Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich spreche zunächst im Namen des Hauses dreien unserer Kollegen Glückwünsche zu ihrem Geburtstag aus. Der Abgeordnete Schwabe feierte am 12. Oktober seinen 60. Geburtstag. Sehr herzlichen Glückwunsch.!
Der Abgeordnete Lenze feierte gestern seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm ebenfalls die herzlichsten Glückwünsche aus.
Heute hat der Abgeordnete Richarts seinen 60. Geburtstag. Auch Ihnen die herzlichsten Glückwünsche des Hauses.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die Ihnen in der vorliegenden Liste bezeichneten Vorlagen ergänzt werden. Das Haus ist damit einverstanden? — Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen.
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministers für Wirtschaft hat am 8. Oktober 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Springorum, Dr. Burgbacher, Russe, Höcherl und der Fraktion der CDU/CSU betr. Energiepolitik — Drucksache VI/1147 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1252 verteilt.
Der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen hat am 9. Oktober 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg, Dr. Riedl , Niegel, Kiechle, Dr. Jobst, Dr. Probst, Biehle und Genossen betr. sozialer Wohnungsbau — Drucksache VI/1194 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1256 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat am 9. Oktober 1970 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Vogel und der Fraktion der CDU/CSU betr. Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten durch Parlamentarische Staatssekretäre — Drucksache VI/1136 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1262 verteilt.
Der Bundesminister der Finanzen hat am 13. Oktober 1970 die Kleine Anfrage des Abgeordneten Strauß und Genossen betr. Steuerflucht — Drucksache VI/1197 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/1267 verteilt.
Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom 8. Oktober 1970 mitgeteilt, daß der Innenausschuß die Verordnung des Rates zur Änderung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Kernforschungsstelle, die in Belgien dienstlich verwendet werden — Drucksache VI/932 — zur Kenntnis genommen und beschlossen hat, von einem Bericht an den Bundestag abzusehen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat mit Schreiben vom 13. Oktober 1970 mitgeteilt, daß die Abgeordneten Dr. Mende und Dr. Starke seit dem 9. Oktober 1970 Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU sind.
Zum gleichen Datum habe sich der Abgeordnete Zoglmann der Fraktion der CDU/CSU als Gast angeschlossen.
Meine Damen und Herren, wir treten ein in Punkt 1 der Tagesordnung:
Fragestunde
- Drucksachen VI/ 1253, VI/1274 —
Ich rufe die Dringlichen Mündlichen Anfragen auf, und zwar zunächst die aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Frage 1 des Abgeordneten Dr. Pohle:
Ist sich die Bundesregierung über die Folgewirkungen für das langfristige Zinsniveau in der Bundesrepublik im klaren, wenn sie zuläßt, daß Bundesbahn und Bundespost sich kapitalmäßig über Schuldscheine versorgen, die eine Rendite von über 9 % abwerfen?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Börner!
Herr Kollege, es trifft zu, daß Bundespost und Bundesbahn in jüngster Zeit Schuldscheindarlehen mit einer Rendite von über 9 % aufgenommen haben. Diese Darlehen werden benötigt zur Finanzierung unabwendbarer und unaufschiebbarer Zahlungsverpflichtungen. Für die Darlehnsaufnahme wurde ein Zeitpunkt zwischen der Emission zweier größerer Anleihen, nämlich des Landes Niedersachsen und der Kreditanstalt für Wiederaufbau, gewählt. Wie sich bei den Kontaktgesprächen mit führenden Kreditinstituten ergab, waren Schuldscheindarlehen zu Effektivzinssätzen von weniger als 9 % nicht mehr unterzubringen. Es war deshalb unvermeidbar, entsprechend höhere Zinssätze zuzugestehen.Im übrigen sind die in der Presse genannten Angaben über den Umfang der Darlehnsaktionen von Bundespost und Bundesbahn stark übertrieben, denn
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3974 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Börneres wurde bei weitem nicht der Betrag von 500 Millionen DM erreicht. Tatsache ist vielmehr, daß die Bundespost 130 Millionen DM und die Bundesbahn 40 Millionen DM, zusammen also 170 Millionen DM, am Schuldscheinmarkt aufgenommen haben. Dieses Volumen ist weit geringer als der Betrag von zusammen 440 Millionen DM, den beide Sondervermögen im Oktober dem Kapitalmarkt im Wege der Schuldentilgung wieder zufließen lassen.Der Zinssatz für langfristiges Kapital bildet sich am Markt, wie Sie wissen, aus Angebot und Nachfrage. Die Bundesregierung wird auf diesen Zinssatz dadurch einwirken, daß sie soweit als möglich ihre Nachfrage den Marktgegebenheiten anpaßt. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine Überforderung des Marktes zu vermeiden und damit die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß der Zinssatz für Schuldscheindarlehen wieder sinkt.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Pohle.
Herr Staatssekretär, hat nach Ihrer Ansicht demnach die Beanspruchung des Geldmarktes durch Bundesbahn und Bundespost zinssenkende, zinssteigernde oder zinsneutrale Wirkungen?
Herr Kollege, ich habe in der ersten Antwort angedeutet, daß es sich hier um eine zwangsläufige Maßnahme handelt, die wir treffen mußten, weil bestimmte Zahlungsverpflichtungen dieser beiden Sondervermögen es erforderten. Die Frage, wie sich das auf den Gesamtmarkt auswirkt, kann nur im Zusammenhang mit der Größe der in Rede stehenden Beträge gesehen werden. Es ist zweifellos zuzugeben, daß aus der besonderen Situation, weil Zahlungsverpflichtungen liefen, die Investitionsvorhaben von hoher Dringlichkeit betreffen, keine zinssenkende Wirkung entstehen konnte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Pohle.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung der Ansicht, daß Zinserhöhungs- oder -stabilisierungstendenzen in der Bundesrepublik angesichts eines sinkenden internationalen Zinsniveaus zusätzliche oder auch spekulative Geld- und Kapitalzuflüsse auslösen, zumindest auslösen können und damit die Stabilisierungsbemühungen der Bundesregierung durchkreuzen?
Herr Kollege, ich habe ja gesagt, daß wir u. a. den Schlüssel für eine Zinssenkungstendenz darin sehen, daß die öffentliche Hand nur sehr zurückhaltend an den Kapitalmarkt herangeht. Ich habe angedeutet, daß die Bundesregierung in diesem Zusammenhang ihren Bedarf überprüfen wird. Wir sind uns einig, daß Nebenwirkungen, wie
Sie sie angedeutet haben, natürlich zu erwarten sind, wenn längerfristig eine Situation mit so hohen. Zinsen eintreten sollte.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, muß ich Ihren Worten, die Schuldscheine seien zur Erledigung dringender Zahlungsverpflichtungen ausgegeben worden, entnehmen, daß die aufgebrachten Mittel nicht etwa für investive Zwecke, sondern zur Behebung von Liquiditätsschwierigkeiten gedacht sind?
Nein, Herr Kollege, das müssen Sie meinen Worten nicht entnehmen. Ich habe ja angedeutet, daß es sich um Zahlungsverpflichtungen aus Investitionsaufträgen handelt, die einen bestimmten Zahlungsplan haben. Dahinter steckt natürlich außer bestimmten Schuldtilgungen auch die Konsequenz, daß wir z. B. die von der Öffentlichkeit geforderten Telefonhauptanschlüsse nun so schnell wie möglich herstellen wollen. Dazu brauchen wir Geld, u. a. aus der Summe, die ich hier soeben genannt habe.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Arndt .
Ist die Bundesregierung eigentlich der Ansicht, daß produktivitätssteigernde Investitionen bei Post und Bahn völlig anders zu beurteilen sind als produktivitätssteigernde Investitionen in großen Konzernen und damit auch ihre Verschuldung im In- oder Ausland?
Herr Kollege, die Bundesregierung ist der Meinung, daß, um ein langfristig günstiges wirtschaftliches Wachstum zu garantieren, Infrastrukturinvestitionen, wie sie von Bahn und Post vorgenommen werden, sehr dringend notwendig sind. Es ist ein offenes Geheimnis, daß sie auch außerordentlich lukrativ für die beteiligten Sondervermögen des Bundes sind.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Herr Staatssekretär, können Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß diese Maßnahmen auch im Zusammenhang mit der Verschuldenspolitik vergangener Bundesregierungen zu sehen sind, die die Eigenkapitaldecke dieser beiden Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigt haben?
Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3975
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Höcherl.
Herr Staatssekretär, ist bei diesem Verfahren ein Einvernehmen mit der Bundesbank herbeigeführt worden?
Herr Kollege, diese Frage berührt die Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten MüllerHermann. Ich bin gern bereit, Ihre Zusatzfrage im Zusammenhang mit dieser Frage zu beantworten.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. von Bismarck.
Wird durch dieses Verfahren die Auffassung von Herrn Hankel bestätigt, daß sich die Bundesregierung, wenn nötig, als die robustere Nachfragerin auf dem Kapitalmarkt das beschaffen will, was sie sonst nicht zur Verfügung hat?
Nein, Herr Kollege. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang nicht zu dem Zitat äußern, das Sie hier soeben gebracht haben. Nur bin ich tatsächlich der Meinung, daß ,öffentliche Investitionen, wie sie hier von Bahn und Post vorgenommen werden, vor bestimmten privaten Kreditwünschen Vorrang haben.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Ott.
Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, daß Sie diese Schuldscheindarlehen aufnehmen, um andere Schulden zurückzuzahlen. Liege ich richtig, wenn ich annehme, daß Sie entweder Liquiditätsschwierigkeiten hatten oder nicht richtig disponiert hatten, um diese Schulden zurückzahlen zu können, und jetzt neue Schulden aufnehmen müssen?
Herr Kollege, damit liegen Sie nicht richtig. Wie Sie wissen, handelt es sich bei den Bundessondervermögen um langfristige Bewegungen, denen bestimmte Zahlungspläne zugrunde liegen, die erfüllt werden müssen, wenn die Termine anstehen. Dabei gibt es lang-, mittel- und auch kurzfristige Verpflichtungen; aber die letzteren werden hiervon nicht berührt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dasch.
Herr Staatssekretär, ist die Notwendigkeit dieser Schuldaufnahme nicht dadurch entstanden, daß sich die Investitionskosten gegenüber früheren Planungen bedeutend erhöht haben?
Nein, Herr Kollege. Die Investitionskosten haben sich natürlich auch im Fernmeldebereich erhöht, aber das ist nicht der entscheidende Grund, um den es hier geht. Es geht hier darum, daß bestimmte Investitionen getätigt worden sind und daß die Post einen Wirtschaftsplan hat, nach dem gewisse Zahlungsziele eingehalten werden müssen. Das ist der wirkliche Hintergrund dieser Bewegung, die hier in Rede steht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten von Bockelberg.
Herr Kollege Börner, sind Sie mit mir der Ansicht, daß die Aufnahme dieses Darlehens konjunkturell die gleiche Wirkung hat wie die Ausweitung des Haushalts um den gleichen Betrag?
Nein, ich bin nicht Ihrer Meinung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Dollinger.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen vom Eigenkapital. Geben Sie zu, daß sich das Eigenkapital der Deutschen Bundespost in den letzten Jahren laufend erhöht hat, und zwar auf einen Anteil von nahezu 300/o, und können Sie hier bestätigen, daß die jetzige Politik der Deutschen Bundespost weiterhin zu einer Stärkung des Eigenkapitals führt?
Herr Kollege Dollinger, das ist richtig, aber ich glaube, daß diese Frage nicht im Zusammenhang mit dem hier erörterten Problem zu sehen ist.
Man muß auch sehen, daß die Verpflichtungen der
Post — denken Sie z. B. an die Zuwachsrate bei den
Fernsprechanschlüssen - ebenfalls gewachsen sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Fellermaier.
