluß des Grundlagenvertrages nachdrücklich klargestellt, daß Staatsangehörigkeitsfragen durch diesen Vertrag nicht geregelt worden sind. Wenn wir diese durch unser Grundgesetz und andere Gesetze vorgegebene Position vertreten, greifen wir wahrlich nicht in Rechte der DDR ein.
Im übrigen: In der Praxis gibt es damit ja auch keine Probleme. So bestreiten wir der DDR nicht das Recht, im Ausland diejenigen ihrer Bürger zu betreuen, die dies wünschen. Wir unsererseits, meine Damen und Herren, lassen uns nicht — von niemandem — das Recht nehmen, die Deutschen im Ausland zu betreuen, die sich uns zugehörig fühlen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Indem wir an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit festhalten, tragen wir unserer gemeinsamen Vergangenheit, dem Fortbestehen der deutschen Nation und der Tatsache Rechnung, daß die deutsche Frage nicht gelöst ist. Auch die fortbestehenden Viermächterechte und -verantwortlichkeiten sind ein völkerrechtlich wesentliches Element für den Fortbestand der gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit.
Unsere Beziehungen zur DDR sind besonderer Art. Wir sind für die DDR nicht ein Staat wie jeder andere und sie nicht für uns. Auch die DDR kann in Wahrheit kein Interesse daran haben. Beide Staaten können die deutsche Geschichte nicht wie eine unerwünschte Erbschaft ausschlagen.
In 35 Jahren hat sich das Verhältnis der beiden Staaten zueinander mehrfach geändert. Eines ist in allem Wandel deutlich geworden und deutlich geblieben: Es besteht eine besondere Beziehung. Das gilt für die Form des Verhältnisses, das gilt ebenso für die Substanz: die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur, das starke Band menschlicher Beziehungen und die gemeinsame Geschichte, deren Ertrag und Verpflichtung unteilbar bleiben.
Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR lassen sich aus dem Kräftefeld des West-Ost-Verhältnisses nicht herauslösen. Jede Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland entspricht dem Interesse aller europäischen Völker. Andererseits dient jede Verbesserung der West-OstBeziehungen auch den Menschen im geteilten Deutschland, indem sie neue Chancen für mehr Miteinander eröffnet.
Gerade deshalb messen wir, mißt die Bundesregierung den Rüstungskontrollverhandlungen, die in zwei Wochen in Genf beginnen, eine so große Bedeutung bei. Sie bieten nicht nur eine Chance für die Festigung des Friedens, sondern auch Möglichkeiten für den Fortschritt in den Beziehungen der beiden Staaten in Deutschland. Aus diesem Grund haben wir in Gesprächen in West und Ost, aber insbesondere in unseren Konsultationen mit unseren Bündnispartnern, vor allem mit den USA, auf die Aufnahme dieser Verhandlungen hingearbeitet.
Die Verhandlungen werden langwierig und schwierig sein. Aber die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, die wir als Kernstück des Ost-West-Dialogs verstehen, sind auf dem Weg — ich glaube, man kann das sagen — spürbarer Verbesserung.
Wir sind zuversichtlich, daß die Genfer Rüstungskontrollgespräche letztlich zu einer Verbesserung unserer Sicherheit und zur Stabilisierung des Friedens in der Welt führen werden.
Unsere anhaltenden Bemühungen um Dialog und Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn verstehen wir als eine Ergänzung zum Gespräch der Weltmächte. Dabei wissen wir, daß wir diese bilateralen Möglichkeiten und auch unsere Beziehungen zur DDR nur dann erfolgreich nutzen können, wenn sie eingebunden sind in das weltpolitische Gesamtgespräch mit der Sowjetunion als unserem wichtigsten Nachbarn im Osten.
Nur mit Zustimmung der Vier Mächte — also auch der Sowjetunion — wird das deutsche Volk die Chance der freien Selbstbestimmung erhalten. So lange aber bleibt dieser Anspruch auf der Tagesordnung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion. Die Führung der Sowjetunion weiß, daß das stets so war, seitdem wir diplomatische Beziehungen zueinander unterhalten.
Es ist vielleicht richtig, einmal daran zu erinnern, daß in der Einladung an Konrad Adenauer vor bald 30 Jahren, in der Note vom 7. Juni 1955, die sowjetische Seite von sich aus die — ich zitiere wörtlich —,,Lösung des gesamtnationalen Hauptproblems des deutschen Volkes" zum Thema gemacht hat. Und beim Abschluß des Moskauer Vertrags vor 15 Jahren ist der Brief der Bundesregierung zur deutschen Einheit Teil des Vertragswerkes geworden.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Bei unseren Beziehungen zur Sowjetunion ging es von Anfang an immer auch, aber nie allein um politische, wirtschaftliche und kulturelle Fragen. Humanitäre Anliegen standen für uns stets mit im Vordergrund. Den Weg hat Konrad Adenauer gewiesen, als er sich bei seiner Moskau-Reise im September 1955 erfolgreich für die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen einsetzte, die bis dahin in der Sowjetunion zurückgehalten wurden.
Meine Damen und Herren, humanitäre Fragen bewegen uns auch in unserer Zeit. Ich denke an den Wunsch vieler Deutscher und Sowjetbürger deutscher Nationalität, aus der Sowjetunion nach Deutschland ausreisen zu können. Bei meinem Besuch in der Sowjetunion im Juli 1983 habe ich die sowjetische Führung daran erinnert — und wir tun das in allen Gesprächen —, daß dies für uns ein ganz wesentlicher, ein entscheidender Punkt der gegenseitigen Beziehungen ist.
Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern und anderen europäischen Ländern ist es uns gelungen, humanitären Fragen einen festen Platz im KSZE-Prozeß zu sichern. Sicherheit in Europa streben wir ja nicht um der Staatsapparate willen an, sondern zum Wohl der Völker, zum Wohl der Menschen: durch Selbstbestimmung, durch Freiheit und Menschenrechte.
Die Schlußakte von Helsinki, am 1. August zehn Jahre alt, hat ein West-Ost-Rahmenprogramm formuliert, das unserer bilateralen wie multilateralen Deutschland- und Ostpolitik zusätzliche Impulse gibt. Erster Leitsatz dieser Politik ist das Recht aller Völker, in den Worten der Schlußakte — ich zitiere —, „in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen".
Fünftens. Wir haben das Geflecht der Beziehungen zwischen beiden Staaten in Deutschland gefestigt und verdichtet.
Es kommt darauf an, Deutschlandpolitik in einen größeren Rahmen einzufügen, so daß ein Geflecht von Beziehungen bilateraler und multilateraler Art entsteht, das die Deutschlandpolitik trägt und absichert. Es wäre eine falsche Auffassung, daß uns schadet, was der DDR Nutzen bringt, oder daß uns nutzt, was der DDR schadet. Es gehört zu unserer Verantwortung für Deutschland und Europa und zum Anspruch an uns selbst, jene Felder zu vergrößern, auf denen eine Verflechtung der Interessen möglich ist. Wo sie möglich ist, sollte sie auch stattfinden. Die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind durch beides bestimmt: durch Gegensätze und Gemeinsamkeit.
Meine Damen und Herren, wir wollen Spannungen abbauen und Vertrauen schaffen. Dies ist nur zu erreichen durch mehr Kontakte zwischen den Menschen in West und Ost, durch mehr Freizügigkeit, mehr persönliche Freiheit für den einzelnen, durch bessere Reisemöglichkeiten.
Die Teilung Deutschlands, die Teilung Europas ist auch deshalb ein Problem der Menschenrechte, weil es stets zur Instabilität führen muß, wenn den Menschen elementare Menschenrechte vorenthalten werden. Hierzu können, hierzu werden wir nicht schweigen. Als freier Teil eines geteilten Volkes bleiben wir verpflichtet, für die Menschenrechte aller Deutschen einzutreten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerade für uns Deutsche in einem geteilten Land gilt es, Bedingungen zu schaffen, die die Grenzen durchlässiger machen und die Folgen der Teilung Deutschlands und Europas mildern. Wir wollen, daß die Menschen zueinander kommen können. Nicht Grenzen zu verschieben, sondern sie zu überwinden durch Menschlichkeit und Verständigung mit allen unseren Nachbarn, das ist der Kern der Deutschland- und Ostpolitik dieser Regierung.
Menschliche Erleichterungen über die Trennlinie in Europa und in Deutschland hinweg sind für uns unerläßliche Voraussetzung für die Sicherung des Friedens und für mehr Stabilität in Europa. Deshalb bekennen wir uns zu einer Politik des Dialogs und der möglichen Zusammenarbeit mit der DDR. Der Grundlagenvertrag ist Basis und Rahmen für die Entwicklung der Beziehungen. Maßstab ist das Ziel dieses Vertrags, normale, wenn möglich gutnachbarliche Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln.
Beide Seiten sollten sich darum bemühen, die Politik des Dialogs auf allen Ebenen fortzuführen und auf viele Bereiche auszudehnen.
Die Wiederaufnahme der Gespräche beider Weltmächte in Genf über Abrüstung und Rüstungskontrolle, ihr begonnener Meinungsaustausch über regionale Konflikte wie über die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen sollten es allen unseren osteuropäischen Nachbarn ermöglichen, das direkte und persönliche Gespräch auch auf höchster Ebene wieder in Gang zu bringen. Die Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Weltmächten bedarf der Unterstützung und Untermauerung durch die europäischen Bündnispartner in Ost und West.
Die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bestehenden prinzipiellen Unterschiede sollen und können nicht verwischt werden. Sie brauchen aber der Lösung praktischer und vor allem humanitärer Fragen nicht entgegenzustehen. Wir wollen uns auf das Machbare konzentrieren. Beide Seiten dürfen sich in diesem Prozeß nicht überfordern.
Jede Seite muß Leistungen einbringen. Sie setzen Vertrauen voraus und werden neues Vertrauen schaffen.
Die Bundesregierung hat ihren Wunsch und ihre Bereitschaft zu Dialog und Zusammenarbeit mit der DDR u. a. durch die Garantie für die beiden Bankkredite signalisiert. Die Botschaft ist verstanden und mit einer Reihe positiver Gegensignale beantwortet worden.
Diese Entscheidungen haben das Verhältnis zwischen den beiden Regierungen stabilisiert und zur Verstetigung der Beziehungen beigetragen.
Trotz unleugbarer beträchtlicher Spannungen im Ost-West-Verhältnis hat unsere Deutschlandpolitik auch im letzten Jahr beachtliche Erfolge aufzuwei-



Bundeskanzler Dr. Kohl
sen. Trotz aller Prophezeiungen nach der Stationierung in der Bundesrepublik Deutschland im Blick auf eine neue Eiszeit sind 1984 über 40 000 deutsche Landsleute aus der DDR zu uns übergesiedelt. Wir begrüßen dies im Interesse der Betroffenen. Viele von ihnen sahen in einer Übersiedlung aus der DDR ihre letzte Hoffnung.
Die Verantwortlichen in der DDR bleiben aufgerufen, durch tatsächliche Erleichterungen bei Besuchsreisen in die Bundesrepublik einen kräftigen Schritt nach vorn zu gehen, um den Druck zu mildern, den offenbar viele unserer Landsleute in der DDR empfinden.
An dieser Stelle erlauben Sie mir ein Wort zu den Zufluchtsfällen in unseren Vertretungen, insbesondere in der Botschaft in Prag. Die Bundesregierung — ich will das hier wiederholen — hat immer wieder erklärt, daß dieser Weg ungeeignet ist, die Ausreise aus der DDR zu erzwingen. Von einem solchen Schritt kann nur abgeraten werden.

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

Aber auch diese Vorgänge zeigen eben mit aller Deutlichkeit, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Menschen nicht ungehindert von dem einen in den anderen Teil Deutschlands reisen können

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) und in ihrer Not keinen anderen Ausweg sehen.

Die DDR hat zugesagt, Reisen in dringenden Familienangelegenheiten großzügiger zu genehmigen. Hierzu paßt es nicht, daß 1984 weniger Besucher in dringenden Familienangelegenheiten zu uns kommen konnten als 1983.
Erfreulich entwickelt hat sich dagegen der Reiseverkehr in die DDR. Die Bundesregierung hat es begrüßt, daß die DDR die Kinder vom Mindestumtausch wieder freigestellt und den Umtauschsatz für Rentner gesenkt hat. Eine Reduzierung des Mindestumtausches für alle Reisenden bleibt auch für die Zukunft ein wichtiges Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Die Abfertigung im Reise- und Besucherverkehr ist seit Mitte 1983 spürbar verbessert worden. Ich will an dieser Stelle unsere Mitbürger noch einmal ausdrücklich ermuntern und dazu aufrufen: Nutzen Sie die Chance, fahren Sie in die DDR, suchen Sie die Begegnung mit unseren Landsleuten dort, nutzen Sie vor allem die Möglichkeit, an Ort und Stelle einen persönlichen Eindruck zu gewinnen!
Der Jugendaustausch hat sich 1984 auf seiten der Bundesrepublik erfreulich entwickelt. Rund 30 000 junge Menschen reisten in Jugendgruppen und Schulklassen in die DDR; mehr als je zuvor. Wir sollten bei diesen Zahlen nicht stehenbleiben. Ich möchte von hier aus Lehrer an deutschen Schulen, Schulleitungen und vor allem auch die Kultusministerien der Bundesländer bitten, diese Aufgabe als eine deutsche Aufgabe zu sehen und möglichst vielen jungen Leuten die Chance zu geben, in die DDR zu reisen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Andererseits ist es bedauerlich, daß die DDR seit dem letzten Frühjahr die Reisen zu uns gestoppt hat. Die dafür genannten Gründe sind für mich nicht stichhaltig. Die Bundesregierung unterstützt den Jugendaustausch auch weiterhin und fördert ihn auch finanziell. Ich hoffe, daß die Führung der DDR auf diesem Gebiet die Zusammenarbeit bald wieder aufnimmt.
Am 30. November 1984 wurde — entsprechend der Ankündigung des Staatsratsvorsitzenden Honecker — der letzte der Selbstschußapparate an der Sperranlage der DDR an der Grenze zwischen den beiden Staaten in Deutschland abgebaut. Wir begrüßen das, aber wir wissen auch, daß die Grenze dadurch nicht durchlässiger geworden ist.
Die menschenverachtenden Sperranlagen der DDR an den Grenzen mitten durch Deutschland zeigen mehr als alles andere, wie weit wir von Normalität immer noch entfernt sind. Es ist und bleibt unerträglich, wenn immer noch Bodenminen und Schießbefehl die Menschen daran hindern, von Deutschland nach Deutschland zu gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Gewalt darf auch an der innerdeutschen Grenze kein Mittel der Politik sein.
Es ist in den vergangenen Jahren gelungen, im Bereich des Umweltschutzes Bewegung in die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen zu bringen. Umweltbelastungen — das erfahren wir täglich — machen an Grenzen nicht halt. Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg beim Umweltschutz gehört zur guten Nachbarschaft in Deutschland.
Im vergangenen Jahr wurden die Verhandlungen über das sehr drängende, aber auch schwierige Problem der Maßnahmen zur Reduzierung der Salzbelastung von Werra und Weser fortgesetzt.
Im Zusammenhang mit der Münchener Umweltkonferenz hat die DDR deutlich gemacht, daß sie tatkräftig Maßnahmen zur Lösung der immer dringlicher werdenden Probleme der zunehmenden Luftverunreinigung ergreifen will. Gerade hier sehe ich ein wichtiges Feld der Zusammenarbeit, das im Interesse beider Staaten, beider Seiten liegt.
Ausdrücklich erinnern möchte ich daran, daß es Ende August 1984 zu einem ersten Gespräch von Forstexperten beider Seiten über Probleme der Waldschäden gekommen ist.
Die Bundesregierung wird sich weiterhin bei der DDR für intensive Gespräche mit dem Ziel konkreter Verbesserungen einsetzen. Das gilt auch für die Bereiche, in denen sich bereits Gespräche von Experten beider Seiten ergeben haben: die Frage der Reinhaltung der Elbe, die Sicherheit kerntechnischer Anlagen sowie Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung von Waldschäden.



Bundeskanzler Dr. Kohl
Gut vorangekommen sind die Kulturverhandlungen. Sie sollten zügig und konstruktiv zu Ende gebracht werden. Die Bundesregierung wünscht, daß auch die Verhandlungen über das Wissenschaftsabkommen und das Rechtshilfeabkommen — ich möchte sagen: endlich — bald abgeschlossen werden.
Ein wesentliches und stabiles Element der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland, meine Damen und Herren, ist der innerdeutsche Handel. Die Bundesregierung ist bereit, diese Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage der bestehenden Abkommen weiter auszubauen. Im Jahre 1984 hat der innerdeutsche Handel insgesamt das 1983 erreichte hohe Niveau von über 15 Milliarden Verrechnungseinheiten gehalten. Dabei hat die DDR allerdings ihre Lieferungen an uns um etwa 10 % ausweiten können, während ihre Bestellungen bei uns deutlich geringer waren als im Jahre 1983. Für das jetzt laufende Jahr 1985 gibt es Anzeichen für eine wieder stärkere Einkaufstätigkeit der DDR, insbesondere auch im Bereich der Investitionsgüter, so daß nunmehr auch unsere Lieferungen in die DDR wieder ansteigen und die Lieferstruktur sich verbessern kann. Die Novellierung der Dienstleistungsvereinbarung dürfte den Wirtschaftsbeziehungen nach beiden Seiten hin zusätzliche positive Impulse geben.
Meine Damen und Herren, Brennpunkt der ungelösten deutschen Frage und zugleich Gradmesser für den Stand der Beziehungen im West-Ost-Verhältnis ist und bleibt Berlin.
Wir sollten uns gemeinsam darüber freuen, daß die Stadt wieder zu einem Anziehungspunkt geworden ist. Noch nie hat Berlin so viele Besucher gehabt wie 1984.

(Regierender Bürgermeister Diepgen [Berlin] betritt den Sitzungssaal — Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Schneider Berlin [GRÜNE]: Berlin ist wieder da!)

Im vergangenen Jahr konnten wir auch die höchste Zahl von Reisenden seit Inkrafttreten des Transitabkommens von 1971 feststellen.
Die Berlin-Politik der Bundesregierung ist darauf angelegt, die Lebensfähigkeit der Stadt zu sichern und Bedingungen zu schaffen, unter denen sie ihr Potential, ihre Kraft ungestört entfalten kann. Hierbei kommt der Entwicklung der Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland und der Vertretung seiner Interessen durch den Bund nach außen vorrangige Bedeutung zu. Unsere Berlin-Politik — es ist wichtig, es wieder einmal zu wiederholen — hat die ungeteilte Unterstützung aller unserer Bündnispartner.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Bundesregierung tritt entschieden für die strikte Einhaltung und volle Anwendung des Viermächteabkommens vom 3. September 1971 ein. Die Sicherheit Berlins wird durch die Garantie der Drei Mächte und ihre Präsenz in Berlin gewährleistet.
Die Entschlossenheit der Alliierten, auf ihren Rechten zu bestehen und ihren Verantwortlichkeiten nachzukommen, hat der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in seiner Neujahrsbotschaft an die Berliner Bevölkerung erneut eindeutig bekräftigt.
Die Bundesregierung wird den Transitverbindungen nach Berlin weiterhin ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Die neue Autobahnverbindung zwischen Eisenach und Wartha sowie der Ausbau der Grenzübergangsstelle in Wartha haben zur Erleichterung des Transitverkehrs wesentlich beigetragen. Über eine Grunderneuerung des grenznahen Abschnitts der Autobahn Berlin-Hirschberg wird zur Zeit mit der DDR gesprochen. Für den Transitverkehr mit Berlin ist es besonders wichtig, daß sich die DDR im vergangenen Jahr bereit gefunden hat, den Grenzübergang Staaken für den Transitverkehr bis Ende 1987 offenzuhalten.
Die Bundesregierung strebt auch die baldige Unterzeichnung von Vereinbarungen mit der DDR über die Verlegung eines Glasfaserkabels nach Berlin und den Bau einer zusätzlichen Richtfunkstrecke an.
Die enge Zusammenarbeit von Bundesregierung und Berliner Senat hat auch zu einer wesentlichen Verbesserung des Wirtschaftsklimas und der Wirtschaftslage Berlins beigetragen. Ein wesentlicher Impuls ging dabei von der 2. Wirtschaftskonferenz in Berlin vom Juni 1984 aus, zu der ich gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister eingeladen hatte.
Die Zahl der Betriebe ist 1984 erstmals seit 1945 wieder angestiegen. Erstmals nach langer Zeit sind wieder Vorstandsfunktionen deutscher Unternehmen nach Berlin verlegt worden. Der jahrelang anhaltende Rückgang der Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe ist gestoppt worden. Zum erstenmal seit über 10 Jahren hat die Zahl der industriellen Arbeitsplätze wieder zugenommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts übertraf den Bundesdurchschnitt ebenso wie die Zunahme von Investitionen, Auftragseingängen und Produktion.
Insgesamt haben sich — dies ist klar erkennbar — die wirtschaftlichen Perspektiven Berlins deutlich verbessert, nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche Wirtschaft die Standortvorteile, die Berlin vor allem im Bereich von Forschung und Entwicklung auszeichnen, erkannt und angenommen hat.
Meine Damen und Herren, Berlin bleibt eine nationale Aufgabe. Die Bundesregierung wird daher in ihren Anstrengungen nicht nachlassen, ihren Beitrag zur Stärkung der Lebensfähigkeit der Stadt zu leisten und damit die Anziehungskraft Berlins zu fördern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die bevorstehenden Feiern zum 750. Geburtstag der Stadt bieten uns allen eine besondere Gelegenheit, unser Engagement für diese bedeutende und faszinierende deutsche Metropole neu zu bekräfti-



Bundeskanzler Dr. Kohl
gen. Als Geburtstagsgeschenk der Bundesrepublik Deutschland wollen wir in Berlin das Deutsche Historische Museum bauen und einrichten. Ein solches Haus gehört nach Berlin, in die alte Hauptstadt der Deutschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Projekt selbst ist eine nationale Aufgabe von europäischem Rang. Es geht um die Schaffung einer Stätte der Selbstbesinnung und der Selbsterkenntnis, wo nicht zuletzt junge Bürger unseres Landes etwas davon spüren können — und sei es zunächst auch nur unbewußt —, woher wir kommen, wer wir als Deutsche sind, wo wir stehen und wohin wir gehen werden.
Meine Damen und Herren, wohl kein anderes Feld der Politik braucht so viel Behutsamkeit und guten Willen aller Demokraten wie die Deutschlandpolitik; denn hier geht es im Kern um unsere nationale Identität und um unsere nationale wie europäische Bestimmung.
Wo Deutschland selbst auf der Tagesordnung steht, sollte es möglich sein, die Parteien, die diese Republik von Anfang an mit aufgebaut haben, stets zuerst in Gemeinsamkeit zu sehen: bei der Suche nach dem, was uns verbindet, nicht — wozu wir sonst sicherlich manchmal neigen — nach dem, was uns trennt.
Wenn es der Deutschlandpolitik gelingen soll, die Folgen der Teilung unserer Nation für die Menschen erträglicher zu machen und die Einheit der Nation zu wahren, dann bedarf sie des Rückhalts durch möglichst viele Abgeordnete des frei gewählten Deutschen Bundestages. Deshalb hat es die Bundesregierung vor einem Jahr begrüßt, daß sich die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP am 9. Februar 1984 auf einen gemeinsamen Entschließungsantrag zur Lage der Nation im geteilten Deutschland verständigen konnten.
Meine Damen und Herren, heute wie in Zukunft sollte zwischen uns außer Streit bleiben, was der Deutsche Bundestag damals, vor einem Jahr, an den Anfang seiner Erklärung gestellt hat. Die Erklärung sagte:
Unser Land ist geteilt, aber die deutsche Nation besteht fort. Aus eigener Kraft können wir Deutschen den Zustand der Teilung nicht ändern. Wir müssen ihn aber erträglicher und weniger gefährlich machen. Ändern wird er sich nur im Rahmen einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Es bleibt unsere Aufgabe, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt". Der Deutsche Bundestag bekräftigt das dem deutschen Volk zustehende Recht auf friedliche Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechts.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird versuchen, ihren Beitrag zu diesem geschichtlichen Auftrag zu leisten.

(Lang anhaltender Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1012200200
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Apel.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1012200300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Für viele Deutsche ist im Gegensatz zur Wende in der Sozial- und der Gesellschaftspolitik die Wende in der Deutschlandpolitik ausgeblieben. Es scheint so, als würde unsere Politik, die wir in der sozialliberalen Koalition entwickelt haben, ihre Fortsetzung in der Koalition von CDU/CSU und FDP finden.
Herr Kollege Dr. Barzel, Sie haben am Tage des Mißtrauensvotums gegen den Bundeskanzler Helmut Schmidt damals, vor nun bald 29 Monaten, unsere Deutschlandpolitik als „Kasse gegen Hoffnung" bezeichnet. Sie wissen genau, Herr Kollege Barzel und Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, daß diese Bezeichnung für unsere Deutschlandpolitik falsch war.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

Aber richtig ist, daß Sie heutzutage in der Tat „Kasse gegen Hoffnung" als Element Ihrer Politik versuchen.

(Beifall bei der SPD)

Mit 2 Milliarden DM verbürgter Kredite haben Sie versucht, Bewegung in die Deutschlandpolitik zu bringen.
Man kann die Leistungen der DDR unterschiedlich beurteilen. Letztendlich aber sind Ergebnisse zustande gekommen, die wir begrüßen, weil sie den Menschen in beiden deutschen Staaten zugute kommen, z. B. 40 000 Ausreisen, allerdings — und das muß kritisch angemerkt werden — nicht nur aus humanitären Gründen. Es sind auch viele Bürgerinnen und Bürger aus der DDR ausgereist aus innerstaatlichen Gründen: weil es im Interesse der DDR richtig war, diese Bürgerinnen und Bürger zur Ausreise zu veranlassen. Damit bleiben eine ganze Reihe von wichtigen menschlichen Problemen der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland ungelöst.
Wir verkennen auch nicht, daß die Senkung des Mindestumtausches für Rentner und Jugendliche möglich war. Der Bundeskanzler hat von dem Abbau der Todesautomaten gesprochen, auch wenn die Grenze durch die neuen Bauten unüberwindlicher geworden ist. Wir stehen auch nicht an, zu sagen, daß das neue Postabkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sachgerecht und nützlich ist. Wir haben ihm zugestimmt, obwohl die von uns zu zahlende Postpauschale um 250 %, um das Zweieinhalbfache, gesteigert wurde. Ich möchte hier nur am Rande anmerken, was uns wohl passiert wäre, wenn wir als sozialliberale Koalition dieses Ergebnis vorgelegt hätten, mit welchem Wehgeschrei und Protestgeschrei Sie diese Entscheidung begleitet hätten.

(Beifall bei der SPD)

Aber, meine Damen und Herren, damit das klar ist: Ergebnisse in der Deutschlandpolitik verlieren für uns nicht an Wert dadurch, daß eine andere



Dr. Apel
Bundesregierung sie erreicht. Aber wir bleiben dabei: Wir sind stolz darauf, daß wir die Grundlagen dieser Politik gelegt haben. Wir nehmen zur Kenntnis — und es bleibt historische Wahrheit —, daß Sie diese Politik 13 Jahre erbittert bekämpft haben. Aber Deutschlandpolitik ist zu wichtig, zu ernst und von zu großer Verantwortung gegenüber den Menschen in der DDR geprägt, als daß sie vom Parteienstreit bestimmt werden darf. Deshalb — und darauf lege ich nach Pressemeldungen, die ich heute morgen gelesen haben, großen Wert — bleibt es auch zwischen der Regierungskoalition und der Opposition unbestritten, daß wir unser Grundgesetz nicht ändern werden, um unser Staatsbürgerschaftsrecht zu modifizieren. Es geht um Respektierung, nicht um Änderung, und die DDR weiß ganz genau, daß es um Respektierung und nicht um Anerkennung geht.
Nach der Wende haben führende Mitglieder der Union die wesentlichen Grundlagen unserer realistischen Deutschlandpolitik klar ausgesprochen, sich auf die Logik unserer Deutschland- und Ostpolitik berufen und diese Logik für ihre Politik in Anspruch genommen — erstmals nach 13 Jahren Gegnerschaft. Wir sind froh darüber. Lange genug hat das deutsche Volk auf diese Kehrtwendung gewartet.

(Beifall bei der SPD)

„Wiedervereinigung steht nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte", so der Bundeskanzler. Heute, Herr Bundeskanzler, habe ich Ihrem Bericht folgende Zitate entnommen: Es geht um Selbstbestimmung und Menschenrechte, es geht nicht um Grenzen und nicht um Souveränität. Herr Bundeskanzler, diesen Feststellungen, die Sie hier getroffen haben, möchten wir ausdrücklich zustimmen.

(Beifall bei der SPD)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1012200400
Herr Abgeordneter Apel, gestatten Sie eine Unterbrechung. — Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die stehend im Saal sind, entweder den Saal zu verlassen oder sich zu setzen. Das gilt für alle Abgeordneten.

Dr. Hans Apel (SPD):
Rede ID: ID1012200500
Wir stellen ferner fest, daß der innerdeutsche Minister in Washington erklärt hat, daß die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten — „Kommunikation" hat er gesagt — auf allen Ebenen den Zusammenhalt der Nation stärken. Der Bundeskanzler hat heute wie in seinen Regierungserklärungen deutlich gemacht, daß die vertraglichen Grundlagen zwischen den beiden deutschen Staaten uneingeschränkt gelten, insbesondere der Grundlagenvertrag.
Herr Bundeskanzler, damit haben Sie folgendes ausgesagt; ich will das hier zu Protokoll des Deutschen Bundestages geben. Sie haben damit ausgesagt, daß es Beziehungen geben muß zwischen den beiden deutschen Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung, des Respekts, der Selbständigkeit, der Souveränität in den inneren und in den äußeren Angelegenheiten der beiden deutschen Staaten. Daran werden wir Sie erinnern, daran werden wir Sie festhalten, wenn es darum geht, praktische Politik zu machen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie haben damit auch deutlich gemacht, daß die beiden deutschen Staaten eine ganz besondere Verpflichtung zur Friedenssicherung in Europa haben. Dann fragen wir uns von der Opposition als sozialdemokratische Bundestagsfraktion in der Tat, wenn wir Stichworte, Äußerungen auch aus der Bundesregierung, aus dem Kanzleramt von Kanzleramtsminister Schäuble hören, ob diese Grundlagen noch für alle gelten, ob es nicht in der Union — Sie haben ja gestern eine sehr lebhafte Fraktionssitzung gehabt — bereits eine ganze Reihe von abweichenden Meinungen gibt, die eben diese Festlegungen des Bundeskanzlers so nicht akzeptieren, sondern eine andere, eine veraltete Deutschlandpolitik wollen: zurück in die Gräben des kalten Krieges.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Recht am Ende Ihrer Ausführungen auf die gemeinsame Erklärung hingewiesen, die der Deutsche Bundestag vor knapp einem Jahr verabschiedet hat. Diese Erklärung bleibt weiterhin gültig. Inzwischen ist aber einiges passiert.
Im April 1984 wird der von Helmut Schmidt am Werbellinsee verabredete deutsch-deutsche Jugendaustausch von der DDR aufgekündigt. Im August 1984 werden den Berlinern Reiseerleichterungen vorenthalten, die den Bundesbürgern eingeräumt werden. Im September 1984 trägt Bonn zur Absage des Honecker-Besuchs bei.

(Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Na, na, na! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, zunehmend werden die deutsch-deutschen Beziehungen durch Wortführer in den Unionsparteien dadurch belastet, daß unsere Ostverträge eben doch in Zweifel gezogen werden. Das gilt insbesondere für die polnische Westgrenze.
Herr Bundeskanzler, Sie haben dazu heute Ausführungen gemacht. Ich möchte Sie, Herr Bundeskanzler, im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion folgendermaßen verstehen.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Wir wollen gern wissen, ob diese Interpretation der Aussagen des Herrn Bundeskanzlers auch die Interpretation des Herrn Fraktionsvorsitzenden Dregger ist; das ist wohl von einigem Belang.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Wir verstehen die Aussagen des Herrn Bundeskanzlers folgendermaßen: daß es sich bei der polnischen Westgrenze eben nicht nur um eine politische und eine juristische Bindung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Volksrepublik Polen handelt, sondern daß diese Frage für den Bundeskanzler auch eine politische und moralische Bin-



Dr. Apel
dung des gesamten deutschen Volkes gegenüber dem polnischen Volk darstellt.

(Beifall bei der SPD)

So erklären wir die Aussagen des Bundeskanzlers. Wir wollen von Ihnen wissen, ob Sie diesen Eindruck, den wir aus Ihren Ausführungen gezogen haben, für die wir dankbar sind, bestätigen.
Herr Bundeskanzler, Sie können die Änderungen in der Deutschlandpolitik, die sich in Teilen der Unionsparteien und in Teilen der Unionsfraktion ankündigen, nicht vom Tisch wischen. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als wäre es vernünftig, hier tagtäglich nach dem Motto „business as usual" vorzugehen, sondern wir brauchen Antworten darauf, wie es weitergeht. Wir wollen insbesondere darüber debattieren, daß sich Fehlschläge, wie von mir dargestellt, seit dem letzten Jahr häufen. Wir bedauern das um so mehr, als wir uns eine Vorstellung davon machen können, was durch diese Politik alles nicht möglich wurde.
Der innerdeutsche Minister hat von der Möglichkeit gesprochen, das Kulturabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bei gutem Willen zum Abschluß zu bringen, wenn Herr Honecker die Bundesrepublik Deutschland besucht haben würde. Wie steht es mit dem Kulturabkommen? Wie wir gehört haben, wird weiter verhandelt.
Wir fragen uns ferner: Wie steht es eigentlich mit dem Abkommen mit der DDR über die Werra-Entsalzung? Ich will nur diese zwei wirklich wichtigen Themen nennen.
Sicher, meine Damen und Herren, die beiden deutschen Staaten leben nicht auf einer Insel der Seligen. Sie sind jeweils in ihre Bündnis- und Wirtschaftssysteme eingebunden. Sie können sich weltpolitischen Entwicklungen nicht entziehen.
In der Eiszeit zwischen den Supermächten ist es zur Verblüffung der Welt im deutsch-deutschen Dialog zunächst weitergegangen. Dann ist er nach und nach eingeschränkt worden. Heute, in einer Zeit, in der die Supermächte im Begriff sind, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden, stellen wir fest, daß zwischenzeitlich die Deutschlandpolitik ins Stocken geraten ist. Dabei haben sich doch die weltpolitischen Rahmenbedingungen für die Deutschlandpolitik eigentlich nicht verschlechtert.
Der deutschlandpolitische Stillstand, den wir leider seit letztem Sommer feststellen müssen, mag sicherlich auch Moskauer Wünschen entsprechen. Aber er hat in weiten Teilen hausgemachte Ursachen. Er ist von führenden Unionspolitikern gewollt, mindestens aber — so von Herrn Dregger — leichtfertig herbeigeredet worden.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

Er ist auch Konsequenz unzureichender Verhandlungsführung.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Herr Bundeskanzler, noch im Februar haben Sie an dieser Stelle ein deutsch-polnisches Jugendwerk für die Aussöhnung mit Polen als wichtiges Ziel Ihrer Politik bezeichnet. Wir unterstützen diesen Gedanken. Viel mehr ist dann aber ein deutschdeutsches Jugendwerk zur Erhaltung und Vertiefung menschlicher Bindungen zwischen den beiden deutschen Staaten geeignet.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe bereits daran erinnert, daß es Bundeskanzler Helmut Schmidt war, der am Werbellinsee diesen deutsch-deutschen Jugendaustausch verabredet hatte. Er ist 1983 angelaufen. 6 000 Jugendliche reisten nach Osten, 1 200 nach Westen, jeder mit 18 Mark pro Kopf und Tag ausgerüstet. Ich denke, das ist eine Politik, die den deutschen Zusammenhalt stärkt, der Perspektive für Deutschlands Zukunft bietet.
Nun stellen wir aber fest, daß im letzten Verfassungsschutzbericht unter der Verantwortung des Herrn Zimmermann der Aufenthalt von DDR-Jugendlichen bei uns unter dem Kapitel „Westarbeit der SED" abgehandelt wird. Die DDR brach darauf den Austausch ab und machte seine Fortsetzung von einer Korrektur des Verfassungsschutzberichtes abhängig. Herr Zimmermann hat nicht korrigiert. Der zweiseitige Jugendaustausch ist damit wohl beendet.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das ist eine tolle Logik!)

Panne oder Absicht, meine Damen und Herren von der Union? Wer sich so stur unter dem einheitlichen Dach der Bundesregierung verhält, will augenscheinlich einen wichtigen Ansatz deutsch-deutscher Zukunft zerstören. Denn, meine Damen und Herren, wir wissen doch, daß wir es in der DDR mit der SED zu tun haben. Soll deswegen der Jugendaustausch nicht mehr stattfinden?

(Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Aber den Verfassungsschutzbericht müssen wir schon selber schreiben, nicht Herr Honecker!)

Den Vorgängen um die Absage des HoneckerBesuchs lag das gleiche Grundmuster zugrunde. Wir wollen die törichten Sprüche von Herrn Dregger nicht wiederholen. Aber eines hat Herr Dregger deutlich gemacht:

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Was soll denn das? Was ist das für ein Stil? So sollten Sie mit einem Ehrenmann nicht umgehen!)

Er will die Repräsentanten der DDR so behandeln, daß die Grundlagen, die im Grundlagenvertrag formuliert sind — Gleichberechtigung und Respektierung der Souveränität der beiden deutschen Staaten —, in Zweifel geraten. Herr Bundeskanzler, haben Sie diese Linie nicht mit Ihren Erklärungen fortgesetzt? Waren es nicht Sie, der im Gespräch mit Herrn Honecker bei gewissen Themen weghören wollte? Wollten Sie allenfalls über andere Themen ohne Ergebnis diskutieren? Und das alles zu einer Zeit, in der es keinen bestätigten Besuchstermin und auch nicht die geringsten offiziellen Äußerungen der DDR zu einem baldigen Besuchstermin gab! Wir fragen Sie: Ist das die Form des Umgangs



Dr. Apel
mit der DDR, die der deutsch-deutschen Zukunft weiterhilft? So wurde dieser Besuch mit seinen deutschlandpolitischen Chancen stümperhaft und dilettantisch zerredet.

(Beifall bei der SPD)

Panne oder Absicht? Wer die Grundlagen deutschdeutscher Politik, wie im Grundlagenvertrag festgelegt, nicht beachtet, wird Deutschlandpolitik nicht gestalten können.

(Beifall bei der SPD)

Die Diskussion in der CDU/CSU um die offiziellen Kontakte mit der Volkskammer machen Ihr Grunddilemma deutlich. Der Volkskammer, so sagen Sie, fehle die notwendige demokratische Legitimation,

(Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt doch!)

das notwendige parlamentarische Gewicht. Aber, Herr Präsident a. D. Barzel, gilt das gleiche nicht auch für das ungarische Parlament?

(Dr. Barzel [CDU/CSU]: Völkerrecht!)

Kann man das ungarische Parlament besuchen, wenn man derartige Kriterien anlegt? Dort scheuen Sie vor offiziellen Kontakten nicht zurück.

(Abg. Dr. Barzel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Keine Zwischenfrage.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Nun fragen Sie nach Statusproblemen. Sie sagen: Hier könnte es aber Statusprobleme geben. — Das war wahrscheinlich Gegenstand der Frage des Herrn Kollegen Dr. Barzel. — Dazu sage ich Ihnen: Wer Berlin in den Verhandlungen, auf die ich gleich zu sprechen komme, so behandelt, daß Berlin nicht Teil einer Lösung ist, die für die Bundesrepublik gilt, schafft sehr viel leichtfertiger Statusprobleme zu Lasten Berlins als der, der bereit ist, auch mit der Volkskammer in Gespräche einzutreten.

(Beifall bei der SPD)

Heute haben Sie, Herr Bundeskanzler, erneut davon gesprochen, daß für Sie Berlin Gradmesser der Deutschlandpolitik ist. Herr Bundeskanzler, Sie haben aber kein Wort darüber verloren, daß Sie, Ihre Regierung, Herr Staatsminister Jenninger im Sommer 1984 bei den mit der DDR ausgehandelten Besuchserleichterungen die Berliner schlichtweg vergessen haben. Das ist ein bisher einmaliger Vorgang.

(Beifall bei der SPD)

So ernst können Sie es also mit Berlin als Gradmesser Ihrer Politik nicht gemeint haben, wenn Sie Ihren Maßstab gleich bei der ersten Bewährungsprobe glatt vergessen. Sicher, Herr Bundeskanzler — wer bestreitet das eigentlich? —, die Einbeziehung Berlins in die Deutschlandpolitik ist das Schwierigste im deutschlandpolitischen Alltagsgeschäft. Sozialdemokraten haben aber lieber Schwierigkeiten auf sich genommen, als Berlin draußen vor zu lassen.

(Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wir hatten schon Aschermittwoch!)

Berlin ist nicht nur Gradmesser der Ost-West-Beziehungen; Berlin ist der Motor aller Deutschlandpolitik. Gäbe es Berlin nicht, dann hätten wir eine glatte Teilung entlang der Elbe, ähnlich wie in Korea entlang des 38. Breitengrads. Dann gäbe es wahrscheinlich keine Entspannungspolitik. Dann gäbe es kein Vertragswerk zwischen Ost und West. Dann gäbe es keine Gespräche zwischen den Bündnissen. Dann hätten wir solche Verhältnisse: kaum Verhandlungen, keine Verträge, keine Übereinkommen.
Damit ist für uns Sozialdemokraten — aber ich denke, in diesem Punkt sind wir uns einig — der besondere Ausgangspunkt für Berlin deutlich geworden. Berlin braucht die Entspannungs- und Vertragspolitik mit dem Osten. Das ist seine zentrale Basis für seine Zukunft. Es waren doch die Notwendigkeiten der Stadt — Versorgung, Entsorgung, Transit —, die die Ost-West-Gespräche in Gang gesetzt haben, die die Entspannungspolitik vorangebracht haben, die die Vier Mächte für Berlin an einen Tisch gebracht haben und die die beiden deutschen Staaten immer wieder zu politischem Umgang miteinander zwingen. Aber da wir uns in diesen Fragen einig sind, Herr Regierender Bürgermeister, was die Westbindung anbelangt, die Präsenz der Schutzmächte und die volle Übernahme aller Bundesgesetze für Berlin anbelangt, verbitte ich mir Ihre billige Polemik, mit der Sie stets im Wahlkampf verleumderisch versuchen, die Sozialdemokraten in die Nähe einer anderen Gruppierung zu bringen. So geht es nicht unter Demokraten.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch und Lachen bei der CDU/CSU)

Aber da der Regierende Bürgermeister hier ja noch sprechen wird, sollte er eine Aussage des Bundeskanzlers richtigstellen. Der Bundeskanzler hat davon geredet, daß in Berlin vieles gut ist. Wer will das eigentlich bestreiten? Sozialdemokraten haben diese Stadt 30 Jahre lang regiert.

(Lachen bei der CDU/CSU)

30 Jahre haben wir für den Aufbau, die demokratische Einordnung, die Westbindung dieser Stadt gestanden — zu einer Zeit, als Sie mosernd im Abseits standen.

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: An der Erblast leiden wir heute noch, Herr Apel! — Was habt ihr hinterlassen?)

Aber bei einem Punkt sollten Sie, Herr Bundeskanzler, einen Blick auf die Veröffentlichungen des Statistischen Landesamts werfen. Es ist falsch, Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, daß die Zahl der Arbeitskräfte im verarbeitenden Gewerbe 1984 gegenüber 1983 im Jahresdurchschnitt zugenommen hat. Tatsache ist, daß die Zahl der Beschäftig-



Dr. Apel
ten im verarbeitenden Gewerbe 1984 gegenüber 1983 im Jahresdurchschnitt um 2 100 abgenommen hat. Ich führe das hier nicht ein, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Ich sage das nur, um deutlich zu machen, daß wir auch künftig gemeinsam jede Verpflichtung haben, für Berlin einzutreten, weil es keineswegs so ist, daß in Berlin alles schon so in Ordnung ist, daß es keine Sorgen über die wirtschaftliche Zukunft in der Stadt gibt.

(Beifall bei der SPD — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Aber bei uns wird es besser!)

Herr Bundeskanzler, ich habe bereits Ihre Äußerungen zum deutsch-polnischen Verhältnis angesprochen. Ich habe sie so interpretiert, wie wir sie verstanden haben. Ich stelle fest, daß Sie sich damit hinter die Aussagen des Abgeordneten Rühe gestellt haben; ich stelle fest, daß Sie die Äußerungen des Kanzleramtsministers Schäuble, der am Sonntag darauf die Äußerungen des Abgeordneten Rühe und auch die Unterstützung durch den Bundeskanzler wieder in Frage gestellt hat, ad acta gelegt haben. Wir sind dankbar dafür; wir werden darauf zurückkommen.

(von Schmude [CDU/CSU]: Das haben Sie nicht richtig verstanden!)

Wir erwarten in dieser Debatte eine ebenso klare Äußerung der Unionsfraktion zu dieser lebenswichtigen Frage.
Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle wissen doch, daß eine größere Einheit der Deutschen in ferner Zukunft in einem freien Europa nur mit der Zustimmung aller unserer Nachbarn zu erreichen sein wird. Wer heute für den späteren Zeitpunkt einer größeren Einheit der Deutschen die Westgrenze Polens in Frage stellt, der macht damit deutlich, daß er von niemandem in Ost und in West die Zustimmung zu einer größeren Einheit der Deutschen erwarten kann.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie so argumentieren sollten, dann haben Sie bereits heute die Chance für eine Überwindung der deutschen Teilung verspielt.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Mehr noch: Wer so argumentiert, wer diesen Eindruck erweckt oder gar erwecken will, wird erleben, daß jeder Schritt, den die beiden deutschen Staaten aufeinander zu tun, der die deutschen Staaten enger zueinanderbringt, als eine Bedrohung angesehen wird, weil dann in der Tat Entwicklungen zwischen den beiden deutschen Staaten, die sie möglich machen könnten, auch mit Argwohn verfolgt werden könnten. Auch deshalb ist im Interesse der Deutschlandpolitik absolute Klarheit, was die polnische Westgrenze heute und in der Zukunft anbelangt, von dringender Notwendigkeit.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Im übrigen sind die rechtlichen Grundlagen von Deutschlandpolitik zwischen uns unbestritten. Unsere Verpflichtung aus der Präambel des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit Deutschlands zu vollenden", ist von uns immer wieder bekräftigt und erneuert worden. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union, keiner kommt an den Fakten vorbei. Es gibt zwei deutsche Staaten, die jeweils einem der beiden großen Bündnissysteme zugeordnet sind. Wir haben uns für die Westbindung entschieden. Das entspricht unserer ehrlichen und festen Überzeugung. Wirtschaftlich und militärisch sind wir in einem Maße in den Westen integriert, daß eine Umkehrung nicht vorstellbar und auch nicht wünschbar ist; sie würde Europa mit Sicherheit destabilisieren.
Aber, meine Damen und Herren, gleiches gilt doch für die Verflechtung der DDR mit dem Osten. Ich habe im Sommer dieses Jahres dieses Spannungsverhältnis aufgegriffen und Verfassungsauftrag und die Entwicklung der Realitäten gegenübergestellt.

(Berger [CDU/CSU]: Ist das das Ergebnis einer freien Entscheidung dort?)

Zusammengefaßt habe ich dies mit den Worten: Insofern — Einbindung hier, Einbindung dort, Schaffung von Realitäten, die weiterwirken und sich verstärken sollen —

(von Schmude [CDU/CSU]: Das sind aber zwei Qualitäten!)

ist die deutsche Frage nicht mehr offen.
Meine Damen und Herren, ich behaupte überhaupt nicht, daß ich fälschungssicher argumentiert habe.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Halboffen geht nicht! Entweder offen oder zu!)

Aber Sie haben das kräftig ausgenutzt, Sie werden das heute noch ausnutzen. Ich füge hinzu: Natürlich ist der Lauf der Geschichte stets offen. Wer aber wie wir alle, so denke ich, ein neutralisiertes Deutschland mit gutem Grund als politisches Ziel wegen der davon ausgehenden Gefährdungen für den Frieden und unsere Freiheit ablehnt, wer erkennt, daß Gewalt als Mittel der Politik für immer ausscheidet, wer Friedens- und Außenpolitik unter den Bedingungen des atomaren Zeitalters begreift, der weiß dann auch, welche Konsequenzen die von uns akzeptierte Unverletztlichkeit aller Grenzen in Europa und auch gegenüber der DDR heute und in Zukunft hat.

(Beifall bei der SPD)

Die Art und Weise, wie Teile der Union die deutsche Frage heute wieder als „offen" hochspielen,

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Was soll denn das nun wieder? — Berger [CDU/CSU]: Ist sie für Sie nicht mehr offen? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

stellt doch nicht nur einen Rückfall hinter die Grundlagen unserer Deutschland- und Ostpolitik dar. Wer unsere deutsche Wiedervereinigung proklamiert, ohne klarzumachen, welche Rolle dabei die beiden deutschen Staaten, die Bündnisse, unsere Nachbarn spielen müßten, welche weltpoliti-



Dr. Apel
schen Veränderungen damit verbunden sein müßten, der hat die deutsche Realität weder verstanden noch akzeptiert.

(Beifall bei der SPD)

Er kann die deutsche Teilung zum Schaden aller Deutschen nur vertiefen.

(Sehr wahr! bei der SPD)

Golo Mann hat einmal von der verhängnisvollen Neigung der Deutschen gesprochen, Rechtsstandpunkte mit Politik zu verwechseln. Ich möchte das härter formulieren: Die Begrenzung auf Rechtsstandpunkte kann notwendiges politisches Handeln verhindern. Die Geschichte ist eben kein Amtsgericht, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — von Schmude [CDU/CSU]: Also wollen Sie Rechtspositionen aufgeben? Dann ändern Sie doch gleich das Grundgesetz! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Wer es mit unserem Auftrag ernst meint, die Einheit zu vollenden, der kann im Atomzeitalter nicht von der Änderung von Grenzen sprechen; er kann sie nur durch Verständigung überwinden.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: So ist das!)

Die europäischen Völker können nur in einer Friedensordnung überleben,

(von Schmude [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

die das Zusammenleben von Staaten unterschiedlicher Systeme sichert, ohne die Änderung der Systeme zur Voraussetzung zu machen.

(von Schmude [CDU/CSU]: Nun treten Sie einmal für das Selbstbestimmungsrecht ein!)

Die politischen Bemühungen müssen sich daher auf die allmähliche Überwindung des trennenden Charakters der Europa teilenden Grenzen konzentrieren.

(Beifall bei der SPD)

Die so verstandene Überwindung der Teilung schließt eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in irgendeiner Zukunft und — darauf kommt es an; der Bundeskanzler hat es auch so gesagt — unter Zustimmung aller europäischen Nachbarn und aller Verbündeten zwar nicht aus,

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

die Überwindung der Teilung kann aber auch schon eine Situation meinen, in der die Staaten mit ihren unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen fortbestehen und ein Interessenausgleich insoweit hergestellt ist, als menschliche Beziehungen erhalten bleiben, eine Reise von Deutschland nach Deutschland genauso unkompliziert ist wie eine Reise von Deutschland nach Frankreich.
Die Deutsche Nation ist als Kulturnation lebendig. Die Eröffnung der Semper-Oper und das Luther-Jahr haben dies mehr als deutlich gemacht. Den Zusammenhalt der Nation durch Kommunikation auf allen Ebenen zu stärken, das ist Aufgabe und Verpflichtung verantwortungsvollen politischen Handelns — um so mehr, als wir doch wissen, daß Friedenssicherung und Umweltschutz gemeinsames Handeln unumgänglich machen.
Wir Sozialdemokraten wollen der DDR die Auseinandersetzung über den Gegensatz der Systeme nicht ersparen. Wir führen sie aber nicht mit dem Ziel, die Spaltung zu vertiefen, die Souveränität der DDR geringzuachten oder markig oder lautstark alles besser zu wissen. Ruhig und selbstbewußt vertreten wir unsere Politik in der Gewißheit, daß unser System das bessere ist.

(Beifall bei der SPD)

Aber, meine Damen und Herren, gilt dies auch noch, wenn Massenarbeitslosigkeit bei uns einen Nachkriegsrekord erreicht, wenn 2,6 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet sind und weitere 1,3 Millionen der stillen Reserve zugeordnet werden?

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Ach! — Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Ist das der Maßstab des Vergleichs zwischen den Systemen? — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie sind auch eine stille Reserve! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Jeder weiß doch inzwischen, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen wird. Deswegen fordern wir auch in diesem Zusammenhang eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Denn sie ist wichtig, um im Wettkampf der Systeme bestehen zu können.

(Beifall bei der SPD)

Und haben wir wirklich noch Freiheit von Not und Elend? Haben Sie nicht seit der Wende den sozial Schwächeren systematisch genommen, den Gutgestellten dafür gegeben?

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Ist es nicht ein Zerrbild von Gerechtigkeit, wenn die von Ihnen gewollte Steuerreform das Kind des Großverdieners zweieinhalbmal soviel begünstigt wie das Kind des Durchschnittsverdieners?

(Beifall bei der SPD — Dr. Olderog [CDU/ CSU]: Wir sind doch hier nicht im Wahlkampf! Hören Sie doch auf mit Ihrer Wahlkampfrede! — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie können höchtens ein verlierender Bürgermeister sein, bestimmt kein Regierender!)

In der Auseinandersetzung der Systeme ist Freiheit unser Trumpf. Wir müssen aber mit unserer Freiheit und unserem Selbstbestimmungsrecht verantwortlich umgehen. Freiheit ist für uns auch Freiheit von Not. Nicht umsonst berufen wir uns auf unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Sie geben uns die Maßstäbe für unsere grundgesetzliche und freiheitliche Gesellschaftsordnung.

(von Schmude [CDU/CSU]: Sie malen doch ein Zerrbild der Wirklichkeit!)

Wenn heute die Politik dieser Regierungskoalition
gegen Gerechtigkeit und Solidarität verstößt, dann



Dr. Apel
berührt das auch die Überlegenheit unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir sehen in den Entwicklungsprozessen in der CDU/CSU Gefahren für die Deutschlandpolitik. Wir verkennen nicht, daß es Verantwortliche in der Fraktion wie in der Regierung gibt, die sich . ernsthaft bemühen, unsere Deutschland-, unsere Ostpolitik getreulich fortzusetzen,

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: „Getreulich"?!)

sich für die Menschen in beiden deutschen Staaten einzusetzen. Aber ist es nicht so, daß Sie, nicht zuletzt durch Ihre gestrige Fraktionsdebatte,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren dabei?)

zwar nicht krasse Abkehr von den öffentlich bekundeten Positionen wollen, aber daß Sie in quälender Langsamkeit einen Prozeß einleiten, der am Ende auch die Grundlagen unserer Deutschlandpolitik und den Grundlagenvertrag berühren könnte? Das Ergebnis ist dann Stillstand. Und dieser Stillstand ist dann weniger auf Pannen, Vergessen, mangelnde Koordination oder Dilettantismus zurückzuführen. Das ist dann die Folge der Zerrissenheit, die in der Union zu deutschlandpolitischen Fragen herrscht.

(von Schmude [CDU/CSU]: Das wünschen Sie sich so!)

Wir verstehen das. Sie haben 13 Jahre erbitterter Gegnerschaft zu unserer Deutschlandpolitik nicht von einem zum anderen Tag ungeschehen machen können. Viele von Ihnen übernehmen gerne Verantwortung für die Menschen in der DDR, aber sie werden auch in den Grundfragen von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt; denn sie haben es unterlassen, in den Jahren der Opposition und in den Tagen der Regierung Klarheit über die Deutschlandpolitik ihrer Partei zu schaffen. Sie haben es laufen lassen.

(Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)

Sie haben auf die normative Kraft des Faktischen vertraut und vielleicht auch augenzwinkernd darauf, daß die gesamten 13 Jahre deutschlandpolitischer Gegnerschaft weniger in der Deutschlandpolitik als im Parteienstreit ihre Ursache hatten.
Herr Bundeskanzler, wir können Ihren Aussagen heute in weiten Teilen zustimmen.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Na endlich!)

Aber, Herr Bundeskanzler, wir müssen Sie bitten, die Gefahren, die auch sichtbar werden in der Haltung von Teilen Ihrer eigenen Partei und Ihrer Fraktion, zu sehen. Deswegen fordern wir Sozialdemokraten Sie auf: Schaffen Sie Klarheit über die Deutschlandpolitik Ihrer Partei! Und schaffen Sie auch die Voraussetzungen für die Gemeinsamkeit, die wir brauchen, um unsere Deutschlandpolitik voranzubringen!
Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der SPD — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Konstruktive Opposition!)


Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1012200600
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.

Dr. Alfred Dregger (CDU):
Rede ID: ID1012200700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Bericht des Bundeskanzlers zur Lage der Nation im geteilten Deutschland und billigt ihn in allen seinen Aussagen einmütig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Da grinst der Kanzler wieder genüßlich und selbstgerecht! — Dr. Vogel [SPD]: Mal was Neues!)

Auf Grund der Diskussion gestern in der Fraktion, deren Zusammenfassung Ihnen vorliegt, kann ich diese Aussage ohne jeden Vorbehalt treffen.
Meine Damen und Herren, ich möchte drei Passagen aus diesem Bericht hervorheben, weil sie wie in einem Brennspiegel die Lage, die Chancen und die Ergebnisse unserer Deutschlandpolitik wiedergeben.
Erstes Zitat:
Weil die Freiheit der Kern der deutschen Frage ist, ist unser Platz an der Seite unserer Partner und Freunde im Westen. Unsere Freunde begreifen ihrerseits, daß sich durch uns die ganze deutsche Nation mit ihrem Anspruch auf freie Selbstbestimmung ihnen anvertraut.
In der Tat: die ganze deutsche Nation. Wäre es anders, meine Damen und Herren, wäre die Führung der DDR nicht gezwungen, Grenzbefestigungen mitten durch Berlin und mitten durch Deutschland anzulegen,

(Carstens [Emstek] [CDU/CSU]: So ist es!)

die sich nicht nach außen, sondern nach innen gegen die eigene Bevölkerung richten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nur so konnte die Fluchtbewegung notdürftig gestoppt werden, die sich seit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches nur in einer Richtung vollzieht: von Ost nach West. Das zeigt: Wir, das ganze deutsche Volk, gehören nach Wertbegriffen und kulturellem Selbstverständnis zur freiheitlichen Lebensform des Westens; wir alle, alle Deutschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweites Zitat:

Aus der DDR sind 1984 über 40 000 Deutsche zu uns übergesiedelt. Wir begrüßen dies im Interesse der betroffenen Menschen. Viele von ihnen sahen in einer Übersiedlung aus der DDR ihre letzte Hoffnung.
Ein bewegender Satz.
Das dritte Zitat:
Zum ersten Male seit zehn Jahren hat 1984 die
Zahl der industriellen Arbeitsplätze in Berlin
wieder zugenommen. Die Entwicklung des



Dr. Dregger
Bruttoinlandsprodukts in Berlin übertraf 1984 den Bundesdurchschnitt ebenso wie die Zunahme von Investitionen, Auftragseingängen und Produktion.
Darauf können Sie, Herr Regierender Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, Ihr Senat und Ihre Berliner stolz sein, und wir sind es mit Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Sie sind penetrant langweilig!)

Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU kommt immer wieder nach Berlin; nicht, weil Berlin uns braucht, sondern weil wir Berlin brauchen, seinen Mut, seinen Geist, seine Tapferkeit, die sich in der Zeit der Luftbrücke so hervorragend bewährt hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

Im übrigen, meine Damen und Herren: Berlin ist die einzige Stadt, in der sich das Schicksal Deutschlands und Europas widerspiegelt:

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Vergessen Sie München nicht!)

das Schicksal der Teilung, das Schicksal der Unterdrückung nebenan und des ideologischen Kampfes. Es mag, meine Damen und Herren, eine Friedensordnung denkbar sein, in der nach dem Beispiel Österreichs mehrere voneinander unabhängige deutsche Staaten vorhanden sind. Aber es ist keine Friedensordnung denkbar, die die Teilung ein und derselben Stadt, Berlins, legitimiert und gleichzeitig die Freiheit des freien Teils für die Zukunft garantiert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb, Herr Kollege Apel, ist die Freiheit West-Berlins untrennbar mit der Offenheit der deutschen Frage und ihrer Lösung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts des einen, des ganzen deutschen Volkes verknüpft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer das nicht begreift, mag für viele Ämter verwendbar sein. Als Regierender Bürgermeister von Berlin wäre er eine glatte Fehlbesetzung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Das weiß er selber! — Das wissen auch die Berliner! — Dr. Spöri [SPD]: Formatlos!)

Ich möchte noch ein letztes Zitat aus der Regierungserklärung bringen, weil es Gegenstände vertieft, über die gestern in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion debattiert worden ist.

(Dr. Vogel [SPD]: „Einmütig"?!)

Dieses Zitat aus der Regierungserklärung lautet: Diese Dokumente
— dann wird alles aufgeführt, was sich an rechtsrelevanten Verträgen und Erklärungen auf Deutschland bezieht: vom Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland über den Deutschlandvertrag bis zum Grundlagenvertrag mit der DDR und den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1973 und Juli 1975 —

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Ein Haufen Recht und keine Politik!)

bekräftigen unmißverständlich die deutschen Rechtspositionen, das Festhalten am Friedensvertragsvorbehalt
— Herr Kollege Apel, das hatten Sie vorhin übersehen —
ebenso wie unsere Bereitschaft zum Ausgleich und zur Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Über die sich aus diesen Dokumenten ergebende Rechtslage Deutschlands besteht in meiner Fraktion volle Übereinstimmung.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Die normative Kraft der Akten! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wie kommt es dann zu dem Streit?)

— Ich habe von der Macht des Faktischen gesprochen, die natürlich eine Rolle spielt.
Soweit einzelne Diskussionsbeiträge der letzten Wochen Ihnen Anlaß zu Mißverständnissen geboten haben sollten,

(Zurufe von der SPD: Aha! — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Bei Ihnen wohl auch?)

so sind diese Mißverständnisse mit dieser Regierungserklärung, die wir einmütig billigen, ausgeräumt. Das, was der Bundeskanzler gesagt hat, hat er für uns alle gesagt. Das gilt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Diskussion gestern war im übrigen wertvoll. Diese große Fraktion kann diskutieren. Aber sie kann auch entscheiden, sie kann in allen wichtigen Fragen einmütig entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben gestern z. B. das Beschäftigungsförderungsgesetz mit all seinen Schwierigkeiten, Belastungen und Problemen einmütig verabschiedet.

