Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren! Mir obliegt die traurige Pflicht, Ihnen den Tod unseres Kollegen Wolfgang Schwabe bekanntzugeben, der am 4. Januar 1978 unerwartet in seiner Heimatstadt Lindenfels im Odenwald einem Herzversagen erlag. Noch am 23. Dezember hatte er hier im Bundeshaus in scheinbar bester Gesundheit mit seinem gewohnten Humor den Mitarbeitern in seiner Fraktion ein frohes Fest gewünscht.Wolfgang Schwabe stand im 68. Lebensjahr. Er wurde am 12. Oktober 1910 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums und dem Abschluß einer Berufsausbildung auf einer landwirtschaftlichen Maschinenfachschule war er zunächst im Landmaschinenfach und dann in der Automobilbranche tätig, bis er 1940 dienstverpflichtet und anschließend zum Kriegsdienst einberufen wurde.Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1945 war er sofort bereit, politische Aufgaben zu übernehmen. So war er zwölf Jahre lang, von 1948 bis 1960, ehrenamtlicher Bürgermeister und Leiter der Kurverwaltung der Stadt Lindenfels, der er seitdem verbunden blieb. Im Jahre 1951 trat er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei. Von 1952 bis 1977, 25 Jahre lang, bekleidete er das Amt des Vorsitzenden des Kreistages Bergstraße. Während dieser Zeit war er zunächst Persönlicher Referent des hessischen Innenministers und danach für vier Jahre Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung.Ab 1961, vom Beginn der 4. Wahlperiode an, bis. zu seinem Tode gehörte er dem Deutschen Bundestag an. In diesen rund 16 Jahren hat er sich — der Vielfalt seiner Interessen entsprechend — mannigfachen Aufgaben gewidmet. Er arbeitete als Ordentliches Mitglied im Ausschuß für Kulturpolitik und Publizistik, im Verkehrsausschuß, im Auswärtigen Ausschuß, als Mitglied des Kuratoriums der Bundeszentrale für politische Bildung und mit besonderem Engagement von 1970 an als Mitglied des Europäischen Parlamentes.Der Schwerpunkt seines fachlichen und politischen Einsatzes lag auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs, des Tourismus. Er war Vorsitzender des Landesverkehrsverbandes Hessen, Vizepräsident des Verbandes Deutscher Kur- und Fremdenverkehrsfachleute und Vorsitzender oder Vorstandsmitglied zahlreicher weiterer Verbände aus diesem Bereich. Daneben hat er sich auch noch Fragen aus dem Bereich der Sozialpolitik und der Energiepolitik angenommen.Der Deutsche Bundestag verliert mit Wolfgang Schwabe einen vielfach engagierten und rührigen Politiker, dessen Tod eine schmerzliche Lücke hinterläßt. Ich spreche den Angehörigen des Verstorbenen und der Fraktion der SPD die aufrichtige und herzliche Anteilnahme aus. Wir werden Wolfgang Schwabe ein ehrendes Angedenken bewahren.Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben, ich danke Ihnen dafür.Als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Schwabe ist mit Wirkung vom 9. Januar 1978 der Abgeordnete Schmidt in den Deutschen Bundestag eingetreten. Ich begrüße den uns bekannten Kollegen sehr herzlich und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit im Deutschen Bundestag.
Am 30. Dezember 1977 hat die Abgeordnete Frau Pieser ihren 60. Geburtstag gefeiert. Ich spreche der Abgeordneten Frau Pieser unsere herzlichen Glückwünsche aus.
Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne hat eine Delegation der Fraktion der Sozialistischen Partei Spaniens in der spanischen Abgeordnetenkammer Platz genommen, die auf Einladung der Fraktion der SPD die Bundesrepublik Deutschland besucht. Ich habe die Ehre, Herrn Generalsekretär Gonzales und die Mitglieder seiner Delegation zu begrüßen.
Der Deutsche Bundestag, der als erstes ausländisches Parlament eine offizielle Verbindung zur spanischen Abgeordnetenkammer hergestellt hat, verfolgt mit Interesse die parlamentarische Entwicklung in Spanien. Alle seine Fraktionen unterstützen die Bemühungen um die Eingliederung Spaniens in die Europäische Gemeinschaft. Es ist uns daher eine besondere Freude, spanische Parlamentarier im
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4960 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Präsident CarstensDeutschen Bundestag willkommen zu heißen. Wir wünschen Ihnen einen erfolgreichen und angenehmen Aufenthalt in Deutschland.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 2 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die 4. Bundesregierung der sozialliberalen Koalition beginnt das neue Arbeitsjahr in Zuversicht, zugleich in dem festen Willen, auch im Jahre 1978 den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden.Unser Land ist am Beginn des neuen Jahres nicht sorgenfrei. Wie könnte das auch sein in einer Welt, mit der wir auf das engste verwoben sind, in welcher der Friede gefährdet ist und in der viele wirtschaftliche Kräfte brachliegen. Auch bei uns haben immer noch viele Menschen keine Arbeit, darunter viele Frauen, Jugendliche und ältere Büroangestellte. Nicht alle Jugendlichen haben den Ausbildungsplatz für Beruf oder in der Schule, in der Universität, den sie sich wünschen, und manche haben gar keinen. Der Terrorismus ist noch nicht überwunden. Das Verhältnis zum anderen Teil Deutschlands ist nicht frei von Belastungen.Aber trotzdem: Es geht uns heute nicht schlechter, sondern vielmehr besser als vor zwölf Monaten, am Beginn des letzten Jahres.
Es geht uns besser. Die Realeinkommen unserer Bürger einschließlich der Renten sind wiederum merkbar gestiegen. Wohngeld und Kindergeld wurden erhöht. Die Ausbildungsförderung wurde verbessert. In der Wirtschaft sind 1977 sehr viele Ausbildungsplätze neu geschaffen worden. Durch Eingrenzung des Numerus clausus ist eine kontrollierte Öffnung der Hochschulen erreicht. Unsere Soldaten erhalten mehr Sold. Die Arbeitsförderung ist gezielt verbessert worden. Wir haben eine fühlbare Dämpfung des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen zustande gebracht und hoffen, daß dies so bleibt. Der § 7 b der Einkommens- und Lohnbesteuerung ist erweitert worden, damit unsere Städte wohnlich bleiben. Wir haben mit Wirkung vom 1. Januar dieses Jahres die Steuerbelastung aufs Ganze dauerhaft gesenkt und damit die Kaufkraft erhöht, für Haushalte der privaten Bürger genauso wie für die Unternehmungen. Das 16-Milliarden-Programm für Zukunftsinvestitionen ist gut in Gang gekommen. Die Steinkohlenbasis unserer Energieversorgung ist stärker abgesichert worden als zuvor.Entgegen den Schwarzmalereien der Opposition ist unsere soziale Sicherung trotz der Belastung aus der Wirtschaftsentwicklung keineswegs zusammengebrochen; der Generationenvertrag hält.
Wir haben entgegen den Unkenrufen der Oppositionkeinerlei Beschleunigung der Inflation, sondern vielmehr die niedrigste Preissteigerungsrate seit sieben Jahren und die niedrigste in der ganzen Europäischen Gemeinschaft.
Dies alles ist erreicht ohne einen wesentlichen Beitrag der Opposition. Die Opposition hat sich, wie Herbert Wehner zum Jahreswechsel zutreffend geschrieben hat, bis heute in die Rolle einer konstruktiven Alternative nicht hineingefunden.
— Sie sind personell zerstritten.
Sie eifern miteinander in der Propagierung von Krisen und im Versuch, Angst zu erzeugen.Für uns war das Jahr 1977 ein Jahr harter Arbeit. Wir haben nicht alle Hoffnungen erfüllen können, vielleicht manche Erwartung sogar enttäuschen müssen.
Aber trotz anhaltender Weltwirtschaftskrise und trotz terroristischer Bedrohung hat sich die Bundesrepublik 1977 erneut als wirtschaftlich stabil, als sozial sicher, als in ihrer Rechtsstaatlichkeit gefestigt und in ihrer innen- und außenpolitischen Entfaltung als stetig bewährt.
In den kommenden Wochen wird der Bundestag mehrfach in Plenardebatten über Aufgaben unseres Landes in diesem Jahr 1978 diskutieren. Der Jahreswirtschaftsbericht, die Haushaltsberatungen nächste Woche, der Bericht über die Lage der Nation, die Gesetzgebung zur inneren Sicherheit, all dies werden Gelegenheiten sein, im Detail zu den Sachen zu sprechen.Ich will dem heute nicht vorgreifen, sondern zu einigen Hauptaufgaben unserer Politik für 1978 einige Bemerkungen machen und zugleich über einige Erfahrungen der letzten Wochen und Monate berichten. Ich habe dabei nicht die Absicht auf Vollständigkeit.Zum ersten. Wir begreifen die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Sicherung des Friedens in der Welt auch im Jahre 1978 als wichtigste Aufgabe unseres Staates — vor unserem eigenen Volke und gegenüber unseren Nachbarn.Der Frieden bleibt die Grundbedingung unserer Existenz. Dafür gibt es keinen Ersatz. Die Erhaltung des Friedens verlangt, daß das Netzwerk der Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg sorgsam gepflegt und gestärkt wird, daß wir jede realistische Chance zur Verminderung von Kriegsgefahren wahrnehmen und daß wir redlich an der Verminderung des internationalen Konfliktpotentials mitarbeiten.Überall in der Welt hoffen die Menschen, daß die Last der Verteidigungskosten abnimmt und das eingesparte Geld für größere Wohlfahrt der Völker und für materielle Gerechtigkeit verwendet werde. Machen wir uns nichts vor: Der Weg zu diesem Ziel bleibt steinig und sehr lang.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4961
Bundeskanzler SchmidtDennoch: Mehr Menschen als je zuvor und mehr Regierungen sind bereit, den Weg friedlicher Zusammenarbeit zu gehen. Das gilt für die Nationen des Westens. Es gilt auch — das habe ich bei meinen Begegnungen und Gesprächen gespürt — für die Völker und die politischen Führungen in Osteuropa und im Nahen Osten.Wir sind entschlossen, zu unserem Teil der gemeinsamen Verantwortung gerecht zu werden. Denn Frieden durch Entspannung erfordert zwar die Bereitschaft zuvörderst der Großmächte, ist aber keineswegs eine Sache allein der Großmächte.Zum zweiten. Im Inneren konzentrieren . wir unsere Kraft auf die weitere Stärkung der Wirtschaft und auf die Erzielung höherer Beschäftigung. Bundestag und Bundesregierung haben 1977 dafür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Jetzt sind die anderen am Wirtschaftsleben Beteiligten am Zuge, die staatlichen Vorleistungen in zusätzliche Beschäftigung umzusetzen. Wir brauchen ein Wachsturn, das ausreichend ist, um Menschen in Arbeit zu bringen, die arbeiten wollen und die die erforderlichen beruflichen Qualifikationen entweder mitbringen oder sie erwerben wollen.Bei meinem Besuch in Ägypten habe ich festgestellt, wie sehr dort beides, die Hoffnung auf Frieden und der Wunsch nach wirtschaftlichem Fortschritt, die Menschen beschäftigt. Vor kurzem haben sich im Nahen Osten in dem Gebiet jahrzehntelanger Krisen der Weltpolitik hoffnungsvolle Entwicklungen angebahnt. Während des Besuchs in Kairo und schon in den vorangegangenen Gesprächen mit dem israelischen Außenminister Dayan hier in Bonn haben wir den Eindruck gewonnen, daß sich nach Jahren der uns alle bedrückenden und friedensbedrohenden Ausweglosigkeit die Lage im Nahen Osten nun durch die mutige Initiative, Präsident Sadats durchaus auch im Bewußtsein der Menschen tiefgreifend verändert hat. Diesem Mut entspricht auf der anderen Seite die sichtbar gewordene Bereitschaft der Israelis und des Ministerpräsidenten Begin, ihre bisherigen Positionen zu überdenken. Und diesem Mut Sadats entspricht die wachsende Bereitschaft ihrer Völker, aufeinander zuzugehen, aus der gefährlichen, über 30 Jahre andauernden Konfrontation herauszukommen, die Lebensrechte des anderen zu respektieren und miteinander Frieden zu machen.Was die Nachrichten angeht, die gestern abend aus Jerusalem kamen, so soll sich niemand der Täuschung hingeben: Nach Jahren des Schießens, nach 30 Jahren des Nicht-Miteinander-Redens brauchen die Völker Geduld und brauchen die Staatsmänner dort Beharrlichkeit.Präsident Carter kümmert sich — das hat nicht nur sein Gespräch mit Sadat in Assuan gezeigt — mit Engagement um die nahöstliche Friedenslösung. Ich könnte mir denken, daß der amerikanische Präsident am heutigen Tage, an dem er seine traditionelle „State-of-the-Union-Message" abgibt, auch darüber sprechen wird.Ich habe in Ägypten bekräftigt, daß die Bundesregierung fest zu der gemeinsamen Nahost-Politikder Europäischen Gemeinschaft steht, wie sie z. B. in der Erklärung des Europäischen Rats vom 29. Juni des letzten Jahres zum Ausdruck kam. Nach unserer Auffassung liegt in der Palästinenserfrage — das betrifft also die Zukunft des WestJordanlandes, des Gazastreifens und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser — der Schlüssel für eine umfassende Friedenslösung. Im Rahmen dieser Lösung muß das Recht Israels, in gesicherten Grenzen zu leben, gewährleistet werden.Die gegenwärtigen zweiseitigen Bemühungen müssen letztlich in die Genfer Konferenz einmünden, in deren Rahmen den beiden dort den Vorsitz führenden Mächten eine besondere Verantwortung für die. konstruktive Lösung dieses 30jährigen Konflikts zukommt. Wir in Europa haben ein vitales Interesse daran, daß dort ein umfassender Frieden hergestellt wird.Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Ägypten sind die Beziehungen gut. Unser Beitrag zum Aufbau der ägyptischen Wirtschaft war schon in der Vergangenheit beträchtlich; er wird in diesem Jahr noch höher sein. Wir werden unsere traditionell freundschaftlichen Beziehungen zu Ägypten pflegen und ausbauen.Ich bin in Assuan auch mit dem somalischen Präsidenten, Siad Barre, zusammengetroffen und habe ihm nochmals für seine Unterstützung im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gedankt.
Ich habe auch das Bedauern der Bundesregierung über die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Äthiopiern und Somalen und unsere Hoffnung auf baldigen Frieden ausgesprochen. Wir halten uns aus diesem Konflikt heraus. Eine dauerhafte Lösung kann nur durch die Afrikaner selbst und nicht durch Einmischung von außen gefunden werden.Wir liefern auch in Zukunft keine Waffen in Spannungsgebieten der Dritten Welt. Unsere stark erhöhten Leistungen dienen dem wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich, keinem anderen Zweck; so auch in Somalia.Die Aufgaben sind groß. Wir halten uns vor Augen, daß in den letzten 30 Jahren mehr als 100 Staaten neu entstanden sind und sich die Weltbevölkerung in dieser Zeit von zwei Milliarden auf vier Milliarden Menschen verdoppelt hat. Im Jahre 2000 werden sechs Milliarden Menschen auf der Welt leben, vier Fünftel davon in den Entwicklungsländern. Wir bleiben bereit, unsere Anstrengungen im Rahmen unserer Möglichkeiten zu verstärken. Wir bleiben den ärmeren Ländern — das prägt sich 1978 im Vergleich zum vorangegangenen Jahr ganz besonders stark aus — beim Aufbau ihrer Wirtschaft ein zuverlässiger und fairer Partner. Allerdings erwarten wir Solidarität dann auch in umgekehrter Richtung.Wir hoffen, daß die internationale Kommission unter dem Vorsitz Willy Brandts Vorschläge erarbeiten kann, die realistisch sowohl die Notwendigkeiten
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Bundeskanzler Schmidtund Möglichkeiten als auch die Grenzen von Maßnahmen zur Verringerung des Nord-Süd-Gefälles auf der Welt aufzeigen. Dafür sind nicht nur die Länder des Westens verantwortlich. Ich bedauere deshalb, daß sich die Staatshandelsländer auf diesem Felde immer noch sehr zurückhalten. Ich meine, daß der Ausgleich zwischen Nord und Süd für die Zukunft der Menschheit, für die Erhaltung des Weltfriedens eine ähnliche Bedeutung gewinnt wie der Ausgleich zwischen Ost und West. Ich denke, daß sich der Osten von dieser Verantwortung für die Dritte Welt nicht freizeichnen kann.
Unsere Beziehungen zu den Völkern Osteuropas bauen wir im Geiste der von Willy Brandt und Walter Scheel eingeleiteten Normalisierung weiter aus. Was damals begonnen wurde, was später im Schlußdokument von Helsinki eine die Regierungen Europas und Nordamerikas einbindende politische Verpflichtung gefunden hat, hat sich als fruchtbare Grundlage der Politik für Entspannung, für Zusammenarbeit erwiesen. Und wenn wir auch — wie die Folgekonferenz in Belgrad zeigt — mit unseren eigenen Erwartungen Geduld haben müssen, so setzen wir weiterhin in Geduld auf diese Abmachung. Wir haben ja auch Erfolge gehabt, vor allem in unmittelbaren Verbesserungen für sehr, sehr viele Menschen.Um ein Beispiel für viele andere zu geben: Im Jahre 1975 hatte die Zahl der Deutschen, die aus den osteuropäischen Ländern zu uns in die Bundesrepublik Deutschland gekommen waren, 19 300 Menschen ausgemacht. 1977 ist diese Zahl auf 54 200 Menschen gestiegen. Dabei sind noch nicht einmal diejenigen eingerechnet, die aus dem anderen Teil Deutschlands zu uns gekommen sind.
Meine Reise in die Volksrepublik Polen und der Besuch bei Herrn Gierek Ende November hat in der Fülle der Begegnungen und Gespräche sehr deutlich gemacht, daß wir gerade mit diesem Land und mit seinem Volk auf gutem Wege sind, die Normalisierung zur Aussöhnung hin zu vertiefen. Wir können Trennendes überwinden und Gemeinsames schaffen. Wir haben schon bisher mehr Verbesserungen der praktischen Zusammenarbeit zustande gebracht, als mancher zu hoffen gewagt hatte; mancher in der Opposition hat dies wohl schlechthin für unmöglich gehalten — damals.Das deutsch-polnische Verhältnis ist auf besondere Weise Spiegelbild all dessen, was es in Europa in einer tausendjährigen Geschichte an freundschaftlicher Nachbarschaft, an wechselseitiger geistig-kultureller Durchdringung und Befruchtung einerseits, aber auch an zugefügtem Leid, an Schuld und Irrwegen andererseits gegeben hat. Ich habe in Auschwitz daran erinnert, daß es ohne Erkenntnis der Vergangenheit keinen Weg zu unbefangenen Beziehungen zwischen den Völkern geben wird.Unsere Länder gehören heute zu verschiedenartigen Gesellschaftssystemen und Bündnissen. Diese Unterschiede leugnen wir nicht und verwischen wir nicht; das tun die Polen auch nicht. Die geschichtlichen und ideologischen Ursachen dieser Gegensätze sind diplomatisch nicht aufhebbar. Aber Deutsche und Polen können und werden — das Vergangene nicht vergessend, aber die Vergangenheit doch als Verpflichtung begreifend — eines Tages ganz normale Nachbarn sein wie andere Völker auch. Diese ganz normale Nachbarschaft beziehe ich auf unser Verhältnis zu allen Völkern Osteuropas.
Mein Besuch vor wenigen Tagen in Rumänien fügt sich in die langjährige Entwicklung einer fruchtbaren Zusammenarbeit ein. Rumänien hat ja mit der sehr frühen Herstellung diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland der Entspannung einen nachwirkend fruchtbaren Dienst erwiesen. Ich habe gegenüber Präsident Ceausescu zum Ausdruck gebracht, daß wir in Rumänien im Politischen wie im Wirtschaftlichen einen Partner von beträchtlichem Gewicht sehen. Wir sind bereit, die wirtschaftlichen Beziehungen — trotz der Probleme, die wir haben — zu vertiefen. Die Kooperation in Form deutsch-rumänischer Unternehmen hat sich durchaus hoffnungsvoll entwickelt, wenn auch immer wieder Schwierigkeiten entstehen, die sich nun einmal aus den unterschiedlichen Wirtschaftssystemen ergeben.Wir dürfen übrigens erwarten, daß die Zahl der deutschen Volkszugehörigen, die im Wege der Familienzusammenführung aus Rumänien hierher ausreisen dürfen, in den nächsten Jahren hinter der 1977 erreichten, bisher höchsten Zahl von über 10 000 Menschen nicht zurückbleiben wird.Natürlich behält in unserer Osteuropapolitik unser Verhältnis zur Sowjetunion zentrale Bedeutung. Dieses Verhältnis hat sich im vergangenen Jahr in Richtung auf Normalisierung weiterhin entwickelt. Dazu haben der politische Dialog durçh den offiziellen Besuch von Bundesminister Genscher in der Sowjetunion und dazu haben die von ihm geführten Außenministerkonsultationen in New York beigetragen.In der wirtschaftlichen Zusammenarbeit war die Bundesrepublik Deutschland auch 1977 bedeutendster Westhandelspartner der Sowjetunion. Wir rechnen damit, daß das hohe Volumen des beiderseitigen Warenaustausches von zirka 11 Milliarden DM auch 1978 erreicht wird. Manches verläuft durchaus mühsam; aber die kürzliche Vergabe von Großaufträgen an drei deutsche Unternehmen für den Bau des Hüttenkombinats in Kursk und weitere langfristige Projekte haben eine solide Grundlage für die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den nächsten Jahren geschaffen. Ich teile daher voll und .ganz die positiven Erwartungen, die das sowjetische Staatsoberhaupt, Generalsekretär Breschnew, dazu vor kurzem geäußert hat.Herr Breschnew wollte die Bundesrepublik Deutschland in den Tagen vom 16. bis 19. Februar 1978 besuchen. Ich bedaure, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht kommen kann. Er hat vorgestern durch Botschafter Falin vorgeschlagen, wegen seines Ge-
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Bundeskanzler Schmidtsundheitszustandes — infolge seiner erst kürzlich überstandenen Erkältungskrankheit — den Besuch auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. Ich habe Herrn Breschnew meine besten Wünsche für eine rasche Wiederherstellung seiner Gesundheit übermittelt. Die beiden Regierungen werden in Kontakt bleiben, um so bald wie möglich einen neuen Termin für den Besuch, dem wir große politische Bedeutung beimessen, zu vereinbaren.An dieser Stelle füge ich ein: Wir wissen, daß Berlin eine empfindliche Stelle, ein Prüfstein bleibt in unserem Verhältnis zum Osten. Das Viermächteabkommen hat entscheidend zur Stabilisierung der Lage der Stadt beigetragen, und wir vertrauen darauf weiterhin.Wir vertrauen ebenso auf den Willen der beiden Großmächte, zu tragfähigen Vereinbarungen über die Rüstungsbegrenzung zu gelangen. Wir hoffen, daß es gelingt, die SALT-II-Verhandlungen im Laufe des Jahres 1978 zu einem Abschluß zu bringen, der durch Festlegung eines nuklear-strategischen Gleichgewichts das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West stabilisieren hilft.Die Bundesregierung stellt mit Genugtuung fest, daß die amerikanische Regierung die SALT-Konsultationen im Bündnis intensiviert und sich erneut ausdrücklich dazu bekannt hat, die Sieherheitsinteressen und die Belange des Bündnisses in diesen Verhandlungen voll zu berücksichtigen. Uns liegt an der Förderung auch des Wiener MBFR- Dialogs zwischen den Staaten der NATO und des Warschauer Paktes. Die Herstellung gleicher Personalstärken auf beiden Seiten des Reduzierungsraumes würde alle bestehenden Ungleichgewichte zwar noch nicht beseitigen, aber sie wäre ein substantieller Beitrag, ein ernstzunehmendes Zeichen für den Willen, die militärischen Stärken an den Erfordernissen des Gleichgewichts auszurichten.Im Westen, meine Damen und Herren, kann am Ende des ersten Amtsjahres von Präsident Carter kein Zweifel daran bestehen, daß unsere amerikanischen Freunde — so wie wir — die Nordatlantische Allianz weiterhin als das Kernstück gemeinsamer europäisch-amerikanischer, dem Frieden dienender Sicherheitspolitik verstehen.Wir sehen in der Verpflichtung Amerikas für die Unverletzlichkeit des demokratischen Europas, die der amerikanische Präsident vor kurzem in der Normandie an einer für Europa und — seiner geschichtlichen Lehre wegen — auch für uns Deutsche besonders erinnerungswürdigen Stätte bekräftigt hat, eine Garantie, auf die wir in Zukunft genauso vertrauen können wie bisher. Wir können unverändert auf den Schutz durch das Bündnis setzen, und wir leisten unverändert dazu unseren Beitrag.Die festen Bindungen zwischen Europa und Amerika sind erneut auch auf der letzten Gipfelkonferenz der NATO in London und auf der Herbsttagung in Brüssel sehr deutlich geworden.Vor 200 Jahren haben die Gründungsväter der Vereinigten Staaten den „pursuit of happiness", die Suche nach Glück, als Programm zur Verwirklichung persönlicher Freiheit postuliert und in dieWelt getragen. Präsident Giscard d'Estaing hat bei seinem Treffen mit Präsident Carter in der Normandie vom „pursuit of peace" als der programmatischen Forderung des 20. Jahrhunderts gesprochen.Ich wünsche mir, daß wir Europäer, die Geschichte vor Augen habend, empfindsam bleiben für den Wert dieser Partnerschaft mit Nordamerika, die ja weit mehr ist als ein Zweckbündnis, die über den Verteidigungszweck hinaus eine auf Dauer angelegte Völkerfreundschaft ist, eine Freundschaft aus gemeinsamen geschichtlichem und geistigem Erbe.
Innerhalb der westlichen Völkerfamilie hat die Europäische Gemeinschaft trotz der nunmehr vier Jahre andauernden Weltwirtschaftskrise ihre Prüfung besser bestanden, als angesichts der nach wie vor gravierenden Unterschiede in den nationalen Interessen und der gravierenden Unterschiede in den Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die einzelnen Mitgliedsländer viele befürchten mußten. Die Gemeinschaft hat bisher die Staaten vor dem Rückfall in Handelsprotektionismus, vor dem Rückfall in Autarkiestreben und Eigensüchtelei bewahren können. Für uns ist sie und bleibt sie unverzichtbare Solidargemeinschaft.Es ist der Gemeinschaft gelungen, Entscheidungen zu treffen, die ihren weiteren inneren Ausbau ermöglichen. Übrigens sehe ich — ich füge das hier ein —, ebenso wie es auch die dänische Regierung sieht, die gegenwärtige Stagnation bei den Fischereiverhandlungen mit Besorgnis. Die bisherige Verzögerung einer Einigung über ein europäisches Fischereiregime hat dazu geführt, daß auch in den Verhandlungen mit Drittländern noch keine Ergebnisse erzielt werden konnten. Die Europäische Gemeinschaft hat dadurch als Verhandlungspartner gegenüber Dritten wertvolles Terrain verloren.Wir appellieren an die Solidarität der Mitgliedstaaten, auf Sonderwünsche zu verzichten, die mit dem Geist der Gemeinschaft unvereinbar sind.Wir haben beim letzten Europäischen Rat im Dezember 1977 in Brüssel erheblich zur Einführung der Europäischen Rechnungseinheit beitragen können. Das war insgesamt ein bedeutsamer Schritt zur Konsolidierung der gemeinschaftlichen Finanzverfassung. Ein gerechtes Lastenverteilungssystem, das der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungskraft der Mitgliedstaaten entspricht, zeichnet sich ab. So ist die Arbeit des Fonds für regionale Entwicklung für weitere drei Jahre mit nunmehr insgesamt 4,8 Milliarden DM ausgestattet, und das läßt uns Fortschritte beim strukturellen Ausgleich erwarten.Diese Gemeinschaft der Demokratien, in die drei befreundete europäische Nationen — Portugal, Spanien und Griechenland — Einlaß begehren, beruht auf einem festen programmatischen Einigungswillen und beruht auch auf einem gestärkten Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Freundschaft bei den führenden politischen Kräften in all diesen Ländern.Mit dem französischen Partner führen wir am 6. und 7. des nächsten Monats ein weiteres Gespräch
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Bundeskanzler Schmidtunter Freunden. Dabei bleibt der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der am 22. dieses Monats seinen 15. Geburtstag erlebt, die solide Grundlage unserer Zusammenarbeit. — Mit dem englischen Partner gibt es ebenso einen stetigen und offenen Gesprächskontakt.Wir sahen mit Anerkennung, wie der italienische Partner im letzten Jahr unter der Leitung von Giulio Andreotti, den ich Anfang Dezember in Verona getroffen habe, in seinen Bemühungen um wirtschaftliche Stabilisierung vorangekommen ist. Wir hoffen, daß ein befriedigender Ausweg aus der Regierungskrise in Rom bald sichtbar wird.Meine Damen und Herren, ob nun Valéry Giscard d'Estaing, ob James Callaghan, ob Anker Joergensen — ich habe ihn vor wenigen Tagen in Kopenhagen ausführlich gesprochen —, ob Gaston Thorn oder Leo Tindemans oder die neuen Ministerpräsidenten in Irland oder in Holland oder demnächst in Italien: Wir zählen auf sie, und sie können auf uns zählen.
Was die beiden deutschen Staaten angeht, so werde ich demnächst hier den Bericht zur Lage der Nation zu geben haben. Außerdem wird die Bundesregierung die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Deutschlandpolitik beantworten. Ich habe deshalb nicht die Absicht, schon heute über alle Fragen der Deutschlandpolitik zu sprechen. Es ist aber notwendig, auf aktuelle Ereignisse heute einzugehen.Die Veröffentlichung eines als Manifest bezeichneten Papiers hat zu der Reaktion der Schließung des ,.Spiegel"-Büros in Ost-Berlin geführt. Die Bundesregierung hat mit diesem Papier nichts zu tun, aber manche der Reaktionen auf seine Veröffentlichung treffen uns. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten aus der Bundesrepublik Deutschland in der DDR zu schaffen, zu erhalten und zu verbessern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat durch ihre Vereinbarungen mit der Deutschen Demokratischen Republik erstmals eine Grundlage dafür geschaffen, daß unsere Journalisten in der DDR arbeiten können. Und das muß auch so bleiben. Wir wenden uns deshalb gegen alle Maßnahmen der DDR, die mit dem Geist der getroffenen Vereinbarungen und dem Geist gemeinsamer Absichtserklärungen nicht in Einklang stehen. Die Schließung des ,,Spiegel"-Büros ist ein schwerwiegender Eingriff in die freie Information und. Berichterstattung.Am vergangenen Sonntag haben DDR-Organe dem CDU-Vorsitzenden Dr. Kohl und anderen Kollegen die Einreise versagt. Diese willkürliche Einreiseverweigerung steht nicht im Einklang mit den im Grundlagenvertrag übernommenen Verpflichtungen, normale gutnachbarliche Beziehungen zwischen beiden Staaten zu entwickeln, und auch nicht im Einklang mit den Absichtserklärungen der Schlußakte von Helsinki. Die Bundesregierung hat gegenüber der Regierung der DDR in nachdrücklicher Formprotestiert und die Erwartung zum Ausdruck gebracht, daß die DDR ihr Verhalten ändert. Die damit eingetretenen neuen Belastungen sind ein Rückschlag. Ich erinnere deshalb an das, was ich — viele haben sich in gleichem Sinne geäußert — vor einem Jahr zur Fortsetzung der Vertragspolitik gesagt habe — ich zitiere —: Wir dürfen und werden uns von Scharfmachern von jenseits oder von diesseits der innerdeutschen Grenze in unserer auf Entspannung und Normalisierung gerichteten Politik nicht beirren und von ihr nicht abbringen lassen.
Es gibt auch heute und morgen zur Entspannung keine Alternative,
und wir wollen und dürfen Gleiches nicht mit Gleichem vergelten. Daran hindert uns einerseits schon das Grundgesetz — Art. 5 —, aber wir wollen andererseits auch niemandem Vorwände für Verhärtung und zunehmende Abgrenzung liefern. Wir wollen das nicht und wir dürfen das nicht im Interesse der Menschen im geteilten Land.
Es ist abwegig, diese politische Klugheit als Leisetreterei verächtlich machen zu wollen.
Unsere Reaktion war im Gegenteil — so muß es in schwierigen Situationen auch sein — von Festigkeit, aber auch von Gelassenheit bestimmt. Wir lassen uns nicht zu überzogenen Reaktionen provozieren; denn dies schadete der Entspannung in der Welt. Es schadet allen, wenn sich die beiden deutschen Staaten in einen Zustand der Konfrontation hineintreiben lassen oder in einem solchen Zustand verharren.
Ich bin überzeugt: Es liegt im dringenden Interesse aller Deutschen, es liegt im dringenden Interesse beider deutscher Staaten, den Entspannungsprozeß zu fördern und ihn nicht bloß hinzunehmen.Es hat — um auf ein anderes Feld zu kommen — seit 1949 unter allen Bundesregierungen schwere Spionagefälle gegeben. Auch die politischen Parteien sind von solchen Verratsfällen nicht verschont geblieben. Ich nenne als Beispiele nur die besonders herausragenden Fälle der Abgeordneten Schmidt-Wittmack, CDU, 1955, und Frenzel, SPD, 1960; ich nenne die herausragenden Fälle der im öffentlichen Dienst des Bundes tätig gewesenen Personen John 1955, Felfe 1961, Helbig 1963 und Guillaume 1974. Die gegenwärtige Spionageangelegenheit Lutze/Wiegel ist einer dieser vielen Verratsfälle, und seine Aufdeckung war ein Erfolg unserer Spionageabwehr.
Ich beabsichtige heute weder dem Strafverfahren noch den Erhebungen des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuß vorzugreifen. So-
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Bundeskanzler Schmidtviel steht aber fest: Dieser Verratsfall ist schwerwiegend; er wurde und wird von der Bundesregierung ernst genommen.
Die von einigen Politikern geäußerte Anschuldigung, die Bundesregierung wolle den Fall verharmlosen oder gar vertuschen, entbehrt der Grundlage.
Der zunächst entstandene Schaden konnte zum Teil gemildert werden. Gleichwohl müssen alle Umstände sorgfältig aufgeklärt werden.
— Wenn ich Ihre Zwischenrufe beantworten darf, meine Damen und Herren aus der Mitte, die Sie eigentlich rechts sitzen müßten:
Für Ihre selbstgerechte Kampagne gegen den Verteidigungsminister, welche offenbar die gerade erst begonnene Arbeit des Untersuchungsverfahrens präjudizieren soll, fehlt jede Voraussetzung.
Bundesminister Leber zögert keinen Augenblick,
sich im Untersuchungsverfahren Ihren kritischen Fragen zu stellen. Etwas anderes wäre, wie Sie ihn kennen, gewiß auch nicht seine Art.
Aber sowenig, meine Herren Zwischenrufer, wie Ihnen das Recht auf kritische und auf unbequeme Fragen verwehrt werden kann, sowenig haben Sie das Recht, die außerordentlichen Leistungen dieses Mannes für das Bündnis und für die Bundeswehr zu verdunkeln.
Manche bei Ihnen möchten einen Mann kaputtmachen, um damit die Regierung zu treffen — und deshalb die tägliche künstliche Dramatisierung.
Zu keinem Zeitpunkt Ihrer Regierungsverantwortung, in der ja viele ähnliche Fälle vorkamen, hat die jetzige Opposition Maßstäbe gelten lassen, die sie heute über Zwischenrufe im Plenum des Bundestages und über Zeitungsinterviews einführen möchte.
Es ist wahr, daß Georg Leber sich nicht nur hier im Lande, sondern im ganzen Bündnis hohes Ansehen erworben hat, daß er großes Vertrauen genießt, und ich füge eines hinzu und will dabei nicht polemisch wirken:
Die Kampagne der Opposition kann schließlich auf diejenigen zurückfallen, die sie veranstalten. Wenn in einer Demokratie das Bild vom Königsmord erlaubt ist: Diejenigen, die sich als Königsmörder
fühlen möchten, werden hinterher nie Könige, Herr Wörner.
Um bei den gegenwärtigen Lieblingsthemen der parlamentarischen Opposition noch ein paar Augenblicke zu verweilen, möchte ich zu dem in diesen Tagen bekanntgewordenen illegalen Abhörvorgang in Bayern folgendes feststellen.
— Ja, genauer gesagt, in München, denn es war ein Ortsgespräch, wie ich inzwischen gehört habe.
Es war ein Ortsgespräch.
Die Bundesregierung ist wie jedermann in der Bundesrepublik daran interessiert, daß jener Abhörvorgang restlos aufgeklärt wird. Die Attacke aus dem Dunkeln richtet sich gegen Herrn Strauß ebenso wie gegen die Bundesregierung. Sie richtet sich in Wahrheit gegen die gesamte Rechtsordnung unseres Staates.
Die Bundesregierung wird ja von Ihnen beschuldigt, Herr Abgeordneter Zimmermann. Mit welchem Recht?; das frage ich mich allerdings.
Die Bundesregierung hat deshalb unverzüglich eine unabhängige Persönlichkeit berufen — es ist Herr Staatssekretär a. D. Professor Ernst, den die Opposition gut kennt —, um in diesen Vorgang Licht zu bringen. Wir haben die Landesregierungen insgesamt und in besonderer Weise die bayerische Landesregierung — weil der Vorgang auf ihrem Gebiete spielt — gebeten, dabei zu helfen. Ich denke, es nutzt niemandem, sondern es untergräbt das Vertrauen in die Grundlagen von staatlicher Ordnung, wenn von einigen in der Opposition durch nichts belegte Vorwürfe in dieser Sache, haltlose Vorwürfe in Richtung Bundesregierung oder auch in anderer Richtung in die Welt gesetzt werden.Wir sollten gemeinsam daran interessiert sein, diesen Vorgang mit allem Nachdruck — auch durch die dem Parlament zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten — aufzuhellen und voreilige Vermutungen und Anschuldigungen beiseite zu lassen. Ich kann mich an das Schicksal voreiliger Anschuldigungen an die Adresse der Bundesregie-
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Bundeskanzler Schmidtrung in einem anderen Fall sehr wohl noch erinnern.
Eine Bemerkung zur Wehrdienstnovelle. Die Bundesregierung respektiert die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts.
Sie bedauert gleichwohl, daß es infolge dieser Anordnung nicht möglich ist, die Auswirkungen der Novelle über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Wegen der hohen Zahl derjenigen, die das im Grundgesetz verbriefte Recht der Kriegsdienstverweigerung in Anspruch nehmen, hat die Bundesregierung die Absicht, den Zivildienst erheblich auszubauen.
Auch unter den neuen Umständen muß es möglich bleiben, alle verfügbaren Zivildienstpflichtigen heranzuziehen. Es ist daran gedacht, in den nächsten zwei, drei Jahren die Zahl der Zivildienstplätze auf etwa 60 000 zu erhöhen. Es wird dazu notwendig sein, auch neue Einsatzbereiche zu erschließen. Dabei denkt die Bundesregierung besonders an den weiteren Ausbau der individuellen Altenbetreuung und Behindertenbetreuung sowie an Umweltschutz und Landschaftspflege.Wehrdienst und Zivildienst müssen gleichwertige und gleichbelastende Dienste für diejenigen sein, die sie zu leisten haben.
In der Innenpolitik werden uns die Beratungen über die anstehenden Gesetzesvorhaben die Aktualität des Terrorismus erneut vor Augen führen. Die Festnahmen in Holland und in der Schweiz, die Attentate in Italien, auch Anschläge — jüngst — in vielen anderen Ländern, zeigen deutlich, daß der Terrorismus nicht nur ein Land, sondern die Staatengemeinschaft insgesamt herausfordert.Ich begrüße deshalb, daß der Bundestag morgen dem Europäischen Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus zustimmen will.Innerhalb der Bundesrepublik wird die Fahndung mit Zähigkeit fortgesetzt.In der bevorstehenden Diskussion wird offenbar werden, daß wir uns über die Wege zur Bewältigung der terroristischen Herausforderung nicht immer einig sein können. Allerdings sind solche gelegentlich gehörten Ankündigungen wie die, wenn dieser oder jener Antrag der Opposition keine Zustimmung finde, dann werde man sich bei etwaigen neuen Anschlägen nicht mehr an gemeinsamer Beratung zur Rettung gefährdeter Menschen beteiligen, für mich unverständlich.Solche Ankündigungen sind doch auch gegenüber der parlamentarischen Mehrheit oder gegenüber der Bundesregierung untaugliche Instrumente. Wer in konkreter Gefahr Rat und Tat verweigernwollte, der muß dafür die Verantwortung auf sich nehmen.
Es bleibt notwendig, den Polizeien der Länder wie auch dem Bundeskriminalamt und dem Grenzschutz durch verbesserte personelle — —
— Ich bitte Sie, Herr Präsident, den Zwischenruf aufzunehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der Zwischenruf „Heuchelei", Herr Abgeordneter, entspricht nicht parlamentarischen Gepflogenheiten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es bleibt notwendig, den Polizeien der Länder wie auch dem Bundeskriminalamt und dem Bundesgrenzschutz durch verbesserte personelle und materielle Ausstattung — wir sind dabei — sowie durch verbesserte gesetzliche Voraussetzungen die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern.
Ich habe deshalb nicht nur mit Interesse, sondern durchaus auch mit Anerkennung die Ansätze zur wissenschaftlichen Erforschung der Ursachen des Terrorismus verfolgt, wie sie beispielsweise auf einer von der Christlich Demokratischen Union veranstalteten Fachtagung vorgetragen wurden.Alle diese -Versuche zeigen bisher eines: daß es nämlich eine einfache Erklärung, einen einzigen Grund, aus dem heraus alle diese Erscheinungen erklärt werden könnten, nicht gibt. Manche Vereinfacher möchten dies nicht wahrhaben; manche hausieren mit der These, daß ein allgemeines, weitausgreifendes Mehr an staatlicher Härte alles zum Besseren wende. Ich habe dem Bundestag schon bei anderer Gelegenheit- gesagt: Konkrete Gefahr kann Härte und Entschlossenheit verlangen, und wir sind dazu bereit und fähig; die Vorsorge für künftige Gefahren verlangt Voraussicht und Weisheit.
Auf dié Frage, wie es denn wohl komme, daß Deutschland, Italien und Japan am meisten vom Terrorismus bewegt werden, hat Marion Gräfin Dönhoff in einem Vortrag, der im Dezember in Frankreich gehalten wurde, eine Antwort zu geben versucht: Weil nirgendwo sonst in der freien Welt seit den 30er und 40er Jahren der Verschleiß an Moral und Autorität ähnlich groß gewesen sei und weil es eben darum in diesen drei Ländern besonders lange brauche, bis diese Werte wieder glaubhaft werden können. Sie hat berichtet, auf dem CDU-Kongreß sei von einer Überbetonung des Konflikthaften auf Kosten des Institutionellen in unserer Gesellschaft die Rede gewesen, von übertriebener Systemkritik, die sich schließlich gegen jede
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4967
Bundeskanzler SchmidtArt von Autorität und Herrschaft richte. Unser Gemeinwesen werde nicht mit ausreichender Zivilcourage gegen seine Verächter verteidigt. Ich finde dies alles sehr bedenkenswert.Im gleichen Vortrag wird von gewissen Assoziationen gesprochen: von deutscher Sehnsucht nach der reinen Lehre und nach dem Absoluten, nach kompromißlosem Einsatz für die Wahrheit, von dem irrationalen Zuge, der sich durch viele Stationen der deutschen Geschichte zieht.Übrigens findet Marion Dönhoff manche Reaktion auf den Terrorismus typisch deutsch. Sie erinnert daran, daß Bismarck 1878 zwei Attentate von wahrscheinlich geisteskranken Einzelgängern als Anlaß benutzte, den Reichstag aufzulösen und im neuen Parlament das Sozialistengesetz durchzusetzen - mit Vollmachten, die Vereine der Sozialdemokraten aufzulösen, Zeitungen zu beschlagnahmen usw.Sie erinnert an das Jahr 1894, in dem der französische Staatspräsident Carnot in Lyon durch einen Attentäter ermordet wurde. Dieser Vorgang hatte mit Deutschland nichts zu tun, aber er löste die sogenannte Umsturzvorlage des damaligen Reichskanzlers Fürst Hohenlohe in Berlin aus. Sie erinnert daran, daß im gleichen Jahr der. Mord an Kaiserin Elisabeth von Osterreich in Genf, der auch mit uns Deutschen nichts zu tun hatte, in Deutschland erneut den Ruf nach Sondergesetzen zur Folge hatte.Auch heute gibt es weitverbreitet die Vorstellung, nur mit Verschärfung der Gesetze könne man des Terrorismus Herr werden. Aber so einfach ist es nicht, und ein gesetzgeberisches Patentrezept dafür gibt es nicht.
Ich darf den Hinweis auf den Vortrag Marion Dönhoffs bitte mit dem folgenden Zitat beschließen. Sie schreibt:Rechtsradikale Maßnahmen gegen linken Terror, das kann nur zur Eskalation und zur Zerstörung des liberalen Rechtsstaates führen.Für die sozialliberale Koalition bleibt es deshalb dabei: Wir bemühen uns um eine nüchterne Gesetzgebungsarbeit. Die Gesetzgeber dürfen sich weder zur Ordnungshysterie hinreißen lassen, noch dürfen sie sich bloßer Duldung hingeben, als ob es zwischen Anarchismus und Reaktion nicht einen ganz breiten Raum gäbe für vernunftgemäß abgewogenes, auf ausgereiftes Urteil gegründetes, dem Grundgesetz gehorsames Handeln.
Der vorliegende Entwurf zur Strafprozeßordnung zielt vor allem auf eine Beschleunigung der Strafverfahren ab. Grundsätzlich gilt — und nicht erst seit den terroristischen Anschlägen, die dies besonders bewußt gemacht haben —: Recht muß im zeitlichen . Zusammenhang mit der Straftat gesprochen werden; Recht kann und darf sich nicht im Zeitablauf verlieren.
Wir möchten dem Staat die Machtmittel geben, die er braucht, und zwar im Ausgleich zwischendem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Bedürfnis nach Freiheit. Vor dem Bundesparteitag der Sozialdemokratie in Hamburg habe ich gesagt: „Wir müssen dem Terrorismus das Handwerk legen, aber wir dürfen andererseits nicht zulassen, daß ein Übermaß an staatlicher Autorität, an sogenannter Ordnung und an Zwang Platz greift." Unser Staat heute zeichnet sich vor den geschichtlichen Vorgängern der Bundesrepublik Deutschland durch wohlabgewogenen Ausgleich dieser Werte aus. Die Bundesregierung will weder die demokratische Glaubwürdigkeit, die wir international unter schweren Anstrengungen errungen haben, aufs Spiel setzen, noch möchte sie der Jugend, von der doch unsere Zukunft lebt, die Möglichkeit zu ihrer Identifikation mit diesem Staat erschweren.
Die Jugend weiß, daß die Anforderungen an ihre berufliche Qualifikation in Zukunft weiterhin steigen werden, nicht aber sinken. Wir alle müssen unser Bewußtsein dafür schärfen, daß die Sicherung des Ausbildungsangebots für die junge Generation Anstrengungen erfordert, wie man sie früher nicht gekannt hat. Diese Aufgabe gibt uns kein Recht zur Resignation, es gibt auch keinen Anlaß dazu. Wir hatten noch vor wenigen Jahren einen Rückgang im Ausbildungsplatzangebot, eine abwartende, passive Haltung der ausbildenden Wirtschaft und eine unnötige Verschärfung des Numerus clausus, ein Klima betriebsamer Entschlußlosigkeit, und dies bei rasch wachsenden Jahrgangsstärken.Durch gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern haben wir nun im letzten Jahr den Numerus clausus eingeschränkt. Durch die Kurskorrektur zugunsten beruflicher Bildung, durch Gesetzgebung, Finanzierung, durch Planung und Engagement aller Beteiligten sind 1977 fast 100 000 Ausbildungsverträge mehr abgeschlossen worden als zwei Jahre zuvor. Das ist in zwei Jahren ein Wachstum um 20 %. Eine Bilanz wird allerdings endgültig erst im nächsten Monat zu ziehen sein, wenn sich die Bundesregierung mit dem Berufsbildungsbericht 1978 befassen und dabei auch die Frage der Berufsausbildungsabgabe erörtern wird. Nicht alle Jugendlichen, die 1977 einen Ausbildungsplatz suchten, haben einen bekommen. In diesem Jahre 1978 wird die Nachfrage noch einmal voraussichtlich um 30 000. bis 40 000 zusätzliche Bewerber um eine Lehrstelle ansteigen.Mehr als 100 000 Schulabgänger, meine Damen und Herren, sind ohne Hauptschulabschluß, rund 400 000 ausländische Schüler dürfen in unserem Land nicht ins soziale Abseits geraten.
Ich nenne diese beiden Zahlen nur, um darzutun: Die Bewährungsprobe für unser Bildungs- und Ausbildungssystem in Wirtschaft und Schule dauert auch 1978 an, eine Probe für alle Beteiligten in der privaten Wirtschaft, in den Gewerkschaften, in den Ländern und im Bund.Auch die Studienreform steht leider immer noch am Anfang. Es besteht die Sorge, daß sich Hochschule und Gesellschaft entfremden. Gesellschaft
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4968 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Bundeskanzler Schmidtund Staat brauchen den kritischen, aber auch den selbstbewußten Dialog mit Hochschule und Studentenschaft. Extremistische Gruppen an einigen Hochschulen, die diesen Dialog unmöglich machen wollen, dürfen nicht und werden nicht die Oberhand behalten. Das kritische Urteil über die Gesellschaft durch permanente Diffamierung ihrer Institutionen zu verdrängen, das kann ebenso verhängnisvoll werden wie umgekehrt der Versuch, kritischen Geist als Sympathisantentum zu stigmatisieren. Der Weg von der Universität einer 5-Prozent-Elite hin zu einem Erziehungs- und Bildungsauftrag für über 20 % eines jeden Geburtsjahrgangs — dieses Ausmaß haben wir ja inzwischen erreicht — verlangt von Staat und Hochschule ein vertrauensvolles Zusammenwirken. Mit einem engmaschigen Netz bürokratischer Reglementierung ist den Universitäten einer modernen industriellen Massengesellschaft nicht geholfen.Auch die Studenten, denen niemand das Recht vorenthalten kann, sich wie andere Bürger auch mit ihren Problemen und mit ihren Interessen offen zu Wort melden, sich öffentlich zu Wort zu melden, werden sich selbstkritisch zu prüfen haben. Studienboykott, Ablehnung des Dialogs, das Niederschreien von Repräsentanten des Staates oder von politischen Repräsentanten, dies sind Beiträge zu einem bedenklichen Prozeß der Entfachung wechselseitigen Mißtrauens und wechselseitiger Angst. Die Vertreter des Staates und der politischen Parteien, die Studenten, aber auch die Professoren müssen bereit sein, miteinander zu sprechen und aufeinander zu hören.Die Veränderung in der Zahl und in der Alterszusammensetzung unserer Bevölkerung wird weit über die Studienplätze, weit über die Ausbildungsplätze hinaus unsere politischen Beschlüsse über viele Jahre hinweg nachhaltig beeinflussen. Bis zum Jahre 1974 wuchs unsere Wohnbevölkerung. Seit 1974 nimmt sie alljährlich um etwa 200 000 Personen ab. Das bedeutet z. B., daß der Bedarf an Kindergartenplätzen oder an Krankenhausbetten kleiner wird. An einigen Orten gibt es schon zu viele davon. Aber es bedeutet auch Konsequenzen für Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze. Für einige Jahre müssen wir der geburtenstarken Jahrgänge aus den 60er Jahren wegen mehr junge Leute ausbilden als früher. Danach werden dann die ausgebildeten jungen Arbeitnehmer nach mehr Arbeitsplätzen verlangen. Wenig später wird aber dieser Lehrlingsnachwuchs schon wieder zurückgehen, weil dann die geburtenschwachen Jahrgänge folgen. In den Jahren bis 1990 wird die Zahl derjenigen, die älter als 15 Jahre und jünger als 65 sind, also die Schicht der erwerbsfähigen Jahrgänge, um rund 1r/2 Millionen Menschen ansteigen. Von einer Gesamtbevölkerung von dann knapp 56 Millionen, wie heute geschätzt wird, stehen dann rund 39 Millionen im erwerbsfähigen Alter. Erst danach wird die Zahl der Erwerbsfähigen wiederum sinken.Daraus ergeben sich politische Nutzanwendungen für alle, zum ersten: heute Ausbildungsplätze schaffen und noch einmal Ausbildungsplätze schaffen, zum zweiten: Weitsicht über diese Zeiträume,die ich andeutete, bei allen dauerhaft wirksamen Strukturänderungen in unserer Gesellschaft. Zum dritten: Wir können den gegenläufigen Entwicklungen und diesen ständigen Schwankungen im Altersaufbau unseres Volkes nur dann gerecht werden, wenn wir in Wirtschaft und Staat genug Flexibilität und genug Anpassungsfähigkeit erhalten, damit das Gesamtsystem der sozialen Sicherung stabil bleiben kann.In der Krankenversicherung zeigen sich deutlich die ersten Folgen des Kostendämpfungsgesetzes: Die Mehrzahl der Krankenkassen hat für 1978 abermals stabile Beiträge angekündigt. Die zahlreich vor Jahresfrist geäußerten Befürchtungen sind nicht eingetreten. Im Gegenteil: Bei Patienten und Ärzten, Versicherten und Krankenkassen gibt es erfreulicherweise ein stärker ausgeprägtes Kostenbewußtsein, ohne daß darunter die ärztliche Versorgung leidet. Dieser Erfolg ermutigt uns zu der für 1978 in Aussicht genommenen Novellierung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes.Die Entwicklung der Rentenversicherung ist bestimmt durch: erstens die Entwicklung der Löhne und Gehälter, zweitens die Zahl der beitragspflichtigen Erwerbstätigen und drittens die Zahl der Rentner. Die Hauptfaktoren sind demnach abhängig von der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung. Die Vorausberechnung der Finanzgrundlagen der Rentenversicherung ist deshalb abhängig von der Prognose, der Voraussage der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, d. h. von den sogenannten Eckdaten.In einer langen oder — lassen Sie mich besser sagen — längeren Zeit der Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums sind spürbare Auswirkungen auf das Rentensystem also unvermeidlich, und zwar auf beiden Seiten.
— Ich komme gleich darauf, Herr Katzer. — Denn gegenwärtig nimmt die Zahl der Beitragszahler noch ab z. B. durch die Rückwanderung ausländischer Arbeitnehmer, die Zahl der Rentner nimmt gegenwärtig zu, z. B. durch stärkere Inanspruchnahme der flexiblen Altersgrenze oder vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben, etwa auf der Basis von betrieblichen Sozialplänen.Rentenversicherung und gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit sind nun einmal aufs engste miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung bedeutet auf der einen Seite: Die Rentner haben voll am wirtschaftlichen Wachstum und an den Realeinkommensteigerungen teilgenommen. Sie bedeutet zum anderen: Wenn die Realeinkommen nicht mehr so stark wachsen, wird sich das auch auf die Rentner auswirken. In wirtschaftlich ungünstigen Zeiten müssen Einnahmen und Ausgaben der Rentenversicherung genauso im Gleichgewicht gehalten werden wie vorher und nachher.Dabei geht es allein um die Rentenzuwächse, um die Erhöhung jeder einzelnen Rente in der Zukunft. Die Rentenerhöhungen in der Zukunft haben nichts mit der Zahlung der Renten selber zu tun. Da soll
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4969
Bundeskanzler Schmidtman nicht so tun, als ob die Zahlung der Renten unsicher sei. Dies ist Unfug.
Jede Rente wird pünktlich gezahlt, auch in Zukunft, und sie wird auch in Zukunft erhöht. Aber wir müssen uns bei der Erhöhung — der langsameren wirtschaftlichen Entwicklung wegen — auf geringere Zuwächse einrichten.Man darf sich dabei — ich komme jetzt auf den Punkt, den der Herr Kollege Katzer eben schon durch Zwischenruf in den Brennpunkt rücken wollte — weder durch Pessimismus noch durch Optimismus irreführen lassen. Ich gebe zwei Beispiele. 1967 hat die Große Koalition — und Herr Katzer war einer der führenden Köpfe bei dieser Gelegenheit; er war damals Arbeitsminister; und ich habe, wie viele andere auch, seinen Entwürfen zugestimmt — unter dem Eindruck viel zu pessimistischer wirtschaftlicher Prognosen beschlossen, die Beiträge in der Rentenversicherung stufenweise von 14 auf 18 % des Bruttolohns zu erhöhen.
— Ich komme sofort zu Ihrer Frage, Herr Katzer; lassen Sie mich die Passage zu Ende führen. — Das geschah in einem einzigen gesetzlichen Akt, auf mehrere zeitliche Stufen verteilt.
Das waren 4 % des Bruttolohns.Aber schon wenige Jahre später war plötzlich mehr Geld in der Kasse, als man erwartet hatte. Daraufhin ist dann 1972 ein etwas übertriebener Optimismus ausgebrochen, nicht nur bei Ihnen, Herr Katzer, sondern auch bei anderen.
Daraufhin hat man sich 1972 über dauerhaft mögliche Leistungsverbesserungen ein bißchen getäuscht. Die sind dann zum Teil später notwendigerweise zurückgenommen worden.
— Bitte, wenn der Herr Präsident Ihre Zwischenfrage gestattet: Von mir aus gern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es tut mir leid, Herr Abgeordneter Katzer. Wir sind noch nicht in der Aussprache. Ich kann eine Zwischenfrage nicht zulassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will damit sagen, daß pessimistische und optimistische Prognosen gleichermaßen irreführen können und daß es die wirtschaftliche Entwicklung jetzt notwendig macht, tragfähige Lösungen der Schwierigkeiten zu suchen, ohne sich dabei zu verheddern. Wir werden es uns nicht leichtmachen. Wir werden darauf achten, daß die Lösungen Optionen nicht verbauen, die wir im nächsten Jahrzehnt für die Neuordnung der Rentenversicherung, wie es uns das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat und wie wir es auch wollen, zur Gleichbehandlung der Witwer- und derWitwenrenten brauchen könnten und heute bewußt offenhalten wollen.Sobald dann die Beratung des Jahreswirtschaftsberichts abgeschlossen ist und damit die der Vorausberechnung der Rentenversicherung zugrunde liegenden Eckdaten auf dem Tisch liegen, werden Kabinett und Koalition den alljährlichen Rentenanpassungsbericht und den Entwurf eines 21. Rentenanpassungsgesetzes vorlegen.Mit diesem Jahreswirtschaftsbericht wird die Bundesregierung Ende dieses Monats, also im Januar, auch die üblichen Jahresprojektionen geben. Solche quantitativen Schätzungen können immer und in der gegebenen weltwirtschaftlichen Situation erst recht nur Orientierungsgrößen sein, mehr nicht. Wir müssen dabei berücksichtigen, daß sich der Welthandel im Laufe des vorigen Jahres erheblich abgeflacht hat. Bei uns, die wir fast drei Zehntel unserer Wirtschaftsleistung im Export verdienen — das gilt genauso für fast drei Zehntel unserer Arbeitsplätze —, hat das dazu geführt, daß die Exportaufträge im abgelaufenen Jahr nicht jener Wachstumsmotor sein konnten, der die deutsche Wirtschaft in früheren Jahren angetrieben hat.Ich gehöre, was die Zukunft angeht, nicht zu den Pessimisten. Ich habe volles Vertrauen in die innere Stärke und die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Gleichwohl bin ich für Nüchternheit und die realistische Erkenntnis, daß die Spuren, die Auswirkungen der Weltrezession noch nicht beseitigt sind. In allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft verläuft die Entwicklung der Konjunktur gedämpft. Der Konkurrenzkampf auf den Weltmärkten ist härter geworden. Er ist auch ein Wettbewerb um Arbeitsplätze. Das Vordringen der Niedrigpreisländer schafft zusätzliche Probleme. Ich sehe mit Sorge, daß die Neigung zum Protektionismus und zum nationalen Subventionieren in einigen Ländern der Welt trotz gegenteiliger, trotz durchaus wohlklingender Absichtserklärungen noch nicht überwunden ist.