Herr Staatssekretär, muß man bei der Gesamtbeurteilung des Komplexes nicht auch berücksichtigen, daß es gerade die Bundesbahn war, die in ihrem Tilgungsdienst ein Vielfaches dessen zurückgezahlt hat, was früher im Zusammenhang mit der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit zurückgezahlt wurde? Muß man das nicht auch in Verbindung mit dieser Schuldscheinaufnahme sehen?Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
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Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege.
Ich rufe die Frage 2 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann auf:
Ist die vom Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen betriebene Aktion angesichts ihrer Bedeutung für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung mit dem Bundeskanzler, dem Bundesminister für Wirtschaft, dem Konjunkturplanungsrat und dem zentralen Kapitalmarktausschuß abgestimmt?
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege, die Kreditaufnahmen der Bundespost erfolgen nach § 22 Abs. 1 des Postverwaltungsgesetzes im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister der Finanzen, die der Bundesbahn nach § 31 Bundesbahngesetz mit Genehmigung des Herrn Bundesministers für Verkehr gleichfalls im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister der Finanzen. Dieses vom Gesetz verlangte Einvernehmen wurde hergestellt.
Der Konjunkturrat für die öffentliche Hand sowie der Zentrale Kapitalmarktausschuß haben sich bislang auf die Abstimmung von Anleihen konzentriert. Eine Behandlung einzelner Schuldscheindarlehen ist in diesen Gremien nicht erfolgt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, kann ich aus der Tatsache, daß die wesentlich das Ressort des Wirtschaftsministers betreffenden Fragen nicht von ihm, sondern von Ihnen beantwortet werden, schließen, daß die von Herrn Schiller und dem Bundeskanzler selbst immer wieder beschworene Abstimmung der Konjunkturpolitik innerhalb der Bundesregierung offenbar nicht erfolgt ist?
Herr Kollege, ich habe ausdrücklich festgestellt, daß das Einvernehmen mit den beteiligten Häusern hergestellt wurde. Ich möchte hinzufügen, daß auch die Bundesbank konsultiert wurde.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Herr Staatssekretär, sehen Sie wenigstens ein, daß man aus dem, was Sie soeben gesagt haben, nur schlußfolgern kann, daß diese Bundesregierung offenbar kein aufeinander abgestimmtes konjunkturpolitisches Konzept hat?
Ich habe hier mehrfach dargetan, daß hinsichtlich der wirtschaftspolitischen und finanzpolitischen Bedeutung dieser Maßnahme eine Abstimmung mit den beteiligten Häusern erfolgt ist. Ich kann mich Ihrer Schlußfolgerung deshalb in keiner Weise anschließen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel.
Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, daß die Bundesbank konsultiert worden sei. Haben die Bundesbank bzw. der Zentralbankrat der Auflage dieser Anleihe zugestimmt?
Ich habe schon in meiner ersten Antwort gesagt, daß der Zentralbankrat damit nicht befaßt war. Außerdem handelt es sich nicht um eine Anleihe, sondern um ein Schuldscheindarlehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dasch.
Herr Staatssekretär, wollen Sie damit sagen, daß die Bundesbank zwar konsultiert wurde, daß ihr Rat dann aber nicht befolgt wurde?
Nein, das wollte ich nicht sagen. Die Bundesbank stimmt mit uns darin überein, daß Investitionen im Bereich des Fernmeldewesens und der Infrastruktur der Deutschen Bundesbahn für die Volkswirtschaft höchst dringliche Maßnahmen sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pieroth.
Herr Staatssekretär, wie paßt diese Neuverschuldung in das Konzept der Bundesregierung, die konjunkturelle Entspannung im Gleitflug zu erreichen?
Herr Kollege, ich habe Ihnen vorher ja die Größenordnungen sehr deutlich genannt. Sie werden zugeben müssen, daß diese Beträge im Rahmen des Wirtschaftsplanes solcher Unternehmen wie der Bundesbahn und der Bundespostals geringfügig zu veranschlagen sind. Es handelt sich also hier vom Volumen her nicht um entscheidende Punkte, sondern um die Bedienung von notwendigen Investitonen im Zeitablauf. Diese Maßnahmen stehen in keiner Weise im Gegensatz zur Haltung der Bundesregierung, alles zu tun, um die Konjunktur zu beruhigen. Ich habe gerade — darauf möchte ich hier noch einmal Bezug nehmen — in der Antwort auf
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3977
Parlamentarischer Staatssekretär Börnerdie Frage des Herrn Kollegen Pohle deutlich dargestellt, was unsere weitere Absicht in dieser Frage ist.
Keine weitere Zusatzfrage. Ich bedanke mich für die Beantwortung der Dringlichkeitsanfragen aus Ihrem Geschäftsbereich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf, zuerst die Dringliche Frage 3 des Abgeordneten Breidbach:
Wer sind die „rechten Kräfte", die einen Anschlag auf die Bundesregierung planen?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Professor Ehmke.
Herr Kollege, ich bin über Ihre Frage erstaunt; denn ich nehme an, daß Sie sich auf das Kommuniqué über die Sitzung des SPD-Parteivorstands vom 12. Oktober 1970 beziehen. Das Kommuniqué stellt eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratungen des Parteivorstands der SPD durch deren Vorsitzenden dar. Korrekterweise sollten Sie Ihre Frage daher nicht an die Bundesregierung, sondern an den Parteivorstand der SPD richten.
Für den Fall, daß Sie es wünschen, bin ich für meine
Person dennoch bereit, Ihre Fragen zu beantworten.
Das Kommuniqué über die Sitzung des SPD-Parteivorstands lautet in Nr. 3 wie folgt:
„Der Vorsitzende der FDP hat recht, wenn er darauf hinweist, daß der Angriff auf seine Partei von einflußreichen Kräften außerhalb des Bundestages unterstützt wird. Es handelt sich in der Tat um einen groß angelegten Versuch einer rechten außerparlamentarischen Opposition,
das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, die Entspannungspolitik zu stören und in die Konjunkturpolitik so einzugreifen, daß die Bemühungen um mehr Stabilität zunichte gemacht
werden."
Der Herr Bundeskanzler und Vorsitzende der SPD hat also in einer Zusammenfassung auf eine Äußerung des Vorsitzenden der FDP Bezug genommen.
Die beiden Führer der sozial-liberalen Koalition verstehen unter „rechter außerparlamentarischer Opposition" diejenigen Kräfte in unserem Land, die innen- und außenpolitisch dem Vorgestern verhaftet sind und sich darin von der sozial-liberalen Koalition in Frage gestellt fühlen, womit sie übrigens völlig recht haben.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Bundesminister, da ich auf Grund Ihrer Antwort nicht klar feststellen konnte, ob Sie — d. h. die Bundesregierung — sich mit Ihrer Eingangserklärung von den Äußerungen des Parteivorsitzenden der SPD distanziert haben, frage ich Sie noch einmal konkret: Wer sind diese rechten Kräfte — Sie müssen auch den Punkt 5 des Kommuniqués lesen —, die den Anschlag auf die Bundesregierung planen? Ich nehme an, es handelt sich nicht um irgendeine Geisterarmee, sondern der Bundeskanzler wird sicher konkrete Vorstellungen haben. Die bitte ich mir auf meine Frage darzulegen.
Herr Kollege Breidbach, ich bitte, die Zusatzfragen kürzer zu fassen.
Zur Beantwortung, bitte, Herr Bundesminister!
Ich habe die erste Frage, glaube ich, schon beantwortet.
— Die erste Frage habe ich damit beantwortet, daß es eine reine Freundlichkeit von mir ist, hier für die Bundesregierung zu Äußerungen des SPD-Parteivorstands Stellung zu nehmen.
Was die zweite Frage betrifft, Herr Kollege Breidbach, schlage ich vor, daß ich sie in Zusammenhang mit der Frage des Kollegen Werner beantworte; denn die Frage 4 der Dringlichkeitsanfragen ist identisch mit Ihrer Zusatzfrage.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Bundesminister, ich kann also Ihrer Antwort entnehmen, daß die Äußerungen des Parteivorsitzenden der SPD nicht in jedem Fall identisch zu sein brauchen mit Äußerungen, die der Bundeskanzler im konkreten Fall machen würde?
Sie haben schlecht zugehört, Herr Kollege. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: es handelt sich um eine Äußerung des SPD-Parteivorstands, die von dessen Vorsitzenden zusammengefaßt worden ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Benda.
Herr Bundesminister, darf ich Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Breidbach so verstehen, daß in Zukunft jedermann, der nach Ihrer Definition dem Vorgestern verhaftet ist, einer rechten außerparlamentarischen Opposition in diesem Land angehört, die das Rad der Entwicklung zurückdrehen wolle und — um einen von Ihnen
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3978 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bendanicht zitierten Teil des Kommuniqués hier zu wiederholen — einen Anschlag auf die Bundesregierung versuche, der natürlich mit allen Kräften — und das nicht von der SPD, sondern amtlicherseits — abgewehrt werden müsse?
Herr Kollege Benda, wenn der Herr Präsident es gestattet, darf ich zugleich mit Ihrer Zusatzfrage auch die Frage 4 beantworten.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Werner auf:
Mit welchen konkreten Angaben kann die Bundesregierung ihre Behauptung von einem Anschlag rechtsgerichteter Kräfte auf die Bundesregierung beweisen?
Ich darf sagen, daß es sich unseres Erachtens erübrigt, Namen zu nennen, weil man diesen Namen nicht zuviel Ehre antun sollte.
Im übrigen nehme ich an, daß Sie die Äußerungen reaktionärer und nationalistischer Kreise in diesem Lande mindestens so gut kennen wie die Bundesregierung. Mit einigem Erstaunen stelle ich allerdings fest, daß Sie selbst sich offenbar von diesen Äußerungen betroffen fühlen, obwohl die Vorsitzenden der SPD und der FDP ausdrücklich von einer rechten außerparlamentarischen Opposition gesprochen haben. Offenbar haben doch diejenigen in Ihren Reihen recht, die, wie der SPD-Vorsitzende ausgeführt hat, befürchten, daß das politisch-moralische Gewicht Ihrer Partei durch manchen der Überwechsler aus der FDP nicht verstärkt werden wird.
Ich bin auch gern bereit, Ihnen ein Beispiel zu geben, Herr Kollege Benda. Ich habe hier das Mitteilungsblatt des Witiko-Bundes, über dessen Rolle in der Verbindung zwischen rechten Kreisen der CSU, NLA und NPD Sie heute einen bemerkenswerten Artikel des Kollegen Borm in der „Frankfurter Rundschau" finden.
Da wird z. B. — Schrift des Witiko-Bundes, Einleitung von Herrn Lange — gesagt, die Situation in unserem Lande würde sich schlagartig ändern, wenn die Landesverbände Bayern und Hessen der NPD und der National-liberalen Aktion sich zu einem Wahlverband zusammenschlössen.
Dann hätte man zwei Ziele zu erreichen — ich gebe das nur als ein Beispiel, das Material ist umfangreich —: erstens Verhinderung einer sozialdemokratischen Mehrheit in den beiden Ländern. Dadurch würde die Bonner Koalition erschüttert werden. — Das nenne ich einen Angriff auf diese Regierung.
— Auch einen Anschlag.
Ich darf die Herren Christdemokraten bitten, bei dem zweiten Punkt besonders gut zuzuhören. Es steht nämlich darin, das zweite Ziel müsse sein: unausweichlicher Zwang für die Christdemokraten — nicht für die Christsozialen, offenbar haben das nur die Christdemokraten nötig —, „den volkspolitischen Offenbarungseid zu leisten".