(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Einstimmig!)

— Einstimmig verabschiedet. — Wir haben unseren Beschluß über die Nachrüstung einstimmig gefaßt. Wenn wir es nicht getan hätten, würde nicht zwischen den Weltmächten verhandelt, wie das jetzt vorgesehen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Aber, wie gesagt, wir können auch diskutieren, fair und der Sache zugewandt.
Die Diskussion gestern hat gezeigt: Die Rechtslage des geteilten Deutschlands und seiner geteilten Hauptstadt ist ebenso kompliziert wie ihre tatsächliche Lage.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Was ist denn die geteilte Hauptstadt?)




Dr. Dregger
— Hören Sie einmal zu, Frau Vollmer, Sie haben es dringend nötig. —

(Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ist Berlin unsere Hauptstadt?)

Das wird so bleiben, bis Friedensverträge eine zweifelsfreie, allseits anerkannte völkerrechtliche Ordnung in Europa geschaffen haben. Oder wir würden sagen: Es mag alles so bleiben, wie es ist. Aber selbst diese Aussage würde diesen Effekt nicht herbeiführen, weil keine der Siegermächte bis heute bereit ist, auf ihre Position in Deutschland als Ganzem zu verzichten. Wir müssen also mit dieser komplizierten Rechtslage Deutschlands leben, und wir wollen auch damit leben, um die Zukunft offenzuhalten. Wir nehmen die Komplexität und die Kompliziertheit der deutschen Frage sicherlich als einen Nachteil für eine Demokratie hin, die ja in ihrer Politik auf öffentliche Zustimmung angewiesen ist. Da haben es totalitäre Staaten einfacher; dort ist die öffentliche Meinung gelenkt, und nur wenige Experten bestimmen das, was zu diesen Fragen gesagt wird.
Um Ihnen, meine Damen und Herren, wenn Sie einen Moment zuhören wollen — es scheint der Fall zu sein — zu verdeutlichen, daß diese deutsche Frage nicht nur kompliziert ist, sondern in all ihren Teilaspekten im Zusammenhang gesehen werden muß, zitiere ich einige Sätze aus einem an mich gerichteten Brief von Professor Dr. Eckart Klein, Völkerrechtler in Mainz. Ich zitiere:
Der Friedensvertragsvorbehalt spielt auch im Verhältnis zur DDR eine gewichtige Rolle. Wird er im Verhältnis zu Polen zur Farce, wird ihm auch im Verhältnis zur DDR nur ein entsprechend geringes Gewicht zukommen können. Der Fortbestand Deutschlands als Ganzes würde zunehmend schwer aufrechtzuerhalten sein. An diesem hängt aber letztlich das Institut der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit.

(Graf Huyn [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Die Deutschland zusammenhaltende Argumentation ist ein rechtlich höchst empfindliches Gebilde, das durch das Herausbrechen von einzelnen Steinen insgesamt schwer, vielleicht unheilbar, geschwächt würde.

(Beifall bei der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Weil es auf tönernen Füßen steht!)

Meine Damen und Herren, die Welt ist leider nicht so einfach, wie Sie sie haben möchten. Wir müssen uns auf die Lage einstellen, wie sie ist.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Sie sind der größte Traumtänzer!)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am Ende der Debatte aus dieser Lage, die wir gestern erörtert haben, zwei Schlußfolgerungen gezogen. Wir Politiker, die gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes — das ist unsere Würde, unser Auftrag und der Maßstab unseres Handelns —,

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Mir kommen die Tränen!)

müssen mit der Rechtslage Deutschlands vorsichtig und zurückhaltend umgehen. Das Thema eignet sich nicht zu Gefühlsausbrüchen in die eine oder in die andere Richtung oder zur Polemik oder zur Behandlung nur unter einem Teilaspekt.

(Zurufe von der SPD)

Zweite Schlußfolgerung: Wir dürfen unsere Rechtspositionen nicht aufgeben, aber wir müssen sie als Instrumente für Politik begreifen, die sie nicht ersetzen, für eine selbstverständlich realistische Politik, die die Welt so sieht, wie sie heute ist. Entscheidend sind daher unsere Perspektiven für Deutschland und Europa in Ost und West.
Ehe ich, meine Damen und Herren, auf diese Perspektiven eingehe, muß ich noch wenige Bemerkungen zur Charakterisierung der sowjetischen Deutschland- und Berlinpolitik machen. Seit Abschluß der Ostverträge ist es das Ziel sowjetischer Politik, diese Verträge einseitig auszulegen und als Ersatz für einen Friedensvertrag darzustellen. Dabei geht es der Sowjetunion nicht um die Oder-Neiße-Grenze, sondern darum, die Teilung Deutschlands und Europas endgültig zu machen. Das ist der eigentliche Gegenstand.
Der einzige operative Ansatz, dem entgegenzuwirken, ist das Festhalten an der Offenheit der deutschen Frage, ist der Friedensvertragsvorbehalt, der weder in Vergessenheit geraten noch in seiner Wirkung abgeschwächt werden darf.
Es ist das Verdienst der damaligen CDU/CSU-Opposition und vor allem des Landes Bayern, daß mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, das der Herr Bundeskanzler eben in seiner Regierungserklärung zitiert hat, klargestellt wurde: Die Ostverträge sind formalisierte Gewaltverzichtsverträge der Bundesrepublik Deutschland; sie ändern nicht die Rechtslage Deutschlands, auch nicht seine völkerrechtlichen Grenzen. Die Rechtslage Deutschlands kann nur durch einen Friedensvertrag geändert werden. Diese Position ist seinerzeit zum Gegenstand des Ratifizierungsverfahrens gemacht und damals von der Gegenseite nicht bestritten worden. Das war die Voraussetzung dafür, daß die Verträge die Probe vor dem Verfassungsgericht bestanden.
Alle Bundesregierungen, auch die des Kollegen Brandt, haben diese Linie bis heute aufrechterhalten. Die Regierung Kohl hat wirklich nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Wir stehen in dieser Frage in der Kontinuität der Deutschlind- und Ostpolitik von Bundeskanzler Adenauer bis heute!

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg. Frau Dr. Vollmer [GRÜNE] und weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

— Frau Vollmer, es wäre für Sie sicherlich lehrreich, wenn Sie zuhören würden!

(Frau Nickels [GRÜNE]: Frau Vollmer ist nicht taub! — Gegenruf von der CDU/CSU: Man hat aber manchmal das Gefühl!)

Die Methoden sowjetischer Politik sind besonders gut in Berlin zu studieren. Es ist eine Salamitaktik: Scheibchenweise, aber mit eiserner Konse-



Dr. Dregger
quenz wird versucht, entgegen dem Viermächtestatus von Berlin und den Sowjets beherrschten Teil, also Ost-Berlin, restlos in die DDR zu integrieren und die Bindungen des anderen Teils Berlins, nämlich West-Berlins, an die Bundesrepublik Deutschland zu lockern.
Zur Zeit geht es um die Fußballeuropameisterschaft.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Der Ball ist rund! Ich wußte es doch!)

Der Ausschluß Berlins hat gewiß keine sportlichen, er hat politische Gründe. Für die Sowjets ist alles Politik, selbstverständlich auch der Sport.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Das ist für Herrn Dregger doch genauso!)

Der Präsident des Deutschen Fußballbundes will den Mißbrauch des Sports für politische Zwecke durch die Sowjetunion akzeptieren,

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

und er gibt dafür noch die Begründung, daß aus seiner Sicht der Dinge Politik und Sport nichts miteinander zu tun hätten. Das ist der Höhepunkt der Naivität, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Dumm! — Töricht!)

Das ist geradezu umwerfend,

(Zuruf von der CDU/CSU: Dummheit!) aber es ist leider kein Einzelfall.


(Dr. Olderog [CDU/CSU]: Dazu hat Herr Apel auch nichts gesagt!)

Deshalb sei mit Ernst gesagt, daß Naivität kein geeignetes Rezept für den Umgang mit totalitären Staaten ist. Unser freiheitliches System kann nur überleben, wenn sich seine Repräsentanten, zu denen natürlich auch die hohen Sportfunktionäre unseres — vom Staat in der Tat nicht gegängelten — Sports gehören, ihrer demokratischen und nationalen Verantwortung gewachsen zeigen. Darum geht es!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nun zu den Perspektiven: Es ist die Schicksalsfrage unserer Zeit, ob es in den kommenden Jahren gelingt, die Sicherheits- und Zukunftsinteressen der Sowjetunion mit den Lebensinteressen eines freien Europa, insbesondere der Völker Ostmitteleuropas, in Übereinstimmung zu bringen. Das wird nur möglich sein, wenn die Sowjetunion bereit ist, ihre Nachbarvölker als gleichberechtigt anzuerkennen, und wenn sie auch ideologisch darauf verzichtet, sie in ein kommunistisches Weltsystem einzugliedern, das unter ihrer Herrschaft steht. Die Sowjetunion besitzt das größte Land der Erde. Ihre Energie- und Rohstoffreserven sind einzigartig und bisher weitgehend ungenutzt. Für sich selbst braucht die Sowjetunion das Land ihrer westlichen Nachbarn nicht. Je länger die Sowjetunion ihre Herrschaft über ihre Zwangsverbündeten — denken Sie an die Befestigungsanlagen in Berlin und in Deutschland — aufrechterhält, um so geringer wird für sie der Nutzen und um so größer die ökonomische und politische Last, die daraus für sie erwächst. Ein einiges und freies Europa, das mit der Sowjetunion eng zusammenarbeitet, könnte ihr nützlicher sein. Unsere Sache ist es, der Sowjetunion immer wieder klar zu machen, daß wir ihre Größe respektieren, ihre Macht und ihren potentiellen Reichtum, nicht aber ihre Herrschaft über andere Völker.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir unsererseits arbeiten für ein Europa, das seine Einheit in Freiheit und Vielfalt wiederfindet, das die Sperranlagen an den Grenzen überwindet, das sich öffnet für friedlichen Austausch. In Westeuropa ist dieses friedliche, freiheitliche Europa der Völker auf dem Weg, wenn auch noch unvollendet. Es auch in Osteuropa auf den Weg zu bringen ist die historische Aufgabe, die wir Deutschen allein nicht in Angriff nehmen können. Es ist die Aufgabe der Europäer insgesamt im Einvernehmen mit den beiden Weltmächten. Zur Erreichung — —

Dr. Philipp Jenninger (CDU):
Rede ID: ID1012200800
Entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter Dr. Dregger.
Herr Abgeordneter Apel, es ist nicht üblich, im Deutschen Bundestag zu essen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Er nimmt den Mund gerne voll! — Er nimmt den Mund oft zu voll! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU — Lachen bei der SPD — Unruhe)

Das gilt selbstverständlich auch für andere Abgeordnete.
Bitte fahren Sie fort, Herr Abgeordneter.

Dr. Alfred Dregger (CDU):
Rede ID: ID1012200900
Der Biß des Herrn Apel ist nicht so bemerkenswert, daß wir ihn deshalb all-zulange beachten sollten. Andere Gründe sehe ich im Augenblick auch nicht.
Meine Damen und Herren, zur Erreichung eines solchen Zieles werden in einem langen Prozeß zahlreiche Schwierigkeiten und viele Widerstände zu überwinden sein. Ich will mich heute nur mit einem Aspekt beschäftigen, dem deutsch-polnischen Verhältnis, weil es schon für die Gegenwart größte Bedeutung hat.

(Anhaltende Unruhe bei der SPD)

Ich bin überzeugt, daß die deutsch-polnische Aussöhnung, die Sie auf der linken Seite des Hauses nicht zu interessieren scheint, die Schlüsselfrage für Osteuropa ist, wie die deutsch-französische die Schlüsselfrage für Westeuropa war und ist. Aussöhnung bedeutet, daß alles Gegenwärtige und Zukünftige nur im Einvernehmen geregelt wird.

(Vorsitz : Vizepräsident Stücklen)

Das gilt für die Grenzen, das gilt für die Nachbarschaft und das gilt für das Zusammenleben.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Die Grenzen sind geregelt, Herr Dregger!)

Meine Damen und Herren, das ist der tiefere Sinn des Gewaltverzichts unserer Heimatvertriebenen aus dem Jahre 1950 und der Gewaltverzichts-



Dr. Dregger
verträge, die wir mit Polen und der Sowjetunion abgeschlossen haben: Keine Veränderungen ohne Einvernehmen, das ist Aussöhnung! Nur auf dieser Grundlage kann Vertrauen wachsen, das die schönste Frucht der Versöhnung ist. Versöhnung erfordert das Kennen gemeinsamer Interessen. Dazu gehört die Überzeugung, daß für beide Völker, für Polen und Deutsche, die Freiheitsfrage wichtiger ist als die Grenzfrage. Zu dieser Freiheitsfrage gehört auch die Frage, ob Polen und Deutsche das Recht haben, als souveräne Staaten miteinander Frieden zu schließen in einem Friedensvertrag, oder ob für sie nur das gelten soll, was die Macht anderer für sie bestimmt.
Wer das alles bedenkt — nicht mit dem Blick auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart und die Zukunft beider Völker —, der wird erkennen, daß schon heute Polen und Deutsche viel mehr gemeinsame Interessen haben als trennende. Die deutschen Heimatvertriebenen, die in unserer Solidarität stehen, die wir nicht ausgrenzen und die wir auch von anderen nicht ausgrenzen lassen, werden dabei eine wertvolle Brückenfunktion zu unseren östlichen Ländern wahrnehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Präsident, meine Damen und Herren, Versöhnung verlangt mehr als das Erkennen gemeinsamer Interessen. Versöhnung braucht eine moralische Grundlage. „Wir vergeben, und wir bitten um Vergebung." Dieses Wort der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Brüder im Bischofsamt, das diese aufgenommen und erwidert haben, dieses einfache Wort weist beiden Völkern den Weg. Beide haben sich in ihrer nahezu tausendjährigen Nachbarschaft vieles angetan, was Anlaß bietet, den jeweils anderen um Vergebung zu bitten und ihm zu vergeben. Aber es gibt in dieser tausendjährigen Geschichte der Nachbarschaft — und das möchte ich hervorheben — auch lange Perioden guter Nachbarschaft. 1683 brachten Deutsche und Polen gemeinsam die Türkische Invasion vor Wien zum Stehen und retteten damit das Abendland. Polen und Deutsche waren nicht immer Gegner, sie waren auch Verbündete.
Der amerikanische Außenminister Shultz hat unlängst gesagt: „Kulturen und Zivilisationen blühen und gedeihen, wenn sie an sich selbst glauben. Sie zerfallen, wenn sie diesen Glauben verlieren." So ist es. Wir, die Deutschen, die Polen — ich schließe sie in dieses Wir ein — und die Europäer beiderseits der Teilungsgrenzen, haben weder Anlaß noch im Hinblick auf die kommenden Generationen das Recht zu resignieren.

(Zustimmung des Abg. Werner [Ulm] [CDU/CSU])

Wir Europäer stehen für eine Sache, die die mächtigste Kraft auf unserem Planeten ist: Es ist die Sehnsucht der Menschen, frei zu sein, und die Sehnsucht der Völker, über sich selbst zu bestimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Daran halten wir fest, und niemand kann uns darin umstimmen.
Wie Mitterrand und Kohl auf dem Douaumont, so werden sich eines Tages, wie fern er auch sein mag, der Präsident Polens und der deutsche Kanzler die Hand reichen, vielleicht auf der Westerplatte in Danzig. Für diesen Tag und für dieses Ziel laßt uns arbeiten!

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012201000
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1012201100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemanden unter Ihnen, der eingeweiht ist, wird es verwundern, daß ich auf meine kurze Rede neulich anläßlich der Aktuellen Stunde über das Schlesier-Motto die allerheftigsten Reaktionen bekommen habe. Ich hatte damals gesagt, ich hielte Verzichtspolitik heutzutage für die ernsthafteste Friedenspolitik. Nicht indem ich z. B. für die Bäuerin aus Schlesien auf ihren Buchsbaum-Garten und ihre Sauerkirschbäume verzichten könnte — zu dieser Art von Verzicht auf heimatliche Vertrautheiten muß sich jeder schon selbst durchkämpfen —, aber doch in dem Sinne, daß ich meine, daß Verzicht auf Gewalt, Verzicht auf Grenzrevisionen und Verzicht auf Gebietsansprüche heute für einen Politiker allerdringendste und allerernsthafteste Friedenspolitik wären.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Auch hatte ich die Vertriebenen gebeten, 40 Jahre nach Kriegsende den Begriff „Vertriebene" zu überdenken und sich als Zeichen praktischer friedenschaffender Politik umzubenennen mit einem Namen, der die Charta von Stuttgart wirklich im Namen ausdrückt und damit auch Frieden schafft.
Was mir bei diesen Reaktionen zu denken gegeben hat, waren nicht so sehr die Empörung, die Beschimpfungen und der Haß, der darin stand, sondern es war in manchen Briefen eine besondere Form sadistischer Gewalttätigkeit, mit der uns nicht nur Tod und Vertreibung, sondern auch ein besonders qualvolles, langandauerndes Verrecken, säuberlich ausgemalt, angekündigt wurde. Ich weiß, daß Politiker aus allen Parteien solcherlei Briefe kriegen, wenn auch die Art von sexistischen Phantasien, in der uns Grünen Frauen wechselweise Feindbilder wie „Russen" oder „Neger" über den Leib gejagt werden, um uns zur Räson zu bringen, schon unser besonderes Los zu sein scheint. Ich weiß, daß man darüber normalerweise nicht spricht. Aber ich spreche darüber, weil ich laut fragen will, ob diese Briefe so auch in anderen Völkern geschrieben werden und ob sie nicht mit unserer ganz besonderen deutschen Form von Vergangenheitsbewältigung zu tun haben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wirklich unerträglich! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/ CSU]: Was haben Sie denn bei der Nachrüstung geschrieben und schreiben lassen?!)

Damit bin ich bei meinem Thema. In diesem Jahr, dem 40. Jahr nach der Befreiung vom Hitler-Fa-



Frau Dr. Vollmer
schismus, hat uns die Vergangenheit mit voller Wucht eingeholt. Alle sind davon eingeholt worden, wir GRÜNEN in besonderer Weise, teils, indem wir uns selber als Erben dieser deutschen Vergangenheit begreifen, teils, indem sich an uns und unserer Bewegung eine eigenartige Form von Vergangenheitsbewältigung abarbeitet mit Anschuldigungen und Vergleichen, die uns wechselweise als Nazis, als Kommunisten oder als „Pazifisten, die Auschwitz erst ermöglicht hätten" (so Heiner Geißler) beschimpfen.
Statt einer ehrlichen Vergangenheitsbewältigung gab es in dieser Republik viele kleine und große Fluchten und eine Verdrängung in den Mythos in unterschiedlicher Weise.
Der erste Mythos sieht so aus: Der 8. Mai war die Stunde Null, der absolute Neuanfang, nach der Melodie: Alles neu macht der 8. Mai. Das ist die Methode von Helmut Kohl, der von sich sagt: Ich war damals 15 Jahre alt. Der Logik dieses Ansatzes entspricht es, daß alles nivelliert wird. Da heben sich Auschwitz und Dresden gegeneinander auf, die Ausrottung des Warschauer Ghettos und die Bombardierung Hamburgs. Da kniet man nicht mehr nieder, sondern gibt sich die Hand über den Gräbern von Verdun, punktum. Da plant man sogar, sich die Hand in Danzig zu geben. Da wird ein Mahnmal für alle Toten gemeinsam geplant: für die ehemaligen Opfer wie für die ehemaligen Täter. Das Vergangene wird sozusagen im Weitergehen behandelt, mit wohlgemuter Zuversicht auf die optimistische Wende, daß wir es schon wieder zu etwas bringen werden in der Welt, wenn nur die anderen erst einmal die Leichtigkeit unseres Vergessens erlernt haben.
Die zweite Methode der Vergangenheitsbewältigung ist auf den Mythos gestützt: Braun ist gleich rot. Dies war die vorherrschende Form der Vergangenheitsbewältigung in der frühen Nachkriegszeit und ist heute noch entschieden die Methode von Herrn Dregger bis zu Herrn Hupka. Durch die Gleichsetzung „kommunistische Diktatur" gleich „Faschismus" mogelt man sich als überzeugter Antikommunist selbst flugs zum Antifaschisten um. Umgekehrt gehört dazu bis heute hin, daß der gesamte antifaschistische Widerstand der Kommunisten, der Sozialisten und auch der Sozialdemokraten nicht anerkannt oder doch in seiner Bedeutung unterschätzt wird. Der einzige hochgeschätzte Widerstand gegen den Nationalsozialismus blieb so der aus konservativer oder religiöser Grundhaltung, weil er am bruchlosesten in die CDU-Nachkriegspolitik einging. Die Legitimation für wahrhaften Antifaschismus nach dieser Version ist außer wehrhaftem Antikommunismus heute, daß wir uns — wir haben es heute auch von Herrn Kohl und Herrn Dregger gehört — für die Werte des Westens, für die NATO und neuerdings auch für die eilige Beteiligung an der Weltraumrüstung der Amerikaner starkmachen. Letzteres ist mir eine wirklich gespenstische Lehre aus unserer deutschen Geschichte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Der dritte Mythos der Vergangenheitsbewältigung ist schön ausgedrückt in einem Satz von Herrn Mertes: Zu große nationale Schuldgefühle würden den Pazifismus und Neutralismus hierzulande verstärken. Also brauchen wir nationale Entlastung. Es entstand der Mythos des verführten Volkes, klassisch in der Formulierung: Hitler beging seine Verbrechen im Namen des deutschen Volkes. So wäre dann das deutsche Volk daran nur in der Form beteiligt gewesen, daß es seinen guten Namen mißbrauchen ließ! Ganz nebenbei ermöglicht dies wiederum einen guten bruchlosen Bezug zu allen nationalen Traditionen — eben mit Ausnahme des zwölfjährigen Unfalls —, also z. B. zu den Preußen, und zu Bismarck und zum Kaiserreich allemal.
Alle diese Verdrängungsmythen sind untauglich, die einzige, die wirkliche deutsche Frage zu lösen, die nach dem Ende dieses Krieges offengeblieben ist: wie man als Deutscher mit einer solchen nationalen Vergangenheit überhaupt leben kann, wie man sie bewältigen und bearbeiten kann und wie man daraus eine Zukunft entwickeln kann.
Wenn Hitler und die Deutschen gesiegt hätten, dann gäbe es hier und jetzt in Europa nichts mehr, was nur von fern her an Kultur, an Demokratie und Humanität erinnerte. Dann existierte ein mächtiges und barbarisches Reich, das aus einem einzigen gewaltigen Friedhof bestünde: Deutschland, Deutschland über alles. Millionen redeten mit einer Stimme. Minderheiten, das wäre ein Name aus dem Geschichtsbuch, Jude ein historischer Begriff in einem Land, dessen Thingstätten, Ruhmeshallen und Totenburgen sich bis weit nach Asien hinein erstreckten.
Die große Schwierigkeit an dem historischen Datum des 8. Mai 1945 war die: Der westliche Teil Deutschlands mußte nach diesem Krieg eine Demokratie mit zu wenigen Demokraten aufbauen, der östliche Teil einen Sozialismus mit zu wenigen Sozialisten. Heute, vierzig Jahre später, stehen wir da und räumen immer noch Trümmer weg, seelische und geistige Trümmer, und kommen nicht mehr auf den Grund.
Da ist noch so viel verschüttet. Männer sind nachts schweißgebadet aufgewacht, ohne über ihre Beteiligung an Erschießungen, Plünderungen, Folterungen, an der Politik der verbrannten Erde in der Sowjetunion reden zu können. Frauen haben lieber zur Flasche gegriffen als mit ihren Männern über ihre Vergewaltigung reden zu können. Wir Jüngeren wissen so gut wie nichts über die Geschichten unserer Eltern und haben irgendwann aufgehört nachzufragen. Die DDR hat alle ehemaligen Nazis als im Westen wohnend erklärt. Die damaligen Juristen blieben irgendwann in Amt und Ehren. Herr Flick und BASF sind wieder tätig, weltweit und mit zweistelligen Zuwachsraten.
Es gibt Dinge, die wird man nie verstehen, am wenigsten diese ungeheure, diese buchhalterische, diese typisch-deutsch-gründliche Vernichtung und Verarbeitung von Millionen Juden und Polen und Zigeunern und Kommunisten und Homosexuellen und Behinderten in den Gasöfen von Auschwitz bis zur fabrikmäßigen Verarbeitung ihrer Körperbe-



Frau Dr. Vollmer
Standteile, von Haaren und Goldzähnen und sogar des Körperfetts für Wehrmachtsseife. Wenn da noch eine Steigerung möglich ist: Fast noch unfaßbarer ist mir die Tatsache, daß heute, vierzig Jahre nach Auschwitz, die winzigen Reste der Juden in Deutschland unter Polizeischutz ihre Gottesdienste abhalten müssen.

(Dr. Hackel [CDU/CSU]: Das liegt an Ihnen!)

Um es gleich zu sagen: Auch wir haben nur Lösungsansätze, keine fertigen Lösungen, die wir für die Bearbeitung der deutschen Vergangenheit, und zwar der ganzen Vergangenheit, vorschlagen.
Erstens schlagen wir vor, unseren Platz unter den Völkern Europas so einzunehmen, daß wir gründlich Abstand nehmen, nicht nur von den faschistischen Allmachtsfantasien der Weltherrschaft der germanischen Herrenrasse, sondern auch von der nationalistischen Variante des nationalistischen preußischen Bismarckreiches, also von jeglicher Variante der Bedrohung unserer Nachbarvölker im Osten wie im Westen. Mögen andere Völker aus dem Krieg gegen das faschistische Deutschland die Lehre gezogen haben, daß sie für immer dagegen militärisch gewappnet sein müssen, für uns, für dieses Volk ist der Weg der militärischen Stärke kein Weg mehr,

(Beifall bei den GRÜNEN)

auch nicht in der Variante der Beteiligung an einer deutsch-französischen oder an einer westeuropäischen Nuklearstreitmacht à la Helmut Schmidt, und schon gar nicht in der Form der voreiligen Beteiligung an der amerikanischen Weltraumstrategie à la Helmut Kohl.
Es erscheint mir mehr als erstaunlich, daß es in diesem Land fast 30 Jahre gebraucht hat, bis mit uns wieder eine Partei aufgestanden ist, die Neutralität, Blockunabhängigkeit und Verzicht auf militärische Rüstung wieder auf ihre Fahnen geschrieben hat,

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Weil wir 30 Jahre Frieden haben! Sie mit Ihrer Selbstgerechtigkeit!)

wo dies doch die vorherrschende Meinung aller überlebenden Deutschen des letzten Kriegs gewesen war,

(Beifall bei den GRÜNEN)

und wo es doch das Vernünftigste und Nächstliegende für dieses Land ist, nicht nur auf Grund seiner Geschichte, sondern auch auf Grund seiner geographischen Lage heute zwischen den Militärblökken.
Zweitens schlagen wir vor, unsere Realitäten, wie sie im Jahre 1985 aussehen, voll zur Kenntnis zu nehmen und in ihnen sogar eine große Chance für eine kommende Neuordnung Europas zu erblicken. Zu diesen Realitäten gehört, daß es in Ost wie in West weder heute noch in Zukunft irgendein Land gibt, das irgendeine Veränderung unserer Grenzen oder der Grenzen der DDR hinnehmen würde. Zu diesen Realitäten gehört, daß in Schlesien, in Ostpreußen und in Pommern heute Polen und zum Teil auch Russen ihre Heimat haben und haben werden. Jeder, der etwas anderes behauptet, betrügt die Vertriebenen und macht ihren Verlust durch falsche Hoffnungen schwerer. Zu diesen Realitäten gehört, daß es auf deutschem Boden heute zwei Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gibt, denen man weder durch Flucht noch durch Leugnung der Wirklichkeit entfliehen sollte. Auf friedlichem Wege hat sich in den letzten Jahrhunderten eben kein einheitlicher deutscher Nationalstaat herstellen lassen, der auf Dauer in Frieden mit seinen Nachbarn leben konnte. Entwickelt hatten sich aber statt dessen auf deutschem Boden verschiedene stabile dezentrale Kultur- und Wirtschaftszentren. Darin liegt auch eine große Chance für ein Europa, das die Nationalstaaten insgesamt als historische Epoche überwinden will und überwinden muß. Denn die Zeit der Nationalstaaten ist eigentlich schon vorbei.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In Kreisen der GRÜNEN, aber auch innerhalb der SPD ist die Diskussion darüber entstanden, daß es 40 Jahre nach Kriegsende Zeit ist, endlich einen dauerhaften Friedensvertrag zwischen den ehemaligen Feindstaaten und den beiden deutschen Staaten zu schließen. Dieser Friedensvertrag, zu dem ich Ihnen die Grundüberlegungen vorstellen will, würde folgendes bewirken und beinhalten:
Es wird endlich auch rechtlich verbindlich Frieden geschlossen. Der Friedensvertrag-Vorbehalt, den wir heute so oft haben klingeln hören, würde endgültig entfallen.
Beide deutsche Staaten sind Rechtsnachfolger des ehemaligen Deutschen Reiches und übernehmen damit ihren Teil Verantwortung — auch die DDR.
Die Bundesrepublik Deutschland erkennt die DDR und ihre Staatsbürgerschaft an, und die Hallstein-Doktrin landet damit endgültig auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Die bestehenden Grenzen werden damit endlich auch rechtsgültig anerkannt, und jeder weiteren Spekulation wird der Boden entzogen.
Beide deutsche Staaten werden gleichzeitig aus ihren Militärblöcken entlassen und bauen ihre militärischen Offensivwaffen ab.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Edle Einfalt!)

Damit werden sie statt des Todesstreifens in einem möglichen neuen Krieg — denn Raketen sind und bleiben Magneten — zu einem Sicherheitspuffer zwischen den Blöcken.
Drittens schlagen wir vor, die fortdauernden Feindbilder aufzuspüren, die über das Ende des Faschismus hinaus Menschen in diesem Land ungebrochen weiterhin zu Opfern machen. Auschwitz gehört immer noch zu unserer deutschen Identität. Mitglieder fremder Rassen und Völker werden im-



Frau Dr. Vollmer
mer noch gesetzlich und in der Alltagspraxis verachtet.

(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Unglaublich, was Sie da behaupten!)

Gerade hier läge doch ein Bereich, an dem die einstmals vertriebenen Deutschen aus ihrer eigenen Lebenserfahrung eine besondere Sensibilität für tagtägliches Unrecht einzubringen hätten. Behinderte leben bei uns immer noch in Ghettos und auf der Rampe des Eingestuftwerdens, bis hin zu der Tatsache, daß die Wahrscheinlichkeit von Behinderungen ein Abtreibungsgrund ist, bis hin zu der Tatsache, daß die Zwangssterilisierung von Behinderten von weiten Teilen der Bevölkerung immer noch als vernünftig eingeschätzt wird.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)

Nach den Experimenten eines Eugenetikers wie Dr. Mengele gibt es kein Erschrecken über die Genmanipulationen in Forschung und Industrie, sondern Herr Riesenhuber meint, wir brauchten dabei baldmöglichst den Anschluß an die Weltspitze —

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie schmeißen hier wieder Birnen und Äpfel durcheinander! Das ist unglaublich!)

obwohl es in diesem Land einmal die Praxis gegeben hat, Frauen zu Rassenzuchtexperimenten zu mißbrauchen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das hat doch mit Genmanipulation nichts zu tun!)