Ein Abbau der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung müßte aber die weitere wirtschaftliche Gesundung in vielen Staaten der Welt schwer gefährden.
Die Bundesregierung begrüßt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die öffentliche Erklärung durch Präsident Carter über die Bedeutung eines starken Dollars für die Weltwirtschaft. Die gegenwärtigen Probleme sind ja nicht von der Deutschen Mark verursacht; denn ein deutsches außenwirtschaftliches Ungleichgewicht, das die D-Mark unter derartigen Aufwertungsdruck gesetzt hätte, lag ja nicht vor. Wir haben unsere Leistungsbilanzüberschüsse seit 1974 kontinuierlich abgebaut und auf diese Weise anderen Ländern konjunkturelle Hilfestellung gegeben. Unser Kapitalexport hat erheblich zugenommen, nicht nur zur Freude derjenigen, die auf Arbeitsplätze im eigenen Land warten. Die Devisenbilanz war bis in den Herbst 1977 hinein nahezu ausgeglichen.
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4970 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Bundeskanzler SchmidtDas nun zwischen Amerika und uns, nämlich der Bundesbank, vereinbarte zusätzliche Kreditabkommen zeigt, daß die führende Wirtschaftsmacht der Welt bereit ist, ihre Führungsfunktion auch im Bereich der internationalen Währungsbeziehungen zu dokumentieren und zu stabileren Währungsverhältnissen in der Welt beizutragen. Immerhin haben auch die Zentralbanken der westlichen Industrieländer allein im •letzten Jahr zusammen 40 Milliarden Dollar zur Kursstützung aus dem Markt genommen und dafür jeweils ihre eigene Währung ausgegeben.
Trotzdem hat die Dollarschwäche Unsicherheit für die wirtschaftliche Erholung in vielen Ländern bereitet, auch für unsere Binnenkonjunktur, obwohl der Rückgang des Dollarkurses ja nur einen Teil der deutschen Exporte unmittelbar trifft und ein fühlbarer Teil unserer Importe, vor allem beim 01, dadurch bisher sogar verbilligt wurde.Unsere Konjunkturbelebung wird in erster Linie durch die binnenwirtschaftlichen Maßnahmen gestützt. Dagegen hat die Wechselkursentwicklung wesentlich dazu beigetragen, daß die Erträge der Unternehmen in der Bundesrepublik im letzten Jahr, im Jahre 1977, real um 2,5 % zurückgegangen, geschrumpft sind. Bei manchen Branchen und bei manchen Unternehmen sind sie sehr viel stärker zurückgegangen. Und es gibt andere Branchen, z. B. die Automobil-Branche, die sehr gut verdient haben. Aber im Durchschnitt sind die Erträge der Unternehmen real um 2,5 % gesunken.Die Wechselkursentwicklung führt auch zu stärkerem Rationalisierungsdruck in den industriellen Unternehmen. Das verschärft unsere Strukturprobleme. Die Wechselkursproblematik verschärft die Probleme z. B. in der Stahlwirtschaft, in der Luft- und Raumfahrtindustrie, in Schiffahrt und Schiffsbau. Die Bundesregierung, der Bundestag, der Staat wenden in diesen Bereichen beachtliche Mittel auf — nicht als Erhaltungssubventionen, sondern um den Anpassungsprozeß zu erleichtern. Aber dazu gehört dann auch ein starker und stabiler Dollar.Allerdings wird — wenn man es international betrachtet — das deutsche Kostenniveau nie wieder dort zu finden sein, wo es sich vor den weltwirtschaftlichen und währungspolitischen Unruhen befunden hat. Das liegt nicht etwa an mangelnder Einsicht der Tarifpartner hier in der Bundesrepublik, sondern es liegt daran, daß realistischerweise niemand damit rechnen kann, daß die D-MarkWechselkurse vom Sommer 1973 je wiederhergestellt werden können; niemand kann damit rechnen. Zwar sind die deutschen Lohn-Stück-Kosten in den letzten Jahren weniger stark gestiegen als bei den wichtigsten unserer Handelspartner oder Konkurrenten, aber diese vernünftige Kostenentwicklung in unserer Binnenwirtschaft ist durch die Verschiebung der Wechselkurse nach außen teilweise leider überkompensiert worden.Bei alle dem ist die Bundesrepublik Deutschland ihrer internationalen Verantwortung gerecht geworden. Wir haben im vergangenen Jahr das bei weitem größte Ankurbelungsprogramm beschlossen. Wir haben uns auch durch Ihre Kritik, meine Damen und Herren von der Opposition., an den angeblich zu hohen Budgetdefiziten, die zugegebenermaßen groß sind, nicht an diesem Investitionsprogramm und den damit verbundenen Steuersenkungen hindern lassen. Aber wir haben umgekehrt auch jenen ausländischen Ratgebern nicht folgen können, denen unsere bewußt herbeigeführten Haushaltsdefizite international gesehen viel zu klein erschienen und die uns zu viel größeren Haushaltsdefiziten raten, wie dies in den allerletzten Tagen die bedeutende und von mir immer ernst genommene amerikanische „New York Times" mehrfach getan hat. Dem sind wir auch nicht gefolgt. Denn wir wollen zwar zur Expansion der Weltwirtschaft beitragen, aber wir wollen nicht mitschuldig werden an einer neuen Runde der Inflationierung. Schließlich war doch die Weltinflation eine der Hauptursachen für die Ölpreisexplosion und für die Weltrezession.
Deswegen gehen wir, wenn Sie so wollen, den goldenen Mittelweg zwischen den Forderungen der Opposition hier, wir sollten die Defizite kleiner halten, und der Forderung mancher im Ausland, wir sollten sie gefälligst größer machen, und können uns auch bei einem geringeren als dem ursprünglich für 1977 erwarteten Wachstum im internationalen Vergleich mit unseren wirtschaftlichen Leistungen 1977 sehr gut sehen lassen. Es hieße übrigens die wirtschaftliche Kraft der Bundesrepublik Deutschland zu überschätzen, wenn einige Ausländer und Politiker im Ausland die Bundesrepublik Deutschland als die Lokomotive ansehen möchten, welche alle anderen Staaten gefälligst aus der Weltrezession ' herausziehen soll. Mit anderen gemeinsam geht das wohl, aber alleine? Darin läge eine große Überschätzung unserer Bedeutung.
Die CITI-Bank in New York hat kürzlich errechnet, wie sich 1 % — 1 %! — zusätzliches Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland in anderen Ländern auswirken würde. Sie hat ausgerechnet, 1 °/o mehr Wachstum bei uns würde das englische Wachstum um 0,05 % positiv beeinflussen oder das französische um 0,07 % usw. Ich habe das nicht bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma nachgerechnet. Aber dieses Zahlenbeispiel führt die bisweilen im Ausland beliebte Überschätzung der quantitativen Bedeutung unserer Volkswirtschaft auf ein vernünftiges Maß zurück.Binnenwirtschaftlich hat unser Gesamtstaat — das bezieht also die Länder und die Gemeinden mit ein — seit 1975 über 30 Milliarden DM für Konjunkturprogramme, Steuererleichterungen usw. eingesetzt. Dazu kommen jetzt in diesem Jahr nochmals 12 Milliarden DM an Steuersenkungen und Leistungsverbesserungen für die Bürger, für die Unternehmen. 12 Milliarden DM im Jahr; aber übrigens nicht nur für dieses eine Jahr, - denn unsere Entscheidungen sind ja auf Dauer angelegt und nicht, wie einige es auch gewollt haben, nur auf 12 Monate. Dabei ist die Mehreinnahme aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer schon abgezogen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4971
Bundeskanzler SchmidtDas ist eine noch nicht dagewesene Massierung öffentlicher Ausgaben und öffentlicher Einnahmeverzichte. Die Kaufkraft breiter Verbraucherschichten wird dadurch gestärkt, die Investitionskraft breiter Schichten in der Wirtschaft wird verbessert. Das gesamtstaatliche, Länder und Gemeinden einbezogen, Budgetdefizit wächst in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1978 auf 4 % des ganzen Bruttosozialprodukts an. Es ist übrigens sehr viel größer als das Budgetdefizit in den Vereinigten Staaten von Amerika, das, wie ich höre, 1978 etwa in der Größenordnung von 1 % liegen wird.Hinzu kommt bei uns eine nachhaltige Verbesserung der Investitionskosten — übrigens ja auch für den privaten Bauherrn, der sich ein Reihenhaus oder ein Einfamilienhaus bauen möchte — durch die Senkung der Zinsen. Ich darf den Präsidenten der Bundesbank, Herrn Dr. Emminger, zitieren:Die Zinsentwicklung in der Bundesrepublik hat sich inzwischen dem niedrigsten Niveau der Nachkriegszeit, dem von 1959 genähert; ja, die Zinssätze der Banken im Kreditgeschäft sind teilweise bereits niedriger als damals.Auch im Vergleich zu allen wichtigen Industrieländern haben wir mit Abstand die niedrigsten Zinssätze. Unser Diskontsatz z. B. beträgt 3 % gegen 6,5 °/o in Amerika. Bei Euro-Anlagen über drei Monate beträgt der Zinssatz 2,75 % gegenüber 7,5 % für entsprechende Dollar-Anlagen. Viel mehr kann man eigentlich nicht von der Kreditpolitik erwarten, zur konjunkturellen Erleichterung beizutragen.Das alles heißt, daß Bundesregierung und Bundesbank, soweit das binnenwirtschaftlich überhaupt möglich war, die Voraussetzungen geschaffen haben für eine weitere Stärkung der Wirtschaft, für den Abbau von Arbeitslosigkeit und für die Erhaltung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Der Erfolg hängt jetzt ganz wesentlich davon ab, daß die Unternehmensleitungen, daß die Tarifvertragsparteien, daß auch Länder und Gemeinden alle ihre Kräfte einsetzen. In unserem marktwirtschaftlichen System mit voller Lohnautonomie verteilt sich die Verantwortung für die wirtschaftliche Gesamtentwicklung auf viele Tausende, nein: auf Millionen von Schultern. Niemand, der durch sein Handeln Mitverantwortung trägt, kann sich davon freimachen.Das bedeutet, daß das verantwortungsbewußte Zusammenwirken aller zur Gesundung der Wirtschaft so notwendig bleibt wie jemals vorher.Das Gespräch der Unternehmerverbände und der Gewerkschaften mit der Bundesregierung ist niemals abgerissen. Alle Beteiligten wissen auch und erkennen an, daß das gemeinsame Gespräch der drei Seiten miteinander eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unserer Republik spielt. Wir dürfen das politische und soziale Klima, dem wir ein Gutteil unseres Wohlstandes verdanken, von keiner Seite aus gefährden. Ich hoffe, das will auch niemand.
Zu unseren Anstrengungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung gehörte auch das Heizenergie-Sparprogramm, das wir den Ländern vorgeschlagen haben und für das der Bund allein mehr als 2 Milliarden DM auszugeben bereit gewesen ist. Die Bundesregierung bedauert, daß einige — insbesondere die Ministerpräsidenten Albrecht und Filbinger in Hannover und in Stuttgart — nicht bereit waren, mit dem Bund zusammenzuarbeiten. Es ging ihnen um politische Konfrontation. Ich unterstreiche ausdrücklich die sehr harten Worte, die Graf Lambsdorff am Anfang dieser Woche dazu gesagt hat.
Man kann über vieles miteinander reden; aber man darf die Verpflichtung aller westlichen Industriestaaten, massiv und unverzüglich Energie einzusparen, in Stuttgart und in Hannover wegen örtlicher provinzieller Wichtigtuerei nicht hintanstellen.
Die Koalition und die Bundesregierung werden auf anderem Wege, auf gesetzgeberischem Wege, versuchen, dieses Ziel gleichwohl zu erreichen. Die Besorgnis des Attentismus bei vielen Investoren, der jetzt einreißen muß, haben die Herren zu tragen, die in Ausnutzung eines Verfassungsgerichtsurteils durch die Verweigerung einer nur formal abzugebenden Unterschrift zweier Landesregierungen das Zustandekommen einer bundeseinheitlichen Verwaltungsvereinbarung scheitern ließen.
— Wenn der Ordnungspolitiker Biedenkopf dabei den Kopf schüttelt, dann möge er sich hinterher — seine Rede ist ja angekündigt — mit dem Argument des Herrn Ministerpräsidenten Filbinger auseinandersetzen, diese Maßnahmen seien aus ordnungspolitischen Gründen abzulehnen gewesen. Sie waren in Wirklichkeit so marktwirtschaftlich, wie es nur sein konnte!
Ich will zur Energiepolitik zwei Punkte betonen. Die Kohle ist der Eckpfeiler unserer Energieversorgung. Wir haben vor zehn Jahren dafür gekämpft, daß uns die Option Steinkohle als. nationale Energiereserve erhalten bleibt. Wir werden diese Politik fortsetzen, und zwar durch die fortdauernde, massive finanzielle Unterstützung der Stromgewinnung aus Kohle; auch durch eine klarere, für die Gerichte verbindlichere Fassung der umweltrechtlichen Rahmenbedingungen auch für die Kohle.
Zweitens. Damit die nationale Energieversorgung langfristig gesichert ist, wird die Bundesregierung dafür eintreten, daß zu diesem Zweck für die Zukunft alle Optionen zur Energieversorgung offengehalten werden, auch die Option der Kernenergie. Nunmehr müssen die gemeinsamen Absichtserklä-
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Bundeskanzler Schmidtrungen für das Entsorgungszentrum in Niedersachsen und das vorgesehene Zwischenlager in Nordrhein-Westfalen zügig in die Praxis umgesetzt werden.Die Bundesregierung wird weder in der Energiepolitik noch an anderer Stelle die Erfordernisse des Umweltschutzes außer acht lassen. In jedem Fall wird der Schutz der menschlichen Gesundheit Vorrang haben vor anderen Zielsetzungen. Aber wir brauchen auch mehr Verständnis dafür, daß in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten der Umweltschutz nicht überall so rasch verwirklicht werden kann wie in Zeiten der Hochkonjunktur.Eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung hängt wesentlich ab vom Vertrauen in diese wirtschaftliche Entwicklung. Ich denke, wir haben mit unseren Maßnahmen die Grundlagen geschaffen, auf denen sich dieses Vertrauen bilden kann. Die Zuversicht bei den Unternehmern und bei den Arbeitnehmern ist gewachsen, auch wenn einige alles unternommen haben — z. B. in der Opposition —, um Pessimismus und Unsicherheit zu verbreiten. Es kommt darauf an, das vorhandene Vertrauen zu stärken. Bei den Bürgern ebenso wie in der Wirtschaft muß eine realistische, positive Erwartung unserer Zukunft an Boden gewinnen. Dafür trägt die Opposition mit Verantwortung.Einer Ihrer ehemaligen Kollegen, den wir alle noch in Erinnerung haben, hat vor einigen Wochen seinen Abonnenten geschrieben — ich zitiere —:Unter diesen Umständen— gemeint war die Fortdauer der sozialliberalen Koalition —denkt kein vernünftiger Unternehmer daran, Investitionen einzuleiten, auf daß er die Sorgen und das Risiko trägt, die Arbeiter und Angestellten sich indes in sozialem Wohlbefinden aalen.Ich will dies, was ein ehemaliger Kollege schrieb, nicht Ihrer Fraktion anlasten, aber es ist ein Beispiel dafür, daß manche Ratgeber um Mäßigung ersucht werden müssen. Gott sei Dank fallen nicht allzu viele Deutsche auf diese Miesmacherei herein.
Sie finden, meine Damen und Herren von den Unionsparteien, auch bei Frau Professor Noelle-Neumann bestätigt, daß drei Viertel unserer Bürger ihre persönliche wirtschaftliche Lage und ihre Aussichten positiv einschätzen. Wer dann diese positiven Erwartungen und die Hoffnungen von Millionen schon im Ansatz zerreden möchte, der handelt wider das Gesamtinteresse.Es läge im Gesamtinteresse, wenn die Opposition an die Stelle von Ablehnung und Polemik die eigene konstruktive Alternative setzte; sonst müßte der politische Wettbewerb unfruchtbar bleiben. Wenn ich der Auswertung einer Umfrage der KonradAdenauer-Stiftung bei 1900 CDU-Mitgliedern glauben darf, wird diese Meinung von sehr vielen Ihrer Anhänger, Herr Dr. Kohl, geteilt.
Auch die Gedankenspiele über eine vierte Partei, Herr Dr. Strauß, sind kein Ersatz für sachliche Alternativen.
Die Gründung einer neuen politischen Partei ist grundsätzlich ein ernst zu nehmender verfassungspolitischer Vorgang, und politische Parteien sind keine Briefkastenfirmen zur Erhöhung des Stimmenumsatzes.
Die Erinnerung an das Vielparteiensystem der ersten deutschen Republik sollte niemand von uns vergessen.Meine Damen und Herren, wir gehen in das Jahr 1978 mit der ermutigenden Erfahrung, daß unser Staat und unsere Gesellschaft im letzten Jahr schwere Belastungsproben erfolgreich bestanden haben. Zu dieser ermutigenden Erfahrung gehört das Vertrauen der Bürger in unsere staatliche Ordnung und in ihre Institutionen. Der Wert unseres Staates hatte uns lange Zeit nicht so deutlich vor Augen gestanden. Dies ist ein positives Resultat des Jahres 1977, ein Resultat, das jene, die diesen Staat bekämpfen, so gewiß nicht beabsichtigt hatten.Die Bereitschaft der politischen Parteien, in der Stunde der Bedrohung Verantwortung gemeinsam zu tragen, zeigte, daß die zweite deutsche Demokratie eine innere Festigkeit erreicht hat, die selbst von vielen Freunden Deutschlands so kaum erwartet worden war. Wohin man auch in der Welt kommt, überall erfährt die Bundesrepublik Deutschland eine gute Bewertung — politisch, ökonomisch, sozial, auch kulturell —, und keine ausländische Regierung in West oder Ost versteht das Maß an Zweifel und Skepsis, das einige Deutsche über ihr eigenes Land ausgießen.
Übrigens wird ja auch draußen kaum irgendwo etwas verstanden, was schon der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache — ich denke, berechtigterweise — beklagt hat, daß es nämlich in unserem Land, dem es doch insgesamt gut geht, nicht mehr Fröhlichkeit, nicht mehr Freude und nicht mehr gelassene Zuversicht gibt.
Ich möchte dazu am Schluß zwei urteilssichere deutsche Journalisten zitieren. In der konservativen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb zum Jahreswechsel Johannes Gross — ich darf zitieren —:Doch ist Unwohlsein nicht zu unterdrücken bei dem Gedanken, daß der Staat, der sich doch insgesamt in Dignität behauptet und zum ersten Mal seit seiner Gründung sein Recht in einem großen Schauspiel der Macht verteidigt hat, sich vornehmlich, ja fast ausschließlich seinen Bürgern in Trauerakten vorzuführen versteht und es im Hinblick auf das öffentliche Leben viel weniger eine Unfähigkeit zum Trauern als eine solche zum Freuen, zum Feiern zu beklagen gilt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
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Bundeskanzler SchmidtEine Unfähigkeit zum Freuen, eine Unnfähigkeit zum Feiern ist zu beklagen!
Und er fährt fort:
Ein Land, das seinen Wunden und Niederlagen Staatsakte widmet, sein Positives verschämt nur wahrhaben will und eigenen Ruhm zu besingen für unschicklich hält, ist in der Geschichte noch nicht vorgekommen.Das ist aus einer konservativen Zeitung. Ich denke, der Mann hat recht.Ein paar Tage später schrieb Rolf Zundel in einer liberalen Zeitung, in der „Zeit" aus Hamburg:Es muß wohl eine seltsame Unzufriedenheit, fast wäre man versucht zu sagen: eine unpolitische Besserwisserei im Spiele sein, die uns sagt, dies alles genüge nicht. So ist doch Politik — abgesehen von Ausnahmezeiten, die stets aufregend, aber selten glücklich waren — meist gemacht worden, nur oft um einiges schlechter. Eigentlich müßte man dankbar sein über so viel vernünftige Normalität, über zuweilen sehr schwierige, ja tapfere Pflichterfüllung.Rolf Zundel hat auch recht. Natürlich kann man nicht allem zustimmen, was diese beiden Herren schreiben, aber das Nachdenken über diese konservative und über diese liberale Mahnung zugleich lohnt sich.
Die Sozialliberalen werden unser Land auch in Zukunft gelassen und sicher durch die inneren und durch die äußeren Gefährdungen hindurchsteuern;
aber wir müssen auch alle anderen bitten, sich zu fragen, was sie selbst beitragen können. Vor kurzem ist Willy Brandt im amerikanischen Fernsehen gefragt worden, ob ein demokratisches Land von seinen Menschen zuwenig verlange. Er hat die Frage ganz schlicht bejaht, und er hat wohl recht.
Wir dürfen nicht bloß zur Teilhabe an materieller Wohlfahrt einladen,
sondern wir müssen uns auch die Frage vorlegen: Welche Aufgaben und welche Werte stellen wir dem Idealismus z. B. der jungen Leute vor Augen? An der Küste gibt es einen plattdeutschen Seemannsspruch, der, ins Hochdeutsche übertragen, heißt: Eine Hand für dich, die andere Hand für das Schiff. — Unser Schiff ist die res publica. Und zum Schluß: Fröhlichkeit darf auch dabei sein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Regierungserklärung gibt dem Deutschen Bundestag nach über sieben Monaten die erste Chance zu einer Generalaussprache über die deutsche Politik. Der Herr Bundeskanzler hat versucht, hier eine Bilanz der Bundesregierung nach fast einem Jahr vorzulegen. Herr Bundeskanzler, Sinn einer Regierungserklärung ist doch ganz gewiß, daß die Regierung den Bürgern unseres Landes Rechenschaft gibt, daß sie die Wege für die Zukunft weist, daß sie Antwort auf drängende, bedrückende Fragen gibt, Antwort auf die Probleme unseres Landes und Antwort darauf, wie es weitergehen soll.Herr Bundeskanzler, wer diese Regierungserklärung hörte, der fragt sich: Was tun Sie eigentlich wirklich gegen die andauernde Arbeitslosigkeit?
Eine Million Arbeitslose und ihre Familien warten auf Ihre Politik. Sie geben keine Antwort.
Herr Bundeskanzler, was tun Sie zur Sicherung der Renten? Neun Millionen Rentner warten auf Ihre Politik, und Sie geben keine Antwort.
Herr Bundeskanzler, was tun Sie wirklich zur wirksamen Bekämpfung des Terrorismus?
Alle Bürger der Bundesrepublik warten auf Ihre Politik, vor allem auch auf Ihren persönlichen Mut, endlich das Notwendige zu tun. Sie geben keine Antwort.
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen vom Rückschlag in der Deutschlandpolitik. Was tun Sie dagegen? Nichts. Sie geben keine Antwort.Herr Bundeskanzler, lassen Sie mich das ganz einfach so sagen: Wer Ihre Regierungsmannschaft hier auf der Bank sieht — nicht wenige haben Angst vor dem Blauen Brief zum nächsten Ersten.
Wer Ihnen in der letzten Stunde zugehört hat, der verspürt wenig Grund zu mehr Freude, zu mehr Fröhlichkeit und gelassener Zuversicht. Das ist nicht das, was Sie hier wiedergegeben haben.
Lassen Sie mich zu einigen Kapiteln der Regierungserklärung Stellung nehmen. Einige meiner Freunde werden heute und in der nächsten Woche zu anderen wichtigen Bereichen sprechen. Zunächst ein Wort zur Deutschland- und Ostpolitik. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung — dies ist offenbar — ist in eine kritische Phase eingetreten. Die Ursachen liegen sicherlich auch im Verhalten
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4974 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Kohldes SED-Regimes begründet. Aber diese Ursachen sind auch in der Politik der Bundesregierung zu finden. In diesem Punkt, Herr Kollege Wehner, stimme ich Ihnen ausnahmslos zu, wenn Sie Ihrer eigenen Regierung und damit dem Kanzler Mangel an Phantasie und Einsatz in der Handhabung der abgeschlossenen Ostverträge vorwerfen.
Diese Regierung hat Verträge abgeschlossen, die wesentliche Vorleistungen der deutschen Vertragsseite enthalten. Die Gegenleistungen der anderen Seite, der östlichen Vertragspartner, sind fast ausschließlich in Form von Absichtserklärungen erfolgt. Diese Absichtserklärungen sind für uns deshalb so wichtig, weil gerade sie auf die menschlichen Erleichterungen abheben, die ja im Mittelpunkt jeder Deutschlandpolitik stehen müssen. Ich. erinnere hier vor allem an den Art. 7 des Grundlagenvertrages.Mit Recht muß deshalb von der Regierung erwartet werden, daß sie mit ihren Verträgen Politik macht, daß sie Phantasie und Einsatz entwickelt, um von dem Vertragspartner im Osten endlich die Einlösung der Absichtserklärungen und weitere Schritte zur Normalisierung und Regelungen der Beziehungen zu erreichen.Herr Bundeskanzler, es ist doch ein Armutszeugnis für Sie und Ihre Regierung, daß der Fraktionsvorsitzende Ihrer eigenen Partei nach Ost-Berlin, nach Moskau und jetzt nach Prag reist, um — nach seinen eigenen Worten — den Durchbruch in den gegenseitigen Beziehungen zu erzielen, indem er an Ort und Stelle und auch hier in der Bundesrepublik die Bundesregierung wegen ihrer Untätigkeit, ihres fehlenden Einsatzwillens in der Deutschland- und Ostpolitik kritisiert. Dies alles trägt doch nicht zur Überzeugungskraft und zur Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik bei.Wer in diesen Monaten erlebt hat, wie die Stagnation und wie der Rückschritt in den Entspannungsbemühungen, auch im innerdeutschen Verhältnis, eintrat, der kann nur feststellen: Die Entwicklung in der DDR trifft diese Bundesregierung völlig unvorbereitet. Die Bundesregierung verfügt über kein Handlungskonzept. Auch das ist heute deutlich geworden. Die politischen Gegensätze innerhalb der SPD lähmen den Bewegungsspielraum für die Regierung auch in dieser Frage.Wir haben in diesen Wochen ein deprimierendes Beispiel im Zusammenhang mit der Reaktion der Regierung und der Sozialdemokraten vor allem auf die Veröffentlichung des Manifests aus der DDR erlebt. Diese Reaktion war enthüllend. Am Anfang stand die Verniedlichung und die Verharmlosung. Während die SED von einem „schlechten Silvesterscherz" ,sprach, bezeichneten Sie von der Sozialdemokratie das Manifest aus der DDR als einen „Neujahrscocktail". Als die SED darauf erste Maßnahmen gegen das „Spiegel"-Büro ergriff, erstarrten Sie in hilfloser Untätigkeit und schreckten sogar noch vor einem bloßen verbalen Protest zurück.Meine Damen und Herren, auch wenn Sie, Herr Bundeskanzler, hier vom Pult aus noch so dagegenprotestieren: Sie selbst haben das SED-Regime durch Ihre Leisetreterei und zögerliche Haltung geradezu ermuntert, entschlossen gegen uns zu handeln.
Vor was eigentlich sollte denn die SED nach diesen Reaktionen zurückschrecken? Ihre Regierung, die seit Jahren in der politischen Defensive verharrt, auf alle Verletzungen von Verträgen und Vereinbarungen und Schikanen, wenn überhaupt, nur schwächlich und konzeptionslos reagiert oder isolierte Vorstöße durch einzelne Vertreter der Regierungspartei, wie Wehner, Bahr, Gaus und andere, zuläßt und damit neue Zugeständnisse, neue Uneinigkeit im Regierungslager signalisiert, lädt die kommunistischen Machthaber der DDR geradezu dazu ein, ständig zu erproben, wie weit die Belastbarkeit dieser Regierung geht.
So hat die SED auch sofort die Schwäche der Bundesregierung genutzt. Während Sie, Herr Bundeskanzler, noch überlegt haben, ob sie einen offiziellen Protest einlegen, hat die SED-Führung den Spieß herumgedreht. Das Resultat haben wir erlebt. Die DDR hat zuerst offiziellen Protest gegen die „Spiegel"-Veröffentlichung eingelegt. Sie hat dann das Büro geschlossen. Und sie hat in einem Akt besonderer Demonstration in den letzten Tagen mir und anderen Kollegen aus. der CDU/CSU-Fraktion das Tagesvisum für Ost-Berlin verweigert.Hier ist vor allem die Verweigerung der Einreisegenehmigung für meine Kollegen Niegel und Glos interessant. Diese Verweigerung fand danach statt. Vorher war Herr Gaus im Außenministerium der DDR, und Herr Wischnewski hatte Herrn Kohl hier in Bonn empfangen. Beide hatten die Proteste abgegeben bzw. entgegengenommen.
Und gibt es eigentlich eine schallendere Ohrfeige für Sie, Herr Bundeskanzler, durch die Machtbaber der SED als die, daß sie am gleichen Tag erneut zu einer solchen Reaktion kommen konnten?
Aber 'selbst diese Reaktionen der SED und diese Maßnahmen Ihrer eigenen politischen Freunde, Herr Bundeskanzler, scheinen Sie noch nicht hinreichend zum Nachdenken zu bringen. Im Gegenteil, Herr Wehner und Herr Bahr bescheinigen den Autoren des Manifests „gezielte Provokation" und den Kritikern der SED-Politik „Hysterie und Borniertheit". Nicht die Unterdrücker sind schuld, meine Damen und Herren, sondern die Unterdrückten, diejenigen, die Ihnen Unterstützung geben wollen, weil sie den Mund aufmachen, weil sie sich zur Wehr setzen und weil sie das Ohr der Welt suchen.
Herr Wehner, damit das klar ist: Wenn. dies eine Provokation ist, bekenne ich mich zu dieser Provokation,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4975
Dr. Kohlweil doch deutlich wird, daß Freiheit und Menschen rechte, plurale Demokratie und soziale Demokratie für eine kommunistische Diktatur immer eine Provokation sein werden und sein müssen. Wir werden nicht schweigen, weil sich Kommunisten außerhalb und innerhalb ihrer Länder von Menschen provoziert fühlen, die sich auf die Menschenrechte berufen und diese gegenüber ihrem eigenen Regime und vor der Weltöffentlichkeit einklagen.
.Meine Damen und Herren, wir verkennen nicht welche persönlichen Schwierigkeiten, welche existentielle Bedrohung sich für diese Menschen gerade in kommunistischen Staaten ergeben, aber wir wissen auch, wie sehr gerade sie auf das Echo, auf das Hinhören der freien Welt angewiesen sind, wie sehr sie eine Antwort von uns brauchen. Sie erwarten von uns weder hysterisches Lamentieren noch Leisetreterei, sie erwarten von uns eine klare Haltung, ein kompromißloses Festhalten an den Grundpositionen unserer freiheitlichen Politik.
In diesem Zusammenhang kommt dann immer gleich die Frage nach den Gegenmaßnahmen. Nun, Herr Bundeskanzler, die allererste Gegenmaßnahme besteht doch darin, daß die Bundesregierung selbst wissen muß, was sie will. Sie darf sich nicht jedesmal überrumpeln lassen. Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, muß im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland der Führung der DDR unmißverständlich die Grenze ihrer Bereitschaft aufzeigen, weitere Provokationen hinzunehmen.
Und ein Zweites kommt hinzu. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liegen im beiderseitigen Interesse und nicht ausschließlich im Interesse der Bundesrepublik, wie man uns immer wieder einzureden versucht. Das heißt doch dann auch: Die DDR gefährdet mit ihrer Politik durchaus auch eigene Interessen. Hier ist ein Spielraum, hier liegt die Chance für gestalterische Politik der Bundesregierung im Verhältnis zur DDR. Ich. fordere Sie deshalb namens der CDU/ CSU-Fraktion auf, endlich zu einer Politik von Leistung und Gegenleistung zurückzukehren. Vorleistungen haben Sie lange genug erbracht.
Dies alles ist um so wichtiger, als wir nach wie vor davon ausgehen müssen, daß sich die Maßnahmen der DDR in erster Linie nach innen, in erster Linie gegen die eigenen Bürger richten. Sie sind Mittel zur Abschreckung der eigenen Bürger vor Kontakten und Informationen jeder Art mit dem freien Westen — vor allem auch mit der Bundesrepublik. Sie sind zunächst und vor allem Ausdruck einer Politik der verschärften Abgrenzung.Der öffentliche Streit, meine Damen und Herren, um die Autorenschaft dieses Manifests lenkt deshalb vom Entscheidenden ab. Entscheidend bleibt doch die Reaktion der Angst der SED-Führung. Diese Reaktion der DDR-Machthaber dokumentiert dieSchwäche eines Systems, das sich der Loyalität seiner Bürger auch nach 30jähriger Herrschaft noch immer nicht sicher sein kann. Das Manifest ist Ausdruck einer Entwicklung, die ihre Parallelen schon seit längerem in Polen, in der Tschechoslowakei und auch in der Sowjetunion findet.Immer mehr Menschen berufen sich — Gott sei Dank — auf die Menschenrechte und wehren sich gegen den totalitären Anspruch einer Einparteiendiktatur. Dies zeigt auch, Herr Wehner, die ganze Ungeheuerlichkeit Ihres Vorwurfs an die Autoren, wenn Sie diese der Provokation bezichtigen.
Sie tun dies, weil dieses Manifest und diese freiheitliche Entwicklung nicht in Ihr Konzept und auch nicht in das politische Konzept der Bundesregierung paßt, in ein Konzept, meine Damen und Herren, das von der Behauptung ausgeht, daß nur eine stabile DDR über genügend Handlungsfreiheit für eine Entspannungspolitik verfüge. Deshalb müsse alles getan werden, um das Selbstvertrauen des des SED-Regimes zu stärken, und alles verhindert werden, was sich, wie das Manifest, destabilisierend auswirken könnte.Meine Damen und Herren, wer in Deutschland lebt, weiß, daß eine solche Politik an den Realitäten vorbeigeht. Man muß doch die Frage aufwerfen: Was und wer gefährdet denn die Stabilität der kommunistischen Diktaturen, insbesondere auch die der DDR? Es ist die Unfähigkeit eines in sich erstarrten Systems, die überfälligen gesellschaftspolitischen Reformen und Veränderungen durchzuführen und längst überholten unerträglichen ideologischen Ballast abzuwerfen; es sind die sich krisenhaft zuspitzenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten; es ist die verstärkte Einbindung der DDR in die internationale Politik und die weltwirtschaftliche Entwicklung. Von den Kommunisten ist auch die Intensivierung der weltweiten Kommunikation nicht aufzuhalten. Es bleibt die geistige und politische Herausforderung der freien Welt, mit der Idee der Freiheit, mit der Idee der Menschenrechte, mit der Idee der parlamentarischen Demokratie auch im anderen Teil Deutschlands wirksam zu sein.
Herr Bundeskanzler, es bleibt vor allem — und das haben Sie und Ihre politischen Freunde viel zu lange abgeschoben, sozusagen in die Müllgrube der Geschichte verbannen wollen — die Sprengkraft der nationalen Frage, es bleibt die wichtige Grundfrage nach der Einheit der deutschen Nation, nach der Identität der deutschen Nation.
Das alles heißt doch: Stabilität in der DDR setzt Bereitschaft zu inneren Reformen dort voraus, setzt die Bereitschaft der SED-Machthaber voraus, in allen Bereichen zu geregelten Beziehungen auch und gerade zur Bundesrepublik zu kommen, setzt die Bereitschaft zu mehr Menschlichkeit mitten in Deutschland voraus. Es ist doch eine verhängnisvolle Selbsttäuschung zu glauben: Wenn wir schweigen, aber
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Di. Kohlzahlen, tragen wir zu mehr Stabilität für die DDR bei.
Mit einem solchen Verhalten geben wir doch nur einem System Entlastung, das sich selbst durch seine innere Schwäche herausgefordert sieht, das sich verstärkt den notwendigen Veränderungen durch Repression nach innen und Abgrenzung nach außen zu entziehen versucht, das nicht bereit ist, sich seinen eigenen Kritikern zu stellen, das diese Kritiker ausweist oder zum Schweigen bringt. Wir sind nicht bereit, binem solchen System Hilfestellung zu geben. Wir wollen Zusammenarbeit nicht damit erkaufen, daß wir uns den Zumutungen der Unfreiheit beugen. Das Manifest hat eine ganz wichtige deutsche Realität wieder in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Das ist die Realität des Fortbestehens der einen deutschen Nation.
Meine Damen und Herren, 30 Jahre danach ist hier für jeden offenbar geworden: Es gibt keine sozialistische Nation. In den Herzen und in den Köpfen der Deutschen in beiden Teilen Deutschlands gibt es das eine deutsche Vaterland,
gibt es die eine unteilbare deutsche Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihren Konsequenzen, mit ihren Lehren. Meine Damen und Herren, das sollten wir wieder offen und ganz ungebrochen aussprechen, wie es alle Völker und alle Nationen dieser Erde für sich in Anspruch nehmen. Dieses Manifest beweist, daß die deutsche Frage keine bloß theoretische ist, sondern daß sie elementare politische Wirkungen hat, in bezug auf das Selbstverständnis unserer Bundesrepublik genauso wie in bezug auf die Beziehungen zum anderen Teil Deutschlands.Deshalb müssen wir nach unserem Verständnis die Werte des Nationalbewußtseins mit unseren demokratischen Grundwerten auch in Zukunft aufs engste verbinden. Darin allein besteht die Chance, den Willen zu einer deutschen Nation bei allen Deutschen in West und Ost aufrechtzuerhalten. Es war das große historische Verdienst Konrad Adenauers, das deutsche Nationalbewußtsein mit der freiheitlich-demokratischen Lebensform auszusöhnen und unlösbar miteinander zu verbinden und durch seine Politik der Einbindung in die freie Welt diese Freiheit wenigstens für die Bundesrepublik dauerhaft zu sichern. An dieser Politik werden wir immer festhalten.
Dieses Manifest, Herr Bundeskanzler, ist aber auch ein Beweis für die Realitätsferne und Blindheit sowie den bedenklichen Zustand des Urteilsvermögens in Ihrem eigenen Amt. Vor wenigen Monaten wurde die deutsche Öffentlichkeit von dort mit einer Studie überrascht und konfrontiert, in der es heißt:Wir müssen auf lange Sicht mit dem Schlimmsten rechnen: Mit dem Aufbau einer aggressiven Feindschaft ... auf Dauer auch zwischen den Bevölkerungen der beiden Teilstaaten.In dieser Studie versteigt sich Ihr Amt sogar zu der abenteuerlichen These, daß sich das Prinzip der „Erbfeindschaft", der alten, längst überwundenen Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, von der Westgrenze auf die Ostgrenze in eine Feindschaft zwischen den Bürgern beider Teile Deutschlands verlagern könnte. Dies, Herr Bundeskanzler, ist die eigentliche Provokation in der deutschen Frage, die wir in diesen Jahren erlebt haben.
Das ist eine Provokation jener Mitbürger im anderen Teil Deutschlands, die bereit sind, unter Einsatz ihrer eigenen Existenz mit einem unerhörten Maß an persönlicher Zivilcourage die Rechte aller Menschen auch in Deutschland einzuklagen. Man kann nur mit einem Wort sagen, was ja für weite Teile Ihrer Politik gilt: Die Verantwortlichen im Kanzleramt haben offensichtlich keine Ahnung von der deutschen Wirklichkeit in der Bundesrepublik und in der DDR.
Meine Damen und Herren, wer den ausführlichen Bericht über die vielen Begegungen und Reisen des Herrn Bundeskanzlers gehört hat, der fand beim Thema Innenpolitik keine Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich in den Jahren seit 1969 aus dieser Bundesrepublik geworden? Sozialdemokraten und Freie Demokraten traten 1969 ihr Regierungsbündnis in Bonn mit dem Anspruch an, das moderne Deutschland zu schaffen. Das neue Jahrzehnt, Herr Bundeskanzler, wurde zum Jahrzehnt der Reformen erklärt. Nur noch zwei Jahre fehlen an diesem Jahrzehnt, und es darf heute schon der Versuch einer ersten Bilanz gemacht werden, so wie Sie es auch in Ihrer Neujahrsansprache vor einigen Tagen getan haben.Ihr eigenes Bilanztestat, Herr Bundeskanzler, ist deprimierend. Sie erklärten zum Jahreswechsel:Gründe zum Triumph haben wir nicht. Der Staat kann nicht alles zugleich schaffen; finanzielle Mittel für alles aufbringen, was für die Zukunft erstrebenswert ist, die Teuerungsrate gering halten, die Währung stabil halten, Arbeitsplätze sichern, neue Arbeitsplätze schaffen, das System der sozialen Sicherung garantieren und schließlich die Konjunktur in die Höhe bringen.Das ist alles richtig, was Sie hier sagen. Nur, Herr Bundeskanzler, warum haben Sie das nicht im September 1976 gesagt, als Sie vor der Wahl jedem in der Bundesrepublik alles versprochen haben?
Nach beinahe neun Jahren Regierungszeit der Koalition ist das genau und exakt der Berg von Problemen, in den Ihre Regierung uns geführt hat.Die Koalition und nicht zuletzt Sie selbst erweisen sich als unfähig, Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Dynamik, wie sie früher sehr wohl in den Jahren von 1949 bis 1969 erreichbar waren, zu erhalten. Arbeitslosigkeit, unzureichendes Wachstum und zunehmende bürokratische Stolpersteine für die Wirtschaft, gewaltige Finanzierungslücken
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4977
Dr. Kohlin dem System unserer sozialen Sicherheit, ein nie zuvor gekannter Schuldenberg: das sind die Markierungen Ihres Weges; das kennzeichnet letztlich das Scheitern Ihrer Politik.
Sie, Herr Bundeskanzler, und die Sie tragende Koalition haben sich seit langem darauf eingerichtet, daß hohe Arbeitslosigkeit unser Schicksal ist. Auch für 1978 dürfen wir kaum mehr Hoffnung auf eine Besserung des Arbeitsmarktes hegen. Und wenn die Zeichen nicht trügen, frißt sich nun die Millionenarbeitslosigkeit bereits ins vierte Jahr. Und schon wird das Gespenst von fast 4 Millionen potentiellen Arbeitslosen in den 80er Jahren an die Wand gemalt.Dramatisch an dieser Entwicklung ist, daß die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt immer länger dauert. Besonders betroffen sind arbeitslose ältere Arbeitnehmer und unzureichend ausgebildete Arbeitnehmer. Die Frauenarbeitslosigkeit nimmt zu. Immer mehr Jugendliche finden keinen Ausbildungs- und Arbeitsplatz.Wenn Sie nur einmal Ihre amtlichen Behauptungen aus drei Jahren miteinander vergleichen, dann sehen Sie, in welch ungeheuerlicher Weise Sie bewußt das deutsche Volk hinters Licht geführt haben.
Im Jahreswirtschaftsbericht 1975 wurde die Arbeitslosigkeit von der Bundesregierung als ein jahreszeitliches und kurzfristiges konjunkturelles Problem beschrieben, das innerhalb eines Jahres auf ein zuträgliches Maß zurückgeführt werden sollte. Dies war vor der Wahl. Im Jahreswirtschaftsbericht 1976 beschrieben Sie die Arbeitslosigkeit, die nicht als eine mittel- oder längerfristige Erscheinung hingenommen werden sollte. Das war schon der Übergang zu einer wahrheitsgemäßeren Darstellung. Im Jahreswirtschaftsbericht 1977 aber — man höre - ist die Bundesregierung bei dem Erkenntnisstand angelangt, daß die Beseitigung der Arbeitslosigkeit nur in einer längeren Zeitspanne zu verwirklichen sei.Und in der heutigen Regierungserklärung spricht der stellvertretende Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Deutschlands — jener Partei, die von sich behauptet, sie vertrete vor allem die Interessen der deutschen Arbeitnehmerschaft — mit nahezu keinem ernsthaften Wort von der Beseitigung der Arbeitslosigkeit.
In Ihrer Neujahrsansprache verkündeten Sie, Herr Bundeskanzler, der staunenden Öffentlichkeit: Die Bundesregierung ist und bleibt mit diesem drängenden Problem Tag um Tag beschäftigt. Ich frage mich: was kommt denn endlich heraus bei dieser Beschäftigung rund um die Uhr? Besser als dieses Zitat kann doch niemand Ihre Hilflosigkeit gegenüber einem der drängenden sozialen Probleme unserer Zeit in Worte fassen.Die Öffentlichkeit hat es immer wieder erfahren. Als 1969 Sie von Kurt Georg Kiesinger die Regierungsverantwortung übernahmen, da war eben Arbeitslosigkeit für das deutsche Volk in der Bundesrepublik überhaupt kein drängendes Problem. Da standen die Renten auf gesicherter und solider Basis. Und heute stehen wir vor einer beschämenden sozialpolitischen Bilanz, mit der der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vor die Öffentlichkeit tritt.Sie haben soeben, wie Sie genau wissen, nicht der Wahrheit entsprechend auf den Kollegen Katzer geantwortet. Sie haben damals, vor der Wahl, von einem Problemchen gesprochen, und jetzt wollen Sie die Dinge wieder beschönigen. Der Leichtsinn und Ihr sehr persönlicher Hochmut beim Rentenbetrug
und die Verschleppung der Rentensanierung rächen sich jetzt bitter. Heute werden unter Fachleuten die Defizite der 80er Jahre in diesem Bereich mindestens in 20-Milliarden-DM-Höhe genannt. Herr Bundeskanzler, so geht man nicht mit 9 Millionen Rentnern um, auf deren Stimmen Sie angewiesen waren; und ohne einen Teil dieser Stimmen würden Sie niemals auf diesem Stuhl sitzen.
Wir haben im Frühsommer des vergangenen Jahres detaillierte Vorschläge zur Sanierung der zerrütteten Rentenfinanzierung vorgelegt, weil wir es für unerträglich hielten, daß die Fundamente unserer staatlichen und sozialen Stabilität, auf die ja nicht nur die Millionen Rentner, sondern auch jeder von uns, jeder aus der mittleren und jüngeren Generation, seine Zukunft baut, immer mehr ausgehöhlt werden. Sie sind untätig geblieben. Sie wußten alles besser. Und jetzt sind Sie am Ende.Sie haben damals diese Hinweise — wie ja auch heute wieder — als Schwarzmalerei und Panikmache abgetan. Aber, Herr Bundeskanzler, wenn jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Ihnen ja in diesen Dingen immer weit voraus ist —
— Meine Damen und Herren, das ist kein Grund zur Erregung. Ein Mann wie der Herr Bundeskanzler weiß alles; er braucht niemanden anzuhören. Wer vom lieben Gott den Sachverstand für alle Fragen des menschlichen Lebens erhalten zu haben glaubt, braucht auch nicht den Zuspruch und die Anregung anderer.
Aber, meine Damen und Herren, liebe Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, seien Sie ganz unbedenklich: Wenn er schon nicht auf mich hört, auf den Zuchtmeister der SPD, Herbert Wehner, muß er hören. Dieser hat doch gerade gesagt, es sei eine sozialpolitische Offensive notwendig. Herr Wehner, wofür brauchen Sie eigentlich eine sozialpolitische Offensive? Sie sind doch seit 1969 an der Regierung und konnten zeigen, wie soziale Politik wirklich aussieht!
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4978 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. KohlDiese Vorstellung des Kollegen Wehner ist doch auch ein vernichtendes Urteil über die Regierungskünste des Kanzlers und seiner Regierung. Und sie ist ein Hinweis auf die wirkliche soziale Demontage, von der Sie so gern sprechen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, haben Sie es bisher ja auch versäumt, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen, die wirklichen Zahlen, den wahren Sachverhalt über die katastrophale Entwicklung der Rentenfinanzen vorzulegen.Mein Kollege Hans Katzer wird zu diesem Thema in der nächsten Woche noch mehr sagen. Nur, meine Damen und Herren, sei eines schon jetzt mitgeteilt. Sie können nicht erwarten, daß Sie sich mit dieser_ Form des Rentenbetruges noch einmal über die Runden mogeln. Sie werden heute und in diesem Jahr gestellt werden und werden die Wahrheit sagen müssen.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Bereich der öffentlichen Haushalte, auch des Bundeshaushalts. Die Defizite werden immer höher, die Schulden immer größer. Seit 1974 hat die Bundesregierung in den einzelnen Jahren die Neuschulden zur Finanzierung der Staatsausgaben auf etwa das Doppelte dessen getrieben, was in den Jahren von 1950 bis 1969 aufgenommen wurde. Die Gesamtverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden einschließlich Bahn und Post von voraussichtlich 400 Milliarden DM in diesem Jahr zeigt, daß diese Probleme mit so undifferenziertem Daherreden, wie wir es eben in der Regierungserklärung hörten, mit der Ausflucht auf andere Länder, wo es ja noch schlechter sei, ganz gewiß nicht zu lösen sind. Sie, Herr Kollege Schmidt, haben im Jahre 1969 auch nicht den Vergleich mit Italien angestellt. Sie haben ein geordnetes Gemeinwesen übernommen, und wir erwarten Rechenschaft von Ihnen.
Durch die Verschuldung 1978 wird die bisherige Rekordverschuldung des Bundes im Rezessionsjahr 1975 — trotz des zu erwartenden, wenn auch unzureichenden Wachstums — übertroffen. Sie liegt damit erneut über der Verschuldensobergrenze des Art. 115 des Grundgesetzes, die, wie Sie wissen, nur ausnahmsweise überschritten werden darf. Ich sage dies vorsorglich, Herr Bundeskanzler, weil Sie im Umgang mit dem Haushaltsrecht in der Vergangenheit eine besonders saloppe Art bewiesen haben und von dem höchsten deutschen Gericht auch entsprechend zurechtgewiesen wurden.
Wir werden darüber wachen, daß Sie diese Ausnahmeregelung des Grundgesetzes nicht zum Normalfall der Gewöhnung machen. Denn die finanzpolitischen Folgen in Form von wachsenden Zinsausgaben dieser Schuldenpolitik belasten in der Zukunft alle, belasten ja bereits die heranwachsende Generation.Deshalb, Herr Bundeskanzler, wäre heute in einer Regierungserklärung neben den Aussagen über Ihr gewiß wichtiges Treffen mit unserem FreundeAndreotti in Verona doch durchaus ein Wort über die Frage der weiteren Konsolidierung der öffentlichen Finanzen angebracht gewesen, eine Äußerung etwa, die der Herr Bundesfinanzminister im Einklang mit dem Sachverständigenrat immer wieder betont hat, die doch so bitter nötig gewesen wäre. Doch die Bundesregierung hat ja, wie der Sachverständigenrat auch festgestellt hat, überhaupt keine Planung dafür, wie das in den öffentlichen Haushalten entstandene strukturelle Defizit in den nächsten Jahren konsolidiert werden könnte.Wir werden nicht zulassen, daß Sie der Bevölkerung auch in dieser Frage immer wieder Sand in die Augen streuen, daß Sie sich aus Ihrer Verantwortung stehlen und alle Schuld auf Erden der Weltwirtschaftsrezession, der Fehlentwicklung im Ausland oder — um die neueste Fluchtstiege zu nennen— dem Dollar geben.
— Es ist doch ganz gut, wenn Sie die notwendige Ahnung haben, meine Damen und Herren. Das Ergebnis Ihrer Ahnung sieht man ja in der Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, keine von uns hat je zu irgendeinem Zeitpunkt geleugnet, daß eine Volkswirtschaft, wie die deutsche, voll integriert in die Weltwirtschaft, natürlich auch von allen welt- wirtschaftlichen Implikationen abhängig ist. Herr Bundeskanzler, ich habe vor einigen Tagen, in Vorbereitung auf diese Rede, einmal Ihre große Angriffsrede als Fraktionsvorsitzender gegen Ludwig Erhard nachgelesen. Damals, im Jahre 1966, war für Sie die Erkenntnis noch nicht so weit gediehen, daß die Bundesrepublik in weltwirtschaftlichen Zusammenhängen denken muß.
In der Weltwirtschaft und im Welthandel vollziehen sich tiefgreifende politische und strukturelle Veränderungen. Unsere Wirtschaft ist in diesen Veränderungsprozeß voll integriert. Aber, meine Damen und Herren, das ist der eine Teil. Der andere Teil sind die desolaten politischen Entwicklungen, die Sie und sonst niemand zu verantworten haben.
Wollen wir etwa vergessen, meine Damen und Herren, daß gerade die weltwirtschaftliche Anbindung unserer Wirtschaft und die weltwirtschaftlichen Veränderungen uns doch auch die großen -Chancen der Entfaltung unseres wirtschaftlichen Potentials gegeben haben? Herr Bundeskanzler, wo wären wir denn mit unseren Wachstumsraten in den letzten Jahren ohne die entsprechenden Exporte gewesen?Der Zusammenhang zwischen Weltwirtschaft und deutscher Wirtschaft ist doch der: Nicht draußen in der Weltwirtschaft liegt die erste Ursache unserer Probleme, sondern in einer kurzsichtigen und vor allem von den Linken der Koalition gehinderten Politik, die eben wirklich vernünftige Entwicklungen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4979
Da. Kohlgar nicht mehr zuläßt. Anstatt alle Kräfte unserer Wirtschaft — Arbeitnehmer und Unternehmer — durch eine wachstumsfreundliche Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik zu mobilisieren, anstatt Leistungsanreize für neue Märkte, Produkte und Technologien zu schaffen, bemüht sich Ihre Regierung doch, Herr Bundeskanzler, die Investitionsrisiken durch neue Auflagen, durch neue Vorschriften, durch öffentliches Gerede, durch aufwendige Genehmigungsverfahren noch zu erhöhen.Und dann haben Sie heute den Mut, sich hierhin zu stellen und mit uns über die Frage der Energie-' einsparung zu diskutieren. Sie werden in der nächsten Woche Gelegenheit haben, sich mit den unmittelbar Angesprochenen hier direkt auseinanderzusetzen. Ich hoffe, daß Sie an dieser Debatte dann auch teilnehmen. Nur, Herr Bundeskanzler, wie kann eigentlich ein Sozialdemokrat nach dem Desaster, das Ihre Partei im letzten Jahr an Verunsicherung in der deutschen Energiepolitik angerichtet hat, überhaupt noch den Mut haben, von dieser Stelle aus zu diesem Thema zu sprechen?
Sie waren ja nicht einmal in der Lage, in Ihrem eigenen Kabinett für eine klare Linie zu sorgen. Überlegen Sie doch, was Herr Matthöfer zu diesem Thema alles an törichten Dingen öffentlich gesagt hat.
Es war doch nicht Ihre Leistung, daß das Moratorium, das in der Luft hing, jetzt zumindest etwas entschärft wurde. Das war doch nicht die deutsche Sozialdemokratie. Das hat ein Bündnis zwischen der starken Kraft der CDU/CSU, die sich rückhaltlos für die Notwendigkeit der Energieversorgung der Bundesrepublik in den nächsten Jahrzehnten einsetzt, und wichtigen Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zuwege gebracht. Das wissen Sie doch so gut wie ich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gehen Sie bei einem Ihrer Besuche in Berlin ins dortige Dynamo-Werk; da sehen Sie, beinahe auf Halde produziert, wichtige Anlagen für Kernreaktoren. Schaffen Sie in Ihrer eigenen Partei endlich vernünftige politische Bedingungen, damit das Notwendige im Bereich der Energiepolitik getan werden kann.
Das alles, das verklemmte Reden sozialistischer Ideologen, die schwächliche Reaktion der SPD-Führung — soweit sie nicht selbst an diesem Gerede beteiligt war —, hat doch dazu geführt, daß . das wirtschaftliche Klima verschlechtert wurde, daß Investitionen erschwert und Investoren entmutigt wurden. Herr Bundeskanzler, Ihre Bemerkung vorhin an die Adresse „irgendwelcher", die darüber reden, das war nicht präzise genug. Nennen Sie Roß und Reiter, wer das wirtschaftliche Klima in der Bundesrepublik zerredet hat,
und ziehen Sie nicht irgendwelche obskuren Dienste heran, sondern sagen Sie klipp und klar, wen Sie meinen.
Diese durch Ihre Politik hervorgerufene Investitionskrise hat eine gewaltige Investitionslücke hinterlassen. Sie hat die Wachstums- und damit auch die Verteilungsspielräume immer weiter eingeengt und dadurch die Lösung vieler Probleme erschwert. Sie, Herr Bundeskanzler — das ist doch einfach eine Tatsache —, bekommen doch die Zustimmung Ihrer eigenen Fraktion zu notwendigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen immer nur noch dann, wenn Sie gleichzeitig ein verteilungspolitisches Alibi vorweisen können.Das sind doch die politischen Rahmenbedingungen, von denen Sie heute ausgehen müssen. Sie versuchen jetzt, in dieses Schema — ein Schema, das mit der Realität der Bundesrepublik überhaupt nichts zu tun hat; denn die Linken sind innerhalb der Wählerschaft der Bundesrepublik zu 4 % vertreten — die Wirtschaftspolitik einzupassen. Als könnten wir es uns überhaupt noch leisten — wie Sie es in Ihrer Ansprache zu Neujahr ganz richtig beschrieben haben —, Verteilungspolitik mit Ideologie zu betreiben.Jetzt kommt es entscheidend auf das Wirtschaftswachstum an. Dafür muß Sorge getragen werden, dafür müssen auch die Chancen weltwirtschaftlicher Integration genutzt werden. Außenwirtschaft und Arbeitsmarkt — auch das haben wir erlebt — können sehr wohl zusammenpassen. Mit Ihrer ideologisch einseitigen Politik der ständigen Zunahme der Belastung der Wirtschaft und des einzelnen Bürgers ging doch eine Entwicklung einher, die zu einer ständig fortschreitenden Einschränkung der individuellen Freiheitsräume, die zu einer Abnahme der Leistungsbereitschaft in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, zu immer mehr Bürokratie unter dem Stichwort „Staat" führte, zur Risikofeindlichkeit und zu heute offen zutage tretender Zukunftsangst und Resignation.Sie haben bedeutende Leitartikler bemüht, Herr Bundeskanzler. Diese Leitartikel sind ganz richtig so geschrieben; aber diese Atmosphäre ist doch von Ihnen mit erzeugt worden in diesem letzten Jahrzehnt.