Ich nehme das als ein Beispiel. Sie wissen so gut wie ich — besonders Sie als früherer Innenminister —, daß man diese Äußerungen beliebig vermehren kann.
Zur Geschäftslage: Zu der Frage 4 kommt eine Reihe von Zusatzfragen. Zunächst aber zu einer Zusatzfrage zu der Frage 3 der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß der Vorsitzende der Landesgruppe der CSU, Herr Stücklen, gestern festgestellt hat, der Bundeskanzler bediene sich in seinem Vokabular immer mehr eines Rotwelschs, und ist Ihnen bewußt, daß „Rotwelsch" eine Vokabel war, die wir in der NS-Zeit insbesondere im „Stürmer" und im „Schwarzen Korps" gefunden haben?
Herr Kollege, wenn ich recht orientiert bin, hat Kollege Stücklen nicht gesagt, der Bundeskanzler bediene sich, sondern, die Sprache, die er spreche, erinnere ihn an „Rotwelsch aus Moskau". Ich weiß nicht, auf welche Quellen dies zurückgeht. Aber ich muß einem Kollegen, den ich so schätze wie den Kollegen Richard Stücklen, sagen: es wäre mir lieb gewesen, er hätte diese Worte nicht gebracht. Sie stammen sicher nicht aus dem demokratischen Wortschatz.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Wörner.
Herr Bundesminister, nachdem bis jetzt doch noch keine völlige Klarheit in einer Frage besteht, möchte ich Sie fragen: teilt die Bundesregierung und teilt der Bundeskanzler die Auffassung des SPD-Vorsitzenden, wie sie hier in der Erklärung unter den Nummern 1 bis 5 wiedergegeben ist?
Ich habe im Namen der Bundesregierung keine Äußerungen für die Vorstände der einen oder anderen Partei abzugeben.
— Ich hoffe doch, daß Sie diese Kleiderordnung unserer Verfassung respektieren, Herr Kollege Rasner.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3979
Ich darf Sie bitten, einstweilen keine weitere Zusatzfrage zu stellen. Ich habe zehn auf meiner Liste. Herr Abgeordneter Dr. Reddemann, die nächste Zusatzfrage.
Herr Minister, wollen Sie immer noch versuchen, den Bundeskanzler einmal in den Mann Willy Brandt, einmal in den Parteivorsitzenden Brandt und einmal in den Bundeskanzler zu teilen, oder meinen Sie nicht, daß Äußerungen, die der Parteivorsitzende der SPD in der Öffentlichkeit tut, auch Äußerungen des Bundeskanzlers sind, die dann von der Regierung entsprechend verantwortet werden müssen, wenn Fragen danach gestellt werden?
Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Kollege Reddemann, wenn Sie jetzt zum drittenmal zur Kenntnis nähmen, daß es sich um eine Meinung des gesamten SPD-Parteivorstands handelt, die der Bundeskanzler in einem Kommuniqué zusammengefaßt hat.
- Ich sage Ihnen, daß es so war; lesen Sie den letzten Satz! Nach der Diskussion ist eine Erklärung abgegeben worden. Ich habe mich danach erkundigt: Es war so, daß der Kanzler die Diskussion des Parteivorstands zusammengefaßt hat.
Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Kollege Barzel, wenn ich mich für das, was in der SPD geschieht, auf die Angaben des SPD-Parteivorstands und nicht auf die des CDU-Parteivorstands berufen könnte.
— Ich glaube, wenn Sie Ihre Kommuniqués ansehen, werden Sie feststellen, daß sie ganz ähnlich sind, Herr Müller-Hermann.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Borm.
Herr Bundesminister, würden Sie in diesem Fall präzis die Tageszeitung „Bild" dem Kreis, der in der Frage aufgeführt ist, zurechnen?
Herr Kollege Borm, mein Freund Herbert Wehner pflegt von der „Bild"-Zeitung zu sagen, man müsse sie jeden Morgen lesen, um zu wissen, was die Leute denken sollen. Ich pflichte dem bei. Ganz sicher ist, daß es sich dabei um ein Blatt handelt, das stärker von dem Wunsch beseelt ist, diese Regierung zu stürzen, als von dem Bemühen, seine Leser objektiv zu unterrichten.
Aber gerade weil sich das Blatt in letzter Zeit als Anti-Regierungsblatt versucht, sollte die Regierung, so glaube ich, nicht den Versuch unternehmen, seine politische Richtung irgendwie zu qualifizieren oder abzuqualifizieren.
Ich darf allerdings sagen: wir haben mit Interesse
vermerkt, daß sich in den breiten Schichten unserer
Bevölkerung, die ihr Geld nicht mit Porno-Serien, sondern mit ihrer Hände Arbeit verdienen, offenbar die Stimmung auszudehnen beginnt, dieses Blatt in den Betrieben nicht mehr sehen zu wollen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Professor Ehmke, darf ich fragen, ob Sie tatsächlich als einziges konkretes Beispiel für die in dem SPD-Kommuniqué angesprochene außerparlamentarische Opposition, in dem der SPD-Vorsitzende ausdrücklich auch als Bundeskanzler apostrophiert ist — in dem Kommuniqué steht ausdrücklich das Wort „Bundeskanzler" —, das Beispiel des Herrn Abgeordneten Lange bringen wollen. Ist Herr Lange, der auf der Liste der FDP gewählt worden ist und bis vor kurzem deren Fraktionsvorsitzender im Landtag war, die außerparlamentarische Opposition, die der Bundeskanzler gemeint hat? Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Herr Kollege Schulze-Vorberg, es ist ein Beispiel. Ich sage noch einmal, ich halte es nicht für die Aufgabe der Bundesregierung, hier Material über die rechtsradikalen und nationalistischen Kreise in der Bundesrepublik zu verbreiten, zumal da Sie dieses Material genauso gut kennen wie die Bundesregierung selbst.
Präsident von Hassel Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Miltner.
Herr Bundesminister, da Sie sagen, daß dieses Material schon so bekannt sei, darf ich Sie fragen, ob Sie mir jetzt wirklich sagen können, in welchen Handlungen der „großangelegte Versuch" der außerparlamentarischen Opposition besteht.
Ich glaube, das ist wirklich nicht so schwer zu sagen. Ich bleibe bei diesem einen Beispiel,
um es nicht ins Uferlose gehen zu lassen. Herr Rasner, Sie kennen es so gut wie wir. Es ist doch wohl klar, was unter diesem Angriff verstanden wird. Wir brauchen nur noch einmal nachzulesen, was hier und an vielen anderen Stellen der Witiko-Bund und ähnliche Organe schreiben.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Zoglmann.
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3980 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Bundesminister, sind Sie wirklich der Meinung, daß das von Ihnen hier Vorgetragene noch vertretbar ist im Hinblick darauf, daß erstens der Abgeordnete Lange in der deutschen Presse ausdrücklich erklärt hat, daß dieses Zitat nicht aus dem Brief des Witiko-Bundes, sondern aus einer Beilage, nämlich dem Deutschen Seminar, stammt, daß es sich zweitens um einen Leserbrief handelt, daß sich drittens der Abgeordnete Lange mit aller Entschiedenheit von diesen Überlegungen abgesetzt hat?
Würden Sie mir viertens die Frage beantworten, wie Sie selbst es rechtfertigen, eine Organisation als rechtsradikal zu bezeichnen, die seit Jahren aus Mitteln der Bundesregierung, auch aus Mitteln Ihrer Bundesregierung, gefördert wird?
Herr Kollege Zoglmann, ich habe rein akustisch den zweiten Teil Ihrer Frage nicht verstanden? Können Sie ihn wiederholen?
Beim zweiten Teil der Frage geht es darum, wie Sie es rechtfertigen, Herr Bundesminister, eine Organisation als rechtsradikal zu bezeichnen, nämlich den Witiko-Bund, die seit Jahren von der Bundesregierung, auch der von Ihnen jetzt dargestellten Bundesregierung, gefördert wird.
Herr Kollege Zoglmann, ich darf zunächst einmal sagen, daß mir diese Äußerungen von Herrn Lange, die Sie zitiert haben, nicht bekannt sind. Das, woraus ich zitiere, hat einen Aufmacher „Liebe Kameraden" mit der Unterschrift von Herrn Lange, und da ist die Beilage. Das Zweite, was ich dazu sagen darf, ist, daß ich hier nicht den Witiko-Bund qualifiziert habe, sondern Äußerungen wie diese mit der Stoßrichtung, die ich in den beiden Punkten zitiert habe.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Fellermaier.
Herr Bundesminister, würden Sie die Nervosität in den Reihen der CDU/CSU
über eine Äußerung des Parteivorsitzenden der SPD vielleicht auch im Zusammenhang des schlechten Gewissens sehen, wie sich diese Partei bei der Bundespräsidentenwahl gegenüber einer anderen Partei, die in diesem Haus Gott sei Dank nicht vertreten ist, verhalten hat, um etwas zu erreichen?
Herr Kollege Fellermaier, ich bin geneigt, dieser Nervosität und diesem Interesse eine positivere Ausdeutung zu geben. Ich bin der Meinung, nachdem die CDU sich in Berlin für die Bundespräsidentenwahl leider auf die Stimmen der NPD hat verlassen wollen
und nachdem in Niedersachsen Vorgänge zwischen
CDU und NPD gespielt haben, die ebenfalls die Kritik der SPD in diese Richtung herausgefordert haben,
verstehe ich das Interesse an dieser Äußerung des Bundeskanzlers im positiven Sinne. Nämlich dahin, daß die CDU klarmachen will, daß sie jedenfalls mit diesen Kräften nichts zu tun hat und mit ihnen auch nicht in einen Topf geworfen werden will.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Professor Dr. Schäfer.
Herr Bundesminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß die Sorge, die im Kommuniqué des SPD-Parteivorstandes zum Ausdruck kommt, eine Sorge aller politischen Kräfte dieses Hauses sein müßte, und sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Fragesteller aus den Reihen der Opposition diese Tatsache damit schon in Zweifel ziehen?
Herr Kollege Schäfer, ich bin der Meinung, daß es in der Tat ein gemeinsames Interesse des ganzen Hauses sein sollte. Allerdings bin ich auch der Meinung oder neige zu der Deutung, daß diese Fragen gerade auch wegen dieser Besorgnisse gestellt werden. Ich hoffe jedenfalls, daß diese Fragestunde mit zu einer Betonung der Gemeinsamkeit gegenüber dem Rechtsradikalismus beitragen wird.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Wohlrabe.
Herr Bundesminister, da es Ihnen offensichtlich nicht gelungen ist, die vom Bundeskanzler aufgestellten Behauptungen zu beweisen, möchte ich Sie fragen, ob Ihr Einfluß dahin gehend geltend gemacht werden kann, daß der Herr Bundeskanzler wie nach Bielefeld und wie nach dem Wort „Volksverhetzung" sich jetzt erneut entschuldigt.
Herr Wohlrabe, ich muß zunächst einmal sagen, ich halte es eigentlich nicht für die Art von
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3981
Bundesminister Dr. EhmkeGentlemen, erst einen Vergleich, zu schließen und dann damit hinten herum — —
Da waren die Herren von der CDU, mit denen ich verhandelt habe, glaube ich, etwas auf dem richtigeren Boden, als Sie es jetzt sind.
Im übrigen würde ich an Ihrer Stelle einmal vor der eigenen Türe zu kehren beginnen. Was gestern der Kollege Stücklen gesagt hat, ist auch nicht etwas, das man so stehenlassen sollte, wenn wir dabei die harten Maßstäbe anlegen, die Sie immer angelegt haben wollen, wenn es um uns geht, die Sie aber sehr großzügig dehnen, wenn es um Äußerungen aus Ihren eigenen Reihen geht.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Arndt .