Sinti und Roma und Homosexuelle bleiben in ihrer verachteten Isolierung und sind bis heute nicht in die Wiedergutmachung eingeschlossen. Hier haben wir ein weites Feld für beispielhafte Aufarbeitung, die uns immer noch möglich bleibt.
Viertens sagen wir trotz alledem: Die Geschichte der Deutschen in diesem Jahrhundert zeigt auch, daß es in immer neuen Wellen basisdemokratische und ökologische Bewegungen mit großer Ausstrahlungskraft gerade auf junge Menschen gegeben hat und daß sich dieses Volk Schritt um Schritt wirkliche Demokratie von Grund auf aneignen wollte und aneignen will. Das waren im Kaiserreich sowohl die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung als auch Teile der Wandervogelbewegung, die dann im Ersten Weltkrieg verbluteten. Das war in der Weimarer Republik die freideutsche Jugendbewegung mit ihren Reformbewegungen der Siedlungen, der Naturfreunde, der Alternativkultur und der freien Schulen, die dann in der bündischen Jugend brutal in ihr Gegenteil verkehrt und zum Kanonenfutter getrimmt wurden. Das waren in der ersten Nachkriegszeit in der militärfreiesten Republik, die es je auf deutschem Boden gegeben hat, die Ostermarschbewegung und die antimilitaristischen Strömungen bis hin noch zum Ahlener Programm. Das war die Studentenbewegung bis zu ihrer Erschöpfung, an der leider diese uralte, elende sozialdemokratische Obrigkeitspraxis der Berufsverbote und Gewerkschaftausschlüsse nicht unschuldig war.
Und das ist die heutige Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, deren Teil auch wir sind.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Das sind nicht nur die GRÜNEN, das sind viel mehr!
Ich sehe es immer noch als eine der erstaunlichsten Gegebenheiten in dieser Republik an, daß dies gelungen ist, daß diese Bewegungen nicht auf ewig zur außerparlamentarischen Existenz verurteilt sind und verurteilt waren, sondern so stark wurden, daß wir in diesem Parlament auf Ihrer Ebene, Herr Dregger, vom Volk gewählt, Sitz und Stimme und Rederecht haben. Wenn es auch Tendenzen gibt, die dies gern rückgängig machen wollen,

(Dr:Ing. Kansy [CDU/CSU]: Sie rotieren doch freiwillig! Was soll denn der Unsinn!)

wie z. B. Franz Josef Strauß, der wieder einmal diesen ganzen „Sumpf" trockenlegen will: auch er wird wie alle zur Kenntnis nehmen müssen, daß dieser Wille nach radikaler und basisnaher Demokratie

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das repräsentieren Sie doch nicht!)

in den letzten Jahren stärker und drängender geworden ist. Es bleibt dies eine der größten Hoffnungen auf demokratische Freiheit und Lebendigkeit in dieser Republik. In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, ist Freiheit wirklich eine ganz zentrale Frage der Deutschen.
Wir werden alles tun — und dabei hoffentlich nicht allzu große Fehler machen —, daß die Politik dieses Landes nicht noch einmal die eigenen Kinder frißt.

(Beifall bei den GRÜNEN — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ihre Selbstgerechtigkeit stinkt zum Himmel! — Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das kann man wohl sagen!)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012201200
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.

Hans-Günter Hoppe (FDP):
Rede ID: ID1012201300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers und die Diskussionsbeiträge in der Aussprache haben bei all ihrer Verschiedenartigkeit doch deutlich gemacht, daß Deutschlandpolitik heute mehr und mehr unter dem Aspekt Friedenspolitik begriffen wird, ja, daß das eine mit dem anderen gleichgesetzt wird. Zu dieser friedensstiftenden Funktion unserer Deutschlandpolitik hat das demokratische Nachkriegsdeutschland seinen Beitrag wahrlich geleistet. Es bedarf dazu keines „alternativen" Nachhilfeunterrichts durch die GRÜNEN.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich verstehe zwar die menschliche Betroffenheit, aber die zukunftsgestaltenden politischen Lösungen müssen friedenstiftend, national und praktikabel sein.
Die Friedenspolitik haben wir Freien Demokraten auf diesem Feld seit langem vertreten, ja, auf ihr bauten wir den Entwurf unseres Generalver-



Hoppe
trages mit der DDR auf. Der FDP-Bundesvorstand hat dann 1983 in seiner Wiesbadener Erklärung noch einmal bekräftigt:
Deutschlandpolitik ist für uns europäische Friedenspolitik. Wir wissen, ein Rückfall in den Kalten Krieg würde keinem Volk mehr schaden als dem deutschen Volk in West und Ost.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir wissen aber auch, Fortschritte bei Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung nützen keinem Volk mehr als dem deutschen.

(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr richtig!)

Der Saarbrückener Parteitag der FDP hat diese Position noch einmal unterstrichen und aktualisiert.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, so hat dann auch die Fraktion der Freien Demokraten dem Grundlagenvertrag mit der DDR in der Überzeugung zugestimmt, damit den Menschen in den beiden Staaten Deutschlands und zugleich dem Frieden in der Welt zu dienen. In der Aussprache des Deutschen Bundestages am 9. Mai 1973 habe ich für meine Fraktion ausgeführt:
Mit der Ratifizierung des Grundlagenvertrages ... leisten wir im Zusammenhang mit den Verträgen von Moskau und Warschau unseren Beitrag zur Wiedergewinnung des Friedens in Europa ... Es hat schmerzlicher Einsichten bedurft, um zu erkennen, daß ein Interregnum zweier Staaten in Deutschland hingenommen werden muß.
Das Bekenntnis zum Gewaltverzicht und zur Aussöhnung konnte nur dadurch glaubwürdig werden, daß wir uns dazu verstanden haben, keine Ansprüche mehr auf das Gebiet jenseits von Oder und Neiße geltend zu machen.
Meine Damen und Herren, zur gleichen Zeit hat Egon Bahr in einer Kommentierung des Moskauer Vertrages folgendes ausgeführt:
Wenn der Frieden in Europa sicherer und die Zusammenarbeit verstärkt werden soll, dann müssen die Grenzen, die es nun einmal gibt, auch wenn uns ihr Verlauf gar nicht gefällt, geachtet werden und unverletztlich sein. Aber diese Verpflichtungen, so ernst, so ehrlich und notwendig sie sind, müssen begrenzt sein. Das ,Ziel der Bundesrepublik Deutschland, wie es im Grundgesetz verankert ist und wie es unserer Überzeugung entspricht,
— so immer noch Egon Bahr —
bleibt unverändert die staatliche Einheit und die freie Selbstbestimmung.

(Beifall bei der FDP)

Der Versöhnung mit den Völkern des Westens kann eine Aussöhnung mit den Völkern des Ostens nur folgen, wenn dem deutschen Volk das Ziel seiner Einheit nicht versperrt wird.
Meine Damen und Herrn, wer dazu heute den Herrn Bundeskanzler mit seinem klaren und eindeutigen Bekenntnis gehört hat, der muß feststellen, daß die Positionen der Deutschland-, Ost- und Friedenspolitik unverrückbar und kontinuierlich Gültigkeit behalten haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Alle Revanchismus-Vorwürfe gehen damit ins Leere. Selbst wenn Moskau diese Platte weiter auflegen sollte, bleiben doch nur Agitation und Propaganda übrig. Es war deshalb auch folgerichtig, die gemeinsame Entschließung von SPD, CDU/CSU und FDP des vorigen Jahres zur Deutschlandpolitik zu erneuern.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Um so unverständlicher muß es bleiben, daß die SPD ihren Alleingang ausgerechnet an der Frage der deutschen Staatsangehörigkeit aufhängt. In der Praxis gibt es hier keine Konfliktlage mehr. Aber wenn die SPD gerade jetzt mit dem Stichwort Respektierung der Staatsangehörigkeit in die politische Arena springt, muß das doch verwundern. Es muß nämlich deshalb verwundern, weil die DDR dies nun gerade jüngst mit der Forderung nach einer Grundgesetzänderung zu einem für uns alle inakzeptablen Dollpunkt gemacht hat.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nein, meine Damen und Herren.

Und wenn der Kollege Apel

(Reddemann [CDU/CSU]: Wer ist das?)

heute — fast würde ich ja bedauernd sagen — in einer gequälten Pflichtübung an dieser Front noch eine Fortschreibung angebracht hat,

(Zuruf von der CDU/CSU: Er tut mir leid!)

ist das wirklich kaum zu verstehen. Nach seinen Ausführungen hat Bonn zur Absage Honeckers beigetragen.

(Dr. Apel [SPD]: Das wissen doch Sie wie wir!)

Meine Damen und Herren, der Staatsratsvorsitzende weiß es besser!

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht nur der!)

Und wenn Sie mit Gewalt den deutschlandpolitischen Stillstand in Bonn zeigen wollen und dazu feststellen, die internationalen Rahmenbedingungen hätten sich nicht geändert und deshalb sei Bonn verantwortlich,

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das ist dilettantisch!)

kann ich nur sagen: Klarsicht und Orientierungsvermögen müssen Ihnen völlig verlorengegangen sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Es ist schließlich für alle erkennbar, daß die internationale Entwicklung und die Interessenlage der Supermächte die Deutschlandpolitik einholten. Moskau will die Federführung auf diesem Feld be-



Hoppe
halten, und Moskau will seinen Führungsanspruch im Ostblock deutlich machen, meire Freunde.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das ist der wahre Grund!)

Die Führung der DDR, so scheint mir, bewältigt diese vorhandene Schwierigkeit offensichtlich be-ser als die SPD.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Aber gerade sie mit ihren langjährigen Erfahrungen auf diesem Feld sollten wissen, daß die DDR in Zeiten, in denen ihr Handlungsspielraum — unserer übrigens auch — enger wird, Pausenfüller braucht. Und die Geraer Forderungen sind dazu das geeignete Instrumentarium.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wir sollten uns dann nicht auch als Pausenfüller betätigen und uns darin verbeißen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Nein, meine Damen und Herren, wir sollten diese Phase für eine konzeptionelle Vorarbeit in der Deutschlandpolitik nutzen, damit der bevorstehende neue Anlauf wirklich zu einem stubstantiellen Erfolg für die Menschen in unserem geteilten Land werden kann.
Und deshalb sage ich noch einmal allen, die gemeinsam diese Politik konzipiert haben: Nachdem es uns im vergangenen Jahr gelungen ist, zu einer gemeinsamen Formulierung zu kommen, ist auch jetzt das Gebot der Stunde Schulterschluß und nicht Abriß.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Debatte über die Lage der Nation findet in einer gewissen Atempause statt, genauer gesagt: in einer Phase der Vorbereitung auf neue Schritte und Initiativen im Ost-West-Verhältnis — und das international wie national. Die amerikanisch-sowjetischen Gespräche, die im März in Genf beginnen, stehen dafür als herausragendes Beispiel. Sie signalisieren, daß vier Jahre Entfremdung und relative Sprachlosigkeit zwischen den entscheidenden Mächten in Ost und West zu Ende gehen könnten.
Die berechtigte Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Ost-West-Dialogs sollte unsere Erinnerung an die Ursache der Unterbrechung nicht trüben. Es war nämlich der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan, ein Schock, der in der westlichen Welt wie auch in vielen Entwicklungsländern bis heute nachwirkt; denn das Unrecht der Besetzung Afghanistans und die Zufügung von Leid an ungezählten Menschen halten bis heute an. Damit kann sich niemand abfinden, der die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte als grundlegendes Prinzip und als Ziel aller Politik begreift.
Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates darf auf keinen Fall relativiert werden. Dies würde uns in die machtpolitische Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit führen. Nichteinmischung — das muß von Vietnam und Kambodscha, dessen Leiden offensichtlich kein Ende nimmt, über Afghanistan und Polen bis nach Nicaragua Gültigkeit behalten. Der Geist der Verständigung und des bewußten Verzichts auf jede aggressive Note in der Politik hat die von der FDP betriebene Deutschlandpolitik von Anfang an bestimmt.
Meine Damen und Herren, Realitätssinn ist gefragt, Verständigung über das Wirkliche, Nutzung des Möglichen und auch die Wahrnehmung von Erfreulichem. Die Eröffnung der Semper-Oper in Dresden gehört dazu. Das Ereignis am 13. Februar war auch ein Beitrag zur Pflege des gemeinsamen deutschen Erbes,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

und dokumentierte die eine Nation, deren Kern die Geschichts- und Kulturgemeinschaft ist.
Der Begriff der Verantwortungsgemeinschaft kommt hinzu, die Verpflichtung für die Deutschen in beiden Staaten, alles für den Frieden Mögliche zu tun. Dieser Auftrag weist über die selbstverständliche Konsequenz aus den Erfahrungen zweier Weltkriege hinaus, daß von deutschem Boden aus nie mehr ein Krieg ausgehen darf. Wir müssen friedensstiftend leben, reden und handeln.
Meine Damen und Herren, der Liebe wie dem Haß und der Gewalt wohnt die Grenzenlosigkeit inne. Wer sich auf die Seite des Dunklen und Destruktiven schlägt, der ist verschlagen. Er wird sich im Bösen verlieren und anderen Böses zufügen. Dieses elementare Gesetz hat sich vor über 50 Jahren aufs Furchtbarste entfaltet. Es hat die Gesetze der politischen Gesittung, der Moral, der Menschlichkeit hinweggefegt und unvorstellbare Verbrechen hervorgerufen. Der erste Bundespräsident dieser Republik, Theodor Heuss, sagte:
Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat, ist dies gewesen, daß er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen.
Scham und Trauer über die Menschenverachtung, über die maßlose Zerstörungswut und die Folgen erfüllen uns noch heute.
Der historischen Wahrheit willen gilt es, im Zusammenhang mit dem mörderischen Krieg den zuvor abgeschlossenen Hitler- Stalin- Pakt zu registrieren. Diese Tatsache entlastet nicht die Deutschen, aber sie zeigt aufs Beklemmendste das unheilvolle Zusammenspiel tyrannischer und menschenverachtender Kräfte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Beseitigung der Hitler-Herrschaft hat uns den Weg geöffnet zu einem Leben in Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Das Bittere daran ist, daß dieser Weg bis zum heutigen Tage 17 Millionen Menschen in Deutschland verschlossen ist. Das Grundgesetz aber verpflichtet uns, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Dieses Bekenntnis erhält seinen besonderen Rang durch die ausdrücklich von der Bundesrepublik Deutschland erklärte,



Hoppe
vertraglich bekundete und praktisch betriebene Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Aussöhnung mit Frankreich hat dabei ihre herausragende Bedeutung; auch unsere Politik der Verständigung mit Israel und Polen. So gilt denn auch heute noch, was Walter Scheel vor sieben Jahren als Bundespräsident im Plenarsaal des Deutschen Bundestages festgestellt hat:
Wenn dieser Staat beharrlich der Freiheit nach innen und außen dient, wenn er seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einsetzt, nicht um zu herrschen, sondern um zu helfen, wenn er konsequent auf der Seite der Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit steht — dann wird sich auch die Angst vor einem vereinigten Deutschland verlieren, dann könnte es sein, daß eines Tages unsere Nachbarn ein vereinigtes Deutschland wünschen, weil es, auch in ihrem Interesse, sein größeres Gewicht auf die Waagschale des Friedens legen könnte.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

So weit Walter Scheel.
„Die Berlin-Frage ist untrennbar mit der deutschen Frage verknüpft. Bis zu deren Lösung bleibt Berlin Ausdruck und Sinnbild der als Folge des Zweiten Weltkrieges entstandenen Trennung der Deutschen und eine Aufforderung an alle politischen Kräfte, die Teilung auf friedlichem Wege zu überwinden."

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

„In Ihrer Funktion als bedeutende europäische Metropole, die von der Weltoffenheit, dem Fleiß und der unerschöpflichen Lebenskraft ihrer Bürger getragen wird, kann die Stadt ihren Beitrag zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen leisten. Der Friede in Europa wird dadurch gewinnen.
Das Vertrauen der Berliner in die Sicherheit und Zukunft der Stadt ist die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg einer jeden Maßnahme. Das Bild, das Berlin bietet, hat wesentlichen Einfluß auf die Bereitschaft zum privaten Engagement, auf das die Stadt dringend angewiesen ist." Ich bitte auch die SPD, hier zurückhaltend zu sein; denn das, was ich gerade zitiert habe, ist der Willenserklärung der Parteivorsitzenden vom 19. Juni 1978 entnommen, die sich damals beim Bundespräsidenten zu einer geschlossenen berlinpolitischen Demonstration zusammengefunden hatten.
Und doch hat dieser gemeinsame Impuls nicht verhindern können, daß für Berlin noch einmal schwierige Zeiten anbrachen. Im „Vorwärts", dem Parteiorgan der Berliner SPD, fand man unter dem 22. Oktober 1981

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Der BundesSPD!)

— gut, der Bundes-SPD; aber von der wollen Sie
sich doch ganz gewiß nicht distanzieren; also im
„Vorwärts", dem Parteiorgan der SPD — dazu eine
Lagebeschreibung, die Uwe-Karsten Heye verfaßte, nachdem er sich zuvor einen Monat in Berlin umgesehen hatte. Die dem Artikel vorangestellte Zusammenfassung lautete:

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1012201400
Von der FDP geduldeter CDUMinderheitssenat; eine SPD, die noch keine einheitliche Linie gefunden hat; eine kaputte Stadt, gebeutelt von Problemen, unter denen das der Hausbesetzung nur eines ist.
Meine Damen und Herren, das war in der Tat der Augenblick, in dem ein CDU-Minderheitssenat die Verantwortung für die Stadt übernahm. Es war aber auch die Stunde, in der die Freien Demokraten mit den Abgeordneten ihrer Fraktion die Wahl Richard von Weizsäckers im Abgeordnetenhaus überhaupt erst möglich machten. Mit dem Eintritt der Freien Demokraten in den Senat wurde dann eine Politik stabilisiert, die sich am Dreiklang Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur orientiert, die den Bürgern in der Stadt wieder Selbstvertrauen gab, die wieder Sympathie für die Stadt gewann, die Arbeitsplätze schuf und zukunftsorientierte Branchen in die Stadt brachte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, das Bild Berlins von heute im Vergleich zu 1981 spricht für sich, und es spricht wahrlich Bände. Sich zu diesem Anteil einer erfolgreichen Politik zu bekennen und für ihre Fortsetzung zu werben, fällt den Freien Demokraten wahrlich nicht schwer. Schließlich muß Berlin an der Nahtstelle zwischen Ost und West stabil bleiben. Nur dann werden die im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland notwendigen deutschlandpolitischen Impulse auch künftig von Deutschlands Mitte ausgehen können.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012201500
Das Wort hat der Herr Regierende Bürgermeister von Berlin.

(Beifall bei der CDU/CSU — Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Da kommt er angedakkelt!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1012201600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nation und Staat, das ist zweierlei. Wir Deutschen haben es wieder lernen müssen: Nation, das ist der durch Menschen verkörperte Wille zu Gemeinsamkeit, und ein solcher Wille ist trotz oder gerade wegen der Art und Weise der Teilung bei uns Deutschen da. Er ist stärker geworden, und das ist gut so. Aber ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl wird auf Dauer nur erhalten, wenn Bedingungen vorliegen, die Möglichkeiten für seine Entfaltung bieten, und das setzt ein hohes Maß an Kommunikation, an Begegnung, an Gesprächen, an denselben Fragen der Menschen und an ähnlichen Antworten voraus.
Berlin, die Stadt, von der hier mehrfach die Rede war, Berlin-West und -Ost, das ist der Ort, wo deutsche Gesprächsfäden zusammenfinden. In Berlin verbindet sich die Offenheit der Metropole mit der Last und Enge der deutschen Teilung, und jenseits



Regierender Bürgermeister Diepgen (Berlin)

aller nationalen Aufgaben Berlins ist es vor allem dieses, was Leben und Arbeiten in Berlin so faszinierend macht. In Berlin werden Anstöße aus der DDR am ehesten aufgenommen. In Berlin ist gemeinsam erlebte Geschichte spürbar und gemeinsame Zukunft wenigstens vorstellbar. Gestatten Sie mir auch diesen Satz: Berlin ist auf vielfache Weise der DDR und ihren Bewohnern am nächsten.
Mir sind hier vom Kollegen Apel zur Entwicklung in Berlin eine Reihe von Fragen gestellt worden, und ich bin aufgefordert worden, Anmerkungen zu der Rede des Herrn Bundeskanzlers zu machen. Mir wurde nahegelegt, etwas zu korrigieren. Herr Kollege Apel, ich habe keine Veranlassung, etwas zu korrigieren. Es war richtig, was dargestellt worden ist. Ich habe Veranlassung, seitens der Berliner, seitens des Berliner Senats der Bundesregierung für Engagement für Berlin und in der deutschen Frage zu danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gestatten Sie mir auch einen weitergehenden Hinweis. Der Tagesordnungspunkt, zu dem wir sprechen, heißt bewußt nicht: „Aktuelle Fragen der Deutschlandpolitik unter besonderer Berücksichtigung von bevorstehenden Wahlen". Ich will mich daran halten, daß dieser Tagesordnungspunkt nicht so heißt.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Deswegen, meine Damen und Herren, sehe ich meine Aufgabe hier heute darin, in der Debatte über die Lage der deutschen Nation vorwiegend von dem zu sprechen, was in Ost-Berlin und in der DDR die Menschen bewegt; denn die Aufmerksamkeit in der DDR uns gegenüber ist — vom einfachen Mann auf der Straße bis hin zum Generalsekretär der SED — um ein Vielfaches höher, als das umgekehrt der Fall ist. Meine Damen und Herren, was wir sagen und wie wir es sagen, mit welchem Engagement wir Deutschlandpolitik betreiben, all das wird in Magdeburg, in Rostock und in Ost-Berlin viel genauer registriert, als wir das umgekehrt tun.
Ich möchte die westdeutsche Öffentlichkeit genau auf diesen Punkt hinweisen, und ich möchte hier vor dem Deutschen Bundestag ein Plädoyer halten, die DDR ernst zu nehmen. Ernst nehmen, das heißt natürlich nicht lieben, das heißt nicht vertuschen, nicht die Augen zudrücken, nicht schweigen. Ernst nehmen heißt eben auch, unterschiedliche Auffassungen über Freiheit, über Menschenrechte, über die Notwendigkeit einer unzensierten Presse laut und deutlich auszusprechen. Das ist hier in dieser Debatte vielfach auch getan worden; wir tun das, und wir müssen das auch weiter tun. Aber unterschiedliche Auffassungen dürfen nicht zum Hindernis dafür werden, gegenseitig interessierende Fragen miteinander auch lösen zu können.
Die DDR ernst nehmen, das hat Konsequenzen. Das heißt z. B., nicht zu vergessen, daß es der DDR in der Tat an Anerkennung fehlt. Aber es ist nicht primär die Anerkennung von außen, sondern es ist vor allem die Anerkennung durch die eigene Bevölkerung, die der SED fehlt.
Die DDR ernst nehmen, das heißt z. B. eben auch, besorgt — ich betone das: besorgt — das zur Kenntnis zu nehmen, was dort in Schulen an Feindbildern über uns gelehrt wird.
Aber, meine Damen und Herren, heute in dieser Debatte kommt es mir auf etwas anderes an. Was wird denn in unseren Schulen über Deutsche in der DDR gelehrt?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine gute Frage!)

Wird dort überhaupt etwas gelehrt? Ernst nehmen, das heißt für mich nicht, Deutschlandpolitik nur in Rechtskategorien zu betreiben, in der Diskussion über Begriffe wie „Anerkennung" und „Respektierung". Es geht nicht um juristisches Anerkennen oder Respektieren oder ähnliche Formulierungen und Interpretationsnotwendigkeiten, sondern um Menschen und um Entwicklung bei uns und im anderen Teil Deutschlands.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß das Leben in der DDR gerade für uns bunter, nuancenreicher und interessanter ist, als wir es uns vielfach vorstellen können oder viele sich vorstellen wollen.
Ich sage auch dies: Das Leben in der DDR ist in weiten Bereichen vielleicht auch intensiver, tiefer, wacher und kritischer, als es bei uns der Fall ist.

(Hört! Hört! bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)

Lassen Sie mich das an einem Beispiel der jüngsten Zeit aus Dresden darstellen, und zwar ausgehend von dem Gedanken an die Zerstörung der Stadt vor 40 Jahren.
Bischof Hempel predigte in der Kreuzkirche, und er sagte: Es lastet, es blutet, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Er gab dabei dann aber auch zwei Ratschläge, auf die ich hier hinweisen möchte. Wenn wir, so sagte er, weiterkommen wollen, dann müssen wir mehr Stille suchen; eine Kirche, die auf erschöpfte Menschen noch mehr Berge an Werken lastet, macht am Ende enttäuscht und bitter.
Der zweite Ratschlag: Menschen wahrnehmen. Was wäre das, so sagte Bischof Hempel, sich nicht nur abzugrenzen, sondern in Gesichter zu sehen, nicht auf Abzeichen, sondern auf die manchmal klaren und manchmal müden Augen zu sehen?
Wenn wir das tun, meine Damen und Herren, werden wir natürlich auch Enttäuschungen erleben, aber wir werden noch mehr Probleme entdecken, die wir miteinander haben, in einer geeinten, in einer einigen Nation. Wir werden auch erfreuliche Entdeckungen machen, nämlich einmal, daß wir viele gemeinsame Probleme haben. Vor allem werden wir entdecken, welche Fülle von deutschen Gemeinsamkeiten dieser gesellschaftlichen Gegenwart es gibt, die Sprache beispielsweise. Es wird oft gesagt, die Sprache in Ost- und Westdeutschland würde sich auseinanderentwickeln. Sie hat sich nicht wesentlich auseinanderentwickelt. Gerade vor kurzem haben Experten in Tutzing festgestellt, daß die bundesdeutsche Alltagssprache mehr mit der



Regierender Bürgermeister Diepgen (Berlin)

Sprache in der DDR gemein hat als mit der Sprache beispielsweise in Österreich oder im deutschsprachigen Teil der Schweiz.
Ein anderes Thema: Frauen in Ost und West fragen ganz genauso nach der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindererziehung, nach den Grundlagen einer partnerschaftlichen Ehe. In dieser einen deutschen Gesellschaft in den zwei deutschen Staaten gibt es ganz ähnliche Phänomene, die auch viele von Ihnen — möglicherweise sogar leidvoll — in ihrer Familie erfahren, nämlich daß Jugendliche insbesondere aus sogenannten guten Familien plötzlich zu „Aussteigern" werden. Zur deutschen Gemeinsamkeit, zu dieser einen deutschen Nation gehört auch, daß Udo Lindenberg, die Gruppe BAP oder die Phudys in Ost und West genauso beliebt sind. Und uns alle in Ost und West — ganz gleich ob in Tübingen oder in Weimar — bewegt die Umweltverschmutzung.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Und der Dackel!)