Bei dieser steuerlichen Belastung dürfen Sie sich doch nicht über Resignation beim Bürger wundern. Wer jahrelang Leistung verteufelt hat, wer das Risiko immer nur der einen Seite zuschob, wer fehlende Investitionsfähigkeit, Rückgang der Selbständigkeit, Rückzug in die Privatsphäre völlig herausgefordert hat, der, meine Damen und Herren, darf sich über Resignation bei den Bürgern unseres Landes nicht wundern.Dann sprechen Sie von den staatlichen Konjunkturprogrammen. Sie hatten eine stattliche Milliardenhöhe. Aber wo ist denn eigentlich der Erfolg geblieben? Mit diesen Mitteln konnte kein Vertrauen in die Wirtschaft gebracht werden, und mit diesen
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Dr. KohlMitteln können Sie doch nicht erwarten, daß wir die Arbeitslosigkeit beseitigen.Auch wenn diese Programme etwas bewirken — sie bewirken nicht genug. Wir müssen sie doch allesamt bezahlen; denn Sie haben doch in Tat und Praxis im wesentlichen vor allem die Schulden, die Abgaben und den Bürokratismus verstärkt. Stück für Stück haben Sie in den letzten Jahren — um es einmal so salopp auszudrücken, — die vorhandene wirtschaftliche und konjunkturpolitische Manövriermasse leichtfertig mit verfrühstückt. Die dynamischen Marktkräfte wurden nicht gestärkt; gestärkt wurde die Bürokratisierung.Wie wollen Sie denn eigentlich von irgendeinem Bürger dieses Landes aus dem Mittelstand, der nur die Tageszeitung liest, der die Berichte über Ihren SPD-Parteitag im November des vergangenen Jahres und dessen Beschlüsse liest, erwarten, daß er zur Investitionsfreudigkeit kommt? Das ist doch aberwitzig, Herr Bundeskanzler, wenn Sie so denken!
Es gehört schon viel Unverfrorenheit dazu, wenn Sie hier herkommen und sich der Steuerentlastung berühmen. Meine Damen und Herren, das war ja nicht in einer grauen Vorzeit; das war vor wenigen Wochen. Was haben Sie denn eigentlich dazu beigetragen, Herr Bundeskanzler? In der entscheidenden Sitzung des Vermittlungsausschusses haben vier Fünftel der anwesenden sozialdemokratischen Parteimitglieder aus Bund und Ländern gegen die Vorlage gestimmt, und nur mit Hilfe der CDU/CSU- geführten Länder, der Stimmen der CDU/CSU-Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der FDP- Kollegen war es doch überhaupt möglich, dieses kleine Stückchen Vernunft wirtschaftlicher Entwicklung zustande zu bringen.
Die Millionen unserer Mitbürger, die Sie eben gehört haben, müssen doch meinen: Das hat der Helmut Schmidt mit eigenem Herzblut niedergeschrieben! — Sie haben gar nichts dabei getan, Herr Bundeskanzler. Sie haben geschwiegen, und wir mußten die Dinge der Vernunft durchsetzen!
— Meine Damen und Herren, lassen Sie ihn doch reden!Herr Bundeskanzler, ich muß auch, wenn ich Ihre eigenen Worte ernst nehme, davon ausgehen, daß Sie diese Entscheidung des Vermittlungsausschusses gar nicht wollten; denn zu Beginn der Regierungszeit dieser Legislaturperiode, vor 13 Monaten — am 16. Dezember 1976 —, haben Sie von diesem Pult aus erklärt, daß Sie jede Steuersenkung für die gesamte 8. Legislaturperiode ablehnen würden. Ja, Sie kündigten Steuererhöhungen an.Was ist das für eine Politik? Vor zwölf Monaten standen Sie hier und sagten das Gegenteil von dem,was Sie heute ausführten! Sie haben nichts dafür getan, aber jetzt berühmen Sie sich dieser Taten.
Sie haben doch damals den Weg zu mehr Steuern und Abgaben signalisiert. Seien Sie versichert: Wir werden Ihnen diesen. Weg versperren;
wir werden 1978 parlamentarische Initiativen zum dauerhaften Abbau der leistungsfeindlichen und investitionshemmenden Überbesteuerung der Bürger und der Betriebe ergreifen,
und dann haben Sie Gelegenheit abzustimmen. Wir werden für die Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen und für eine Reform der Haushaltsstruktur ohne Gefährdung der öffentlichen Investitionen kämpfen. Wir werden die Bundesregierung zwingen, die wahren Zahlen und Sachverhalte der Finanzierung unserer Sozialversicherungssysteme auf den Tisch zu legen. Eine skandalöse Verharmlosung, eine kaltschnäuzige Täuschung unserer Bürger wird Ihnen nicht mehr gelingen!
Wir werden uns weiterhin für Geldwertstabilität einsetzen und alle Versuche, die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank anzutasten, entschieden zurückweisen. Sie haben hier Herrn Emminger zitiert. Herr Bundeskanzler, es wäre nützlich gewesen, wenn Sie, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, im Zusammenhang mit den Anschlägen Ihres eigenen Parteitags vom November des vergangenen Jahres hierbei auch über die Unabhängigkeit der Bundesbank ein Wort gesagt hätten.
Wir werden unseren Beitrag dazu leisten, die Wachstumshemmnisse in der Wirtschaft vor allem durch eine Korrektur der wirtschaftspolitischen Fehler und Versäumnisse zu beseitigen. Ohne eine Stärkung der privaten Investitionen und der Investitionsbereitschaft ist keine Besserung zu erwarten. Die private Investition, das ist der Herzmuskel unserer Volkswirtschaft. Der Staat muß die mittelfristigen Orientierungen in der Finanzpolitik, in der Energiepolitik und in anderen Bereichen so setzen, daß hier vertrauensbildende Signale für die Zukunft gesetzt werden. Deswegen muß die Bundesbank an ihrer geldpolitischen Linie festhalten, und deswegen müssen wir — auch seitens der Opposition — an Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen appellieren, bei der jetzt anlaufenden Lohnrunde das gesamtwirtschaftliche Interesse auf gar keinen Fall außer acht zu lassen. Wie immer es in einzelnen Branchen aussehen mag: Sie müssen mitbedenken, daß hierbei das Ganze auf dem Spiele steht.
Zu einer nachhaltigen Konjunkturbelebung gehört vor allem, daß die ordnungspolitischen Rah, menbedingungen für ein gesundes Wachstum stim-
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Dir. Kohlmen, daß sich der Mut zum Risiko, der Mut zur Innovation, der Mut zur Selbständigkeit wieder lohnt. Herr Bundeskanzler, Sie reden immer gleich von Angst- und Panikmachen. Wir sind Realisten, und als Realisten schauen wir durchaus positiv in die Zukunft, wenn die Bedingungen für diese Zukunft stimmen. Unsere Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein reiches wirtschaftliches Potential. Kapazitäten, Kapital, Ideen, Fleiß, Bereitschaft — das alles ist genügend vorhanden. Die Arbeitnehmer, die Unternehmer, die Gewerkschaften sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Dieses Potential, diesen wirklichen Schatz der Bundesrepublik, gilt es zu aktivieren. Die Schaffenskraft eines fleißigen Volkes ist in die richtigen Bahnen zu lenken, um dank einer vernünftigen, sozialen, marktwirtschaftlich orientierten Politik die wirtschaftliche Aufbauleistung wiederzugewinnen, die wir gemeinsam mit der Idee der sozialen Marktwirtwirtschaft in den 50er und 60er Jahren in einem Schwung ohne Beispiel erbringen konnten.Die schlechte wirtschaftliche Entwicklung ist kein Naturereignis; sie ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist eine Folge von Unvermögen und von wichtigen Fehlentscheidungen.
— Ich würde sagen, Herr Möllemann, bei Ihnen käme ich nicht einmal auf den Gedanken, daß Sie vom Himmel gefallen sein könnten.Dieser Regierung und den sie tragenden Parteien fehlt vor allem die Fähigkeit, marktwirtschafts- und wachstumskonforme Entscheidungen zu treffen. Sie sind zu einer solchen Politik nicht fähig, weil sie sich in ideologischen Verblendungen befinden. Sie haben sich als erpreßbar erwiesen, und nur noch um der Verteidigung der Macht willen reagieren und regieren Sie mit dem kleinsten politischen Kornpromiß. Sie sind von den linken Strömungen in den Koalitionsparteien abhängig, und Sie sind daher gezwungen — ich sage es noch einmal: von Anfang an gezwungen —, ordnungspolitische Fehlentscheidungen zu treffen, um überhaupt an der Macht bleiben zu können.
Was wir brauchen, was die Arbeitslosen dieses Landes brauchen, was die Wirtschaft braucht, ist Vertrauen in eine politische Führung, die aus den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft heraus die Kraft zu markt- und wachstumskonformen Entscheidungen aufbringt, die die Gewißheit vermittelt, daß sich Zukunftsinvestitionen in jeder Weise lohnen. Herr Bundeskanzler, Sie sprechen in diesem Zusammenhang gern das Prinzip Hoffnung an, und Sie reden immer wieder zu unseren Bürgern von diesem Prinzip Hoffnung. Aber mit der Hoffnung, die Sie vermitteln wollen, ist es wie mit dem Horizont: Je schneller Sie ihn erreichen wollen, um so schneller entschwindet er Ihnen, weil Ihnen die Perspektive fehlt, das ordnungspolitische Gewissen Ihrer eigenen Partei nicht vorhanden ist und damit die eigene Kraft fehlt. Wenn -jemand zu großen wirtschaftspolitischen Taten ausgezogen ist, dannsind Sie das. Wenn sich jemand so schnell dem Ende nähert, dann sind das wiederum Sie.
Ich zitiere hier gern einen Mann, der das heute nicht mehr so sagen kann, weil er auf der Regierungsbank sitzt; aber das Zitat ist erst einige Monate alt. Graf Lambsdorff sagte: „Die Koalition aus SPD und FDP hat an Glaubwürdigkeit nichts mehr zu bieten, weil sie kaum noch welche hat." Ich habe diesem Zitat nichts hinzuzufügen.
Herr Bundeskanzler, wie Sie heute hier über den Spionagefall Lutze gesprochen haben, ist bezeichnend für Ihre Politik und die Art, wie Sie diese Politik gegenüber den Bürgern darstellen. Es stimmt alles, was Sie sagten: Die Liste der gefaßten Agenten, der Spione — wir können nur ahnen, wie viele noch am Werke sind, die nicht gefaßt sind — ist lang geworden. Es ist übrigens eine makrabre Untermalung des Entspannungsgedankens: Je mehr wir öffentlich von Entspannung reden, desto mehr Agenten und Spione plaziert der Warschauer Pakt hier mitten in der Bundesrepublik. Ich will nur sagen, ohne dem Untersuchungsausschuß, ohne den Gerichtsverfahren vorgreifen zu wollen, daß es bereits jetzt an der Zeit ist, öffentlich über diesen schwerwiegendsten, gravierendsten Spionagefall in der Geschichte der Bundesrepublik zu sprechen. Sie werden wohl nicht bestreiten, daß dieser Fall so einzuordnen ist. Es wird jetzt zum Teil auch rund um den Untersuchungsausschuß Gerede über Angst aufgeführt, daß da Geheimnisse an die Öffentlichkeit dringen. Die Verantwortlichen im Zentralkomitee der SED in Ost-Berlin können nur die Sektkorken knallen lassen und über uns lachen. Wir reden dauernd über Geheimhaltung gegenüber Abgeordneten, und die SED weiß bereits alles, was in diesem Bereich militärisch relevant ist.
Was ich Ihnen vorwerfe — da gibt es kein Ablenken auf Beamte — ich komme auf diesen Punkt noch zu sprechen —, Herr Bundeskanzler, und was ich dem Herrn Bundesverteidigungsminister — sie beide tragen hierfür die Verantwortung — vorwerfe, ist nicht der Spionagefall. Es wäre schlicht und einfach töricht, wenn der Vorgang der Spionage in einem Ministerium dein Minister vorzuwerfen wäre. Wenn irgendwo in diesen Tagen einmal geschrieben würde, das sei ein Grund dafür, daß ein Minister zurücktreten müsse, dann sage ich ohne Zynismus, aber mit deutlichem Bedauern über die deutsche Wirklichkeit: Dann würden wir es dem Staatssicherheitsdienst in Ost-Berlin überlassen, wann bei uns ein Minister zurückzutreten hat. Das kann nicht unsere Diskussion sein. Unsere Diskussion beginnt mit dem Tag danach.Dieser Spionagefall ist im Juni 1976 aufgeflogen. Damals wurden diese Agenten verhaftet. Meine erste einfache Feststellung ist: bis zum heutigen Tag — und das ist beispiellos in der Geschichte parlamentarischer Demokratie — hat es weder der Bundeskanzler noch der Bundesverteidigungsminister
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4982 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Kohlfür nötig befunden, irgendeinen Repräsentanten der Opposition, wie sich das in einer freiheitlich-parlamentarischen Demokratie gehört, über diesen Vorgang zu informieren.
Sie waren überhaupt erst bereit, sich diesem Thema zu nähern, als der Untersuchungsausschuß ins Haus stand.Herr Bundeskanzler, wenn Sie in Ihrer Regierungserklärung Anmerkungen zum Thema Opposition machen, kann ich Ihnen nur sagen: in der deutschen Parlamentsgeschichte gibt ès überhaupt nicht einen einzigen Regierungschef, der so wenig moralisches Recht hat wie Sie, über Beziehungen zur Opposition zu sprechen. Denn Sie haben nie etwas für diese Beziehungen getan.
Keiner Ihrer Regierungskollegen in Westeuropa, ob es Herr Kreisky, Herr Callaghan oder ein anderer ist, hätte sich in einer solchen Lage so verhalten wie Sie. Einer der gravierendsten Vorgänge gegen die Staatssicherheit der Bundesrepublik, ein Vorgang, den man ganz gewiß nicht zu dramatisieren braucht, der in jeder Weise schlimm ist, findet statt — Sie aber denken nicht daran, zu informieren. Herr Bundeskanzler, in Amerika wäre es beispielsweise selbstverständlich gewesen, daß selbst mitten im Wahlkampf der Präsident, der wieder kandidiert — der Vergleich ist erlaubt —, den Präsidentschaftskandidaten von einem solchen Vorfall zum mindesten unterrichten läßt. Das ist „mehr Demokratie wagen" à la Helmut Schmidt, wie wir es exemplarisch an diesem Beispiel erlebt haben.
Die Frage, Herr Bundeskanzler, die sich doch aufdrängt, wenn ich in der Reihe der Monate sehe, wie Sie diesen Vorgang behandeln, ist doch folgende. Die Bundesregierung, der Bundesverteidigungsminister — und hier .muß ich zunächst einmal sagen: nicht der Bundesverteidigungsminister Georg Leber, sondern der Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt — haben damals Mitarbeiter ins Ministerium geholt, die nicht fähig waren, die Verantwortlichen entsprechend und umfassend zu informieren.
— Herr Wehner, Ihnen gegenüber brauche ich nicht vorsichtig zu sein.
Ich sage Ihnen klipp und klar, was hier die Tatsachen sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
was muten Sie uns, was muten Sie mir an Glaubensbereitschaft zu, wenn ich höre, daß die Behauptung von Ihrer Seite kommt — bei Ihnen hat es der Regierungssprecher gesagt; Herr Leber hat es selber vor der Pressekonferenz gesagt —, Sie seien nicht informiert worden? Ich muß Ihnen ganz einfach sagen: dies nehme ich Ihnen nicht ab,
und zwar deswegen, weil es unwahrscheinlich ist, daß ein Mann, der Regierungschef wird, der viele Jahre Bundesverteidigungsminister war, der die leitenden Beamten doch alle dort persönlich kennt, so wenig Interesse an dieser_Tätigkeit haben sollte, daß er sich nicht selbst informiert hätte. Herr Bundeskanzler, Sie haben eine so hohe Zahl auch durchaus hochqualifizierter Mitarbeiter. Ich würde auch jedes Vertrauen gegenüber diesen verlieren, wenn nicht einer in diesen Monaten zu Ihnen gekommen wäre und zu Ihnen gesagt hätte: Herr Bundeskanzler, das ist doch ein ganz dickes Ding, das ist eine Sache, wo alles mit hochgehen kann, wo Sie die 'Regierung umbilden müssen. — Denn das, was Sie vorhin zu Georg Leber sagten, das war Nachruf, das war keine Zukunftsperspektive.
Sie werden uns schon erläutern müssen: Wie ist das möglich? Ich will ein ganz einfaches Beispiel bringen. In einer sehr viel kleineren, nicht ganz vergleichbaren Ebene war ich selbst Regierungschef. Ich wäre doch, wenn ich gelesen hätte: „Da ist ein Spionagefall", mindestens auf den Gedanken gekommen nachzufragen. Wenn Sie in Ihrer hoheitlichen Überzeugung schon nicht selbst lesen, dann lassen Sie doch lesen und es sich anschließend sagen.
Ich verstehe nicht, daß nicht die ganze Öffentlichkeit aufsteht und sagt: Wie kann ein Mann Richtlinien der Politik bestimmen, der erklären läßt, er habe das nicht zur Kenntnis genommen?Beim Bundesverteidigungsminister will ich es etwas vorsichtiger formulieren. Nach all dem, was er im Wahlkreis, in der SPD und sonstwo erlebt hat, sind so viele Verdrängungsprozesse in Gang gekommen, daß er möglicherweise auch diese Dinge verdrängt hat.
Herr Kollege Leber, Sie haben am 13. Dezember 1977 im Zweiten Deutschen Fernsehen auf die Frage: „Seit wann ist Ihnen der volle Umfang des Spionagefalls bekannt?" erklärt: „Der ist mir jetzt noch nicht bekannt." Der Bundeskanzler hat am 14. Dezember durch den Regierungssprecher erklären lassen — ich zitiere —, „Schmidt habe keine genaueren und tieferen Erkenntnisse haben können als der Verteidigungsminister". Da muß ich Sie wirklich fragen: Was ist das für eine Politik? Da beginnt der eigentliche Skandal.Wenn Sie, Herr Kollege Leber, und wenn Sie, Herr Bundeskanzler, erst so viele Monate danach erfahren haben, wie gravierend dieser Spionagefall ist, dann ist doch auch offensichtlich im Ministerium gar nicht abgeschottet worden. Da ist doch gar nicht versucht worden, sofort überall dicht zu ma-
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Dr. Kohlchen, damit nicht weitere Entwicklungen dieser Art vonstatten gehen können.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist eine unglaubliche Leichtfertigkeit, mit der Sie hier entweder mit der Wahrheit oder mit Ihrer Amtspflicht umgehen. Eines von beiden kann nur richtig sein.
Daß dieser Schlendrian eintreten konnte, Herr Bundesminister Leber, ist die Folge Ihrer Parteipolitik, Ihrer Parteibuchwirtschaft, Ihres Parteibuchnepotismus, in dem Gesinnung und Parteibuch anstelle von fachlicher Qualität getreten sind.
Da hilft kein Beschönigen: Es sind über tausend wichtige Dokumente diesen Spionen zugänglich gewesen. Wenn jetzt Neunmalkluge sagen: „Den Spionen war zwar das Dokument zugänglich; aber das ist noch nicht der Beweis, daß die Spione das verraten haben", dann muß ich Ihnen sagen: Das ist eine Mentalität, über die man in der Tat nur den Kopf schütteln kann. Für wie dumm halten Sie eigentlich den Deutschen Bundestag und den Wähler in der Bundesrepublik?
Es sind über tausend Dokumente, wichtigste Dokumente, verraten worden. Herr Bundeskanzler und Herr Bundesverteidigungsminister, auch da kann es keinen Streit geben: Diese Dokumente waren so wichtig, daß sie den drei Obleuten des Verteidigungsausschusses — sage und schreibe: drei Abgeordneten des Deutschen Bundestages —, die aus ihrer parlamentarischen und persönlichen Qualifikation und Funktion heraus besonderes Vertrauen verdienen, nicht zugänglich gemacht werden konnten.
Und jetzt heißt es, diese Dokumente seien gar nicht so wichtig.Wir werden darauf drängen, daß ohne Rücksicht auf Personen die deutsche Öffentlichkeit die volle Wahrheit erfährt; denn daß hier unsere Bündnisfähigkeit in Frage gestellt wird, daß man in Brüssel in drastischster Weise reagiert, das wissen Sie doch selbst.Ich gehe nicht so weit, Herr Kollege Leber, aus Gesprächen und Dokumenten der Botschaften zu zitieren, wie Sie das bei anderer Gelegenheit mir gegenüber hier getan haben, aber wenn Sie noch einen Funken von Verständnis für Ihre eigene Lage aufbringen, dann gehen Sie nach Hause und lesen Sie die Berichte des NATO-Botschafters zu diesem Punkte nach.Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat hier in einer Weise über das Thema innere Sicherheit gesprochen, daß ich — nach diesen schlimmen sechs Wochen, die wir gemeinsam durchstehen mußten — ganz einfach sagen muß: Das ist schwer, schwer erträglich. An diesem Vorgang ist einmal mehr die politische Erpreßbarkeit, die Handlungsunfähigkeit der Regierung in einer penetrant peinlichen Weise deutlich geworden. Immer wieder, Herr Bundeskanzler, haben Sie — nicht zuletzt hier im Bundestag nach der Ermordung von Hanns Martin Schleyer — erklärt, es werde alles Erforderliche getan, um diesen Terrorismus in Zukunft wirksamer bekämpfen zu können. Sie sagten einmal — das ist nicht indiskret, es war in einem großen Kreise; diesen Satz habe ich noch in Erinnerung —: Ich, Helmut Schmidt, bin bereit,- bis an die Grenzen des in einem Rechtsstaat Möglichen zu gehen. Zehn Mitbürger wurden im letzten Jahr in der Bundesrepublik — in einem Fall außerhalb der Bundesrepublik — von Terroristen ermordet. Dem letzten dieser bitteren Reihe, Hanns Martin Schleyer, ist durch die gemeinsame Entscheidung im großen Krisenstab das denkbar schwerste Opfer zugemutet worden.Wir alle waren uns damals darin einig, daß dieser freiheitliche Rechtsstaat mit dem Terrorismus fertig werden kann, daß er die Herausforderung zurückschlagen muß, daß er nicht erpreßbar werden darf. Wir waren uns auch einig, daß alle in einem Rechtsstaat zulässigen administrativen und gesetzgeberischen Mittel eingesetzt werden müssen, um diesem schrecklichen Spuk ein Ende zu machen. Nur unter dieser Voraussetzung war und ist das Opfer von Hanns Martin Schleyer moralisch zu rechtfertigen. Untätigkeit — aus welchen Gründen auch immer — nimmt diesem Opfer jeden Sinn und unserem Tun, unserem Mittragen — das gilt für alle demokratischen Gruppen — die moralische Rechtfertigung. Wer jetzt noch zögert — nach all dem, was wir erlebt haben, und nach dem, was wir möglicherweise noch erleben werden — unseren Rechtsstaat wehrhaft zu machen, der verwirkt das Recht, von einem oder von vielen Bürgern Opfer zu verlangen, etwa dann, wenn erneut der Versuch unternommen wird, unseren Staat zu erpressen. Es ist völlig unerträglich, daß wir nach diesen Erfahrungen mit bloßem Stückwerk auf den Terrorismus antworten. Es ist unerträglich, meine Damen und Herren, wenn die Entschlossenheit zum Handeln an den Gräbern der. Opfer immer wieder in Worten zum Ausdruck kommt, daß aber Handeln ausbleibt. Trauerreden haben wir genug gehört.Niemand in diesem Hause würde seine Hand reichen, rechtsstaatlich fragwürdige oder gar unzulässige Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vorzuschlagen oder zu beschließen. Aber, meine Damen und Herren, es ist doch bisher nicht in einem einzigen Fall überhaupt ein solcher Vorschlag gemacht worden. Weder ein einzelner noch die Summe der in diesem Hohen Hause zur Terrorismusbekämpfung eingebrachten Vorschläge tastet die Substanz unserer Verfassung an. Jeder dieser Vorschläge hat Vorbilder in anderen Ländern, in großen, alten, liberalen, moralisch unantastbaren Demokratien. Im Blick auf die besonders umstrittenen Punkte — Verteidigerausschluß, Verteidigerüberwachung — wurde doch bei der Ausarbeitung des Bundesjustizministeriums vor Wochen und Monaten ausdrücklich auf diese, ich sage es bewußt: moralische Grundlage hingewiesen. Dennoch, Herr Bundeskanzler, ist seit dem Tode Hanns Martin Schleyers nichts geschehen.Heute vor 86 Tagen haben wir ihn zu Grabe getragen. Seine Familie, seine Freunde blicken uns fra-
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Dr. Kohlgend an, stellen Fragen. Dabei liegen doch die Vorschläge seit langem auf dem Tisch. Ich habe nie erklärt, daß die Vorschläge der CDU/CSU allein letzte Weisheit seien. Wir haben unsere Kompromißbereitschaft immer wieder erklärt. Das alles wurde unter den Tisch gewischt. Der Dringlichkeitskatalog zur Verteidigerüberwachung wurde abgelehnt. Denken Sie an die Äußerungen des Generalbundesanwalts vor ein paar Tagen in Stammheim. Zur Sicherungsverwahrung: Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben doch — wie ich auch — in diesen Wochen gesagt, daß dies das wichtigste Instrument ernsthafter Terrorismusbekämpfung ist. Herr Maihofer weiß dies, Herr Genscher weiß dies, wir alle wissen das. Verschärfung der Strafbestimmungen gegen terroristische Vereinigungen, Verschärfung des Haftrechts, Erschwerung der Strafaussetzung bei Bewährung — ich will nur diese wenigen Punkte nennen —, jede dieser Maßnahmen ist rechtsstaatlich absolut unbedenklich. Diese Maßnahmen sind nach unserer und noch viel mehr nach der Erfahrung der mit der Bekämpfung des Terrorismus unmittelbar betroffenen Beamten des Bundes und der Länder zwingend geboten. Auch das ist ein Punkt, den man einmal bedenken muß. Was muten wir eigentlich den Beamten zu, die seit Monaten rund um die Uhr und aus vielerlei Gründen bisher, Gott sei es geklagt, nicht mit sonderlichem Erfolg gesegnet, ihre Pflicht tun, wenn sie sehen, daß wir unsere Pflicht nicht tun?
Alle diese Vorschläge, Herr Bundeskanzler, sind rechtsstaatlich völlig in Ordnung. Sie sind zwingend geboten; ihre Eignung für den Bereich der Terrorismusbekämpfung wird auch in Ihren eigenen Reihen nicht bestritten.Was ich in diesem Zusammenhang als so schlimm empfinde, Herr Bundeskanzler, ist, daß Sie ja im wesentlichen in Ihrem Inneren genauso denken wie ich, daß Sie aber wegen bestimmter Gruppen in der eigenen Fraktion nicht den Mut aufbringen, endlich Zivilcourage zu beweisen und das Richtige zu tun.
Das verbale Zugeständnis, daß die Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte bei der Terrorismusbekämpfung nicht von vornherein auszuschließen ist, ist doch eine bare Selbstverständlichkeit. Aber wo bleibt der Wert im parlamentarischen Alltag? Wir haben interfraktionelle Gespräche zur Genüge geführt. Wir, der Kollege Zimmermann und ich, waren bei Ihnen zu allen möglichen Besprechungen. Aber was ist herausgekommen? Alle unsere Vorschläge wurden kompromißlos abgelehnt. Statt dessen, meine Damen und Herren, wurde mit den Stimmen der Koalitionsmitglieder im Rechtsausschuß ein Minimalkatalog von vier gesetzgeberischen Maßnahmen beschlossen. Jetzt überlegen Sie — das war schon fast nichts und hat die Blöße kaum bedeckt — Nicht einmal das können Sie morgen hier lesen. Es wird jetzt bis zum Februar verschoben, und Sie wissen noch gar nicht, ob Sie es im Februar zuwege bringen. Das zeigt — und ich sage das nicht ohne Bitterkeit in dieser Frage, weil dies nicht irgendeine politische Frage ist —, daß das Diktat der Linken in der SPD und möglicherweise auch in derFDP den Deutschen Bundestag daran hindert, seine Pflicht so zu tun, wie er das im Angesicht unseres Volkes tun muß.
Weil Sie, Herr Bundeskanzler, oder zumindest — das wäre ja die Mehrheit — die Mitglieder Ihres Kabinetts es nicht wagen, Entscheidungen, die auch von Ihnen als vernünftig und notwendig betrachtet werden, gemeinsam mit uns zu treffen, haben die Linken in Ihrer eigenen Fraktion mittlerweile den Rang und die Macht einer letzten Instanz in Fragen der inneren Sicherheit der Bundesrepublik bekommen. Herr Bundeskanzler, ich sage ganz ruhig: Wenn der Wähler dies am 3. Oktober erfahren hätte, wären Sie weit unter die 40 % gefallen, denn Sie haben dem Wähler ein ganz anderes Bild vorgegaukelt.
Sie lassen es zu, daß sich eine Handvoll linker Abgeordneter der SPD ohne jede Voraussetzung zu Tempelwächtern des Rechtsstaates aufschwingen und dem Parlament und dem ganzen Land ihre ideologischen Vorstellungen von scheinbarer Liberalität aufoktroyieren wollen. Das Denken dieser Leute — wer kennt sie besser als Sie selbst? - ist von einem tiefen, einseitigen, gegen den freiheitlichen Rechtsstaat gerichteten Mißtrauen geprägt, und Sie lassen sich diese Maxime aufzwingen.Das Ergebnis ist, daß Ihre eigenen Vorlagen immer weiter verwässert wurden, daß ich gar nicht weiß, wie eigentlich der Bundesjustizminister seinen Beamten im Ministerium klarmachen will, daß sie fortdauernd Makulatur produzieren, daß die Vorschläge ins Kabinett kommen, im Kabinett sogar verabschiedet werden — und dann vom Tisch gewischt werden. Es kam dann nur jener Minimalkatalog heraus, von dem ich sprach, den wir ablehnen werden, und zwar aus zwei entscheidenden Gründen. Die von Ihnen vorgelegten vier Maßnahmen sind unbrauchbares Stückwerk. Es sind Maßnahmen, die so angelegt sind, daß sie vielen Bürgern Belastungen auferlegen, aber gegen zu allem entschlossene Terroristen wirkungslos bleiben. Beschlüsse dieser Art enttäuschen das Vertrauen des Bürgers zum Staat,
mindern die zwingend notwendige Bereitschaft zur Solidarität mit dem Staat. Wir, die CDU/CSU, übernehmen nicht die Alibifunktion, an einer solchen Vertuschung mitzuwirken.
Für mich steht außer Zweifel, daß alle Vorschläge der Union in diesem Hause eine Mehrheit finden würden, wenn ausschließlich aus der Sache — und nicht unter dem Gesichtspunkt der Koalitionsmehrheit — abgestimmt würde. Herr Bundeskanzler, Sie sprachen von der Glaubwürdigkeit der Politik. Wir erleben jetzt auf anschauliche Weise, wie Politik zur Farce wird, wenn Sie Sachentscheidungen bedingungslos machtpolitischem Kalkül unterordnen.
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Dr. KohlAuf diese Weise wurden Fragen zu Problemen die nichts mehr mit der Wahrung rechtsstaatliche-Prinzipien zu tun haben. Was hat es — ich bitt( hier um Auskunft — mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu tun — das ist der Durchbruch der Terrorismusgesetzgebung; man muß es mit bitteren' Zynismus sagen —, ob nun der Richter in Zukunft aus dem Gesetz liest, ob Wohnungen in einem Gebäude oder ein Gebäudekomplex durchsucht werden dürfen?
Hier haben Sie, meine Damen und Herrn, ein Beispiel. Ich könnte es in den Bereich des Ausschlusses eines Verteidigers bei ausreichenden Verdachtsmomenten hinein erweitern. Im Rechtsausschuß haben sich die Koalitionsabgeordneten ohne Rücksicht auf sachliche Einsicht aus Koalitionsrücksichten nicht dazu verstehen können, zur Gemeinsamkeit zu kommen. Hier wird deutlich, wer wirklich das Sagen hat.Ich spreche dies in der Generalaussprache über die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers an, weil dies nicht irgendeine periphere Frage der Politik ist. Hier geht es an die Richtlinienkompetenz des Kanzlers. Hier geht es auch an jenes Bild, das bis an die Grenze und über die Grenze des geschmacklich Erträglichen hinweg im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus und der glücklichen Befreiung der Geiseln in Mogadischu in den letzten Wochen gezeichnet wurde.Dies alles veranschaulicht, daß der Mann, der sich gern als entschlußfreudiger und tatkräftiger Sieger von Mogadischu feiern ließ,
bei der Bekämpfung des Terrorismus mit dem notwendigen gesetzlichen Instrumentarium jedes Risiko scheut, das die Erhaltung der Regierungsmacht gefährden könnte. Das, Herr Bundeskanzler, ist die Wirklichkeit.Ich spreche das an, weil ich im Vorfeld der Hamburger Bürgerschaftswahl in diesen Tagen über die Regie des für Sie bestimmten Wahlfilms gestolpert bin: Es fängt mit dem Beschwichtiger der Wogen in der Flutkatastrophe an — und hört mit der Parade der GSG 9 nach Mogadischu auf. So nicht, Herr Bundeskanzler! Das ist nicht die Möglichkeit der Darstellung!
Herr Bundeskanzler, auch das muß man hier wegen mancher Gefährdung, die auf uns zukommt, sozusagen zu Protokoll geben: Sie ganz persönlich, die von Ihnen geführte Regierung und die Abgeordneten von SPD und FDP werden sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, wenn uns die Terroristen demnächst neue Beweise dafür geben, daß ihre Logistik und ihre Organisation bis in die Zellen deutscher Zuchthäuser und Gefängnisse hinein funktionieren — —
— Ich bin gern bereit, den Ausdruck zurückzunehmen. Wenn Sie aber keine anderen Beschwerden beidiesem Punkt meiner Rede haben als diese, zeigt es, wie die Realität Ihres politischen Denkens aussieht.
Sie, Herr Bundeskanzler, und die Sie tragende Koalition haben es zu verantworten, wenn niemand mehr an Ihre Behauptung ungebrochener Entschlossenheit nach neuen Anschlägen glaubt. Wie wollen Sie vom Bürger Solidarität mit dem Staat und vielleicht wieder Opfer verlangen, wenn Sie diese Haltung nicht einmal in Ihrer eigenen Fraktion durchsetzen?Erlauben Sie mir hier eine sehr persönliche Bemerkung, die uns beide, Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt, aus verschiedenen Gründen vielleicht mehr als andere angeht. In diesen Wochen nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer haben wir alle Entscheidungen im Großen Krisenstab gemeinsam getragen. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit ist es wohl verständlich, wenn man sagt, daß wir beide in einer besonderen Weise in einer besonderen Verantwortung standen — aus amtlichen Gründen und aus sehr persönlichen Gründen, aus Gründen persönlicher Freundschaft und Verbindung.Wenn ich über dieses Thema spreche und Sie anspreche, gehe ich davon aus, daß das Bild dieses hervorragenden Mannes, unseres Freundes, vor uns steht, daß wir wissen, daß wir ihm ein Opfer zugemutet haben, und daß das längst keine politische Frage mehr ist, sondern eine moralische Anfrage an uns ganz persönlich, wie wir uns dieser Verantwortung stellen.Ich habe immer erklärt — und dies entspricht meiner vollen Überzeugung —, daß in schweren Stunden der Nation parteiliches Betrachten keinen Platz haben darf. Eine solche Position — ich unterstelle sie Ihnen genauso — kann nur dann erträglich sein, wenn man aus den gemeinsamen moralischen Grundlagen die notwendigen Konsequenzen zieht. Sie müssen die Fragen der Familienangehörigen genauso beantworten wie ich. Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Bundeskanzler: Mit dem, was ich hier beschreiben mußte, kann ich diese Fragen nicht beantworten, und ich frage Sie, wie Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren wollen.
Es ist auch ein untauglicher Versuch, wenn im Zusammenhang mit dem Terrorismus das intellektuelle Umfeld in einer Weise abgesteckt, abgeschottet wird, daß die Anfrage nach den Ursachen unmöglich gemacht wird.Ich habe mit großer Freude gehört, daß Sie hier aus unserer Terrorismustagung ganz zutreffend zitiert haben. Nur, Herr Bundeskanzler, hätte ich mir gewünscht — das sage ich dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Helmut Schmidt —, daß Sie aus diesem Geist heraus mit denen, die in der eigenen Partei so denken wie Sie, jenen Leuten — einschließlich Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt — entgegengetreten wären, die auf dem SPD-Parteitag in Hamburg einen völlig anderen Eindruck erweckten.
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4986 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. KohlIch habe hier nur noch einmal festzustellen: Im Deutschen Bundestag ist von keiner verantwortlichen Seite ein einziger Gesetzesvorschlag zur Terrorismusbekämpfung vorgelegt — geschweige denn beraten — worden, der rechtsstaatlich bedenklich gewesen wäre. Wenn dazu auf Ihrem Parteitag etwas anderes behauptet worden ist, so ist das schlicht und einfach eine infame Lüge und Verleumdung, die mit der Wirklichkeit der Gemeinsamkeit deutscher Demokraten nichts zu tun hat.
Ich muß es als eine bewußte Täuschung der Öffentlichkeit werten, wenn ausgerechnet solche Leute eine Gefahr für den Rechtsstaat beschwören, deren sogenannte Reformgesetze in den letzten Jahren vom höchsten deutschen Gericht wiederholt aufgehoben wurden.
Hier, Herr Bundeskanzler, wird mit dem Begriff „Rechtsstaat" Schindluder getrieben. Er wird zur kleinen, billigen Münze in der tagespolitischen Auseinandersetzung gemacht. Das ist schlimm, weil doch niemand leugnen kann — Sie haben es erfreulicherweise auch nicht getan —, daß wir die geistige Offensive, die Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Terrorismus brauchen.Hysterie, Hetzjagd auf Intellektuelle, Denunziation liberaler und sozialer Demokraten — dies waren doch die agitatorischen Schlagworte, die in die Welt gesetzt wurden. Wenn man sich heute vergegenwärtigt, was von Ihrer Seite zu einer geistigpolitischen Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang beigetragen wurde, dann muß man doch sagen: Das waren doch mehr falsche Spuren und Persilscheine als wirkliche Auseinandersetzung.
Mit falschen Spuren wurden der Faschismus, der Nihilismus, die großbürgerlichen Elternhäuser — und welche Ausflüchte auch immer — herangezogen. Mit Persilscheinen wurden all jene Intellektuellen versehen, deren Schriften und Äußerungen darauf befragt wurden, ob sie das Verhalten von Terroristen, ihrer Helfershelfer, ihrer kritiklosen Sympathisanten — ob mit Zustimmung oder unter Mißverständnis — rechtfertigen könnten.Wer den Hunger der jungen Generation, von dem Sie sprachen, Herr Bundeskanzler, nach geistigmoralischen Leitbildern, nach Ideen und Idealen kennt, der weiß, wie gewichtig das Wort der Intellektuellen wirkt — der weiß, daß auch diese kritische Anfrage notwendig ist.
Wer in dieser Gesellschaft Friedfertigkeit, Toleranz, Offenheit und Fairneß unserer politischen Kultur bewahren möchte, muß sich auch kritisch mit allen geistigen Strömungen auseinandersetzen können, auch wenn sie im Gewande ideologischer Heilslehren Absolutheitsanspruch erheben, wenn sie revolutionäre Gewalt befürworten oder revolutinäre Gewalt nicht ausschalten.Wir haben als Partei versucht, das auf einer Tagung zu einer ersten Klärung zu bringen. Wirwissen, daß noch viel Diskussion und Nachdenken notwendig ist. Diese Tagung hat ergeben, daß es neben der Materialisierung unserer gesellschaftlichen Moral vor allem Ideologen und bewaffnete Heilslehren sind, die dem Terrorismus in der Bundesrepublik und seiner Gefolgschaft von Helfern und Sympathisanten den geistigen Nährboden bereiten. Das Element politischer Kritik ist eine elementare Freiheitsidee. Ohne Kritik ist Demokratie nicht möglich. Jede Gesellschaft braucht gerade im geistigen Bereich die kritische Herausforderung. Das braucht uns niemand zu sagen. Aber wir müssen Ihnen sagen, daß es falsch war, Kritik zur politischen Haupttugend hochzustilisieren, weil sie ein Vehikel zur Veränderung der Gesellschaft ist.Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang ein Wort, das die junge Generation 'betrifft: Das, was Sie der jungen Generation mit Ihrer Wehrpflichtnovelle an Diskussion gebracht haben, ist das genaue Gegenteil von Opferbereitschaft für das eigene Land.
Eine Gesellschaft, die -von ihren Mitgliedern Loyalität, Engagement, Leistung und mitmenschliche Solidarität und Friedfertigkeit erwartet, darf nicht die radikalste, absolut negative Systemkritik als intellektuelle Leistung preisen. Vor allem darf doch diese Kritik nicht tabuisiert werden! Die Freiheit zur poltischen Kritik ist nicht gleichbedeutend mit dem Recht, als Kritiker selbst von jeder Kritik freigesprochen zu werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen.
Dies alles, Herr Bundeskanzler, gehört in Ihren Jahresbericht. Sie selbst haben es nicht angesprochen, weil Sie es nicht ansprechen dürfen. Sie können es nicht wagen, alles so zu sagen, wie Sie es in Wirklichkeit sehen, weil Sie dann im Bundestag keine Mehrheit mehr hätten.
Es hat ja System in diesem Jahr: Da gab es einen Ministerpräsidenten, der eine Minute nach Schließung der Wahllokale von seinem Amt zurücktrat. Da gab es die hinterhältigsten und heimtückischsten Verdächtigungen gegen eine Partei und ihren Vorsitzenden, Franz Josef Strauß, in der Lockheed-Affäre, obwohl Sie schon damals wußten, daß diese ganze Sache nur wahltaktisches Manöver war.
Da gab es die Verschleuderung von Millionen von Steuergeldern zu Propagandazwecken. Dafür wurden Sie vom Bundesverfassungsgericht in einer ungewöhnlich harten Weise zur Ordnung gerufen. Da gab es die Verschleppung eines anderen Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, weil Sie berechtigte Furcht hatten, daß dieses höchste deutsche Gericht — wie es dann auch eintrat — Ihnen ganz
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Dr. Kohlpersönliche Verstöße gegen die Verfassung im Blick auf Ihre Ausgabenpolitik nachweisen konnte.
Da haben Sie den größten Spionageskandal der Nachkriegszeit bewußt verschleiert, weil Sie nicht ertragen konnten, daß der Wähler die Wahrheit erfährt. Glauben Sie ernsthaft, Herr Bundeskanzler, daß nach all dem Ihre Glaubwürdigkeit, die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik gewachsen ist? Sie wissen, daß Sie inzwischen längst einer Minderheitenregierung vorstehen. Auf Existenzfragen unserer Gesellschaft im Bereich der Wirtschafts-, Sozial-, Steuer, Energie- und Bildungspolitik — wo auch immer — liefert der immer mächtiger werdende linke Flügel der Koalition die Antworten von gestern und vorgestern. Sie sind ein Gefangener dieses linken Flügels geworden. Er allein diktiert Ihren Handlungsspielraum. So lautet am Ende Ihres ersten Regierungsjahres das traurige Testat: Stillstand der Regierungstätigkeit. Die Leidtragenden sind die Bürger in unserem Lande. Im vierten Jahr beträgt die Zahl der Arbeitslosen über i Million; die Zukunftschancen der jungen Generation schwinden; der endgültige Abbau der verhängnisvollen Überbesteuerung unserer Bürger ist überfällig; das Rentenloch wird von Tag zu Tag größer; in der Energiepolitik stehen die Entscheidungen aus. Ihnen, Herr Bundeskanzler, geht es dabei überhaupt nicht mehr um diese Fragen, obwohl Sie — das bestätige ich Ihnen persönlich gerne — Ihren Beitrag leisten möchten. Sie können nicht mehr, Sie dürfen nicht mehr.
Das ist kein Grund zum Fröhlichsein.
Das Motto für die Politik des nächsten Jahres ist heute bereits ausgegeben worden. Es heißt Flucht; Flucht nach draußen, in die Weltpolitik — gewiß nützliche Begegnungen fernab vom heimatlichen Herd, von der Leverkusener Küche und sonstigen Küchen, in denen die linke Suppe gekocht wird. Sie wollen sich Ihrer Verantwortung entziehen. Wir werden Ihnen in diesem Jahr hier im Hause und bei den Wahlen, die anstehen, Gelegenheit geben,
dem Bürger die volle Wahrheit zu sagen. Wir sehen diesem Urteil mit großem Ernst, aber auch mit großer Gelassenheit entgegen. Wir werden unsere Pflicht tun.
Das
Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich brauche jetzt — im Laufe des Tages werde ich mich noch zu Wort melden — nur eine einzige Minute; ich bitte den nachfolgenden Redner um Entschuldigung. Ich will jetzt nicht auf die vielerlei Bemerkungen des Herrn Abgeordneten Kohl eingehen, die eine Antwort verdienen, und auch nicht auf jene Bemerkungen, die eine
verlangen. Ich bitte nur, in einem einzigen ) Punkte eine ganz sachliche Bemerkung von mir zur Information zur Kenntnis zu nehmen; ich möchte gerne, daß sie heute mittag, ehe in den Zeitungen Redaktionsschluß sein wird, auch über die Ticker läuft.
— Ich bin ganz ehrlich, wie Sie sehen.
Mir liegt daran, daß in einem Punkte ein Mißverständnis, das offenbar vorhanden ist, nicht weiter fortbesteht. Herr Abgeordneter Kohl hat aus einer Quelle, den Sprecher der Bundesregierung zitierend, eine Mitteilung gemacht, die ich im Augenblick nicht überprüfen kann, zu der ich aber so, wie er sie zitiert hat — sicherlich guten Glaubens und guten Gewissens — eine Bemerkung machen muß. Es ist erstens unrichtig, davon auszugehen, der Bundeskanzler habe von Anfang an keine ausreichende Kenntnis über den hier zur_ Rede stehenden Spionagefall besessen.
Es ist zweitens unrichtig, davon auszugehen, daß er sich zu dem damaligen Zeitpunkt — er liegt jetzt fast eineinhalb Jahre zurück — nicht auch um ordnungsgemäßes Vorgehen gegenüber dem Bündnis und durch andere Stellen gekümmert habe.
Im übrigen stehe ich zu diesem Komplex dem Untersuchungsausschuß, wenn er es so wünschen sollte, sehr gerne zur Verfügung. Ich bitte Sie aber, das Mißverständnis nicht weiter zu kultivieren.
Das
Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
— Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Platz nehmen würden, damit der Redner im Saal voll verständlich wird.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht erlauben Sie, da ich meine Redezeit nicht so überziehen werde wie der Herr Oppositionsführer, daß man noch eine Weile wartet, bis die Herren und Damen, die das ja gewöhnt sind, demonstrativ sich zu erheben, sich zu setzen, zu schreien, sich davonbegeben haben. Ich bin für ein Parlament und nicht für eine Bude, in der man in dieser Weise miteinander umgeht.
MeineDamen und Herren, bei allem, was wir uns gegen-
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4988 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenseitig zu sagen haben, haben wir, glaube ich, alle Respekt vor der Art, wie der Kollege Wehner in diesem Hause sitzt und sitzenbleibt. Ich glaube, daß er das sagen kann.
Sie sind, meine Damen und Herren, in einer seltsamen Verfassung, und das erklärt mir vieles an den politischen Vorgängen der letzten Zeit!
Für die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers danke ich namens der ganzen sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
— Wir sind ja hier nicht in Kreuth, Herr!Was die Rede des Oppositionsführers betrifft: Aus ihrer Länge war zu erkennen, wie nötig Sie es haben, Herr Kohl!
Was die Inhalte der beiden Reden, der Regierungserklärung des Bundeskanzlers und der Deklamation des Herrn Oppositionsführers, betrifft, so war es vom Inhalt her, als ob über zwei grundverschiedene Länder gesprochen worden wäre; denn was der Herr Oppositionsführer gesagt hat, enthielt zwar sozusagen gewisse Kennzeichen, daß es Deutschland sein sollte, aber zur Sache handelt es sich bei allem, was er gesagt hat, nicht um eine Auseinandersetzung mit dem, was in unserem Lande wirklich ist.
Als ob z. B. die Ölpreiskrise vergessen wäre, als ob die Inflation anderer Währungen von uns bisher nicht nur unter Aufbietung großer Anstrengungen so weit wie möglich überhaupt zurückgehalten worden wäre und uns nicht sozusagen in den Strudel gezogen hätte, wenn nicht geschehen wäre, was hier unter der Verantwortung der Bundesregierung und unter der Zustimmung und auch mit Initiativen der Koalition tatsächlich geschehen ist! Die Dämme unserer Stabilitätspolitik haben uns davor beschützt, überflutet zu werden, und haben darüber hinaus als Wellenbrecher gewirkt. Das weiß man in den meisten anderen Ländern der westlichen Welt, aber auch in anderen Ländern, die nicht zur westlichen Welt gehören.
Nun haben Sie, Herr Oppositionsführer, gesagt, daß andere entweder heute noch oder in der nächsten Woche zur Sache sprechen werden. Aber Sie selbst erlauben sich vorher grobe Ungehörigkeiten auf Gebieten, von denen Sie eben nicht genügendverstehen — was ich Ihnen nicht vorwerfe. Sie liefern nicht das Brot für diese Auseinandersetzung, sondern liefern die ranzige Butter dazu, die Sie servieren.
Es ist eine Summe grober Ungehörigkeiten, die Sie hier aneinandergereiht haben, deretwegen ich sage, daß Sie das offenbar nötig haben, z. B. beginnend mit jener Unverschämtheit, vom „persönlichen Hochmut des Bundeskanzlers beim Rentenbetrug" zu reden.
— Ja, das brauchen Sie für eine Mob-Stimmung, das brauchen Sie!
Das hat aber keinen anderen Wert!
Aber das können Sie ruhig; mir ist ganz klar, in welcher Verfassung Sie sich befinden und was Sie brauchen
und was Ihnen zu liefern der Herr Kohl für seine Schuldigkeit hält. Denn in Wirklichkeit bedienen Sie sich, Herr Kohl, eines Schimpfwortes, des Wortes „Betrug", um Menschen zu verwirren und in einen Zorn zu hetzen. Das und nichts anderes ist Ihre kalte Berechnung!
Weil Sie mich in Anspruch genommen haben, indem Sie sagten, Sie wollten auf eine Frage von Wehner etwas sagen:
Sie fragten, wozu, wenn ich von einer „sozialpolitischen Offensive" gesprochen hätte, die denn eigentlich gebraucht würde, denn wir seien doch seit 1969 in der Regierungsführung.
Nun, Herr Kohl, ich will Ihnen keinen Nachhilfeunterricht liefern. Nur, die sozialdemokratische Fraktion hat auch in der Zeit ihrer parlamentarischen Opposition als die tragende Partei bei allen entscheidenden sozialen und sozialpolitischen Fragen keine schlechte Rolle gespielt.
Aber das wird ja heute nicht mehr gesagt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4989
Wehner— Bitte sehr, ich darf doch wohl zu den erleuchtenden und in diesem Falle doch wohl auch ein wenig die Dinge verwirren sollenden Ausführungen des Herrn Kohl wenigstens das sagen.Nein, Herr Kohl, Sie sagen, wir wären doch . Haben Sie denn überhaupt je überlegt, was die Pflicht zur Erfüllung des Verfassungsgerichtsspruchs zur gesetzlichen Regelung der Hinterbliebenenversorgung — für Frauen und Männer gleichwertig — bedeutet? Und hat Ihnen derjenige, der Ihnen die Zitate aufgeschrieben hat, nicht mit dazugeschrieben, daß das, worüber ich gesprochen habe, genau das betrifft? Dann lassen Sie diese Leute, die Ihnen das so schlecht zuliefern, rügen!
Das können Sie übrigens aus meiner Rede, aus meinem mündlichen Bericht, im Rahmen des Parteitages der SPD im November in Hamburg gehalten, herauslesen.Sie haben hier beim Kapitel „Energie" den Versuch gemacht, unter Aufbietung von rednerischer Energie zu betonen, wie rückhaltlos die CDU mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund für Energiepolitik und für Arbeitsplatzpolitik ist.
Na, wissen Sie, der DGB wird selbst beurteilen können, was Ihre öffentliche Anbiederung wert ist. Dazu brauche ich nichts zu sagen.
Aber warum können Sie — das ist eine Frage — nicht wenigstens den Gleichmut aufbringen, das aufzunehmen, was der Bundeskanzler in seiner Rede über Vertrauen gesagt hat, Vertrauen, durch das wir vieles zur Sicherung von Stabilität gegen inflatorische und gegen Weltkrisenerscheinungen zustande gebracht haben, woran ja wohl das ganze Parlament auch einen Anteil hat? Aber darauf legen Sie schon gar keinen Wert mehr; Sie sagen nur bei gewissen Gelegenheiten, wenn Sie etwas nicht verdammen wollen, das sei von Ihnen. In diesem Fall haben Sie das verpaßt.Sie haben für sich Schwung ohne Beispiel in Anspruch genommen. Das war wunderbar! Das klingt schwungvoll, das ist aber ein Abschwung wie bei einem Turner, der einmal den Aufschwung gemacht hat, nun aber abschwingt.
Ich greife noch einen Punkt aus Ihrem Reservoir heraus. Sie wollen durch ein vorweggenommenes Urteil und durch dilettantische Spielerei mit aufgeschnappten Schlagworten und Behauptungen mitreden und Vorurteile im wahrsten Sinne dieses Wortes gegen den Verteidigungsminister und den Bundeskanzler wie Sperrmüll mitten auf die Fahrbahn stülpen. So kommen Sie mir vor. Genau das und nichts anderes machen Sie.
Vielleicht ist der Herr Strauß mit Ihnen wenigstens bei diesem Versuch — Sie sagen immer: bei diesem Ihrem Versuch — mit Ihnen zufrieden gewesen, weil er kurz vorher hereingekommen war und Sie dann sofort gespurt haben: Jetzt mußte der Müll kommen.
Verehrter Herr Oppositionsführer, wollen Sie eigentlich mit Ihren Redereien über Verteidigungspolitik ernst genommen werden? Wollen Sie mit dem, was Sie auch mit „Parteibuchnepotismus" und ähnlichen gängigen Schlagworten in Verbindung bringen, erreichen, daß unsere Verteidigung verunsichert wird? Vielleicht gehört das auch zu Ihrem Rezept.
— Wir nicht. Nein, Sie können sich so anstrengen, wie Sie wollen: Wir stehen zum Verteidigungsminister, und zwar die ganze sozialdemokratische Fraktion.
Sie müssen es mit sich abmachen, wie Sie das mit Ihrer patentierten Stellung zur Verteidigung, von der Sie gelegentlich behaupten, es sei eine Art Monopolstellung, vereinbaren können. Sie werden uns nicht provozieren, in einen Wettbewerb mit Ihnen einzutreten, um statt genauester Untersuchung des Schadens, den Spione angerichtet haben, durch eine Mischung von Schwätzerei und Leichtfertigkeit die Verteidigung zu verunsichern, wobei Sie sind und wozu Sie sogar den zum Untersuchungsausschuß gewandelten Verteidigungsausschuß mißbrauchen.
Ich greife noch auf, was Sie über Terrorismus gesagt haben. Weder über Terrorismus noch über die Notwendigkeit, ihn zu bekämpfen und die Menschen wie das Gemeinwesen gegen ihn zu schützen, bedarf die SPD von Ihnen irgendwelcher Vorhaltungen.
Ihre wie unsere Pflicht ist es, die Menschen und das Gemeinwesen zu schützen. Ich erkläre, daß sich die sozialdemokratische Partei und ihre Bundestagsfraktion dieser Pflicht ohne Tremolo und ohne Selbstlob bewußt ist und unterzieht.
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4990 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
WehnerEs ist ein starkes Stück, daß Sie dem Bundeskanzler gleichzeitig gönnerhaft anzuhängen versuchen, er denke im Grunde genommen so wie Sie, aber es komme nichts heraus. Ich will mir die personelle Charakteristik solcher Leute, die das an gewissen Straßen machen, ersparen. Was Sie, Herr Kohl, über Beschlüsse im Rechtsausschuß gesagt haben, ist nur bruchstückweise bei Ihnen angekommen.
Sie haben gesagt, es sei dort jener Minimalkatalog herausgekommen, den Sie ablehnen werden. Wissen Sie, da kann ich nur an meinen König denken, der damals in der dortigen Mundart gesagt hat: „Sie sind mir scheene Republikaner".
Sie wollen das Monopol auf Terrorbekämpfung haben, Sie wollen der Stramme Max sein, aber zugleich sagen Sie: Wir wollen erst mal sehen, ob die anderen alle dafür stimmen, wir wollen jedenfalls erst nicht dafür stimmen. — Machen Sie das doch mal! Das würde ich auch gern mit einem Wort aus der Schrift charakterisieren, aber nicht heute; wenn Sie es tatsächlich so machen wollen, würde ich es mit einem solchen Wort charakterisieren.
Wollen Sie denn nach dem Spruch handeln: Es schadet meinem Vater gar nichts, wenn ich mir die Hände erfriere, warum hat er mir denn keine Handschuhe gekauft? So ungefähr ist das, nur mit fataleren Folgen als das, was in diesem Spruch gesagt wird.
Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Kohl, wegen Ihrer mehrfältigen Ausfälle gegen die Person des Bundeskanzlers, mit der Sie offenbar konkurrieren wollen, mit Herrn Strauß, der das ja in der letzten Zeit im Zusammenhang mit seinen öffentlichen Äußerungen gegenüber der ganzen Regierung und dem Bundeskanzler in einer unbeschreiblichen Art und Weise getan hat wegen einer Abhörangelegenheit, die ja wohl der Untersuchung bedarf und bei der die Regierung und auch wir im Parlament keine Sperre gegen die Untersuchung machen; im Gegenteil, wir wollen, daß untersucht wird: Wir hoffen nur, daß wir in diesem Punkte einer Meinung sind und daß nicht Sie plötzlich sagen: Ja, wenn die Sozialdemokraten sich so verhalten, dann muß doch wohl ein Haar in dieser Suppe oder in dieser Kohl-Suppe sein.
Wir haben das ja schon einmal erlebt mit einer Abhöraffäre zweier bedeutender Herren, die sich damals besonders nahestanden; der eine war der Herr Kohl, der andere war Herr Biedenkopf. Nie ist öffentlich berichtet worden, was damals eigentlich wirklich war. Aber die Partei, für die ich hier spreche, wurde fortgesetzt bezichtigt und beschuldigt, und zwar von Ihnen, namentlich, in Fragen, die alle widerlegt worden sind, die nirgendwo gedruckt worden sind. Insofern verneige ich mich vor derFreiheit der Presse. Das kann man ja auch nicht erzwingen. Und solche Dinge kann man auch nicht als Inserat aufgeben.
Nein, das kann man nicht.
Sie können das, was Sie hier dem Bundeskanzler anzuhängen sich bemüht haben, selbst beim traditionellen Karneval in der Hauptstadt, in der Sie als Ministerpräsident amtiert haben, nicht mehr überbieten.
— Ja sicher, Herr Kohl, was Sie „mit moralischer Anfrage" bezeichnen — dann begann ja das Tremolo; Sie haben es so formuliert —, darüber möchten wir mit Ihnen nicht rechten, auch nicht über Ihre Wertmaßstäbe bei, wie Sie sagen, „infamer Täuschung" und ähnlichen Behauptungen über den, zugegeben, politischen Gegner. Aber Sie wollten ja hier biedermännisch sein — mit dem Tremolo wie mit Ihrer Berufung darauf, was Sie geleistet haben, und mit dem Dolch im Gewande: nie wieder würden Ihre Leute — ich weiß nicht, ob Sie dazu auch so stehen wie die anderen Leute — wieder dabei sein.
— Ja, ja. Das forschen Sie mal bei Ihren Leuten nach. Die sitzen ja alle in Ihrer eigenen Fraktion. Sie haben ja heute so etwas anklingen lassen davon.