Herr Bundesminister, bestreiten Sie der Opposition das verfassungsmäßige Recht, die Entspannungspolitik zu stören und die Stabilitätsbemühungen zunichte zu machen, auch wenn es zum Schaden aller ist?
Nein, natürlich nicht. Aber die Bundesregierung kann natürlich politisch zu solchen Versuchen Stellung nehmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Schneider .
Herr Bundesminister, wollen Sie mir zugeben, daß sich der Bundeskanzler als Parteivorsitzender das Kommuniqué des Parteivorstandes zu eigen gemacht hat und daß in der Öffentlichkeit jede Äußerung des Parteivorsitzenden der SPD als eine Äußerung des Bundeskanzlers verstanden wird?
Nein, da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Ich könnte Ihnen viele Zitate von Parteivorsitzenden der CDU nennen, bei denen sich die Herren sehr dagegen gewehrt hätten, sich eine solche Äußerung als Äußerung der Regierung des Bundeskanzlers in seiner amtlichen Eigenschaft zurechnen zu lassen. .
Herr Abgeordneter Jung zu einer Zusatzfrage.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß in der Pfalz ein Mann beauftragt wurde, im Sinne des von Ihnen Zitierten zu wirken, nämlich die rechten und rechtsradikalen Kräfte zusammenzufassen, der noch bei der Bundestagswahl in aller Öffentlichkeit für die NPD geworben hat?
Das ist mir nicht bekannt, aber ich werde mich bei meinem Kollegen Genscher darüber sachverständig machen lassen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wienand.
Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß die beiden Zeitschriften „Bayernkurier" und „Deutschland-Magazin" es zum erklärten Ziel haben, die Regierung zu stürzen, und das außerparlamentarisch versuchen,
und sind Sie wie ich nicht der Meinung, daß Kolleginnen und Kollegen, die hier in diesem Hause sitzen und sich gelegentlich in diesen Zeitschriften artikulieren, nicht zur außerparlamentarischen Opposition zählen?
Herr Kollege Wienand, ich neige gefühlsmäßig dazu, Ihnen zuzustimmen. Ganz zustimmen kann ich nicht, weil ich beide Zeitschriften nicht lese.
Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage folgendes. Diejenigen Kollegen, die sich jetzt zum zweiten Male melden, konsumieren damit ihre Zusatzfragen zur Frage 4. Eine Zusatzfrage zur Frage 4 hat jetzt der Abgeordnete Benda.
Herr Bundesminister, nachdem Sie den einzigen konkreten Punkt, mit dem Sie bisher die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers begründet haben, zum Bestandteil der höheren Allgemeinbildung gemacht haben, darf ich Sie fragen: Welches Ergebnis hat denn die Bemühung des stellvertretenden Sprechers der Bundesregierung, des Herrn von Wechmar, gehabt, der am Montag dieser Woche, also unmittelbar nach den Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers, in einer Pressekonferenz erklärt hat, er kenne die rechte außerparlamentarische Opposition, auf die sich der Herr Bundeskanzler bezogen habe, nicht, wolle sich aber gern danach erkundigen, worin diese bestehe?
Herr Kollege Benda, ich schlage vor, daß Sie Herrn Kollegen von Wechmar direkt fragen.
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3982 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Abgeordneter Breidbach zu einer Zusatzfrage zur Frage 4.
Herr Bundesminister, nachdem ich mir einmal im Sprachbrockhaus die Bedeutung des Wortes „Anschlag" angesehen habe, die dort mit „Vernichtung" gleichgestellt wird, frage ich Sie, ob Sie glauben, daß der von Ihnen konkret genannte Witiko-Bund einen Anschlag im Sinne der Vernichtung auf die Bundesregierung ausüben könnte, oder aber ob es nicht notwendig wäre, der Opposition, die, wie Sie selber betont haben, zum gemeinsamen Kampf gegen rechtsradikale Kräfte aufgefordert werden sollte, nun endlich einmal konkret zu sagen, was außerhalb des Witiko-Bundes innerhalb der außerparlamentarischen Opposition von rechts noch existiert.
Herr Kollege Breidbach, ich nehme an, daß Sie wissen, was außer dem Witiko-Bund rechts noch existiert. Das unterstelle ich zunächst einmal.
Zweitens möchte ich sagen, daß es nicht ein Zeichen von Gemeinsamkeit ist, wenn Sie jetzt das Wort „Anschlag", das durchaus einen politischen Sinn haben kann, ins Lächerliche zu ziehen versuchen, indem Sie so tun, als ob es sich hier um Bombenanschläge oder etwas Ähliches handle. Das Wort ist sehr gut zu verstehen.
Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann zu einer Zusatzfrage zur Frage 4.
Herr Bundesminister, sind verschiedene Auslassungen des Herrn Bundeskanzlers, speziell diejenige, die heute hier zur Diskussion steht, Ausdruck des Demokratieverständnisses dieser Bundesregierung, nämlich daß alles, was fortschrittlich ist, von ihr gepachtet ist, und alles, was Opposition ist, auf Reaktion und Restauration abgestellt ist?
Nein, diese Regierung wiederholt nicht den Fehler, der früher oft gemacht worden ist,
als Ihre Partei an der Regierung war. Damals haben Sie Ihre Partei immer mit dem Staat gleichgesetzt. Das tun wir nicht, Herr Kollege Müller-Hermann.
Wir sind allerdings der Meinung, daß man im Interesse der Demokratie
von vornherein Angriffen dieser Art gemeinsam die Stirn bieten sollte.
Wir haben schließlich eine Geschichte hinter uns.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Zoglmann?
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ritz.
Herr Bundesminister, nachdem Sie hier lediglich den Witiko-Bund als Teil der rechten APO bezeichnet haben, darf ich Sie fragen, ob Sie bestätigen können, daß der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr Ertl, in diesem Bund bereits als 'Redner tätig gewesen ist.
Ich darf zunächst einmal richtigstellen, daß wir nicht von der „APO" gesprochen haben. Ich darf nochmals feststellen, daß ich von einer bestimmten Äußerung in einem Organ und nicht von dem Bund als Ganzem gesprochen habe.
— Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie zuhörten. Das würde es sehr viel leichter machen.
Zum dritten darf ich sagen, daß ich sicher nicht vollständig darüber unterrichtet bin, in welchen Kreisen aus welchen Gründen der Kollege Ertl spricht. Auch hier würde ich vorschlagen, ihn selber zu fragen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Niegel.
Herr Bundesminister, Sie sprachen vorhin von der „vorgestrigen Politik", die diese außerparlamentarischen Kräfte betrieben. Könnten Sie mir einmal definieren, was vorgestrige, gestrige, heutige oder morgige Politik eigentlich ist?
Das könnte ich sicher, und es wäre vielleicht auch sehr nützlich. Ich nehme aber an, es kostet uns hier zuviel Zeit, Herr Kollege.
Diese Auffassung teilt auch der Präsident.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3983
Präsident von HasselDas ist eine interessante Frage. Aber ich glaube, daß wir jetzt nicht die Zeit haben, sie zu beantworten.Jetzt hat eine weitere Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Dr. Jobst.
Herr Bundesminister, steht hinter den Verdächtigungen, die mit ungewöhnlicher Wortwahl vorn Bundeskanzler ausgesprochen wurden, nicht das Eingeständnis, daß das Stimmungsbarometer für die Bundesregierung nicht mehr günstig steht?
Nein, Sie irren sich. Wir fühlen uns sehr sicher und sehr gut, Herr Kollege.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Zander.
Herr Minister, ist es richtig, daß in der Zeit zwischen der Bundestagswahl und der Regierungsbildung im vergangenen Jahr von rechtsstehenden Kräften massiver Druck auf Mitglieder dieses Hauses ausgeübt worden ist, um diese Regierung gar nicht erst zustande kommen zu lassen?
Das kann ich Ihnen en detail nicht beantworten.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Riedl .
Herr Bundesminister, wie wollen Sie es eigentlich begründen, daß Sie ein Mitglied des Landtags von NordrheinWestfalen, das auf ordentlichem Wege in dieses Länderparlament gewählt worden ist, als „außerparlamentarische Opposition" in diesem Land bezeichnen?
Ich nehme an, daß die Tätigkeit von Herrn Kollegen Lange im Witiko-Bund nicht zu seiner parlamentarischen Tätigkeit gehört.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Becher .
Herr Bundesminister, würden Sie mir zugeben, daß Sie den Bundestag falsch unterrichtet haben, als Sie vorhin behaupteten, die These von der angeblichen Zusammenarbeit der Nationalliberalen Aktion und der
NPD sei in einer Zeitschrift des Witiko-Bundes vertreten worden? Würden Sie mir zugeben, daß der „Politische Zeitspiegel", von dem Sie gesprochen haben, weder vom Witiko-Bund herausgegeben wird noch der Name des Landtagsabgeordneten Lange in dieser Zeitschrift genannt ist?
Er ist aber genannt in dem Witiko-Brief, in dem diese Beilage verteilt worden ist, Herr Kollege Becher.
Würden Sie mir zugeben,
daß der Hinweis darauf aus Quellen östlicher Nachrichtendienste gekommen ist, denen Sie offenbar zum Opfer gefallen sind?
Herr Kollege Becher, wenn Sie jetzt meinen, das auf östliche Nachrichtendienste zurückspielen zu müssen, dann sind wir bei genau derjenigen Art der Auseinandersetzung, gegen die sich der Bundeskanzler gewehrt hat.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dasch.
Herr Bundesminister, sind Sie sich bewußt, daß Sie mit der generellen Bezeichnung des Witiko-Bundes als rechtsradikal vielen angesehenen Bürgern unseres Landes, die seit ihrer Heimatvertreibung beim Aufbau unseres demokratischen Staates und seiner Wirtschaft ihren Anteil geleistet haben, bitter Unrecht tun?
Herr Abgeordneter, ich habe jetzt schon mehrfach darauf hingewiesen, daß ich mich auf dieses Zitat bezogen und nicht ein Urteil über den Bund im Ganzen abgegeben habe. Im übrigen darf ich bezüglich der Tätigkeit des Bundes nochmals auf den interessanten Artikel des Kollegen Borm verweisen, in dem Sie auch weiteres Material zu dieser These finden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Schmidt .
Herr Bundesminister, ist Ihnen etwas darüber bekannt, daß es in diesem Zusammenhang Gespräche zwischen dem Bundesvorsitzenden der NPD und einem Hospitanten der Oppositionsfraktion dieses Hauses gegeben haben soll?
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3984 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Da schlage ich doch vor, den Hospitanten selbst zu fragen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Ott. — Ich sehe, er hat verzichtet. Dann zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Wörner.
Herr Bundesminister, sind Sie nicht der Auffassung, daß der Gebrauch der Worte „Anschlag auf die Bundesregierung"
ein Vokabular einführt, das man normalerweise bei Angriffen auf totalitäre Regierungen findet, und daß dieser Ausdruck doch in einem hohen Maße zu erkennen gibt, wie stark sich inzwischen Ihre Partei mit diesem Staat identifiziert?
Und könnten Sie mir erklären, worin nach Ihrer Auffassung der Unterschied zwischen „Angriff" und „Anschlag" besteht?
Herr Kollege Wörner, ich darf zunächst einmal sagen, daß sich das Wort „Anschlag" auf die Qualität des Angriffs und nicht auf die Schutzwürdigkeit des Objekts bezieht. Ich glaube, da liegen Sie falsch.
Aber im übrigen darf ich sagen: Solange Sie vom „Rotwelsch aus Moskau" sprechen, ist dieser Terminus völlig einwandfrei.
Er ist vielleicht technisch ungenau, aber nicht in dem Sinne wie manches, was aus Ihren Reihen kommt, zu beanstanden.