Meine Damen und Herren, selbst der Versuch der SED, sich jetzt aus der ganzen deutschen Geschichte mit Hilfe einiger Argumentationskünste zu legitimieren, sich selbst zu legitimieren, wird im Ergebnis nur zu mehr Gemeinsamkeiten führen. Lassen Sie es mich einmal ganz einfach ausdrücken: Geschichtliche Fakten sind stärker als der, der sich auf diese geschichtlichen Fakten beruft.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Macht der gemeinsamen Geschichte, meine Damen und Herren, wird auch die einholen, die gerade die Teilung mit der Geschichte rechtfertigen wollen.
Meine Damen und Herren, die Kirchen sind ein ganz wichtiges Element der Gemeinsamkeit zwischen den Deutschen. Sie sind ein sensibles Element in der DDR. Gerade sie habe ich auch vor Augen, wenn ich dafür plädiere, die DDR ernst zu nehmen. Wenn z. B. in einem Hirtenbrief der katholischen Bischöfe an die Jugend der Mut zum Anderssein gefordert wird, dann wird sofort hinzugefügt, das heiße nicht — ich zitiere —, „gegen die anderen zu sein und in dauernder Opposition zu leben". Auch so kann man anders sein. Brauchen wir nicht auch bei uns genau in diesem Sinne eine Begriffsdefinition der Möglichkeit, anders zu sein: nicht gleich immer gegen zu sein, und zwar fundamental gegen zu sein?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ein Wort zur evangelischen Kirche. Wie Sie wissen, postulieren die beiden Teile der evangelischen Kirchen — also die evangelischen Kirchen in West und Ost — trotz ihrer organisatorischen Trennung eine besondere Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland. Und der Präsident des evangelischen Konsistoriums in Ost-Berlin, Manfred Stolpe, benennt die Substanz dieser Gemeinschaft so — ich zitiere das —: Neben der „Gemeinsamkeit in Sprache, in Kultur, vor allem in deutscher Geschichte als einer Haftungsgemeinschaft" seien es die „Gemeinsamkeiten im Bekenntnis, in der Liturgie, im Gesangbuch und vor allem auch in der Friedensfrage". Ich denke, in dem, was hier aus dem Bereich der DDR „besondere Gemeinschaft" genannt wird, steckt ein wichtiges Stück gemeinsamer deutscher Nation.
Aber, meine Damen und Herren, ich will auch nicht verschweigen, was Manfred Stolpe dann noch hinzugefügt hat:
Besondere Gemeinschaft selbständiger und unabhängiger Partner, die dennoch zutiefst verbunden sind, wird sich auch darin üben müssen, kritisch miteinander mitzudenken, um sich gegenseitig zu helfen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, das ist eine Aufforderung, der wir uns stellen müssen. Wir müssen kritisch miteinander mitdenken im geteilten Deutschland, gerade wenn wir uns helfen wollen und wenn die deutsche Nation in ihrer Einheit erhalten bleiben soll.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zur Wirtschaft machen. Ein an Ergebnissen orientierter Dialog, den Erich Honecker will — so formuliert er das immer — und den auch wir wollen — der Bundeskanzler hat es heute, Vertreter der Fraktionen haben es heute gesagt —, ist am erfolgreichsten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit möglich. Damit es da keine Mißverständnisse gerade in bestimmten Zeiten gibt: Wir wollen die Zusammenarbeit nicht etwa nur auf wirtschaftliche Zusammenarbeit konzentrieren, sondern hier geht es um menschliche Erleichterungen. Hier geht es um mehr Kontakte, hier geht es um Reise- und Besuchsmöglichkeiten, hier geht es um Kulturabkommen, hier geht es um wirtschaftliche Zusammenarbeit, um Umweltschutz. Aber ich wiederhole: Ein an Ergebnissen orientierter Dialog kann am erfolgreichsten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sein.
Wie ist denn die Lage der DDR-Wirtschaft? Trotz aller Skepsis gegenüber jeder amtlichen Statistik, insbesondere einer Planwirtschaft, wird man doch sagen können, daß die DDR die höchstentwickelte Volkswirtschaft des RGW ist. Erstmals seit der drastischen Verteuerung der Rohstoffe durch die Sowjetunion hat die DDR wieder einen Exportüberschuß gegenüber der Sowjetunion erreicht. Ihre Verschuldens- und Devisenlage ist besser geworden. Viele auch in diesem Raum, die sich mit Deutschlandpolitik beschäftigen, mit Möglichkeiten gemeinsamer Projekte im Bereich der Wirtschaft, zerbrechen sich im Augenblick schon den Kopf über die Hamstermentalität der DDR-Führung im Bereich der Devisenwirtschaft.
Meine Damen und Herren, also insgesamt kein von vornherein schlechtes Bild von der DDR-Wirtschaft, aber es gibt eine Reihe von Problemen. Auf ein Problem will ich hier insbesondere hinweisen, weil es für uns dabei Chancen geben kann. Es mangelt vor allem an Investitionen für Innovationen. Weniger Öl aus der Sowjetunion, weniger Steinkohle aus Polen, die forcierte Umstellung auf die heimische Braunkohle, all das hat die Investitions-



Regierender Bürgermeister Diepgen (Berlin)

tätigkeit der DDR betroffen, und zwar zutiefst. Mehr Braunkohle als Primärenergie belastet zudem die Umwelt beträchtlich, was insbesondere für die Region Berlin immer wieder eine schmerzhafte Erfahrung ist. Die DDR hat hier also eine Investitionslücke. Ihre wirtschaftlichen Entscheidungen der Vergangenheit gehen sehr stark auf Kosten der Umwelt. Dieses sage ich übrigens auch gerade vor dem Hintergrund sehr persönlicher Erfahrungen in der Umweltpolitik und in den Anregungen zur Umweltpolitik, zur gemeinsamen Umweltpolitik. Ich sage dieses ohne Besserwisserei. Denn was ein verschlafener Strukturwandel und was Umweltschäden durch Kraftwerke sind, das wissen wir hier genauso wie die Bürger irgendwo in Cottbus oder in Ost-Berlin. Mir geht es vielmehr darum, unser aller Aufmerksamkeit auf die Chancen zu richten, die in dieser Investitionslücke liegen, und zwar insbesondere dann, wenn man dabei den Zusammenhang mit den Entscheidungen für den nächsten Fünfjahresplan der DDR bedenkt. Es liegen Chancen darin, diese Lücke gemeinsam zu schließen. Wir sollten alle Kraft und mehr Phantasie dafür einsetzen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der DDR eben nicht nur — und nicht einmal der Eindruck darf entstehen — darauf zu konzentrieren, Kredite zu geben oder Jeans oder billige Möbel in der DDR zu kaufen. Wichtiger ist eine betriebsbezogene Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil, und zwar insbesondere bei Investitionsgütern. So haben wir ein Interesse daran, insbesondere von Berlin aus und auch über Berlin neue Märkte zu erschließen. Vor allem im Umweltschutz liegt uns daran, Umwelttechnik aus Berlin, verbunden mit den Anstrengungen, die in der Stadt selber vorgenommen werden, anderen anzubieten. Die andere Seite hat ein Interesse, ja, einen dringenden Bedarf an Umweltinvestitionen.
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß sich das Umweltthema ähnlich wie das Friedensthema in der DDR zu einer ganz sensiblen Frage entwikkelt. Das muß seine Auswirkungen auf den Umgang miteinander haben, aber nicht auf die Sache. Denn unsere Enkel werden uns nicht danach fragen, welche Ideologie wir hatten, unter welchen ideologischen Vorzeichen wir an bestimmte Probleme herangegangen sind, als der Wald starb, sondern sie werden schlicht und ergreifend fragen, was wir unabhängig von unserer gesellschaftspolitisch-ideologischen Einstellung getan haben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie des Abg. Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE])

Noch ein Wort zur Finanzierung. Jeder weiß doch, daß gerade in der Luftreinhaltung jede Mark mehr wert ist, je näher sie an der Quelle der Umweltbelastung ausgegeben wird. Diese Erkenntnis kann und soll ihre Auswirkung auf die Kostenverteilung haben, wenn z. B. die Vorteile eines sauberen Schornsteins den Menschen in Magdeburg, Helmstedt, Potsdam und Berlin gleichermaßen zugute kommen.
Ich bin — meine Damen und Herren, das sage ich vor dem Hintergrund der finanz- und haushaltspolitischen Debatte — ein leidenschaftlicher Anhänger der Europäischen Gemeinschaft, des Baus einer politischen Union Europas. Wie wir alle wissen, kostet das Geld, kann es viel Geld kosten. Aber ich muß Ihnen gestehen: Ich bin genauso ein leidenschaftlicher Anhänger der Einheit der deutschen Nation. Was uns Europa dort wert ist, das ist uns auch die Einheit der deutschen Nation und das sind uns gemeinsame Projekte im Bereich von ganz Deutschland und Mitteleuropa wert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Diederich [Berlin] [SPD])

Meine Damen und Herren, ich habe hier die Interessen Berlins zu vertreten. Diese bestimmen sich aus der Rolle als europäischer Metropole. Berlin braucht die Bindung zum Bund ebenso wie die Anwesenheit der westlichen Alliierten. Daran, daß die Alliierten in Berlin willkommen sind, darf kein Zweifel aufkommen. Das muß hier in jeder Debatte ausdrücklich unterstrichen werden. Denn wir von Berlin aus können unsere Aufgabe als ein Zentrum der Kommunikation zwischen Ost und West nur dann wahrnehmen, wenn wir in die westliche Wertegemeinschaft fest eingebunden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sonst entziehen wir dem die Grundlagen.
Aber Berlin bestimmt sich eben auch aus der Nähe zur DDR. Unser Ziel ist es, die Breite und Tiefe der Zusammenarbeit mit Ost-Berlin und der DDR zu verbessern. Dies muß in klarer Kenntnis auch der uns trennenden Grundsätze und damit auch der Grenzen der Zusammenarbeit geschehen. Ich glaube nicht, daß es sinnvoll ist, immer über systemimmanente Grenzen der Möglichkeit von Zusammenarbeit zu diskutieren. Damit behindert man mehr das, was Erich Honecker ein am Erfolg, an den Möglichkeiten der deutschen Zusammenarbeit orientiertes Gespräch nannte. Man behindert durch manche Themen mehr das Vorwärtskommen im Sinne der Menschen.
Aber wenn ich auf diese Grenzen hier auch hinweise, so wollen wir doch in ganz Deutschland so viel Gemeinsamkeit wie nur irgend möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Debatte über den Bericht zur Lage der Nation erinnert uns alle daran, daß wir uns in der Deutschlandpolitik dem Wesentlichen zuwenden, nicht den Rechtsfragen, nicht der Juristerei, nicht den feingesponnenen Diskussionen um diese Themen,

(Sehr gut! bei der SPD)

nicht den unüberwindbaren Systemgrenzen, sondern der geteilten Nation, dem Wunsch nach Begegnung, den Interessen der Beteiligten, meine Damen und Herren, eben den Menschen im geteilten Deutschland.
Vielen Dank.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Beifall des Abg. Diederich [Berlin] [SPD])





Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012201700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler.

Hans Büchler (SPD):
Rede ID: ID1012201800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als erstes möchte ich eine Bemerkung an die DDR richten. Es ist uns Sozialdemokraten völlig unverständlich, wieso von den DDR-Behörden einem fairen Journalisten wie Helmut Lölhöffel, der jahrelang für die „Süddeutsche Zeitung" aus der DDR berichtet hat, die Einreise verweigert wird. Dies müßte in Ordnung gebracht werden.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nun zur Politik der Bundesregierung. Von Anfang an, also seit der sogenannten Wende, habe ich mit großer Sorge die zweischneidige Deutschlandpolitik der Unionsfraktionen und der Bundesregierung beobachtet. Ich habe das hier auch wiederholt angesprochen und immer wieder kritisiert. Diese Deutschlandpolitik ist doppelzüngig. Nun hat der Bundeskanzler heute gesprochen und wollte alles wegräumen, was unklar war. Nur folgte darauf Herr Dregger, und damit war wieder unklar, welchen Kurs die Unionsfraktionen steuern.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Herr Dregger, in Ihrer Rede sind keine Mißverständnisse ausgeräumt worden; Sie haben noch mehr hinzugefügt.

(Berger [CDU/CSU]: Zum Beispiel?)

Was die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" heute berichtet, trifft voll zu: In der Fraktion stimmt es hinten und vorn nicht mit der Deutschlandpolitik.

(Berger [CDU/CSU]: Nennen Sie einmal ein Mißverständnis! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Nein, auch die Diskussionen im Rahmen der heutigen Beiträge weisen es aus. Sie haben keine Übereinstimmung in Ihrer Deutschlandpolitik.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Herr Büchler, Ihre Rede hätten Sie abändern müssen! — Berger [CDU/CSU]: Nennen Sie ein Mißverständnis!)

Auf der einen Seite unterstützen Sie diejenigen, die die Deutschlandpolitik, wie wir sie konzipiert haben, bekämpfen, auf der anderen Seite wollen Sie unserer Deutschlandpolitik Folge leisten. Sie sprechen nicht nur mit zwei Zungen, sondern mit ein paar Dutzend. Gestern nacht muß es ein ganzes Konzert mit ungestimmten Instrumenten in Ihrer Fraktion gewesen sein. Probieren Sie es einmal mit einem Meister der Musik, damit er Sie zur Harmonie zurückführt.

(Dolata [CDU/CSU]: Haben Sie heute dem Kanzler nicht zugehört?)

— Ich habe dem Kanzler zugehört, ich habe Herrn
Dregger zugehört, ich habe dem Regierenden Bürgermeister zugehört. Ich höre nur Widersprüche. Das sind die Tatsachen, um die es geht.

(Berger [CDU/CSU]: Nennen Sie wenigstens einen Widerspruch!)

Das muß ausdiskutiert werden.
Ich will mich nicht in die Diskussion „pro oder contra Vertriebenenverbände" einlassen. Es gibt durchaus sinnvolle Aufgaben, die die Vertriebenenverbände wahrnehmen müssen und wo sie gut aufgehoben sind. Aber wir müssen auch wissen: Hinter all den Phrasen ihrer politischen Führer, ihrer Vertreter steckt der Wunsch nach Veränderung der Grenzen in Europa.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

Dieser Forderung wird nachgeholfen, wenn der Bundeskanzler dort auftritt, wenn er diesen Gruppierungen massive Erhöhungen der Geldzuwendungen zukommen läßt. Damit erhöht sich das politische Gewicht dieser Gegner der Deutschlandpolitik, wie wir sie konzipiert haben.
Ich glaube, wir sind uns doch darüber einig, Herr Bundeskanzler — das ist eben der Widerspruch —, daß zu den Grundlagen erstens die Anerkennung des Status quo in Europa, zweitens die Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen und drittens die Anerkennung der schlichten Feststellung des Warschauer Vertrages gehört, daß die Bundesrepublik Deutschland jetzt und in Zukunft keine Gebietsansprüche erhebt. Wenn Sie aber die Gegner Ihres Kurses fördern, wie Sie es tun, entziehen Sie der Deutschlandpolitik den Boden der öffentlichen Zustimmung. Das wird am Ende herauskommen. In der Öffentlichkeit wird diese Deutschlandpolitik unglaubwürdig. Und das ist unsere größte Sorge, die wir haben, wenn Sie über Deutschlandpolitik reden.
Übrigens — auch das muß klar sein —: Sie grenzen doch die Vertriebenen nicht aus dieser unserer Gesellschaft aus, wenn Sie bestimmten Herren die Grenzen verantwortlicher Politik deutlich machen. Dies, glaube ich, gehört zu Ihren Aufgaben, und dies müßten Sie tun. Ich habe jedenfalls stoßweise Post von Vertriebenen bekommen, die mit ihrer Verbandsspitze nichts zu tun haben wollen und mit deren politischem Kurs nicht übereinstimmen. Mancher hat nun gemeint, Sie betrieben eine ganz kluge Politik mit der Förderung der Vertriebenen: Sie geben ihnen viel Geld, damit die Vertriebenenfunktionäre Ihnen helfen, den deutschlandpolitischen Kurs mitzutragen. Sie sollen sozusagen ruhiggestellt werden. Ich möchte dazu sagen: Die Vertriebenenfunktionäre lassen sich ihre Haltung und ihre Einstellung natürlich nicht abkaufen. Auch die DDR

(Zuruf des Abg. Schulze [Berlin] [CDU/ CSU])

läßt sich ihre Haltung und ihre Einstellung nicht abkaufen.
Sie haben versucht, mit Krediten auf die DDR einzuwirken. Das Ergebnis ist, wie wir alle wissen, mager.



Büchler (Hof)

Elf Punkte haben Sie der Öffentlichkeit im Sommer 1984 vorgestellt. Und was war es? Im großen und ganzen heiße Luft. Nichts war dahinter.
Dazu kommen eine Menge Fehler. Ich denke an den großen Fehler, der mit der Berlin-Politik gemacht worden ist, mit der Nichteinbeziehung der Berliner in die Regelungen, die für die grenznahen Bereiche erreicht worden sind.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Sie sind doch im innerdeutschen Ausschuß! Sie wissen es doch genau!)

— Nein. Dies ist gar keine Frage. Es war ein Webfehler in der Deutschlandpolitik, der uns noch viel zu schaffen machen wird. Darüber gibt es gar keinen Zweifel. Das ist eine Grundsatzfrage, deren Behandlung einfach versäumt worden ist und mit der wir mit Sicherheit noch sehr oft konfrontiert werden.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Es ist nicht zu fassen, was Sie da erzählen! Das ist unglaublich!)

Nehmen wir nur einen kleinen Bereich aus der Liste. Großartig wurde verkündet: Endlich können wir Magazine, Schriften, Bücher, Schallplatten mit in die DDR nehmen. Nichts ist daraus geworden; absolut nichts. Sie bringen nichts über die Grenze. Die DDR hat dies nicht einmal veröffentlicht.
Es bleibt der Mindestumtausch für bestimmte Gruppen. Das ist weit von dem entfernt, was Sie in Ihrer Zielsetzung angegeben haben. Es ist ohne Zweifel ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Es bleibt die Verlängerung des Aufenthalts für Reisende in die DDR, und es bleibt, daß man ein bißchen mehr mit herausnehmen kann. Das war's wohl, was Ihre Politik ausgemacht hat. Die Bilanz wurde bereits von meinem Kollegen Hans Apel vorgeführt.

(Berger [CDU/CSU]: Der war auch nicht besser! — Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Eine Glanzleistung!)

Die Bilanz ist wirklich nicht großartig.

(Berger [CDU/CSU]: Sie verwischen einfach die Argumente!)

Da ist fast nichts vorhanden. Das möchte ich sagen. Ich erinnere Sie an Ihre kritischen Anmerkungen, die Sie landauf, landab gemacht haben, während Sie in der Opposition waren. „Kasse gegen Hoffnung", das war doch Ihr Schlagwort hier und draußen in jeder Versammlung. Sie haben der DDR 2 Milliarden verbürgt — und Sie haben heute keine Hoffnung und keinen Fortschritt; das ist die Bilanz Ihrer Politik.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen das bloß aufgeschrieben?)

Eben wegen dieser Bilanz, meine Damen und Herren von der Union, halten wir es für nötig, daß der Deutsche Bundestag erneut zur Deutschlandpolitik Stellung nimmt. Der Vorschlag der Unionsparteien — derselbe Vorschlag, den wir 1984 miteinander verabschiedet haben — belegt ja unsere kritischen Anmerkungen und unsere Kritik.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Dem brauchen Sie nur zuzustimmen; dann sind wir uns wieder einig!)

Sie wollen die Deutschlandpolitik eben nicht gestalten. Sie begnügen sich damit, sie zu verwalten.

(Reddemann [CDU/CSU]: Sie wollen sich davonschleichen, Herr Kollege!)

Wir bieten einen Antrag an, der mehr will: Nicht eine Wiederholung alter Entscheidungen, sondern eine Bekräftigung der politischen Grundlagen der Deutschlandpolitik

(Zuruf des Abg. Berger [CDU/CSU])

und die Beschreibung ihrer Perspektiven und ihrer Möglichkeiten im Rahmen der Ost-West-Beziehungen und der Möglichkeiten im Rahmen der europäischen Friedenspolitik. Dies ist die Grundlage unseres Antrags.
Sie sollten zustimmen, meine ich. Wir haben ja mit Interesse erfahren, daß Herr Schäuble, Ihr Bundeskanzleramtsminister, Einverständnis signalisiert hat.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Mit dem, was Sie vorgelegt haben, nicht!)

Und Herr Rühe hat unser Papier bereits 1984 im November, als wir es veröffentlichten, gelobt. Ich stelle natürlich mit Bedauern fest, daß heute keiner der beiden Herren reden wird. Das bedauere ich, weil ich glaube, daß wir dann wieder einen anderen Akzent in der Deutschlandpolitik gehört hätten.
Wir geben Ihnen heute Gelegenheit, Ihre innere Zerstrittenheit zu überwinden und klar zu sagen, was die Union wirklich will und ob sie unsere Politik fortsetzen will, die von Willy Brandt und Helmut Schmidt konzipiert worden ist.

(Berger [CDU/CSU]: Dann hätten wir eine schlechte Politik übernommen!)

Die Zweifel an der Deutschlandpolitik der Bundesregierung und damit die Zweifel an der Stellung der Bundesrepublik im Ausland wären beseitigt, wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden. Damit wäre auch Ihre vernünftige Forderung nach breiter Zustimmung zur Deutschlandpolitik erfüllt. Sie haben es in der Hand. Wir Sozialdemokraten sind auf jeden Fall zur Zusammenarbeit bereit.

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Dann stimmen Sie unserem Antrag zu! Dann ist alles klar!)

— Den arbeiten wir ein, wenn Sie den grundsätzlichen, weiterführenden Vorstellungen unseres Antrags zustimmen. Darüber gibt es gar keinen Zweifel.
Lassen Sie mich in verkürzter Form mit ein paar Schlagworten doch noch sagen, worum es uns bei unserem Antrag eigentlich geht. Wir wollen klar betonen: Die deutsche Nation ist offensichtlich eine von der Teilung unabhängige Realität. Sie drückt das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen aus, d. h. die deutsche Nation ist nicht identisch mit



Büchler (Hof)

der staatlichen Einheit. Priorität Nummer eins ist natürlich: Die Deutschlandpolitik ist Friedenspolitik. Darum geht es uns ja wohl. Das ist die Grundlage der praktischen Deutschlandpolitik. Daß die deutschen Staaten dabei besondere Verantwortung tragen, ist wiederholt betont worden. Das heißt aber auch, daß man auch den anderen Staat als gleichberechtigt behandeln muß und daß man die Existenz des anderen Staates nicht in Frage stellen darf. Das gilt natürlich auch umgekehrt.
Es geht also darum — und dies ist unser erstes Ziel —, die Beziehungen zur DDR so auszubauen, daß zwischen den beiden deutschen Staaten eine „normale Grenze" entsteht.

(Berger [CDU/CSU]: Wer ist denn für diese Grenze, für diese Anomalität verantwortlich?)

Man muß hier auch sagen dürfen, und es ist wohl richtig: Die staatliche Einheit rückt demgegenüber etwas in den Hintergrund.
Voraussetzung für Deutschlandpolitik ist die Stabilität der bestehenden Lage in Europa. Das heißt also, jeder Staat muß — das muß jedem klar sein, der diese Politik betreibt — in seinem jeweiligen Bündnis fest eingebunden sein. Es gibt keinen Sonderweg für die Deutschen, weder für die Bundesrepublik noch für ein mögliches wiedervereinigtes Deutschland. Es gibt keinen Sonderweg in die Neutralität, denn das würde unrealistisch sein und würde die Unabhängigkeit Deutschlands insgesamt gefährden. Das hat Hans-Jochen Vogel in dieser Woche sehr deutlich gemacht.
Ich glaube schon, daß Sie unseren Antrag als solchen schon akzeptieren müssen, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie den Gewaltverzicht, die Gleichberechtigung und die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen — dies bildet die Grundlage unseres Entschließungsantrages — ablehnen können. Ich glaube schon, daß wir uns hier zusammenraufen können, daß wir also wieder zu einem gemeinsamen Nenner kommen, wenn Sie die weiterführenden Elemente unseres Antrages akzeptieren,

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Wir würden uns wünschen, daß Sie unserem Antrag zustimmen!)

vor allem die weiterführenden Elemente im Bereich der Sicherheitspartnerschaft und in der Verantwortung für den Frieden.
Wir wissen ja, daß heute Frieden nur miteinander gemacht werden kann, durch die Bildung von Vertrauen, und nicht gegeneinander, und daß wir Frieden nur zustande bringen, wenn wir immer weniger Waffen haben und nicht, wie es jetzt aussieht, immer mehr Waffen. Je mehr Waffen in Europa stationiert werden, desto unsicherer wird der Frieden in Europa und in der Welt.
Es geht auch um die Weiterentwicklung der Politik. Da gibt es Fragen wie die der zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter. Sie haben wir in den Entschließungsantrag gar nicht hineingeschrieben,

(Zuruf des Abg. Schulze [Berlin] [CDU/ CSU])

damit auch hier keine Schwierigkeit auftritt. Dann geht es natürlich um die Kontakte zur Volkskammer. Da sage ich hier ganz deutlich: Wir wollen einen offenen Dialog mit allen Gruppen in der DDR haben, auch mit den Volkskammerabgeordneten.

(Reddemann [CDU/CSU]: Auch mit dem Stasi?)

Wir sollten von uns aus diesen Kontakt nicht scheuen. Ich kann Ihre Angst überhaupt nicht verstehen,

(Schulze [Berlin] [CDU/CSU]: Wir haben doch keine Angst! Nur ist das kein freigewähltes Parlament!)

warum Sie nicht offensiv mit den DDR-Volkskammerabgeordneten reden wollen.

(Beifall bei der SPD)

Nicht nur die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR, sondern auch alle unsere Nachbarn in Ost und West haben ein Recht auf Klarheit über die Politik dieser Bundesregierung.
Unsere Entschließung würde dazu beitragen. Deshalb bitte ich Sie, dieser Entschließung zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012201900
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

Hans-Dietrich Genscher (FDP):
Rede ID: ID1012202000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre seit Ende des Zweiten Weltkrieges, das bedeutet 40 Jahre Europa ohne Krieg. Es bedeutet 40 Jahre Teilung Europas, und es bedeutet 40 Jahre Trennung des deutschen Volkes. Die Mauer durch Berlin und der Stacheldraht durch Deutschland sind die häßlichen und brutalen Symbole dieser Trennung unseres Volkes.
In allen Staaten Europas und bei den Kriegsbeteiligten außerhalb Europas wird in diesem Jahr des Kriegsendes gedacht, und es wird Bilanz der vergangenen vier Jahrzehnte gezogen.
Für uns Deutsche ist dieser Jahrestag ein Tag der Besinnung und der Selbstprüfung. Wir haben erfahren, wie der Verlust der Freiheit für die Deutschen schließlich zum Verlust des Friedens für ganz Europa geführt hat. Der 8. Mai 1945 ist in unserem Verständnis Endpunkt eines Weges, der mit der Gewaltherrschaft begann und der in Krieg und Katastrophe endete. Wir haben hier in der Bundesrepublik Deutschland darauf die Antwort gegeben: durch den Aufbau einer freiheitlichen Demokratie, durch die Teilnahme am Zusammenschluß der europäischen Demokratien, durch unsere Mitgliedschaft im westlichen Bündnis, durch unsere Vertragspolitik mit dem Osten; um es in einem Wort zu



Bundesminister Genscher
sagen: durch Aufbau von Demokratie und rechtsstaatlicher Ordnung und durch Friedenspolitik.
Wenn wir den Standort der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Geschehen und unsere Aufgaben für die Zukunft heute zu bestimmen suchen, so müssen wir auf einen längeren Zeitraum zurückblicken als den der vergangenen 40 Jahre, und wir müssen das Schicksal unserer Nation in der Perspektive gemeinsamer Zukunft sehen.
Drei Grundfaktoren müssen wir berücksichtigen: die geschichtliche Rolle Deutschlands in Europa, die geographische Lage unseres Landes im Herzen unseres Kontinents und die Trennung unserer Nation. Geschichte und geographische Lage sind unverrückbare Größen, die unsere Verantwortung in Europa bestimmen. Die Trennung unseres Vaterlandes ist ein zusätzlicher Faktor. Er ist nicht die einzige Quelle, aus der sich die Aufgaben deutscher Außenpolitik ergeben.
Der Beitritt zur westlichen Staatengemeinschaft — das möchte ich an die Adresse der GRÜNEN sagen, die uns zu Neutralismus

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Neutralität!)

und Verlassen der NATO, der westlichen Gemeinschaft raten — war für uns nicht nur ein taktischer Schachzug — kein Zweifel, er hat uns geholfen, uns von der Rolle des geächteten, geschlagenen Kriegsanstifters zu befreien —, sondern für uns war der Beitritt zur Gemeinschaft der westlichen Demokratien die Konsequenz aus langen, aus folgenschweren Erfahrungen unserer deutschen Geschichte.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben in den 50er Jahren keine konjunkturbestimmte Entscheidung für die Gemeinschaft mit den europäischen Demokratien getroffen. Der Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in diese Gemeinschaft ist ein grundsätzlicher, ein dauerhafter Schritt. Niemand hat doch am Ende ein stärkeres Interesse an einer zusammenwachsenden Europäischen Gemeinschaft und am sicheren Schutz des Bündnisses als wir selbst. Da sind wir auf unsere Partner, auf unsere Freunde angewiesen — und diese auf uns. Wir müssen aus eigenen nationalen Interessen Motor im europäischen Einigungsprozeß und verläßlicher Partner sein. Nur das sichert uns die Mitsprache bei der Gestaltung der Weltpolitik, die die europäischen Interessen berührt.
Es war richtig und konsequent, daß der Schritt nach Westen als erster getan wurde. Aber Geschichte und Geographie verpflichten uns auch, immer das ganze Europa zu sehen. Wir sind eben nicht nur der östlichste Teil der Europäischen Gemeinschaft, wir sind auch der unmittelbare Nachbar der Staaten des Warschauer Pakts. Und beide deutschen Staaten sind ein Teil Mitteleuropas, ebenso wie Polen, die CSSR Mitteleuropa sind. Es ist unsere Aufgabe, aus nationalen und europäischen Gründen dafür zu sorgen, daß die Mitte Europas ihre Bedeutung nicht verliert, daß sie im Gegenteil Entwicklungen stärkt, die den Tendenzen zur Spaltung und zur Abgrenzung entgegenwirken. Unsere nationalen Interessen als Deutsche sind fest mit dem europäischen Anliegen der Entspannung und der Zusammenarbeit verbunden. Das deutsche Volk, das durch die Spaltung Europas auseinandergerissen wurde, wird von jeder Verschlechterung des Klimas in Europa, von jeder Zunahme der Spannungen am stärksten betroffen. Deshalb ja auch unser Interesse daran, durch Dialog und Zusammenarbeit das West-Ost-Verhältnis zu verbessern. Für uns ist keine politische Entscheidung denkbar, die außer acht läßt, daß auch auf der anderen Seite Deutsche leben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Die Auswirkungen der Spaltung Europas zu mildern bedeutet auch Erleichterungen für die Deutschen im Zustand der Trennung. Schon deshalb bleibt uns stets bewußt, daß Europa nicht an der Elbe oder an der Werra endet. Wir haben in unserem politischen Denken und Handeln stets das ganze Europa vor Augen, das unsere mitteleuropäischen Nachbarn ebenso einschließt wie die Osteuropäer. Die Polen verstehen sich nicht als Osteuropäer. Und vergessen wir auch nie: Jenseits der polnischen Ostgrenze beginnt nicht Westasien.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

Europa, seine Völker, seine Menschen, das ist mehr. Die Schlußakte von Helsinki, das Mandat für die Europäische Abrüstungskonferenz, sie beschreiben ein Europa vom Atlantik bis zum Ural. Das ist nicht eine Erfindung einer Konferenz, das ist geschichtlich, das ist wirtschaftlich, das ist politisch, das ist kulturell durch die gemeinsame Kultur der Europäer begründet.
Die Mittellage Deutschlands darf uns in dieser Situation nicht dazu verführen, einen Weg zu suchen, wie er uns jetzt erneut angeraten wird, zwischen West und Ost. Man darf uns nicht dabei sehen, wie wir die Bindungen an den Westen wieder aufs Spiel setzen in der Hoffnung, damit Fortschritte bei der Überwindung der Trennung zu erreichen.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht das Gewicht, um für uns allein im Zentrum Europas einen Beitrag zur Stabilität zu leisten. Das ist selbst dem Bismarck-Reich nicht dauerhaft gelungen.

(Berger [CDU/CSU]: Richtig!)

Wir sind aber auch nicht klein genug, um unbeachtet von den rivalisierenden Interessen von West und Ost ein Leben sozusagen in der Ecke Europas führen zu können. Das Spiel mit Neutralismusideen ist für Deutschland und für Europa gefährlich. Schon das Spielen mit diesen Ideen schafft Unruhe und Mißtrauen auf der einen und Illusionen auf der anderen Seite. Wir schulden es unseren Nachbarn, daß unser Kurs geradlinig, daß er berechenbar ist. Ein deutscher Zickzackkurs, der einmal die Westbindung lockern und einmal die Entspannung aufs Spiel setzen würde, würde Sicherheit und Stabilität im Herzen Europas und damit für den ganzen Kontinent untergraben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




Bundesminister Genscher
Meine Damen und Herren von den GRÜNEN, wir wohnen nicht zur Miete in der Europäischen Gemeinschaft.

(Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)

Diese Gemeinschaft ist unsere Gemeinschaft. Da gehören wir dazu.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Und wir haben nicht zeitweilig aus taktischen Gründen Unterschlupf in der Atlantischen Gemeinschaft gesucht. Auch das ist unsere Gemeinschaft, weil sie uns Frieden garantiert und Freiheit sichert.
Seien wir vorsichtig! Wir gelten als verläßliche Partner unserer westlichen Freunde, weil wir durch eine jahrelange konsequente Politik Vertrauen erworben haben. Das macht unser Gewicht und unseren Einfluß im Westen aus und nicht das Pochen auf deutsche Sonderinteressen und das Spekulieren auf deutsche Sonderwege. Eine unberechenbare deutsche Politik ist überall in Europa, im Osten wie im Westen — vielleicht aus ehrlicher Sorge manchmal im Westen mehr —, ein Alptraum. Eine unberechenbare Politik der Deutschen, das ist ein Alptraum in Europa, auch in Amerika und auch in Israel. So dick ist die Decke des Vertrauens noch nicht, daß sie jeder Belastung standhielte. Auch das ist ein Teil der Geschichte, den wir tragen müssen.
Meine Damen und Herren, in diesen Wochen spüren die Berliner hautnah, was die Forderung der dortigen Alternativen bedeutet, die alliierten Truppen abzuziehen, den Besatzungsstatus aufzuheben und die Grundlagen einer stabilen Wirtschaft in Frage zustellen. Politik für Berlin — das ist nicht Kommunalpolitik für eine Stadt; Berlin ist eine Frage nationaler Verantwortung. Dazu muß es klare Antworten von allen Seiten dieses Hauses geben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben mit der Vertragspolitik, wir haben mit dem Viermächteabkommen Berlin Sicherheit nach außen gegeben. Es darf jetzt nicht geschehen, daß eine Berlin-Krise von innen erzeugt wird. Das könnte genauso gefährlich werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Mit Berlin darf nicht gespielt werden, wenn Berlin nicht verspielt werden soll.
Die Sicherung der Lebensfähigkeit Berlins gehört zu den überzeugendsten Beweisen für den Erfolg einer ausgewogenen Politik in der deutschen Mittellage. Daß die Sicherheit und Lebensfähigkeit Berlins gewährleistet sind, daß die Lage in und um Berlin ruhig und stabil ist, das verdanken wir der Schutzgarantie der Drei Mächte des Bündnisses, dem Abschluß des Viermächteabkommens, für das wir uns eingesetzt und für das wir mit dem Moskauer Vertrag den Weg freigemacht haben. Deshalb haben wir die Vertragspolitik mit unseren östlichen Nachbarn auf der festen Grundlage der Einbindung in die Gemeinschaft, in die Europäische Gemeinschaft, in das westliche Bündnis und im Rahmen einer gemeinsamen Ostpolitik des Westens gesehen. Nur mit dieser klaren Ausrichtung war es möglich, die Schlußakte von Helsinki und den KSZE-Prozeß zustande zu bringen.
Meine Damen und Herren, in diesem Rahmen hat die Bundesrepublik Deutschland ihren maßgeblichen Beitrag zu leisten vermocht, daß trotz der Unterbrechung des Dialogs der Großmächte, trotz schwerer internationaler Belastungen das Netz der europäischen Zusammenarbeit in der KSZE intakt blieb, daß Dialog und Zusammenarbeit unter den Europäern weiterentwickelt werden konnten.
In diesem Rahmen ist der Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten zugute gekommen, daß in schweren Zeiten ein Vorbild für eine Entwicklung der Vernunft geliefert wurde. Die Zusammenarbeit in Europa hat nicht nur schweren Stürmen von außen standgehalten, sie hat auch den Großmächten den Weg zur Wiederaufnahme eines normaleren Umgangs miteinander geebnet.
Auch in der neuen Phase der Ostpolitik, die jetzt beginnt, muß die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung gerecht werden und eine aktive Rolle spielen. Europa darf sich nicht mit der Rolle des Zuschauers begnügen. Die Europäer müssen das West-Ost-Verhältnis als Handelnde in eigener Sache mitgestalten. Die Sicherheitsfragen, über die die beiden Großmächte erstmals in einem konzeptionellen Gesamtrahmen sprechen, gehen uns ganz unmittelbar mit an.
Unsere Aufgabe ist es dabei, das Verhältnis zwischen West und Ost in allen Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Technologie, der Ökologie, der Kultur und vor allen Dingen in den menschlichen Fragen in die neue Entwicklung einzubeziehen. Für uns kommt es darauf an, daß wir in dieser Entwicklung stets unsere besonderen nationalen Belange im Auge behalten, aber darüber hinaus auch unsere Verantwortung für Europa sehen. Wir müssen uns da vor einem verengten Blickwinkel hüten.
Die deutschen Interessen und auch die deutsche Politik haben in der Geschichte oft im Gegensatz zu den Interessen unserer Nachbarn gestanden. Wir können heute sagen, daß unser Interesse, die Trennung Europas zu überwinden, dem Interesse der Europäer entspricht, diese Trennung zu überwinden. Wir müssen innerhalb der bestehenden Staatenordnung in Europa die Entwicklungen unterstützen, die auf einen Abbau des Trennenden hinarbeiten, die zur Besinnung auf europäische Gemeinsamkeiten aufrufen, die ihre wirtschaftlichen, technologischen, kulturellen, ja auch ihre emotionalen Komponenten haben.
Unser Beitrag zur Zusammenarbeit in ganz Europa ist Ausdruck unserer europäischen Verantwortung. Wir dürfen dabei denen nicht die Argumente liefern, die behaupten, wir wollten in Wirklichkeit gar nicht Entspannung und Zusammenarbeit, Informationsaustausch und menschliche Kontakte, sondern wir wollten ein Umstülpen der bestehenden Staatenordnung und einen Machtzuwachs der Deutschen. Auch hier müssen wir viele Vorurteile der Geschichte überwinden.



Bundesminister Genscher
Wir werden viel erreicht haben, wenn es in der übersehbaren Zukunft gelingt, das Programm zu verwirklichen, das die Schlußakte von Helsinki und das Dokument von Madrid im Rahmen der bestehenden Ordnung vorsehen. Wir alle wissen, wieviel noch geschehen muß, damit diese Dokumente Wirklichkeit werden. Wir werden dabei die Perspektive eines Zustandes des Friedens in Europa, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt, nie aus dem Auge verlieren. Es bleibt unser politisches Ziel.
Wir werden ihm jedoch nur näher kommen, wenn wir auch unsere Nachbarn in West und Ost überzeugen können, daß wir heute, morgen und übermorgen ein guter Nachbar sind, ein verläßlicher Partner aller geschlossenen Verträge.
Vielen unserer Nachbarn erscheinen die 40 Jahre seit 1945 nicht so lang wie uns. Historische Traumata, tief geprägte Befürchtungen sind nur durch lang dauernde Gewöhnungsprozesse zu überwinden. Wir können mit unserer rechtsstaatlichen Ordnung und mit unserer Friedenspolitik vor der kritischen Prüfung der Geschichte bestehen. Ich fand, Frau Kollegin Vollmer, was Sie heute als Bild der Bundesrepublik Deutschland entfaltet haben, war eine Beleidigung der Millionen deutscher Menschen, die die Konsequenzen aus den Fehlern unserer Geschichte gezogen haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Auf diesem Wege wollen wir weitergehen.


(Vogt [Kaiserslautern] [GRÜNE]: Oh, wie billig, Herr Kollege!)

Da dürfen wir auch 40 Jahre nach dem Kriege nicht aufhören, um Vertrauen zu werben.

(Frau Dr. Bard [GRÜNE]: Vielleicht fangen Sie damit einmal an!)

Keiner unserer Nachbarn hat Anlaß, zu fürchten, daß von uns aus künftig eine Bedrohung seiner Lebensinteressen ausgeht. Es gibt keinen Nachbarn, der fürchten muß, seinen Gebietsstand zu verlieren, wenn sich die Deutschen näherkommen. Das müssen wir auch bedenken, wenn wir über Grenzfragen sprechen. Die Verträge gelten, wie sie abgeschlossen wurden, in allen Teilen. Der Bundeskanzler hat das heute noch einmal eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht.
Wir wissen als Deutsche, daß der Weg zur Verständigung und Versöhnung nicht zurückführt. Er kann nur in die Zukunft führen. Das zu erkennen hat manche bittere Einsicht verlangt. Niemand wird von sich sagen, daß er es einen Tag nach dem 8. Mai schon so gesehen hat, wie er es heute sieht. Das zu erkennen, die schweren Einsichten daraus zu gewinnen und die Konsequenzen daraus zu ziehen war ganz gewiß für diejenigen unter uns schwerer, für die Pommern und Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien und das Sudetenland Heimat sind. Ich denke, daß die Tatsache, daß sie dennoch die Kraft fanden, trotz Vertreibung diesen Beitrag zu leisten, wird als eine historische Friedensleistung der Deutschen in die Geschichte Europas eingehen. Das ist auch ein Kapitel, das wir auf der Seite Friedenspolitik unseres Landes verbuchen dürfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Genauso wissen wir, daß Versöhnung und Verständigung mit Polen allen Polen gelten muß und daß wir sie wollen, unabhängig von dem System, unter dem die Polen leben oder leben müssen. Wir wollen diese Verständigung mit allen Polen, ob sie Christen sind oder Atheisten, Anhänger von Solidarnosc oder Kommunisten. Jedes Volk muß seine innere Ordnung bestimmen können. Das wünschen wir allen Europäern und Völkern. Aber wir wollen mit allen Völkern in guter Nachbarschaft leben. Alle unsere Nachbarn müssen wissen, daß Zusammenarbeit und Zusammenleben mit der Bundesrepublik Deutschland in der größeren Gemeinschaft aller europäischen Staaten für sie vorteilhaft ist und nichts Bedrohliches in sich hat.
Der Regierende Bürgermeister hat hier soeben in eindrucksvoller Form viel über gemeinsames Bewußtsein der Deutschen gesagt, und in der Tat ist auch das eine Realität in der Lage unserer Nation im geteilten Land. Ich glaube deshalb, daß keine Seite davon gewinnen kann, wenn es zu einer wetteifernden Betonung der Fragen kommt, die beim Abschluß des Grundlagenvertrages als unüberbrückbar ausgeklammert worden sind. Die GRÜNEN, die die Teilung unseres Landes endgültig machen wollen, sozusagen aus eigener Machtvollkommenheit, müssen zur Kenntnis nehmen: Niemand in der Bundesrepublik Deutschland hat das Recht, den Teil unseres Volkes, der in der DDR lebt, aus dem deutschen Hause auszuquartieren, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Sie würden sich übrigens auch gar nicht ausquartieren lassen.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Das Bewußtsein der Deutschen ist stärker entwickelt.

(Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Wer hat denn getrennt?)

Es hat sich auch in den Friedensdiskussionen in der evangelischen Kirche in der DDR niedergeschlagen. Auch diejenigen, die in diesen Friedensdiskussionen Auffassungen vertreten haben, die kritisch zu unserer Außen-, zu unserer Sicherheitspolitik stehen, haben ganz stark aus deutscher, aus nationaler Verantwortung diskutiert. Das ist Bewußtsein einer einheitlichen Nation, das ist Verantwortungsgemeinschaft, genauso wie das, was die Regierungen miteinander versuchen,

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Nation ja, aber nicht Staat!)

damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN)




Bundesminister Genscher
Deshalb: Schneiden Sie doch nicht kalt und gefühllos mit formalen Forderungen in dieses Gefühl der Deutschen hinein!
Man darf doch nicht verkennen, daß auch die Führung der DDR beginnt, sich im gemeinsamen Haus der deutschen Geschichte einzurichten. Die Art, wie man das Luther-Jahr begangen hat, wie man Händels gedenkt und Bachs, die Wiedereröffnung der Semperoper, das sind beredte Zeichen für ein Geschichtsbewußtsein, das man ganz betont stärken will. Die Geschichtsschreibung der DDR bekennt sich zu den Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte —, das Jahr 1984 hat eine Reihe von Publikationen gebracht —, natürlich mit dem Ziel, zu sagen, die DDR sei die Fortsetzung der besseren Traditionen. Ich muß Ihnen sagen: Diese Diskussion, diese Auseinandersetzung müssen wir doch nicht scheuen!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen sie aber führen und uns nicht versagen. Das ist unsere Verantwortung. Es ist unbestreitbar, daß das Interesse unserer Mitbürger in der DDR an den Vorgängen hier bei uns, an dem, was bei uns geschieht, stärker, größer als das Interesse vieler unserer Mitbürger ist. Das steckt hinter der Forderung, die hier heute von verschiedenen Seiten erhoben worden ist, daß Schulen hinüberfahren, Eltern mit ihren Kindern, daß deutsche Geschichte lebendig wird; denn sie allein führt in die Zukunft. Man muß davor warnen, das deutsche Schicksal mit geschichtslosen Maßstäben und ideologischer Besserwisserei zu behandeln.
Meine Damen und Herren, auch die Führung der DDR hat eine gemeinsame Zukunft nicht aufgegeben. Der Staatsratsvorsitzende Honecker hat vom „deutschen Volk" gesprochen. Daß er für das deutsche Volk eine sozialistische Zukunft will, ist seine Überzeugung und ist sein Recht. Wir wollen eine andere; aber geben wir nicht den Willen zur Einheit der Nation aus der Hand! Sie können diese Frage damit nicht beantworten, sondern werden erleben, daß andere allein sich des Schicksals der Nation bemächtigen. Gnade Gott, wenn sich die deutsche Demokratie, wenn sich dieses Parlament einmal den Vorwurf machen lassen müßte, es habe das aufgegeben, was die Deutschen wollen — unter verschiedenen Voraussetzungen, unter historischen Perspektiven, aber in dem Bewußtsein, daß man kein Volk auf Dauer teilen kann. Das ist unsere Verantwortung, und ihr müssen wir uns stellen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

Da geht es jetzt darum, daß wir im Westen zum Aufbau der Europäischen Union beitragen und daß wir den Ausbau der West-Ost-Beziehungen im Rahmen des KSZE-Prozesses fördern. Meine Damen und Herren, das ist wichtig: dieser KSZE-Prozeß, so nüchtern und fast unverständlich — nein, gänzlich unverständlich — dieser Name auch klingt. Zusammenarbeit in Europa, darum geht es! Das ist notwendig, um den Europäern aus der Rolle von Instrumenten in einem Gegensatz, aus einem Stellvertreterkonflikt herauszuhelfen. Diese Entwicklung gilt es zu fördern, wenn wir eine europäische
Friedensordnung aufbauen wollen, in der die europäischen Konturen herausragen und in der nicht Rivalität dominiert; sie wird es immer geben, aber sie darf nicht dominieren. In diesem Sinne ist eine Europäisierung Europas geboten. Es ist eine große europäische Aufgabe, dabei die Gegensätze zu überwinden, die sich aus den berechtigten Sicherheitsinteressen beider Seiten ergeben.
Meine Damen und Herren, da ist eine Strategie der Schwächung und Destabilisierung der Sowjetunion genauso untauglich wie eine Politik des Hinauskomplimentierens der Vereinigten Staaten aus Europa. Weder das eine noch das andere hätte als europäische Friedenspolitik eine Chance; weder die Dämonisierung der Sowjetunion noch ein modischer Antiamerikanismus können geeignete Paten für eine verantwortliche Politik sein, die europäische Friedenspolitik sein und bleiben muß.

(Zuruf des Abg. Schneider [Berlin] [GRÜNE])

— Ich weiß nicht, was Sie abbauen wollen. Ich sage Ihnen, was wir abbauen möchten, was wir in ganz Europa abgebaut sehen möchten: Die Feindbilder müssen aus den Köpfen der Menschen heraus.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

Achtung vor den anderen Völkern, vor ihren Leistungen, vor ihrer Kultur, Besinnung auf die kulturelle Identität Europas, das wird ein wichtiger Ausgangspunkt sein.
Meine Damen und Herren, die Sorge um die Nation, die die Sorge um den Frieden in Europa ist, verlangt von uns eine ruhige Hand und einen langen Atem. Unsere nationalen Interessen in die Zukunft Europas einzubetten, das ist für uns der Weg, unsere nationale Verantwortung wahrzunehmen. Wir wissen, das ist ein langer Weg; wir wissen aber auch, es ist der einzige. Deshalb gehen wir ihn.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der FDP der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)


Richard Stücklen (CSU):
Rede ID: ID1012202100
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schlaga.

Georg Schlaga (SPD):
Rede ID: ID1012202200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe jetzt wieder einmal ein bißchen auf den Teppich herunter und versuche, einiges aus der unmittelbaren deutschdeutschen Begegnung anzusprechen und von Ihnen zu erfahren, wie der Stand z. B. beim Aushandeln von Zusatzabkommen zum Grundlagenvertrag ist. Sie waren es, die uns jahrelang vorgehalten haben, wir würden da nichts erreichen. Wir haben sehr viel erreicht. Sie waren es, die den Grundlagenvertrag abgelehnt haben.
Einer Ihrer Geschäftsführer ließ im CDU-Pressedienst verlauten, es seien „beachtliche Verhandlungsfortschritte im gesamten Spektrum der beiden Seiten betreffenden Fragen zu verzeichnen. Dann läßt er eine lange Aufzählung folgen. Halten Sie das Kommuniqué der Verhandlungen am Werbellinsee



Schlaga
vom Dezember 1981 zwischen Helmut Schmidt und Herrn Honecker neben Ihre Aufzeichnungen, dann werden Sie sehen, wo Ihre Erfolge herkommen.
Wo aber sind nun die Fortschritte beim Zustandekommen der Zusatzabkommen? Der Bundeskanzler hat dazu nichts gesagt. Er hat nur einen Halbsatz zum Kulturvertrag verlauten lassen. Dazu werde ich mich äußern.
Wo sind die Fortschritte im Bereich von Wissenschaft und Technik, in dem angestrebten Abkommen über Rechtshilfe, in dem angestrebten Abkommen über Umweltschutz, in dem Abkommen, die Entsalzung der Werra und Weser betreffend? Sicher ist man sich vielleicht über die Finanzierung einig
— vielleicht! —, aber offensichtlich wieder einmal nicht über die technische Lösung.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Hessen!)

— Das war die Finanzierungsfrage, nicht die technische Lösung. — In der Zwischenzeit strömen weiter Hunderttausende von Tonnen Salz aus der Werra in die Weser. Wo sind die Fortschritte in den Verhandlungen über die Elbe-Verschmutzung? Zum letztenmal ist diese Verhandlungsgruppe am 5. Oktober zusammengetreten.

(Reddemann [CDU/CSU]: Wenden Sie sich an Ihre eigene Partei!)

— Herr Reddemann, lassen Sie mich doch bitte ausreden. Ich greife Sie doch nicht persönlich an.
Wo sind die Ergebnisse der Verhandlungen über die Rauchgasabklärung? Auch hier haben Sie immer wieder große Töne gehabt. Aber die letzte Zusammenkunft fand im November 1983 statt. Genauso ist es mit den Verhandlungen über die Reaktorsicherheit: Alle Termine liegen weit über anderthalb Jahre zurück.

(Reddemann [CDU/CSU]: Und Sie hatten überhaupt keine Verhandlungen über Reaktorsicherheit, zehn Jahre nicht!)

Der ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR hat vor kurzem geäußert — Sie waren dabei, Herr Reddemann —: Das Klima bei all diesen Gesprächen ist ein gutes. Nun, das ist, mit Verlaub, die Diplomatenformel dafür, daß nichts läuft.
Aber da ist schließlich dann noch das Kulturabkommen. Das Verhandlungsklima soll ein „sehr gutes" sein. Herr Barzel hat schon bei seiner Antrittsrede — das ist einige Zeit her — „besonders erfreuliche Fortschritte bei den Verhandlungen über das Kulturabkommen" zur Kenntnis gegeben. Dasselbe hat Herr Windelen mehrere Male getan, und der Bundeskanzler hat heute gesagt: Gut vorangekommen sind auch die Verhandlungen über das Kulturabkommen.
Ich möchte im übrigen feststellen: Nicht Sie haben die Verhandlungen über das Kulturabkommen wieder in Gang gesetzt — Sie tun manchmal so —, sondern das Angebot zu Weiterverhandlungen ging von der Regierung der DDR an Helmut Schmidt im September 1982. Das war dann allerdings Herr Hennig, der genau wußte, wie die Verhandlungen wieder in Gang gesetzt worden sind. Denn am 4. August sagte er in einem Deutschlandfunk-Interview: „Ich glaube, es gibt jetzt erneut als Folge des Strauß-Besuches ein grundsätzliches Ja von Herrn Honecker, daß diese Verhandlungen wieder aufgenommen werden." Sehen Sie einmal, so einfach machen Sie sich das.

(Reddemann [CDU/CSU]: Wer sich hier etwas einfach macht, sind Sie!)

Vor dem dann geplatzten Honecker-Besuch im Sommer 1984 suggerierten Sie dann mit Hilfe Ihrer Presse, er, der Herr Honecker, würde mit dem unterschriftsreifen Vertrag kommen. Er kam nicht, und das Abkommen kam auch nicht.
Was also geschah denn nun bei den letzten beiden Verhandlungsterminen am 22. November vorigen Jahres und am 21. Februar dieses Jahres? Wir haben darüber bis jetzt nichts gehört. Herr Windelen bezeichnet ja diesen Kulturvertrag immer als das Herzstück deutscher Ostpolitik — so jedenfalls in der Presse zu lesen. Wie sieht es mit der Berlin-Klausel aus? Wollen Sie eine andere als die in dem Kulturabkommen mit anderen Ostblockländern, und welche Schwierigkeiten ergeben sich da konkret? Hat es mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eventuell eine neue Wende gegeben? Bei wem bitte? Will die DDR nun doch die Nofretete und den „Mann mit dem Goldhelm" haben?

(Vorsitz: Vizepräsident Westphal)

Oder wollen Sie dringlich bundesdeutsche Kulturzentren in der DDR errichten

(Zuruf von der CDU/CSU)

— ja, ich möchte das wissen, denn das war ja wohl eine Ihrer Vorstellungen —, und will das vielleicht die DDR nicht? Wie steht es mit dem Austausch von kleineren Chören, Laienspielgruppen und Sportgruppen oder Sportvereinen, auf die der Minister für innerdeutsche Beziehungen so besonderen Wert legt? Gibt es da erheblichen Widerstand von seiten der DDR? Wenn Sie es hier nicht beantworten wollen oder wenn Sie meinen, es nicht beantworten zu können, dann tun Sie es bitte im Ausschuß; aber wir möchten nun endlich wissen, wie der Stand der Dinge ist.

(Beifall bei der SPD)

Oder hapert es bei der DDR an dem Ausbau des kulturellen Tourismus, der erleichtert werden sollte? Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie meinen, Weimar war zu keiner Zeit so attraktiv, jedenfalls was den Kern der Stadt betrifft, wie jetzt, und es fehle eigentlich nur an preiswerten Hotelbetten; das übrigens nicht nur in Weimar.

(Reddemann [CDU/CSU]: Weimar war früher wesentlich attraktiver!)

— War nie so schön wie jetzt.
Vielleicht holen Sie auch zu weit aus, wie das Herr Lintner tut, indem er sagt: Es wird die bisher umfassendste Vereinbarung zwischen den beiden deutschen Staaten. Das wäre so etwas wie eine Superkontinuität, und daran kann ich nicht glauben. Oder geht es eventuell auch um die Gagenforderungen unserer Stars, die „die drüben" — das ist aller-



Schlaga
dings Originalton „Capital" — angeblich niemals erfüllen können? Ist es nach allem, was man hört, richtig, Herr Minister, daß Sie sich bereit erklärt haben, gegebenenfalls zu subventionieren, wie das vom Auswärtigen Amt bei ähnlichen Veranstaltungen im Ausland geschieht? Oder hat der „Spiegel" wieder einmal recht, wenn er vom „Dollpunkt" in der Präambel schreibt und meint, die DDR verlange den folgenden Text, „diese beiden Staaten seien entschlossen, die Beziehungen auf der Grundlage der KSZE-Schlußakte, insbesondere der Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten und Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten zu entwickeln"? Das sollten Sie doch nicht akzeptieren, meine ich.
Wie dem auch sei, ich könnte Ihnen jedenfalls nachfühlen, wenn Sie heute der Meinung sind, Sie seien zu großmäulig gewesen, als Sie unsere Deutschlandpolitik über Jahre hinweg maßlos kritisiert haben.

(Beifall bei der SPD)

Verbleiben wir so: Sie sagen uns deutlich, wann und wo wir ihnen helfen können, und ich bin sicher, die Deutschen in der DDR und in der Bundesrepublik werden uns das danken.

(Zurufe der Abg. Schulze [Berlin] und Reddemann [CDU/CSU])

Über die mit der DDR gemeinsame Kultur, über ihre Wurzeln, über Begriffe wie „Kulturnation" ist hinreichend diskutiert und gedeutet worden. Ich verstehe das. Das wird auch ein Dauerthema bleiben.
Ich bin gar nicht glücklich darüber — insofern deckt sich manches mit dem, was mein Vorredner angesprochen hat —, daß die DDR auf ihre Weise Akzente setzt, daß sie z. B. die preußische, j a die gesamte deutsche Geschichte als Baustein für ein DDR-Nationalbewußtsein benutzt. Friedrich der Große ist wieder da, Gneisenau, von Clausewitz, Freiherr vom Stein, Bismarck und alle anderen auch, und, was weit wichtiger ist, es gibt die Konstituierung des „Nationalen Rates der DDR zur Pflege und Verbreitung des deutschen Kulturerbes" als Organ des Ministerrats in Ost-Berlin. Der ist längst gegründet, ist sehr aktiv und arbeitet.
Es ist schon faszinierend, unmittelbar als Zeitgenosse zu erleben, wie eine ohnehin in ihrem Wahrheitsgehalt umstrittene Geschichte nun noch einmal „neu gemacht" wird, um dann als Beweis für in der DDR gepflegte Ideologien herangezogen zu werden. Ich kann unsere Geschichtswissenschaftler, Politiker, uns alle also, alle, die es angeht — und wen betrifft das nicht? —, nur bitten, das sehr genau zur Kenntnis zu nehmen und diese Herausforderung anzunehmen, zu diskutieren und sich mit der DDR auseinanderzusetzen. Nur das kann Sinn mit sich bringen,

(Beifall bei der SPD)

nicht aber, das was CDU und CSU tun, die sich von der DDR-Regierung und diesem Vorgang in der DDR offensichtlich abgrenzen wollen und in den bundesdeutschen Schulen heute ein einheitliches
deutsches Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein gelehrt wissen möchten.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Sie wissen doch, daß das nicht so ist!)

— Es regiert sich natürlich leichter ohne Pluralismus; das verstehe ich schon. Sie sollten aber ganz schnell wieder die entscheidenden Worte aus Ihrer Kulturerklärung, nämlich „neue Akzente" setzen zu wollen, herausnehmen, möglichst auch aus Ihren Hirnen. Oder wollen Sie unbedingt einer SED-Kultur- und -Geschichtsauffassung eine CDU-geprägte Kultur- und Geschichtsauffassung gegenübersetzen? Ich würde das für grundfalsch halten.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012202300
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lintner.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1012202400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland muß nach meiner Auffassung mindestens zweierlei Ansprüchen gerecht werden. Er muß erstens einen ungeschminkten Blick auf die Realitäten im geteilten Deutschland bieten und zweitens aus diesen Realitäten heraus deutschlandpolitische Perspektiven aufzeigen.
Beides, meine Damen und Herren, ist Bundeskanzler Helmut Kohl heute mit seinem Bericht gelungen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr gut gelungen!)

Er hat einerseits die konkreten und deprimierenden Folgen der Teilung unseres Vaterlandes aufgezeigt. Er konnte aber auch auf den tatsächlich vorhandenen, sich täglich manifestierenden Willen der Deutschen hier und in der DDR hinweisen, kurzfristig die Folgen dieser Teilung und langfristig die Teilung selbst zu überwinden.
Ein unübersehbarer Beweis dafür sind die Hunderttausende von Ausreiseanträgen, mit denen sich die Behörden des SED-Regimes derzeit befassen müssen. Auch die 40 000 Übersiedler im Jahr 1984 sind ein Eingeständnis der Richtigkeit dieser Annahme.

(Büchler [Hof] [SPD]: Die Leute sind ziemlich alleingelassen!)

Dieser Sachverhalt vermittelt aber über die bloße Tatsache hinaus auch eine Perspektive. Diese Fakten belegen nämlich zugleich den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Einheit und ihren unauslöschbaren Drang nach Freiheit. Hier zeigt sich übrigens auch im politischen Alltag deutlich die Richtigkeit der Aussage im Bericht des Bundeskanzlers, daß nämlich die „Freiheit der Kern der deutschen Frage" sei.
Diese Gegebenheiten, meine Damen und Herren, sind freilich nicht nur für uns hier in der Bundesrepublik Deutschland bedeutsam; sie gelten auch für die Regierung und die SED in der DDR.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus nun für die Machthaber in der DDR? Möglich sind im Grunde genommen nur drei Wege:



Lintner
Der erste Weg besteht in einer möglichst vollkommenen Abkapselung vor allem von der Bundesrepublik, mit der Konsequenz, den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Freizügigkeit rücksichtslos unterdrücken und Ausreisewillige einer ausweglosen Diskriminierung aussetzen zu müssen. Dieser Weg ist längst gescheitert. Er hat dem DDR-Regime Heerscharen von „Außenseitern" im Staat beschert, die ohne eine positive persönliche oder berufliche Perspektive für sich und ihre Kinder geradezu zwangsläufig am Willen zur Ausreise festhalten müssen. Die DDR hat eigentlich selbst eingesehen, daß dies kein sinnvoller Umgang mit der eigenen Bevölkerung sein kann. Denn sonst hätte sie nicht ihre Übersiedlungsaktion im Jahr 1984 durchgeführt.
Der zweite Weg bestünde darin, so weiterzumachen wie bisher. Das schafft ebenfalls Hunderttausende von Ausreisewilligen, ohne daß ein entscheidender Rückgang dieser Welle zu erwarten ist, jedenfalls so lange nicht, wie es zur Ausreise in der DDR keinerlei Alternative gibt. Dabei wissen wir doch, daß viele unserer Landsleute in der DDR eigentlich gar nicht endgültig ausreisen wollen, sondern sie empfinden die Verweigerung jedweder Freizügigkeit in Richtung Westen als so bedrükkend, so diskriminierend, daß sie mittels Ausreise dem Gefühl des Eingesperrtseins entfliehen wollen.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Richtige Erkenntnis!)

Drittens. Die SED wäre deshalb meines Erachtens gut beraten, wenn sie vorsichtig Schritte in Richtung auf mehr Freizügigkeit machte. Diese Schritte müßten aber verläßlich und beständig sein. Denn nur dann könnte die SED ein gewisses Vertrauen bei der Bevölkerung für diese Möglichkeit gewinnen. Ich habe keinen Zweifel, meine Damen und Herren, daß ein solches Vorgehen in der DDR tatsächlich Erleichterungen schaffen würde. Andere Länder im kommunistischen Machtbereich haben diesen Weg gewagt und dadurch deutlich an Vertrauen bei der eigenen Bevölkerung gewonnen. Warum sollte das im Falle der DDR anders sein? Von Erich Honecker selbst stammt die Aufforderung, die innerdeutschen Bemühungen sollten sich auf das „Machbare" konzentrieren. Ein Mehr an Freizügigkeit ist „machbar", wie die genannten Beispiele zeigen.
Deshalb appelliere ich geradezu an das SED-Regime, in diesem Punkte mehr Bewegung und damit mehr Verständnis für die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu zeigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die beiderseitige Konzentration auf das Machbare hat der Bundesregierung seit 1982 beachtliche Erfolge in der Deutschlandpolitik beschert. Ich verweise nur auf die eindrucksvolle Aufzählung durch den Bundeskanzler im Bericht zur Lage der Nation. Die Regierungskoalition hat diese Fortschritte erreicht, ohne daß die Unionsparteien irgendwelche deutschlandpolitischen Grundsätze aufgegeben hätten.

(Berger [CDU/CSU]: Das war wichtig!)

Diese Erkenntnis sollten wir nicht außer acht lassen und den bewährten Weg nicht verlassen!

(Beifall bei der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang muß ich — leider — die Aufforderung an die SPD richten, auf ihrer in letzter Zeit immer schneller werdenden deutschlandpolitischen Wanderschaft nicht fortzufahren.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Ach, Herr Lintner, hören Sie auf! — Büchler [Hof] [SPD]: Herr Lintner geht rückwärts!)

Die SPD ist heute schon so weit — Sie wissen das j a selber —, daß sie die Grundsätze, die sie noch vor einem Jahr, nämlich am 9. Februar 1984, gemeinsam mit uns hier in diesem Hause beschlossen hat, heute nicht mehr mitzutragen bereit ist.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Lintner, nicht wir wandern, sondern Sie schwimmen! — Büchler [Hof] [SPD]: Sie haben wieder nicht zugehört!)

— Ihr Protest bestätigt eigentlich nur die Richtigkeit meiner Ausführungen.
Zum Beweis dafür kann ich anführen: Wir haben heute einen Entschließungsantrag eingebracht, der wortwörtlich der gemeinsamen Entschließung der Fraktionen der SPD, FDP und CDU/CSU vom 9. Februar 1984 entspricht. Heute, ein Jahr später, findet dieser Text nicht mehr die Zustimmung der SPD.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Büchler [Hof] [SPD]: Das ist doch nicht wahr, Herr Lintner!)

Liest man den eigenen Entschließungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion von diesem Jahr daraufhin durch,

(Büchler [Hof] [SPD]: Stimmt doch nicht! — Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Büchler, wir bleiben auf unserem Hintern sitzen!)

was im Unterschied zum letzten Jahr jetzt nicht mehr gelten soll, so möchte ich folgendes herausziehen. Die beiden deutschen Staaten — so schreibt die SPD — sollten sich als „gleichberechtigte Staaten deutscher Nation behandeln".