Ihr Versuch, Herr Kohl, Souveränität durch Herumwerfen von Schaumbonbons gemischt mit Köteln vorzutäuschen,
ist auch rührend, weil er ja Rückschlüsse daraus ziehen läßt, warum Sie diese Leistung vollbringen mußten.Nun, Gegensätze zwischen uns, d. h. den Parteien und Fraktionen der Koalition, für deren SPD-Fraktion ich zu sprechen die Ehre habe, einerseits und Ihnen gibt es. Aber es gibt auch, Herr Kohl, übereinstimmende Verpflichtungen. Es gibt z. B. die übereinstimmende Verpflichtung, zur Sicherung des Friedens beizutragen. Ich bedauere sehr, daß Sie in Ihrer Replik auf die Regierungserklärung des Bundeskanzlers dazu — wenn ich nicht etwa plötzlich mal abgelenkt gewesen sein sollte nichts gesagt haben, obwohl das das Problem ist, um das es geht und worum die Bundesrepublik ja wohl in erster Linie nicht nur interessiert, sondern auch besorgt sein muß.Man kann doch wohl sagen — oder habe ich da auch nicht recht? —: Zum Beispiel das, was der Bundeskanzler in bezug auf den Nahen Osten ge-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4991
Wehnersagt hat, kann doch eigentlich nicht Streitpunkt zwischen uns sein, oder? Ich weiß es nicht. Sie haben darauf verzichtet, _zu diesen konkreten Fragen einer keineswegs in Ruhe befindlichen Welt etwas zu sagen. Der Frieden ist aber unteilbar. Das heißt, _ man kann ihn mit Aussicht auf Erfolg nur sichern helfen, wenn man ihn nicht stört oder aufs Spiel setzt und wenn man denen, die ihn stören oder aufs Spiel setzen wollen, nicht erleichternd dazu Handreichungen gibt.Ich weiß: Hier will niemand Krieg. Aber sind sich eigentlich alle darüber klar, daß wir — ich meine wir, die Bundesrepublik Deutschland — unseren Beitrag dazu leisten müssen, daß es, soweit unser Beitrag darauf Einfluß nehmen kann, keinen Krieg gibt?Wenn ich an Ihre bedeutende Kieler Tagung denke, so war das leider viel Illusion über Kalten Krieg, zu dem Sie ja ein gewisses nostalgisches Verhältnis haben, und auch psychologische Kriegsführung, wozu dort gesagt worden ist, damit verhindere man Krieg, besonders wenn man sehr stark rüstet. Das ist aber Spielen mit dem Feuer, und hier scheiden sich die Meinungen, obwohl wir in derselben Verpflichtung stehen, für unser Volk das in unseren Kräften Stehende zu tun, damit nicht Krieg begonnen werden kann oder sich unter Berufung auf uns plötzlich ausbreiten kann.
— Ich habe ja gesagt: Alle wollen es nicht. Nur frage ich mich — denn Sie frage ich schon gar nicht, weil Sie dann sofort falsch reagieren; Sie sind doch der Superkluge, so eine Art — da gab es früher so einen Vogel, wissen Sie, der auf den Plakatsäulen war; ich kann mich im Moment nicht an den Namen erinnern — Knickebeinsvogel —: Wenn hier niemand den Krieg will — und das unterstelle ich und davon bin ich überzeugt —, dann muß man aber auch darüber reden, was wir dazu tun können, daß er nicht dennoch über uns kommt.Es gibt auch niemand, der die Teilung Deutschlands wünscht. Aber worauf es ankommt, ist nicht nur das, ob wir — —Ich weiß nicht, ob das eine Unterstellung war: Hier gibt es niemanden, der die Teilung 'Deutschlands wünscht oder der sie erleichtert hätte oder der sie zementieren möchte. Wenn Sie daran rütteln, dann werden wir sagen; Sie halten es überhaupt nicht mehr mit parlamentarischer Demokratie. Sie wollen nur noch Verleumdung.
— Ja, sicher. Das nehme ich ganz ernst, diese Art. Wenn hier jemand glaubt, uns Lektionen erteilen zu können über die Bedeutung der nationalen Frage, und es dann Zwischenrufe gibt, die zwar ungerügt bleiben, mit denen uns unterstellt werden soll, wir hätten nicht alles gegen die Teilung Deutschlands getan, dann reagiere ich darauf so, wie ich eben reagiert habe, wenn andere auch phlegmatischer sind.
Worauf es ankommt, ist, ob wir unsere Möglichkeiten und unsere Aufgaben darin sehen, die Wunde der Teilung offen und so schmerzhaft wie möglich zu halten — was ein Gesichtspunkt ist; es gibt solche, die der Meinung sind, anders wäre das bei der menschlichen Natur nicht in Ordnung — oder, weil Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann, uns darauf konzentrieren, den Heilungsprozeß, soweit das in unseren Kräften steht, zu fördern.
mit solchen, die Vertragspartner sind — was immer wir von ihrem inneren Regime halten mögen —, reden, um herauszubekommen, wie sie die Entwicklung und die Zukunft der Verträge beurteilen? Das heißt, man redet miteinander, weil man die Verträge nicht sich selbst überlassen kann. Daß Sie dazu eine andere Auffassung haben, verstehe ich, denn Sie wollten die Verträge nicht. Ergo ist Ihnen das jetzt zum Teil gleichgültig, zum Teil ist Ihnen das lediglich eine Art von Stimulans, um an uns herumzukritisieren. Aber wir, die wir die Verträge gewollt haben und weiter wollen, die wir auch wissen, wie schwierig sie in der Thematik und angesichts der Partner sind, aber wie unvermeidlich sie waren und wie schwierig auch ihre Umsetzung in lebendige Wirklichkeit bleiben wird, wir kümmern uns eben.Der Bundeskanzler habe — so hat er ihm vorgeworfen — das SED-Regime geradezu ermuntert. Ich muß sagen, das fand ich eine von den auch im deutschlandpolitischen Bereich existierenden Ungehörigkeiten des Oppositionsführers. „Provokation" — Herr Kohl, das machen Sie sich sehr leicht. Sie haben gesagt, Sie bekennen sich zur Provokation. Wenige Minuten danach haben Sie gesagt, man müsse der DDR deutlich machen, daß die Regierung nicht bereit sei, weitere Provokationen entgegenzunehmen. Ja, was verstehen Sie eigentlich unter Provokation?
Das möchte ich gerne einmal wissen. Sie spielen mit den Worten so herum, wie es Ihnen gerade paßt oder wie sie Ihnen geliefert worden sind. Niemand weiß — aber wenn Sie es wissen, dann sagen Sie es mal gefälligst, Herr Kohl —, wer die Verfas-
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4992 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Wehnerser dessen sind, was jener „Spiegel" als Manifest verbreitet hat.
— Dann sagen Sie es doch mal, wenn es einer weiß.
— Ich spreche von denen, die jetzt so sehr darüber reden und sogar mit einem komischen Findling Politik entwickeln wollen.
Sie sagen, das sei der Ausdruck einer Entwicklung in den kommunistisch regierten Ländern überall.
— Ich bitte Sie um Entschuldigung, ich nehme das so, wie ,es ist. Unterlassen Sie bitte diese Unterstellungen. Ich will nur nicht, daß wir, wenn jemand so etwas auf die Straße wirft, mit unseren persönlichen, mit unseren politischen Bemühungen, so viel wie möglich zur Entspannung und damit zum Nutzen der Menschen im geteilten Deutschland beizutragen, darüber stolpern. Das will ich!
Daß Ihnen das weniger ausmacht, kann ich verstehen. Darüber werden wir wohl nie Einvernehmen erzielen.Sie sagen, es bleibe ja vor allem die nationale Frage. Sie betonen, Sie seien nicht bereit, solchen Systemen wie dort aus den Schwierigkeiten zu helfen.
— Um so schlimmer, verehrte Herren. Wenn das bei Ihnen Politik ist, dann muß ich mich wundern, wenn man das so daherschmalzt.Es geht in Wirklichkeit darum, den Zusammenhalt der Deutschen im geteilten Deutschland zu fördern, statt ihn aufzugeben oder seine gewaltsame Unterdrückung oder Zerstörung möglich machen zu helfen. Darauf kommt es an. Das wäre ja auch noch in einer Entwicklung drin: daß eine Lage provoziert wird, in der ein solcher Zusammenhalt gewaltsam unterdrückt oder ausgeschaltet wird. Das würde wohl auch denen, die eine andere Meinung von den Verträgen oder auch von der Schlußakte von Helsinki haben als wir, die wir beides gewollt und unterstützt haben, nicht passen. Das sind die Dinge.Wenn der Bundeskanzler eine Antwort hätte bekommen müssen, so hätte es eine Antwort hinsichtlich dessen sein müssen, was er über unseren Anteil an den Bemühungen zur Friedenssicherung in der Welt und auch hier in diesem Teil Mitteleuropas, in dem wir leben, und was er sowohl über die Abrüstungsbemühungen als auch über die konkreten Schritte gesagt hat sowie in bezug auf die Diskussion mit den Großmächten, den Supermächten und die Weiterentwicklung der MBFR-Gespräche in Wien, um diese in Verhandlungen umzuwandeln. Das ist es.
— Bei Ihnen besteht wahrscheinlich eine andere Vorstellung von dem, was Verhandlungen sind. Ich halte Expertengespräche nicht schon für wirkliche Verhandlungen
und befinde mich damit im Einklang mit vielen, die sich ebenso interessiert an dem zeigen, was dort eigentlich weiter geschehen könnte, wie ich es bin.Wenn auf unserer Seite die Meinung besteht, daß der Klärungsprozeß bei den MBFR-Verhandlungen soweit fortgeschritten ist, daß die Verständigung auf ein erstes Abkommen möglich wäre — beide Seiten hätten dann gelernt, daß gravierende Punkte im ersten Schritt nicht verhandelbar sind, daß es aber möglich erscheint, Einverständnis über einen MBFR-Prozeß zu erzielen, an dessen Anfang unter anderem die Prinzipien der Parität und der Kollektivität, die vertragliche Absicherung vertrauensbildender Maßnahmen stehen und ein erster kleinerer Reduzierungsschritt aller beteiligten Staaten in Phasen vertraglich vereinbart werden könnte —, so ist das ein Ausblick, wenn auch unter großen Schwierigkeiten an jene Punkte heranzukommen, bei denen man wird sagen können, es geht um wirkliche Verhandlungen.Ich wollte damit noch einmal sagen, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers wäre es — bei allen Meinungsverschiedenheiten, die die Opposition gegenüber der Regierungspolitik und der Haltung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion und ihres Koalitionspartners FDP hat — wert gewesen, daß hier sachlich auf diese Dinge eingegangen worden wäre. Das aber ist nicht geschehen. Es ist eine Deklamation vom Stapel gelassen worden, die andere Motive gehabt hat. Das ist bedrückend für das, was uns in der Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie, die ja keineswegs völlig ungefährdet ist, bevorsteht. Auf der einen Seite kommen Sie immer wieder mit solchen Dauerbrennern wie dem ständig wiederholten Versuch mit dem Rententhema. Auf der anderen Seite ignorieren Sie völlig die Entwicklungen, die sich aus der Interdependenz ökonomischer Krisenerscheinungen bis hinein in die Staatshandels- und Staatswirtschaftsländer ergeben. Dies einfach nicht zu diskutieren oder, wie es der Herr Kohl mit der Entwicklung des US-Dollars gemacht hat, gewissermaßen beiseite zu schieben, das ist schlimm, denn man merkt ja überall, wie schwierig die Entwicklung in bezug auf den US-Dollar ist. Nur, hier ist sie offen-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4993
Wehnerbar kein Thema, auf das der Oppositionsführer überhaupt vorbereitet ist oder worüber er geneigt wäre zu sprechen.Das war .es, was ich in der kurzen Zeit bis zur Mittagspause noch habe sagen können.
— Ja, ich mache solche komischen Ausflüge nicht, wie sie uns hier heute vorgeführt worden sind, daß also einer das Ende nicht finden kann
und dann die anderen darunter zu leiden haben. Ich möchte, daß wir eine Debatte haben.
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen die Beratungen des Deutschen Bundestages bis 14 Uhr. Wir beginnen dann mit der Fragestunde.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 8/1417 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht Frau Staatssekretär Fuchs zur Verfügung.
Die Fragen 16, 25 und 28 sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 14 der Frau Abgeordneten Dr. Martiny-Glotz auf.
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die mit der Arbeitsvermittlung betrauten Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit im einzelnen nicht ausreichend mit den Ursachen und Problemen der Frauenarbeitslosigkeit vertraut sind, und hält sie Sozialmaßnahmen für erforderlich, um entsprechendes Detailwissen zu vermitteln?
Bitte schön.
Frau Abgeordnete, Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung der Bundesanstalt für Arbeit sind nach Berufsbereichen und nicht nach Geschlechtern gegliedert. In jeder Dienststelle ist aber eine Führungs- oder Fachkraft für die Behandlung spezieller Frauenfragen vorgesehen. Die Arbeitsvermittler und Arbeitsberater werden ständig mit den Arbeitsmarktproblemen der Frauen vertraut gemacht. Dies geschieht in regelmäßigen Dienstbesprechungen in den Arbeitsämtern, Aus-
und Fortbildungsveranstaltungen der Landesarbeitsämter und Zentralen Fortbildungslehrgängen in den Verwaltungsschulen der Bundesanstalt. Bei weitergehenden Maßnahmen, die speziell auf die Problematik der Frauenarbeitslosigkeit ausgerichtet wären,
bestände die Gefahr einer Isolierung der Arbeitsmarktproblematik der Personengruppe mit ihren unvermeidbaren Nachteilen. Die Bundesregierung hält weitergehende Maßnahmen daher nicht für erforderlich.
Eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich weiß in unserer Gesellschaft eine ganze Reihe verdeckter Vorurteile, die sich auf die Berufssuche und die Berufsfindung von Frauen und das Arbeitsmarktangebot auswirken. Sind Sie tatsächlich der Meinung, daß beim Vermittlungspersonal der Arbeitsämter solche Vorurteile nicht wirksam werden?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich stimme Ihnen zu, daß es auch dort wie überall in der Gesellschaft solche Vorurteile noch geben kann. Ich bin aber der Auffassung, daß wir spezielle Maßnahmen, die noch über das hinausgehen, was im Moment konkret dort gemacht wird, nicht vorschlagen sollten. Im übrigen müssen wir doch wohl zugeben, daß die Mitarbeiter der Bundesanstalt sich bemühen. Aber sie sind auch darauf angewiesen, daß insgesamt in der Gesellschaft diesem Problem mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mir ist bekannt, Frau Staatssekretärin, daß die Vermittlung nach Berufsbereichen erfolgt und nicht mehr geschlechtsspezifisch etwa von Frauen für Frauen getätigt wird. Meinen Sie nicht dennoch, daß man eine gewisse psychologische Schulung des Beratungspersonals vornehmen sollte? Oder ist der Fortschritt bei der Arbeitsvermittlung so nennenswert, daß man auf dergleichen verzichten kann?
. Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich bin der Auffassung, daß es keinen Zweck hätte, gezielt besondere, über das schon Praktizierte hinausgehende Maßnahmen vorzunehmen. Daß es natürlich wichtig ist, insgesamt immer dafür zu sorgen, daß auch die Mitarbeiter der Bundesanstalt sich auf neue Probleme einstellen, und daß man dabei auch erwägen kann, ob nicht psychologische Unterstützung durch alle Beteiligten hilfreich wäre, will ich durchaus nicht verneinen. Ich bitte nur, zu bedenken, daß nach meiner Einschätzung die Bundesanstalt für Arbeit schon eine Menge getan hat, um sich speziell dem Problem der Frauenarbeitslosigkeit zu widmen. Sie haben zu Recht den alten § 50 AVAVG nochmals hervorgehoben. Ich habe gestern schon betont, daß es eine lange Zeit dauern wird, bis wir hier alle Vorurteile abgebaut haben. Ich meine, wir sollten die Bundesanstalt, ihre Mitarbeiter und die Selbstverwaltungsgremien in dem Bemühen unterstützen, mehr zu tun.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
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4994 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Frau Staatssekretärin, sind Sie eigentlich der Meinung, daß die Binnenorganisation der Bundesanstalt für Arbeit, soweit es die Verwaltung betrifft und soweit hier Neuregelungen im Lauf des vergangenen Jahres die Verwaltung verändert haben, optimal ist, um ein besseres Verständnis für die Frauenerwerbsarbeit und did Probleme innerhalb der Beratung den Mitarbeitern in dem qualifizierten Beratungsbereich zu vermitteln?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Die Organisation der Bundesanstalt ist auf jeden Fall nicht hinderlich, wenn es darum geht, mehr für die Vermittlung von Frauen auch unter all den Gesichtspunkten, die wir gestern diskutiert haben, zu tun. Ich meine — das darf ich wiederholen —, daß das Engagement der Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit für uns das Kriterium sein sollte. Wir sollten nach wie vor darauf hinweisen, daß "man dort darauf angewiesen ist, daß sich die Menschen in der Gesellschaft insgesamt mehr um die Probleme der Frauenerwerbsarbeit kümmern.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Frau Staatssekretärin, wären Sie bereit, die Ausbildungsprogramme der Bundesanstalt für Arbeit für die Bediensteten, die sich speziell mit der Vermittlung von Frauen befassen wollen, daraufhin zu überprüfen, ob darin sämtliche Probleme, die wir gestern angesprochen haben, ihre angemessene Berücksichtigung gefunden haben?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ja, selbstverständlich. Ich halte es für eine selbstverständliche Folge der Fragestunde, daß wir all das, was wir gestern miteinander diskutiert haben, der Bundesanstalt in einer Offensive mitteilen und auch darum bitten, daß nach einer gewissen Zeit Erfolge oder Nichterfolge dargestellt werden.
Ich rufe die Frage 15 der Abgeordneten Frau Dr. Martiny-Glotz auf:
Welches sind nach Auffassung der Bundesregierung die ausschlaggebenden Gründe dafür, daß Arbeitgeber offene Stellen auch dann für Männer ausschreiben, wenn keine geschlechtsspezifische Qualifikation erkennbar ist, und sieht die Bundesregierung Möglichkeiten der Einwirkung, die solches Verhalten kurz- oder langfristig ändern?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, zu den Gründen, die Arbeitgeber veranlassen, offene Stellen häufig nur für Männer auszuschreiben, gehören vor allem traditionelle Vorstellungen und Verhaltensweisen. Viele Tätigkeiten werden als für Frauen zu schwer angesehen. Weiter nenne ich die Befürchtung technischer und personeller Umstellungsschwierigkeiten bei der Einstellung von Frauen in bisherigen Männerabteilungen, den häufig geringeren Ausbildungsstand der Frauen und die Einschränkung der arbeitsuchenden Frauen hinsichtlich der Wege und Arbeitszeit.
Die Arbeitsverwaltung ist bemüht, durch Informationsmaßnahmen traditionelle Vorstellungen sowohl auf Arbeitnehmer- wie auf Arbeitgeberseite abzubauen. Z. B. wird bei der Erteilung eines Vermittlungsauftrags gefragt, ob der Arbeitgeber bereit ist, die offenen Stellen sowohl Männern als auch Frauen anzubieten.
Speziell an Frauen wenden sich z. B. Fortbildungsmaßnahmen wie ein Modellehrgang zur Qualifizierung von Frauen im gewerblich-technischen Bereich, also in sogenannten typischen Männerberufen. Langfristig werden Verhaltensweisen nur geändert werden können, wenn sich, wie wir es gestern auch schon diskutiert haben, alle Beteiligten verstärkt um die Lösung der Frauenerwerbsprobleme kümmern.
Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, könnte hier nicht auch schlicht der Mechanismus walten, daß zu denen, die Stellen aufgeben und Stellenanzeigen in Schriftform fassen, stärker Männer als Frauen zählen, denen ihre eigenen Geschlechtsgenossen schneller einfallen als die Frauen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Das dürfte sicherlich vorkommen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, könnte sich die Bundesregierung an Überlegungen beteiligen, wie man zu geschlechtsneutralen Berufsbezeichnungen kommt? Die deutsche Sprache ist im Unterschied zur englischen ja so ausgestattet, daß aus der Schlußsilbe hervorgeht, ob man einen Mann oder eine Frau anspricht. Ließen sich Wege denken, hier auch sprachschöpferisch tätig zu werden?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, über dieses Thema habe ich bei der Erarbeitung der Beantwortung Ihrer Frage lange nachgedacht. In der Tat ist unsere Sprache bei den in dieser Richtung gehenden Überlegungen ein bißchen hinderlich. Vielleicht fällt uns miteinander etwas Geeignetes ein. Ich will gern einmal Ausschau halten, ob in unserem Hause jemand bereit ist, darüber nachzudenken.
Frau Staatssekretärin, vielleicht können Sie das Goethe-Institut einschalten.Keine weiteren Zusatzfragen.Die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Schedl werden schriftlich beantwortet, da der Fragesteller nicht im Saal ist. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 19 des Abgeordneten Dr. Diederich auf: -Welche Verwaltungsvorkehrungen zur Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der berufstätigen Frauen gedenkt die Bundesregierung zu treffen, um Nummer 9 der Entschließung der Internationalen Arbeitskonferenz vom Juni 1975 Rechnung zu tragen?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4995
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sie dem Anliegen der zitierten Entschließung der Internationalen Arbeitsorganisation, die Chancengleichheit und Gleichbehandlung erwerbstätiger Frauen zu fördern, im Rahmen der bestehenden innerstaatlichen Verwaltungsvorkehrungen gerecht wird. Danach werden Fragen berufstätiger Frauen zwar nicht in besonderen dreigliedrigen Ausschüssen oder in einer zentralen Verwaltungsstelle, sondern in den jeweils zuständigen fachlichen Ressorts behandelt. Die Organisationsstruktur der Bundesregierung ermöglicht jedoch eine funktionale Aufgabenwahrnehmung, die derjenigen von besonderen Verwaltungseinrichtungen im Sinne der IAO-Entschließung weitgehend entspricht. Zum einen obliegt nämlich innnerhalb der Bundesregierung dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit als der Zentralstelle für Frauenfragen die Koordinierung der Frauenpolitik aller Bundesressorts, zum anderen entspricht es auf Grund der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung ständiger Übung, daß -die Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung durch Beteiligung der in Betracht kommenden Verbände und Fachkreise auf dreigliedriger Basis erfolgt.Die fachliche Einbindung der Fragen berufstätiger Frauen in die Organisation der Bundesministerien hat im übrigen den Vorteil, daß sie eine enge Verbindung zum Geschäftsgang, einen Informationsfluß innerhalb des zuständigen Ressorts und darüber hinaus auf Grund der Geschäftsordnung die Beteiligung anderer Ressorts sicherstellt. Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, daß die Schaffung gesonderter Verwaltungsstellen zur Zeit nicht erforderlich ist. Die Erfahrungen, die andere Länder mit solchen Verwaltungsstellen machen, werden allerdings aufmerksam beobachtet.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Staatssekretärin, würden Sie es für dienlich halten, wenn die Bundesregierung eine zentrale Koordinierungsstelle, etwa in Gestalt einer Staatssekretärin für Frauenfragen, einrichten würde, z. B. beim zuständigen, federführenden Ministerium oder gar beim Bundeskanzler? Könnten Sie sich das denken?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Zuständig für die Koordinierung der Frauenfragen ist das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Dieses Ministerium hat auch einen Staatssekretär. Vielleicht gibt es in absehbarer Zeit dort die. Chance, diese Führungsposition mit einer Frau zu besetzen. Aber dieses gehört in eine etwas fernere Zukunft.
Die Bundesregierung ist bei dem jetzigen Diskussionsstand der Auffassung, daß es besser ist, die Koordinierung der Frauenfragen im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zu belassen. Sie sieht im Moment keine Möglichkeit, z. B. im Bundeskanzleramt oder in anderen von Ihnen angesprochenen Ressorts eine Abteilung besonderer Art für Frauenfragen einzurichten.
Ich rufe die Frage 20 des
Herrn Abgeordneten Dr. Diederich auf:
Trifft es zu, daß bei den örtlichen Arbeitsämtern die Stellenangebote nur nach Männern und Frauen getrennt registriert werden, und zwar selbst dann, wenn die Stellen von den Firmen ohne besondere Spezifizierung im Hinblick auf das Geschlecht des Bewerbers gemeldet worden sind?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Der Bundesregierung ist bekannt, daß offene Stellen, die mit Männern oder Frauen besetzt werden können, statistisch dort erfaßt werden, wo eine Vermittlung am aussichtsreichsten erscheint. Dieses Verfahren erscheint der Bundesregierung unbefriedigend. Darauf habe ich gestern schon hingewiesen. Inzwischen hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den Präsidenten der Bundesanstalt gebeten, zu prüfen, ob statistisch alle offenen Stellen als Alternativstellen erfaßt werden sollten, soweit nicht im Einzelfall der Auftraggeber ausdrücklich dagegen ist oder die Vermittlung einer Frau im Hinblick auf Bestimmungen zum Schutze der Frau ausgeschlossen ist.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Lepsius.
Frau Staatssekretärin, könnten Sie mir meine bereits gestern gestellte Frage, deren Beantwortung verschoben wurde, jetzt beantworten, nämlich die Frage, wie hoch die Vermittlungstätigkeit der örtlichen Arbeitsämter, bezogen auf arbeitslose Frauen im Verhältnis zu arbeitslosen Männern, ist?
Frau Abgeordnete Lepsius, Fragen, die in der gestrigen Fragestunde behandelt worden sind, sind nicht mehr Gegenstand der heutige Fragestunde. Wenn Ihre Frage im Zusammenhang mit der- von mir aufgerufenen Frage 20 steht, dann lasse ich sie zu.
Ja, ich stelle diese Frage, die im Zusammenhang mit der aufgerufenen Frage steht, weil sie gestern zurückgestellt wurde, Herr Präsident. '
Gut. - Bitte!Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich will diese Frage gern beantworten: Im Laufe des Monats November 1977 wurden 4 883 Männer und 1 997 Frauen in allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung vermittelt. Im Rahmen des arbeitsmarktpolitischen Programmes der Bundesregierung vom 25. Mai 1977 wurden 2 432 Männer und 1 306 Frauen vermittelt. Von den Zuweisungen im Rahmen eines Programms entfielen also 35 % auf Frauen. Insgesamt waren im November 1977 in 11 624 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 42 363 zugewiesene Arbeitnehmer beschäftigt. Davon waren 32 953 Männer und 9 410, also ein knappes Viertel, Frauen.Die Maßnahmen werden in Gruppen erfaßt. Einen Schwerpunkt bilden dabei die 6 631 Maßnahmen im Bereich Büro und Verwaltung. Daneben sind insbesondere Maßnahmen in den Bereichen des Gar-
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4996 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Staatssekretär Frau FuchsI ten- und Landschaftsbaues, des Hochbaus und der sozialen Dienste bedeutsam. Der Bundesregierung liegen nach Landesarbeitsamtsbezirken aufgeschlüsselte Angaben über Art und Umfang der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor. Daraus ergibt sich beispielsweise, daß Ende November 1977 in Bayern insgesamt 3 615 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen liefen mit 7 005 zugewiesenen Männern und 2 301 zugewiesenen Frauen, also knapp ein Drittel.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Frau Staatssekretärin, trifft zu, was man vor einiger Zeit den Zeitungen entnehmen konnte, daß die Struktur der offenen Stellen bei den Arbeitsämtern, die ja nach Männern und Frauen erfaßt werden, die — lassen Sie es mich technisch ausdrücken — geschlechterspezifische Aufteilung des Arbeitsmarktes zu Lasten der Frauen verfestigt und daß sich daraus ein unbefriedigender Zustand der Vermittlung ergibt, und zwar sowohl in bezug auf die Zahl der Vermittlungen der Frauen als auch im Hinblick auf die Berufe, in die arbeitslose Frauen durch die Arbeitsämter vermittelt werden?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Frau Abgeordnete, das kann nicht ein Problem der Statistik sein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine Aufschlüsselung in der Statistik nach Männer und Frauen — die wir an sich wollen, um auch das Problem der Frauenarbeitslosigkeit deutlich zu machen — dazu führt, daß die Vermittlungschancen der Frauen verschlechtert werden. Ich bin aber gern bereit, dieser Frage in dieser Richtung noch einmal nachzugehen und Ihnen dann eine weitere Auskunft zu geben. Aber auf Anhieb kann ich mir nicht vorstellen, daß statistische Aufschlüsselungen zu einer schlechteren Vermittlung führen.
Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin, Sie haben nur eine Zusatzfrage; Zwiegespräche gibt es nicht. Vielleicht übernimmt Ihre Kollegin es, dieses Problem zu vertiefen. — Frau Abgeordnete Steinhauer.
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, uns zu gegebener Zeit über die zusätzlich zu den Programmen der Bundesanstalt für Arbeit jetzt angelaufenen Programme der einzelnen Länder zur Ausweitung der Vermittlungschancen der Frauen zu berichten — ich komme aus Nordrhein-Westfalen und denke insbesondere an dieses Land —, vor allem zu berichten, ob es unter dem Gesichtspunkt der regionalen Auswirkung sinnvoll ist, diese Programme weiterlaufen zu lassen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Dazu bin ich gern bereit.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Linde.
Frau Staatssekretärin, aus den Zahlen, die Sie uns genannt haben, ergibt sich, daß prozentual weniger Frauen, als es ihrer Arbeitslosigkeit auf dem Gesamtarbeitsmarkt entspricht, durch ABM-Maßnahmen vermittelt werden. Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, besondere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Beseitigung der Frauenarbeitslosigkeit zu ergreifen, und zwar so spezifische, daß sie den besonderen Verhältnissen des Arbeitsmarktes und der Situation der Frauen entsprechen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Die Bundesregierung hat ja mit dem Programm „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen soziale Dienste" ein Programm in die Wege geleitet, das speziell den Belangen auch der teilzeitarbeitssuchenden Frauen entgegenkommen soll. Dieses Programm ist erst angelaufen, so daß wir die Auswirkungen noch nicht in Zahlen ausdrükken können. Aber wir sind überzeugt, daß es eines der Programme ist, von denen Sie sprechen.
Im übrigen wird es darauf ankommen, zu überlegen — wie das vorhin in der Frage auch schon angeklungen ist —, wie man regional in strukturschwachen Gebieten spezielle Programme in der von Ihnen angeführten Richtung durchsetzen kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Dr. Martiny-Glotz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, aus der Statistik geht ja sehr deutlich hervor, in welchen Bereichen die Frauenarbeitslosigkeit besonders hoch ist. Trägt die Registrierung dieser Zahlen nicht zu einer Festschreibung dieses Sachverhalts bei?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Nein. Die Festschreibung von Zahlen kann zunächst einmal die Lösung eines Problems nicht hindern.
Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß wir den Statistiken entnehmen können, daß es spezielle Bereiche gibt, in denen wir überproportionale Frauenarbeitslosigkeit haben, daß es bestimmte Berufe gibt, in denen es besonders viele arbeitslose Frauen gibt, weil wir dort eine hohe Beschäftigungsquote von Frauen haben. Wir sollten auch darüber nachdenken — das habe ich eben gesagt —, wie wir diesen speziellen Problemen der Frauenarbeitslosigkeit durch besondere Programme zu Leibe rücken können. Aber Sie sollten dieses Thema nicht zu sehr auf das Problem Statistik verdichten.
Keine weiteren Zusatzfragen. Dann rufe ich die Frage 21 des Herrn Abgeordneten Löffler auf:Besitzt die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie viele und welche Schäden in der Krankenbehandlung durch fehlerhaftes oder technisch nicht zuverlässiges medizinisches Gerät entstehen?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4997
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich möchte gern die Fragen 21 und 22 gemeinsam beantworten.
Einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 22 des Herrn Abgeordneten. Löffler auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß medizinische Geräte genauso auf ihre technische Zuverlässigkeit hin überprüft werden, wie es bei anderen Geräten bereits üblich ist?
Bitte schön.
Frau Fuchs, Staatssekretär: Der Bundesregierung sind die Presseveröffentlichungen über Schadensfälle, die durch fehlerhafte medizinisch-technische Geräte verursacht worden sind, bekannt. Sie ist diesen Veröffentlichungen nachgegangen und hat versucht, sich ein Bild über Zahl und Art der Schäden und Mängel zu machen.
Eine an die Länder, an die Berufsgenossenschaften, Gesundheitsdienste und die Wohlfahrtspflege, an die industriellen Fachverbände und an den Technischen Überwachungsverein Rheinland gerichtete Umfrage brachte allerdings nur Teilerkenntnisse über in Einzelfällen festgestellte Mängel, beispielsweise bei Röntgengeräten, Überdruckkammern und Infusions-pumpen, oder über die Situation in einzelnen Krankenhäusern, die sich einer freiwilligen Überprüfung unterzogen hatten.
Zu Ihrer zweiten Frage darf ich folgendes bemerken. Die Bundesregierung hat auf Bitten der Gesundheitsministerkonferenz im Herbst vergangenen Jahres beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit der Frage befaßt, .welche gesetzlichen Vorschriften zur Überprüfung und Überwachung medizinisch-technischer Geräte erforderlich sind. Die Arbeitsgruppe hat ihre Tätigkeit aufgenommen und zunächst einen Katalog der in Betracht kommenden medizinisch-technischen Geräte erstellt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Löffler.
Frau Staatssekretärin, zunächst eine Frage zur Arbeitsgruppe: Mit welchem Ziel ist die Arbeitsgruppe eingesetzt worden? Wird aus der Tätigkeit dieser Arbeitsgruppe eventuell die Anregung für eine gesetzliche Regelung kommen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ja. Diese Arbeitsgruppe ist eingesetzt worden, um den Fehlern und Mängeln nachzugehen, von denen in Ihrer Frage auch gesprochen wird. Es kann auch sein, daß diese Kommission gesetzliche Maßnahmen vorschlägt, deren Umsetzung wir dann zu überlegen haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Sind Ihnen, Frau Staatssekretärin, im Zusammenhang mit den Teilergebnissen Erkenntnisse zu Oh ren gekommen, die aussagen, daß Menschen dabei zu Schaden oder eventuell sogar zu Tode gekommen sind?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Daß Menschen zu Schaden gekommen sind, hat sich ergeben. Das ist einer der Gründe, warum man diesem Gesamtproblem verstärkt Aufmerksamkeit zuwendet.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Löffler.
Frau Staatssekretärin, welche Vorstellungen hat die Bundesregierung über die Regelung dieses Sachverhalts, wenn es nach der Kommissionsarbeit zu keiner gesetzlichen Regelung kommt?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Sie unterstellen, daß diese Kommission zu keinem Ergebnis kommt, das für uns in gesetzliche Regelungen umsetzbar wäre. Diese Frage kann ich in der jetzigen Situation nicht beantworten. Wir müssen abwarten, welche Maßnahmen diese Kommision vorschlägt.
Es wird ja zur Zeit daran gearbeitet, eine Gefahrenskala aufzustellen, in die einzelne Geräte eingeordnet werden können. Von dieser Zuordnung hängt z. B. ab, welche Prüfungs- oder Überwachungsmaßnahmen für einzelne Geräte oder Gerätegruppen notwendig sind.
Die in Betracht kommenden gesetzlichen Verpflichtungen würden z. B. reichen von der Einführung einer Baumusterprüfung für bestimmte Geräte über die Einführung gesetzlich vorgeschriebener regelmäßiger Wartungspflichten bis zu Anleitungs-
und Schulungsmaßnahmen für das Bedienungspersonal. Sie sehen also: Es gibt ein breites Spektrum. Wir werden abzuwarten haben, welche Maßnahmen die Kommission vorschlägt.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steinhauer.
Frau Staatssekretärin, würden Sie es als unterstützend ansehen, daß sich mit diesem Problem gestern bereits ein Hearing im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung befaßt hat? Gehe ich recht in der Annahme, daß die Ergebnisse dieses Hearings in die Überlegungen der Arbeitsgruppe einfließen werden?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Sicherlich, Frau Abgeordnete. Vielen Dank für den Hinweis.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Frau Staatssekretärin, angesichts der Wichtigkeit dieses Komplexes und angesichts der Laufzeiten für normale Gesetzgebungsverfahren: Haben Sie schon einen Überblick darüber, wann mit Ergebnissen dieser Bund-Länder-Kommission zu rechnen ist?Frau Fuchs, Staatssekretär: Darüber habe ich keine Übersicht. Aber es ist die Absicht, diese Arbeit zügig voranzutreiben.
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4998 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Halten Sie, Frau Staatssekretär, die VDE-Vorschriften und die Tätigkeit der Gewerbeaufsichtsämter also nicht für ausreichend?
Frau Fuchs, Staatssekretär: So pauschal würde ich Ihre Frage, Herr Abgeordneter, nicht mit Ja oder Nein beantworten. Wir müssen sehen, ob auf Grund der Erfahrungen, die bisher gemacht worden sind, und auch auf Grund der Gefahrenlage, die ja Ausgangspunkt für die Bildung einer solchen Arbeitsgruppe war, weitere Maßnahmen erwogen werden müssen. Ich gehe davon aus, daß es zu weiteren Vorschriften oder auch weiteren Maßnahmen kommen wird.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Martiny-Glotz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, halten Sie es nach Anhörung des gestrigen Tages nicht für nicht nur denkbar, sondern sogar sehr wahrscheinlich, daß im Zusammenhang mit der Novellierung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel noch im Laufe dieses Jahres eine befriedigende gesetzliche Lösung gefunden werden kann?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich kann nicht übersehen, ob es wirklich schon in diesem Jahr gelingen wird, dieses Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. Ich wäre froh darüber und kann der Hoffnung Ausdruck geben, daß es dem Bundestag gelingen wird, dies zügig zu verabschieden.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jens.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir sagen, wann die Kommission ihre Arbeiten abgeschlossen haben wird?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe Frage 23 des Abgeordneten Müller auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung den Widerspruch, daß trotz des finanziellen Überchusses der allgemeinen Ortskrankenkassen im Jahr 1976 von insgesamt rund 1,5 Milliarden DM und einem solchen 1977 von wahrscheinlich 800 Millionen DM und der Aufforderung des Bundesarbeitsministers Dr. Ehrenberg, die Beitragssätze zu senken. der durchschnittliche Beitragssatz aller Ortskrankenkassen sich ab 1. Januar 1938 von 11,4 v. H. auf 11,5 v. H. erhöht bzw. der allgemeine Beitragssatz der AOK Berlin - der nach § 17 SKAG-Berlin nur bis zum durchschnittlichen Beitragssatz aller Ortskrankenkassen erhöht zu werden braucht — ab 1. Januar 1978 auf 11,6 v. H. erhöht wurde, allgemein also mit einem durchschnittlichen Beitragssatz von 11,6 v. H. bis Mitte 1978 gerechnet wird?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich würde gern die Fragen 23 und 24 gemeinsam beantworten.
Sind Sie damit einverstanden, Herr Abgeordneter?
— Dann rufe ich zusätzlich Frage 24 auf:Verfügt die Bundesregierung über Erkenntnisse darüber, wieviel bzw. welche Ortskrankenkassen bereits ab 1. Januar 1978 ihren allgemeinen Beitragssatz um wieviel und aus welchen Gründen erhöhen? Frau Fuchs, Staatssekretär: Nach Auffassung der Bundesregierung besteht der in Ihrer Frage angenommene Widerspruch nicht. Bei den von Ihnen genannten Überschüssen der Allgemeinen Ortskrankenkassen in den Jahren 1976 und 1977 handelt es sich um Gesamtwerte. Das schließt nicht aus, daß einzelne Kassen dennoch ihre Beiträge erhöhen müssen. Der Bundesverband der Ortskrankenkassen hat dafür auf seinem Presseseminar am 5./6. Dezember 1977 folgende Gründe genannt:1. Die Kostenentwicklung hat sich keineswegs bei allen Ortskrankenkassen gleichmäßig vollzogen.2. 1976 sind die Ortskrankenkassen mit unterschiedlichen Beitragskalkulationen angetreten. Es gab Kassen, die den knappsten gerade noch vertretbaren Beitragssatz hatten, während andere ihren Kalkulationen für den Beitragssatz eine Fortsetzung der Kostenexplosion zugrunde gelegt hatten.3. Der Finanzausgleich in der Krankenversicherung der Rentner wirkt sich bei den einzelnen Ortskrankenkassen unterschiedlich aus. So müssen einige Krankenkassen, die bisher wegen ihres Rentneranteils günstig abschnitten, künftig einen höheren Anteil aus ihren allgemeinen Beiträgen für die Krankenversicherung der Rentner verwenden.Die AOK Berlin ist eine landesunmittelbare Krankenkasse, deren Beitragssatzänderungen durch die Aufsichtsbehörde, den Senator für Arbeit und Soziales in Berlin, zu genehmigen sind. Soweit mir bekannt ist, hat die AOK Berlin die Entwicklung des durchschnittlichen Beitragssatzes aller Ortskrankenkassen so eingeschätzt, daß bis Mitte 1978 mit einem Beitragssatz von durchschnittlich 11,6 % zu rechnen ist.Die Bundesregierung ist der Meinung, daß im allgemeinen eine Beitragssatzstabilìtät zu erwarten ist, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß einzelne Krankenkassen ihre Beitragssätze ändern müssen, wobei auch Senkungen des Beitragssatzes möglich sind.Im übrigen darf ich auf die Antwort auf die Frage des Abgeordneten Stutzer in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 10. Oktober 1977 hinweisen, in der auf diese Entwicklung bereits aufmerksam gemacht worden ist.Zu Ihrer zweiten Frage möchte ich folgendes bemerken: Der Bundesregierung liegen zur Zeit noch keine statistischen Unterlagen zum 1. Januar 1978 vor, so daß sie keine Angaben darüber machen kann, wie viele oder welche Ortskrankenkassen ihre Beitragssätze verändert haben.Der Bundesverband der Ortskrankenkassen hat in seinem Presseseminar am 5./6. Dezember 1977
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 4999
Staatssekretär Frau Fuchsmitgeteilt, daß zum 1. Januar 1978 etwa 30 Ortskrankenkassen ihre Beitragssätze erhöhen und 6 Ortskrankenkassen ihre Beitragssätze ermäßigen. Der durchschnittliche Beitragssatz würde dadurch von 11,40 auf 11,45 °/o ansteigen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Frau Staatssekretär, halten Sie es nicht für einen Widerspruch, wenn es z. B. — soweit mir bekannt; ich weiß nicht, ob das stimmt, sondern möchte das von Ihnen wissen — nicht, wie Sie sagen, 30, sondern 44 Ortskrankenkassen sind, die beabsichtigen, ihre Beiträge zu erhöhen, wobei einige Krankenkassen ihre Beiträge auf über 13 % erhöhen wollen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich habe in meiner ersten Antwort gesagt, daß ich es nicht für einen Widerspruch halte, und dabei bleibe ich. Nach den von mir genannten Unterlagen ist von 30 Krankenkassen die Rede gewesen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Waren der Bundesregierung die günstigen Zahlenergebnisse, die der Verband der Ortskrankenkassen für 1976 herausgegeben hat, schon vor Beginn bzw. zum Zeitpunkt der Beratungen des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes bekannt und werden sie nur — ich darf zitieren — „aus taktischen Gründen nicht herausposaunt", und wenn ja: warum wurden sie dem federführenden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorenthalten?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Sie haben etwas zitiert, das ich nicht kennet Insofern kann ich nicht darauf eingehen, Herr Abgeordneter. Wenn Sie insgesamt meinen, daß wir ein Kostendämpfungsgesetz nicht nötig gehabt hätten, so antworte ich Ihnen darauf, daß die Kostenentwicklung in der Krankenversicherung und im Gesundheitswesen so gravierend war, daß es richtig war und richtig bleibt, daß wir dieses gesundheitspolitisch wichtige Vorhaben durchgesetzt haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Ich hatte an sich gefragt, ob Ihnen die Zahlen bekannt waren. Ich habe noch eine andere Frage: Können Sie mir schon Angaben darüber machen, wie sich die Neuregelung der Rentnerkrankenversicherung unter Berücksichtigung des § 393 b RVO, wonach die durch Beiträge nach § 381 Abs. 2 RVO nicht gedeckten Leistungsaufwendungen für die krankenversicherten Rentner von den gesetzlichen Krankenkassen einschließlich der Ersatzkassen gemeinsam zu tragen sind, hinsichtlich der weiteren Beitragsgestaltung auswirkt? Diese Frage ist insbesondere in Berlin wichtig, wo 43 Prozent der Bevölkerung Rentner sind.
Frau Fuchs: Staatssekretär: Dazu kann ich Ihnen im Moment keine konkreten Angaben machen. Nach unserer Einschätzung ist es aber so, daß die Krankenkassen dieses Problem bei einer relativen Beitragsstabilität lösen werden.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Stimmt es — oder können Sie auch hierüber keine Angaben machen —, daß auch die Innungskrankenkassen eindringlich vor der Annahme gewarnt haben, die Beitragssätze der Krankenkassen seien auch 1978 in der derzeitigen Höhe sicher? Sie haben weiter darauf aufmerksam gemacht, daß schon am 1. Januar 1978 ein Zehntel ihrer Kassen die Beitragssätze anheben mußten und daß mit weiteren Erhöhungen auch in diesem Jahr zu rechnen ist.
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich kann eine Beitragserhöhung einzelner Krankenkassen natürlich nicht ausschließen. Aber generell ist zu sagen, daß wir für das Jahr 1978 nach den uns vorliegenden Informationen mit einer relativen Beitragsstabilität zu rechnen haben, so daß wir zwar keine Voraussage machen können, wie sich die einzelne Krankenkasse verhält, generell aber bei unserer Aussage bleiben.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten Broll auf:
Trifft es zu, daß Zivildienstleistende bei kirchlichen bzw. karitativen Einrichtungen vom Bundesamt für Zivildienst eingesetzt werden, ohne daß die freigemeinnützigen Träger im Einzelfall einen Einfluß auf die Auswahl der Zivildienstleistenden in Form von Einstellungsgesprächen oder z. B. einer zweitätigen Probezeit haben?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Ihre Frage bezieht sich auf eine Situation, wie sie bis zum Ende des vergangenen Jahres bestanden hat. Inzwischen ist den Verbänden, denen Beschäftigungsstellen des Zivildienstes angehören, im Rahmen der ihnen übertragenen Verwaltungsaufgaben ein Vorschlagsrecht zur Besetzung der Zivildienstplätze eingeräumt worden. Diese Regelung gilt seit dem 1. Januar 1978.
Keine Zusatzfrage.Da der Herr Abgeordnete Roth nicht im Saal ist, wird seine Frage 27 schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Die Frage 28 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 29 des Herrn Abgeordneten Dr. Enders auf:Liegt es im Sinne der Bundesregierung, daß zur Befreiung von der Rezeptgebühr nach dem Gesetz zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen das Wohngeld und für die landwirtschaftlichen Altenteiler das freie Wohnrecht von den nachgeordneten
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5000 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Vizepräsident StücklenStellen als Einkommen angerechnet wird, so daß Bezieher kleiner Einkünfte keine Berücksichtigung als Härtefall finden, und, wenn nein, welche Folgerungen wird sie ziehen?Bitte schön, Frau Staatssekretär.Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hält die für das Wohngeld bzw. Wohnrecht gefundene Verfahrensweise, die gerade auch die Situation der Bezieher kleinerer Einkünfte gebührend berücksichtigt, nicht für bedenklich. Das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz'hat festgelegt, daß die Arzneikostenbeteiligung grundsätzlich von allen Versicherten zu zahlen ist. Die Krankenkasse kann allerdings in besonderen Härtefällen nach pflichtgemäßem Ermessen von der Zuzahlung befreien. Die Spitzenverbände der Krankenkassen haben im Interesse einer einheitlichen Verwaltungspraxis Richtlinien empfohlen, in denen bestimmte Einkommensgrenzen vorgesehen sind, bei deren Überschreitung eine Befreiung im allgemeinen nicht mehr vorgenommen werden soll. Soweit mir bekannt ist, rechnen die Krankenkassen Bezüge, die wegen eines speziellen unabweisbaren Mehrbedarfs erbracht werden, nicht zu dem für die Befreiung zu berücksichtigenden Einkommen.Zu diesen Bezügen zählt auch das Wohngeld. Bei landwirtschaftlichen Altenteilern kommt es nach der Praxis der Krankenkassen darauf an, auf welcher rechtlichen Grundlage das Wohnrecht beruht. Ist es aus einer vertraglichen Abmachung, z. B. einem Übergabevertrag, herzuleiten, so wird es im Rahmen des bei der Befreiung von der Arzneikostenbeteiligung anzurechnenden Bruttoeinkommens berücksichtigt. Ebenso wie bei der Beitragserhebung und in Übereinstimmung mit dem Steuerrecht wird ein nur aus der Unterhaltsverpflichtung abgeleitetes und nicht vertraglich begründetes Wohnrecht dagegen nicht auf das Bruttoeinkommen angerechnet.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Frau Staatssekretär, sind Sie bereit, darauf hinzuwirken, daß die unterschiedliche Handhabung bei den Krankenkassen — nämlich einmal das Wohngeld auf das Einkommen anzurechnen und das andere Mal nicht — einheitlich geregelt wird?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Sie wissen, daß das die Krankenkassen zu entscheiden haben. Aber ich bin gern bereit, darauf hinzuwirken.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretär, sind Sie sich auch dessen bewußt, daß keine soziale Leistung die andere aufheben soll, indem durch die Anrechnung des Wohngeldes auf das Einkommen die Grenze geringfügig überschritten wird und dadurch den betroffenen Beziehern kleiner Einkommen Verluste entstehen, indem sie nicht als Härtefall anerkannt und nicht von der Rezeptgebühr befreit werden?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich stimme Ihrer Auffassung zu.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 30 — Abgeordneter Dr. Kunz — auf:
Trifft es zu, daß die Absicht besteht, im Falle der Gütergemeinschaft die mitversicherte Ehefrau und die Kinder selbständig versicherungspflichtig zu machen, wenn der auf die Ehefrau entfallende Anteil an dem gemeinsam erzielten Einkommen mehr als 370 DM im Monat beträgt?
Bitte, Frau Staatssekretär.
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich gehe davon aus, daß Sie mit Ihrer Frage die am 1. Juli 1977 in Kraft getretene Neuregelung des Familienhilfeanspruchs in der gesetzlichen Krankenversicherung ansprechen wollen. Dazu ist folgendes zu sagen.
In den Versicherungsschutz des in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten sind weiterhin sein Ehegatte und seine Kinder einbezogen, wenn sie regelmäßig kein eigenes Gesamteinkommen von mehr als 390 DM monatlich haben. Der Familienanspruch ist somit dann ausgeschlossen, wenn der Familienangehörige über eigene Einkünfte verfügt, die auch nach dem Einkommensteuerrecht als ihm zuzurechnende Einkünfte anzusehen sind.
Soweit Ihre Frage die Zurechnung von Einkünften im Rahmen der Ermittlung des Gesamteinkommens betrifft, wenn steuerrechtlich beiden Ehegatten die erzielten Einkünfte zugerechnet werden, läßt sich eine allgemeine Antwort nicht geben. Hier kommt es auf die Einkunftsart und auf die Umstände des Einzelfalles an. Zudem sind in der Praxis noch eine Reihe von Fragen ungeklärt, die sich durch das Zusammentreffen von Regelungen des Bürgerlichen Rechts, des Steuer- und des Krankenversicherungsrechts ergeben haben.
Eine Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter.
Frau Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung der sozialen Ungleichheit bewußt, die dadurch geschaffen wird, daß im Vergleich zu größeren Betrieben, in denen die Ehefrau nicht mitarbeitet, in den Familienbetrieben, in denen das Familieneinkommen wesentlich von der Mitarbeit der Ehefrau abhängt — wo infolgedessen in der Regel Gütergemeinschaft besteht —, durch die Krankenversicherung eine spürbar höhere Belastung zustande kommt, als wenn das Familieneinkommen allein durch den Ehemann erzielt wird?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Dies kann im Einzelfall vorkommen. Ich gebe Ihnen das zu. Ich bin auch gern bereit, mit den zuständigen Verbänden in Verbindung zu treten, um zumindest zu gewährleisten, daß eine einheitliche Handhabung in diesem Gesamtbereich vorgenommen wird.
Ich habe mich um diese Problematik gekümmert. Es ist dort noch eine Reihe von offenen Fragen. Ich
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 197g 5001
Staatssekretär Frau Fuchs
kann Ihnen im Moment eigentlich nur zusagen, daß wir uns des Problems bewußt sind und versuchen, hier eine vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, im Interesse der Erhaltung oder gar der Neugründung von Kleingewerbebetrieben diese Härten und sozialen Benachteiligungen zu Lasten der wirtschaftlich Schwächeren zu beseitigen oder wenigstens entscheidend zu mildern?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich habe Ihnen eben angedeutet, daß wir auch den steuerrechtlichen Problemen, die da ebenfalls eine Rolle spielen, nachgehen wollen. Mehr kann ich Ihnen im Moment in dieser Frage nicht zusagen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 31 des Abgeordneten Dr. Bötsch auf :
Kann die Bundesregierung im Anschluß an die Frage 35 der Fragestunde vom 14./15. Dezember 1977 und die Beantwortung des Bundesarbeitsministeriums vom 13. Dezember 1977 erklären, um welches Heim es sich gehandelt hat, das einen Heimleiter mit möglichst sozialdemokratischer Gesinnung suchte?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Ich würde auch diese Fragen gern gemeinsam beantworten.
Einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 32 des Herrn Abgeordneten Bötsch auf:
Würde die Bundesregierung ein Heim der Arbeiterwohlfahrt als einen Tendenzbetrieb im Sinne des § 20 des Arbeitsförderungsgesetzes ansehen?
Frau Fuchs, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Ihnen ist sicher bekannt, daß der Grundsatz der Vertraulichkeit der Arbeitsvermittlung die Bekanntgabe des Namens eines Stellenanbieters nicht gestattet.
Ein Heim der Arbeiterwohlfahrt — und damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage — ist nicht als ein Tendenzbetrieb im Sinne des § 20 Arbeitsförderungsgesetz anzusehen. Nach den von der Bundeskonferenz der Arbeiterwohlfahrt 1974 in Wiesbaden beschlossenen Richtlinien der Arbeiterwohlfahrt wird deren Arbeit vom Gedanken der Toleranz getragen und dient den Rat- und Hilfesuchenden aller Bevölkerungskreise ohne Rücksicht auf deren politische, rassische, nationale und konfessionelle Zugehörigkeit.
Keine Zusatzfrage. Vielen Dank, Frau Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Wischnewski
zur Verfügung. Ich rufe Frage 116 des Herrn Abgeordneten Sauter auf:
Hat sich die Bundesregierung eine Meinung darüber gebildet, ob der Sozialismus in Deutschland tot ist, und wenn ja, zu welchem Ergebnis ist sie gekommen, und worauf führt sie die festgestellte Entwicklung zurück?
Herr Präsident, die Frage des verehrten Kollegen Sauter möchte ich wie folgt beantworten: Zur Frage, ob der Sozialismus in Deutschland tot sei, hat sich die Bundesregierung keine Meinung gebildet und auch keine Meinung bilden müssen.
Sie hat dies auch in Zukunft nicht vor.
Falls sich hinter Ihrer Frage verbergen sollte, daß Sie hier nach der Auffassung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands fragen wollten, so darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die SPD in ihrem Godesberger Programm im Abschnitt „Grundwerte des Sozialismus" festgehalten hat:
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens. Die Sozialdemokratische Partei erstrebt eine Lebensordnung im Geiste dieser Grundwerte. Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe, Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihm zu bewähren.
Mir liegen keine Erkenntnisse und keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß sich an der Gültigkeit dieser Leitsätze irgend etwas geändert hat.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Sauter .
Herr Staatsminister, halten Sie es nicht im Interesse der Aufklärung der Öffentlichkeit für angebracht und erforderlich, daß eine so schwergewichtige Aussage eines maßgeblichen Führers der Freien Demokratischen Partei eine Antwort findet, und glauben Sie nicht, daß hier eine Frage gestellt wurde, die so, wie Sie das gemacht haben, nicht beantwortet werden darf?
Wischnewski, Staatsminister: Erstens besteht die wichtigste Aufgabe der Bundesregierung nicht darin, Kollegen des Bundestages zu kritisieren.
Dieses ist keine Aufgabe der Bundesregierung. Genauso wie Sie das Recht haben, eine Meinung zu irgendeiner Frage zu äußern, hat dieses Recht selbstverständlich jeder andere auch.
Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen auch Zitate aus dem Ahlener Programm der CDU bringen. Sie sind vorbereitet.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Sauter
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5002 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß die Mehrheit der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland wünscht, daß der Sozialismus noch weitere Verbreitung findet, und könnten Sie möglicherweise dazu eine Meinungsbefragung durchführen?
Wischnewski, Staatsminister: Für den demokratischen Sozialismus gibt es, jedenfalls in den letzten Meinungsumfragen, hervorragende Ergebnisse.
Sie haben keine Zusatzfrage mehr.
Herr Abgeordneter Bötsch.
Herr 'Staatsminister, gilt die Beantwortung Ihrer Frage für die gesamte Regierung oder nur für den Teil der Koalition, der von der SPD repräsentiert wird?
Wischnewski, Staatsminister: Ich darf Sie sehr herzlich darum bitten, den ersten Teil meiner Antwort ausdrücklich zur Kenntnis zu nehmen.
Eine Zusatzfrage, Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, da auch in der internationalen politischen Diskussion der Begriff des Sozialismus eine Rolle spielt, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung sich um die Schaffung einer internationalen schiedsrichterlichen Autorität bemüht, die beurteilt, wer denn nun den wahren Sozialismus vertritt, da es u. a. National-Sozialismus, DDR-Sozialismus und den von Ihnen genannten demokratischen Sozialismus gibt.
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, ich nehme an, daß Ihnen, der Sie ein Mann sind, der sich für politische Fragen schon seit vielen Jahren interessiert, das Godesberger Programm in hervorragender Weise bekannt ist. Es gibt nirgendwo die Notwendigkeit, im Hinblick auf dieses Programm irgendeine Schiedsrichtertätigkeit wahrzunehmen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, gibt es Anzeichen dafür, daß die von Ihnen zitierten Grundwerte des Godesberger Programms „Mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität" als Zielvorstellung des demokratischen Sozialismus inzwischen so lebendig geworden sind, daß sie sogar
von anderen Parteien dieses Hauses, z. B. von der CDU, übernommen werden?
Wischnewski, Staatsminister: Meine Erkenntnisse gehen genau in die Richtung, die Sie hier angesprochen haben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Ey.
Herr Staatsminister, sind Sie nicht auch mit mir der Auffassung, daß zum Nachweis der von Ihnen erwähnten Tendenzen hinsichtlich der Einstellung der Bevölkerung zum Sozialismus. am besten die Wahlergebnisse der letzten Jahre heranzuziehen wären?
Wischnewski, Staatsminister: Ich finde, daß die Wahlergebnisse das immer sehr deutlich zum Ausdruck bringen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie im ersten Teil Ihrer Antwort ausdrücklich erklärt haben, daß die Regierung nichts getan hat und nichts tun wird, um den demokratischen Sozialismus, wie er im Godesberger Programm niedergelegt ist, zu verwirklichen?
Wischnewski, Staatsminister: Sie haben mich offensichtlich bewußt mißverstanden. Ich habe eine solche Aussage im Rahmen meiner Ausführungen überhaupt nicht gemacht.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lagershausen.