Im übrigen, Kollege Wörner, bekomme ich jetzt langsam den Eindruck, daß ich mich geirrt habe, als ich annahm, die Opposition wolle diese Fragestunde im gemeinsamen Sinne führen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Rösing.
Herr Bundesminister, teilen Sie nicht meine Auffassung, daß diese Erklärung der SPD, verkündet durch den Herrn Bundeskanzler, diejenigen Kräfte im Auslandunterstützt, die seit Jahr und Tag nach der gleichen Melodie gegen die Bundesrepublik schießen?
Nein, Herr Kollege Rösing, ich bin im Gegenteil der Meinung, daß nichts dem deutschen Interesse im Ausland mehr schadet als das Techtelmechtel oder das Augenzwinkern mit Rechtsradikalen und daß nichts dem deutschen Interesse im Ausland mehr nützt als die klare Abgrenzung gegenüber diesen Kräften.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Geßner.
Herr Bundesminister, sind Ihnen Zeitungsmeldungen bekannt, wonach ein Mitarbeiter des „Bayernkurier" noch im vergangenen Jahr Mitglied einer rechtsradikalen Studentenorganisation in Würzburg gewesen ist?
Die Zeitungsmeldungen sind mir bekannt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Pawelczyk.
Herr Bundesminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß die Fragen der Opposition in der letzten halben Stunde zum wiederholten Male beweisen, daß es ausschließlich darum geht, die Parlamentsarbeit lahmzulegen, um Erfolge der Regierung zu verhindern?
Ich glaube nicht, daß es Aufgabe der Regierung ist, Zensuren über ,die Parlamentsarbeit der Fraktion zu erteilen, Herr Kollege,
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
Herr Bundesminister, da der Herr Bundeskanzler — in diesem Kommuniqué der SPD ausdrücklich als Bundeskanzler genannt — das Wort „ Anschlag" benutzt hat, frage ich Sie: würden Sie diesen Begriff „Anschlag" rückblickend auch noch auf den Begriff „PendlerPartei" anwenden wollen, der in der Wahlnacht von Herrn Wehner gebraucht worden ist und der die Schwierigkeiten dieser Regierung eigentlich deutlicher charakterisiert als alles, was Sie hier bis jetzt vorgebracht haben?
Herr Kollege Schulze-Vorberg, ich glaube, ich habe zu der Frage „Vorsitzender, Vorstand und
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3985
Bundesminister Dr. EhmkeKanzler" und zu der Frage „Anschlag" genügend Antworten gegeben.
Ich sehe kein neues Element in Ihrer Frage.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Herr Staatssekretär,
sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die von der Opposition in den letzten Monaten benutzten Ausdrücke — „Ausverkauf", „Landesverrat" und gestern „Rotwelsch" — eindeutig klarmachen, daß es nicht um einen Angriff, sondern um einen Anschlag gegen die Bundesregierung geht, um einen rechten außenparlamentarischen Anschlag?
Ich fürchte, daß uns die Beantwortung dieser Frage in philologische Erörterungen bringt, die dem Herrn Präsidenten nur das Geschäft erschweren würden, und schlage vor, diese philologischen Erörterungen an anderem Ort fortzusetzen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fellermaier.
Herr Bundesminister, würden Sie mir zustimmen in der Feststellung, daß sich diese Fraktion niemals so erregt hat und niemals so nervös war, wenn ein früherer Bundesvorsitzender und Bundeskanzler aus ihren Reihen in einer ganz anderen Art und Weise mit einer anderen großen Partei umgegangen ist?
Ja, ich glaube, daß diese Empfindlichkeit bemerkenswert ist. Ich mache kein Hehl daraus: ich halte sie für die Empfindlichkeit einer Partei, die, solange sie in der Regierung war, dazu neigte, sich mit dem Staat gleichzusetzen, und die, seitdem sie in der Opposition ist, offenbar Schwierigkeiten hat, ihre Parteiinteressen dem Staatswohl unterzuordnen.
Meine Damen und Herren, ich lasse noch vier Zusatzfragen zu. Ich bitte aber, sich wirklich an die Fragestellung zu halten und nicht in Themen abzugleiten, die mit der unmittelbaren Fragestellung nichts zu tun haben.
Ich rufe die Zusatzfrage des Abgeordneten Horn auf.
Herr Minister, sind Sie nicht auch der Auffassung, daß Verhaltensweisen, wie sie Herr Strauß auf einer Kundgebung hier in Bonn an den Tag legte, auf der er sein politisches Glaubensbekenntnis unter Schildern ablegte, die da lauteten: „Brandt und Wehner — Hochverräter", „SPD und FDP ist Hochverrat", eine rechtsradikale Tradition widerspiegeln, die Deutschland in zwei Katastrophen führte?
Ich glaube, daß das, was Sie gesagt haben, in bezug auf dieses Motto richtig ist. Ich nehme aber an, daß der Kollege Franz Josef Strauß sich mit diesen Strömungen nicht identifizieren wird.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Weigl.
Herr Bundesminister, wie bewerten Sie die Tatsache, daß die Vorwürfe des Herrn Bundeskanzlers gegen die rechten Kräfte, die einen Anschlag auf die Bundesregierung planen, zuerst in kommunistischen Zeitschriften und in kommunistischen Sendern erhoben worden sind?
Diese Frage habe ich schon dem Herrn Kollegen Becher beantwortet. Wir sollten damit aufhören, alles das, was uns nicht paßt, auf die andere Seite herüberzuspielen mit dem Hinweis, es hätte drüben gestanden und wäre schon darum falsch oder käme aus östlichen Nachrichtendiensten. Diese Art der Auseinandersetzung halte ich für zu billig.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dorn.
Herr Bundesminister, sind Sie mit mir der Meinung, daß wir die letzte halbe Stunde uns hätten ersparen können,
wenn der neue Hospitant der CDU-Fraktion
— vielleicht darf man mal aussprechen — diese Fraktion über alle Gespräche informiert hätte, die er in den letzten Monaten geführt hat?
Das ist schon möglich, Herr Kollege.
Eine letzte Zusatzfrage, der Abgeordnete Link.
Nachdem der Herr Bundeskanzler und der SPD-Parteivorstand den Rechtsex-
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3986 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Linktremismus in der Bundesrepublik so hoch und so stark einschätzen, darf ich fragen, warum die Bundesregierung bisher noch keinen Verbotsantrag gegen die NPD gestellt hat, obwohl die SPD den NPD-Verbotsantrag auf ihren Wahlplakaten propagiert hatte?
Herr Kollege, weil es glücklicherweise den gemeinsamen Wahlanstrengungen der demokratischen Parteien gelungen ist, diese Partei politisch aus dem parlamentarischen Leben auszuschalten.
Wir sind am Ende der Fragestellung der Frage Nummer 4. Ich rufe die Frage Nr. 5 des Herrn Abgeordneter Roser auf:
Welche Beweise hat die Bundesregierung für die von Bundeskanzler Brandt in der Öffentlichkeit aufgestellte Behauptung, daß über „Aktionen" gegen die FDP ein großangelegter Versuch „einer rechten außerparlamentarischen Opposition" unternommen werde, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, die Entspannungspolitik zu stören und in die Konjunkturpolitik so einzugreifen, daß die Bemühungen um mehr Stabilität zunichte gemacht werden?
Ich habe den Eindruck, daß sich — —
— Ich habe den Eindruck — —
— Ich darf Sie bitten, meine Damen und Herren! — Zur Frage Nr. 5! Glauben Sie, daß die Frage durch die Beantwortung der vielen Zusatzfragen beantwortet ist?
— Sie haben nicht den Eindruck, bitte schön. Aber ich glaube, wir beschränken uns darauf, daß wir dem Fragesteller zwei Zusatzfragen geben. Wir sind bald am Ende der Fragestunde angelangt.
Zur Beantwortung der Frage Nummer 5 der Herr Bundesminister.
Herr Präsident, ich habe den Eindruck, daß die Frage ausreichend beantwortet worden ist.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Roser.
Herr Bundesminister, hier ist konkret nach Beweisen gefragt. Wo sind diese Beweise?
Herr Kollege, ich darf noch einmal vorschlagen, sich doch etwas eingehender mit der rechtsradikalen und nationalistischen Literatur und entsprechenden Äußerungen in diesem Lande zu Betassen.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Roser.
Der Herr Bundeskanzler hat vom Rad der Entwicklung gesprochen. Meint er damit vielleicht die Preisentwicklung?
Nein, Herr Kollege Roser, wir nehmen die Geschichte der Demokratie in diesem Lande so ernst, daß wir eine solche Fragestellung für unangemessen gegenüber den Problemen halten.
Meine Damen und Herren, darf ich anregen, weitere Zusatzfragen nicht mehr zu stellen. In der Zwischenzeit ist von der Fraktion der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde beantragt worden; der ganze Komplex wird also anschließend noch einmal aufgenommen. Sind Sie damit einverstanden, Herr Kollege Benda?
— Einverstanden.
Ich gebe nun, nachdem diese drei Fragen beantwortet worden sind, dem Abgeordneten Zoglmann das Wort zu einer persönlichen Erklärung, um die er in diesem Zusammenhang gebeten hat.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion, Herr Kollege Schmidt , hat den Herrn Minister Ehmke gefragt, ob ihm bekannt sei, daß ich mit dem Vorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei, Herrn von Thadden, Verhandlungen geführt habe. Ich erkläre hiermit, daß ich mit Herrn von Thadden, den ich nicht kenne und mit dem ich persönlich noch niemals ein Wort gesprochen habe, keinerlei Verhandlungen, weder direkt, noch indirekt, gepflogen habe und daß ich diese Frage hier als eine üble Verleumdung zurückweise.
Herr Abgeordneter Schmidt — —
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3987
Präsident von Hassel— Einen Augenblick, jetzt hat höchstens noch der Abgeordnete Schmidt das Wort zu einer persönlichen Erklärung. Er verzichtet darauf.
— Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, sich zu mäßigen.Zu einer persönlichen Erklärung hat doch der Herr Abgeordnete Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
— Herr Kollege Rasner, ich darf doch bitten, abzuwarten, was ich hier sagen möchte. — Ich habe die Frage gestellt — und möchte das hier wiederholen —, ob der Herr Bundesminister in der Lage ist, zu erklären, ob ein solches Gespräch stattgefunden haben soll. Ich bitte, darauf im Protokoll zu achten: „soll".
— Moment, meine Damen und Herren, ich habe gefragt „soll". Mir waren solche Gerüchte — —
— Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, lassen Sie mich doch einmal ausreden.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat Herr Abgeordneter Schmidt , und ich darf Sie bitten, ihn ausreden zu lassen.
Ich habe meine Frage mit „soll" geschlossen. Der Herr Staatsminister — Bundesminister hat seine Antwort —
— Entschuldigen Sie, es gibt ja auch Staatsminister in den Ländern. — Der Herr Bundesminister hat seine Antwort darauf beschränkt, mir den Rat zu geben — dafür bin ich ihm sehr dankbar —, Herrn Kollegen Zoglmann selbst zu fragen. Ich hatte die Absicht, Herrn Kollegen Zoglmann nach dieser Fragestunde entweder mündlich oder schriftlich danach zu fragen.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Zoglmann hat hier von dieser Stelle erklärt, daß das, was gerüchtweise vorhanden war, nicht stimmt. Ich nehme diese Erklärung des Kollegen Zolgmann als Antwort auf meine Frage zur Kenntnis. Sie haben dazu eine Aktuelle Stunde beantragt. Ich weiß nicht, ob in dieser Aktuellen Stunde zu diesen Dingen noch etwas gesagt werden wird. Ich nehme zur Kenntnis, daß der Herr Kollege Zoglmann — ich bin ihm dankbar dafür —
diese Frage hier öffentlich beantwortet hat. Ich
nehme das zur Kenntnis als Antwort auf meine
Frage, ob das stimmt, nicht daß es stimmt, sondern ob das stimmt.