(Zuruf von der SPD: Das steht im Grundlagenvertrag!)

Wie dies ohne Verstoß gegen das Grundgesetz, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und viele andere auch von der SPD vor einem Jahr offiziell noch als verpflichtend bezeichnete Dokumente möglich sein soll,

(Büchler [Hof] [SPD]: Herr Lintner, lesen Sie das Manuskript, das Sie vorgestern geschrieben haben! — Zuruf von der SPD: Sind Sie gegen einen gleichberechtigten Dialog mit der DDR?)




Lintner
bleibt das Geheimnis der SPD. Herr Büchler, Sie befinden sich nicht in Fortentwicklung der deutschlandpolitischen Auffassung, sondern Sie sind dabei, sich von dem rechtlich vorgegebenen Pfad der Deutschlandpolitik zu entfernen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Zusammen mit Herrn Rühe!)

Die SPD postuliert für sich einfach, ihre Deutschlandpolitik gehe vom Grundgesetz einschließlich dem Brief zur deutschen Einheit aus.

Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012202500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Diederich?

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1012202600
Leider habe ich nur noch eine Minute Redezeit! Es tut mir leid, Herr Kollege Diederich.
Von einer solchen Übereinstimmung kann in Wahrheit überhaupt nicht mehr die Rede sein. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang übrigens auch, daß die wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und auch der bedeutsame Deutschlandvertrag von der SPD heute überhaupt nicht mehr als Ausgangspunkt ihrer deutschlandpolitischen Überlegungen erwähnt werden.

(Zuruf von der SPD: Lachhafter Quark!)

Lesen Sie das in Ihrem eigenen Entschließungsantrag nach!

(Zuruf des Abg. Büchler [Hof] [SPD])

Dabei überraschte es auch nicht mehr, daß zusätzlich der Grenzverlauf an der Elbe als „offen" bezeichnet wird und die SPD ohne Einschränkung auch noch von einer sogenannten Sicherheitspartnerschaft mit der DDR spricht. Glaubt denn die SPD wirklich,

(Zuruf des Abg. Büchler [Hof] [SPD])

mit ihrer Wandlung auch konkret etwas zur Linderung der Folgen der deutschen Teilung für die Betroffenen bewirken zu können? Es fällt mir nicht schwer, nachzuweisen,

(Büchler [Hof] [SPD]: Besser ist's, wir machen die Regierung, Sie die Opposition!)

daß dies kein sinnvoller Weg zur Unterstützung der deutschlandpolitischen Bemühungen der Bundesregierung sein kann. Im Gegenteil: Die SPD gefährdet damit sogar die erfolgreiche Politik der kleinen, praktischen Schritte. Denn sie zwingt ja geradezu die SED, sich vom „Machbaren" abzuwenden und zur Betonung grundsätzlicher Forderungen zurückzukehren. Die SED kann doch wohl als Sachwalterin solcher Grundsatzforderungen nicht hinter den öffentlichen Aufforderungen der SPD zurückbleiben. Auch die SPD müßte in diesem Zusammenhang bedenken, daß überall da, wo wir die SED bei solchen Fragen auf ihre vermeintliche Flexibilität getestet haben,

(Zurufe von der SPD)

nicht Fortschritte zu verzeichnen waren, sondern nur Ausflüchte und semantische Machenschaften aufgetaucht sind.
Das Rezept kann deshalb nicht ein ständiges InFrage-Stellen unserer eigenen Grundsätze sein.

(Zuruf des Abg. Dr. Diederich [Berlin] [SPD])

Fortschritte sind vielmehr nur zu erwarten, wenn wir der DDR deutlich machen, daß wir gelassen an diesen Grundsätzen festhalten.

(Büchler [Hof] [SPD]: Nicht ablesen, frei sprechen!)

Ich kann deshalb die Bundesregierung aus der Sicht unserer Fraktion nur ermuntern, den bisherigen Kurs in der Politik langmütig, ohne Hast und ohne vermeintlichen Erfolgszwang fortzusetzen.

(Büchler [Hof] [SPD]: Welchen Kurs?) Wir werden sie dabei unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012202700
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Handlos.

Franz Handlos (CSU):
Rede ID: ID1012202800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer dann, wenn im Deutschen Bundestag zur Lage der Nation Bilanz gezogen wird, gehört es längst zum selbstverständlichen Ritual, daß dabei viel verschleiert oder einfach verschwiegen wird.
Bei dieser Debatte sollten wir nicht vergessen, daß der Partei- und Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, am 1. Februar 1985 aus seiner Sicht die Lage der Nation folgendermaßen charakterisiert hat — wörtlich —: „Die Bundesrepublik macht das Streben der DDR nach guter Nachbarschaft fast unmöglich." Diese Äußerung — ich habe heute davon überhaupt nichts gehört —, die von einigen Zeitungen in der Bundesrepublik zitiert wurde, ist weder dementiert noch von der Bundesregierung kritisiert worden.
Mit seiner Erklärung wollte Honecker — daran ist nicht zu zweifeln —

(Zuruf des Abg. Berger [CDU/CSU])

vor aller Welt, in erster Linie gegenüber Moskau, klarstellen, wie wenig ihm das dauernd betonte Wohlverhalten von Bundesregierung und Opposition zu beeindrucken vermag. Honecker ignoriert auf seine Weise dieses Wohlverhalten und hält an seiner Abgrenzungspolitik vor der Weltöffentlichkeit fest. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bemüht sich Ost-Berlin nach Auffassung von uns Republikanern dagegen besonders um eine Verbesserung der Beziehungen zu den europäischen NATO-Partnern der Bundesrepublik Deutschland. Es ist interessant, dabei folgendes zu beobachten. Die SED-Führung erwartet sich vor allem von dem Staatsbesuch des Partei- und Staatsratsvorsitzenden in Italien in den nächsten Monaten einen eindeutigen Erfolg in einem NATO-Land, das nach Ansicht hoher SED-Funktionäre neben Griechenland die besten Aussichten zur Erreichung der politischen



Handlos
Zielsetzung bietet. In enger Abstimmung mit Moskau will Ost-Berlin — so verlautet aus weiteren Informationen — nicht nur die Position der DDR insgesamt, sondern vor allem Honecker als Spitzenfunktionär mit diesem Staatsbesuch aufwerten. Es ist wichtig, zu wissen: Nachdem der greise italienische Präsident Pertini die protokollarische Gleichstellung als Staatsoberhaupt für Honecker verfügt hatte, ist nach Berichten aus Rom auch Papst Johannes Paul II. bereit, Honecker eine Audienz zu gewähren. Wir sollten dabei die Äußerungen des italienischen Außenministers Andreotti vor mehreren Monaten zur deutschen Frage noch im Ohr haben, meine lieben Kollegen. Parteichef De Mita und andere Spitzenfunktionäre der DC fürchten, daß Regierungschef Craxi und Andreotti, der auch weiterhin für die Anerkennung zweier deutscher Staaten eintritt, mit Honecker Vereinbarungen treffen könnten, die das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland erneut belasten. Ich darf darauf nur in aller Kürze aufmerksam machen.
Ich möchte im Rahmen dieser Debatte aber auch zu einigen Grundsatzfragen der Deutschlandpolitik aus der Sicht der Republikaner Stellung nehmen, soweit dies in zehn Minuten Redezeit überhaupt möglich ist.

(Dr. Waigel [CDU/CSU]: Wir sind alle Republikaner!)

— Es freut mich, Herr Kollege Waigel, das von Ihnen zu hören.
Der Milliardenkredit, den Franz Josef Strauß eingefädelt hat, und die weiteren Milliardenkredite, die der DDR gewährt wurden oder womöglich noch gegeben werden, tragen zur Stabilisierung eines Unrechtsregimes bei. Dies sage ich, auch wenn ich dafür von manchem als kalter Krieger verurteilt werde. Menschlichkeit muß in Ost-Berlin nach wie vor mit Geld erkauft werden. Deutsche müssen von Deutschen freigekauft werden.

(Berger [CDU/CSU]: Das wollt ihr ändern?)

Der Schießbefehl auf Deutsche gilt in Ost-Berlin nach wie vor. Neue Sperranlagen wurden gebaut; sie sind mindestens so perfekt wie die veralteten Selbstschußanlagen, deren Abbau politische Phantasten in München und anderswo als großen Erfolg gefeiert haben. Das Prinzip Leistung und Gegenleistung wurde offensichtlich längst zu den Akten gelegt.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Das wird der Franz Josef Strauß aber gar nicht gerne hören!)

— Ich bin ja nicht dazu da, das zu sagen, was er gerne hört.
Was ist in dieser Situation zu tun, meine Damen und Herren? Wir benötigen in der Frage der Wiedervereinigung — darin sind wir uns einig — einen langen Atem und zugleich eine Politik der kleinen Schritte. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit ist oberstes Ziel der Republikaner. Die Herstellung dieser staatlichen Einheit in freier Selbstbestimmung kann nicht durch Abgrenzung, sondern nur durch beharrliche Gespräche und neue Initiativen von Deutschen und Europäern mit dem Osten vorangetrieben werden. Dabei sind das Festhalten an der einen deutschen Nation und die gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit die Grundlage für den Aufbau Gesamtdeutschlands. Die UdSSR muß wissen, daß es Entspannung und wirklichen Frieden nur geben kann, wenn die deutsche Frage auf der Grundlage allgemeiner, geheimer und freier Wahlen gelöst wird. Die Westmächte müssen an ihre Verpflichtung aus dem Deutschland-Vertrag von 1955 — das ist nunmehr 30 Jahre her — in Art. 7 erinnert werden, in dem als gemeinsames Ziel festgehalten ist — wörtlich —:
Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich-demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.
Wir Republikaner fragen nun wirklich, warum die Bundesregierung die Alliierten nicht immer wieder mit Nachdruck an diesen Art. 7 des Deutschland-Vertrages erinnert und warum nicht vor internationalen Gremien, z. B. vor der UNO, die deutsche Teilung zur Sprache kommt.
Unter einer Politik der kleinen Schritte verstehen wir Republikaner z. B. ein Angebot an die DDR. Es gibt viele Beispiele: den Aufbau eines gemeinsamen Rundfunk- und Fernsehprogramms in beiden Teilen Deutschlands — darüber sollte man sprechen —, den Abschluß eines Kulturabkommens; darüber und ebenso über den Ausbau eines Jugendaustauschprogramms zwischen den beiden Teilen Deutschlands wurde heute schon gesprochen. Nicht zuletzt als weiteres Beispiel soll die Übernahme gegenseitiger kommunaler Patenschaften zwischen den verschiedenen Städten heute angesprochen werden. Auch das ist möglich. Daran kann getestet werden, inwieweit es der DDR ernst ist.
Unser Grundgesetz, das uns alle hier in diesem Hause bindet, meine Damen und Herren, kennt das Wiedervereinigungsgebot. Der Wille des deutschen Volkes bleibt die Triebfeder eines Zusammenschlusses. Wir können nicht von anderen Völkern unsere Wiedervereinigung erhoffen, wenn wir sie nicht selbst fordern. Daß dabei das Recht auf Heimat und das Volksgruppenrecht im Rahmen eines Friedensvertrages gewährleistet sein müssen, ist eine natürliche Folge einer solchen Entwicklung.
Ganz zum Schluß, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Niemand darf vor dem Abschluß eines Friedensvertrages — den wir Republikaner fordern — Rechtspositionen preisgeben. Dies ist der Standpunkt von uns REPUBLIKANERN. Wer sagt, eine Wiedervereinigung Deutschlands würde nie mehr kommen, weil wir 40 Jahre getrennt sind, dem kann ich nur sagen: 40 Jahre Trennung sind in der Geschichte der Völker nur ein Augenblick und nicht mehr. Nur dann, wenn wir selbst unsere Wiedervereinigung aufgeben, ist sie aufgegeben, weil wir nicht erwarten können, daß Amerikaner, Franzosen oder Engländer mehr dafür tun als wir Deutschen.
Wir REPUBLIKANER glauben an eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit. Wir werden



Handlos
uns auf allen Ebenen — in der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus — dafür einsetzen.
Herzlichen Dank.

(Beifall des Abg. Voigt [Sonthofen] [fraktionslos] — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Beifall in der letzten Reihe, ein einsamer Republikaner!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012202900
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider [Berlin].

Dirk Schneider (GRÜNE):
Rede ID: ID1012203000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich hätte die Debatte heute doch richtig spannend sein müssen, wenn man bedenkt, um welches Thema es geht und wie es gelegentlich auch mit Worten beschworen wurde. Einige haben hier gesagt, es gehe um die deutsche Einheit, um das deutsche Schicksal, es gehe sogar um die Freiheit, die Freiheit grundsätzlich, die Freiheit der osteuropäischen Staaten. Also: schicksalsträchtige Worte hier.
Und doch ist die Debatte nach meinem Eindruck nur so dahingeplätschert.

(Baum [FDP]: Das können Sie jetzt ja ändern! — Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wir geben nicht viel auf Ihren Eindruck!)

Sie hat wenig wirklich starke Inhalte und Kontroversen gebracht. Es war so etwas wie ein politischer Pudding. Manchmal sind zwar Kontroversen aufgeblitzt, z. B. dann, wenn Herr Genscher wieder einmal so richtig auf den GRÜNEN „herumgegeißlert" hat.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das hat Ihnen weh getan! — Berger [CDU/ CSU]: Seien Sie nicht so weinerlich! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ach du meine Güte!)

Aber im allgemeinen muß ich sagen, daß meine Fraktion durch die geballte Ladung der politischen Leersprüche und Vorlesungen hier aus dem Saal herausgetrieben wurde. Aber das ist ja nicht nur meiner Fraktion so gegangen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sie waren vorher schon gar nicht im Saal! Wo ist denn Frau Kelly, wo sind denn all die anderen? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Ich habe in West-Berlin vor kurzem an einer Diskussion mit Schülern teilgenommen.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wo ist denn Frau Kelly, wo ist Frau Schoppe? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Schreien Sie doch bitte nicht so! Lassen Sie mich
einmal etwas sagen. — Nach einer halben Stunde
Politikersprüchen stand ein junger Mann auf und
fragte: Was soll eigentlich dieses Thema „deutsche Frage"? Das ist doch abgehakt.

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Der hat einen GRÜNEN ais Lehrer gehabt! — Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Man kann es vielleicht auch anders ausdrücken und sagen: Die deutsche Frage ist nicht mehr offen. 40 Jahre Nachkriegszeit haben Fakten geschaffen, die unumstößlich sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nicht die GRÜNEN, Herr Genscher — er ist sicherlich nicht mehr da —, haben die Spaltung Deutschlands hervorgebracht, sondern wir sehen heute nur den konkreten Fakten ins Auge. Das tut, glaube ich, die Mehrheit der politischen Wortführer hier in diesem Raume nicht. Vielmehr versuchen sie immer noch, Illusionen zu verbreiten, Dinge in die Köpfe des deutschen Volkes — der Deutschen in der DDR und der Bundesrepublik — hineinzupumpen, die mit den Realitäten nichts mehr zu tun haben.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Wir sind für eine realistische Politik, und die — das müßten Sie sich doch auch alle einmal klarmachen — kann nur von den Fakten und von nichts anderem ausgehen. Der einzige, der von der Union heute wirklich konkreter geworden ist — im Gegensatz zu den anderen —, war meines Erachtens Herr Diepgen. Herr Diepgen hat für mich etwas Erstaunliches gemacht: Er hat nicht nur in Leerformeln geredet wie Herr Kohl, er hat dann Herrn Kohl auch nicht wieder mit Hinweisen auf Recht, Recht, Recht und Rechtspositionen konterkariert, wie Herr Dregger das getan hat, sondern Herr Diepgen hat das alles ein bißchen beiseite gelassen und sogar gesagt: Laßt uns nicht ununterbrochen auf den Rechtspositionen herumtrampeln, herumhacken und herumarbeiten, sondern laßt uns die Situation einmal genau und kritisch ansehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Er hat sich etwas besser ausgedrückt, als wir es jetzt von Ihnen hören!)

— Herr Diepgen guckt mich etwas erstaunt an,

(Zuruf von der CDU/CSU: Mit Recht! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

aber ich glaube, daß er für die Union hier einen Ansatz dafür geboten hat, in welche Richtung sie denken sollte. Aber natürlich wird noch viel Wasser die Spree und auch andere Flüsse hinunterfließen, bevor die Union das — vielleicht — begreift, was Herr Diepgen gesagt hat: daß man sich auf die DDR ein bißchen zubewegen muß. Vielleicht hat Herr Diepgen begriffen, was die DDR ihm herübersignalisiert hat, als sie gesagt hat: Wer auf einer Insel lebt, der sollte sich das Meer nicht zum Feinde machen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen reden Sie auch!)

Was Berlin angeht, heißt das, daß Berlin nicht damit auskommt, nur eine Politik des kalten Krieges
zu treiben, Pfahl im Fleische zu sein und immer



Schneider (Berlin)

wieder das Feindbild zu beschwören. Berlin hat wirklich nur dann eine Chance, wenn es eine Versöhnungs- und Verständigungspolitik, von der hier nur geredet wird, für deren Verwirklichung aber nichts getan wird, bahnbrechend in Angriff nimmt. Das heißt, daß man mit der anderen Seite reden muß.

(Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Was hat die CDU hier gemacht, besonders Herr Dregger?)

Er hat wieder die Feindbilder aufgestellt. Er hat nur an dem Bild gearbeitet: Auf unserer Seite leben die anständigen Demokraten.

(Dolata [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal was Positives zum Thema!)

Auf unserer Seite ist die vielleicht beste Demokratie der Welt. Bei uns sieht alles rosig aus. Aber dann guckt mal auf die andere Seite des Eisernen Vorhanges, wo die schwere Pranke des russischen Bären die osteuropäischen Länder in der Sklaverei hält

(Dolata [CDU/CSU]: Tut sie das nicht?)

und jegliche Menschenrechte erdrückt. — Angesichts dieses Abhebens auf Diktatur und Despotie auf der anderen Seite

(Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Meinen Sie, dort hätten Sie so eine Rede halten dürfen?)

frage ich Sie, Herr Dregger: Wie wollen Sie jemals erreichen, daß Herr Kohl mit Herrn Honecker überhaupt einen Händedruck austauscht, wenn Sie wieder einmal so an dieser Feindbildprojektion arbeiten?

(Reddemann [CDU/CSU]: Denken Sie mal über Hitler nach! Dann merken Sie, was Sie für eine merkwürdige Vorstellung haben!)

— Herr Reddemann, ich will hier die DDR überhaupt nicht aus der Kritik nehmen. Das habe ich auch schon früher gesagt. Das haben die GRÜNEN sehr oft deutlich gemacht. Wir haben eine kritische Position zu den Gesellschaften sowohl auf dieser Seite als auch auf der Seite der DDR. Wir versuchen neue Wege zu beschreiten. Und wenn wir kritisieren, sagen wir es laut und deutlich. Aber wir versuchen nicht, eine solche Feindbildpolitik zu machen, die letztendlich Friedenspolitik, von der Sie reden, und Versöhnungspolitik, von der Sie reden, unmöglich macht und Ihre Worte zu reiner Heuchelei verkommen läßt.

(Reddemann [CDU/CSU]: Das ist einen Ordnungsruf wert!)

Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, welches unsere Positionen in dieser Frage sind. Wir sagen: Man muß an das Verhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik in einer gleichberechtigten Art und Weise herangehen. Man muß die DDR politisch anerkennen. Man muß sie völkerrechtlich anerkennen. Man kann nicht darauf beharren, eine Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik weiter für richtig zu erachten und weiter zu vollziehen, die der DDR die Staatsbürgerschaft eigentlich aberkennt.
Herr Hennig, Sie freuen sich immer so und sehen so lustig aus, aber ich möchte Ihnen einmal sagen, daß meiner Ansicht nach die Bundesrepublik eigentlich gar keine Staatsbürgerschaft hat. Sie hat sich die Staatsbürgerschaft des alten Deutschen Reiches geborgt und benutzt das Staatsbürgerschaftsrecht von 1916, das unter Hitler 1941 geändert wurde. Aber eine eigene Staatsbürgerschaft hat sie nicht. Sie beansprucht eine Staatsbürgerschaft für alle Deutschen und damit auch für die in der DDR. Es ist aber unmöglich, die Staatsbürgerschaft der DDR zu akzeptieren und gleichzeitig diese Staatsbürgerschaftsdoktrin der Bundesrepublik aufrechtzuerhalten.
Mein Votum, noch einmal wiederholt, ist: Dialog und Verständigung. Bahnbrechende Möglichkeiten zu Verhandlungen und zu Abmachungen mit der DDR

(Reddemann [CDU/CSU]: Superleerformeln, was Sie da sagen!)

werden sich nur ergeben, wenn man mit diesem Staat auf eine andere Weise umgeht, mit ihm verhandelt und ganz klare Abmachungen trifft, die den Menschen auf beiden Seiten nützen, ohne den Alleinvertretungsanspruch dabei noch beizubehalten. Man muß diesen aufgeben.

(Beifall bei den GRÜNEN — Reddemann [CDU/CSU]: Leerformel-Schneider!)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012203100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Haack.

(Reddemann [CDU/CSU]: Endlich mal was Vernünftiges! — Dr. Göhner [CDU/CSU]: Man ist ja nicht verwöhnt!)


Dr. Dieter Haack (SPD):
Rede ID: ID1012203200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst für den Zwischenruf des Vorsitzenden des zuständigen Ausschusses. Als er hörte, daß ich aufgerufen wurde, hat er gesagt: „Endlich mal was Vernünftiges". Er muß offensichtlich an die Rede seines eigenen Obmannes bei dieser Bemerkung gedacht haben.
Meine Damen und Herren, es ist das erstemal, daß ich an einer Debatte über einen Bericht zur Lage der Nation teilnehme — ich glaube, das erste-mal gab es diese Debatte im Jahre 1970 —, bei der der zuständige Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen nicht gesprochen hat.

(Lintner [CDU/CSU]: Er spricht noch!)

Mein Freund Hans Apel hat vorhin als erster Redner unserer Fraktion festgestellt, daß Deutschlandpolitik nicht vom Parteienstreit bestimmt werden sollte. Ich stimme ihm zu. Eine gemeinsame Deutschlandpolitik dient den Interessen unserer geteilten Nation. Diese Gemeinsamkeit muß aber ernsthaft gewollt sein und zu Fortschritten in der deutschen Politik führen. So versteht jedenfalls unsere Fraktion ihren Entschließungsantrag. Wir wollen der Politik der Bundesregierung neue Impulse



Dr. Haack
geben, nicht aber Gemeinsamkeiten gefährden. Ich bedaure deshalb, daß Vertreter der Bundesregierung dies nicht erkennen oder wegen der unterschiedlichen Auffassungen in der CDU/CSU-Fraktion gegen die SPD polemisieren, um von eigenen Schwierigkeiten abzulenken.

(Beifall bei der SPD)

Gar nicht habe ich verstanden, Herr Kollege Lintner, was Sie zu unserem Entschließungsantrag gesagt haben. Sie haben uns sozusagen vorgeworfen, wir würden uns von der gemeinsamen Deutschlandpolitik entfernen, weil wir dem von Ihnen vorgelegten Entschließungsantrag nicht zustimmten. Ich muß Ihnen sagen: Auch dieser Entschließungsantrag ist etwas Einmaliges in der Geschichte des Bundestages. In diesem Antrag steht nämlich einfach: Wir übernehmen den Antrag des letzten Jahres. Das deutsche Parlament ist doch keine Gebetsmühle, die jedes Jahr dasselbe herbetet, sondern Politik bedeutet doch auch, sich auf weitere Entwicklungen einzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Minister Schäuble, ich darf Sie kurz ansprechen. Ich finde es nicht gut, wenn gegen uns polemisiert wird, um von eigenen Schwierigkeiten abzulenken. Sie haben z. B. vor wenigen Wochen in einem Deutschlandfunk-Interview unsere Forderung nach einer Diskussion über die Staatsangehörigkeit kritisiert und daraus gefolgert, wir wollten die gemeinsame Deutschlandpolitik verlassen. Ich meine, daß eine solche Unterstellung nicht verantwortlich ist und die Vertrauensgrundlage für gemeinsames Handeln zerstört.
Wir fordern in unserem deutschlandpolitischen Grundsatzpapier und in dem vorliegenden Entschließungsantrag unserer Fraktion — wir bitten Sie, das genau nachzulesen — eine öffentliche regierungsamtliche Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland niemanden für die Staatsbürgerschaft im Sinne des Grundgesetzes in Anspruch nehmen wird, der dies nicht will.

(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Sie haben doch zugehört!)

Eine solche Erklärung der Bundesregierung könnte folgendermaßen lauten. — Herr Werner, Sie sagen: Sie haben doch zugehört. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, daß das, was ich als unseren Vorschlag vortrage, mit dem übereinstimmt, was der Bundeskanzler in seiner Rede gesagt hat, dann muß ich an Sie die Frage richten, warum Sie uns unterstellen, wir würden die Gemeinsamkeit verlassen. Dann müssen Sie das dem Bundeskanzler selbst unterstellen.

(Beifall bei der SPD)

Hier stimmt etwas nicht in der Logik Ihrer Argumentation.
Nach unserer Auffassung könnte eine solche Erklärung der Bundesregierung wie folgt lauten:
Erstens. Das Festhalten an der deutschen
Staatsangehörigkeit steht im Einklang mit dem
Völkerrecht. Die deutsche Staatsangehörigkeit
ist auch in den Rechten und Verantwortlichkeiten der vier Siegermächte für Deutschland als Ganzes begründet. Auf dieser eindeutigen Grundlage beruhen unsere Verfassungsbestimmungen zur deutschen Staatsangehörigkeit im Grundgesetz. Der Grundlagenvertrag hat die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verändert.
Zweitens. Wir respektieren nach Art. 6 des Grundlagenvertrags die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der DDR in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten.
Unsere Staatsangehörigkeit kann auf dem Gebiet der DDR keine Wirkung beanspruchen.
Wir achten die Staatsbürgerschaft der DDR dadurch, daß wir keinen Bürger der DDR für die Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes gegen seinen Willen in Anspruch nehmen, weder auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland noch in anderen Ländern.

(Reddemann [CDU/CSU]: Das ist die Praxis!)

Drittens. Die neueste Forderung der DDR vom 30. Januar 1985, unser Grundgesetz zu ändern, ist völkerrechtlich unzulässig, widerspricht dem Grundlagenvertrag und steht in auffallendem Widerspruch zu den Äußerungen des Vorsitzenden des Verfassungs- und Rechtsausschusses der DDR-Volkskammer, Professor Weichelt, der vor wenigen Monaten im „Neuen Deutschland" feststellte, daß es die DDR nicht zur Voraussetzung bilateraler oder multilateraler internationaler Beziehungen mache, daß andere ihre innerstaatlichen Gesetze ändern.
Meine Damen und Herren, eine solche Erklärung würde vor aller Welt unsere Haltung, wie wir sie seit Jahren praktizieren, klarstellen und die Staatsangehörigkeitsdiskussion von uns aus beenden. Ich vermag nicht einzusehen, wieso diese unsere Forderung — nichts anderes wird von uns gefordert — angeblich die gemeinsame Deutschlandpolitik in Frage stellen soll. Wenn so über die Gemeinsamkeit gesprochen wird, dann kann sie überhaupt nicht hergestellt werden. Vielleicht will man sie auch nicht herstellen.
Meine Damen und Herren, Deutschlandpolitik erfordert Wahrheit, Klarheit und Realismus. In unserer Mittellage in Europa können wir unsere Interessen — darüber sind wir uns wohl alle im klaren — nur mit unseren Nachbarn, aber nicht gegen sie durchsetzen. Unsere Nachbarn im Westen und im Osten — das gehört zu dieser Klarheit und Wahrheit — sind nicht vorrangig an einer nationalstaatlichen Wiedervereinigung Deutschlands interessiert.
Dennoch würde man uns, wie Golo Mann vor kurzem zu Recht festgestellt hat, in der Welt nicht mehr, sondern weniger achten, wenn wir aus unserem Grundgesetz die Präambel streichen würden, die uns die deutsche Einheit in Freiheit zum Ziel setzt.

(Berger [CDU/CSU]: Das können wir aber nicht!)




Dr. Haack
— Nein, das wollen wir ja auch nicht. Ich weise Sie j a auf diese Schwierigkeiten hin. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten müssen wir Politik machen.
Daraus muß eben für unsere Politik folgen, daß wir das in der realen politischen Situation Machbare tun müssen und unsere nationalen Interessen mit den weltweit anerkannten Prinzipien des Friedens, der Freiheit, des Selbstbestimmungsrechts und der nationalen Identität eines Volkes in Übereinstimmung bringen müssen. Was heißt das? Wir sind als Deutsche in der jüngsten Vergangenheit sehr oft deshalb gescheitert, weil wir Politik gegen die Interessen unserer Nachbarn gemacht haben, weil wir glaubten, wir seien allein auf der Welt, wir könnten mit dem Kopf durch die Wand.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt kommt es darauf an — das war der Inhalt unserer Ostpolitik und Deutschlandpolitik seit Ende der 60er Jahre —, daß wir eine deutsche Politik machen, die versucht, mit den Interessen der Nachbarn in Übereinstimmung zu kommen

(Beifall bei der SPD)

und von daher etwas für die eigenen Interessen im internationalen Kräftespiel herauszuholen.
Wenn. man diesen Ansatz der Politik sieht, muß man sagen, daß alles das, was in den letzten Wochen in unserem Land diskutiert worden ist, was auch heute Teil der Debatte gewesen ist, kleinkariert ist. Das erweckt draußen in der Weltöffentlichkeit den Eindruck, daß wir Deutschen aus unserer jüngsten Geschichte nicht gelernt haben, sondern wieder in der Gefahr sind, in alte Fehler zurückzufallen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb müssen wir deutlich machen, daß Deutschlandpolitik Friedenspolitik ist, daß es um Freiheit geht, um Selbstbestimmungsrecht und nationale Identität des deutschen Volkes. Das wird uns dann niemand bestreiten. Das setzt aber voraus, daß diese Politik glaubwürdig ist und nicht an einem Tag so und am anderen Tag anders geredet wird.

(Reddemann [CDU/CSU]: Und daß die Kommunisten sie glauben wollen!)