Herr Staatsminister, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie, wenn Sie im ersten Satz Ihrer Antwort soeben von Erkenntnislosigkeit der Regierung gesprochen haben, damit den Gesamtzustand der Regierung charakterisiert haben?
Wischnewski, Staatsminister: Ich habe Ihre Frage leider akustisch nicht verstanden. Würden Sie ein bißchen näher an das Mikrophon herangehen.
Herr Staatsminister, Sie haben den ersten Teil Ihrer Antwort eben durch den Satz eingeleitet, daß der Regierung keine Erkenntnisse bezüglich der vom Kollegen Sauter gestellten Frage vorlägen. Darf ich daraus entnehmen, daß diese Erkenntnislosigkeit einen Gesamtzustand der Regierung kennzeichnet?Wischnewski, Staatsminister: Sie haben leider nicht zugehört. Wenn hier so wichtige Fragen gestellt werden, kann man auch darum bitten, daß man zuhört. Das Wort „Erkenntnis" oder „Kenntnisse"
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5003
Staatsminister Wischnewskikommt in meiner Antwort, die wohlvorbereitet ist, überhaupt nicht vor. Sie liegen also schief mit Ihrer Frage.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatsminister, wären Sie bereit, dem Kollegen Dr. Mertes Unterlagen zur Verfügung zu stellen, aus denen er die Erkenntnis gewinnen könnte, daß der demokratische Sozialismus dadurch gekennzeichnet ist, daß er die Bewahrung individueller Grundfreiheiten anstrebt und deshalb mit den von ihm genannten Ismen in nichts vergleichbar ist?
Wischnewski, Staatsminister: Ich bin gerne bereit und selbstverständlich auch in der Lage, solche Unterlagen zur Verfügung zu stellen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 117 des Abgeordneten Sauter auf:
Gibt es innerhalb der Bundesregierung verschiedene Auffassungen zu dieser Frage, und wenn ja, hält die Bundesregierung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Kabinettsmitglieder unter diesen Umständen für möglich?
Wischnewski, Staatsminister: Die Bundesregierung hat zur Frage des demokratischen Sozialismus noch keine Meinungsumfrage im Kabinett durchgeführt. Sie hat auch keine solche Absicht.
Aber seien Sie bitte davon überzeugt: Die Zusammenarbeit der Kabinettsmitglieder ist vertrauensvoll und effizient und deshalb ausgezeichnet.
Eine Zusatzfrage.
Sauter (CDU/CSU:) Herr Staatsminister, würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen, diese von mir gestellte Frage wenigstens den FDP-Mitgliedern der Bundesregierung vorzulegen und mir schriftliche Mitteilungen über die Recherchen zu machen, die Sie unternehmen?
Wischnewski, Staatsminister: Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, in dieser Hinsicht irgendwelche Recherchen anzustellen. Sie haben nach der vertrauensvollen Zusammenarbeit gefragt. Für diese Frage bedanke ich mich ausdrücklich. Ich habe sie konsequent beantwortet.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist Ihnen bekannt, ob bei dem sogenannten Dreikönigstreffen in Stuttgart, bei dem es keine Könige mehr gegeben hat, die anwesenden Staatssekretäre diese Feststellung von Herrn Bangemann mit Zustimmung, Murren oder Ablehnung zur Kenntnis genommen haben? Falls Ihnen das nicht bekannt ist, würden Sie mir das bitte mitteilen?
Wischnewski, Staatsminister: Die Bundesregierung sieht ihre Aufgabe nicht darin, den Beifall bzw. Nichtbeifall in parteipolitischen Veranstaltungen zu kontrollieren, um ihn dem Parlament mitzuteilen.
Herr Staatsminister Wischnewski, Sie sind ja nun am Ende der Fragestunde bis auf die Zusatzfrage des Abgeordneten Voigt. Wenn Sie nicht so schnell antworten würden, wenn die Frage gestellt ist — das geht wie aus der Pistole geschossen —, dann hätte ich diese Frage nicht zugelassen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, kann man aus Ihrer Antwort über die effektive Zusammenarbeit in der Bundesregierung schließen, daß in der Regel, wenn demokratische Sozialisten und Liberale in Kabinetten zusammenarbeiten, die Zusammenarbeit sehr effektiv, wirksam und vertrauensvoll wirkt und daß man diese deshalb im Interesse dieses Landes generell fortsetzen sollte?
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe von dieser Bundesregierung gesprochen. Ich habe kein Recht, mir über andere Regierungen ein Urteil zu. erlauben. Hier ist die Zusammenarbeit jedenfalls ganz effizient, und mir scheint eine gute Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit schon im Prinzip gegeben zu sein.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatsminister, darf ich daraus, daß die Bundesregierung, wie Sie soeben in Ihrer Antwort sagten; sich über eine so wichtige Aussage eines führenden Mitglieds einer der beiden Koalitionsparteien, daß der Sozialismus in Deutschland tot sei, keinerlei Meinung gebildet hat, schließen, daß die meisten Mitglieder der Bundesregierung im stillen dieser Aussage recht geben?Wischnewski, Staatsminister: Ich habe eine solche Aussage in gar keiner Weise gemacht. Ich sage noch einmal: Die Bundesregierung, die Koalition, wie Sie wissen, besteht aus zwei voneinander unabhängigen Parteien. Daß sich die unabhängig voneinander ihre Meinung zu bestimmten Fragen bilden, ist eine Selbstverständlichkeit.
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5004 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatsminister, kann ich aus Ihrer Antwort schließen, daß die Bundesregierung keinesfalls, wie der Kollege aus Baden-Württemberg offenbar in Kenntnis der Praxis seiner Landesregierung unterstellt, Parteiveranstaltungen anderer Parteien überwachen läßt?
Wischnewski, Staatsminister: Das ist eine Selbstverständlichkeit. Es sei denn, es handelt sich um Parteiveranstaltungen von solchen Parteien, bei denen man über das Verhältnis zum Grundgesetz im Zweifel ist. Solche gibt es im Deutschen Bundestag überhaupt nicht. Deswegen haben Sie völlig recht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, da Sie soeben von einer möglichen, aber nicht stattgefundenen Umfrage in der jetzigen Regierung gesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob eine entsprechende Umfrage stattgefunden hat, als Sie Mitglied des Kabinetts der CDU/CSU-SPD-
Regierung waren?
Wischnewski, Staatsminister: Herr Kollege Dr. Mertes, ich erinnere mich auch nicht daran, daß während dieser Zeit Umfragen stattgefunden haben. Deswegen hat mich die Frage des Fragestellers auch sehr überrascht.
Herr Staatsminister Wischnewski, es ist nicht die Aufgabe des Präsidenten, Ratschläge an die Regierung zu geben, aber Sie hätten durchaus die Möglichkeit gehabt, diese Frage überhaupt nicht zu beantworten, weder die erste noch die zweite.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lagershausen.
Herr Staatsminister, darf ich aus der Summe Ihrer Antworten entnehmen, daß das Godesberger Programm für Ihren Koalitionspartner FDP ein verbindliches Parteiprogramm ist?
Wischnewski, Staatsminister: Sie wissen, daß Sie genau das Gegenteil von dem behaupten, was ich vorhin klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht habe.
Die letzte Zusatzfrage hierzu, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatsminister, liegen der Bundesregierung irgendwelche Erkenntnisse über die vertrauensvolle Zusammenarbeit von Herrn Kohl und Herrn Strauß vor?
Herr Staatsminister Wischnewski, diese Frage wird nicht zugelassen.
— Es gibt kein Zwiegespräch zwischen dem Präsidenten und den Abgeordneten des Hauses. Aber wenn Sie mich schon fragen, möchte ich antworten, daß es nicht in die Zuständigkeit des Staatsministers Wischnewski gehört, sich hier ein Urteil zu bilden
und dies auch noch amtlich-offiziell im Bundestag bekanntzugeben.
Herr Staatsminister, Sie sind mit Ihren Fragen am Ende.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister von Dohnanyi zur Verfügung.Nun komme ich zu einer amtlichen Mitteilung. Durch die heutige Regierungserklärung und die Aussprache sind eine Reihe von Problemen angesprochen worden, die nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde als erledigt anzusehen sind. Die Fragen sind daher nicht mehr zulässig.
Die Fragesteller sind über diese Entscheidung bereits unterrichtet. Ich mache darauf aufmerksam, daß sich der Ältestenrat heute vorbehalten hat, eine Grundsatzentscheidung zu den Richtlinien für die Fragestunde, insbesondere zu Nr. 2 Abs. 2, herbeizuführen.
Dies war die amtliche Mitteilung.Wir kommen nun zu den Fragen. Die Frage 118 des Herrn Abgeordneten Würtz wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Jetzt kommt die zweite Frage, Herr Staatsminister.
— Ich rufe die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Spranger auf:Wie läßt sich die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs von Schoeler vom 14. Dezember 1977 im Deutschen Bundestag auf meine Anfrage, die Bundesregierung habe keine Erkenntnisse über das Verschwinden des ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz, Hans-Helmut Wüstenhagen, vereinbaren mit der am 29. Dezember 1977 in der „Welt" verbreiteten ap-Meldung, Herr Wüstenhagen habe zweimal bei der deutschen Botschaft in Bangkok vorgesprochen, und den deutschen Behörden müsse sein Aufenthaltsort bekannt gewesen sein, und was hatte Wüstenhagen bei seinen beiden Besuchen in der deutschen Botschaft in Bangkok vorgetragen?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5005
Keiner der Mitarbeiter der Botschaft in Bangkok, Herr Kollege, kann sich an einen Besuch von Herrn Wüstenhagen erinnnern. Daraus muß geschlossen werden, daß er, falls er dort tatsächlich vorgesprochen haben sollte, dies dann so getan hat, daß Herr Wüstenhagen von seinem Gesprächspartner nicht erkannt wurde.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Spranger.
Kann die Bundesregierung nach Rücksprache mit der Botschaft in Bangkok ausschließen, daß Herr Wüstenhagen dort vorgesprochen hat?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich habe soeben genau das gesagt, was mir die Botschaft aus Bangkok berichtet hat, Herr Kollege.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, welchen Zweck Herr Wüstenhagen mit seiner Reise verfolgte und wie diese Reise finanziert wurde?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, das ist der Bundesregierung nicht bekannt.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Möller.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung der jetzige Aufenthaltsort von Herrn Wüstenhagen bekannt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Da bin ich im Augenblick überfragt, Herr Kollege. Ich weiß nicht, ob dieser Aufenthalt im Moment bekannt ist. Ich müßte das erst überprüfen und könnnte es Ihnen dann sagen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatsminister, wird der Aufenthalt von Herrn Wüstenhagen seitens der Bundesregierung überwacht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Aber ganz sicherlich nicht, Herr Kollege. Er könnte aber der Bundesregierung dennnoch bekannt sein, und danach bin ich gefragt worden.
Die Frage 119 des Abgeordneten Wittmann ist nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unzulässig.
Ich rufe die Frage 120 des Abgeordneten Dr. Mertes auf:
Kann die Bundesregierung diejenigen Staaten im einzelnen nennen, die nach der kürzlichen Verurteilung Chiles durch die Vereinten Nationen gemäß den Maßstäben der Bundesregierung die gleiche oder eine noch strengere Verurteilung wegen Menschenrechtsverletzungen verdienen, wenn für die Bundesrepublik Deutschland die ihrem Abstimmungsverhalten im Falle Chiles zugrunde liegenden Kriterien universal verpflichtend sind?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Am 16. Dezember 1977 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit 96 gegen 14 Stimmen bei 25 Enthaltungen eine Resolution zu Chile verabschiedet, in der tiefe Empörung über die ständigen und offenkundigen Menschenrechtsverletzungen in Chile ausgedrückt wird. Zusammen mit unseren EG-Partnern, den USA und den übrigen Mitgliedern der westlichen Gruppe mit Ausnahme von Spanien haben wir der Resolution zugestimmt. Die neun Staaten der EG hatten allerdings zuvor bei der Behandlung der Resolution im Dritten Ausschuß der Vereinten Nationen erstmals eine gemeinsame Erklärung zu Chile abgegeben, in der sie folgendes hervorgehoben haben. Die Erklärung lautet — ich darf zitieren —:
Dennoch liegt uns daran, festzuhalten, daß wir uns der Selektivität voll bewußt sind, die die Vereinten Nationen auf dem Gebiet des Schutzes der Menschenrechte beweisen, und daß in vielen anderen Ländern aller Erdteile Menschenrechte in flagranter Weise verletzt werden. Wir bedauern es lebhaft, daß die Generalversammlung nicht bereit ist, sei es aus politischen oder ideologischen Gründen oder auf Grund einer zu weit getriebenen Solidarität, sich auch mit diesen Fällen zu befassen. Eine derartige Untätigkeit von ihrer Seite legt von ihrer Unfähigkeit Zeugnis ab, die Aufgabe, die die Charta der Vereinten Nationen stellte, in vollem Umfange zu erfüllen. Unsere Länder bedauern dies.
Diese auch in unserem Namen abgegebene gemeinsame Stimmerklärung der Neun gibt, so scheint mir, die Antwort auf den Kern Ihrer Frage. Die von der Bundesregierung bei ihrem Abstimmungsverhalten zum Fall Chile zugrunde gelegten Kriterien sind in der Tat für die Bundesregierung universal verpflichtend. Aber eine Aufzählung einzelner Länder kann man auch auf dieser Grundlage nicht vornehmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Mertes.
Herr Staatsminister, wie beabsichtigt die Bundesregierung in Zukunft der Tatsache aktiv entgegenzuwirken, daß die Vereinten Nationen die Verurteilung von Staaten wegen deren Menschenrechtsverletzungen entgegen der auch von Ihnen hervorgehobenen universalen Geltung der Menschenrechte weiterhin selektiv und willkürlich vollziehen?
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5006 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Unter anderem, Herr Kollege, natürlich durch die Betonung derartiger Erklärungen. Sie sehen daran, daß die Gruppe der Neun, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland, interessiert daran ist, die Diskussion über die Menschenrechte auf eine breitere Ebene zu stellen.
Noch eine Zusatzfrage.
Nachdem die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Weißbuch der CDU/CSU-Fraktion mehrfach betont hat, ihr Wissensstand über die Verletzungen von Menschenrechten in den verschiedenen europäischen Staaten sei umfassend und bedürfe keiner Ergänzung, frage ich: Können Sie, Herr Staatsminister, dem Hohen Hause mitteilen, welche dieser europäischen Länder nach den bei der Verurteilung Chiles zugrunde liegenden Maßstäben nach Ihrer Auffassung die gleiche oder gar eine noch strengere Verurteilung verdienen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Mertes, ich möchte mich aufs neue auf das Ende der Beantwortung Ihrer Frage beziehen. Hier habe ich gesagt: Eine Aufzählung einzelner Länder kann man auch auf dieser — gemeinsam bezogenen — Grundlage nicht vornehmen. Ich möchte von diesem Grundsatz jetzt hier nicht abweichen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatsminister, da die Bundesregierung die ihr durch die Frage des Kollegen Mertes gebotene Gelegenheit, das, was die Vereinten Nationen zu tun nicht gewillt sind, ihrerseits vor dem deutschen Parlament festzuhalten, nicht wahrnimmt, frage ich: Muß daraus der Schluß gezogen werden, daß die Bundesregierung sich im Grund nicht anders verhält als die Mehrheit der Vereinten Nationen, die eine selektive Haltung bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen einnimmt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, diese Folgerung ist natürlich nicht zulässig. Nur: Eine Fragestunde ist nicht dazu geeignet, einzelne Länder an Hand von Kriterien aufzuzählen, die — wie im Fall Chile — sehr breit gestaffelt und auf Grund einer sehr intensiven Dokumentation angelegt worden sind. Deswegen kann das an dieser Stelle nicht erfolgen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, Sie haben sich auf die Erklärung der Neun und deren Verurteilung einer Selektivität bezogen. Besteht nach Ihrer Auffassung jemals eine Chance, daß die Vereinten Nationen diese Selektivität aufgeben
werden, wenn es um eine Verurteilung der Verletzung von Menschenrechten geht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Hupka, es ist für mich natürlich schwierig, hier eine Prognose anzustellen. Aber ich glaube, daß die Debatte über die Menschenrechte eine zunehmende Breite angenommen hat und daß man auf dieser Grundlage und auch auf der Grundlage von Dokumentationen, die vorgelegt werden, in der Tat hoffen kann, daß die Selektivität schrittweise aufgegeben wird.
Aber daß wir die Probleme sehen, ergibt sich aus der gemeinsam formulierten Erklärung.
Eine Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Erler.
Herr Staatsminister, stimmt die Bundesregierung mit mir überein, daß die Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen zum Ziel hat, daß diese Menschenrechtsverletzungen möglichst eingeschränkt werden, und daß es deshalb sinnvoll ist, nur die in einem konkreten Land begangenen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, nicht aber allgemein alle Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Das ist sicherlich richtig, Frau Kollegin. Dies ist ja auch im Fall Chile so erfolgt.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kunz .
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung, nachdem sie an einer Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in Chile durch die Vereinten Nationen mitgewirkt hat, bereit, auch eine Verurteilung menschenrechtswidriger Praktiken einzelner und bestimmter Staaten Osteuropas durch die Vereinten Nationen herbeizuführen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann natürlich Entscheidungen der Bundesregierung hier nicht präjudizieren. Aber ich wiederhole, was ich gesagt habe: Wir sind gegen die Selektivität und werden uns für eine breitere Diskussion der hier angeschnittenen Problematik in den Vereinten Nationen einsetzen.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Lagershausen.
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß es der Bundesregierung möglich sein wird, in der UNO eine Meinungsänderung über Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden herbeizuführen, wenn sie nicht bereit ist, den Mit-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5007
Lagershausengliedsländern der UNO eine Dokumentation über die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland vorzulegen?Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, diese Diskussion hat hier bereits stattgefunden. Sie wissen, daß auch die Bundesregierung die Auffassung hat — das läßt sich belegen —, daß Menschenrechtsverletzungen im anderen Teil Deutschlands vorkommen. Wir wollen allerdings die Foren der Vereinten Nationen und das Forum in Belgrad nicht dazu benutzen, eine Selektion der deutsch-deutschen Frage vorzunehmen. Ich habe das hier einmal intensiv dargestellt und brauche darauf wohl nicht noch einmal einzugehen.
Ich rufe die Frage 121 des Abgeordneten Dr. Mertes auf:
Ist die Bundesregierung in der Lage und bereit, dem Deutschen Bundestag enumerativ nach Ländern mitzuteilen, bis zu welchem Grade sie bei ihrem Abstimmungsverhalten bei der Verurteilung Chiles in den Vereinten Nationen faktisch diejenigen Kriterien geteilt hat, die den kürzlich durch den Friedensnobelpreisträger Amnesty International bekanntgegebenen Tatsachen und Verurteilungen zugrunde lagen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Im Fall Chile haben wir nicht nur den Erfahrungsaustausch mit den befreundeten westlichen Staaten, sondern auch Berichte der Botschaften in Santiago sowie die deutsche und die internationale Presse herangezogen. Die Bundesregierung hat auch von dem Ergebnis des Berichts der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Allana der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen Kenntnis genommen. In diesem Rahmen prüft sie und hat sie auch geprüft die Veröffentlichungen von Amnesty International über Chile.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, können Sie dem Hohen Hause mitteilen, wieweit die Parallelität der Beurteilung der Länder mit Menschenrechtsverletzungen zwischen der Bundesregierung und dem Nobelpreisträger Amnesty International geht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, das Dokument von Amnesty International liegt mir hier vor. Es ist ein umfassendes Dokument. Wie Sie wissen, erwähnt es zahlreiche Länder. Ich glaube, die Bundesregierung wäre hier überfragt, auf eine solche Zusatzfrage im Detail darauf einzugehen. Die Unterlage ist uns vor etwa drei bis vier Wochen zugegangen. Sie wird vom Auswärtigen Amt natürlich intensiv studiert.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wird es der Bundesregierung nach Fertigung einer Kurzfassung dieses Buches durch ihre Beamten möglich sein, meine Frage nach der parallelen Beurteilung dieser Ländergruppen durch die Bundesregierung und Amnesty International konkret zu beantworten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube der Versuch, in diesem Sinne ,,Parallelitäten" herzustellen, stellt im Einzelfall immer eine Überforderung dar. Es geht in jedem Fall um eine Darstellung und eine Beurteilung des Einzelfalls eines einzelnen Landes. Ich glaube nicht, daß es zweckmäßig wäre, die sehr individuellen und sehr unmittelbaren Fragen der Menschenrechte über einen derart gemeinsamen Leisten zu schlagen.
Die Frage 122 des Abgeordneten Jäger ist nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unzulässig.
Ich rufe die Frage 123 der Abgeordneten Frau von Bothmer auf:
Welche Bemühungen hatte die Bundesregierung unternommen, um dem nun ermordeten Richard Turner den Antritt seines durch ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung finanziell gesicherten Forschungsaufenthalts zu ermöglichen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Nachdem die deutsche Botschaft in Pretoria von der Verleihung des Stipendiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an Dr. Turner in Kenntnis gesetzt worden war, nahm der deutsche Botschafter die frühestmögliche Gelegenheit zu einer Intervention bei Justizminister Kruger wahr, um eine Ausreiseerlaubnis für Dr. Turner in die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Der Justizminister lehnte ein Entgegenkommen im Fall Turner damals ab.
Dr. Turner wurde über das Scheitern der Bemühungen des deutschen Botschafters unterrichtet. Die Botschaft, die den Antrag des mit dem Bann belegten Wissenschaftlers um ein Stipendium unterstützt hatte, bat die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, dieses Stipendium für Dr. Turner für einen späteren Zeitpunkt offenzuhalten. Die Alexander-von-HumboldtStiftung entsprach diesem Wunsch.
Die Bundesregierung hatte damit ihre sicherlich begrenzten Möglichkeiten, sich für den Südafrikaner Dr. Turner in diesem Zusammenhang einzusetzen, leider wohl ausgeschöpft. .
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung eine Begründung dafür zugegangen, weshalb Herrn Dr. Turner die Ausreise zwecks Annahme des Stipendiums nicht genehmigt wurde?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Nach dem Gespräch des Botschafters mit dem Justizminister bestanden politische Gründe, die in der Person des mit Bann belegten Dr. Turner lagen.
Keine weitere Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 124 der Abgeordneten Frau von Bothmer auf:Hält die Bundesregierung angesichts der Ermordung von Richard Turner und Steve Biko nunmehr ein entschiedenes Eintreten zugunsten der Beendigung des Rassismus gegenüber der Südafrikanischen Regierung für erforderlich?
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5008 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Bundesregierung trauert um den Tod von Dr. Turner, der sich, wie Steve Biko, für eine friedliche Überwindung der Rassengegensätze eingesetzt hatte. Die Bundesregierung hat vor der Weltöffentlichkeit und insbesondere in den Vereinten Nationen — sowohl in den Generalversammlungen als auch im Sicherheitsrat — und auch in ihren bilateralen Kontakten mit der südafrikanischen Regierung die Apartheid-Politik stets und nachdrücklich verurteilt. Sie wird auch weiterhin mit Nachdruck dafür eintreten, daß allen Bewohnern Südafrikas die Menschen- und Bürgerrechte eingeräumt werden und damit die Rassendiskriminierung beendet wird. Die Bundesregierung wird darüber hinaus in ihrem Bemühen nicht nachlassen, auf die Folgen hinzuweisen, die zu erwarten sind, wenn diejenigen, die die Rassentrennung mit friedlichen Mitteln überwinden wollen, von radikalen Anhängern der Apartheid gewaltsam ermordet werden.
Eine Zusatzfrage? — Bitte.
Herr Staatsminister, wird die Bundesregierung in diesem Zusammenhang eine ernsthafte Kontrolle des Verhaltenskodex ins Auge fassen, vor allen Dingen auch in der Weise, daß sie Anforderungen hinsichtlich genauer Berichte an die Firmen stellt, und wird sie sich genaue Daten der bundeseigenen Firmen geben lassen, so daß es ihr möglich ist, selbst zu prüfen, inwiefern der Verhaltenskodex gerade in den bundeseigenen Firmen umgesetzt wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin, was die bundeseigenen Unternehmen angeht, so ist unmittelbar nach unserer Entscheidung in Brüssel ein entsprechender Auftrag an diese Unternehmen ergangen. Selbstverständlich wird die Bundesregierung die Berichterstattung, die im Verhaltenskodex beschlossen ist, seitens aller Firmen sehr ernst nehmen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Wird die Bundesregierung im Hinblick auf die Ausfuhr sensitiver Anlagen nach Südafrika in diesem Zusammenhang weiterhin strengere Prüfungen vornehmen, und wird sie die Vergabe von Krediten für Handelsgeschäfte nicht nur unter wirtschaftlichen, sondern nun auch verstärkt unter politischen Gesichtspunkten prüfen, oder wird auf der Ministerialebene der Grundsatz, Wirtschaft mit Politik nicht zu vermengen, eventuell dennoch beibehalten werden?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin, wir haben die Lage in Südafrika seit langem als sehr ernst beurteilt. Aus diesem Grunde gehen wir davon aus, daß auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu Südafrika dazu genutzt werden müssen, die notwendigen Veränderungen in Südafrika herbeizuführen. Allerdings gehen wir davon aus, daß, um dies möglich zu machen, auch solche wirtschaftlichen Beziehungen da sein müssen, die ein Instrument zur Einwirkung auf das Land darstellen.
Keine weiteren Zusatz-. fragen.
Die Frage 125 des Abgeordneten Dr. Hupka und die Fragen 126 und 127 des Abgeordneten Wohlrabe sind nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unzulässig.
Ich rufe nunmehr die Frage 128 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Liegt in dem Verhalten des sowjetischen Parteichefs und Staatsoberhauptes Breschnew, das die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 15. Dezember 1977 „als Versuch der Einmischung in die inneren Angelegenheiten" der Bundesrepublik Deutschland versteht, ein Verstoß gegen Artikel 2 des Moskauer Vertrags, und bejahendenfalls, was gedenkt die Bundesregierung zu tun?
Bitte.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Bundesregierung weist, wie in der Antwort von Frau Staatsminister Hamm-Brücher vom 14. Dezember 1977 auf Ihre diesbezügliche Anfrage bereits geschehen, selbstverständlich alle Angriffe auf diejenigen demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik zurück, die sich kritisch mit den politischen Zielen und dem Demokratieverständnis der DKP auseinandersetzen. Aber unbeschadet dieser Tatsache nimmt die Bundesregierung mit Interesse zur Kenntnis, daß die sowjetische Führung eine öffentliche Diskussion über innenpolitische Bedingungen und die Begegnung mit den Vertretern politischer Oppositionsgruppen selbst offenbar nicht als Einmischung versteht.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Würden Sie, Herr Staatsminister, die Frage, die am 15. Dezember nicht beantwortet worden ist und die jetzt wieder in der neuen Drucksache vorliegt, doch beantworten, nämlich die Frage, ob die Bundesregierung darin einen Verstoß gegen Art. 2 des Moskauer Vertrages sieht?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe soeben versucht, das klarzumachen. Wir weisen eine unberechtigte Kritik an den demokratischen Kräften in unserem Lande, die sich kritisch mit der DKP auseinandersetzen, zurück. Insofern gehen wir davon aus, daß derartige Äußerungen natürlich nicht dienlich sind. Aber wir nehmen ein solches Vorkommen zugleich auch als einen Maßstab dafür, was von der anderen Seite als Einmischung verstanden werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatsminister, könnten Sie nicht klar darauf anworten, ob dies nach Auffassung der Bundesregierung eine Verletzung der Rechtsverpflichtungen, ein Verstoß gegen Art. 2 des Moskauer Vertrages ist oder nicht?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5009
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe doch eben zu dieser Frage Stellung genommen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Mertes.
Herr Staatsminister, da hier die Vereinbarkeit eines bestimmten sowjetischen Verhaltens mit dem Moskauer Vertrag in Rede steht, möchte ich Sie fragen, wie Sie die Vereinbarkeit der Entwicklung der sowjetischen Offensivstreitkräfte in Osteuropa mit Art. 1 und Art. 2 des Moskauer Vertrages beurteilen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, sind Sie der Auffassung, daß diese Zusatzfrage mit der ursprünglichen Frage im Zusammenhang steht?
Herr Staatsminister, Sie brauchen auf diese Frage nicht zu antworten.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich bin gerne bereit, Herr Kollege Mertes, Ihnen diese Frage zu beantworten. Aber sie scheint mir mit der ursprünglich gestellten Frage wirklich nicht im Zusammenhang zu stehen.
Keine weitere Zusatzfrage. — Ich rufe die Frage 129 des Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Trifft die vom Nachrichtenspiegel des Bundespresseamts wiedergegebene Mitteilung des dänischen Ministerpräsidenten Jorgensen zu, daß der Ministerpräsident der UdSSR, Kossygin, von den skandinavischen Regierungschefs anläßlich des 60. Jahrestags der finnischen Unabhängigkeit die Abschaffung der NATO und die Ablehnung der Neutronenwaffe gefordert hat, und besteht nach Auffassung der Bundesregierung zwischen dieser Forderung und der Stellungnahme von Norwegen, Dänemark, Island und den Niederlanden zur Neutronenwaffe auf der letzten NATO-Konferenz ein Zusammenhang?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Die Bundesregierung sieht es nicht als ihre Aufgabe an, zu Nachrichten über Gespräche, die zwischen Drittländern und ihren Repräsentanten geführt werden, Stellung zu nehmen. Das gilt auch für sich daran anknüpfende, öffentlich geführte Spekulationen. Im übrigen hat das Bündnis, getragen von dem gemeinsamen Bestreben, den Frieden zu erhalten, Herr Kollege Czaja, sicherlich genug Selbstbewußtsein, um auch kritische Bemerkungen gelassen anzuhören und sich in seinen Verteidigungsbemühungen nicht beirren zu lassen. Das hat sich auch erneut bei den jüngsten Ministerkonferenzen gezeigt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Sind diese massiven Pressionen auf unsere Verbündeten, auf die auch der Nachrichtenspiegel der Bundesregierung aufmerksam macht, und die Pressionen in der offiziellen sowjetischen Presse im Zusammenhang mit dem abermals verschobenen sowjetischen Staatsbesuch für die Bundesregierung Anlaß zu einer besonders klaren, festen und eindeutigen Haltung in dieser wichtigen Sicherheits- und Verteidigungsfrage?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Czaja, es gibt überhaupt keinen Zweifel an der Festigkeit auf seiten der Bundesregierung in der Verteidigungsfrage.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Czaja.
Ist angesichts der von Ihnen soeben betonten Festigkeit mit einer baldigen Entscheidung in der angesprochenen Sachfrage zu rechnen — gegen die die Sowjetunion dauernd Pressionen ausübt —, und welche Vorschläge wird die Bundesregierung dabei im Interesse der Bundesrepublik Deutschland machen?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, können Sie sagen, welche Sachfrage Sie meinen; denn hier sind mehrere Sachfragen angeschnitten.
Nein, es ist als einziges nur die Sachfrage Neutronenwaffe angeschnitten.
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, Sie kennen die Position der Bundesregierung in dieser Frage. Hierüber wird in den zuständigen Gremien des Bündnisses und mit den Partnern beraten. Es wäre verfrüht, an dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt eine verbindliche Stellungnahme abzugeben.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Voigt.
Herr Staatsminister, sehen Sie sich auf Grund der Äußerung von Herrn Kossygin in Skandinavien und auf Grund der kürzlichen Äußerung von Herrn Breschnew in der „Prawda" in Ihrer Auffassung bestärkt, daß es, weil die Neutronenwaffe kein Wert an sich ist, Aufgabe der Bundesregierung sein muß, in Verbindung und Abstimmung mit ihren Partnern durch Verhandlungen zu erreichen, daß ihre Entwicklung und Stationierung in Europa überflüssig wird?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege Voigt,• die Bundesregierung betrachtet es als ihre Aufgabe, alle Schritte, die zur Rüstungsbegrenzung oder zur Abrüstung führen können, intensiv durch Verhandlungen zu fördern. Insofern ist das ein umfassender Auftrag, den die Bundesregierung hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Corterier.
Herr Staatsminister, glauben Sie, daß die Politik unserer NATO-Verbündeten Norwegen, Dänemark, Island und der Niederlande Anlaß zu der Unterstellung, wie sie in der Frage enthalten ist, gibt, sie würden sich in ihrer Haltung zu wesentlichen Fragen des Bündnisses von Einzeläußerungen des sowjetischen Ministerpräsidenten bestimmen lassen?
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5010 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ich sehe einen solchen Anlaß nicht, Herr Kollege. Deswegen habe ich auf das Selbstbewußtsein des Bündnisses abgehoben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatsminister, wird die Bundesregierung durch die Tatsache, daß die sowjetische Regierung für ihren Standpunkt inzwischen bereits Fürsprecher innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gefunden hat, dazu veranlaßt werden, diese Frage im Rahmen des Nordatlantischen Bündnisses mit ganz besonderer Sorgfalt zu beraten?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister:' Herr Kollege, es gibt überhaupt keine Probleme im Bereiche der Regierungsaufgaben — und sicherlich nicht im Bereich der Verteidigungspolitik —, denen sich die Bundesregierung nicht mit besonderer Sorgfalt zuwendet.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 130 des Herrn Abgeordneten Dr. Rose auf:
Entspricht nach Auffassung der Bundesregierung die Haltung Algeriens in der Aufnahme japanischer Terroristen, in der Unterstützung der PLO, der POLISARIO und der MPAIAC sowie in der Ausschaltung einer innenpolitischen Opposition den westlichen Prinzipien des Friedens und der freiheitlichen Demokratie, und wenn nein, welche Folgerungen zieht sie in ihrem Verhältnis zu Algerien daraus?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Ihre Frage, Herr Kollege, betrift fünf verschiedene Sachverhalte. Ich möchte sie in einer etwas längeren Antwort in fünf Teile gliedern.
Erstens. Algerien hat die japanischen Terroristen nach einem dringenden japanischen Ersuchen ohne Vorbedingungen auf Grund einer Abmachung zwischen der japanischen und der algerischen Regierung aufgenommen. Die algerische Regierung hat sich offenbar in jeder Beziehung an die Abmachung gehalten. Gegenteiliges ist auch von japanischer Seite der Bundesregierung nicht bekanntgeworden.
Zweitens. Auf der arabischen Gipfelkonferenz in . Rabat 1974 haben alle arabischen Staaten die PLO als alleinige Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt. Die Verbindungen Algeriens mit der PLO halten sich — nach Kenntnis der Bundesregierung — im Rahmen dieser Kontakte, die die PLO mit der Mehrheit der arabischen Staaten unterhält.
Drittens. Die Polisario ist ein Element in der Auseinandersetzung um die West-Sahara. Die Bundesregierung verfolgt gegenüber diesem Konflikt eine Politik strikter Nichteinmischung. Sie möchte deshalb auch von einer Stellungnahme zur Haltung Algeriens zur Polisario absehen.
Viertens. MPAIAC ist die spanische Abkürzung für „Bewegung für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit des Kanarischen Archipels". Die Aktionen dieser Bewegung richten sich gegen Spanien. Über die Haltung Algeriens zur MPAIAC findet zur
Zeit eine diplomatische Auseinandersetzung zwischen Madrid und Algier statt. Deshalb ist es nicht angebracht, daß die Bundesregierung zu dieser spanischalgerischen Angelegenheit öffentlich Stellung nimmt.
Fünftens. Der algerische Staat steht der Form seiner Verfassung nach einer sogenannten Volksdemokratie wohl relativ nahe. Volksdemokratien fehlen aber wesentliche Elemente der Demokratien westlicher Prägung; es fehlt insbesondere eine in jeder Beziehung offene Opposition.
Es gibt allerdings in der Dritten Welt, zu der wir ja auch Algerien zählen, nur sehr wenige Staaten, die man im westlichen Sinne als „demokratisch organisiert" bezeichnen kann. Die Bundesregierung bekennt sich jedoch zu einer Weltordnung, in der alle Nationen einerseits ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Lebensform selbst bestimmen und andererseits dennoch trotz ideologischer Unterschiede partnerschaftlich zusammenarbeiten. Dieser Grundsatz bestimmt auch unser Verhältnis zu Algerien.
Zusatzfrage, bitte.
Gedenkt also die Bundesregierung, anders als z. B. bei Chile, mit Algerien kooperativ vorzugehen, obwohl die Volksrepublik Algerien im internationalsen Terrorismus auch eine besondere Rolle spielt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Präsident, ich habe die Frage nicht verstanden. Ich würde bitten, die Frage zu wiederholen.
Herr Abgeordneter Dr. Rose, bitte wiederholen Sie die Frage.
Gedenkt also die Bundesregierung, anders als z. B. bei Chile, mit Algerien kooperativ vorzugehen, obwohl die Volksrepublik Algerien im internationalen Terrorismus eine gewisse Rolle spielt?
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe ja eben zu den einzelnen Punkten etwas gesagt. Im übrigen hat die algerische Regierung sehr deutlich differenziert zwischen dem, was wir hier „Terrorismus" nennen, und den Befreiungsbewegungen, die Algerien unterstützt. Unsere Kooperation mit Algerien im wirtschaftlichen Bereich ist von diesen Fragen nicht betroffen.
Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Erler.
Herr Staatssekretär, würde die Bundesregierung nicht unglaubwürdig, wenn sie auf der einen Seite für die Deutschen das Selbstbestimmungsrecht fordert, es aber auf der anderen Seite dem palästinensischen Volk oder dem sahaurischen Volk nicht zugesteht?
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5011
Dr. von Dohnanyi, Staatsminister: Frau Kollegin, wir haben uns immer für die Selbstbestimmung eingesetzt. Aber ich möchte ausdrücklich vermeiden, daß durch eine generelle Antwort, die ich hier so klar gebe, der mißverständliche Eindruck entsteht, als wäre damit eine Abweichung von dem Grundsatz gemeint, den ich vorhin hinsichtlich einiger ganz bestimmter Streitfragen ausgesprochen habe: eine Einmischung von deutscher Seite ist nicht beabsichtigt.
Keine weiteren Zusatzfragen. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts erledigt.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär von Schoeler zur Verfügung.
Die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Dr. Voss sowie die Fragen 34 und 35 des Herrn Abgeordneten Dr. Althammer werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme zur Frage 36 des Herrn Abgeordneten Broll. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 37 und 38 des Herrn Abgeordneten Dr. Hubrig sind zurückgezogen.
Ich rufe die Frage 39 des Herrn Abgeordneten Conradi auf:
Trifft es zu, daß der Bundesjugendsekretär der Naturfreundejugend Deutschlands am 19. Dezember 1977 auf dem Grenzbahnhof Kehl durch den Bundesgrenzschutz zum Verlassen des Zuges gezwungen wurde und sich einer Leibes- und Gepäckvisitation unterziehen mußte, und auf welcher rechtlichen Grundlage hat der Bundesgrenzschutz ggf. in diesem Fall gehandelt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, dem Bundesminister des Innern ist die Angelegenheit erst durch Ihre Anfrage bekannt geworden. Der daraufhin von der örtlichen Grenzschutzstelle Kehl-Bahnhof angeforderte Bericht hat das Folgende ergeben:
Beamte der Grenzschutzstelle Kehl-Bahnhof haben am 19. Dezember 1977 anläßlich der grenzpolizeilichen Kontrolle des E 3889 einen Reisenden aufgefordert, auszusteigen. Ziel war eine stichprobenweise Durchsuchung der Reisenden des Zuges auf der Grundlage der geltenden rechtlichen Vorschriften. Den kontrollierenden Beamten war nicht bekannt, daß es sich um den Bundesjugendsekretär der Naturfreundejugend Deutschlands gehandelt hat. Folglich hat diese Tatsache in dem erwähnten Zusammenhang auch keinerlei Rolle gespielt.
Die Durchsuchung des Reisenden haben Beamte der Zollverwaltung auf der Grundlage des § 7 Zollgesetz in eigener Verantwortung durchgeführt. Diese Stichprobenkontrolle ist im Zusammenhang mit den im Zuge der Fahndung nach Terroristen erforderlichen verstärkten Grenzkontrollen zu sehen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, Sie haben auf meine Frage nach der rechtlichen Grundlage nicht geantwortet. Offenbar ist Ihnen entgangen, daß ich gefragt habe, warum hier auch eine Leibesvisitation vorgenommen worden ist.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe auf die Rechtsgrundlage des § 7 Zollgesetz und darauf hingewiesen, daß die Maßnahmen,' die nach § 7 Zollgesetz zulässig sind, von den Beamten der Zollverwaltung in eigener Verantwortung ergriffen und durchgeführt worden sind. § 7 Zollgesetz ist die Rechtsgrundlage, nach der Sie gefragt haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dem Durchsuchten, der sich bis auf Unterhose und Pullover hat entkleiden müssen — es war also nicht eine Stichprobe, sondern eine gründliche Kontrolle —, ist ausdrücklich gesagt worden, diese Kontrolle richte sich ausdrücklich gezielt gegen ihn; sie ist auch erst, nachdem er sich mit seinem Ausweis persönlich ausgewiesen hatte, gegen ihn verhängt worden. Dabei ist gesagt worden, sie richte sich auf Anweisung höherer Stelle gegen ihn persönlich.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß mir die Maßnahmen, die auf Grund des § 7 Zollgesetz von Beamten der Zollverwaltung im einzelnen durchgeführt worden sind, nicht bekannt sind. Was Sie mir eben als Maßnahmen, die durchgeführt worden sind, genannt haben, kann ich im einzelnen weder bestätigen noch ausschließen; das ist mir einfach nicht bekannt, weil es vom Zoll durchgeführt worden ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hansen.
Herr Staatssekretär, muß auf Grund der Anwendung des § 7 Zollgesetz in Zukunft jeder Reisende damit rechnen, zum Verlassen des Zuges aufgefordert zu werden und damit Gefahr zu laufen, sein Reiseziel nicht rechtzeitig zu erreichen?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist im Rahmen des § 7 Zollgesetz rechtlich durchaus möglich und kann auch notwendig sein, im Zuge von Grenzfahndungsmaßnahmen stichprobenartige Kontrollen durchzuführen. Wie weit diese Kontrollen im Einzelfall gehen, ist in das pflichtgemäße Ermessen der jeweils handelnden Beamten gestellt. Das ist die geltende Rechtslage.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe Frage 40 des Abgeordneten Conradi auf:Trifft der Bericht des Mitarbeiters der „Frankfurter Rundschau", Henryk M. Broder, in der „Frankfurter Rundsdiau" vom 19. Dezember 1977 zu, in dem er berichtet, daß Bundesgrenzschutzbeamte bei der Paßkontrolle im Flughafen Köln/Bonn versucht haben, ein Vortragsmanuskript des Publizisten abzulichten, und auf welche rechtliche Grundlage stützt sich gegebenenfalls das Verhalten der Grenzschutzbeamten?
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5012 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich möchte Ihre Frage zunächst zum Anlaß nehmen, die Rechtslage im allgemeinen darzustellen, und werde dann auf den besonderen Fall eingehen.Nach § 1 Nr. i in Verbindung mit § 2 Nr. 2 des Bundesgrenzschutzgesetzes vom 18. August 1972 obliegt dem Bundesgrenzschutz die polizeiliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs einschließlich der Überprüfung der Grenzübertrittspapiere und der Grenzfahndung. Außerdem ist dem Bundesgrenzschutz nach § 1 Abs. 3 g) des Bundesgrenzschutzgesetzes in Verbindung mit § 46 Abs. 4 Satz 2 des Außenwirtschaftsgesetzes vom 28. April 1961 (BGB1. I, S. 481), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 23. Februar 1973 (BGB1. I, S. 109), die Überwachung der Ausfuhr von Waffen und Sprengstoff zugewiesen. Hierbei können gemäß § 46 Abs. 1 Satz 3 dieses Gesetzes Gepäckstücke daraufhin geprüft werden, ob sie Waffen oder Sprengstoffe enthalten. Grundsätzlich nicht gestattet ist die Nachprüfung des Textes etwa mitgeführter Schriftstücke.Danach konnte der Beamte des Bundesgrenzschutzes im konkret angesprochenen Fall bei der grenzpolizeilichen Kontrolle des Journalisten Henryk Broder bei dessen Ausreise am 13. Dezember 1977 über den Flughafen Köln/Bonn den Paß und den Reisenden selbst überprüfen. Außerdem konnte das Gepäck von Herrn Broder daraufhin geprüft werden, ob Waffen oder Sprengstoffe ausgeführt werden. Eine inhaltliche Nachprüfung der mitgeführten Texte wäre ebenso wie eine Sicherstellung oder Beschlagnahme der Schriftstücke nicht zulässig gewesen.Der Bundesminister des Innern hat unmittelbar nach Veröffentlichung des Presseartikels in der „Frankfurter Rundschau" vom 19. Dezember 1977 eine genaue Aufklärung des Sachverhalts in die Wege geleitet. Nach den Aussagen der betroffenen Beamten hat weder eine Überprüfung des Textes der Manuskripte stattgefunden noch ist versucht worden, diese Manuskripte abzulichten. Die Beamten bestreiten insbesondere entschieden die im Presseartikel wiedergegebene Aussage: „Wir können es hier ablichten." Insofern weicht die Darstellung des Journalisten in der „Frankfurter Rundschau" vom Ergebnis der Befragung der Beamten ab. Herr Broder hat gegen die Beamten eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt. Eine abschließende Würdigung dieser Angelegenheit wird erst im Zusammenhang mit der Entscheidung über diese Beschwerde erfolgen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, bezeichnet die Bundesregierung damit die Darstellung des Journalisten in der „Frankfurter Rundschau" als unwahr?
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege. Ich habe die Rechtslage im allgemeinen dargestellt und im übrigen darauf hingewiesen, daß es von den beteiligten Seiten, wie es oft bei solchen Vorfällen der Fall ist, zwei völlig unterschiedliche Darstellungen gibt, deren rechtliche Würdigung auch unterschiedlich ist, je nachdem, was Sie als richtig
annehmen. Weiter habe ich darauf hingewiesen, daß eine abschließende Prüfung der tatsächlichen Vorgänge im Dienstaufsichtsbeschwerdeverfahren erfolgen wird.
Eine letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem inzwischen ein weiterer Fall bekanntgeworden ist, bei dem ein Landtagsabgeordneter beim Überschreiten der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik ebenfalls auf Schriftsachen durchsucht worden ist und Schriftsachen vorlegen mußte, frage ich, ob die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen treffen wird, um alle in Frage kommenden Grenzschutzeinheiten darauf hinzuweisen, daß die Überprüfung von Schriftstücken,, die ein Reisender mit sich führt, nicht in den Aufgabenbereich des Grenzschutzes fallen kann.
von Schoeler, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Rechtslage ist folgendermaßen. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß grundsätzlich die Nachprülung von mitgeführten Schriftstücken nicht zulässig ist. Es gibt einen Ausnahmefall, der allerdings wirklich nur in extremen Ausnahmefällen gegeben sein wird. Das ist der Fall der §§ 27 und 28 des Bundesgrenzschutzgesetzes, der gegeben ist, wenn Schriftstücke eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung darstellen. Das ist im Gesetz näher geregelt. Ich sage das ausdrücklich losgelöst von dem konkreten Fall, der Gegenstand Ihrer Frage war, und nur, weil Sie Ihre Zusatzfrage jetzt auf die allgemeine Rechtslage erweitert haben. Im übrigen können Sie versichert sein, daß den Beamten des Bundesgrenzschutzes die geltende Rechtslage bekannt ist und alle Möglichkeiten genutzt werden, um ihnen die geltende Rechtslage ständig wieder in Erinnerung zu rufen.
Wir sind am Ende der Fragestunde.
Die Fragen 57, 58, 59, 68, 69, 70, 71 und 72 sind von den Fragestellern zurückgezogen worden.
Die Fragen 61, 62 und 63, 101 bis 105 sind nach Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde unzulässig. Die übrigen nicht behandelten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung fort. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanzler hat aus guten Gründen in der Regierungserklärung der auswärtigen Politik einen breiten Raum eingeräumt, weil die Vernachlässigung der auswärtigen Bezüge unserer Entscheidungen — Entscheidungsmöglichkeiten — leicht zu Fehleinschätzungen nicht nur in der Außenpolitik,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5013
Bundesminister Genschersondern ebenso in der Wirtschafts- und in der Innenpolitik führen kann. Die Verflechtung der Staaten hat einen Grad erreicht, bei dem viele Aufgaben in der Tat nur noch in Zusammenarbeit mit anderen Staaten gelöst werden können. Das gilt z. B. für die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben, wo wir stabiles Wachstum und Vollbeschäftigung nicht unabhängig von dem, was um uns herum geschieht, wiedergewinnen können.Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit der Staaten gilt nicht minder für die Lösung des Terrorismusproblems, was uns die letzten Monate eindringlich vor Augen geführt haben. Ich möchte an dieser Stelle nicht zuletzt deshalb, weil Herr Kollege Kohl Herrn Maihofer und mich auch persönlich angesprochen hat, auf das eingehen, was er heute morgen zu diesem Thema gesagt hat. Ich stehe nicht an, zunächst festzustellen, daß die Opposition, der Op- positionsführer und diejenigen Mitglieder der Opposition, die zu diesem Stab gehörten, in den entscheidenden Wochen des letzten Jahres ein Maß an Verantwortung übernommen habe, das über das Selbstverständliche in einer funktionsfähigen Demokratie hinausging. Das allein schon gibt Ihnen, Herr Kollege Kohl, das Recht, die Mitglieder der Bundesregierung und der Regierungskoalition zu fragen, was als moralische Rechtfertigung des Opfers zur Wehrhaftmachung unseres Rechtsstaates getan wird.Die Regierungsfraktionen machen sich diese Entscheidung nicht leicht. Ich denke, daß es kein Nachteil für das Parlament und die hier vertretenen Parteien ist, wenn um den richtigen Weg zur Siche-rung des Rechtsstaates gerungen wird.
Ich erwarte allerdings auch, daß das, was von der Mehrheit der Regierungsfraktionen für richtig gehalten wird, Gesetz wird — mit den Stimmen der Regierungsfraktionen.Aber ich denke, es ist auch wichtig zu erkennen, daß Solidarität der Demokraten, über die so viel gesprochen wird, nicht heißen darf und muß, daß die demokratischen Prozesse unterbrochen oder aufgehoben werden.
Zur Demokratie gehört der nach den festen Regeln unserer Verfassung ausgetragene Streit. Eine Demokratie verliert wahrlich nicht an Glaubwürdigkeit dadurch, daß z. B. in diesen Fragen der Gesetzgebung Regierungsfraktionen und Opposition um die richtige Lösung ringen. Ich würde immer die Opposition bei den Anträgen, die sie hier dem Deutschen Bundestag vorgelegt hat, in Schutz nehmen gegen den Vorwurf, sie wolle damit unseren Rechtsstaat verletzen. Aber ich bitte, auf der anderen Seite zu sehen, daß es unter Demokraten sehr wohl möglich ist, daß die einen die Grenze, wo die Substanz des freiheitlichen Rechtstaates berührt wird, anders setzen als die anderen, ohne daß sie deshalb bessere oder schlechtere Demokraten wären. Deshalb muß es erlaubt sein, auch in diesen Kernfragen unserer Demokratie zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Gesetzgebung kommen, ohne daß man dem einensagt, er meine es weniger ernst mit der Sicherung I der Freiheitsrechte und des Rechtsstaats als der andere.
Ich denke, daß wir uns auch von der Annahme freihalten müssen, daß irgend jemand von uns über Patentrezepte zur Lösung aller dieser Fragen verfüge.
Das ist ganz entscheidend. Es gibt keinen absoluten Schutz gegen den Terrorismus. Neben der Frage der rechtsstaatlichen Vertretbarkeit darf auch noch die Frage der sachlichen Zweckmäßigkeit dieser oder jener Maßnahme gestellt werden.
Nach unserer Überzeugung ist die schärfste Waffe in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus letztlich die moralische Überlegenheit unserer freiheitlichen Ordnung.
Das ist der Grund, warum wir so kritisch und feinfühlig an jede Änderung der Gesetze herangehen, warum wir die Sonde des Rechtsstaats anlegen. Ich sage noch einmal: wenn wir zu verschiedenen Ergebnissen kommen, können wir trotzdem miteinander zu diesem Rechtsstaat stehen, können wir gemeinsam die uns alle verpflichtenden Erwartungen erfüllen, die die Bürger unseres Staates in uns setzen dürfen, vor allen Dingen die Opfer und die Angehörigen dieser Opfer.Wenn ich über diese Fragen spreche, so lassen Sie mich noch ein zweites Problem aufwerfen, das nicht im Zusammenhang — wie ich ausdrücklich sagen möchte — mit der Rede des Herrn Kollegen Kohl steht, aber das doch einen aktuellen Bezug hat. Es geht um die Situation der Sicherheitsbehörden in unserem Lande. Ich meine das Bundeskriminalamt, den Verfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst. Der Bundeskanzler hat heute morgen sehr deutlich gemacht — und nicht zum erstenmal —, daß das Abhören eines Telefongesprächs, das der Kollege Strauß geführt hat, und die Verfälschung und Publizierung seines Inhalts von uns nicht nur als eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte eines Bürgers unseres Landes empfunden wird, sondern als einen Anschlag auf den freiheitlichen Rechtsstaat, dem nachzugehen wir mit allen Kräften bemüht sind, sowohl bei der Unterstützung eines von Ihnen gewünschten Untersuchungsausschusses wie bei der Einsetzung einer unabhängigen Kommission mit einem gewiß unabhängigen und in seinem Urteil unbestreitbaren Vorsitzenden. Aber ich denke, wir sollten uns, wenn wir die Bedeutung der Dienste und der Sicherheitsbehörden für die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, für die Auseinandersetzung mit der Spionage, die unser Land natürlich bedroht, erkennen, auch bewußt sein, wie es in diese Dienste hineinwirken muß, wenn sie von vornherein schon pauschal und ohne Beweise als Täter im Zusammenhang
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5014 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Bundesminister Genschermit diesem ungeheuerlichen Vorgang dargestellt werden.
Meine Damen und Herren, es hat in einer Debatte über die innere Sicherheit hier im Deutschen Bundestag vor vielen Jahren einmal eine wirklich beeindruckende Übereinstimmung aller Fraktionen gegeben, als es darum ging, sichtbar zu machen, daß die demokratischen Parteien hinter den Sicherheitsbehörden stehen — bei ihrem schweren Dienst für die innere Sicherheit unseres Landes.Deshalb sollten wir uns auch jetzt davor bewahren, das Selbstvertrauen der Angehörigen dieser Dienste und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Dienste zu untergraben, indem wir sie dämonisieren und so darstellen, als seien sie willige Werkzeuge in der Hand einer verantwortungslosen politischen Clique.
Wenn die Schuldigen ermittelt werden, werden sie unnachsichtig nach den Gesetzen unseres Staates zur Rechenschaft gezogen werden. Bevor sie nicht feststehen, wollen wir niemanden pauschal verurteilen.Ein Drittes, meine sehr verehrten Damen und Herren — und hier komme ich auf die Rede des Herrn Kollegen Kohl zurück —: Herr Kollege Kohl hat heute morgen im Zusammenhang mit dem letzten Spionagefall -auf Telegramme des deutschen NATO-Botschafters hingewiesen, der berichtet habe, daß im Kreise der NATO Besorgnisse über die Auswirkungen dieses Spionagefalls geäußert worden seien. Das ist richtig, und das ist auch selbstverständlich. Das tun auch wir, wenn so etwas in anderen Ländern passiert. Ich würde an der Einsicht der NATO zweifeln, wenn sie nicht dieselben Besorgnisse hätte, die uns alle hier in diesem Falle bewegen. Wenn ich schon im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit und mit dem Kollegen Leber die Auffassung der NATO darstelle, dann muß ich sie vollständig wiedergeben. Da kann ich Ihnen eines sagen: Es gibt eine übereinstimmende Meinung in diesem Bündnis, nämlich daß dieser deutsche Verteidigungsminister eine tragende Säule und eine persönliche Garantie für die Funktionsfähigkeit des Bündnisses ist.
Das sage ich nicht als „Nachruf", sondern — um es sehr deutlich zu machen — als Ausdruck meines persönlichen Wunsches und des Wunsches meiner politischen Freunde, noch lange mit dem Kollegen Leber in seinem Amt zusammenarbeiten zu können.
In einer weltweiten Zusammenarbeit der Staaten kommt heute unserem Land eine größer gewordene Rolle und eine wachsende Veranwortung zu. Dabei ist unverändert klar: Fundament für unsere Stellung in der Welt sind die Europäische Gemeinschaft und das Atlantische Bündnis. Nur innerhalb dieser beiden Gemeinschaften läßt sich unsere freiheitlicheDemokratie und unsere wirtschaftliche Stabilität sichern. Nur in Zusammenarbeit mit unseren europäischen und atlantischen Partnern können wir unseren Beitrag leisten, um die beiden großen Gegensätze der heutigen Welt, den Gegensatz zwischen Ost und West und den zwischen Nord und Süd, in friedliche und konstruktive Bahnen zu lenken.Als Grundlagen der Außenpolitik der Bundesregierung ergeben sich damit: Erstens: Wir wollen die europäische Einigung vorantreiben. Zweitens: Wir wollen das Atlantische Bündnis erhalten und stärken. Drittens: Wir wollen durch unsere Politik der Entspannung ein geregeltes Nebeneinander mit dem Osten und mit der DDR erreichen. Viertens wollen wir durch eine Politik des gerechten Interessenausgleichs eine gleichberechtigte Partnerschaft mit den Ländern der Dritten Welt entwickeln.Das ist eine realistische, in sich schlüssige Politik. Die Bundesregierung bekennt sich zur Kontinuität dieser Politik.Meine Damen und Herren, wir sind uns einig in diesem Hause bezüglich unseres Willens zur Einigung Europas und zur Stärkung des Bündnisses. Ich denke, es sollte bei allen Gegensätzen, die uns sonst trennen, unser gemeinsames Ziel sein, endlich auch Übereinstimmung über die Entspannungspolitik als Teil unserer Friedenspolitik zu erreichen und aufzuhören, aneinander vorbeizureden. Vor allem dürfen wir uns nicht gegenseitig den Willen zum Frieden und zur Wahrung der nationalen Interessen bestreiten.
Es muß deutlich werden, was Entspannungspolitik leisten kann und was sie nicht leisten kann. Entspannungspolitik verspricht nicht, die fundamentalen Gegensätze in den Wertvorstellungen zwischen West und Ost aus der Welt zu schaffen. Sie verspricht nicht, daß Kommunisten aufhören, länger Kommunisten zu sein. Sie mußte sich vielmehr das Ziel setzen, mit der unrealistischen Haltung des Alles oder Nichts Schluß zu machen und damit die deutsche Politik aus der Sackgasse und aus der drohenden Isolierung herauszuführen. Das war der Ansatz der Politik der sozialliberalen Koalition. Mit anderen Worten: In unserer Sicht verspricht Entspannungspolitik keine heile Welt. Sie verspricht nicht einmal eine geradlinigen von Rückschlägen freien Fortschritt. Was sie anstrebt, ist bescheidener: Sie will die Rivalität zügeln, sie will vermeidbare Konflikte vermeiden, unausweichliche Konflikte durch Diplomatie dämpfen, statt sie durch Konfrontationsgehabe zu massiven Krisen aufzupeitschen.