— Herr Kollege Stoltenberg, wenn ich jetzt den Stil der letzten halben Stunde und diese verzweifelten Versuche sehe — —
Darf ich bitten, daß Sie den Abgeordneten Schmidt ausreden lassen!
— die verzweifelten Versuche, die zweifellos zwischen Ihnen bestehenden Spannungen, ob es so etwas an Verbindungen gibt oder nicht, abzuwehren, stimme ich völlig dem zu, was der Herr Bundesminister gesagt hat — ich war auch der Auffassung, daß mit diesen Fragen
Verzeihung, Herr Kollege Schmidt , das ist keine persönliche Erklärung mehr.
— Nur zur persönlichen Erklärung kann ich das Wort geben. Sonst hätte ich Ihnen das Wort nicht erteilt. Ich hatte gemeint, Sie nähmen nach der Erklärung von Herrn Abgeordneten Zoglmann zu einer persönlichen Erklärung das Wort. Wenn ich mich geirrt haben sollte, darf ich bitten, daß Sie vielleicht nachher in der Aktuellen Stunde nach einmal das Wort nehmen.Meine Damen und Herren, wir hätten noch eine Minute Zeit. Ich glaube, Sie stimmen mir darin zu, daß wir diesmal die Fragestunde mit 59 Minuten abschließen.Die Fraktion. der CDU/CSU hat eineAktuelle Stundebegehrt. Der Antrag wird von der Fraktion unterstützt. Ich darf die Kollegen auf die Bestimmungen zur Aktuellen Stunde aufmerksam machen; Sie finden sie in der Geschäftsordnung in der Anlage 3. Danach werden die Redezeiten der Regierungsvertreter nicht auf die 60 Minuten angerechnet. Sollte die Regierung in ihren Antworten mehr als 30 Minuten brauchen, werden 30 Minuten zugelegt. Jeder hat eine Redezeit von maximal fünf Minuten.Gemäß den Richtlinien hat zunächst die antragstellende Fraktion das Wort, und zwar der Abgeordnete Benda.
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3988 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie mir eben gesagt wurde, wird der Herr Bundeskanzler jeden Augenblick hier sein. Ich verzichte also darauf, den Umstand zu kommentieren, daß der Herr Bundeskanzler zur Minute noch nicht hier ist,
sondern beschränke mich auf die Feststellung, daß seine Anwesenheit wohl dringend notwendig ist.
— Ich habe es ja gesagt, Herr Kollege Wehner! — In der Tat läßt ja die Distanzierung von Kommuniqués der SPD, die Herr Kollege Ehmke amtlicherseits hier vorgenommen hat, den Eindruck aufkommen, daß wieder einmal die Informationen, die den Herrn Bundeskanzler zu seinen Äußerungen veranlaßt haben, von dem Herrn Kollegen Wischnewski stammen.
Es ist ja auch immerhin möglich, und man sollte es auch bis zum letzten Augenblick hoffen, daß, nachdem Herr Minister Ehmke unsere Fragen nicht hat beantworten können, der Herr Bundeskanzler selbst nun zu den Fragen Stellung nimmt und sie beantwortet. Die Fragestunde hat ja den Eindruck erweckt, daß wir vor einem ganz groß angelegten Angriff finsterer Mächte stehen, deren Wirken so geheim ist, daß auch die Bundesregierung selbst sie noch nicht so ganz kennt.
Meine Damen und Herren, das macht ja den Vorgang um so gefährlicher.
Der Anschlag ist ganz zweifellos groß angelegt. Das kann man daraus erkennen, daß die Vorläufer bereits in der Wahlnacht vor einem Jahr erkennbar waren, als das düstere Wort von der FDP als einer „alten Pendlerpartei" geprägt wurde.
Wie groß angelegt dieser Anschlag ist, kann man auch daraus erkennen, daß die Tarnung, deren sich damals die rechten außerparlamentarischen Kräfte bedienten, wohl nahezu perfekt war.
Es ist doch gut, daß der Bundeskanzler zur rechten Zeit und hoffentlich noch nicht zu spät das rechte Wort gefunden hat. Die Informationspolitik des Hauses Ahlers ist — um ein mittlerweile beliebtes Wort von Herrn Ahlers aufzugreifen — die Verschönerung der Wahrheit. Aber der Herr Bundeskanzler verschönert nicht; er sagt, wie es ist. Er sagt: „Feinde ringsum" nach der guten alten deutschen Art.
Ich möchte nun die Gelegenheit benutzen, um Ihnen, Herr Bundesminister Ehmke, das Recht zu
bestreiten - — aber er ist mittlerweile auch nicht mehr da.
Herr Bundesminister Ehmke ist anwesend, Herr Abgeordneter Benda.
Ich möchte Ihnen, Herr Bundesminister Ehmke, das Recht bestreiten, von der Regierungsbank aus die CDU/CSU für unfähig zu erklären — ich zitiere Sie —, das Parteiinteresse dem Staatswohl unterzuordnen. Ich finde, daß Ihnen eine solche Bemerkung ebensowenig zusteht
wie die von der Regierungsbank und damit amtlicherseits ausgesprochene Hoffnung, daß Arbeitnehmer in Zukunft die „Bild"-Zeitung und andere Presseerzeugnisse boykottieren wollen.
Der Professor der Rechte Herr Kollege Ehmke wird wohl in der Lage sein, zur Kenntnis zu nehmen, was der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht über derartige Aufrufe zum Boykott bestimmter Presseerzeugnisse vor einiger Zeit geäußert haben.
Meine Damen und Herren, es ist nicht Aufgabe der Opposition, zu beurteilen, ob die Regierungsparteien selbst eigentlich noch fähig sind, die Gründe zu erkennen, die sie in die Krise gestürzt haben, geschweige denn, ihnen wirksam entgegenzutreten.
Wer so redet wie der Bundeskanzler, beweist ein großes Maß an Nervosität, das verständlich ist, und auch an Unfähigkeit, die bestehenden Probleme zu meistern.
Wer die Situation im eigenen Lager so falsch einschätzt, wie es hier geschieht, wird kaum in der Lage sein, die Lage des ihm anvertrauten Landes zu meistern.
Wer das neue Deutschland schaffen will, muß ja deswegen noch nicht in die Tonart des „Neuen Deutschland" verfallen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3989
Ihre fünf Minuten laufen ab! Bitte, kommen Sie zum Schluß!
Noch zehn Sekunden! Aber die Zeit -- —
Nein, kommen Sie bitte zum Schluß! Die fünf Minuten sind abgelaufen.
Ich wäre längst am Ende, wenn sich die Herren Kollegen der SPD schneller beruhigen würden. Ich habe nur noch einen Satz.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Herr Abgeordneter Benda, Ihre Zeit ist abgelaufen. Ich darf Sie bitten!
Ich mache darauf aufmerksam — Herr Abgeordneter Wehner, das hatte ich im Augenblick übersehen —, daß Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde nicht zugelassen sind.
Herr Abgeordneter Benda, bitte noch einen Schlußsatz! Ich darf Sie bitten, Ihre Ausführungen zu beenden.
Ich komme zu meinem letzten Satz, sobald ich akustisch dazu in der Lage bin, ihn auszusprechen.
Meine Damen und Herren, in der deutschen Geschichte sind Dolchstoßlegenden nichts Neues.
— Sie werden dadurch weder sympathisch noch glaubwürdiger.
Wer hier den Dolch sieht und „Mord!" ruft, der beweist auch, wie sehr er getroffen ist.
Das Wort hat Herr Bundesminister Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will auf die zahlreichen Verdrehungen, die in der Darstellung des Kollegen Benda enthalten waren, nicht im einzelnen eingehen. Ich stelle nur zweierlei fest.
Erstens. Die Opposition befindet sich in einem Zustand, in dem selbst so ruhige Kollegen wie Herr Benda zu solchen Verdrehungen Zuflucht nehmen müssen.
Zweitens. Herr Kollege Barzel, ich habe folgenden Eindruck gewonnen — und diesen Eindruck möchte ich auch hier vor der Öffentlichkeit wiedergeben —: Das, was hier heute morgen von Ihnen geboten wurde, stärkt meinen Eindruck, daß Sie offenbar der Meinung sind, wenn Sie in diesem Lande nicht regieren, können der Staat und seine Institutionen ruhig kaputtgehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Versuch — —
Herr Professor Schäfer, ich mache darauf aufmerksam, daß der Präsident die Reihenfolge der Redner bestimmt
und daß nach dem Prinzip von Rede und Gegenrede, von Meinung und Gegenmeinung nach einer Äußerung der Regierung der anderen Seite das Wort gegeben werden muß. Bitte lesen Sie das nach. Ich bedaure, daß Sie hier die Geschäftsführung des Präsidenten kritisieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der letzte Satz des Herrn Bundesministers beim Bundeskanzler unterstellt, daß
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3990 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Barzeles der stärksten Franktion dieses Hauses nicht um das Wohl dieses Staates gehe.
Dies, Herr Kollege Ehmke, ist selbst unter dem Niveau dessen, was Sie hier heute morgen geboten haben.
Meine Damen und Herren, diese Fragen und diese Aktuelle Stunde ergaben sich aus dem unglaublichen Wort des Kanzlers, der hier heute morgen hat kneifen lassen.
Das Wort „Anschlag", Herr Bundeskanzler, ist ein Wort aus einer bösen Ecke,
ein Wort aus der Ecke — —
— Herr Kollege Wehner, wir haben in dieser Debatte und bisher darauf verzichtet, so zu handeln wie Sie. Herr Ehmke, Ihr Kanzler und auch Sie versuchen in Ihren Erklärungen nämlich seit geraumer Zeit, uns in eine Ecke zu drängen, in die wir nicht gehören.
Nur, nehmen Sie zur Kenntnis: Wir werden hier dann über das diskutieren, Herr Kollege Wehner, was Sie über den Abbau von „Vorurteilen" von Ihnen im Hinblick auf die Kommunisten gesagt ha) ben. Wir haben Urteile und keine „Vorurteile" über die Kommunisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, woher Sie, Herr Barzel, den Mut nehmen, hier erneut als Schulmeister der Nation aufzutreten.
An Arroganz hat es Ihnen aber niemals gefehlt. Das muß man ja nun feststellen.
Ich möchte nur zwei Punkte in diese Debatte einführen. Erstens nenne ich die Aussage von Herrn Stücklen, daß der Bundeskanzler sich zunehmend eines Stiles bediene, der an Rotwelsch erinnere; das ist ein Vokabular, ,das im „,Stürmer" und in den Organen der NS-Zeit gestanden hat. Wenn das schon ein so vernünftiger Mann wie Herr Stücklen sagt, in welchem Zustand muß sich dann diese Opposition befinden!
Wenn sich Herr Benda hier dazu hat hinreißen lassen, zwischen dem „Neuen Deutschland" und dem neuen Deutschland, das wir schaffen wollen, eine Verbindung zu ziehen, so ist das eine grobe
Unverschämtheit, die deutlich macht, wes Geistes Kind Sie sind.
Das deutsche Volk verlangt von Ihnen politische Alternativen, keine Verbalinjurien. Wir weisen diese zurück!
Aber augenscheinlich sind Sie ja weder in der Ostpolitik noch im Bereich der Wirtschaftspolitik, wie die Debatte in der letzten Woche gezeigt hat, zu solchen Alternativen in der Lage, sondern Sie suchen hier systematisch den Krawall.
Sie wollen dieses Parlament funktionsunfähig machen. Sie begreifen allerdings nicht, daß Sie damit auch der Demokratie die Basis entziehen.