Wir sind uns auch darüber im klaren, daß diese Deutschlandpolitik in die West-Ost-Auseinandersetzung eingebettet ist und daß wir Deutschen uns — der Bundeskanzler hat darauf mit Recht hingewiesen — für die freiheitliche Ordnung des Westens entschieden haben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir weisen aber — gerade auch in unserem Entschließungsantrag — genauso darauf hin, daß der Fortbestand der deutschen Nation eine von der Teilung unabhängige Realität ist, die sich in unserer gemeinsamen Geschichte und im Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden deutschen Staaten ausdrückt. Auch hier haben wir die Zustimmung der Weltöffentlichkeit. In keinem europäischen Land hat bisher das europäische Bewußtsein das nationale Bewußtsein verdrängt. Insofern stünden wir ohne Festhalten an der deutschen Nation außerhalb der Normalität der anderen Völker.
In Wirklichkeit will auch die SED langfristig die deutsche Teilung überwinden, wenn auch unter ihren eigenen, kommunistischen Vorzeichen. Die Umschreibung der deutschen Geschichte in der DDR ist auch eine Vorbereitung auf diese langfristige Zielsetzung. Ich meine, daß sich die Deutschlandpolitik damit mehr als bisher zu befassen hat, wenn wir in der geistigpolitischen Auseinandersetzung der Zukunft bestehen wollen.
Deshalb muß es Aufgabe der heutigen und der zukünftigen Deutschlandpolitik sein — wie es die der vergangenen war —, die nationale Gemeinschaft zu stärken und eine Zusammenarbeit zu finden, die den Interessen der Menschen in einer geteilten Nation dient. Zwischen beiden deutschen Staaten sind noch viele Fragen zu regeln. Auf vieles ist heute bereits hingewiesen worden: Umweltschutz, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft. Die laufenden Verhandlungen müssen zügig fortgeführt und zu einem Abschluß gebracht werden.
Der Reiseverkehr muß verbessert werden. Es geht vor allem um mehr Jugend- und Sportbegegnungen. Die Deutschen in der Bundesrepublik — das ist eine Aufforderung an uns — müssen sich mehr für die DDR interessieren. Wir müssen die uns gegebenen Reisemöglichkeiten besser nutzen.
In unserer schulischen Bildung, in der Erwachsenenbildung muß die sachliche Information über die DDR einen höheren Stellenwert erhalten. Die DDR-Forschung muß verbessert werden. Das Institut für internationale Politik und Wirtschaft in Ost-Berlin, das dem Politbüro der SED unmittelbar zuarbeitet und sich vorrangig mit der Bundesrepublik Deutschland befaßt, hat allein 200 wissenschaftliche Mitarbeiter, die intensiv mit der Forschung der Situation in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt sind. Auch hier müssen wir im Sinne des Wettkampfs der Systeme standhalten. Hier gibt es noch Nachholbedarf, den wir gemeinsam decken sollten.
Von der SED fordern wir — das sage ich hier noch einmal ganz deutlich — eine Ausweitung der Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger, die Zulassung von Städtepartnerschaften, den Austausch von Zeitungen, die Abschaffung des Mindestumtauschs.

(Berger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Wir fordern auch von der SED, Feindbilder abzubauen, vor allem in der vormilitärischen Ausbildung und Erziehung

(Berger [CDU/CSU]: In der militärischen auch!)

und im Wehrkundeunterricht.
Wenn wir Zusammenarbeit auf allen Gebieten ernst nehmen, darf es auch bei uns keine Tabus geben, und in diesem Zusammenhang sehe ich auch die Notwendigkeit der Aufnahme von Kontakten mit der Volkskammer, und zwar im Rahmen eines immer enger werdenden Beziehungsgeflechts beider deutscher Staaten.

(Beifall bei der SPD — Reddemann [CDU/ CSU]: Was wollen Sie denn mit einer InstiDr. Haack tution, die nichts zu sagen hat, verhandeln? — Zurufe von der SPD)




— ich möchte zu Ihrem Zuruf keine ironische Bemerkung über die Einflußmöglichkeiten von Abgeordneten in frei gewählten Parlamenten machen.
Im innerdeutschen Verhältnis bleibt noch viel zu tun. Allerdings dürfen beide deutschen Staaten ihren Spielraum nicht überschätzen und — das sage ich genauso deutlich — ihre Bindungen und Abhängigkeiten nicht vergessen.
Ich möchte eine abschließende Bemerkung machen. Das amerikanische Aspen-Institut hat vor über zwei Jahren eine Gruppe früherer westlicher Regierungschefs und Minister, unter ihnen Helmut Schmidt, beauftragt, gemeinsam über eine neue Politik nachzudenken. Der Bericht dieser Gruppe ist vor etwa zwei Monaten vorgelegt worden. Unter dem Oberbegriff „Eine neue Objektivität" heißt es dort u. a.:
Die Ost-West-Beziehungen werden weiterhin eine Mischung aus Wettbewerb und Kooperation mit wechselnden Akzenten bleiben. Kluge Politik bedeutet behutsame Steuerung des Wettbewerbs und unermüdliche Förderung der Zusammenarbeit. Die erste Pflicht der Staatsmänner und das Fundament der westlichen Politik ist die Verhinderung eines Krieges zwischen Ost und West.
Diese Elemente einer neuen Objektivität bieten einen umfassenden Rahmen für gemeinsame politische Initiativen des Westens im Blick auf den Osten.
Objektives Vorgehen schließt sowohl Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Gesichtspunkten wie auch Kreuzzugsmentalität aus. Es ist weder Ausdruck eines wirklichkeitsfremden Optimismus noch Zeichen eines tristen Pessimismus. Diese neue Objektivität muß eine historische Perspektive aufzeigen. Wenn sie zum Erfolg führen soll, muß sie über eine lange Zeit, über Jahrzehnte hinweg, durchgehalten werden.
Ich meine, auch die Deutschlandpolitik als Bestandteil dieser Ost-West-Beziehungen braucht eine historische Perspektive, und um sie sollten wir uns gemeinsam bemühen.

(Beifall bei der SPD)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012203300
Das Wort hat der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen.

Heinrich Windelen (CDU):
Rede ID: ID1012203400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich hätte sehr gern auf viele Fragen, die hier gestellt worden sind, geantwortet. Ich habe an der ganzen Debatte teilgenommen. Ich habe mir vieles notiert, was beachtenswert ist, was eine Antwort verdient hätte. Ich habe die Debatte hier nicht vorbereitet; ich will auch die Weisheit des Ältestenrates, dem ich nicht mehr angehöre, nicht schelten, daß wir diese Debatte um 19.00 Uhr schließen müssen. Ich hätte besonders gern, Herr Kollege
Haack, auf Ihre präzisen Fragen geantwortet. Ich meine, es hätte sich gelohnt.

(Berger [CDU/CSU]: Guter Beitrag von Herrn Haack!)

Ich biete Ihnen an, dieses Gespräch im Ausschuß fortzusetzen.

(Reddemann [CDU/CSU]: Wird sofort aufgenommen!)

Hier gibt es einige Ansätze, auf die ich gern zurückkomme.
Es bleiben mir leider nur wenige Minuten. Ich möchte mich deswegen auf ein einziges Thema beschränken, das der Kollege Apel hier aufgegriffen hat, als er einige Betrachtungen zum Thema Recht und Politik anstellte und dabei auf Golo Mann zu sprechen kam.
Herr Kollege Haack, gerade hier gilt, daß wir Deutschen aus unserer Geschichte gelernt haben sollten. Das Thema Recht und Politik ist für uns Deutsche von besonderer Sensibilität, wenn wir vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte, der schrecklichen 12 Jahre, über dieses Thema sprechen, vor dem Hintergrund einer Zeit, wo Willkür und Gewalt statt Recht gesetzt wurde, gegen unsere Nachbarn, aber auch gegen die eigenen Landsleute. Wir alle haben uns damals geschworen, daß wir nie wieder den Weg des Rechtes verlassen dürften. Nein, meine Damen und Herren, wir, die Koalition, verwechseln nicht Recht mit Politik, aber Politik ohne Recht darf es und wird es für uns nicht wieder geben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für uns sind Rechtspositionen die entscheidenden Grundlagen unserer auf Frieden und Freiheit ausgerichteten Politik.
Herr Apel, Sie haben gesagt, die Weltgeschichte sei kein Amtsgericht. Dies wird nicht dadurch besser, daß das vor Ihnen schon einmal einer gesagt hat. Ich halte es hier mehr mit Friedrich Schiller als mit Hans Apel. Friedrich Schiller sagte: Die Weltgeschichte, das ist das Weltgericht. Ich fürchte, er hat recht.

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Aber kein Amtsgericht!)

Alles, was wir heute an Rechtspositionen aufgeben oder auch nur in Frage stellen,

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Zwischen Weltgericht und Amtsgericht ist doch ein Unterschied!)

schwächt zugleich unsere politische Handlungsfähigkeit in der Zukunft, die politische Handlungsfähigkeit möglicherweise der nächsten Generationen. Wer gibt uns eigentlich das Recht, etwas preiszugeben, was vielleicht noch einmal gebraucht wird?
Ich frage weiter: Warum kämpfen denn Moskau und Warschau so zäh, so hartnäckig und so verbissen um jedes Komma, um jeden Punkt, um jeden Paragraphen, wenn dies alles doch nur Formelkram ist?

(Beifall bei der CDU/CSU)




Bundesminister Windelen
Meine Damen und Herren, wenn Rechtsfragen für Moskau und Warschau so wichtig sind, dann müssen sie für uns noch viel wichtiger sein.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU)

Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schreibt in seiner Studie „Vom ewigen Frieden" — ich muß es frei aus dem Gedächtnis wiedergeben — folgenden Satz: Die Natur will unwiderstehlich, daß zuletzt das Recht die Oberherrschaft behalte. Er fährt dann fort — ich muß auch dies frei wiedergeben —: Wir können tun und lassen, was wir wollen, das Recht wird sich letztlich durchsetzen, wenn auch mit viel Ungemach.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Und was heißt das jetzt für die deutsche Politik?)

Ich möchte unserem Volk weiteres Ungemach ersparen; ich meine, es hat genug Ungemach erlitten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin davon überzeugt, daß Friedrich von Schiller und Immanuel Kant recht haben, denn nur Gerechtigkeit schafft Frieden. Die eigentliche Ursache für die Spannungen in dieser Welt sind nicht Bomben, sind nicht Raketen — das sind Folgen der Spannungen —; die eigentliche Ursache für die Spannungen in unserer Welt ist die Verweigerung von Recht, von Menschenrechten, von Bürgerrechten

(Beifall bei der CDU/CSU)

gegenüber Millionen von Menschen auf der ganzen Erde. Wir, meine Damen und Herren, treten für diese Rechte ein, für alle Menschen, in Chile genauso wie in Südafrika,

(Immer [Altenkirchen] [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)

aber auch und in erster Linie im eigenen Vaterland, für die eigenen Landsleute.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Freiheit und Frieden auf der Grundlage der Menschen- und Bürgerrechte, das ist der Kern der Deutschlandpolitik dieser Bundesregierung. Für diese Politik bitte ich um Ihre Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012203500
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel (Berlin).

Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD):
Rede ID: ID1012203600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem Herrn Kollegen Windelen sagen: Ich kann den Unterschied zwischen der Äußerung von Hans Apel und dem von Ihnen wiedergegebenen Zitat Friedrich von Schillers nicht sehen. Amtsgericht und Weltgericht, das ist, glaube ich, eine gewaltige Unterscheidung.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind dagegen, daß die Geschichte wie das Amtsgericht behandelt wird; mit dem Weltgericht wollen wir uns gerne auseinandersetzen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Debatte über die Lage unserer Nation hat Gegensätze, aber auch Übereinstimmungen deutlich werden lassen. Für die Sozialdemokraten ziehe ich am Ende dieser Debatte folgendes Resümee.
Erstens. Wir Deutschen haben die staatliche Einheit als Folge der nationalsozialistischen Gewalt- und Aggressionspolitik verloren. Jede Deutschlanddebatte muß mit dieser Feststellung eröffnet werden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU)

Wir Deutschen sind aber unverändert in einer lebendigen Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft miteinander verbunden.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sonst nichts?)

Das gemeinsame Gedenken an die Zerstörung Dresdens vor über 40 Jahren und die gemeinsame Freude über die Wiedererrichtung der Semper-Oper haben das ebenso deutlich gemacht wie das gemeinsame Gedenken an Martin Luther im Jahre 1983. Ich möchte einen Satz aufgreifen, der hier gesprochen worden ist, und sagen: Auch in dieser Beziehung sind die Anstrengungen der Menschen in der DDR ernst zu nehmen. — Auch in dieser Beziehung!

(Beifall bei der SPD)

Zweitens. Die von uns entwickelte und — ich glaube, das ist eine ganz objektive Beschreibung — gegen erbitterten Widerstand — wenn ich an die Jahre 1970, 1971, 1972 denke — durchgesetzte Deutschlandpolitik ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Bewahrung und Festigung dieser Gemeinschaft und für mehr Stabilität in Mitteleuropa.

(Beifall bei der SPD — Berger [CDU/CSU]: Die Opposition hat ihren Beitrag dazu geleistet!)

Weil gerade gerufen wurde: Na, was bedeutet denn diese Gemeinschaft, mehr nicht?: Die vier Elemente, die ich aufgezählt habe, sind die Elemente, die aus einer Gemeinschaft eine Nation machen. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt.

(Beifall bei der SPD)

Zu dieser Politik gehört, daß wir die Politik der Entspannung unbeirrt fortsetzen und für alle Nachbarn — für alle Nachbarn! — verläßlich und berechenbar bleiben. Spekulationen über einen deutschen Sonderweg sind dafür ebenso schädlich wie die von Teilen der Union immer wieder aufgestellte These, das Deutsche Reich könne oder solle in den Grenzen von 1937 wiederhergestellt werden. Nein, ich sage: Wenn so aus einer Regierungspartei heraus argumentiert wird, ist das gefährlicher und schädlicher, als wenn eine kleine Gruppe von einem Sonderweg redet.

(Beifall bei der SPD — Berger [CDU/CSU]: Das hat kein Mensch gesagt! Das ist frei aus der Luft gegriffen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)




Dr. Vogel
Wir begrüßen, daß die Herren — —

(Zuruf des Abg. Reddemann [CDU/CSU])

— Aber lieber Herr Reddemann, haben Sie denn ein so kurzes Gedächtnis, daß Sie gar nicht wissen, was gestern in Ihrer eigenen Fraktion diskutiert und vorgetragen worden ist?

(Beifall und Zurufe von der SPD)

Es könnte allerdings sein, daß Sie in dem Fall abwesend waren. Das würde Sie entschuldigen.

(Berger [CDU/CSU]: Aber Sie waren anwesend?!)

Wir begrüßen, daß die Herren Friedrich Vogel und Rühe dieser These am 6. Februar 1985 vor dem Deutschen Bundestag eine klare Absage erteilt haben. Wir begrüßen es.

(Beifall bei der SPD)

Herr Staatsminister Friedrich Vogel sagte von dieser Stelle aus, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße für die Bundesrepublik Deutschland nach Abschluß des deutsch-polnischen Vertrages Ausland sind; so der Staatsminister im Bundeskanzleramt.
Herr Rühe führte aus:
Wer nüchtern und illusionslos nachdenkt, der weiß, daß der Warschauer Vertrag mit Polen eine politische Bindungswirkung hat, die auch von einem wiedervereinigten Deutschland nicht ignoriert werden könnte.
Das sind klare Aussagen, denen wir zustimmen.

(Beifall bei der SPD)

Das ist anders, Herr Kollege Dregger, als Sie es zu erläutern versucht haben. Insbesondere der Satz von Herrn Rühe ist doch nicht nur die Beschreibung einer Rechtslage. Das ist eine politische Perspektive, das ist eine politische Willenserklärung, und darin liegt die Bedeutung der Rüheschen Äußerung.
Aber das, was Herr Rühe und Herr Vogel gesagt haben, ist doch nicht die Meinung der Union, das ist
— und die heutige Debatte hat dies einmal mehr deutlich gemacht — eine Meinung, die Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen in Ihren Reihen ist.

(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Was der Bundeskanzler gesagt hat, ist die Meinung der Union!)

Die Berichte über die Diskussion, die Sie gestern in Ihrer Fraktion geführt haben, zeigen das doch. Und sie zeigen auch — ich sage dies gar nicht mit Schadenfreude; dafür ist der Gegenstand zu ernst —, daß Sie die erbitterten Auseinandersetzungen über ein Kernelement der Deutschlandpolitik, die Sie einst mit uns geführt haben, jetzt in Ihren eigenen Reihen fortsetzen und — das kann ich nur wünschen
— hoffentlich bald zu einem guten Ende bringen.

(Beifall bei der SPD)

Was Sie, Herr Bundeskanzler, heute gesagt haben, das beendet diesen Zustand nicht. Die sorgfältige Analyse dessen, was Sie gesagt haben, zeigt, daß Sie ausschließlich und allein Passagen des Warschauer Vertrages wörtlich zitiert haben, wie Sie das schon öfter getan haben. Aber auf diese Passagen des Warschauer Vertrages, die Sie vortragen, berufen sich doch in Ihrer Fraktion sowohl die Herren Abelein, Hupka und Czaja wie die Herren Rühe, Mikat und Friedrich Vogel. Die Unklarheit über die Grenzfrage wird deshalb auch nach Ihrer heutigen Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, andauern. Wir bedauern das. Wir hätten es begrüßt, wenn die Deutung, die Hans Apel in seiner Eingangsrede Ihren Worten gegeben hat, hier in dieser Debatte ihre Bestätigung gefunden hätte. Durch Ihre Ausführungen, Herr Kollege Dregger, ist diese Deutung fast unmöglich geworden.

(Beifall bei der SPD)

Wir hätten es begrüßt, Herr Bundeskanzler — und die Zeit wird kommen, in der Sie sich dieser Herausforderung stellen müssen —, wenn Sie nicht nur den Vertrag zitiert hätten, um sich in den Kämpfen in Ihrer eigenen Fraktion unangreifbar zu machen, sondern wenn Sie ohne Wenn und Aber auf die Seite Ihres Staatsministers und von Herrn Rühe getreten wären.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Herr Bundeskanzler, ohne Vorwurf, eher in der Form der Bitte: Wer unter dem Motto „Schlesien bleibt unsere Zukunft" demnächst sprechen will, der muß vorher in dieser Frage, die Herr Rühe angeschnitten und formuliert hat, absolute Klarheit schaffen. Der muß vorher absolute Klarheit schaffen!

(Beifall bei der SPD)

Und wenn ich die Bitte äußern darf: Der sollte auch Klarheit schaffen, wenn auf der Einladung zu einer Gedenkveranstaltung in Kiel unter Schirmherrschaft des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, deren Thema durchaus einleuchtet, nämlich die Rettung von Menschen über See, die Nationalhymne abgedruckt ist und hinzugesetzt wird: „Die dritte Strophe wird zur Zeit offiziell gesungen." Herr Bundeskanzler, da ist zu spüren, was hinter manchen Wendungen, die formvollendet hier abgegeben werden, wirklich an Geist steckt — zur Zeit!

(Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU — Berger [CDU/CSU]: Das steht so im Gesetz!)

— Das steht im Gesetz „Zur Zeit wird die dritte Strophe gesungen"? „Zur Zeit"? Sie machen sich das zu eigen?

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Gut, daß das im Protokoll steht.

(Reddemann [CDU/CSU]: Lesen Sie mal nach, was Bundespräsident Heuss damals erklärt hat!)

— Sie werden mir doch nicht erzählen, daß Heuss gesagt hat: „Vorübergehend singen wir mal die dritte, bis wir endlich wieder ,Deutschland, Deutsch-



Dr. Vogel
land über alles' singen können"? Das werden Sie uns doch nicht erzählen wollen!

(Erneute Zurufe von der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, treten Sie doch hier ans Rednerpult, dann ist das einmal mit der Geschäftsordnung in Einklang, und zum anderen, was noch wichtiger ist, das verstehe ich dann, statt daß Sie hier übers Eck reden.
Drittens. Die gegenwärtige Stagnation in der Deutschlandpolitik muß überwunden werden. Deshalb genügt es nicht, die gemeinsame Entschließung des letzten Jahres, zu der wir nach wie vor stehen — —

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Zu der wir nach wie vor stehen, damit da keine Legenden entstehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dann können Sie ja zustimmen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Entschuldigung, wir wollen Zusätzliches, wir wollen nach vorne, wir wollen, daß Bewegung hineinkommt, aber wir stehen zu allen Aussagen dieser Entschließung. Ich sage es noch einmal, damit hier keine Legenden entstehen.

(Beifall bei der SPD)

Es muß mehr geschehen. Der Satz von der gemeinschaftlichen Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden darf keine Leerformel sein, er muß durch konkrete Konsultationen, wie sie im Grundlagenvertrag vorgesehen sind, und auch durch die Suche nach Anstößen und Initiativen ausgefüllt werden, die beide deutschen Staaten in ihren Bündnissen ergreifen können. Wir haben konkrete Vorarbeit geleistet. Etwa durch die Gespräche, die die Arbeitsgruppe „Chemische Abrüstung" meiner Fraktion mit Vertretern der DDR zu Fragen des Verbots chemischer Waffen und der Schaffung einer von C-Waffen freien Zone in Europa seit Juli 1984 führt und morgen und übermorgen hier in Bonn fortsetzen wird.

(Zuruf des Abg. Jäger [Wangen] [CDU/ CSU])

— Daß Sie hier mitreden, Herr Jäger! Haben Sie Redeerlaubnis? — Das sind außerdem wichtige Gesprächsbrücken.

(Reddemann [CDU/CSU]: Das können Sie hier um 19 Uhr nicht mehr machen!)

— Ich habe noch eine Menge Zeit. Machen Sie ruhig all Ihre Zwischenrufe!
Ich wiederhole: Wir haben Vorarbeit geleistet durch die Gesprächsgruppe, die morgen und übermorgen hier in Bonn in hochrangiger Besetzung wieder zusammentritt. Diese Gespräche sind außerdem wichtige Gesprächsbrücken, aus denen, Herr Bundeskanzler, j a auch Ihre Bundesregierung ihren Nutzen an Ort und Stelle zieht. Ich begrüße, daß Sie die von uns geschaffenen Möglichkeiten auch zu Kontakten und Gesprächen nutzen, die sonst wahrscheinlich etwas schwieriger und komplizierter wären. Das ist übrigens auch ein Beispiel dafür, wie Opposition und Regierung vernünftig zusammenarbeiten können, auch von unterschiedlichen Standpunkten aus.

(Beifall bei der SPD)

Im deutsch-deutschen Verhältnis haben für uns die Senkung des Mindestalters für Ost-West-Reisen, die Senkung des Mindestumtausches und die Verbesserung der Transitverbindungen, insbesondere der Bahnverbindungen, von und nach Berlin hohe Priorität. Und jetzt kommt etwas, worin wir uns offenbar unterscheiden. Um auf dem Weg zu unserem Ziel Fortschritte zu erreichen, muß auch auf diejenigen Wünsche der DDR eingegangen werden, deren Erfüllung weder dem Grundgesetz noch den Interessen der Bundesrepublik widerspricht. Dies ist eine allgemeine diplomatische und politische Übung und muß auch in Richtung auf die DDR gelten und praktiziert werden. Wir haben uns dazu in unserer Entschließung geäußert.

(Beifall bei der SPD)

Auch die Aufnahme offizieller Kontakte zwischen dem Deutschen Bundestag und der Volkskammer ist geeignet, das Klima zu verbessern. Herr Bundestagspräsident Jenninger ist hier auf dem richtigen Weg. Die SPD-Fraktion unterstützt ihn ebenso wie die FDP-Fraktion und eine weitere Fraktion in diesem Hause.

(Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Berger [CDU/CSU] — Lintner [CDU/CSU]: Sagen Sie das unseren gemeinsamen Berliner Kollegen!)

— Lieber Herr Kollege Lintner, ich lasse mich von Ihnen ja gern belehren. Aber ich bin zufälligerweise selber Berliner Abgeordneter. Die DDR macht bei mir überhaupt keinen Unterschied in der Behandlung gegenüber den anderen Bundestagsabgeordneten. Ich bin doch der Kronzeuge dafür, daß diese Statusprobleme überhaupt nicht bestehen. Ich werde genauso behandelt wie jeder andere auch.

(Zurufe von der CDU/CSU)

— Das ist doch meine eigene Erfahrung.

(Reddemann [CDU/CSU]: Reden Sie doch nicht über Dinge, von denen Sie nichts verstehen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

Meine Damen und Herren, es gibt überhaupt kein Problem, mit dem Ausweis hinüberzufahren, der in Berlin der gültige Personalausweis ist. Das wissen Sie doch genau.

(Berger [CDU/CSU]: Aha! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

— Also in Sprechchören sind Sie ausgezeichnet, meine Herren. Ich kann Ihnen nur gratulieren. Vielleicht kehren Sie zu einer sachlichen Unterhaltung über diesen Punkt bei anderer Gelegenheit zurück.
Mich würde wirklich ernsthaft interessieren, wo denn eigentlich die Sonderbehandlung der Berliner Abgeordneten liegt. Ich bin Berliner Abgeordneter und bin soundso oft drüben, privat und offiziell. Für



Dr. Vogel
mich ist überhaupt keine Sonderbehandlung erkennbar geworden.

(Reddemann [CDU/CSU]: Für Sie nicht! Das ist klar!)

— Was wollen Sie denn? Bin ich nun Abgeordneter oder nicht? Paßt Ihnen das auch nicht, Herr Reddemann?

(Zuruf des Abg. Reddemann und weiterer Abgeordneter der CDU/CSU)

— Es paßt Ihnen nicht. Das kann ich mir denken, daß Ihnen das nicht paßt. Das werden Sie aber noch lange ertragen müssen. Passen Sie mal auf, wer länger in diesem Haus sein wird, Sie oder ich!

(Zurufe von der CDU/CSU)

Zur Pflege des Klimas muß natürlich auch die DDR ihren Beitrag leisten, beispielsweise durch Verbesserungen der Verhältnisse an der Grenze, die bei aller Freude darüber, daß die Selbstschußanlagen abgebaut worden sind, nach wie vor nicht akzeptiert werden können — das sage ich von dieser Stelle aus auch für meine Fraktion —,

(Beifall bei der SPD)

oder durch einen von Repression freien Umgang mit früher in Ost-Berlin akkreditiert gewesenen Journalisten.
Viertens. Wer die nationale Gemeinschaft bejaht, muß sich auch mit der Frage der nationalen Identität und des nationalen Bewußtseins auseinandersetzen. Er darf nicht den Anschein entstehen lassen
— wo er entsteht, muß er ihm sofort entgegentreten —, er könne unter Berufung auf Geburtsdaten aus der Geschichte unseres Volkes heraustreten. Wir alle müssen damit zurechtkommen, daß wir nicht nur die großen kulturellen und sozialen Beiträge, die auch unser Volk im Laufe der Jahrhunderte zur Entwicklung Europas und der Menschheit weiß Gott geleistet hat, mit Genugtuung und Stolz in Anspruch nehmen dürfen, sondern daß wir auch für die Fehler, die Verirrungen, die Katastrophen und die Folgen der Verbrechen einzustehen haben, die mit deutschem Tun und Unterlassen in schicksalhafter Weise verknüpft sind. Das gehört zur nationalen Identität, wie wir das verstehen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

Der 8. Mai 1985, der 40. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, wird Gelegenheit bieten, Antworten auf die Frage nach unserer Identität zu verdeutlichen. Einige der Elemente, die Sie, Herr Bundeskanzler, heute dazu vorgetragen haben, gehören sicher zu den Antworten. Ich sehe hier Elemente der Übereinstimmung, so etwa die klare, nicht mit Bedingungen und Aufrechnungen verbundene Absage gegenüber den Verbrechen der Gewaltherrschaft.
Die Aufhebung der Mordverjährung, um die wir heiß gerungen haben, und die späte Klarstellung — ich sehe nicht in eine einzige Richtung, wenn ich das Wort „spät" mit Bedauern einfüge —, daß der Volksgerichtshof kein Gericht, sondern ein Instrument des Terrors war, waren solche Absagen. Aber dabei können wir es nicht bewenden lassen. Wir diirfen beispielsweise die Erinnerung an das Geschehene, vor allem aber an die Opfer der Gewaltherrschaft nicht nur mit Worten wachhalten, so wichtig auch das ist; wir sollten uns vielmehr — wieder äußere ich es im Ton der Bitte und der Einladung — noch vor dem 8. Mai 1985 zu der Entscheidung durchringen, daß es nicht länger den überlebenden Opfern, ihren Söhnen, Töchtern und Enkeln überlassen bleiben soll, ob die öffentliche Leugnung oder die Verherrlichung der in Auschwitz und anderswo von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen gerichtlich geahndet wird oder nicht,

(Beifall bei der SPD)

sondern daß es künftig die Pflicht der staatlichen Gemeinschaft ist, das Andenken an diese Opfer zu schützen.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich sagen: Nachdem es eine deutsche Behörde fast vierzig Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes für möglich gehalten hat, Roland Freisler, dieses Zerrbild eines Richters, unter dessen Robe sich der Dolch des Mörders verbarg und an dessen Händen Blut klebte, hätte in unserem Staatswesen — in unserem Staat — nach 1945 Beamter oder Rechtsanwalt sein können, ist diese Entscheidung noch dringlicher und unabweisbarer geworden. Auch das gehört zur Lage der Nation.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Fünftens. Die Lage der Nation wird auch von der immer weiter um sich greifenden Arbeitslosigkeit, dem Wiederaufleben des Terrorismus und dem sich noch immer beschleunigenden und jetzt auch in den Weltraum übergreifenden Rüstungswettlauf beeinflußt, ebenso von den ungenügenden Fortschritten bei der europäischen Einigung und auch von der Vertrauenseinbuße, die Parteien und Parlament nicht ohne eigenes Zutun im letzten Jahr erlitten haben. Es wäre gut gewesen, wenn auch diese Faktoren, diese Herausforderungen erwähnt und zur Sprache gekommen wären. Denn die werden sich nicht von selbst erledigen. Sie haben natürlich auch Gewicht für die Stabilität und Attraktivität unserer eigenen Gesellschaftsordnung und damit auch für die deutsch-deutschen Beziehungen. Sie haben auch dafür Gewicht, wann und wie die Geschichte — nun bin ich sehr nahe bei Ihren Gedanken — im Rahmen einer europäischen Friedensordnung auf die Fragen der Deutschen eine Antwort gibt, die dem in der Präambel des Grundgesetzes umrissenen Ziel näher kommt als die Antworten, die heute durch die Realität gegeben sind. Hier besteht der Zusammenhang. Hier wirkt sich der Auftrag des Grundgesetzes, richtig verstanden, aus.
Diesem Schweigen setzen wir als unsere Überzeugung entgegen: Die Herausforderungen sind zu meistern. Die Gefahren sind abzuwenden. Die Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft — das sind die vier Elemente des Nationenbegriffs — der Deutschen in Mitteleuropa wird Be-



Dr. Vogel
stand und eine Perspektive haben, wenn wir lernen, daß wir in Europa, ja, in der Welt in dieser Generation und für alle Zukunft nur noch miteinander überleben können und nicht mehr einer auf Kosten des anderen, wenn wir zusammen mit der Freiheit, deren Bedeutung ich ebenso unterstreiche wie die Redner vor mir, die soziale Gerechtigkeit und den sozialen Frieden als Grundelemente unserer Ordnung bewahren und verteidigen — sie gehören zusammen —,

(Beifall bei der SPD)

wenn wir den friedlichen Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen, die tief unterschiedlich sind — wer wollte das leugnen —, ohne Berührungsängste etwa gegenüber der Volkskammer und mit dem Selbstvertrauen und dem Selbstbewußtsein austragen, zu dem wir bei aller Einsicht in Mängel, Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen durchaus in dieser Republik Anlaß haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir sind bereit, meine Damen und Herren von der Koalition, dazu unseren Beitrag zu leisten: im Konsens, soweit möglich, in der kontroversen Auseinandersetzung, soweit nötig, immer aber im Wissen um die Kostbarkeit und Verletzlichkeit einer Ordnung, die uns nicht in den Schoß gefallen und die uns nicht gegeneinander, sondern miteinander anvertraut ist.

(Anhaltender Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)


Heinz Westphal (SPD):
Rede ID: ID1012203700
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

(Schneider [Berlin] [GRÜNE]: Der schönste Satz heute abend!)

Für die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 10/2927 und 10/2935 ist Überweisung an den Innerdeutschen Ausschuß beantragt. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Februar 1985, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.