Entspannungspolitik in unserem Verständnis geht von der Erkenntnis aus, daß Fortschritte im Verhältnis zwischen Ost und West nicht gegen die, sondern nur mit der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Pakts erreichbar sind.
Wer sich dieser Erkenntnis verschließt, wird erneut in die Sackgasse geraten.
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Bundesminister GenscherMeine sehr verehrten Damen und Herren, man kann nicht gleichzeitig die Unterzeichnung der Konferenzdokumente von Helsinki rügen und mit Aussicht auf Erfolg auf ihre Einhaltung durch die anderen drängen.
Man kann nicht die geschlossenen Verträge kritisieren und sie gleichzeitig voll ausschöpfen wollen.Entspannungspolitik will aber darüber hinaus Zusammenarbeit ermöglichen, wo gemeinsame In-. teressen bestehen. Sie will schließlich die Menschen in Ost und West zueinanderbringen und so die Teilung Europas wenigstens mildern, wenn sie schon nicht in der Lage ist, sie unter den gegebenen Umständen zu überwinden. Ost und West — auch darüber müssen wir uns immer klar sein — sind mit entgegengesetzten langfristigen Erwartungen in den Entspannungsprozeß eingetreten. Der Osten glaubt an den Sieg des Kommunismus. Er erwartet, daß unsere freiheitliche Staats- und Wirtschaftsordnung an inneren Problemen zusammenbricht. Wir haben umgekehrt keinen Zweifel, daß der Idee der Menschen- rechte die Zukunft gehört und daß das planwirtschaftliche System anachronistisch ist. Deshalb stellen wir uns mit Zuversicht dem Urteil der Geschichte. In diesem realistischen Verständnis betreiben wir unsere Entspannungspolitik. Sie ist in einem Zeitalter nuklearer Vernichtungswaffen ohne Alternative.Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat den bilateralen Entspannungsprozeß auf eine multilaterale Grundlage gestellt. Die Bundesregierung fühlt sich durch die bisherigen Erfahrungen in der Richtigkeit dieser Politik voll bestätigt.Meine Damen und Herren, die KSZE-Schlußdokumente haben die Rolle der Vereinigten Staaten und Kanadas in Europa anerkannt und gestärkt. Es hat sich der Grundsatz durchgesetzt, daß sich der Entspannungsprozeß nicht auf die Beziehungen zwischen den Regierungen beschränkt, sondern daß er für den einzelnen Menschen fühlbar werden muß. Durch die Schlußakte von Helsinki sind die Menschenrechte zu einem offiziellen Verhandlungsthema zwischen Ost und West geworden. Auf der Belgrader Folgekonferenz werden Menschenrechtsfragen ausführlich erörtert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn das jemand vor einigen Jahren vorausgesagt hätte, wäre er als Illusionist eingestuft worden.
Ich möchte aber auch betonen, die Menschenrechtsfrage ist für die Bundesregierung kein Thema für fruchtlose Polemik. Wir nützen sie vielmehr in Belgrad gemeinsam mit unseren Verbündeten, um Verbesserungen für die Menschen zu erreichen. Wir messen unseren Erfolg allein daran, was für die Menschen im geteilten Deutschland und im geteilten Europa erreicht werden konnte.Der Bundeskanzler hat z. B. für Ausreisen für das Jahr 1977 eindrucksvolle Zahlen genannt. Deshalb ist uns konkrete Hilfe wichtiger als starke Worte,denen keine Taten folgen können, weil wir die Möglichkeit dazu nicht haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, kein Volk hat an Entspannung ein größeres Interesse als das deutsche, denn kein Volk fühlt stärker als das deutsche die Wunden, die die Teilung Europas geschlagen hat. Die Bundesregierung wird deshalb ihre Politik beharrlich fortführen. Sie befindet sich damit in Übereinstimmung mit den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und des Bündnisses.In den großen Rahmen der Entspannungspolitik fügt sich auch unser unmittelbares deutschlandpolitisches Ziel, nämlich das Verhältnis der beiden deutschen Staaten so zu gestalten, daß die Menschen daraus Nutzen ziehen können. Auch die hier erreichten Fortschritte sind unübersehbar und unbestreitbar. Gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt wird aber auch erneut deutlich, wie schwierig und stets der Gefahr von Rückschlägen ausgesetzt das deutsch-deutsche Verhältnis ist. Meine Damen und Herren, wenn wir mit diesen Fragen umgehen, dürfen wir niemals vergessen, daß dieses deutschdeutsche Verhältnis in den Ost-West-Beziehungen die empfindlichste Stelle ist und daß es immer im Gesamtzusammenhang dieser Ost-West-Beziehungen gesehen werden muß.Die Schließung des Ost-Berliner Büros des „Spiegel", die Zurückweisung von Kollegen des Deutschen Bundestages wird gerade der nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen, der zu unserer Entspannungspolitik keine vertretbare Alternative sieht. Kein Zweifel, die eine wie die andere Maßnahme verletzt die Verpflichtungen, die die DDR übernommen hat, bilateral und multilateral. Es kann aber auch kein Zweifel bestehen, daß weder Resignation noch durch Überschätzung der eigenen Möglichkeiten verursachte verbale Kraftakte die angemessene Reaktion sein können.
Keine Aktion der anderen Seite kann uns von der nationalen Verantwortung jeder Regierung der Bundesrepublik Deutschland entbinden, mit Festigkeit und Beharrlichkeit um Fortschritte in den deutschdeutschen Beziehungen zu ringen. Meine Damen und Herren, nichts ist dabei unfruchtbarer, als der Versuchung zu erliegen, die außenpolitischen Schlachten der frühen 70er Jahre noch einmal zu schlagen.
Deshalb werden wir auch die Signale nicht auf Konfrontation stellen. Mit einem Rückfall in den Kalten Krieg würde nichts gewonnen, wohl aber das Erreichte gefährdet oder gar verspielt werden.
Von einer Regierung in einer geteilten Nation wird Nüchternheit und Augenmaß verlangt. Wir müssen mit der ungelösten nationalen Frage leben, so schmerzlich diese Einsicht ist. Unser Ziel bleibt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.
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5016 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Berger?
Bitte sehr.
Bitte schön, Frau Abgeordnete Berger.
Herr Bundesminister, ich muß leider auf den vorletzten Satz Ihrer Ausführungen zurückkommen.
Würden Sie so freundlich sein, mir mitzuteilen, wie Sie die Auffassung des stellvertretenden Vorsitzenden der FDP-Fraktion, meines Berliner Kollegen Hoppe, beurteilen, wonach er, wenn eine Zeitung richtig zitiert hat, erwartet, daß man sich für die Zurückweisung des Oppositionschefs im Deutschen Bundestag entschuldige.
Frau Kollegin, ich beziehe das nicht auf den Oppositionschef allein, sondern ich sage, daß es bei einer Normalisierung der Beziehungen insgesamt zum Umgang miteinander gehört, daß man dort, wo man Verpflichtungen nicht erfüllt hat, das auch einsieht und es nicht verschweigt.
Ich fahre fort: Bis dahin aber bleibt es wichtigste praktische Aufgabe jeder deutschen Politik, zu ermöglichen, daß die Menschen der beiden deutschen Staaten zueinanderkommen. Wenn wir unter den gegebenen Umständen schon die Staaten nicht zusammenführen können, wollen wir das wenigstens für die Menschen möglich machen. Der Blick auf das langfristige Ziel der Einheit darf uns nicht hindern, das zu erreichen, was jetzt erreichbar ist. Um auf eine Bemerkung von Herrn Kollegen Kohl einzugehen: Auch insoweit in Übereinstimmung mit dem Bundeskanzler, Herr Kollege Kohl, darf ich noch einmal folgendes feststellen. Ich bitte, von dieser Zielsetzung her die Politik der Bundesregierung zu beurteilen und nicht von einer nichtautorisierten Studie her.Ein besonderer Prüfstein für die Entspannungspolitik ist und bleibt Berlin. Die Bundesregierung tritt zusammen mit den drei Mächten für die Rechte der Berliner ein, die Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland aufrechtzuerhalten und zu entwikkeln. Das Viermächteabkommen hat Erhebliches zur Verbesserung der Lage beigetragen. Wir suchen zusammen mit den drei Mächten beharrlich das Einvernehmen mit der Sowjetunion, aber auch der DDR bei der strikten Einhaltung und vollen Anwendung aller seiner Bestimmungen. Wir sind bereit, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß Berlin in Ruhe und Frieden seiner Aufgabe als Zentrum der Wirtschaft, Kultur und der Begegnung gerecht werden kann.Basis des Entspannungsprozesses ist ein militärisches Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West.Ein starkes und einiges Bündnis ist daher nicht Gegensatz, sondern Voraussetzung jeder realistischen Entspannungspolitik. Präsident Carter hat im NATO-Rat bekräftigt, wie sehr sich sein Land dem Bündnis verpflichtet fühlt. Er hat zugleich bestätigt, daß Amerikaner und Europäer in der NATO-Strategie der „Flexiblen Erwiderung" einschließlich der für uns essentiellen Vorneverteidigung unverändert voll übereinstimmen. Der Beitrag, den die Vereinigten Staaten mit ihrem strategischen und taktischen Nuklearpotential und mit ihren konventionellen Streitkräften in Europa leisten, ist unabdingbar für die Sicherheit Europas und Amerikas. In Europa wird auch über die Sicherheit Amerikas entschieden.Die Übereinstimmung in diesen zentralen Bündnisfragen ist um so wichtiger, als sich das militärische Kräfteverhältnis in Europa im Bereich der nuklearen Mittelstreckenwaffen und im konventionellen Bereich unausgewogen darstellt. Der Warschauer Pakt rüstet mehr, als er für seine Sicherheit braucht.
Die Verbündeten begegnen dieser bedenklichen Entwicklung mit der Bereitschaft, die Verteidigungsfähigkeit der Allianz zu stärken. Dazu muß auch die technologische Fortentwicklung im Bereich der konventionellen, der Mittelstrecken- und der taktisch-nuklearen Waffen gehören. Bei den dafür not- wendigen Beratungen und Entscheidungen des Bündnisses sollte sich niemand von außen hereinreden und von Kampagnen beeinflussen lassen.
Eine gegenteilige Haltung würde nicht nur unsere Sicherheitslage beeinträchtigen, sondern sie würde auch unsere Verhandlungsposition für Rüstungsbegrenzungs- und Rüstungskontrollverhandlungen mindern.
Für Beschlüsse des Bündnisses — nur dort können die Entscheidungen fallen — muß allein das legitime gemeinsame Sicherheitsbedürfnis entscheidend sein, ein Sicherheitsbedürfnis, das nicht auf Überlegenheit, sondern auf Gleichgewicht zielt.Militärisches Gleichgewicht aber ist Voraussetzung für politische Gleichberechtigung, d. h. für die Fähigkeit, die eigene Unabhängigkeit als Vorbedingung einer konstruktiven Politik der Entspannung zu bewahren.Andererseits sind die Verbündeten der NATO jederzeit bereit, ihre Verteidigungslasten zu verringern, sobald sich eine größere Ausgewogenheit der Kräfteverhältnisse ergeben würde — sei es, weil die Gegenseite weniger rüstet, sei es, weil sie ausgewogenen Vereinbarungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle zustimmt. Einem fairen Interessenausgleich durch Verhandlungen wird die Allianz jederzeit vor autonomen Entscheidungen den Vorzug geben.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5017
Bundesminister GenscherDie Vereinigten Staaten und die Sowjetunion rechnen damit, daß in absehbarer Zeit ein SALT-II- Abkommen geschlossen wird. Wir begrüßen diese Aussicht. Eines der wesentlichen Ergebnisse von SALT II wird die Parität bei den strategischen Trägern sein. Wir sehen darin einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung vor allem des strategischen Kräfteverhältnisses. Zugleich sehen wir, daß bei einer interkontinentalen Parität nuklearer Systeme das wachsende Übergewicht des sowjetischen Mittelstreckenpotentials an Bedrohlichkeit gewinnt. Das müssen wir bei der Beurteilung der militärischen Lage in Europa und bei den weiteren Rüstungskontrollverhandlungen in Rechnung stellen.Wir begrüßen es deshalb besonders, daß die Vereinigten Staaten ihren Willen unterstrichen haben, sich mit ihren Verbündeten eingehend zu beraten und die Sicherheitsinteressen des Bündnisses, d. h. aller seiner Partner in den bilateralen amerikanischsowjetischen Verhandlungen geltend zu machen. Wir sehen auch darin einen Beweis für die transatlantische Solidarität im Bündnis.Dieses Jahr wird uns — so hoffen wir — auch bei den MBFR-Verhandlungen weiterbringen. Wir erwarten, daß es in Wien bald zum Austausch und zur Erörterung der Streitkräfte-Daten der NATO und des Warschauer Pakts in Mitteleuropa kommt.
Das wird uns erlauben, die Verhandlungen voranzutreiben. Die Bundesregierung hat dazu wichtige Denkanstöße gegeben. Das wesentliche Verhandlungskonzept ist klar und überzeugend und verlangt vor allem von niemandem Unbilliges. Die Kernelemente dieses Konzepts sind Parität und Kollektivität sowie Selektivität bei der Einbeziehung von Waffen. Diese Elemente sind für unsere Position unverzichtbar.Wie bei allen Verhandlungen wäre auch hier Ungeduld ein schlechter Ratgeber.
Schon heute kann gesagt werden — das sage ich an die Adresse derer, die die Wiener Verhandlungen mißtrauisch betrachten und mit Kritik bedenken —, daß der sicherheitspolitische Dialog, den die beiden Bündnissysteme in Wien führen, in sich selbst einen nicht zu überschätzenden Wert hat. Dieser Dialog verringert die Gefahr von Mißverständnissen und Fehlschlüssen. Deshalb liegt es im Interesse aller, daß diese Verhandlungen intensiv fortgeführt werden. .
Die Diskussion über Abrüstung und Rüstungskontrolle wird aber in diesem Jahr nicht allein von SALT und MBFR bestimmt. Eine große Rolle kommt der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen für Abrüstung zu, die im Mai und Juni in New York tagen wird. Hier geht es um eine Initiative der Dritten Welt. Sie will bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle mehr Verantwortungübernehmen. Sie will aber zugleich die Industrieländer nachdrücklich an ihre Verantwortung erinnern.Die Bundesregierung hat diese Initiative von Anfang an unterstützt. Wir teilen den Wunsch der Entwicklungsländer, daß ein Ende des Wettrüstens politische und wirtschaftliche Kräfte für die Überwindung der Kluft zwischen Armen und Reichen auf dieser Welt freisetzen möge.
Wir erwarten von der Sondergeneralversammlung eine Stärkung des internationalen Vertrauens, einen Konsens über die Prioritäten bei der Abrüstung und starke Impulse für laufende und kommende Verhandlungen.Atlantisches Bündnis und Zusammenarbeit sind die notwendige Ergänzung zur Europäischen Einigung. Wir haben mit Befriedigung festgestellt, daß Präsident Carter bei seinem Besuch in Europa unterstrichen hat, daß er das europäisch-amerikanische Verhältnis als ein Verhältnis der Partnerschaft von Gleichberechtigten betrachtet. Europäer und Nordamerikaner leben in dem Bewußtsein eines gemeinsamen Erbes, und sie gehen einer gemeinsamen Zukunft entgegen. Gemeinsam müssen wir unsere freiheitliche politische Lebensordnung, aber auch unsere wirtschaftliche und soziale Stabilität bewahren und sichern. Ein tiefer Sinn der deutschamerikanischen Freundschaft liegt auch darin, zu dieser Aufgabe beizutragen.Präsident Carter hat die uneingeschränkte Unterstützung der Vereinigten Staaten zu einer Politik der europäischen Einigung zugesichert. Dabei wissen wir, daß diese Politik europäischer Einheit ein langfristiges Ziel ist. Die zu hoch gegriffenen Erwartungen des Beginns haben heute in einer vielleicht manchmal sogar verständlichen Gegenreaktion zu einem nicht minder ungerechtfertigten Pessimismus geführt. Dieser Pessimismus ist gefährlich, denn er lähmt. Wir müssen endlich zu einer ausgewogenen Haltung auch in der Europapolitik finden, die das Erreichte an realistischen Zielvorstelungen mißt.Die Gemeinschaft hat selbst in den schwierigen Jahren der weltweiten Wirtschaftskrise Fortschritte gemacht. Ich hebe nur die Intensivierungen der gemeinsamen Handels- und Außenwirtschaftspolitik und die gleichzeitige kräftige Entwicklung der außenpolitischen Zusammenarbeit hervor. Beides führte dazu, daß heute die Gemeinschaft der Neun in der Welt außerhalb ihrer Grenzen mehr als Einheit gesehen wird, als es innerhalb der Staaten der Gemeinschaft der Fall ist.Die Bundesregierung wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um die Einigung Europas zusammen mit ihren Partnern voranzutreiben. Zu dieser Einigung gehört für uns das Ziel, die Europäische Union zu ereichen. Dazu gehört für uns eine möglichst baldige Festlegung des nun hoffentlich endgültigen Termins für die Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Schließlich gehört für uns dazu auch unsere Offenheit, wie es der Bundeskanzler heute noch einmal unterstrichen hat, für den Beitritt Griechen-
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5018 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Bundesminister Genscherlands, Portugals und Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft,
in voller Erkenntnis der wirtschaftlichen Probleme, die damit verbunden sind. Das ist und bleibt eine politische Entscheidung, die langfristig auch über unseren eigenen demokratischen Bestand entscheiden wird.
Meine Damen und Herren, wir sehen wie diese beitrittswilligen Länder in ihrer Mitgliedschaft eine Garantie für ihre demokratische Lebensordnung. Daran haben wir alle ein vitales eigenes Interesse.Eine wichtige Aufgabe wird sein, die Abwehr der protektionistischen Tendenzen in der Weltwirtschaft und der Gemeinschaft selbst erfolgreich zu gestalten. Unter dem Druck der Arbeitslosigkeit hat überall die Versuchung zugenommen, Strukturprobleme durch Einfuhrbeschränkungen zu lösen oder, besser gesagt, zu verdecken. Das ist der falsche und ein gerade für die Gemeinschaft gefährlicher Weg. Die Gemeinschaft ist der größte Exporteur und Importeur der Welt. Eine Schrumpfung des Welthandels müßte also gerade die Europäische Gemeinschaft treffen.
Die Bundesregierung wird daher ihr ganzes Gewicht einsetzen, um zu bewirken, daß bei den GATT-Verhandlungen 1978 die Entscheidung für einen freien Handel fällt.Die vierte Grundlinie unserer Außenpolitik weist zu den Ländern der Dritten Welt. Die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten ist heute global geworden. Sie umfaßt eben auch die Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Friede und wirtschaftliches Wachstum werden immer mehr unteilbar. Wir werden dessen unmittelbar gewahr, wenn wir etwa daran denken, was bei der Suche nach einem gerechten Frieden im Nahen Osten auch für uns als Europäer auf dem Spiel steht.Unsere Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt hat drei Ziele:Erstens. Wir wollen dazu beitragen, daß die Konflikte auch in diesen Regionen friedlich gelöst werden. So gesehen, ist unsere Politik gegenüber der Dritten Welt Teil unserer Friedenspolitik.Zweitens. Wir wollen in den politischen Beziehungen eine gleichberechtigte Partnerschaft aufbauen.Drittens. Wir wollen im wirtschaftlichen Bereich eine ausgewogene Ordnung der Zusammenarbeit herstellen, durch die die Entwicklungsländer mit gleichen Rechten und zunehmend mit gleichen Chancen in die Weltwirtschaft integriert werden.Im Blickpunkt steht zur Zeit der Nahe Osten. Die Friedensinitiative von Präsident Sadat hat eine neue Situation geschaffen. Sie hat in die Mauer des Mißtrauens und der Angst eine erste große Bresche geschlagen. Aber wir alle erkennen, daß es nicht ineinem Anlauf gelingt, diese Mauer gänzlich niederzureißen. Nun kommt alles darauf an, daß die Beteiligten in den ungemein schwierigen Verhandlungen die Nerven behalten und die zähe Geduld aufbringen, durch die allein diese Verhandlungen vorangebracht werden können. Es kommt auch darauf an, meine Damen und Herren, daß alle, die die Möglichkeit dazu haben — ich schließe uns ein —, mithelfen, um die in den letzten Stunden entstandene Lage zu überwinden. Die historische Chance, die herbeigeführt wurde, muß genutzt werden. Eine dauerhafte Friedenslösung muß eine umfassende Lösung sein.Die Bundesregierung hat — zusammen mit ihren europäischen Partnern — ihre Auffassung über eine gerechte Friedenslösung und über die Substanz einer solchen Lösung wiederholt dargelegt, zuletzt in der Entschließung des Europäischen Rates in London. Nur auf dieser Grundlage lassen sich die Grundkonflikte in der Region beilegen. Nur so können Frieden und Stabilität in die Region einkehren. Nur so können die Völker des Nahen Ostens ihre Kräfte endlich auf den Ausbau ihrer Volkswirtschaften konzentrieren, statt sie in einem Rüstungswettlauf zu vergeuden.
Nur so schließlich kann sich die Region in Unabhängigkeit und Selbständigkeit — frei von äußeren Einflüssen — entwickeln. Ich betone noch einmal das vitale Interesse der Europäer — auch der Bundesrepublik Deutschland — an einer gerechten Friedenslösung im Nahen Osten. Deshalb werden wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um zur Erreichung dieses Ziels beizutragen.Um die friedliche Lösung von Problemen geht es auch in zahlreichen Regionen Afrikas: am Horn von Afrika, in der Westsahara, im Süden Afrikas. Im südlichen Afrika, in Rhodesien, Namibia und Südafrika, heißt die Alternative heute: Evolution und Reform oder Revolution und Rassenkrieg.
Der Wandel ist unaufhaltbar. Es geht darum, ihn in friedlichen und geordneten Bahnen zu vollziehen. Dazu will die Bundesregierung beitragen. Darum geht es auch, wenn wir — oft kritisiert — mit den Befreiungsbewegungen und ihren Vertretern sprechen.
Darum geht es, wenn wir aktiv an der Namibia-Initiative der fünf im Sicherheitsrat vertretenen westlichen Mächte teilnehmen. Darum geht es, wenn wir Südafrika mit Nachdruck zu einem Kurs der Reformen zu bewegen versuchen. Fest steht: Die Konflikte in Afrika müssen von den Afrikanern gelöst werden; ihre Lösung ist schwer genug. Sie darf nicht zusätzlich erschwert werden, indem in sie ein fremder Konflikt, der Ost-West-Gegensatz, hineingetragen wird.Das führt mich zum zweiten Ziel unserer Politik gegenüber der Dritten Welt: Eine stabile politische Zusammenarbeit zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern kann heute nut mehr auf dem Prinzip der absoluten Gleichberechtigung begrün-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5019
Bundesminister Genscherdet werden. Das Streben nach Einflußsphären richtet sich gegen die stärkste Kraft der Dritten Welt, nämlich den unbedingten Willen dieser Völker zur Unabhängigkeit. Die Staaten der Dritten Welt haben ihre Unabhängigkeit nicht errungen, um sich einem neuen Versuch zu beugen, sie zu beherrschen. Auch hier steht übrigens die Politik der Entspannung auf dem Prüfstand. Nur wenn sie als unteilbar verstanden und entsprechend behandelt wird, werden die außereuropäischen Rahmenbedingungen für die Entspannungspolitik in Europa gesichert sein.Die Grundlage unserer Politik überall in der Welt ist die Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Das entspricht nicht nur unseren Wertvorstellungen, wie die eigene Verfassung sie ausdrückt, sondern das ist auf die Dauer auch die einzige realistische und erfolgversprechende Politik.Die Welt braucht im Verhältnis der Industrie- und der Entwicklungsländer eine stabile Ordnung gleichberechtigter Zusammenarbeit. In den wirtschaftlichen Beziehungen setzt das voraus, daß wir die Kluft zwischen armen und reichen Ländern stetig verringern. Ein Vierteljahrhundert hat der Ost-West-Gegensatz die Weltpolitik beherrscht; er ist nicht überwunden, aber während er andauert, schiebt sich mehr und mehr in den Vordergrund der Gegensatz zwischen Nord und Süd. Die Bundesrepublik Deutschland als einer der großen Industriestaaten muß an der Aufgabe, diesen Gegensatz durch einen gerechten Interessenausgleich zu überwinden, aktiv mitwirken. Seien wir uns dieser historischen Verantwortung voll bewußt!Die Aufgabe lautet, eine Weltwirtschaft zu schaffen, die das doppelte Ziel erreichbar macht: stabiles Wachstum in den Industrieländern und beschleunigtes, überproportionales Wachstum in den Entwicklungsländern. Eine beschleunigte Entwicklung in der Dritten Welt nützt auch uns selbst; so uneigennützig sind wir dabei gar nicht. Die Expansion des Handels zwischen Industrie- und Entwicklungsländern könnte geradezu die Rolle jenes Antriebsmotors übernehmen, die in den 50er und 60er Jahren die Ausweitung des Handels der Industrieländer untereinander spielte.
Ich habe 1975 zu Beginn des Nord-Süd-Dialogs in meiner Rede vor der 7. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen dargelegt, daß eine Weltwirtschaftsordnung, die auf das doppelte Ziel stabilen Wachstums und beschleunigter Entwicklung gerichtet ist, auf marktwirtschaftlicher Grundlage möglich ist, ja, diese Ziele nur auf marktwirtschaftlicher Grundlage erreicht werden können.Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der gerade angesichts der Probleme, die wir in den Industriestaaten haben, von besonders zentraler Bedeutung ist. Ich meine die Öffnung unserer Märkte für die Fertigwaren der Dritten Welt. Nur wenn wir dazu bereit sind, können wir die aus der Kolonialzeit überkommene Austauschstruktur überwinden, bei der die Industrieländer Fertigwaren, die Entwicklungsländer vorwiegend Rohstoffe liefern;nur so können wir eine wirtschaftliche Ordnung gleichberechtigter Partnerschaft erreichen. Der Strukturwandel, der mit einer Öffnung der Märkte verbunden ist, stellt uns gewiß vor Anpassungsprobleme, die wir durch Hilfen für die Betroffenen erträglich machen müssen. Aber langfristig ist der Strukturwandel auch im eigenen Interesse. Wer exportieren will, muß auch bereit sein zu importieren — nicht nur Rohstoffe und Energie.
Die Grundlinien unserer Außenpolitik laufen in einem Ziel zusammen: eine außenpolitische und eine außenwirtschaftliche Umwelt zu schaffen und zu erhalten, in der unsere Wertvorstellungen gedeihen und in der wir unsere eigene Unabhängigkeit bewahren und anderen bei der Sicherung ihrer Unabhängigkeit zur Seite stehen können. Das Jahr 1978 ist auch außenpolitisch ein Jahr der Möglichkeiten, aber auch der Risiken. Das Maß unseres Erfolges — ich meine hier die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit — wird auch davon abhängen, ob es uns in diesem Hause gelingt, in sachlicher Aussprache einen Grundkonsens für die Wahrnehmung unserer nationalen Interessen zu finden. Die Bundesregierung ist dazu unverändert bereit.
Das Wort hat als Mitglied des Bundesrates Herr Minister Adorno, BadenWürttemberg.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die von Ihnen, Herr Bundeskanzler, heute morgen in Ihrer Regierungserklärung gegenüber der Landesregierung von Baden-Württemberg erhobenen Vorwürfe wegen unserer Haltung zu dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Bund-Länder-Programm
zur Energieeinsparung bedürfen einer klarstellenden Erwiderung.Die Landesregierung von Baden-Württemberg wendet sich nicht gegen das von der Bundesregierung angestrebte Ziel. Sie hält eine stärkere Einsparung von Heizenergie für unerläßlich. Die Landesregierung wendet sich jedoch gegen die konkrete Ausgestaltung des geplanten Programms. Dies hat nichts, wie der Herr Bundeskanzler formulierte, mit politischer Konfrontation und schon gar nichts mit „provinzieller Wichtigtuerei" zu tun. Solche Äußerungen lassen auf ein merkwürdiges Verständnis für die verfassungsrechtlich garantierten Kompetenzen der Länderregierungen und der Länderparlamente schließen.
Derartige Aussagen sind daher auch nicht geeignet, zur Verbesserung des Bund-Länder-Verhältnisses beizutragen.
Nach Auffassung der baden-württembergischen Landesregierung ist das Programm verfassungspoli-
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5020 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Minister Adornotisch bedenklich, konjunkturpolitisch falsch und ordnungspolitisch verfehlt.
Es hat erneut die grundsätzliche verfassungspolitische Problematik der immer mehr überhandnehmenden Mischfinanzierungsprogramme von Bund und Ländern deutlich gemacht und die grundsätzlichen Bedenken der Landesregierung in dieser Frage verstärkt.Bereits heute wird ein Drittel des gesamten Investitionsspielraums des Landes durch Mischfinanzierungstatbestände ausgefüllt.
Der Bund ist damit auf dem Wege, den Bereich der Mischfinanzierung immer weiter auszudehnen und damit das Haushaltsrecht der Länder auszuhöhlen.Die Verwirklichung des Bund-Länder-Programms würde die Länder zu erheblichen Streichungen in anderen, von den Landtagen mit höchster Priorität ausgestatteten Bereichen zwingen. In Baden-Württemberg sind das z. B. die Investitionen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze für die junge Generation, die Förderung des Mittelstands und die Wohnungsmodernisierung. Das neue Programm würde eine Verschiebung der Prioritäten bewirken, die in dieser Rigorosität nicht hingenommen werden kann.Baden-Württemberg befindet sich keineswegs in einer starren Anti-Haltung gegenüber dem Bund
und wird die Durchführung gewachsener Gemeinschaftsaufgaben, Herr Kollege Schäfer, wie beispielsweise des sozialen Wohnungsbaus, auch künftig unterstützen. Andererseits können sich die Länder jedoch nicht länger durch ständig neue Mischfinanzierungsprogramme unter Druck setzen lassen. Nach Auffassung der Landesregierung ist daher eine Einschränkung der Gemeinschaftsaufgaben und eine Reduzierung der Möglichkeiten für Investitionshilfen des Bundes nach Art. 104 a des Grundgesetzes erforderlich, um einer weiteren Aushöhlung des Föderalismus Einhalt zu gebieten.
Die Koppelung des Programms mit einer Erhöhung der Heizölsteuer ist nach Auffassung der Landesregierung auch konjunkturpolitisch nicht richtig. Sie belastet die Wirtschaft und die Verbraucher auf Dauer zusätzlich mit jährlich 500 Millionen DM, die für Investitionen und privaten Konsum dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Die volkswirtschaftliche Steuerquote, die in den letzten Jahren zwischen 22 und 24 % lag, hat schon jetzt die Rekordmarke von 25 % überschritten.
— Das ist kein Argument dafür, daß wir das jetzt so beibehalten müssen.
Diese Belastung trifft vor allem die Verbraucher und das Kleingewerbe, also eine Bevölkerungsgruppe, die nach den letzten Steuerbeschlüssen durch Steuerentlastungen zu vermehrten Geldausgaben im Bereich des Konsums angeregt werden soll. Eine Konjunktur- und Steuerpolitik, die mit der einen Hand nimmt, was sie mit der anderen Hand gibt, ist widersprüchlich und muß ihr Ziel verfehlen.
Baden-Württemberg würde durch die Erhöhung der Heizölsteuer in besonderem Maße benachteiligt werden. Wenn das Fünfjahresprogramm verwirklicht würde, erhielte das Land insgesamt 300 Millionen DM an Bundeszuschüssen. Demgegenüber würden die baden-württembergischen Verbraucher über die höhere Heizölsteuer insgesamt 400 Millionen DM in die Bundeskasse zahlen.
Das Verfahren des Bundes, seinen Anteil am Programm voll durch eine vorausgehende Verdoppelung der Heizölsteuer zu finanzieren, weist auch ordnungspolitisch einen bedenklichen Weg. Die ordnungspolitisch richtige Entscheidung, nämlich die Finanzierung aus dem allgemeinen Steueraufkommen vorzunehmen — soweit dies überhaupt Aufgabe des Staates ist —, wird lediglich den Ländern zugemutet. Eine solche Zumutung widerspricht nicht nur dem Gebot der Gerechtigkeit; sie sprengt auch, wenn wir ihr stattgäben, den Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten.Nach Auffassung der baden-württembergischen Lanndesregierung müssen dem Bürger durch eine Tarifreform allgemeine Steuerleichterungen gewährt und dadurch seine Eigeninitiative gestärkt werden.Da der Bund diesen Weg aber nicht gehen will, ist die Landesregierung bereit, die — wie Sie, Herr Bundeskanzler, es formuliert haben — weltweit als wichtig anerkannte Aufgabe des Sparens von Heizenergie durch eine wesentliche Ausweitung des bisherigen Landesenergieprogramms in verstärktem Umfang in Angriff zu nehmen; Die Landesregierung wird dabei den Bürger beim Einsparen von Energie unterstützen, ohne ihn gleichzeitig finanziell zusätzlich zu belasten.Dieses Programm wird aus allgemeinen Steuermitteln finanziert werden und im Jahre 1978 ein Volumen von 50 Millionen DM umfassen. Durch dieses Förderprogramm können private Investitionen in einer Größenordnung von etwa 200 Millionen DM angekurbelt werden; eine höhere Summe würde das in Baden-Württemberg ohnehin ausgelastete Ausbaugewerbe kaum verkraften können.Das Landesprogramm sieht einen breiteren förderungsfähigen Aufwand als das Bundesprogramm vor; insbesondere bezieht es Lärmschutzmaßnahmen in die Förderung ein. Dadurch werden Überhitzungserscheinungen in einzelnen Gewerbezweigen vermieden. Uns erscheint es deshalb angebracht, vor zusätzlichen Maßnahmen zunächst mit einem flexiblen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5021
Minister Adornound wohldosierten Landesprogramm weitere Erfahrungen auf diesem Gebiet zu sammeln.
Das Wort hat der Bundesminister Graf Lambsdorff.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Darf ich zunächst, Herr Dr. Kohl, eine Richtigstellung vornehmen: Sie haben mich heute morgen mit einer im Mai 1977 im „Spiegel" veröffentlichten Aussage zitiert, wonach die Koalition — so hätte ich gesagt — an Glaubwürdigkeit nichts mehr zu verspielen habe, weil sie nämlich kaum noch welche habe.
Richtig ist, Herr Dr. Kohl, daß ich bereits in einem Pressedienst der FDP-Bundestagsfraktion vom 9. Mai 1977 öffentlich mitgeteilt habe, daß ich mich in dieser Erklärung ausdrücklich auf die damals diskutierte Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz bezogen habe und daß — ich zitiere — nach monatelanger Verzögerung durch den größeren Koalitionspartner gegenüber den leitenden Angestellten die Koalition damals an Glaubwürdigkeit eingebüßt habe.
— Ich will darauf noch zurückkommen.Ich möchte, Herr Dr. Kohl, dies kritisieren, aber nicht beanstanden; das kann jedem von uns passieren.
Nur, Herr Dr. Kohl: In der Tat war es vielleicht um die Glaubwürdigkeit der sozialliberalen Regierung im Mai 1977 schwieriger bestellt als heute. Daß Sie das heute, zu Beginn dieses Jahres, vorgetragen haben, entspricht jedenfalls nicht dem Ergebnis aller Umfragen über Ansehen und Einschätzung der Bundesregierung zu Beginn des Jahres 1978.
— Normalerweise, Herr Kollege Kohl, pflege ich zu glauben, was ich selbst sage. Ich kann mich irren, aber dann glaube ich selbst an den Irrtum.
Aber, meine Damen und Herren, dies war nicht der Grund, warum ich mich zu Wort gemeldet habe. Zu Wort gemeldet habe ich mich wegen des Beitragsdes Herrn Staatsministers Adorno zum Thema Energieeinsparungsprogramm.
Ich muß dazu sagen, daß ich — der Herr Bundeskanzler hat mich heute morgen in seiner Regierungserklärung zitiert — meine Kritik an dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten, die ich vor wenigen Tagen geäußert habe, trotz der Erläuterungen, die Sie, Herr Minister, hier gegeben haben, in vollem Umfang aufrechterhalten muß.
Ich will dies mit denselben Worten tun, mit denen ich es vor einer Belegschaftsversammlung von 3 000 Kraftwerkern der Kraftwerk-Union in Mülheim getan habe, die dem offensichtlich zustimmten, nämlich: Hier hat es ein Musterbeispiel für Engstirnigkeit, mangelnde Weitsicht und Kleinkariertheit gegeben.
Meine Damen und Herren, es wär interessant — und wir werden das ja in absehbarer Zeit auch tun —, eine energiepolitische Diskussion über die ganze Breite zu führen. Ich wundere mich immer über die Aufregung, die aus energiepolitischen Stellungnahmen der Mitglieder der Oppositionsfraktion durchscheint; denn wenn ich vergleiche, was die CDU/CSU als energiepolitisches Programm am 20. Dezember 1977 in diesem Hause eingebracht hat und was in der zweiten Fortschreibung zum Energieprogramm der Bundesregierung steht, so muß man schon sehr sorgfältig und mit sehr scharfer Lupe suchen, um einigermaßen gravierende Unterschiede zu finden.
— Ich will gar nicht sagen, daß es abgeschrieben sei, aber ich will sagen, daß hier in einer Frage ein Gegensatz künstlich konstruiert wird, die nicht nur für uns, sondern auch für die nach uns Kommenden viel zu bedeutsam ist, um daraus kleinkarierten parteipolitischen Streit zu machen.
Insbesondere im Punkt Energieeinsparung fiele es mir leicht — ich brauche das nicht, da ich annehme, daß die Kollegen der Opposition ihre eigenen Programme gelesen haben —, das zu zitieren und vorzulesen, was Sie zu der unbestrittenen Bedeutung und Notwendigkeit von Energieeinsparung vorgebracht und festgehalten haben.Welches sind nun die wirklichen Einwände gegen ein erstes im Ansatz massives Energieeinsparungsprogramm, das die Bundesregierung vorgelegt hat?Auch Sie, Herr Minister Adorno, haben soeben vorgetragen, es sei ordnungspolitisch verfehlt. Ich darf dazu sagen, daß der Ministerpräsident von Niedersachsen am 16. Dezember 1977 in einer Sendung des deutschen Fernsehens schlicht erklärt hat, marktwirtschaftlich sei der Ansatz über Verteuerung der Energie, insbesondere des Ols — hier ging es um die Heizölsteuer -- schon richtig, nur der Zeitpunkt
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5022 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffsei falsch. Das erinnerte an: so nicht, jetzt nicht, ein bißchen später. Aber daß das ordnungspolitisch falsch sei, worüber wir übrigens mit dem Kollegen Schmidhuber schon vor einigen Wochen hier diskutiert haben, über eine allmähliche Verteuerung des Öleinsatzes in der Wirtschaft zu vermeiden, daß wir eines Tages zu Rationierung, Verboten und Kontrollen kommen, muß die baden-württembergische Regierung etwas eingehender und sorgfältiger begründen, wie ich meine. Ich bin gern bereit, Herr Staatsminister, mich ordnungspolitisch belehren zu lassen. Wo Defizite festzustellen sind, bitte ich, um deren Auffüllung besorgt zu bleiben.Ihr zweiter Punkt war, das Programm sei konjunkturpolitisch verfehlt. Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß mit der Entscheidung, die in Baden-Württemberg, eingeleitet durch Niedersachsen, schließlich vollzogen wurde — deswegen tragen Sie die Verantwortung für diese Entscheidung —, der Attentismus in diesem Gebiet der Konjunkturpolitik in einer Weise produziert worden ist, wie man es schlimmer gar nicht tun konnte.
Da das nun einmal so geschehen ist — dabei wissen wir, daß Attentismus bei jeder Ankündigung einer konjunkturpolitischen Maßnahme niemals vollständig zu vermeiden ist; die Verzögerung und die unnötigen Diskussionen, die hier geführt worden sind, haben ihn aber verschärft —, haben wir auch keinen Sinn darin gesehen, bei unseren Vorschlägen für eine gesetzliche Regelung etwa über eine ohnehin rechtlich nicht ganz unbedenkliche Rückwirkung zu diskutieren; denn nach dem, was sich in der Diskussion um dieses Energieeinsparprogramm ereignet hat, wird konjunkturpolitisch niemand mehr daran glauben, daß er im vorhinein und im guten Glauben, daß der Bundesrat vielleicht zustimmen könnte oder möge, Investitionsentscheidungen treffen könnte.
— Dies kann niemand sagen. Wenn Sie darauf warten wollen, bis Sie in jedem einzelnen Falle eine Energieeinsparungsmaßnahme quantifiziert nachweisen können, dann streichen Sie die Postulate über Energieeinsparung! Wenn Sie nicht mit den richtigen Methoden anfangen, werden Sie nie zur Energieeinsparung kommen. Ihre Frage stellt die gesamte Einsparpolitik in Frage.
Was aus dieser Zwischenfrage hervorgeht, ist allerdings die Ordnungspolitik, Herr Staatsminister, die in dieser Fraktion immer noch praktiziert wird und die man in Ihren Berliner Grundsätzen findet.
Sehen Sie sich doch einmal die Stellungnahmen derjenigen an, die davon betroffen sind: Es sind alles mittelständische Verbände. Es ist geradezu grotesk zu sagen, daß das Ausbaugewerbe überbeschäftigt sei. Es ist auch rücksichtslos, zu sagen, es sei in Baden-Württemberg überbeschäftigt. Es gibt nämlich noch zehn andere Bundesländer, in denen das vielleicht nicht so ist. Das Ausspielen einer besondersstarken Wirtschaftskraft eines Landes gegenüber allen anderen ist kein Akt von föderalistischer Solidarität!
Aber gehören denn die Hersteller von Doppelfenstern zum Ausbaugewerbe? Gehören die Produzenten von Wärmepumpen und Sonnenkollektoren zum Ausbaugewerbe? Nein, das ist mittelständisches produzierendes Gewerbe, und denen nehmen Sie die Möglichkeit, Arbeitsplätze zu schaffen oder Arbeitsplätze zu erhalten.
Nun zum Thema der Mischfinanzierung, Herr Staatsminister, das Sie angeschnitten haben. Ich bin mit Ihnen einig, die Bundesregierung ist mit Ihnen einig, daß das Thema Mischfinanzierung erörtert werden muß, daß es Anlaß zu gelegentlichen Ärgernissen. gibt. Wir bestreiten dies nicht. Aber es' gibt Mischfinanzierung in Gemeinschaftsaufgaben: 1975 Gesamtsumme 2,9 Milliarden, 1975 Bildungsplanung 830 Millionen, die ganzen Sonderprogramme, die wir hier beschlossen haben, Februar/ März 1974, September 1974, das Konjunkturprogramm, das Zukunftsinvestitionenprogramm, weiter die Krankenhausförderung, das Wohngeld — alles ist mit Mischfinanzierung gemacht worden. Und beim Thema Energieeinsparung lassen Sie an diesem Punkt ein solches Programm scheitern! Das ist verantwortungslos, und das habe ich gesagt.
Noch einmal: wir sind bereit, über Mischfinanzierung und ihre Nachteile zu sprechen, jederzeit. Aber ausgerechnet daran einen Punkt scheitern zu lassen, den Sie uns noch am 20. Dezember als ein Essential Ihrer Energiepolitik geschildert haben, dies hat ganz andere, parteipolitische und kleinkarierte Hintergründe und hat mit dieser Grundfrage überhaupt nichts zu tun.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger?
Gern, Frau Präsident.
Herr Bundesminister, warum gehen Sie eigentlich nicht auf das Argument der baden-württembergischen Landesregierung ein, daß von einer echten Mischfinanzierung gar keine Rede sein kann, weil der Bundesanteil an dieser Geschichte durch den Steuerzahler aufgebracht werden soll, während die Länder ihren Anteil aus allgemeinen Haushaltsmitteln beizubringen haben?
Vielen Dank für die Zwischenfrage. Zunächst, Herr Kollege Jäger: Jeder Teil der Finanzierung, woher immer er kommt, wird vom Steuerzahler auf-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5023
Bundesminister Dr. Graf Lambsdorffgebracht und nicht von der Großzügigkeit irgendeines Landes- oder Bundespotentaten.
Zweitens gibt mir das Veranlassung, darauf hinzuweisen, daß es bei der Erhöhung der Heizölsteuer, Herr Minister Adorno, ohne Rücksicht auf Ihr Nein aus Baden-Württemberg bleiben wird, weil diese Erhöhung auch energiepolitisch — in erster Linie energiepolitisch — der richtige Weg ist und der richtige Ansatz, um zur Einsparungspolitik, langfristig angelegt, zu kommen.
Lassen Sie mich eine Bemerkung — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Spöri?
Wenn das nicht auf meine Redezeit geht, Frau Präsident, gerne.
Herr Minister, wie bewerten Sie die von Herrn Minister Adorno vorgebrachten Argumente des Landes Baden-Württemberg gegen das abgelehnte Energieeinsparprogramm vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Landesregierung Baden-Württemberg noch nach Ablehnung des Energieeinsparprogramms einen Energieeinsparkatalog an die Haushalte angeboten hat, in dem genau dieses Programm begrüßt worden ist?
Herr Kollege, ich will mich gar nicht an dem aufhalten — die Beantwortung ergibt sich aus Ihrer Frage selber —, was Minister eben des gleichen Kabinetts im Konjunkturrat und in Besprechungen. vorher zu diesem Energieeinsparprogramm gesagt haben, bis sie auf ein auslösendes parteipolitisches Signal und den Befehl des Ministerpräsidenten dann anders entschieden haben. Das wäre ein weitesFeld.
Lassen Sie mich zum Schluß eine Bemerkung machen. Sie werden sich fragen, warum ich gerade diesem Punkt eine solche Bedeutung beimesse.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jahn?
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, wie erklären Sie sich den Schnellbrief des hessichen Ministers der Finanzen vom 1. November, der in einem Rundschreiben an alle Länder gerade im Hinblick auf die Mischfinanzierung große Bedenken erhoben hat, und zweitens, wie erklären Sie sich die Erklärung des Innenministers des Landes
Nordrhein-Westfalen, Hirsch, der dieses Programm, von dem Sie sprechen, als „schlampig vorbereitet" bezeichnet hat?
Aber doch keine Aufregung, meine Damen und Herren! — Die Bedenken in Sachen Mischfinanzierung teilen wir. Das Land Hessen hat diese Bedenken angesichts der Bedeutung dieses Problems in vernünftiger Abwägung zwischen Energieeinsparung auf der einen und Mischfinanzierung auf der anderen Seite zurückgestellt.Das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch den Landesinnenminister Burkhard Hirsch, unseren früheren Fraktionskollegen, ist in intensive Verhandlungen mit dem Bund eingetreten, hat in seinem Sinne Verbesserungen vorgeschlagen, ist bereit gewesen, die Verwaltungsvereinbarung zu unterschreiben, hat alle Länderchefs — einschließlich des baden-württembergischen Ministerpräsidenten — gebeten, ihre Bedenken zurückzustellen und zu unterschreiben, und hat uns jetzt angeboten, durch eine Kabinettsinitiative — wenn es helfen könnte — mit dem gleichen Inhalt wie die Verwaltungsvereinbarung ein Gesetz im Bundesrat einzubringen. Sie sehen, die Bedenken sind geprüft worden, zurückgestellt worden und haben in Düsseldorf zu vernünftigen Entschlüssen und Ergebnissen geführt — leider nicht in Stuttgart.
Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: Es wird Ihnen die Frage kommen, warum ich diesem . vielleicht nebensächlichen Punkt eine solche Bedeutung zumesse. Ich tue es deswegen, weil auch international gesehen das Thema Energieeinsparung, insbesondere was die Vereinigten Staaten anbelangt, deren Leistungsbilanzdefizit zu 50 % durch Öleinfuhren entstanden ist, was Auswirkungen auf die Dollarkursentwicklung und damit auf den internationalen Handel hatte, eine ganz entscheidende weltwirtschaftliche Problemstellung ist. Unsere Position, die der Bundesregierung — wir haben mit allen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, diskret versucht, hilfreich zu sein, unseren amerikanischen Freunden auf dem Wege zur Verabschiedung eines Energiesparvertrages behilflich zu sein —, wird selbstverständlich unterminiert, wenn wir aus landesegoistischen Gesichtspunkten ein Programm auch nur dieser Größenordnung in der Bundesrepublik nicht zustande bekommen.Dies ist der weitgezogene Hintergrund einer Entscheidung, die vielleicht peripher aussieht, die aber Mangel an Weitsicht verrät, was mich auf derselben Versammlung in Mülheim, die ich schon erwähnt habe, veranlaßt hat, an Winston Churchill zu erinnern, der einmal gesagt hat: Der Staatsmann denkt an die nächste Generation, der Politiker an die nächste Wahl. Ich habe hinzugefügt: der Provinzpolitiker an die nächste Landtagswahl.
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5024 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Das Wort hat der Abgeordnete Zimmermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich mich über den Ablauf der Debatte ein wenig wundern.
— Ja, eben, Herr Kollege. Es ist typisch für Sie, daß Sie, bevor überhaupt nur jemand einen Gedanken zu äußern vermag, schon den Mund aufmachen müssen.
Aber Sie gehören wohl zur Kategorie der Hellseher. Es genügt für Sie, daß jemand von der Opposition spricht. Schon machen Sie den Mund auf. Ich überlasse das Urteil dem Hohen Hause.
Aber vielleicht könnten Sie sich ausnahmsweise, obwohl ein Politiker der Opposition spricht, bequemen, zu versuchen, seinen Gedankengang nachzuvollziehen, daß nämlich bis jetzt bei einer Regierungserklärung drei Mitglieder der Bundesregierung und ein Mitglied des Bundesrates und zwei Abgeordnete dieses Hohen Hauses gesprochen haben. Halten Sie das für ein richtiges Verhältnis?
— Ich bin jetzt der Dritte, jawohl. Aber das ist immer noch kein adäquates Verhältnis, denn eine Regierungserklärung ist schließlich dazu da, vom Hohen Hause debattiert zu werden, und nicht dazu, daß serienweise die Mitglieder der Bundesregierung ihre Erklärungen dazu abgeben.
Man könnte auch auf den Gedanken kommen, daß sich die ganze Bundesregierung nacheinander zu Wort meldet. Das wäre dann ein neues Gefühl für eine Parlamentsdebatte.
— Herr Kollege, die Rede des Oppositionsführers hat sich zunächst danach gerichtet, wie lang der Herr Bundeskanzler seine Regierungserklärung abgefaßt hat. Die hat zwar hundert Seiten gehabt, aber von der Ergiebigkeit war sie leider weniger überzeugend als von der Länge.
Mir sind vor allem seine Schlußsätze noch in lebhafter Erinnerung, wo er — sinngemäß — nacheinander sagte daß Johannes Gross recht habe und auch Herr Zundel. Dann hat noch Willy Brandt recht gehabt. Es wir alles in fester Gelassenheit vorgebracht, mit Ausnahme des Schlußsatzes von der Fröhlichkeit. Aber von der Perspektive und der Ernsthaftigkeit der Lösungsmöglichkeiten, die in diesen dreißig behandelten Komplexen stecken sollten, war eigentlich wenig zu spüren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, als der Herr Kollege Wehner das Rednerpult betrat, wurde festgestellt, es sei höflich, auch ihm zuzuhören und sitzenzubleiben. Ich bin durchaus dieser Meinung. Ich habe mir nur in einem Zwischenruf festzustellen erlaubt, daß drei Viertel der Mitglieder der SPD-Fraktion den Saal verließen, als der Oppositionsführer mit seiner Rede begann.
— Das ist nicht zum erstenmal so. Darum bin ich auch hier natürlich für eine Gleichbehandlung, wenn man Stilfragen im Parlament überhaupt behandeln möchte.
Zum Thema Stilfragen, Herr Kollege Wehner, bin ich natürlich schon wieder bei Ihnen. Denn als dem Oppositionsführer Dr. Helmut Kohl der Zutritt nach Ost-Berlin verwehrt wurde, da sagten Sie — Sie waren einer der ersten, die sich dazu äußerten — das sei schlechter Stil. Wenn Sie dagegen heute sagen, wir von der CDU/CSU lieferten ranzige Butter oder das Kommunistische Manifest sei eine Provokation, ein „komischer Findling" haben Sie heute gesagt, dann sage ich: es ist eine Stilfrage, wie man diese Äußerungen aus der DDR bewertet. Niemand von uns hat heute wahrscheinlich Gewißheit über die formale Echtheit und über das Zustandekommen. Aber ein Papier eine Provokation zu nennen, das jedenfalls eines tut, nämlich die Dinge, wie sie in der DDR sind, beim Namen zu nennen, auch das Verhalten der Führung im Selbstbedienungsladen, die Privilegierung der Privilegierten, die Bonzokratie — das alles ist beim Namen genannt worden — anzuprangern und nichts mehr an Kommentar dazu übrig zu haben, als daß das eine Provokation sei, Herr Kollege Wehner, das ist wenig. Sie hätten sagen sollen: Die Verweigerung des Zutritts nach Ost-Berlin für Helmut Kohl und andere Kollegen der CDU/CSU ist nicht schlechter Stil, nein, es ist ein Rechtsbruch. Sie sollten sich nicht im Herabspielen dieses Rechtsbruchs, dieser Vertragsverletzung, zum Anwalt der Rechtsbrecher machen. Sie haben hier noch einen auf Ihrer Seite, das ist Egon Bahr.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Emmerlich?
Ja.
Herr Kollege Dr. Zimmermann, da Sie gerade beim Stil sind: Haben Sie wie ich bemerkt, daß zu Beginn der Rede des Kollegen Wehner einer der Geschäftsführer der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion seiner Fraktion durch eine Geste bedeutete, sie möge den Saal verlassen?
Das habe ich überhaupt nicht bemerkt, sondern die Geste, die ich gesehen habe, war eine Aufforderung des Parlamen-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5025
Dr. Zimmermanntarischen Geschäftsführers an seine eigene Fraktion, wieder Platz zu nehmen. Aber wenn man etwas mißverstehen will, Herr Kollege, dann kann man es natürlich jederzeit mißverstehen.
— Lassen Sie mich fortfahren, ich bin immer noch bei Herrn Wehner, Herr Kollege; jetzt bin ich bei seinem Besuch in Prag, den er als einen Durchbruch bezeichnet hat. Diese tagelangen Besprechungen mit einer größeren SPD-Delegation fanden in etwa zu der gleichen Zeit statt, als die Berufungsurteile gegen prominente tschechische Intellektuelle wie Pavel Kohout, Václav Havel, Ota Ornest und andere ergingen. In diesem Verfahren wurden sie etwa mit der Beschuldigung konfrontiert, sie seien CIA-Agenten. Einer davon wurde auch gezwungen, wie wir wissen, in kommunistischer Selbsterniedrigung im Fernsehen aufzutreten, sich selbst und seine Verhaltensweise als „Ekel" zu bezeichnen. Das war ganz im stalinistischen Stil. Die „Neue Zürcher Zeitung" hat dieses Kapitel mit „Prager Hohn auf die Menschenrechte" überschrieben. František Kriegel, bekanntlich nicht irgend jemand, hat zur gleichen Zeit im Organ der spanischen kommunistischen Partei „Mundo Obrero" der CSSR-Führung Unterdrückung vorgeworfen. Im Organ einer spanischen kommunistischen Zeitung schreibt ja wohl jemand, der auch heute noch Kommunist ist, und der sich trotzdem traut, die CSSR-Führung zu kritisieren. Nach seinen Worten führen Tausende ein Leben von Parias — so sagte František Kriegel —, über die die Behörden ihrer Not und Verzweiflung zitiert habe.Ihr Besuch in Prag und Ihre Verhandlungen mit den Höchstgestellten der tschechischen Regierung, Herr Kollege Wehner, hätten mich mehr beeindruckt, wenn Sie nach dem Abschluß Ihrer Gespräche hätten feststellen können, daß Ihnen auch ein Durchbruch für jene gelungen sei, die ich gerade in ihrer Not und Verzweiflung zitiert habe•
Das zweite Thema, das ich aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers herausgreifen möchte, betrifft die Terrorismusdebatte und die Gesetzgebung dazu in diesem Hause. In der Regierungserklärung nimmt dieses Thema immerhin neun Seiten ein. Das ist vergleichsweise viel. Was aber auf diesen neun Seiten gesagt wird, ist vergleichsweise wenig. Wir haben heute durch den Mund des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU festgestellt, was von unseren Vorschlägen übriggeblieben ist. Terroristen, die schon bei ihrer ersten Verurteilung erklären — und wir sprechen ja von Fällen, die es schon gegeben hat, das hat alles schon stattgefunden —, sie würden weitermachen
— sie würden schießen —, können nach Ihrem Willen nicht in Sicherungsverwahrung genommen werden. Die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung bleibt ein „harmloses" Vergehen. Sie wird nicht als Verbrechen qualifiziert. Terroristen könnengenauso auf Bewährung entlassen werden wie Taschendiebe. Die Regelungen über Kontrollstellen und Feststellungen der Identität muten wegen ihrer formalen Erschwerung, die stattgefunden hat, an wie eine Verhöhnung der Polizei und eine praktische Bestrafung rechtstreuer Bürger und offenbaren ein gigantisches Mißverhältnis zwischen dem, was notwendig wäre und dem, was hier genau auf der falschen Seite geschieht.
Die Trennscheibe bei Gesprächen zwischen Terroristen mit ihren konspirativen Verteidigern kann nur als eine zusätzliche Raumgestaltung für Konspirationszimmer in den Gefängnissen bezeichnet werden.
Die geringe Erweiterung der Möglichkeit des Verteidigerausschlusses wird in der Praxis nur zu zusätzlichen und langwierigen gerichtlichen Verfahren führen. Das ist absehbar.Der Bundeskanzler hat vor einigen Monaten anders gesprochen. Er sagte, man dürfe in der Terrorbekämpfung „nichts versäumen und nichts verschulden". In den zahlreichen Gesprächen, die Helmut Kohl, Franz Josef Strauß und ich in den sechs Wochen gemeinsamer Beratungen hatten, in der Stimmung, in der wir damals tagelang waren, ist viel gesagt und viel beschworen worden, was ich um der Diskretion menschlicher Gespräche willen hier weder mit Namen noch mit Einzelheiten erwähnen will. Sicher aber ist eines: Auch ich hatte damals von den zuständigen Ministern dieser Regierung und ihrem Chef den absolut sicheren Eindruck, die Gewißheit, daß gemeinsam, wenn diese Sache denn erst vorbei sei, alles, aber auch alles getan würde, was zur Verschärfung der Bekämpfung des Terrorismus nötig sei.
Wir waren bei dem Sicherheitsgespräch beim Bundeskanzler, viele Stunden lang, einen langen Abend. Es waren anwesend: die Polizeipräsidenten der großen deutschen Städte, zum großen Teil die Chefs der Landeskriminalämter, neben dem Generalbundesanwalt und höchsten Richtern die Fachleute von der Front. Die Meinungsgleichheit, was geschehen müsse, war bis auf Nuancen total und sie war unterschiedslos, ob es sich um Mitglieder der SPD, der CDU oder der CSU handelte. Alle waren der gleichen Meinung über die Maßnahmen, die vom Gesetzgeber ergriffen werden müßten.Geschehen ist nichts. Das, was heute vor uns auf dem Tisch liegt und was in seinen Minimalia, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb, nicht mehr zu untertreffen ist, ist jämmerlich. Wenn die gleiche von mir gerade zitierte Zeitung in einem ihrer Leitartikel am 13. Januar, in diesem Monat, unter der Überschrift „Schmidt oder Coppik" schließt: „Wer regiert denn nun auf dem Feld der inneren Sicherheit, Schmidt oder Coppik?", Herr Bundeskanzler, dann muß ich schon sagen: Daß Sie
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5026 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Zimmermannjemals in die Gefahr kommen würden, sich so mit einem aus Ihrer Fraktion vergleichen lassen zu müssen, hätte ich vor drei Monaten nicht eine Zehntelsekunde lang für möglich gehalten.