Wir stellen fest, daß diese Aktuelle Stunde die Bilanz ist, die die Opposition nach einem Jahr ihrer Tätigkeit zieht:
Krawall, Beschuldigungen, Angriffe, aber keine sachliche Arbeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Breidbach.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So wie man in den Wald hineinruft, schallt es zurück, sagt ein altes Sprichwort,
das wir uns hier gegenseitig schon sehr oft vorgehalten haben und das sich offensichtlich immer wieder bewahrheitet.
Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung! Der Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist die Mitteilung für die Presse im SPD-Pressedienst, in ,der es heißt: „Der Vorsitzende der SPD, Bundeskanzler Willy Brandt, erklärte heute auf einer Parteivorstandssitzung zur aktuellen Situation" , und dann kommen die Erklärungen, die Gegenstand der Auseinandersetzung in dieser Debatte sind, über einen Anschlag irgendwelcher ominöser rechtsgerichteter Kreise. Man hat nach den Äußerungen von Herrn Ehmke hier fast die Auffassung gewonnen, daß es sich um eine Geisterarmee handele, die irgendwo in der Öffentlichkeit existiere.Gestatten Sie mir eine zweite Bemerkung. Lesen Sie die Tagespresse von heute! Es sind doch nicht Journalisten, die uns näherstehen als Ihnen, meine
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3991
Breidbachsehr verehrten Damen und Herren, die Ihnen empfehlen, Ihren Bundeskanzler zu bitten, in seiner Wortwahl vorsichtiger zu sein. Darauf kommt es doch an.
Ich habe schon vorhin in der Fragestunde klarzumachen versucht, daß man sich über die Einschätzung einer politischen Situation jederzeit unterhalten und darüber diskutieren kann. Wenn der Bundeskanzler die Situation so ernst einschätzt, daß er annehmen muß, daß ein Anschlag auf ihn, d. h. auf eine frei gewählte Regierung, geplant ist, dann ist es Aufgabe des gesamten Parlaments, solche Anschläge abzuwehren, und Pflicht der Bundesregierung, das gesamte Parlament eingehend über die Gruppen, die die Anschläge planen, zu informieren, damit wir gemeinsam handeln können.
Und nun, Herr Kollege Apel, zu einigen Bemerkungen, die Sie hier gemacht haben; wissen Sie: „Schulmeister der Nation" ; „an Arroganz hat es Ihnen nie gefehlt" ; Herr Wehner heute morgen: „christliches Kabarett";
im letzten steigert er sich auch noch dazu, zu behaupten, wir würden uns nicht waschen, weil wir nicht sauber seien;
man könnte das fortsetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren: „Madigmacher-Union", „das Spiel mit der Angst",
„Inflationsangst" und „Verbrecher", Herr Kollege Wehner,
und „die, die diese beiden Weltkriege und die darauf folgenden Inflationen zu verantworten haben". Ich rufe das, was hier in der Vergangenheit eine Rolle gespielt hat, noch einmal in unser aller Erinnerung, Herr Kollege Wehner, damit nicht der Eindruck entsteht, als seien Sie die braven Leute dieses Staates, die ein neues Deutschland schaffen wollen — die Vorzeichen haben wir bisher nur auf der Grundlage der Situation erkennen können, die diese Regierung bietet --, und die anderen seien die Destruktiven. Wir haben zwanzig Jahre lang in diesem Staat ohne Formulierungen, wie sie in der letzten Zeit von dieser Ecke gekommen sind, so viel geleistet;
das müssen Sie mal erst nachmachen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
und dann können Sie sich hier oben hinstellen und der CDU vorwerfen, sie mache Krawall. Wir wollen keinen Krawall, sondern wir bieten unsere Mitarbeit an konkreten Punkten zur Gestaltung diesesStaates permanent an. Nur schlagen Sie die Hand aus, weil Sie mit solchen Äußerungen, wie wir sie laufend entgegennehmen müssen, den Versuch betreiben, hier eine Konfrontation um jeden Preis zum Schaden derjenigen, die wir alle zu vertreten haben, zu provozieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es scheint das Schicksal dieses Parlaments zu sein, daß, wenn man sich über wirkliche Lebensfragen der Nation unterhält, die Wogen der Erregung hochgehen. Und wenn man hier von „falschen Ecken" spricht, so fürchte ich, daß, wenn wir diesen Stil fortsetzen, unser ganzes Parlament in der falschen Ecke steht und nicht bloß eine Partei.
Das vorausgeschickt, meine Damen und Herren.Die Hintergründe, die den Herrn Bundeskanzler wahrscheinlich veranlaßt haben, seine warnende Mahnung an diese Nation zu richten, sind in der Tat sehr ernst. Ich rechte nicht mit irgendwelchen Worten; ich bin nämlich kein Schulmeister. Aber eines weiß ich: daß zwei deutsche Staaten in der Tat durch Anschläge der Rechten zugrunde gegangen sind.
Es geht genau darum, dies in gemeinsamer Anstrengung das dritte Mal zu vereiteln. Ich hoffe, daß es möglich sein wird, hier zu einer sehr sachlichen Auseinandersetzung zu kommen.Ich habe — der Herr Bundesminister hat zweimal darauf hingewiesen, und ich empfehle Ihnen, es nachzulesen — in der „Frankfurter Rundschau" sehr konkret einiges über in der Zukunft geplante Maßnahmen dargelegt und bin bereit, für jedes Wort, das darin steht, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Die Äußerungen, die dort stehen, sind in der Tat eine Basis der Auseinandersetzung.Allerdings tut es mir sehr leid, wenn dem Herrn Bundeskanzler heute Nervosität und Unfähigkeit vorgeworfen werden, diesen Staat zu führen.
Dieser Vorwurf, meine Damen und Herren, ist wahrhaft unter der Gürtellinie. Ich empfehle Ihnen, einmal ins Ausland zu gehen; dort ist seine Beurteilung anders.
Der Herr Bundeskanzler steht für diesen Staat wie wir alle, und jeder, der ihn oder einen von uns beschimpft, beschimpft uns alle und sich selbst.
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3992 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
BormLassen Sie mich zum Schluß etwas über außerparlamentarische Opposition sagen! Empfinden Sie das, was vor einigen Monaten auf dem Marktplatz in Bonn von den Vertriebenenverbänden verlautbart worden ist, etwa nicht als außerparlamentarische Opposition?
Empfinden Sie das, was im „Ostpreußen-Blatt" steht, wo zum Widerstand gegen die Regierung mit allen Mitteln aufgerufen wird, nicht als außerparlamentarische Opposition?
Da werden Exilregierungen von Provinzen gegründet, die uns jetzt nicht zur Verfügung stehen, um der Regierung Schwierigkeiten zu machen.
Lesen Sie die „Nationalzeitung", lesen Sie den „Bayern-Kurier", dann wissen Sie, was außerparlamentarische Opposition ist.Meine Bitte ist, sich von den Emotionen freizumachen, meine Damen und Herren.
Niemand wird Sie in die gleiche Ecke und auf die gleiche Bank mit der NPD setzen wollen. Aber dann sollte jeder von uns auch den Anschein vermeiden. Dann kommen wir weiter.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl ich zu Beginn dieser Aktuellen Stunde nicht dasein konnte, muß ich Ihnen nach dem, was ich davon mitbekommen habe, sagen: Mir ist es unerklärlich, wieso die Opposition sich durch das, was ich von dem Vorstand meiner Partei gesagt habe, so hat getroffen fühlen können, wie sie sich offensichtlich getroffen fühlt.
— Ich werde das gleich noch einmal darlegen.Zweitens. Als Bundeskanzler kann ich nur mit großer Besorgnis die Art zur Kenntnis nehmen, in der die Opposition glaubt, diese Auseinandersetzung führen zu müssen.
Drittens, damit es hier gar keine Mißverständnisse gibt: Ich stehe zu jedem Wort,
das ich in Zusammenfassung einer Diskussion meines Parteivorstandes gesagt habe und das herausgegeben worden ist, was aber viele ja gar nicht in seinem wirklichen Wortlaut gewürdigt haben.
Ich darf Ihnen deshalb noch einmal sagen, um was es tatsächlich geht. Es geht erstens um die Feststellung, gegen die keiner etwas wird vorbringen können, daß aus unserer Sicht das Regierungsbündnis SPD/FDP für die Dauer dieser Legislaturperiode gilt und die beiden Koalitionspartner unverändert entschlossen sind, die im Regierungsprogramm festgelegten innen- und außenpolitischen Aufgaben zu erfüllen.Zweitens handelt es sich um den ebenso nüchternen Hinweis darauf, daß sich das Kräfteverhältnis im Bundestag durch den Übertritt von drei FDP-Abgeordneten zur CDU/CSU in keiner Weise verändert hat; denn, so heißt es
— gut, die Feinheiten sind, das gebe ich zu, nicht genügend berücksichtigt,
aber der politische Sinn kommt klar genug zum Ausdruck —, diese Abgeordneten unterstützten schon bisher — wiederum aus unserer Sicht — die Regierung nicht, so daß die Koalition heute parlamentarisch weder stärker noch schwächer sei als bei der Wahl des Bundeskanzlers im Oktober des vergangenen Jahres.Drittens heißt es in dieser Verlautbarung meines Parteivorstands, daß der Vorsitzende der FDP recht habe, wenn er darauf hinweise, daß der Angriff auf seine Partei von einflußreichen Kräften außerhalb des Bundestages unterstützt werde.
Ich bin nicht der einzige hier im Saal, der Herrn Kollegen Scheel am Fernsehschirm gesehen und gehört hat. Ich weiß nicht, ob es am Sonnabendoder Sonntagabend gewesen ist; es war jedenfalls nach der Sitzung seines Parteivorstands. Herr Kollege Scheel hat über diese Vorstandssitzung berichtet — ich habe jetzt das Zitat nicht bei mir, aber, wie gesagt, ich bin nicht der einzige, der es gehört hat; Millionen haben es gehört — und aus seiner Sicht und Verantwortung gesagt, daß wirtschaftliche und publizistische Einflüsse hierbei eine Rolle spielten.Herr Kollege Scheel ist ein vornehmer Mann, aber es war deutlich genug, was er hiermit sagen wollte.
Dies ist also der Hinweis aus der Sicht des Vorstands meiner Partei, daß Herr Kollege Scheel unserer Meinung nach mit diesem vor der ganzen Öffentlichkeit gegebenen Hinweis recht hat.Dann wird hinzugefügt — das ist ein Satz, der zu sehr viel aufgeregter Diskussion Anlaß gegeben hat —,
daß es sich in der Tat um den großangelegten Versuch einer rechten außerparlamentarischen Opposition handele und so weiter.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3993
Bundeskanzler BrandtMeine Damen und Herren, keiner wird doch bestreiten wollen, daß es eine Opposition außerhalb des Parlaments, eine außerparlamentarische Opposition, auch rechts von der Mitte gibt. Es will doch wohl keiner bestreiten, daß sie sehr vielschichtig ist und daß sie übrigens keineswegs mit antiparlamentarischer Opposition gleichgesetzt werden kann. Auch solche Gruppen gibt es auf der Rechten.
Es gibt auch links — wenn man diese Terminologie benutzen will — außerparlamentarische Kräfte, die nicht antiparlamentarisch sind, und es gibt solche, die antiparlamentarisch sind. Das ist sehr vielschichtig; aber das gibt es doch.