Der dritte Komplex, zu dem ich mich äußern möchte, ist die Affäre Lutze/Laabs/Leber.
Ich habe hier Zeitungsausschnitte vom 13. Juni 1976. In 2 cm hohen Überschriften heißt es: „Im Verteidigungsministerium flog ein Agentenring auf", . „Neuer großer Spionagefall: 15 Verdächtige festgenommen", „Karlsruhe: Wieder größerer Spionagefall aufgedeckt — Schwerpunkt im Verteidigungsbereich". Dort hieß es schon .damals, vor nunmehr eineinhalb Jahren:Die Sicherheitsbehörden haben jetzt offenbar den bisher größten Spionagefall im Militärbereich aufgedeckt. Aus Kreisen der deutschen Abwehr verlautet jedoch, daß der bis jetzt aufgeklärte Vorgang alles übertrifft, was es bisher an Spionage auf dem Verteidigungsgebiet gegeben hat. Über notwendige Konsequenzen wurde gestern in einer Sitzung unter strengster Geheimhaltung im Bundeskanzleramt beraten.Und es heißt weiter:Inzwischen hat Staatssekretär Fingerhut den erkrankten Bundesverteidigungsminister Leber über die Vorgänge unterrichtet. Leber befindet sich zur Zeit in Österreich.Das war vor eineinhalb Jahren.Erst vor wenigen Wochen hat es die Regierung für notwendig gehalten, dem Antrag der Opposition auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nachzugeben, sich öffentlich zu äußern, Presseerklärungen abzugeben und den Verteidigungsminister zu einer katastrophalen Pressekonferenz zu veranlassen. Seither ist es an der Tagesordnung, daß man sich täglich widerspricht, täglich neue Versionen anbietet, wer wann was als erster, zweiter oder dritter erfahren hat,
wer wen zuerst unterrichtet hat oder nicht unterrichtet hat, wer etwas aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erfahren hat,
so daß man überhaupt nicht mehr weiß, wie in diesem Verwirrspiel der Ablauf der Tatsachen überhaupt gewesen ist.
Wenn es je eine Rechtfertigung dafür gegeben hat, wie notwendig Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sein können, so ergibt sich die Notwendig- keit dieses Untersuchungsausschusses schon aus den allerersten Vernehmungen.
Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
Schon jetzt steht fest, daß Verschlußsachen der Stufen „Geheim" und „Streng geheim" zu Hunderten verraten worden sind. Die Dokumente betrafen: künftige Bundeswehrstruktur, mittel- und langfristige Bundeswehrplanung, Waffensysteme und Großgeräte, den gesamten Zustand der Bundeswehr, die Alarm- und Mobilmachungsplanung, die Treibstoffversorgung im Ernstfall und den Panzer der 90er Jahre'.Meine Damen und Herren, der hier zu Ihnen spricht, gehört dem Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages seit seinem Eintritt in dieses Parlament an — das sind 20 Jahre — und war sieben Jahre lang sein Vorsitzender. In keiner Zeit ist in diesem Verteidigungsausschuß, auch nicht zusammengenommen über 20 Jahre, eine derartige Anzahl von geheimen und streng geheimen Dokumenten auch nur zur Kenntnis des Vorsitzenden dieses Ausschusses gelangt, zu keiner Zeit und nicht zusammen in diesen 20 Jahren. Das möchte ich Ihnen heute hier sagen.
Bei diesem Sachverhalt ist das, was nun folgt, beinahe unglaublich und unvorstellbar.
Auch der Generalbundesanwalt hat festgestellt, daß das angefertigte Gutachten als wahr unterstellt werden kann und daß der Verrat, wie er hier stattgefunden hat, einen schweren Nachteil für die äußere Sicherheit und somit einen besonders schweren Fall von Landesverrat darstellt.Die Geldzahlungen an die Beschuldigten werden mit dem Betrag von mehreren hunderttausend Mark beziffert.
Wenn einer weiß, was die DDR im allgemeinen zu zahlen pflegt,
dann wird er auch wissen, was für Spitzenbeträge hier offenbar gezahlt worden sind.
Es ist festzustellen, daß der entstandene Schaden in wesentlichen Teilen irreparabel ist. Das ist übereinstimmende Meinung aller militärischen Fachleute. Es muß leider angenommen werden, daß die Einsatzbereitschaft und Schlagkraft der Bundeswehr mindestens zeitweise nicht unerheblich herabgesetzt war. Es ist völlig eindeutig, daß der Spionagefall niemals das gegebene Ausmaß hätte annehmen können, wäre der Leiter der Sozialabteilung im Bundesministerium für Verteidigung, Laabs, mit den ihm anvertrauten Verschlußsachen so umgegangen, wie es die Sicherheitsbestimmungen und die allgemeinnen Beamtenpflichten erforderten.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978 5027
Dr. Zimmermann— Verehrter Herr Kollege, Sie können ganz sicher sein, daß ich darauf noch zu sprechen komme, wie auch darauf, wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß der Ministerialdirektor und Leiter der Sozialabteilung in den Verteiler für solche geheimen Sachen aufgenommen werden konnte.
Die Frage wird wohl erlaubt sein und sie wird im Ausschuß geklärt werden, ob es das Parteibuch, ob es die Vertrautheit mit dem war, der ihn in hohe und höchste Positionen entsandte, der Bundeskanzler selbst, warum das geschehen konnte, wie es sein konnte, daß er manche Geheimakten bis zu einem Jahr in seiner Verwahrung hatte,
daß er seiner Sekretärin den Umgang mit diesen geheimen Akten unbeschränkt gestattete, obwohl das durch hausinterne Verfügung verboten war.
Wie sie mit diesen Dokumenten umging, ist nie kontrolliert worden.
Die militärische Schadensbewertung, Grundvoraussetzung für eine systematische Eingrenzung des entstandenen Schadens, wurde von der Leitung des Verteidigungsministeriums dadurch erschwert, — —
— Ihre geschmacklosen Zwischenrufe, Herr Horn, sind mir noch aus der Zeit bekannt, als Sie Mitglied des Verteidigungsausschusses unter meinem Vorsitz waren. Sie qualifizieren sich selbst dauernd so, wie Sie es verdienen.
Einen Augenblick bitte! — Herr Abgeordneter Horn, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Bitte schön, Herr Kollege Zimmermann!
Die Schadensbewertung wurde dadurch erschwert, daß Staatssekretär Fingerhut die zentrale Bearbeitung dieser Sache an sich zog — Sie müssen sich das anhören, solange ich es für notwendig halte, Herr Horn — und durch Sondererlaß die für die Sicherheit des Ministeriums zuständigen Referate zugunsten des MAD unter General Scherer ihrer Möglichkeiten weitgehend beraubt wurden. Auf den General Scherer werde ich nachher noch zu sprechen kommen.
Schon jetzt steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, daß der Verteidigungsminister gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt hat. Der Bundeskanzler hat heute ausgesagt, er habe bereits 1976 von diesem Spionagefall und seinen Auswirkungen erfahren.
Der Bundesverteidigungsminister hat erklärt, er habe von dem Ausmaß und der Bedeutung dieses Falls erst aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erfahren.
Jetzt muß man wirklich die Frage stellen: War der zuständige Minister vielleicht der einzige, der von dieser Sache nichts erfahren hat?
Die Generale Wust und Domröse haben mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß sie auf Grund der gegebenen Umstände der Auffassung sein mußten, der Minister seit von Anfang an über den jeweiligen Sachstand voll informiert gewesen.
Nun kommt die Sache mit dem Urlaub. Der Verteidigungsminister hat in seiner für ihn sehr unglücklich verlaufenen Pressekonferenz am 13. Dezember 1977 folgendes wörtlich erklärt:
Ich habe dem von Herrn Laabs gewünschten Disziplinarverfahren stattgegeben und habe auch stattgegeben, daß er für die Dauer dieses Verfahrens, damit es unbeeinflußt vorgenommen werden kann — er ist immerhin Abteilungsleiter —, vom Dienst freigestellt, also beurlaubt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Möllemann?
Ich möchte diesen Gedanken, diesen Komplex, der zusammengehört, zu Ende führen, dann gerne.Vor fünf Wochen machte die gesamte deutsche Presse in Oberschriften, Artikeln und Kommentaren damit auf: „Laabs beurlaubt", „Disziplinarverfahren eingeleitet" usw. Jetzt stellt sich heraus, daß nach Wochen das Disziplinarverfahren immer noch nicht eingeleitet ist, und der Sprecher des Verteidigungsministeriums erklärt, daß der Ministerialdirektor Laabs, dem all das vorzuwerfen ist, was ich vorher sagte, am 27. dieses Monats aus seinem ganz normalen Urlaub zurückkehren werde.
Dazu wird mit Ausflüchten erklärt, eine Beurlaubung sei gar nicht möglich. Nun ist als erstes die Frage zu stellen: Kennt man im Verteidigungsministerium nicht mehr den Unterschied zwischen Jahres-
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Dr. Zimmermannurlaub und Beurlaubung aus dienstlichen Gründen? Oder muß man da Rechtsgutachten anfertigen lassen? Wie war es denn damals, als nach § 22 des Soldatengesetzes die Generäle Krupinski und Franke mit sofortiger Wirkung aus zwingenden dienstlichen Gründen ihren Dienst nicht mehr ausüben durften?
Wenn der Verteidigungsminister Rechtshilfe braucht: Diesem § 22 des Soldatengesetzes entspricht der § 60 des Bundesbeamtengesetzes,
nach dem selbstverständlich dieser Beamte einstweilen des Dienstes hätte enthoben werden können, und zwar bis zur Klärung der Angelegenheit, bis zur Einleitung des Disziplinarverfahrens, auch wenn es sich noch um Vorermittlungen handelte.
Dann muß man tatsächlich die Frage stellen, warum man in diesem Fall, bei der Bedeutung dieser Angelegenheit kein Disziplinarverfahren einleitet, zumal der zuständige Abteilungsleiter in Vernehmungen, die schon im Jahre 1976 stattgefunden haben,
wesentliche Einzelheiten, wie er mit Geheimsachen umgegangen ist, offenbart hat. Man brauchte ja nur seine Vernehmungsprotokolle aus dem Jahr 1976 zu nehmen, um festzustellen, ob es für ein Disziplinarverfahren reicht oder nicht. Er sagte damals — ich zitiere „Die Welt" vom 16. Dezember 1977 —:„Es gab einige Fälle, in denen Mitarbeiter meiner Abteilung nach Akten suchten, die angeblich auf meinem Schreibtisch liegen sollten. Nach den ersten beiden Fällen, bei denen ich ernsthaft daran glaubte, daß ich eine Akte auf dem Schreibtisch aus den Augen verloren haben könnte, und mich deshalb ernsthaft um das Auffinden bemühte, sie jedoch nicht in meinem Arbeitszimmer fand, verweigerte ich in den weiteren Fälle die Suche nach der Akte in meinem Zimmer."
„Nach meiner Erinnerung wurden sämtliche Akten nach einiger Zeit irgendwo aufgefunden."
Dies habe ihm jeweils Frau Lutze mitgeteilt. Ihm sei aber nicht. gesagt worden, an welcher Stelle diese Akten gefunden worden seien, und deshalb sei er der Sache nicht weiter nachgegangen.
Herr Bundeskanzler, hier muß man schon wirklich sagen: Das Spione kommen und gehen, wann sie wollen, das weiß man. Wenn sich aber Leute im Rang von Abteilungsleitern, von Ministerialdirektoren derart jämmerlich, primitiv äußern, wie es hier steht, möchte ich Sie fragen: Ist denn das denn wirklich echt, was hier in dieser Zeitung zitiert wird, steht das so im Vernehmungsprotokoll? Kann dieser Herr nach dieser Aussage auch heute noch kommen und gehen, wann er will, seinen Urlaub nehmen und seinen Schreibtisch wieder besetzen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn das unter den Augen des Verteidigungsministers geschieht, dann ist es nicht damit getan, seine vergangenen Verdienste, die wir auch kennen, zu rühmen, sondern es ist wirklich die Frage, ob der Minister das Amt noch in eigener Verantwortung führen kann. Sie sollten ihm die Last abnehmen. Sie würden ihm selbst, glaube ich, und auch der Bundesregierung — allen zusammen — damit einen Gefallen tun.
Lassen Sie mich als dem letzten Komplex zu dem Abhörskandal, zu den Maßnahmen, die sich gegen den Parteivorsitzenden der CSU gerichtet haben, kommen. Ich war zufällig im Büro des Herrn Kollegen Strauß, als der leitende Redakteur der „Süddeutschen Zeitung" mit dem zugeschickten Tonbandmanuskript erschien, konnte mich also selbst davon überzeugen, daß es amtlichen Charakter hatte und amtliche Stempel trug. Schon am nächsten Tag, also nach wenigen Stunden, äußerte der verantwortliche Koordinator für die Nachrichtendienste und Chef des Bundeskanzleramts, Staatssekretär Schüler, daß er ausschließe, daß eine Dienststelle des Bundes an diesem Abhören beteiligt sei.
Für jeden Kenner der Materie — und nicht nur für diese — war es klar, daß es unmöglich war, innerhalb dieser ganz kurzen Zeit ein auch nur einigermaßen verläßliches Untersuchungsergebnis vorzulegen.
Dann hat sich am nächsten Tag Staatssekretär Bölling, der Sprecher der Bundesregierung, zu Wort gemeldet und erklärt, man werde eine Kommission einsetzen und alle zuständigen Leute befragen. Also schon ganz andere Töne! Nun war man auf einmal schon beim Prüfen und Befragen.Dann wurde die Kommission angekündigt, die unter dem Vorsitz von Staatssekretär a. D. Professor Ernst tagen soll. In diesen Stunden erfahren wir, daß heute dem Bundesministerium des Innern ein Schreiben des Bundeskanzlers an Professor Ernst zuging, in dem dieser vom Bundekanzlernicht als Vorsitzender einer Untersuchungskommission, sondern als un-
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Dr. Zimmermannabhängige Persönlichkeit um Untersuchung des Abhörskandals gebeten wird. Zwei der CDU nahestehende Beamte und ein Techniker sollen nicht Mitglieder der Untersuchungskommission sein, sondern sollen die Geschäftsstelle bilden. Ich darf mir die Frage erlauben, Herr Bundeskanzler, ob das so ist und ob das Untersuchungsergebnis demnach nicht das Resultat einer Prüfung durch eine unabhängige Kommission und durch Experten darstellen wird, sondern nur das Ergebnis der Prüfungen von Professor Ernst. Heißt das weiterhin — das ist meine nächste Frage —, daß damit das Ergebnis schon durch die Art und Weise dieser Einsetzung relativiert werden soll und daß Sie also nicht das Gutachten einer unabhängigen Royal Commission wünschen? Ich wäre für eine Antwort auf diese Frage dankbar.Nun, meine Damen und Herren, muß man, wenn man Tonbandmanuskript und Tatsachenfeststellungen miteinander vergleicht, natürlich die Frage stellen: Wer konnte ein Interesse daran haben, daß eine stattgefundene Unterhaltung in einem ganz bestimmten Punkt verfälscht worden ist?
Da muß man wirklich fragen: Wer kann denn in Gottes Namen ein Interesse an dem Ergebnis einer solchen Aktion gehabt haben?
Da muß man sich nun natürlich, Herr Horn, das monatelange Manipulieren der Bundesregierung, des Bundesjustizministers und des Bundesverteidigungsministeriums, in Sachen Lockheed vor Augen halten, wo man wider besseres Wissen einen Parteivorsitzenden verdächtigte, als man schon längst wußte, daß nichts, aber auch gar nichts an der Sache war.
Ich möchte die Bundesregierung noch etwas fragen. Vorgestern abend war der Staatssekretär des Kanzleramts und Koordinator der Nachrichtendienste, Manfred Schüler, mit mehreren Journalisten zusammen.
Er soll dort erklärt haben, er müsse sich korrigieren; das amtliche Papier, von dem er sagte, es sei nur bis 1974 verwandt worden
— von dem er gesagt hatte, es sei nur bis 1974 verwandt worden —, sei, so soll er vorgestern gesagt haben, bis zum heutigen Tage beim Bundesnachrichtendienst in Verwendung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
daß dieses Papier bis heute in amtlicher Verwendung ist. Träfe das zu, würde diese Aussage von vorgestern einenwesentlichen Unterschied zu der Aussage des Staatssekretärs Schüler von damals bedeuten.
— Er war unmittelbar vorher bei dem Kollegen Strauß. Herr Kollege Strauß gibt gerade bekannt, daß Staatssekretär Schüler ihm das nicht gesagt hat.Dann möchte ich bei einem letzten Punkt, Herr Bundeskanzler, um Aufklärung bitten. Uns ist mitgeteilt worden, daß sich der frühere Chef des Militärischen Abschirmdienstes, General Scherer, kurz vor Weihnachten, nachdem er längst nicht mehr im Amt und im Dienst war, an zwei Tagen im Amt für Sicherheit der Bundeswehr in Köln aufgehalten hat, und zwar jeweils mehrere Stunden lang.
— Nein, das war nicht notwendig, weil solche Dinge durch Leute öffentlich Bekanntwerden, die von Berufs wegen, nämlich Presse, Fernsehen; Rundfunk, dazu da sind, die Öffentlichkeit zu unterrichten. Von ihnen kommt diese Mitteilung.Angeblich soll sich Brigadegeneral a. D. Scherer dort in Abwesenheit und ohne Wissen seines Amtsnachfolgers aufgehalten haben. Darüber soll es nachher eine erhebliche Auseinandersetzung gegeben haben. Sonderbarerweise ist dieses Datum unmittelbar vor Weihnachten identisch mit dem Datum der Zusendung des Tonbandprotokolls an die „Süddeutsche Zeitung" .
— Wir können ja nur fragen, wir können nicht selbst untersuchen; das wissen Sie. Aber fragen wird man diese Bundesregierung, die bei der Öffentlichkeit und auch bei der Opposition um Vertrauen wirbt, wohl noch dürfen.
Da ist, Herr Bundeskanzler, auch mit „mehr Fröhlichkeit", zu der Sie uns am Schluß Ihrer Regierungserklärung aufgefordert haben, nichts mehr zu machen; auch nicht mit „fester Gelassenheit". Das Vertrauenskapital ist aufgebraucht. Sie sind an vielen Stellen bei Ihrer Politik am niedrigsten Nenner angekommen. Wer die ganz Linken der SPD-Fraktion fragen muß, wie weit er bei der Erfüllung seiner Pflichten gehen darf, wer Minister halten muß, die unhaltbar geworden sind, wer zur Manipulation Zuflucht nehmen muß, um einen Parteivorsitzenden wider besseres Wissen weiter zu verdächtigen,
der sollte die angebotene Unterstützung der Opposition, die beim Kontaktsperregesetz, beim Steuerpaket und in der Energiepolitik sichtbar geworden ist, in Anspruch nehmen, wenn er sonst nicht mehr seine Pflichten dem deutschen Volk gegenüber erfüllen kann. Dieses Angebot wiederholen wir ausdrücklich.
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5030 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Zimmermann hat sich beklagt, daß wieder einmal eine Debatte — zumindest zeitweise — stärker durch Regierungs- und Bundesratsvertreter bestimmt wird als durch das Parlament. Dies ist natürlich ein Punkt, über den alle Parlamentarier dieses Hauses immer wieder untereinander Klage führen. Aber die Verfassung sieht nun einmal dieses Recht so vor. Damit Sie nicht zu kurz komen, habe ich ja darauf verzichtet, in der ersten Runde hier einzusteigen,
damit die Opposition nicht Klage darüber führen kann, zuwenig zu Wort zu kommen. Das hat den großen Vorteil, daß ich min natürlich in die Stilfragen, die ja von verschiedenen Seiten angesprochen worden sind, die Stilfragen einbeziehen kann, Herr Kollege Zimmermann, die -Sie mit Ihrem Beitrag aufgeworfen haben. Dies will ich bei den Sachpunkten im einzelnen tun.Herr Kollege Kohl, Sie haben festgestellt, was alles nicht geschehen sei, daß keine Antwort auf Fragen gegeben worden sei. Ich kann nur vermuten, daß Sie vielleicht — was ich verstehe — in der Eile die ganze Regierungserklärung nicht so genau lesen konnten, vielleicht auch bei dem Vortrag nicht alles aufgenommen haben. Vieles ist ja in dieser Regierungserklärung beantwortet worden. Bei anderem hat der Bundeskanzler gesagt: Wir bemühen uns um die Lösung.Sie haben den Schluß gezogen, daß es in dieser Regierung Unruhe geben müsse, weil ja jede Sorge haben müsse, daß ein blauer Brief kommt.
— Doch, Sie haben von den blauen Briefen gesprochen.
— Einige, einverstanden. Das genügt mir völlig. Ich brauchte nur noch einmal die Bestätigung mit dem blauen Brief. Vielen Dank, daß Sie mir diese gegeben haben.
Bei den blauen Briefen mußte ich daran denken, daß der Umschlag zwar blau, der Brief selber aber im allgemeinen weiß ist. Bei mir entstand der Eindruck, daß Sie immer an diesen blauen Brief aus Kreuth mit der Sperrfrist gedacht haben. Dann ist es natürlich verständlich, daß eine solche Gedankenverbindung zustande kommt.
Meine Damen und Herren, wir werden in der nächsten Woche viele Möglichkeiten haben, bei der Beratung des Haushalts zu den einzelnen Sachgebieten Stellung zu nehmen. Ich will deshalb hiernicht alle Bereiche, so reizvoll das wäre, noch einmal aufnehmen. Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen, die hier in der Debatte — sei es vom Kollegen Kohl, sei es vom Kollegen Zimmermann — berührt worden sind.Da spielt die „Spiegel"-Veröffentlichung eine große Rolle. Nun muß ich allerdings sagen, Herr Kollege Kohl: Wenn man Ihre Stellungnahme und auch die Stellungnahme anderer Kollegen der Union zur Veröffentlichung des „Spiegel" auf der einen Seite und Ihre Reaktionen auf Entwicklungen in den kommunistischen Parteien Frankreichs, Italiens, Spaniens auf der anderen Seite miteinander vergleicht, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß — wenn ich- es vorsichtig ausdrücke — eine Art gespaltene Reaktion erfolgt.Während so getan wird, als sei die Veröffentlichung im „Spiegel", die ja von „Spiegel" selbst nicht mehr als „Manifest" bezeichnet wird, eine Art großer Durchbruch in der DDR, konnten wir andererseits immer wieder hören, daß wir nur nicht auf Scheindemokratisierungen in den westlichen kommunistischen Parteien hereinfallen sollten.Mir scheint, der Oppositionsführer schätzt die Bedeutung der Entwicklung in den westlichen kommunistischen Parteien zu niedrig, zu gering ein, während er auf der anderen Seite die Bedeutung des Inhalts dieses Papiers oder die Zusammenfassung der Gedanken, die in der DDR gedacht werden, in ihrer konkreten, in ihrer unmittelbaren Bedeutung in der heutigen Situation zu hoch einschätzt. Wir bemühen uns, beide Faktoren so ernst zu nehmen und so zu werten, wie sie sind. Das heißt für mich: Die Entwicklungen in den westlichen kommunistischen Parteien, nicht zuletzt in Spanien, sind wahrscheinlich doch mehr als nur ein getarntes Vorgehen, um zur Macht zu kommen, um dann in die alte Rolle zurückzufallen. Damit ja kein Irrtum entsteht: Natürlich bleiben Kommunisten für mich Kommunisten, mit deren Grundauffassung ich als Liberaler nichts gemein habe; aber wir wären doch töricht, unterschiedliche Entwicklungen in den kommunistischen Parteien und daraus resultierende Rückwirkungen auf das nationale Verhalten dieser Parteien zu leugnen.Genausowenig bin ich bereit, die meiner Auffassung nach richtig wiedergegebenen Gedanken vieler in der DDR mit dem Programm einer wohlorganisierten Gruppe gleichzusetzen, die übermorgen oder gar schon morgen die entscheidende Position in der DDR einnimmt; dafür gibt es doch nicht den geringsten Anhaltspunkt.
Genausowenig bin ich aber bereit — vielleicht hören Sie das Nächste noch —, die in solchen Schriftstücken zusammengestellten Gedanken, Überlegungen und Positionen etwa als frei erfunden abzutun. Es ist unbestreitbar — und es wäre vielleicht gut, wenn man noch etwas stärker zu analysieren versuchte —, daß jedenfalls der erste Teil der Veröffentlichung eine Zusammenfassung, ja fast ein Gemisch der verschiedensten politischen
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MischnickRichtungen kommunistischer Ideen darstellt, in dem allerdings auch sozialdemokratische Vorstellungen aus der Mitte der 40er Jahre, d. h. aus der Zeit unmittelbar nach 1945, enthalten sind, genauso wie bestimmte Meinungen aus engagierten christlich orientierten Richtungen darin wiederzufinden sind. Auf mich macht diese Zusammenstellung den Eindruck, als sei sie der Versuch einer ähnlichen Zusammenfassung, wie sie — manche von den älteren Kollegen werden sich vielleicht daran erinnern — damals, unmittelbar nach dem Zusammenbruch 1945, die aus den KZs entlassenen Christen, Kommunisten, Liberalen und Sozialdemokraten gemeinsam als Ausgangsbasis für eine Neubesinnung suchten.Bei einer genaueren Analyse kann man zu dem Eindruck kommen, daß die Kinder dieser Generation unter Verwertung der Erfahrungen und der Erlebnisse ihrer Väter erneut diesen Versuch unternehmen, um zu einem Konzept für heute zu kommen. Aber — das füge ich hinzu — das, was da an Konzept durchklingt, hat weder etwas mit unseren Vorstellungen über unseren freiheitlichen Rechtsstaat noch etwas mit der heute praktizierten Form der kommunistischen Partei in der DDR, der SED, zu tun. Daß solche Gedanken, wie sie in diesem Papier enthalten sind, in der DDR gedacht werden, ist ja an sich nicht neu; sie sind hier in einer bestimmten Form zusammengefaßt worden.
Daß sich Formulierungen wiederfinden, die, sei es im Maoismus, sei es im Trotzkismus, sei es in Vorstellungen des „deutschen Weges zum Sozialismus" enthalten waren, ist unbestreitbar; ich denke an Ackermann. Das zeugt aber doch gleichzeitig davon, daß es sich hier nicht um ein in sich geschlossenes Ganzes als geistige Grundlage für eine neue politische Richtung handeln kann.Weil das alles so ist — nun kommt die Schlußfolgerung daraus —, wäre es doch törricht, die Politik der Bundesrepublik Deutschland etwa nur deswegen, weil es diese Gedanken gibt, ändern zu wollen. Daß man sie nicht unbeachtet lassen darf, wenn man eigene Konzeptionen entwickelt, halte ich allerdings für notwendig. Aber das Dümmste, was man machen könnte, wäre doch,
deswegen entweder gar keine Politik gegenüber oder mit der DDR zu treiben oder gar abzuwarten, was daraus wird, oder so zu tun, als könnten das die Gesprächspartner von übermorgen oder gar von morgen sein, ganz abgesehen davon, daß bis zur Stunde niemand weiß, daß nichts bekanntgeworden ist, wer nun diese Schriftstücke verfaßt oder zusammengestellt hat. Kollege Kohl hat einmal davon gesprochen, er sei davon überzeugt, daß es echt ist. Wenn da Informationen vorliegen sollten, die die analytischen Untersuchungen, die auch wir gemeinsam durchgeführt haben, bestätigen, so wäre es für uns natürlich interessant, das zu wissen. Wenn es nichts weiter als genau die gleiche Vermutung ist, die ich hier ausgesprochen habe, dann darf mannicht den Eindruck erwecken, als sei das schon eine feststehende Tatsache, und man wisse ganz genau, um wen es sich handelt; man wolle es den anderen bloß nicht sagen.
— Wenn es auf allen Seiten nur eine Vermutung ist, daß es echt ist, in Ordnung. Wenn es aber Beweise oder Hinweise dafür gibt, von wem es stammt, so wäre ich persönlich interessiert — das könnte auch im persönlichen Gespräch geschehen —, von Ihnen, Herr Kohl, zu hören, von wem das ist, nachdem Sie gesagt haben: Das ganze ist echt. Daran könnte ich mein eigenes Urteil überprüfen. Wenn so klar gesagt wird, daß es echt ist, so ist es doch legitim, diese Frage nach der Herkunft zu stellen. Ich weiß nicht, ob es echt ist, ich vermute es und versuche nur, alle Gesichtspunkte zu prüfen.Ich komme zu dem Ergebnis, daß es auch nach dieser Veröffentlichung keine erkennbare, keine erfolgversprechende Alternative zur Entspannungspolitik gibt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Würden Sie die Güte haben, Herr Kollege Mischnick, zu prüfen, ob Sie in die vielen Gesichtspunkte, die Sie hierbei betrachten würden, vielleicht auch diesen einbeziehen können: die Aktivität der Generale der Roten Armee gegenüber der Bevölkerung, gegenüber unseren Landsleuten in der DDR in diesen Tagen? Würden Sie dies vielleicht auch als einen Gesichtspunkt nehmen, um sich dann zu dem „Findling" zu äußern, von dem Herbert Wehner heute gesprochen hat?
Lieber Herr Kollege Barzel, ich gehe immer davon aus, daß Sie zuhören. Ich unterstelle nicht, daß Sie nicht zuhören. Nur können Sie jetzt nicht bestreiten, daß ich gerade über eine längere Zeit versucht habe, mich damit auseinanderzusetzen und Gesichtspunkte zu analysieren. Deshalb geht Ihre Frage an der Sache völlig vorbei. Natürlich wissen wir ganz genau, daß es hier wie dort Kräfte gibt, die solche Veröffentlichungen gern benutzen möchten, um damit die Entspannungspolitik, wie wir sie bisher getrieben haben, zu torpedieren.
Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, auf diesen Leim zu kriechen. Das ist der entscheidende Punkt, um den es für mich hier geht.
Meine Herren Kollegen Barzel, Kohl und Zimmermann, Sie haben von den negativen Erlebnissen
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Mischnickder letzten Tage gesprochen. Der Bundesaußenminister hat dazu zum Teil schon Stellung genommen. Gerade diese Auseinandersetzungen — das gehört mit zu den Fragen des deutsch-deutschen Verhältnisses — sind Realitäten von besonderer Bedeutung. Das gilt natürlich in erster Linie auch für die Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen.Der Grundlagenvertrag besteht seit fünf Jahren; er ist Geschäftsgrundlage für die Beziehungen. Trotz der empfindlichen Störungen — da gibt es keinen Zweifel — und auch trotz der Störungen der letzten Tage ist die Gesamtbilanz für die Menschen für diese fünf Jahre positiv. Das schließt doch nicht aus, ja das zwingt uns dazu, bei jeder Entwicklung, wie wir sie jetzt erlebt haben, die entsprechende, angemessene Reaktion zu zeigen. Wir haben sehr deutlich gemacht, daß die seinerzeitige Zurückweisung von FDP-Abgeordneten des Niedersächsischen Landtages an der Sektorengrenze in Berlin genauso wie die Schließung des „Spiegel"-Büros, genauso wie das Einreiseverbot für den CDU-Vorsitzenden und andere Kollegen gravierende Verstöße gegen die Prinzipien der Verträge sind. Wenn ich die Dinge im einzelnen betrachte, so würde ich es allerdings etwas abgewogener als der Kollege Zimmermann sagen: In dem einen Teil sind es Vertragsbrüche, im anderen Teil sind Prinzipien, die bisher unbestrittenes Recht für uns waren, in Frage gestellt worden, Frau Kollegin Berger; denn ich lege Wert darauf, daß wir selbst, wenn wir anderen sagen: man muß sich genau an die Vertragsbestimmungen halten, das auch entsprechend tun. Deshalb diese feine Unterscheidung.Diese feine Unterscheidung wirft natürlich die ernste Frage auf, wie angesichts solcher Willkürakte eine kontinuierliche Entwicklung der Beziehungen zwischen uns und der DDR gesichert werden kann. Wir fordern die Behörden der DDR eindringlich auf, zu einer Politik zurückzukehren, die sich an dem Grundlagenvertrag orientiert, und sich nicht, wie es in diesem Fall geschehen ist, in von Ihrer Seite opportunistischen, der Sache aber insgesamt schädlichen, dem Geist von Helsinki widersprechenden Formen zu verhalten.Allerdigns, Herr Kollege Kohl, wenn Sie meinen, es gebe insgesamt zu wenig Phantasie, um hier Möglichkeiten zu finden, dann kann ich nur sagen: diese Sorge ist unbegründet. Viele Versuche sind unternommen worden. Viele Vorschläge sind gemacht worden. Manche mit Erfolg, manche nicht mit Erfolg. Wir behaupten ja nicht, daß jeder einzelne Versuch, den wir unternommen haben, diese Dinge in Ordnung zu bringen, weiterzubringen, sofort von Erfolg gekrönt war. Wenn das nicht alles öffentlich dargestellt wurde und wird, dann doch ausschließlich aus dem Grunde, mögliche Ergebnisse nicht durch vorzeitige öffentliche Diskussionen in Frage zu stellen. Das war so, ist so und wird auch in Zukunft unser Verhalten bestimmen.Hier ist noch einmal unterstrichen worden, was der Kollege Kohl schon zur Abhöraffäre gesagt hat. Man konnte manchmal den Eindruck gewinnen, als sei bei den Koalitionsfraktionen das Interesse an einer vollständigen Klärung nicht genauso vorhanden wie bei der Oppositionsfraktion. Sie können davon ausgehen, Herr Kollege Zimmermann, daß wir allies, was notwendig ist, zur Aufklärung dieser Affäre tun werden. Ich gestehe ganz offen, daß ich etwas erschrocken war, als Sie hier mit Ihren Bemerkungen über die Einsetzung der Kommission unter dem Vorsitz von Herrn Ernst den Eindruck erwecken konnten, als sei ausgerechnet Herr Professor Ernst ein Mann, der sich manipulieren lasse. Das doch mit Sicherheit nicht. Sind wir uns darüber einig? — Das heißt, auch Sie gehen also davon aus, daß die Person von Herrn Professor Ernst eine Garantie dafür ist, daß hier mit aller Objektivität untersucht werden wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Mischnick, ich bin sicher, daß Sie mir zustimmen werden, wenn ich darauf hinweise, daß zwischen der Einsetzung von Professor Ernst als Person und der Qualifizierung der gesamten Kommission als einer juristischen, unabhängigen Institution eben ein enormer formeller und juristischer Unterschied ist, der an der Qualifikation von Professor Ernst persönlich gar nichts ändert.
Selbst wenn ich dies jetzt im einzelnen diskutieren wollte — es würde zu lange dauern, sich darüber auseinanderzusetzen, was davon berechtigt ist und was nicht berechtigt ist —: Träte auch nur eine dieser Schwierigkeiten ein, würde meiner Ansicht nach Herr Professor Ernst der Mann sein, der dann, wenn diese Probleme einträten, die Sie befürchten, sofort die Konsequenzen ziehen würde. Ich bin der Überzeugung, er wird diesen Auftrag genauso durchführen, wie Sie und wir ihn wollen. Allerdings heißt das: erst prüfen und dann urteilen, nicht umgekehrt handeln. Das ist der entscheidende Punkt.
Ich kann nur sagen, der Kollege Strauß hat kräftige Zu- und Vorarbeit geleistet — gemeinsam mit manchem, was aus der Lazarettstraße in München kam, was zu Unterstellungen geführt hat. Selbst die der CSU doch nicht bösartig gesonnene — ich kann eher sagen: zugetane — Tageszeitung „Die Welt" hat in einem Kommentar vom 16. Januar zum Ausdruck gebracht — ich zitiere wörtlich —: „Beklemmend, wenn die CSU in ihrer ersten Reaktion der Bundesregierung das Vertrauen entzieht". Das macht doch deutlich, daß daraus der Eindruck gewonnen werden muß: es geht gar nicht um die Klarstellung; es geht darum, irgend jemand — um es drastisch auszudrücken —, am besten der Bundesregierung, ein Bonbon ans Hemd zu heften, aber nicht zu klären, was in der Sache wirklich los ist.
— Ich wäre vorsichtiger mit den Zwischenrufen,sonst muß ich doch auf diese „Lockheed"-Zwischen-
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Mischnickrufe etwas mehr eingehen. In der Tat ist es doch für uns alle — nicht nur für denjenigen, der hier abgehört worden ist, sondern für uns alle, die wir uns als Repräsentanten dieses freiheitlichen Rechtsstaates fühlen — ein Angriff auf diesen freiheitlichen Rechtsstaat, wenn illegal abgehört wird. Dagegen wehren wir uns gemeinsam.
Meine Damen und Herren, ich halte es auch — und darauf ist heute schon hingewiesen worden — für nicht anständig — eigentlich müßte ich schon sagen: unanständig —, wenn dann die Auseinandersetzung über die Abhörgeschichte 1974 hier hineingezogen wird. Damals lauteten doch die Schlagzeilen: Bundesregierung hört Oppositionspolitiker ab. Wenn nach vielen, vielen stundenlangen Gesprächen im Vertrauensmännergremium alle, die dabei waren, über Hintergründe und Ausgangspunkte schweigen, dann sollte man diese Fairneß nicht durch die Unfairneß entgelten, so zu tun, als habe es sich hier um eine parteipolitische Sache gehandelt.
Meine Damen und Herren, vom Kollegen Zimmermann ist darauf hingewiesen worden, daß Formulare verwandt worden seien, die angeblich nur bis 1974 — jetzt stelle sich heraus: bis heute — benutzt wurden. Hier seien Diskrepanzen in den Aussagen. Dies wird man, sei es im Untersuchungsausschuß, sei es in der Kommission, zu untersuchen haben. Er hat gesagt, daß sich da Fragen aufwerfen würden, weil da Termine gleicher Art seien. Herr Kollege Zimmermann, ich kann nicht unterdrücken, daß sich bei mir die Frage aufwirft: Warum kommt das Ganze zu einer Zeit zutage, als ein Wechsel in der Redaktion des „Bayernkurier" eingetreten ist? Da kommen Fragen dadurch auf, daß. wir heute hören, daß in München Observationen stattgefunden haben, weil man Sorge hatte, ein östlicher Geheimdienst könnte tätig sein. Das alles sind Fragen, die sich stellen; ich sage aber nicht: ich unterstelle, das sind auch die Schuldigen. Das muß gemeinsam durch die Kommission und — wenn ein Untersuchungsausschuß hier beschlossen wird — durch den Untersuchungsausschuß geprüft werden.
Hier scheint sich eben doch die Frage des Bekenntnisses zur Rechtsstaatlichkeit und des praktischen Handelns im Sinne der Rechtsstaatlichkeit zwischen uns unterschiedlich darzustellen.
Für uns heißt eben Rechtsstaatlichkeit, nicht vorherzu verurteilen, sondern erst nach Vorlage aller Unterlagen das Urteil zu fällen. Dasselbe gilt doch auch
— Da kommt doch wieder „Lockheed". Lieber Herr Kollege, ich rate Ihnen, einmal die Berichte der Bundesrechnungshofs aus den Jahren 1971 und 1972 über die Beschaffung des Starfighter nachzulesen, das, was damals darin über die Bundeswehrgefährdung vom Bundesrechnungshof festgestellt wurde.Dann würden Sie nicht mehr ständig dazwischenrufen.
Zum Spionagefall: Herr Kollege Zimmermann, ich nehme Ihnen nicht übel, daß Sie als Oppositionsredner natürlich versuchen wollen, aus Mängeln, die sich hier wahrscheinlich herausstellen werden — ich bin noch vorsichtig —, entsprechendes poli- tisches Kapital zu schlagen. Das ist verständlich. Nur, Herr Kollege Zimmermann: -Kann es im. Interesse einer Untersuchung dieses Falles liegen, wenn hier so getan wird, als sei alles erwiesen, während erst vor wenigen Tagen der Generalbundesanwalt die Sorge äußerte, daß manches an öffentlichen Diskussionen im Gerichtsverfahren Schwierigkeiten mit sieh bringen könnte? Wäre es da nicht angemessen, das, was an politischer Verwertung möglich ist — und jedem freisteht —, zu einem Zeitpunkt vorzunehmen, wo die rechtlichen Bedenken, die heute noch eine Rolle spielen, keine Rolle mehr spielen? Sie sagen, diese seien sehr klein. Wir werden es erleben, wie groß sie wirklich sind.Natürlich halte ich es für notwendig, daß die Prüfung der Fragen „Wer war empfangsberechtigt?", „Einhalten der Vorschriften?" in aller Nüchternheit durchgeführt werden muß und daß die Verantwortungen dabei auch ganz klarzustellen sind. Nur, Sie wissen doch genauso wie wir, daß morgen der Kollege Leber im Ausschuß aussagen wird. Warum dann heute der Versuch, das, was morgen der Untersuchungsausschuß als Sacharbeit zu leisten hat, so darzustellen, als seien das alles schon feststehende Tatsachen? Dies ist das, was ich nicht gut finde, als was ich auch dem Auftrag eines Untersuchungsausschusses als nicht gemäß empfinde. Dies untergräbt das Vertrauen viel mehr, als wenn ich erst einmal die Dinge prüfe, sie dann auf den Tisch lege und ganz klar sage: Das war falsch, und das muß in Ordnung gebracht werden.
Ich wünschte mir, die heutige Opposition würde — bitte verstehen Sie es nicht falsch, wenn ich das selbst sagen muß, weil ich damals in diesem Ausschuß war — die Dinge so behandeln, wie wir damals im Jahre 1968/69, als wir mit dem Hirsch-Bericht in einem Untersuchungsausschuß, in dem die Fraktionsvorsitzenden mit je einem Vertreter saßen, eine Serie von Selbstmorden in der Bundeswehr, die mit Spionage zusammenhingen, untersuchen mußten. Da sind wir als damalige Opposition nicht auf die Idee gekommen, im Plenum des Bundestages auch nur den Versuch einer parteipolitischen Auswertung zu machen. Es wäre gut, wenn Sie heute an so etwas denken würden.
— Herr Kollege Barzel, ich weiß sehr genau, weshalb wir das machen wollten und mußten und auch bereit waren, es zu tun. Ich unterstelle dem Verteidigungsausschuß nicht, daß er hier nicht dieselbe Sorgfalt anwendet. Es wäre nur notwendig, daß —
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Mischnickwenn die Dinge schon untersucht werden — die Berichte am Schluß stehen und daß sie nicht zwischendurch erstattet werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch das aufgreifen, was hier sowohl vom Kollegen Kohl wie vom Kollegen Zimmermann zu der Auseinandersetzung um die Gesetzgebung zur Bekämpfung des Terrorismus gesagt worden ist. Wenn man das so hört und nicht weiß, wie die wirkliche Situation ist, dann muß man den Eindruck gewinnen, als sei in der Koalition überhaupt keine Bereitschaft vorhanden, etwas zu tun. Daß Sie andere Vorstellungen haben als wir, daß es hier unterschiedliche Überlegungen gibt, wie man die Dinge regeln kann, darauf hat der Herr Kollege Genscher schon hingewiesen. Aber ich bedaure, daß eines aus der Gemeinsamkeit in schweren Stunden verlorengegangen ist: daß nämlich noch immer nicht der Versuch des gegenseitigen Vorrechnens aufgegeben worden ist und daß noch nicht die Bereitschaft, das wirklich Nützliche und Sinnvolle zu betonen, in den Vordergrund getreten ist.Herr Kollege Kohl hat sich gefreut, daß der Herr Bundeskanzler aus der wissenschaftlichen Fachtagung der CDU einige Hinweise gegeben hat. Wenn er beklagt, wir würden erst im nächsten Monat entscheiden, dann ist ein Vorwurf von ihm berechtigt, der dahinterstecken könnte, ich weiß es nicht. Wir haben vielleicht alles, was dort gesagt worden ist, sorgfältiger geprüft, als es selbst in der Union geschehen ist. Ich will hierzu einige Beweise anführen, denn vieles, was dort gesagt und schriftlich verteilt wurde, hat mich sehr beeindruckt. Da hat z. B. Dr. Heinrich Basilius Streithofen gesagt:Terroristen fallen nicht vom Himmel. Sie werden in Familien hineingeboren und damit schon entscheidend vorgeformt. Sie besuchten Schulen und Universitäten, sie suchten Kontakt zu den Kirchen, arbeiteten in Betrieben und engagierten sich in politischen Parteien. Welche ethischen Verhaltensweisen wurden ihnen gelehrt im Elternhaus, in den Kirchen, in den politischen Parteien? Was wurde ihnen vorgelebt?Der Redner fuhr fort — ich zitiere wieder wörtlich —Geben wir durch unser Leben Beispiele, dieser Jugend eine Identifikation zu ermöglichen, die zur Nachahmung anregen. Die junge Generation orientiert sich immer an Vorbildern. Wo die Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten nicht vorgelebt werden, ist auch keine Identifikation möglich.Ich sage, das geht uns alle an. Das heißt aber auch, daß wir dem widersprechen, wenn wir unzulässige Verallgemeinerungen vornehmen, wenn wir Pauschalierungen vornehmen, denn dadurch werden Polarisierungen heraufbeschworen, die zu einer Konfrontation, oft zur totalen Konfrontation führen.Professor Karl Dietrich Bracher hat auf die Aktualität und Exklusivität des Zusammenhangs vonTerror und Diktatur hingewiesen und hat gesagt, auch nach dem Ende des Hitler- und des Stalin-regimes müsse man mit immer neuen Formen der totalitären Versuchung, des totalitären Impulses in extremistischen Gruppen rechnen.Natürlich, auch wenn deren Größenverhältnisse harmlos erscheinen, so ist es für uns doch ein Gebot, Wachsamkeit und Selbstverständnis für eine wehrhafte Demokratie zu zeigen. Das bedeutet aber auch, daß die verfassungsmäßigen und die staatspolitischen Grundsätze wie auch das Verteidigen des Wesens unserer Demokratie immer abgewogen werden müssen mit dem, was in unseren Grundrechten als Maxime für uns aufgestellt ist. Für uns wiegt gerade in diesen Auseinandersetzungen ein Wort von Thomas Dehler schwer, der vor einem Monat 80 Jahre alt geworden wäre. Er hat den Grundsatz aufgestellt — ich zitiere wörtlich —:Wo der liberale Gedanke schwindet, da verkümmert das Recht und das Rechtsgefühl, da verliert die Demokratie den Halt, da fällt die Schranke für die Staatsgewalt, die Achtung vor dem Recht des einzelnen, und der Weg zur Vergötzung des Staates, zur Despotie, liegt dann offen.Die Grund- und Freiheitsrechte, die Menschenrechte bedeuten, daß es in allem um den Menschen geht, daß er Ziel und Zweck ist, daß er niemals als Mittel mißbraucht werden darf.Weil wir uns diese Grundsätze zu eigen machen, haben wir eben bei allen Entscheidungen sachlich und nüchtern zu prüfen: Ist das mit diesen Grundsätzen vereinbar Oder nicht? Es dürfen da keine Sonderregelungen um sich greifen, die letztlich die Wahrnehmung der Grundrechte zumindest als Risiko erscheinen lassen. Das können doch nur die wollen, die auf Verständigungsschwierigkeiten, auf das Wachsen irrationaler Ängste in unserer Gesellschaft warten, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Gerade diese Rechnung darf doch nicht aufgehen. Sie wird dann nicht aufgehen, wenn wir gesprächsbereit sind bezüglich dessen, was wir hier von einem Ihrer Redner gehört haben: auch reformbereit zu sein und das moralische und soziale Engagement des einzelnen nicht zu behindern.Aber wenn ich diesen Maßstab, der auf Ihrer Tagung gesetzt worden ist, dann beispielsweise benutze, um ihn an ihren Reaktionen auf das Gespräch anzulegen, was am 11. Dezember 1977 zwischen dem SPD-Vorsitzenden Brandt, dem Bildungsminister Rohde und den Vereinigten Deutschen Studentenschaften stattfand, dann kann ich nur sagen: Wie kann man, wenn man Gespräche führt, Gesprächsvoraussetzungen schaffen will, versuchen will, aus den Gesprächen festzustellen, wie die Wertungen sind, falsche Wertungen, richtige Wertungen, daraus schon eine Kritik ableiten, daß man überhaupt zum Gespräch bereit ist? Dies steht im Widerspruch zu dem, was auf Ihrer eigenen Tagung zum Ausdruck gebracht worden ist.Meine Damen und Herren, wir sollten nicht nur gereizt und unwillig auf Protestaktionen von Stu-Mischnickdenten reagieren und sollten uns auch durch noch so harte Auseinandersetzungen, die wir alle schon einmal erlebt haben und jetzt wieder erleben, nicht abhalten lassen, die Gespräche zu führen. Es ist aber dann auch notwendig, zu erkennen, wo wir beispielsweise im Hochschulrahmengesetz möglicherweise Punkte haben, über die wir miteinander reden müssen, etwa über das, was in Baden-Württemberg mit der generellen Ablehnung der verfaßten Studentenschaft geschieht, ohne daß es in Wirklichkeit mit der Mehrheitsmeinung des gesamten Hauses hier übereinstimmte. Ich will hier nicht in die Details gehen.Das alles, meine Damen und Herren, kann doch nur dazu führen, daß wir nicht nur die Rechte, sondern auch die Verpflichtungen des Bürgers sehen. Sicherlich muß der Gesetzgeber neue Erfordernisse erkennen und auch auf Problemverschiebungen eingehen. Wir haben das getan, wir tun es weiter. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, -welch hohe Beträge wir ausgegeben haben, um beispielsweise die Organe der inneren Sicherheit zu verbessern. Aber ich will hier ausdrücklich noch einmal ganz klar sagen, damit die verfälschende Meinung, als wären wir nicht bereit, Konsequenzen aus den Erfahrungen zu ziehen, nicht im Raum bleibt: Wir werden das Notwendige und das Mögliche tun, um die Pläne der Terroristen zu durchkreuzen. Aber nur genau auf den Nerv der Terroristen gezielte Maßnahmen werden uns hier helfen. Wer dem Gesetzgeber zu einem großen Rundumschlag rät, will nicht wahrhaben oder, was noch schlimmer wäre, leichthin übergehen, daß damit vielen unbescholtenen Bürgern im Lande Schwierigkeiten aufgehalst würden, die nicht notwendig sind.Wir Freien Demokraten werden eine Hau-ruckMethode nicht mitmachen. Wir werden die Freiheit nicht verteidigen, indem wir die Freiheit des einzelnen Schritt für Schritt reduzieren. Wohl aber werden wir dort Eingriffe befürworten, wo den Terroristen das Handwerk erschwert wird, nämlich durch eine sehr scharfe Ausschlußregelung für Verteidiger,
die viel besser ist, als wenn man eine Gesprächsüberwachung, wie Sie sie immer haben wollen, einführte.
Sie, Herr Kollege Kohl, haben so getan, als sei die Gesprächsüberwachung das Nonplusultra. Der verschärfte Ausschluß ist'die einzige Chance,
um zu verhindern, daß die Dinge, die wir gerade in den letzten Tagen wieder erfahren haben, überhaupt eintreten können. Wir sind auch für mehr Kompetenzen für das Bundeskriminalamt. Aber hier sehe ich gerade bei Ihnen immer sehr viele Widerstände.
Wir sind für die Verankerung der Kontrollstellenund die Identitätsfeststellung sowie auch für diedrastische Heraufsetzung des Strafmaßes bei unerlaubtem Besitz von Kriegswaffen. Das alles trägt zur Sicherheit bei.Wenn Sie, Herr Kollege Kohl, sagen: Das alles wollen wir ablehnen, weil es uns nicht genug ist, dann kann ich nur sagen: Wer so handelt, darf sich nicht wundern, daß das Staunen draußen ähnlich wie bei der Vermögenssteuer groß ist und die Leute sich dann fragen: Was wollen die eigentlich? Wenn Sie hier Anträge zur Verschärfung stellen, die dann abgelehnt werden, ist das Ihr gutes Recht. Aber das, was Sie zum Teil selber vorher gefordert und unterstützt haben, deshalb abzulehnen, weil es Ihnen nicht weit genug geht, scheint mir kein besonderer Beweis dafür zu sein, daß man dort, wo es möglich ist, auch gemeinsam zu Entscheidungen in diesen Fragen kommen kann. Dies ist -einfach .ein Widerspruch in sich.
— Wenn das Grunndsätzliche darin besteht, daß man erklärt: Nur wenn 100 Prozent erreichbar sind, sage ich ja; wenn es 50, 60 oder 70 Prozent sind, sage ich nein, dann hat das nichts mehr mit einer fairen Auseinandersetzung in einem demokratischen Staat zu tun,
dann ist das ein Totalitätsanspruch, und den lehnen wir Liberalen allerdings völlig ab.
Das entlarvt Sie, nämlich zu sagen: Wir sind zur Zusammenarbeit bereit; aber wir stimmen nur zu, wenn es so gemacht wird, wie wir es selber haben wollen. Das kann nicht die Basis der gemeinsamen Arbeit sein.
Wir sind bereit, mit Ihnen über jede Lösung zu streiten.
— Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß manche Vorschläge von Ihnen eben nicht mit dem in Einklang zu bringen sind, was wir von einem liberalen Rechtsstaat halten. Deswegen aber nun den Eindruck erwecken zu wollen, wir wollten nicht die Sicherung dieses liberalen Rechtsstaates, das ist es doch, was Mißtrauen sät und das Vertrauen in diesen Staat insgesamt untergräbt. Dagegen wehren wir uns.Zum Schluß eine kurze Bemerkung zu dem, was über die Wirtschaftspolitik — es würde zu weit führen, heute noch darauf länger einzugehen — gesagt worden ist. Herr Kollege Kohl hat davon gesprochen, daß nichts gegen die Arbeitslosigkeit geschehen sei und daß nichts geschehen sei, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Ich verweise darauf, daß auch in diesem Bereich die Opposition manche Entscheidung mitgetragen hat, obwohl sie heute so tut, als sei keine Entscheidung gefällt wor-
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Mischnickden, und daß sie manche Entscheidung, die wir fällen wollten, über den Bundesrat mit ihrer Mehrheit behindert hat. Die Kontroverse über das Energieprogramm hat ja deutlich gemacht, wie hier Anspruch und Wirklichkeit bei der Opposition weit auseinanderklaffen.
Dasselbe trifft auf ein weiteres Thema zu; das Sie kurz angeschnitten haben: die Rentenpolitik. Wir werden darüber im Detail zu reden haben, Herr Kollege Kohl. Nur, wenn sich die Union in der Rentenpolitik auf das hohe Roß setzen will, dann muß sie sich daran erinnern, daß 1957 bereits die Gefahren der automatischen Dynamik in aller Deutlichkeit von den Freien Demokraten dargestellt worden sind. Dann muß sich die Union weiter daran erinnern, daß bereits Mitte der 60er Jahre während der Großen Koalition, als dieser Krankenversicherungsbeitrag von zunächst 4 und dann 2 % aus Ihren Reihen kam, wir damals gesagt haben: Klare Lösungen sind notwendig und nicht solche Mittelchen, die in Wahrheit ja kein Krankenversicherungsbeitrag waren, sondern eine Kürzung der Rente darstellten; etwas anderes ist es ja nicht gewesen.Wenn wir die Diskussion führen, bin ich allerdings gespannt darauf, Herr Kollege Kohl, ob Sie es wieder so machen wie im vergangenen Jahr, nämlich praktisch langfristige Lösungsvorschläge nicht auf den Tisch zu legen, sondern nur zu sagen: Wir sind gegen die Beitragserhöhung; wir sind gegen die Veränderung der Bruttolohnbezogenheit; wir sind dafür, daß alles so bleibt wie es ist; aber das Defizit muß gedeckt werden. Mit einer solchen Politik können Sie uns nicht imponieren.
Wir werden den Mut haben, klipp und klar zu sagen —
— Das müssen Sie ausgerechnet mir sagen! Von dieser Stelle hier haben meine Kollegen vor der Wahl, als Ihre Kollegen noch nicht bereit waren, überhaupt diese Frage als ein wichtiges Problem zu diskutieren, auf diese Notwendigkeiten hingewiesen.
Wir werden bei diesen Diskussionen allerdings auch ganz klar sagen: Entscheidungen des. Jahres 1978 dürfen auf keinen Fall den Weg verbauen, der mit dem Verfassungsgerichtsurteil über die' Gleichstellung von Witwern und Witwen verbunden ist. Und wir werden auch mit aller Deutlichkeit sagen: Entscheidungen, die 1978 gefällt werden, dürfen keineswegs die Regelungen für den Bereich der Krankenversicherung der Rentner und die Rentenbesteuerung in irgendeiner Weise negativ präjudizieren.Wer die Rente als Lohnersatz haben will — und wir wollen das —, muß auch bereit sein, all diese Fragen nicht nur für heute und morgen, sondern langfristig nüchtern zu diskutieren. Dann nützt es nichts, so zu sprechen wie der Kollege Katzer: Mit Klauen und Zähnen werden wir alles verteidigen.Sondern es geht darum, sachlich langfristige Lösungen miteinander zu beraten. Denn das ist keine parteipolitische Frage, sondern eine Frage, die wegen des Generationenvertrags uns alle angehen muß.
Das Vertrauen in unsere Institutionen wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß wir davon sprechen, daß bis 1981 bei einem Volumen von rund 700 Milliarden DM ein Defizit von 20 Milliarden DM geklärt werden muß, sondern das Vertrauen wird in Frage gestellt, wenn Sie den Eindruck erwecken, die Renten sollten gekürzt werden. Kein Mensch denkt daran, die heutigen Renten zu kürzen.
Hören Sie mit dieser Propaganda auf! Denn das ist Verdummung und nicht Aufklärung über den Sachstand.
— Das hat nichts mit Polemik zu tun, sondern ist eine Tatsachenfeststellung, die ich hier leider treffen muß. Das ist nämlich die Tatsache, daß Sie draußen den Eindruck verbreiten, die Renten sollten gekürzt werden.
Wir werden in der nächsten Woche im Detail über diese Dinge weiter sprechen, und im Februar bzw. März werden wir, wenn der Rentenanpassungsbericht vorliegt, dazu Stellung zu nehmen haben.
— Sie können ganz beruhigt sein. Ich bin über jeden froh, Herr Kollege, der in diesen Fragen ein besserer Sachkenner ist als ich. Aber ich würde mich an Ihrer Stelle doch einmal selber fragen, ob Sie hier gerade mir dies zurufen sollten. Das ist eine Frage, die Sie selber klären müssen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß folgendes feststellen. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat die Marschrichtung für das Jahr 1978 klargelegt. Wir werden diese Regierungserklärung und deren Inhalt- unterstützen. Wir gehen davon aus, daß die sozialliberale Koalition, die im Jahre 1977 unter schwierigen Bedingungen viel mehr Fragen gelöst hat, als Ihnen lieb ist, 1978 die Fragen, die nicht gelöst werden konnten, anpacken wird.Die Freien Demokraten werden loyal zu dieser Koalition stehen, ihren eigenen Beitrag leisten, aber gemeinsam für unser Volk, für die Bundesrepublik Deutschland ihr Bestes tun.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich eine Mitteilung machen. Auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung wird vorgeschlagen, nach § 127 unserer Geschäftsordnung folgende Abweichung von den Richtlinien für die Fragestunde zu beschließen:
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Dr. EmmerlichIn der Woche vom 23. Januar 1978 finden mit Rücksicht auf die Haushaltsberatungen keine Fragestunden statt. Jedes Mitglied des Hauses ist jedoch berechtigt, für diese Sitzungswoche bis zu vier Fragen an die Bundesregierung zu richten, die schriftlich beantwortet werden. Auf diese Fragen findet Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde keine Anwendung. Ist das Haus mit dieser Regelung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Wir kehren zur Aussprache über Punkt 2 zurück. Das Wort hat Herr Abgeordneter Emmerlich.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kohl hat sich in seiner Rede heute morgen etwas ausführlicher mit dem Problem der Bekämpfung des Terrorismus befaßt. Ohne die Debatte, die wir im Februar zu führen haben, vorwegnehmen zu wollen, halte ich es für notwendig, daß ich zu seinen Ausführungen einige Bemerkungen mache.Erstens. Angesichts der großen Gefahr, die der Terrorismus für den einzelnen und für unseren Staat und unsere Gesellschaftsordnung bedeutet, vor allem aber angesichts des beispiellosen menschenverachtenden Zynismus und der unvorstellbaren Brutalität, mit der die deutschen Terroristen vorgehen, ist es unmöglich, ihren Taten ohne Emotionen gegenüberzustehen. Unsere Aufgabe ist es aber, uns bei dem, was wir zu tun haben, von diesen Emotionen nicht leiten zu lassen, sondern die Maßnahmen, die notwendig sind, mit der nötigen Rationalität anzugehen und sie aus rationalen Gründen zu beschließen.Ich muß leider feststellen, daß dies Herrn Kollegen Kohl nach Inhalt, Stil und Gestik heute morgen nicht voll gelungen zu sein scheint. Seine eigenen Emotionen und die der Bevölkerung haben bei seiner Rede heute morgen eine zu große Rolle gespielt. Ich bedauere das. Das dient nicht der Sache und erschwert uns die weitere Bekämpfung des Terrorismus.
Zweitens. Herr Kollege Kohl hat mehrfach ausgeführt, daß die Vorschläge, die die Opposition zur Bekämpfung des Terrorismus unterbreitet hat, mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar seien. Er hat sich dann sogar noch gesteigert, indem er gesagt hat, sie seien mit rechtsstaatlichen Grundsätzen völlig vereinbar.
— Hören Sie doch erst einmal zu, Herr Stark. Wir kommen ja gleich noch miteinander in Kontakt, wenn es zur Sache geht.
Sie würde in keiner Weise aus rechtsstaatlichen Grundsätzen fragwürdige Gesetze vorlegen.Ich muß leider sagen: Diese Behauptung von Herrn Kohl ist falsch. Die Opposition will, daß bei terroristischen Gewalttätern bei dringendem Tatverdacht Untersuchungshaft bei Nichtvorliegen eines Haftgrundes zwingend angeordnet werden muß. Dazu darf ich Ihnen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1965 mit Genehmigung der Frau Präsidentin ausschnittsweise' verlesen.
Das Bundesverfassungsgericht führt hier aus
— hören Sie es sich erst einmal an, Herr Hartmann —:Der neu eingeführte § 112 Abs. 4 StPO müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne weiteres, d. h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ... Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten. Noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare Erregung in der Bevölkerung ausreichend, die es unerträglich fände, wenn ein Mörder frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnähme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte.Wenn wir für Ihren Vorschlag zur Verschärfung des Haftrechts diese Maßstäbe zugrunde legen — und es besteht ja wohl keine Veranlassung, von diesen Maßstäben abzuweichen —, dann ist dieser Vorschlag nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern knallhart verfassungswidrig. Das gleiche gilt für Ihren Vorschlag, bei terroristischen Gewalttätern ein Verbot auszusprechen, Haftverschonung zu gewähren.Nun einige Bemerkungen zur Sicherungsverwahrung. Sie schlagen vor, daß bei Straftaten nach § 129 a dann, wenn eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verwirkt worden ist und die Bereitschaft festgestellt ,werden kann, weitere Straftaten nach dieser Vorschrift zu begehen, Sicherungsverwahrung zwingend angeordnet werden muß.
— Es heißt da: „ist anzuordnen". Sehen Sie einmal nach! Die Texte, die Sie vorlegen, sollten Sie eigentlich kennen, Herr Vogel.Nun müssen wir uns zunächst einmal vergegenwärtigen, daß die Sicherungsverwahrung eine Ausnahme von dem unser Strafrecht beherrschenden Prinzip des Schuldstrafrechts ist. Dieser Ausnahme-
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5038 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Emmerlichcharakter der Sicherungsverwahrung macht es notwendig, daß man das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit in besonders strenger Weise beachtet. Die Weite des Tatbestandes des § 129 a, der ja nicht nur Gewalttaten zum Inhalt hat, nicht nur die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt, sondern auch die bloße Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder die Werbung für eine solche Vereinigung, hat zur Folge, daß die bloße Bereitschaft, irgendeine dieser Begehensweisen, die für die Verwirklichung des Tatbestandes erforderlich sind, zu pekzieren, nicht ausreicht, um eine Sicherungsverwahrung zu verhängen. Das gilt auch für die Vortat. Dabei ist bemerkenswert, daß Sie in ihrer letzten Version, die ja vom Dezember des letzten Jahres stammt, von Ihrer ursprünglichen Version abgewichen sind, die als Vortat noch eine Tat vorsah, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit der zeitlichen Höchststrafe bedroht ist.Herr Kollege Zimmermann hat hier für die Verhängung von Sicherungsverwahrung auf die Erklärung eines Täters, der nach § 129 a verurteilt worden ist, abstellen wollen, weitere terroristische Gewalttaten zu begehen. Es kann nicht auf eine derartige Erklärung ankommen, sondern es muß das Ausmaß der Gefährdnung abgewogen werden, das von einem Täter ausgeht. Dieses Ausmaß der Gefährdung muß objektivierbar sein. Objektivierbar muß es sein erstens an Hand des kriminellen Vorlebens und zweitens an Hand einer besonderen Persönlichkeitsstruktur, aus der sich die Gefährdung für die Zukunft ergibt und mit hinreichender Sicherheit bestimmen läßt.Herr Kollege Kohl — wenn Sie mir eine Nebenbemerkung in diesem Zusammenhang erlauben: ich will auf seine Rekurrierung auf „Zuchthaus" hier gar nicht eingehen — hat in diesem Zusammenhang, in dem er sich mit Sicherungsverwahrung befaßt hat, etwa ausgeführt, die Sicherungsverwahrung sei das wichtigste Instrument ernsthafter Terrorismusbekämpfung. Das ist doch absurd, meine sehr geehrten Damen und Herren. Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Das wichtigste Instrument erfolgreicher Terrorismusbekämpfung ist die Verstärkung der Fahndungstätigkeit und die geistige Auseinandersetzung mit den Rechtfertigungstheorien des Terrorismus und die geistige Auseinandersetzung mit den Ursachen dieses Terrorismus. Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn. Das gilt doch auch in diesem Bereich.
— Herr Eyrich, ich bin für diese Frage durchaus dankbar. Ich hätte, wenn ich zeitlich nicht so begrenzt wäre, ohnehin dazu Stellung nehmen wollen. Zweifellos ist das Nein zu Ihrem Vorschlag nicht das letzte Wort in dieser Frage. Wir sind uns, wie ich Ihnen in einer vorherigen Rede von dieser Stelle aus gesagt habe, der Problematik der Situation durchaus bewußt. Wir sind weiterhin bemüht, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, die mitrechtsstaatlichen Prinzipien in Übereinstimmung zu bringen sind. Ein entsprechender Beschluß unserer Fraktion ist gefaßt worden. Aber Ihr Vorschlag ist aus rechtsstaatlichen Gründen in einem Maße bedenklich, daß man ihm unter keinen Umständen zustimmen kann.Nun zur Verteidigerüberwachung. Sie sagen, wir müssen die Gespräche zwischen den Verteidigern und inhaftierten Personen, die des Terrorismus verdächtig sind, überwachen.
Ich sage nicht, daß eine solche Gesprächsüberwachung schlechthin auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt; das ist nicht der Fall, Es kommt auf die Ausgestaltung im einzelnen an. So wie Sie diese Regelung ausgestaltet haben, ist es allerdings in der Tat so, daß in hohem Maße verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Das will ich Ihnen jetzt begründen.
Ihre Regelung trägt zu Unrecht das Etikett Verteidigerüberwachung. In Wahrheit müßte sie bezeichnet werden als eine Kombination von Verteidigerüberwachung mit Gesprächsausschluß, mit dem Verbot von Verteidigergesprächen.
Es ist bei Ihnen so, daß der Richter, der die Überwachung des Gesprächs vorzunehmen hat, das Gespräch abzubrechen hat, wenn es zu beanstanden ist.Hier kommt ein weiteres Moment hinzu, aus dem sich verfassungsrechtliche Bedenken ergeben, daß nämlich bei Ihrer Ausgestaltung der Verteidigungsüberwachung der Grundsatz der Bestimmtheit von Eingriffstatbeständen nicht beachtet worden ist. Das gilt einmal für die Eingriffsvoraussetzung. Da heißt es nämlich nur: Wenn Verdacht nach § 129 a StGB besteht, kann Gesprächsüberwachung angeordnet werden. Liegt das im pflichtgemäßen Ermessen, liegt das im freien Ermessen? Unter welchen Voraussetzungen kann denn angeordnet werden? Das ist das eine.Das andere ist folgendes. Was heißt denn eigentlich: „wenn ein Gespräch zu beanstanden ist"? Ist es zu beanstanden, wenn die französisch sprechen?
Wenn sie Kürzel verwenden — wie wir sie in unseren Gesprächen auch verwenden —, die der Richter nicht versteht, ist das Gespräch dann zu beanstanden?
Was heißt „Abbruch des Gesprächs"? Wann darf denn der Verteidiger kommen und das Gespräch fortsetzen? Kann das der Richter nach freiem Belieben bestimmen? All dies ist eine Ausgestaltung der Überwachungslösung, die nach meiner Meinung
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Dr. Emmerlichbei einer verfassungsrechtlichen Überprüfung keinen Bestand haben könnte. Von den anderen Einwendungen gegen die Überwachungsregelung, daß sie nicht effektiv ist und daß sie nicht praktikabel ist, will ich heute nicht reden. Darüber reden wir zu anderer Zeit etwas ausführlicher miteinander.Was mir bei Herrn Kohl weiterhin auffiel, war, daß er sich mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit an mehreren Stellen befaßt hat, daß aber die Frage der Effektivität und der Geeignetheit dieser Vorschläge, die Sie gemacht haben, bei ihm sehr kurz gekommen ist. Ich meine, gerade dieser Punkt ist von besonderer Bedeutung. Wenn wir zur Bekämpfung des Terrorismus genötigt sind, in Freiheitsrechte der Bürger einzugreifen, dann muß es mindestens so sein, daß dieser Eingriff in die Grundrechte zur Bekämpfung des Terrorismus nützlich ist. In bezug auf diesen Aspekt weisen Ihre Vorschläge ein ganz erhebliches Defizit auf. Wenn man überhaupt von irgendeinem Nutzen sprechen kann, ist er so minimal, daß derart weitgehende Eingriffe in die Grundrechte der Bürger, wie Sie sie vorschlagen, keineswegs gerechtfertigt sind.
Nun eine dritte Bemerkung. Sehr geehrter Herr Kohl, Sie haben das Thema der Gemeinsamkeit der Demokraten in diesem Zusammenhang angesprochen und haben wörtlich ausgeführt: „Im Rechtsausschuß haben sich die Koalitionsabgeordneten ohne Rücksicht auf sachliche Einsicht aus Koalitionsrücksichten nicht dazu verstehen können, zur Gemeinsamkeit zu kommen." Ich halte das, was Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, zunächst einmal für eine persönliche Diffamierung der Mitglieder des Rechtsausschusses der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion. In ihrem Namen weise ich diese persönliche Diffamierung auf das entschiedenste zurück.
Nun will ich Ihnen aber, sehr geehrter Herr Kohl, weil Sie im einzelnen doch nicht so genau über die Vorgänge im Rechtsausschuß informiert zu sein scheinen, an Hand von zwei Beispielen deutlich machen, wer denn die Gemeinsamkeit, die Versuche, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, torpediert hat. Bei der Verteidigerüberwachung war es zunächst so, daß Ihnen als Eingriffsvoraussetzung der Verdacht der Konspiration erforderlich zu sein schien. Als Sie dann unsere Vorschläge zum erweiterten Verteidigerausschluß auf dem Tisch hatten, hatten Sie nichts Eiligeres zu tun, als schnell umzusatteln, von dem Vorliegen eines Verdachts abzusehen und die bloße Tatsache, daß ein Verfahren nach § 129 a StGB läuft, ausreichend sein zu lassen.
Der zweite Punkt. Was den Verteidigerausschluß anlangt, haben Sie zunächst auch gemeint, sich an den Verdacht der Konspiration halten zu müssen. Als Sie merkten, daß Sie dann zu sehr gezwungen wären, zu unserer Verteidigerausschlußregelung ja zu sagen, haben Sie schnell noch aufgesattelt, indem Sie gesagt haben: Auch eine leichtfertige Ermöglichung der Begehung von Straftaten des Inhaftierten soll den Verteidigerausschluß rechtfertigen. Dies ist doch offensichtlich nur geschehen, um ein Nein zu unserer Ausschlußregelung sagen zu können.
Auch hier wird deutlich, sehr verehrter Herr Kohl, daß Sie heute morgen hier krampfhaft nach einem Alibi gesucht haben, um in, wie ich finde, unverantwortlicher Weise zu den Vorschlägen der Koalition nein sagen zu können, wenn es zur zweiten und dritten Lesung kommt.
An diesen Beispielen wird sehr deutlich, wer, wie Sie wörtlich gesagt haben, Politik zur Farce werden läßt und Sachentscheidungen bedingungslos machtpolitischem Kalkül unterordnet.
Für uns bleibt es dabei: das, was zur wirksamen Bekämpfung des Terrorismus erforderlich ist, werden wir tun; das, was die freiheitliche und rechtsstaatliche Grundordnung beschädigen könnte, werden wir ablehnen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf wenige Bemerkungen des Oppositionsführers von heute früh noch einmal zurückkommen dürfen. Der erste Punkt war der, daß der Abgeordnete Kohl der Bundesregierung oder mir vorwarf, wir hätten die Flucht nach draußen ergriffen, wenn ich es recht im Ohr habe. Ich glaube, Sie verkennen — die sachlichen Darlegungen des Außenministers haben das wohl schon deutlich werden lassen, Herr Kohl — die Bedeutung der Außenpolitik, die Bedeutung der Sicherung des Friedens, die Bedeutung der internationalen wirtschaftlichen Entwicklung — alles Felder, auf denen unsere auswärtige Politik ein außerordentliches Gewicht in der Welt besitzt. Was Sie als Flucht nach draußen bezeichnet haben — um der Polemik willen; ich nehme diese nicht übel —, ist in Wirklichkeit das Erkennen und das Tragen von Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk und anderen, mit denen wir partnerschaftlich verbunden sind.
Ich darf zwischendurch eine oder zwei kleine Bemerkungen mehr an die Adresse des Herrn Abgeordneten Zimmermann einfügen. Hier sind Bernerkungen über einen Ministerialdirektor in den Diensten des Bundes gefallen, der sich hier selber nicht5040 Deutscher Bundestag 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978Bundeskanzler Schmidtäußern kann, dessen Angelegenheiten im Untersuchungsausschuß anstehen, dessen Angelegenheiten außerdem einem disziplinären Vorermittlungsverfahren ausgesetzt sind, was beides allein schon einen Vertreter der Bundesregierung hindert, dar- über heute zu sprechen. Ich finde, gerade weil Sie wissen, daß diese beiden Verfahren laufen, über deren Ausgang ich persönlich übrigens keinen großen Zweifel habe, sollten Sie, Herr Abgeordneter Zimmermann, als Jurist, der Sie doch sind, auch wissen, daß es in einem solchen Stadium zweier Verfahren absolut ungehörig ist, einen Beamten, der sich nicht wehren kann, öffentlich so zu schelten.
Ich mache sodann eine Bemerkung zu jener Münchner Abhöraffäre.
Hier ist vielleicht einfach ein zusätzliches Wort der Information über die Art und Weise notwendig, wie, sich die Bundesregierung — unabhängig von dem Untersuchungsausschußverfahren, das der Bundestag sicherlich in Gang setzen wird — gewünscht hat, daß für sie diese Sache so schnell wie möglich aufgeklärt wird; ich hoffe, daß dies tatsächlich auch möglich sein wird. Es war der Wunsch der Bundesregierung, eine Kommission unter dem Vorsitz des Staatssekretärs außer Dienst Maaßen zu berufen, der die Opposition ja auch mehrfach in Prozessen vor dem Verfassungsgericht vertreten hat.
— Herr Maaßen hat auch die Bundesregierung schon erfolgreich vertreten. Das möchte ich dazu dazwischen sagen.Herr Maaßen ist ein ausgezeichneter Jurist mit Verwaltungserfahrung. Er hat sich die Sache überlegt und zu seinem Bedauern aus persönlichen Gründen, die hier nichts zur Sache tun, gesagt, er könne den Auftrag leider nicht annehmen. Wir haben daraufhin denselben Auftrag dem Staatssekretär außer Diensten Professor Ernst angetragen; ich sprach heute morgen davon. Herr Ernst hatte dann allerdings den Wunsch, nicht der Vorsitzende einer Kommission zu sein, sondern einen ähnlichen Auftrag zu erhalten, wie ihn seinerzeit 1964 in einer anderen Affäre der damalige Oberlandesgerichtspräsident Silberstein von der damaligen Bundesregierung bekommen hat. Dieser damalige Auftrag war einem Modell nachgebildet worden, das in der englischen Regierung angesichts eines großen Falles damals dem Lord Dennis gegeben worden war. Nach diesem Modell Silberstein hat man sich bei dem Auftrag an Professor Ernst gerichtet. Ich habe dem zugestimmt, weil die Bundesregierung Wert darauf legen muß, daß die Sache so schnell wie möglich von einer unabhängigen Person geklärt wird, der andere Personen, freigestellt von ihrernormalen Tätigkeit, zugeordnet werden, um ihr zu helfen. Sonst hätten wir noch einen dritten Herrn bitten müssen, und es wäre darüber noch eine weitere Woche vergangen. Mir lag an der Beschleuninigung. Ich bitte Sie also, zu verstehen, Herr Abgeordneter Zimmermann, daß sich dahinter nichts irgendwie Okkultes
— vielleicht doch, Herr Kollege Wehner? — nichts Okkultes, was die Bundesregierung angeht, verbirgt. Ich gehe davon aus, daß — nicht nur, weil es nicht zu vermeiden ist, sondern weil alle Seiten des Hauses das gleiche Interesse wie die Bundesregierung daran haben — außerdem ein parlamentarisches Untersuchungsverfahren eingeleitet wird.Nun komme ich zu dem Punkt, wegen dessen ich überhaupt noch einmal heute abend das Wort nehmen wollte. Ich komme auf eine eindrucksvolle Passage des Oppositionsführers zurück. Herr Abgeordneter Kohl, die bisher 28 Toten, die der Terrorismus, uns Deutsche betreffend, im Laufe der Jahre gefordert hat, einschließlich des Herrn Dr. Hanns Martin Schleyer, und die Opfer ihrer Familien sind unvermeidlich gewesen, weil wir alle unter dem Druck, unter dem wir standen, den Staat nicht ändern wollten, weil wir die Staatsform, deren wir uns erfreuen, erhalten wollten. Eine Diktatur, ein Unrechtsstaat — hätte nicht das Recht dazu — wenn er auch die Macht hätte, er hätte nicht das Recht, solche Opfer für die Unversehrtheit seiner diktatorischen Rechtsform zu verlangen. Ich weiß, daß Sie hinsichtlich des Satzes, den ich jetzt hier anschließen will, genauso wie ich und wie sicherlich die allermeisten in diesem Hause denken: Jeder von uns muß in dem Fall, daß es ihn trifft, bereit sein, ein ähnliches Opfer auf sich zu nehmen.Aber ein Mißverständnis sollte sich hier nicht einschleichen. Diese Opfer werden gebracht, wenn sie unvermeidlich sind, damit wir nicht die freiheitlichdemokratische rechtsstaatliche Ordnung unseres Staates zum Opfer bringen müssen. Das ist in dem Fall der höhere Wert. Nun sind Sie wie wir in diesem Punkte sicherlich nicht unterschiedlicher Meinung. Niemand - so hoffe ich sehr; jedenfalls wollen Sie es nicht — will hier wesentliche Bestandteile des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats zum Opfer bringen. Sie wollen das ganz gewiß nicht. Nur denke ich, daß Sie, ähnlich wie es Herr Kollege Genscher schon gesagt hat, mit mir darin übereinstimmen, daß der Umstand, daß eine bestimmte Gesetzgebungsabsicht den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht zum Opfer bringt, ihn nicht im Wesenskern beschädigt, sondern überhaupt mit ihm vollständig vereinbar ist, diese Maßnahme noch nicht unbedingt zu einer zweckmäßigen Gesetzgebungsmaßnahme macht. Zweckmäßigkeiten sind dann unabhängig davon auch noch abzuwägen. Die Opfer, von denen Sie sprachen — und ich habe mich berührt gefühlt durch das, was Sie sagten —, sind ja nicht gebracht worden, um Fristen für bestimmte Gesetzgebungen zu erkaufen. Dieses Mißverständnis, denke ich, sollte sich hier nicht ausbreiten.Ich gehe genau wie mein Kollege Genscher von zwei Punkten aus. Erstens davon, daß die vom
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Bundeskanzler SchmidtRechtsausschuß erarbeitete Fassung für die demnächst anstehende Gesetzgebung angemessen ist. Ich erkläre für die Bundesregierung:wir halten diese Gesetzgebung für notwendig. Zweitens. Ich erwarte ebenso wie auch Herr Kollege Genscher, daß diese Fassung eine Mehrheit im Deutschen Bundestag erhält.Ich will, nachdem ich diese Passage abgeschlossen habe, eine persönliche Bemerkung einfügen, weil Sie unter anderem auch auf die Sicherungsverwahrung zu sprechen gekommen sind. Dabei war auch die Rede von den sogenannten Sicherheitsgesprächen in der Amtswohnung des Bundeskanzlers. Ich habe an zwei und einem inoffiziellen dritten teilgenommen, .an dem Sie nicht teilnehmen konnten — aus Gründen, die mit den sich überstürzenden Ereignissen jener Tage zusammenhängen. Ich weiß nicht mehr, bei welcher, aber bei einem dieser drei Sicherheitsgespräche habe ich nur, für meine Person sprechend — und ich spreche auch im Augenblick nur für meine Person, Herr Kohl —, gesagt, daß ich bei einer wesentlichen Ausweitung der Möglichkeiten zur Sicherungsverwahrung persönlich noch überzeugt werden müßte. Ich wollte das gerne jetzt hier bekennen — ich hätte es sonst nicht gesagt, aber ich fühlte mich in dem Punkt von Ihnen angeredet. Das heißt nicht, daß ich dafür immer unaufgeschlossen bleiben wollte, sondern ich habe gesagt, dafür müßte ich erst noch aufgeschlossen, davon müßte ich erst noch überzeugt werden. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß ich während der Nazidiktatur schon etwas älter — keineswegs erwachsen, aber etwas älter — war als Sie, und ich habe einiges miterlebt, was mir diese Hypothek in der Erinnerung noch zurückgelassen hat; ich muß das noch mitschleppen. Ich sage das nur für meine Person und nur wegen der Hoffnung, daß Sie die Bemerkung über die Sicherungsverwahrung, über die wir uns alle einig gewesen seien im Sicherheitsgespräch, bei sich selber in der Erinnerung oder auf Grund meiner Mitteilung soeben korrigieren.Ein vorletzter Punkt. Sie haben sich auch zur Deutschlandpolitik geäußert. Ich habe mir auch die Niederschrift, die vorläufige, Ihrer Ausführungen zu diesem Punkt besorgt und sie noch einmal angesehen. Mir ist unklar geblieben, was von Ihrer Seite gemeint war mit den sehr vorsichtig formulierten Bemerkungen, die dem Inhalt nach, dem Sinne nach besagten, daß ein anderes Handeln durch diese Bundesregierung gegenüber der Regierung der DDR notwendig sei. Ich habe beim nochmaligen Lesen ebensowenig wie beim Zuhören, Herr Kohl, verstehen können, auf welche — und ich meine das jetzt ganz neutral und nicht mit irgendeinem Unterton —, Möglichkeiten der Reaktion oder der Pression durch diese Regierung Sie eigentlich abgezielt haben. Welche sollten es denn wohl sein? Dies muß nicht im Deutschen Bundestag in aller Öffentlichkeit erörtert werden. Wenn es in einem anderen Kreis erörtert werden soll, finden Sie mich und die Bundesregierung dazu gern bereit. Dazu gehört dann auch die Frage: wie soll es denn danach, wenn diese Mittel angewandt wären, die Ihnen vielleicht vorschweben, weitergehen? Wollen wir uns in eine Eskalation von Fehlgriffen der einen Seite und Mitteln der anderen Seite und wiederum Reaktionen der ersten Seite hineinbegeben? Das ist es gerade, was ich heute morgen meinte, als ich sagte, daß alle Deutschen und beide deutschen Staaten ein dringendes Interesse daran haben müssen, den Entspannungsprozeß nicht einfach nur zu dulden, sondern ihn selbst aktiv handelnd zu fördern — auch dann, so füge ich jetzt hinzu —, wenn es wieder mal eine Störung, eine Enttäuschung, einen Rückschlag geben sollte.Lassen Sie mich am Schluß sagen, daß mir beim Zuhören in der heutigen Debatte der Gedanke gekommen ist, ob nicht vielleicht vor der Gefahr gewarnt werden muß, daß die Plenardebatte, die Parlamentsdebatte zu einem reinen Schlagabtausch 'schrumpft, in dem es nicht mehr auch um politische Einsicht und Darbietung anderer Meinung und Darbietung der Alternative zu dem geht, was der andere gesagt hat oder was der andere geantwortet hat, sondern in dem nur noch um des rhetorischen Effekts und um der Befriedigung der Erwartung der jeweils eigenen der drei Fraktionen willen gekämpft wird.Es ist ein auffälliges Merkmal — und das sage ich an die Adresse des Oppositionsführers; während die andere Bemerkung an uns alle, mich eingeschlossen, gerichtet war —, daß der Oppositionsführer nun seit einiger Zeit im Deutschen Bundestag — vorher auch schon als Ministerpräsident hier in diesem Saale sprechend — um den Kern der hier zu bewältigenden politischen Probleme — ob das auf dem Feld der Deutschlandpolitik ist oder, wie Sie es heute morgen, heute mittag getan haben, auf dem Felde der Sozialversicherung oder auf anderen Feldern — sehr weit herumgeht und - was ich verstehe in einer Parlamentsdebatte und für einen Oppositionsführer — den politischen und auch den personifizierten Angriff an die Stelle dessen setzt, was eigentlich auch noch geboten werden müßte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie auch mir am Schluß der Debatte dieses Tages nach diesen Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers noch einige wenige Bemerkungen.Herr Bundeskanzler, ich habe hier auf eine Regierungserklärung — ich beginne mit Ihrem letzten Hinweis — geantwortet, die in dreißig Feldern der Politik im wesentlichen aus Aufzählen von Erfahrungen, Begebnissen und vorsichtiger Umschreibung von Tatbeständen bestand. Wenn Sie mich nach dem Kern unserer Politik fragen, so bin ich gerne bereit, diese Debatte heute, morgen, übermorgen, zu jedem Zeitpunkt mit Ihnen zu führen.Sie haben vor einigen Tagen in einem Interview gesagt, Sie wüßten nicht recht, worin sich die Politiken — ich zitiere Sie jetzt mit meinen Worten — untérschieden. Ich habe Sie heute auf die Rentenfrage angesprochen. Wir haben — ohne Not — im
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5042 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Kohlvergangenen Frühjahr als Opposition — weil wir Opposition immer auch als Alternative verstehen — eigene Vorschläge gemacht. Sie haben diese Vorschläge vom Tisch gewischt. Sie können mich doch heute nicht darauf ansprechen, nachdem Sie damals, vor wenigen Monaten, überhaupt nicht bereit waren, das Gespräch mit uns zu führen. Jetzt, wo das Kind endgültig in den Brunnen gefallen ist, tragen Sie eben die Verantwortung; denn zu jener Arbeitsteilung, um das klar auszusprechen, Herr Bundeskanzler, wollen wir uns nicht verstehen, daß Sie als Regierungschef überall durch die Lande ziehen, alles für sich in Anspruch nehmen, Ihnen aber, wenns um Durchsetzen geht, die Kraft, der Mut fehlt.
Ich habe doch drei Beispiele aus den letzten Wochen genannt. Hier haben doch CDU und CSU, hier hat die Union als Opposition Sie ausschließlich aus staatspolitischen Gründen und nicht aus Gründen der Parteiräson unterstützt, weil es uns unerträglich erschien, daß wir einer Lage, die ernst genug ist, das Staatsschiff in eine Richtung abdriften lassen, bei der die Schäden, die entstehen, irreparabel werden.Ich nenne beispielsweise die Steuergesetzgebung. Die Sozialdemokratische Partei treibt jetzt überall im Lande Propaganda mit der Novellierung der Steuergesetzgebung zum 1. Januar, die vor wenigen Tagen in Kraft getreten ist. Herr Bundeskanzler, Sie können doch nicht leugnen, daß Ihr Anteil, der Anteil der Bundesregierung und der Anteil Ihrer eigenen Partei an dieser Gesetzgebung gleich Null ist. Ihre eigenen Leute haben doch im Vermittlungsausschuß dagegen gestimmt. Es war die CDU/CSU aus Bund und Ländern, es waren die Kollegen der FDP, die diese Novellierung erzwungen haben und sonst überhaupt niemand.Herr Bundeskanzler, Sie wissen so gut wie ich, daß wir beide in der Frage der Notwendigkeit der Kernenergie übereinstimmen. Aber was ist denn eigentlich aus unserer Übereinstimmung geworden? Sie haben doch in Ihrer eigenen Partei — ich will jetzt einmal vom Zickzackkurs der FDP von Saarbrücken bis Kiel gar nicht reden, aber er hat sich ja zum Besseren gewandelt — für die Sicherung der Energiebasis auch mit Kernenergie gar keine Mehrheit. Sie sind vom Parteitag in Hamburg nach Hause zurückgekehrt, und Herr Eppler — nicht irgend jemand in Ihrer Partei, einer aus dem Bundesvorstand; er spricht für viele in Ihrer eigenen Partei, der SPD — hat doch klipp und klar erklärt, das Moratorium bleibe selbstverständlich bestehen. Vorhin hat Herr Wehner — ich glaube, er war es — in diesem Wust von Schimpfen und In-sich-Hineinfressen dann herausgestoßen, das sei ein besonderes Angebot an den DGB gewesen. Das ist ein Irrtum; das war eine Tatsachenbeschreibung, verehrter Herr Kollege Wehner, nicht mehr und nicht weniger. Es ist doch sehr wohl bekannt, daß es auch im Deutschen Gewerkschaftsbund — ich brauche mich hier nur umzusehen und auf den Kollegen 'Schmidt von der IG Bergbau und Energie zu schauen — zunächst andere Meinungen gab. Vor allem die ungewöhnlich sachkundige Gewerkschaft GEW — in solchen Dingen immer Speerspitze der Entwicklung zur Ideologie hin — war doch in dieser Frage mit den Linken Ihrer eigenen Partei völlig auf dem gleichen Dampfer. Nein, meine Damen und Herren, auch wir haben nach längerer Diskussion in der eigenen Partei ganz bewußt erklärt, daß das Ja zur Kernenergie notwendig ist, obwohl es in Kenntnis demoskopischer Daten nicht überall verstanden wird und obwohl wir psychologisch noch viel vorbereiten müssen. Herr Bundeskanzler, wenn Sie heute in dieser Frage den Rücken freier haben, wenn Sie heute bei Ihren Auslandsbesuchen auftreten und sagen können: Das ist unsere Politik!, dann verdanken Sie das doch überhaupt nicht Ihrer eigenen Partei, sondern der Alternative deutscher Politik, der CDU/CSU-Fraktion.
— Herr Kollege Wehner, ich habe heute in der Mittagspause gedacht:
Schätzungsweise 20 Millionen Menschen haben der Debatte heute morgen zugeschaut; es ist ein Glück, ein Segen, daß wir Sie besitzen. Das muß ich Ihnen ganz deutlich sagen.
Ich wünsche mir, daß Sie uns lange erhalten bleiben.
Meine Damen und Herren, bevor ich zum Thema „Terrorismus" komme, noch ein kurzes Wort zum Thema ' „Deutschlandpolitik". Nun, Herr Bundeskanzler, es gibt in dieser Frage Unterschiede zwischen dem, was Herr Wehner hier heute mittag gekonnt eruptiv herausgestoßen hat, dem, was Herr Genscher in feiner, liberaler Filigranarbeit beschrieben hat, um sich in diesem Punkte alles offenzulassen, und dem, was Sie hier eben gesagt haben. Lesen Sie doch bitte erst einmal Ihre Reden nach, ehe Sie mich nach Interpretationshilfen fragen.
Es sollte kein Gerede darüber aufkommen, jemand wolle Eskalation. Natürlich sagen wir ja zu der Notwendigkeit der Entspannungspolitik. Herr Bundeskanzler, der Schlüsselsatz, nach dem Sie gesucht haben oder suchen ließen, war doch in meiner Rede leicht zu finden. Ich habe gesagt, daß die Entwicklung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im gegenseitigen Interesse liegt und nicht, wie uns dauernd eingeredet werden soll, allein im einseitigen Interesse der Bundesrepublik. Wenn sie im gegenseitigen Interesse liegen, brauche ich Ihnen doch nicht zu sagen, daß dann das Feld der Möglichkeiten des Gebens und Nehmens offensteht. Natürlich ist es nicht heute hier unser Geschäft, in aller Öffentlichkeit vor dem Plenum des Bundestages über Details zu reden; nicht weil man über Details nicht reden könnte,
sondern weil wir wünschen, Herr Ehmke, daß indieser Sache nichts kaputtgemacht wird, wenn manetwas retten kann. Das ist eben der Unterschied.
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Dr. KohlWir denken dabei mehr an die Staatspolitik und Sie, Herr Ehmke, mehr an die Parteipolitik und Ihre Profilierung.
Nun, Herr Bundeskanzler, zu dem Thema „Terrorismus". Ich will versuchen, auch im Ton auf Ihre Äußerung einzugehen. Das unbestreitbare Ziel angesichts dieser terroristischen Herausforderung muß sein, daß die Demokraten in unserer Generation es als ihren Auftrag erkennen, den freiheitlichen Rechtsstaat zu erhalten, auszubauen, kraftvoll in die Zukunft zu tragen. Dieser Rechtsstaat ist keine statische Größe. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt!
— Ich bin gar nicht beunruhigt, Herr Kollege Wehner. Nur weil Sie so gerne anderen Stilnoten erteilen, will ich nachtragen, daß Sie bei einem solchen Thema nichts anderes beizutragen haben als das, was Sie eben hier geboten haben.
Meine Damen und Herren, das Ziel ist es, den freiheitlichen Rechtsstaat zu erhalten. Die Herausforderung ist unbestritten. Natürlich, Herr Bundeskanzler, kann man im Detail darüber streiten, was ausreichend ist und was nicht ausreichend ist, etwa im Bereich der Gesetzgebung. Ich muß Sie aber ganz direkt folgendes fragen. Nein, ich will es vor-. sichtiger formulieren: Ich muß doch mir selbst nach diesen sechs Wochen, in denen wir oft genug in einer schlimmen Heimsuchung beisammensaßen, die Frage stellen: Glauben Sie im Ernst, in Kenntnis und im Besitz der Erfahrungen dieser Wochen, daß das, was der Rechtsausschuß jetzt mit der Mehrheit Ihrer politischen Freunde vorgeschlagen hat, zur Bekämpfung des Terrorismus ausreichend ist? Gerade weil ich den freiheitlichen Rechtsstaat für ein so wichtiges Gut halte, weil das für mich keine Floskel und für meine Freunde nicht irgendeine Sache, sondern eine zentrale Sache ist, die, wie ich glaube, für uns alle weit über das Parteiinteresse hinausgeht, müssen wir uns doch die Frage stellen, Sie genauso wie ich: Was sagen wir unseren Mitbürgern, wenn jetzt wieder etwas passiert, ein neuer Anschlag zu verzeichnen ist, wie immer er aussehen mag? Was sagen wir denen, wenn sie uns fragen: Was habt ihr eigentlich jetzt getan? Was habt ihr aus den Erfahrungen gelernt, beispielsweise aus dem, was euch die Beamten des Bundeskriminalamtes und die führenden und erfahrenen Beamten der Länderverwaltungen zu diesem Punkt gesagt haben? Das sind alles rechtsstaatlich denkende Persönlichkeiten, und deren Urteil wiegt doch mindestens genauso wie das Urteil eines Mannes, der hier von diesem Pult aus erklärt hat, die Bundesrepublik befinde sich in einer Progromstimmung.
Darum geht es doch, meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler.Es ist uns gemeinsam gelungen — ich glaube, wir haben auch gemeinsam Grund, darauf stolz zu sein —, im Zusammenhang mit der Entführung Hanns Martin Schleyers und den schlimmen Erfahrungen eine irrational aufwallende Stimmung im Volk abzufangen. Es ist doch nicht zu leugnen, es ist die natürlichste Sache der Welt und kein typisch deutscher Vorgang — dies sage ich auch im Blick auf manche törichte Äußerung im Ausland —, sondern eine normale menschliche Erfahrung, daß Menschen angesichts solcher dramatischen, schrecklichen Ereignisse auch irrational_reagieren.Es ist uns gemeinsam erspart geblieben, manche Diskussion zu führen. Ich verweise hier beispielsweise auf die zunächst erhobene Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe. In diesem Hause ist diese Forderung nicht gestellt warden.
— Aber, Entschuldigung, Herr Schäfer! Sie wissen, daß das so ist.
— Ich kann dazu nur sagen: Ich bin ein überzeugter Gegner der Todesstrafe. Ich respektiere jene, die anderer Meinung sind. Das ist auch gar keine Frage der liberalen Qualität unserer Verfassung. Es gibt alte liberale Verfassungen in der westlichen Welt, die die Todesstrafe kennen. Das ist nicht unser Problem. Wir haben geschichtliche Probleme in diesem Zusammenhang, mit denen wir fertig werden müssen. Aber dies alles konnten wir uns gegenseitig ersparen.Herr Bundeskanzler, wenn die Debatte so weiterläuft, nämlich auf der Ebene „Gebäudekomplex oder Gebäude" — ich bringe dies als Beispiel nach dem, was ich soeben hier wieder zum Thema Sicherungsverwahrung gehört habe —, dann kann ich Sie nur fragen: Wie wollen wir, Sie und ich, nach diesen Erfahrungen eine befriedigende Antwort geben? Das muß doch eine ungenügende Antwort sein.
Es geht hier um den Kerngehalt des liberalen, frei-heitlichen Rechtsstaates. Die Bürger müssen Ver-trauen haben können, daß die politisch Handelnden— ich sage das bewußt — für uns alle in diesem Hause das Notwendige tun,
und zwar mit freiheitlich-rechtsstaatlichem Augenmaß— wer wollte das irgendeinem Kollegen in diesem Hause bestreiten? —, aber auch mit dem Mut, der Entschiedenheit und der Tatkraft, die notwendig sind.Wir haben viele Vorschläge gemacht. Ich will hier noch einmal einen nennen. Warum können wir nicht darüber reden, wenn schon einige Maßnahmen sozusagen auf Dauer umstritten sind, angesichts dieser konkreten Herausforderung, die auch einen konkreten Zeitabschnitt umfaßt, bestimmte Vorschriften
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5044 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 65. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1978
Dr. Kohlso zu fassen, daß sie auf Zeit gelten und der alte Zustand sich nach einem bestimmten Zeitablauf automatisch wiederherstellt? Wir leben in einer ganz konkreten Herausforderung.
Wenn es uns nicht gelingt, den Terrorismus im Laufe der nächsten fünf, sechs Jahre entscheidend zu treffen, haben wir diese Schlacht verloren. Dieser Staat, unsere Republik, kann nach diesem terroristischen Anschlag zurückschlagen, wenn wir nur selbst wollen. Das ist doch keine Frage der Quantität, sondern der Qualität,
wenn wir in diesem Zusammenhang gegen diese Heimsuchung vorgehen.
Gerade weil es um die Qualität geht, muß es doch bei dieser speziellen Art von Kriminalität, die einzigartig ist, die auf die übrige Kriminalität überhaupt nicht übergreift und nicht auf sie übertragen werden kann, möglich sein, spezielle Tatbestände etwa im Blick auf die Sicherungsverwahrung zu sehen. Wie wollen wir denn eigentlich jene Leute aus der terroristischen Szene erfassen und auf Dauer festsetzen, die in der Logistik für die eigentlichen Mörder und Killer unentbehrlich sind, wenn wir sie wie einen normalen Autodieb behandeln, der aus irgendwelchen Gründen kriminell geworden ist?
— Herr Kollege Ehmke, ich rede in dieser Sache mit einer Ahnung, die ganz anders belastet ist als das, was Sie hier vordergründig daherreden. Das wissen Sie so gut wie ich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt Mittel und Wege, über die man sich verständigen könnte, wenn Sie nur wollten.
Aber das Problem ist, dazu haben Sie aber nichts gesagt, Herr Bundeskanzler, leider gar nicht das, von dem wir soeben hier gemeinsam sprachen. Das Problem ist, daß in Ihren eigenen Reihen eine Gruppe von Leuten sitzt, die das eigentliche Sagen haben, und daß Sie und auch der Kollege Genscher hier an den Bundestag appellieren und davon ausgehen, für Ihre Politik eine Mehrheit zu bekommen. Dieser Appell ist ein Appell der Schwäche. Denn er zeigt, daß in Ihren eigenen Reihen die Linken bereit sind, Ihnen hier die Sperre vorzulegen, daß Sie ihnen ausgeliefert sind und daß sie letztlich das Sagen haben. Das, Herr Bundeskanzler, paßt nicht in jenes Bild, das Sie gern in der Öffentlichkeit zeigen.
Was ich von Ihnen in dieser Sache erwarte, ist, daß Sie — natürlich nach sorgfältiger Prüfung, aber auch mit dem notwendigen Mut und eingedenk unserer gemeinsamen Erfahrungen im vergangenen Herbst — das Notwendige tun, nicht darum herumreden, sondern richtig in der Sache entscheiden und abstimmen. Das ist das Gebot der Stunde.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte keine Rede halten, sondern mich auf ein paar kurze Erklärungen beschränken.
Ich bin der Debatte bis zu diesem Punkt mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Ich denke, Sie werden verstehen, daß ich bei der Bedeutung des Gegenstands dem Teil der Debatte besonders aufmerksam zugehört habe, der den Spionagefall betrifft, der im Zusammenhang mit der Aufdeckung eines Spionagerings im Juni 1976 zur Festnahme von drei Angehörigen des Verteidigungsministeriums geführt hat.Sie können sich vorstellen, daß jemand, der so wie ich heute zitiert worden ist, sich gedrängt fühlt, zur Sache ein paar Antworten zu geben.Ich möchte das nicht tun, weil ich weiß, daß der Verteidigungsausschuß sich als Untersuchungsausschuß konstituiert hat. Deshalb habe ich auch bisher zu allen öffentlich erhobenen Vorwürfen, die zum Teil nicht kleinen Kalibers waren, keine einzige Bemerkung gemacht. Ich weiß, daß das früher nicht immer so gewesen ist. Dies ist der Grund, weshalb ich der Versuchung widerstehe, hier und jetzt dazu Bemerkungen zu machen.Ich stehe dem Untersuchungsausschuß persönlich und mit allen meinen Mitarbeitern zur Verfügung.
Ich bin dem Untersuchungsausschuß dankbar dafür, daß er mir schon morgen Gelegenheit gibt, auszusagen. Dies war auch meine Bitte. Es sind jetzt, genaugenommen, noch 14 Stunden, bis ich Gelegenheit habe, das vor einem anderen parlamentarischen Gremium als dem Plenum zu tun. Deshalb kann ich es mir auch ersparen, mich weiter unter Druck setzen zu lassen, hier zu reden.Ich bin — das möchte ich hier sagen — nicht in Sorge, daß meine Mitarbeiter und ich dem Ausschuß nicht volle, ungeschminkte Aufklärung über alles geben können, was der Ausschuß von uns wissen will.
— Ich sage: Ich bin nicht in Sorge darüber, daß das möglich ist: voll und ungeschminkt.Dies gilt insbesondere für die Frage meiner eigenen Information und der Information meines Hauses
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Bundesminister Leberund für alle Fragen, die zum Teil in sehr unterschiedlicher Weise interpretiert und in der Öffentlichkeit auch mißverständlich behandelt worden sind. Dies ist bei der Natur der Sache auch nicht ungewöhnlich. Es ist eine komplizierte Sache.Ich möchte auch noch erwähnen, daß der Generalbundesanwalt vor dem Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß ausdrücklich bestätigt hat, daß alle Stellen meines Hauses, die in Betracht kamen, alles getan haben, um der Strafverfolgungsbehörde mit aller erdenklichen Hilfe beizustehen. Das war ein wichtiger Vorwurf, der über viele Tage in der Welt war und mich sehr bedrängt hat. Ich bin sehr dankbar dafür, daß er in der Zwischenzeit schon geklärt ist.
Herr Kollege Friedrich Vogel , ein sehr angesehenes Mitglied dieses Hauses und der CDU/CSU-Fraktion, hat im Jahre 1974 vor der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen einmal etwas über Untersuchungsausschüsse gesagt, was ich hier gern zitieren möchte. Ich habe es in dieser Woche auch in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen. Er hat, wenn das Zitat stimmt, das sich in meinem Besitz befindet und das die „Süddeutsche Zeitung" wiedergegeben hat, dort gesagt, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß sei — und jetzt kommt das Zitat — eindeutig ein politischer Kampfausschuß, ein Instrument zur Fortsetzung des Kampfes zwischen Mehrheit und Minderheit, und dies liege in der Institution des Untersuchungsausschusses begründet.So weit — so gut. Ich sage dazu: Es ist gut, das zu wissen.Ich möchte persönlich dazu sagen: Ich hoffe, daß Herr Kollege Vogel durch die Praxis dieses Untersuchungsausschusses zu der Erkenntnis gelangt, daß hier nicht eine Fortsetzung des Kampfes zwischen Mehrheit und Minderheit geführt wird,
sondern daß hier bewiesen wird, daß es um die Untersuchung des Falles geht.
Lassen Sie mich bitte noch zwei Bemerkungen anfügen.Ich war im Juni vergangenen Jahres — wie schon früher — in der Schweiz eingeladen. Dort hatte ich vor rund tausend Offizieren zu Fragen der Sicherheit Europas, für die sich auch dieses neutrale Land interessiert, einen Vortrag übernommen. Während ich dort war, wurde die Schweizer Bevölkerung noch von einem gräßlichen Spionagefall hin- und hergeschüttelt. Ein General, der an sehr hoher Stelle mit zentralem Einblick in den wesentlichen Inhalt der Schweizer Verteidigung tätig gewesen war, bei dem viele Fäden zusammenliefen, hatte über viele Jahre hinweg Spionage zugunsten einer fremden Macht betrieben. Man sieht daran, daß so etwas auch in der Schweiz möglich ist, daß auch die Schweiz davon nicht frei ist.Nach dem Vortrag saß ich mit meinem Freund, dem Schweizer Verteidigungsminister, und anderen Schweizer Politikern zusammen, darunter auch einem Herrn, von dem ich weiß, daß er ein Widersacher des Verteidigungsministers ist. Dieser Mann sagte plötzlich: Wir Schweizer sind von einem schrecklichen Spionagefall betroffen worden. Das ist sehr schlimm für uns. Aber wir werden damit fertig werden. —
Ich war tief beeindruckt, daß der Mann, den ich seit 25 Jahren kenne und von dem ich weiß, wie hart er sein kann, in dieser Sache nicht „die Schweiz", sondern „wir" sagte.
Er sagte: Wir, die Schweiz, unsere Regierung, wir, das Parlament, wir, die demokratischen Parteien in der freien Schweiz, wir werden damit fertig werden.Meine Damen und Herren, es bringt viel Kälte in unser Land, wenn man spürt, wie ich es in den letzten vier Wochen gespürt habe, daß in unserem Land mancherorts auch Freude darüber empfunden wird, wenn uns so etwas geschieht, wie es uns geschehen ist.
Da ist dann kein Raum mehr für den Gedanken: Wir sind von einer fremden Macht ausspioniert worden. Da ist dann auch kein Raum für den Gedanken: Wir werden mit einem Spionagefall fertig. Es ist allenfalls noch Raum für den Gedanken, wie man jemanden fertigmachen kann — und dann nicht nur diesen, sondern auch andere.
Herr Kollege Dr. Kohl, ich habe auch Ihnen heute vormittag aufmerksam zugehört. Im möchte nicht versäumen, Ihnen zu sagen, daß ich persönlich es als sehr wohltuend empfunden habe, daß Sie in dem nun schon seit Wochen wogenden Meer von harten Anklagen und schlimmen Verdächtigungen mir persönlich die Tatsache, daß dieser schwere Spionagefall über uns gekommen ist, daß er sich ereignet hat, nicht zur Last legen. Ich bedanke mich dafür bei Ihnen, weil es die erste Stimme ist, die ich gehört habe. Meine Damen und Herren, so etwas löst manches auf, was Gräben aufreißt und was uns hindert, in wichtigen Fragen „wir" zu sagen.Ich möchte mit folgendem schließen: Ich habe in den letzten Wochen viele Briefe erhalten. Einen davon möchte ich Ihnen vorlesen. Der Brief lautet:Lieber Georg!Mit dem wirklichen Privileg, unseren jeweiligen Völkern zu dienen, geht auch das zweifelhafte Privileg einher, für all das auch mit einstehen zu müssen, was in dem uns anvertrauten Bereich geschieht und was geschehen ist. Es bleibt oft nichts anderes übrig, als es durchzustehen. Sie haben momentan ein hartes Gefecht durchzustehen. Ich fühle mit Ihnen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und das Wiedersehen 1978.
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Bundesminister LeberDieser Brief kam am Heiligen Abend zu mir. Sein Absender ist der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten von Amerika.
Meine Damen und Herren, ich werde einstehen für das, was ich zu verantworten habe. Ich habe die Absicht, dies durchzustehen, soweit es das betrifft, was in dem mir anvertrauten Bereich geschehen ist. Ich bedanke mich für manches gute Wort, das ich heute hier gehört habe.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin in Sorge, daß zumindest Teile der heutigen Debatte bei unseren Bürgerinnen und Bürgern zwiespältige Gefühle, ja, eine gewisse Frustration auslösen. Ich meine das nicht vordergründig, ich meine das nicht parteipolitisch, ich meine es in bezug auf unsere parlamentarische Demokratie insgesamt. Es ist doch nicht wahr, meine Damen und Herren, daß die Menschen von uns hier in diesem Hause bittere, verletztende, ja, mitunter zerfleischende Auseinandersetzungen erwarten! Die Menschen draußen glauben auch keineswegs, ein Problem sei gelöst, wenn wir uns gegenseitig die Verantwortung für Ereignisse in die Schuhe schieben, die kein einziger in diesem Hause will oder gar gutheißt. Unser Volk erwartet gerade in dieser Zeit von uns Orientierung, erwartet Wettstreit um die besten Lösungen und 'erwartet dort, wo wir keine ehrlichen Antworten geben können, wenigstens ehrliche Fragen. Wenn wir diese Erwartungen enttäuschen, ist dies nicht nur zum Nachteil der einen oder anderen Partei; es wird ein Verlust an Glaubwürdigkeit für die parlamentarische Demokratie insgesamt sein.Weil das so ist, möchte ich auf jede Polemik verzichten und für meinen Zuständigkeitsbereich drei notwendige sachliche Feststellungen treffen.Erstens. Es ist richtig, Herr Kollege Kohl, daß die Beratungen über die sogenannten Anti-Terrorgesetze langwierig und schwierig sind. Es ist auch richtig, daß einzelne Abgeordnete der Koalitionsfraktionen hinsichtlich einzelner Beschlüsse des Rechtsausschusses noch Bedenken haben. Es ist völlig sinnlos, das zu bestreiten. Aber daß sie Bedenken haben, ist auch keine Schande. Es ist ihr gutes Recht, ebenso wie es Ihr gutes Recht ist, die Beschlüsse des Rechtsausschusses von anderer Seite her mit Bedenken in Frage zu stellen.
In anderen Fragen, meine Damen und Herren von der Oppposition, sind Sie doch genau in der umgekehrten Situation.Natürlich bin ich als Bundesjustizminister von der Richtigkeit der Vorlage überzeugt. Natürlich halte ich sie ebenso für notwendig, wie der Herr Bundeskanzler das gesagt hat. Aber das erlaubt mir dochnicht, Bedenken mit der Folge vom Tisch zu wischen, daß sich Gruppen und Schichten, die zwar zahlenmäßig klein, aber insgesamt von Gewicht sind, von unserem Staat abwenden; die unbeschadet ihrer kritischen Einstellung bereit sind, im großen Bündnis zur Überwindung des Terrorisimus mitzuwirken, wenn man sich mit ihren Sorgen auseinandersetzt und sie überzeugt.
Ich bin sicher, daß bei dieser Zielsetzung ein Aufschub von vier Wochen gerechtfertigt ist. Ich bin sicher, daß das bis zur Sitzungswoche im Februar gelingt. Ich glaube, Herr Kollege Kohl, was Sie über die beabsichtigte Stimmabgabe Ihrer Fraktion gesagt haben, was Sie aus Ihren Motiven als Entscheidung angekündigt haben, wird diesen Meinungsbildungs- und Überzeugungsprozeß in den Reihen unserer Koalition erleichtern und uns ermutigen.
Herr Kollege Zimmermann, Frau Kollegin, ist es wirklich so fehl am Platze, sich in Europa und in anderen demokratischen Ländern, die sich schwersten Belastungsproben gegenübersehen, umzusehen und sich zu fragen, ob dort nicht tatsächlich die Schwierigkeiten auch daher rühren, daß dieser Überzeugungsprozeß nicht bis zum letzten Moment versucht und praktiziert worden ist, um auf der Grundlage eines breiten Bündnisses zur Überwindnung des Terrorismus beizutragen?Zum zweiten. Herr Kollege Zimmermann hat u. a. dem Bundesjustizministerium vorgeworfen, es habe sich im Zusammenhang mit den Lockheed-Vorwürfen an einer Verdächtigungskampagne gegen Herrn Kollegen Strauß beteiligt. Dieser Vorwurf ist unbegründet und wird deshalb von dieser Seite zurückgewiesen. Die Bundesregierung hat das gleiche getan, was auch alle anderen betroffenen Regierungen getan haben. Sie hat das in den Vereinigten Staaten verfügbare Material von der Regierung der Vereinigten Staaten erbeten.
Sie hat, wie andere Länder auch, auf Verlangen der amerikanischen Regierung zu diesem Zweck eine Verwaltungsvereinbarung abgeschlossen. Dabei ergaben sich Komplikationen, weil die Regierung der Vereinigten Staaten es zunächst kategorisch ablehnte, daß das Prüfungsergebnis auch den Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestages zur Verfügung gestellt wird. Das war aber gerade im Sinne der Aufklärung und auch der notwendigen Rehabilitierung, je nach dem Ergebnis der Prüfung, notwendig.Das Material ist sodann von einer Arbeitsgruppe unter Vorsitz eines angesehenen Richters, eines früheren Vorsitzenden eines Strafsenats am Bundesgerichtshof, in voller Unabhängigkeit geprüft worden. Über das Ergebnis sind die Fraktionsvorsitzenden zweimal — einmal als Zwischenbericht und dann endgültig — unterrichtet worden. Auch die Öffentlichkeit ist von dem Ergebnis in Kenntnis gesetzt worden. Das ist ein völlig korrektes Verfahren, ein
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Bundesminister Dr. VogelVerfahren, das übrigens allein die Feststellung ermöglicht hat, daß sich aus dem geprüften Material in bezug auf den Vorsitzenden der CSU keinerlei Verdachtsmomente ergeben haben. Was wäre denn geschehen, wenn wir das Material nicht übernommen und nicht geprüft hätten? Dann wäre mit Recht der Vorwurf erhoben worden, daß mit Bezugnahme auf dieses Material ständig neue und weitere Vorwürfe hätten erhoben werden können.
Im übrigen können Sie die Bundesregierung nicht dafür verantwortlich machen, wenn Leute, die ihre menschliche und persönliche Einstellung zueinander geändert haben, aus dieser Problematik heraus immer aufs neue Vorwürfe erheben und immer aufs neue der Öffentlichkeit diese Vorwürfe präsentieren.
Dritte Feststellung: Der Verteidigungsausschuß — und dies ist dankenswert hervorzuheben — ist dem Rat des Generalbundesanwalts gefolgt, bei seinen Untersuchungen auf das anhängige Ermittlungs- und Strafverfahren Rücksicht zu nehmen. Dazu gehört auch, daß Feststellungen nicht vorgegriffen wird, die erst am Ende der jeweiligen Untersuchung getroffen und verantwortet werden können.Das gilt in jeder Hinsicht. Das gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch für den Abhörvorgang in München. Wer wirklich an der Aufklärung interessiert ist, sollte nicht die Unbefangenheit einer Kommission in Zweifel ziehen, die ihre Tätigkeit überhaupt noch nicht begonnen hat und zudem unter Vorsitz eines anerkannten und bewährten Beamten steht.
Wer Klarheit will, der sollte auch nicht einen pensionierten Beamten, den ehemaligen Chef einermilitärischen Einrichtung, deshalb ins Zwielicht rücken, weil er seine frühere Dienststelle nach seiner Ruhestandsversetzung besucht hat. Dies ist doch ein völlig alltäglicher Vorgang. Wenn Sie alle unter Anklage stellen wollen, die nach ihrer Ruhestandsversetzung ihre frühere Behörde besuchen, dann, glaube ich, müssen wir unsere Staatsanwaltschaften verdoppeln und verdreifachen.
Wir alle in diesem Hause mahnen unsere Bürger zur Sachlichkeit. Wir protestieren, wenn der Eindruck der Vorverurteilung entsteht; wir protestieren, wenn den Betroffenen das rechtliche Gehör verweigert wird. Wir wehren uns gegen Diktaturen nicht zuletzt deswegen, weil diese Grundprinzipien verletzt werden. Wir sollten aber nicht nur mahnen und protestieren. Wir sollten uns selbst vorbildlich an diese Prinzipien halten. Das, meine. Damen und Herren, • ist auch Dienst am Rechtsstaat, vielleicht sogar ein wichtigerer Dienst als mancher rasch und schneidig vorgetragene Vorschlag zu einer Gesetzesänderung.Diese Mahnung auszudrücken, diese Mahnung zu formulieren ist, glaube ich, nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des Bundesministers der Justiz.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 20. Januar 1978, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.