Dann kommt der Punkt, daß man — wiederum aus der Sicht meines Vorstands — jene Gruppen in der CDU verstehen könne, die befürchteten, daß das politische-moralische Gewicht ihrer Partei durch die Überwechsler nicht verstärkt werde. Das ist ein anderer Komplex.Dann kommt der Schlußhinweis:Wenn einige Unionspolitiker jetzt Neuwahlen zum Bundestag fordern, so ist demgegenüber festzustellen: Jetzt geht es darum, den Anschlag auf die Bundesregierung abzuwehren und die Arbeit der Koalition unbeirrt fortzuführen.
— Nein, sondern Anschlag gleich Angriff mit anderen Mitteln als denen, die in der Verfassung vorgesehen sind,
und ich verstehe immer noch nicht, wieso Sie, Herr Kollege Barzel, sich damit identifizieren wollen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wörner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler wundert sich, warum die Opposition, wie er sich ausdrückt, sich so aufrege über die Presseverlautbarung des Vorstandes der SPD. Meine Damen und Herren, wenn — ich nehme an, daß es ernst gemeint war — der Bundeskanzler dieser Staates, und zwar gleich, in welcher Eigenschaft er sich nun ausdrückt, davon spricht — darauf allein richteten sich unsere Fragen, darauf allein auch bezieht sich diese Aktuelle Stunde, nicht auf die übrigen Punkte —, daß es sich um einen großangelegten Versuch einer rechten außerparlamentarischen Opposition handle, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen und die Entspannungspolitik zu stören, wenn er sich dann versteigt zu dem Vokabular des Anschlags,
ist es dann nicht die Pflicht der Opposition, wenn Sie so ernste Vorgänge wittern, Herr Bundeskanzler, zu fragen: Wer steckt denn dahinter? und Sie aufzufordern, die Karten auf den Tisch zu legen?
Was Sie, Herr Bundeskanzler, soeben dazu beigetragen haben, uns aufzuklären, läßt diesen großangelegten Versuch allerdings auf ein ganz geringes Maß zusammenschrumpfen. Fast bin ich versucht, zu fragen: Wo ist denn da auch nur ein Anschein für das, was Sie hier propagiert haben? Hätten Sie erlebt, was Ihr Bundesminister auf unsere Fragen als einzigen Beweis für diesen großangelegten Versuch einflußreicher Kräfte hier zitiert hat, nämlich eine Außerung eines Parlamentariers der Bundesrepublik Deutschland, dann weiß ich nicht, ob Sie den Mut gehabt hätten, in dieser Form hier auf die Bühne zu gehen.Und darf ich Ihnen etwas sagen, da Sie die Art der Auseinandersetzung beklagen? Herr Bundeskanzler, wenn Sie selbst in der Wahl Ihrer Worte gelegentlich nicht sehr wählerisch sind, dann dürfen Sie sich nicht wundern, daß der Stil auch dieses Hauses davon eben beeinflußt wird.
Meine Damen und Herren, daß die Opposition recht hatte und daß es ihre Pflicht war, diese Aktuelle Stunde zu beantragen und die Fragen einzubringen, das zeigt der Verlauf. Denn worum handelt es sich bei dieser Presseerklärung, bei der ganzen Situation, in der wir uns befinden? Es ist offenkundig, daß die Regierung vom eigenen Versagen dadurch ablenkt,
daß sie versucht, irgendwelche mysteriöse Gruppen von rechts aufzuzeigen, die diesen Staat in Gefahr bringen können.
Herr Bundeskanzler, dieser Versuch einer Dolchstoßlegende, daß man einer erfolgreichen Regierung auf dem Wege des Fortschritts leider Gottes in den Rücken gefallen sei, wird sicher mißlingen. Herr Apel hat gemeint, man müsse von dieser Opposition nicht verbale Opposition, sondern klare Alternativen verlangen.
Dem ist zu entgegnen: das deutsche Volk will nicht Ablenkungsmanöver, sondern eine Regierung, die handelt und die die Dinge in Deutschland vorwärtsbringt.
Was wir bis jetzt von Ihnen erlebt haben, ist jedenfalls nicht, daß Sie das Rad der Entwicklung in Deutschland spürbar weitergebracht hätten.
Vor allem von den Bemühungen um mehr Stabilität haben wir in diesem Hause noch nichts verspürt, Herr Bundeskanzler.
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3994 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. WörnerEs ist ein Versuch am untauglichen Objekt, jetzt die eigene Unfähigkeit dadurch zu kaschieren, daß man unbeweisbare Gerüchte in die Welt streut. Es gibt diesen Versuch, und zwar den großangelegten Versuch, rechter außerparlamentarischer Opposition nicht. Das haben Sie, das hat Ihr Bundesminister, das hat diese Fragestunde bewiesen. Was es gibt, ist eine Regierung, die nicht in der Lage ist, die Geschicke dieses Landes so zu führen, daß die Bürger draußen das Gefühl haben können: hier wird ordentlich regiert.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Professor Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin immer noch zutiefst bedrückt von der Rede, die Herr Benda hier gehalten hat.
Ich bin bedrückt, wenn ein früherer Innenminister glaubt, solche schwierigen verfassungsrechtlichen Sorgen in dieser Art wie Faxen behandeln zu können.
Ich bin bedrückt über das makabre Wortspiel, das er sich hier erlaubt hat und das ich für meine Fraktion noch einmal energisch zurückweise.
Herr Wörner hat Ihre Situation selbst geschildert, und dafür können wir ihm dankbar sein. Aus Hilfslosigkeit in der Finanzdebatte meinten Sie in der letzten Woche, einen Mißbilligungsantrag stellen zu können; aus Hilfslosigkeit in anderen politischen Dingen meinen Sie, hier nun Dinge hochspielen zu können. Dabei ist es tatsächlich so, wie Herr Wörner eingangs sagte: In welcher Funktion auch immer der Herr Bundeskanzler seine Sorge ausdrückt, dieses Haus muß das ernst nehmen. Meine Damen und Herren von der Opposition, es hätte Ihnen, genau Ihnen, gut angestanden, wenn Sie diese Sorgen ernst genommen hätten und ernst nehmen würden.
Denn nicht umsonst hat der Herr Alterspräsident Borm heute diesen Artikel geschrieben, zu dem er in jedem Wort steht, wie er ausdrücklich gesagt hat. Nicht umsonst hat er als Alterspräsident hier das ganze Haus gemahnt, diese Kräfte ernst zu nehmen und sich bewußt zu sein, daß wir einen gemeinsamen Kampf zu führen haben.
Wir haben einen gemeinsamen Kampf zu führen. Aber wenn man die Fragestunde heute morgen und wenn man die Ausführungen Ihrer Redner bis jetzt gehört hat, hat man die ernste Sorge, daß Sie entweder die Gefahr nicht erkennen oder daß Sie nahe der Gefahr sind, sich mit Kräften zu identifizieren, mit denen Sie sich nicht identifizieren dürfen,
weil es sonst zum Schaden des ganzen Staates wäre.
Meine Damen und Herren, verfolgen Sie die Fragen, die Herr Kollege Borm aufgeworfen hat, und Sie werden feststellen, daß er hier sachliche Dinge ausgebreitet hat.
— Er gehört aber nicht zu Ihnen.
— Vielleicht haben Sie seinen Artikel nicht einmal gelesen. — Offensichtlich!
Für uns Sozialdemokraten gilt dieser Staat als Hort der Freiheit, den wir verteidigen. Für uns Sozialdemokraten ist oberstes Ziel, daß wir diese freiheitliche Demokratie gegen jeden Ansatz verteidigen, auch wenn Sie in völliger Verkennung der Situation bereit sind, jene Kräfte zu unterstützen und hier zu verteidigen.
Das Wort hat der Abgeordnete Katzer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie verstünden nicht, warum sich die Opposition so getroffen fühle. Vielleicht darf ich eine Bemerkung machen, die für Sie ein größeres Verständnis des gesamten Vorganges bringen könnte. An dem gleichen Tage, an dem Sie Ihre Bielefelder Behauptung zurückgenommen haben, hat es ein Interview des Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion im Hessischen Rundfunk gegeben, nämlich am 10. Oktober 1970, 18.05 Uhr. Dort wird der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion von dem Reporter gefragt: „Nun, in diesem Punkt" — eben der Vertretung der Arbeitnehmerinteressen —, „Herr Wehner, ist ja sicher doch der Koalitionspartner so etwas wie eine Bremse. Der Entwurf z. B. für ein neues Betriebsverfassungsgesetz, der jetzt in den Fraktionen erörtert wird, räumt zwar den Lohnabhängigen mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz ein, vermeidet aber doch so gut wie jeden Schritt hin zur qualifizierten Mitbestimmung im Betrieb." Antwort: „Das haben wir ja auch nie gesagt. Entschuldigen Sie mal! Wir sind doch keine Betrüger. Wir heißen doch nicht Katzer.
Wir spielen und gaunern doch nicht Sachen, die in Wirklichkeit zur Zeit nicht zu machen sind."
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3995
KatzerIch bitte um Entschuldigung, Herr Bundeskanzler. Jeder hier im Hohen Hause kennt mich. Aber begreifen Sie vielleicht die Erregtheit dieser Fraktion, nachdem seit Wochen kein Tag vergangen ist, an dem nicht solche Beleidigungen gegen uns ausgestreut werden?
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Jung.
— Ich darf Sie bitten, weiterhin Ruhe zu bewahren.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte auf die kurze Frage zurückkommen, die Herr Kollege Wörner gestellt hat, was und wer denn nun dahinterstecke. Meine Damen und Herren, Sie dürfen sich doch nicht darüber wundern, daß Sie in die Nähe von irgend jemandem oder irgend etwas gerückt werden, wenn feststeht, daß die Kräfte, die z. B. Herr Kollege Ehmke heute erwähnte,
Kräfte, die in dem genannten Schreiben angesprochen wurden, nämlich die NPD, Vertriebenenfunktionäre
und NLA-Leute, zu einem rechten Wahlbündnis zusammengeführt werden sollten. Eine solche Aufforderung wird draußen von Leuten vertreten, die im letzten Bundestagswahlkampf eindeutig für die NPD und gegen die Bundesregierung, die Sie gestellt haben, polemisiert haben.
Sie dürfen sich doch nicht wundern, wenn sich also hier rechtsradikale, außerparlamentarische Agitatoren finden, die dieser Aufforderung schriftlich und mündlich nachkommen.
— Herr Kollege Stoltenberg, Zwischenfragen sind jetzt nicht zugelassen. Ich würde mich aber gern einmal mit Ihnen darüber unterhalten. Dort wird ausdrücklich dazu aufgefordert, diese Leute zu einem solchen Wahlbündnis zusammenzuführen.
Meine Damen und Herren, ich darf das noch ein wenig präzisieren. Am 4. September hat in Frankfurt eine Sitzung stattgefunden, über die ein Wortprotokoll vorliegt. Dabei wurde Herr Hauser, der ebenfalls einen solchen NLA-Auftrag hatte, gefragt: „Haben Sie Kontakte mit der NPD?" — Antwort von Herrn Hauser wörtlich: „Ja, aber nur mit einigen Teilen." — Frage: „Mit welchen?" — Hauser: „Nicht mit Herrn von Thadden; die stecken ja mitten im Wahlkampf. Im nächsten Jahr wird das wahrscheinlich anders aussehen." — Frage: „Halten Sie Kontakte — — "
— Entschuldigen Sie, Herr Leicht! Sie kennen doch Herrn Hauser, den NLA-Beauftragten, den Mann vom Deutschland-Archiv. Oder muß ich diese Bildungslücke bei Ihnen unterstellen?
— Herr Leicht kennt ihn, weil Herr Hauser vor einiger Zeit in unserem Gebiet aufgetreten ist.
— Ich muß mich an meine Zeit halten. Herr Hauser hat erklärt, daß er mit Herrn Thielen,
dem früheren NPD-Vorsitzenden, Kontakte gehabt. habe. Daß dies dem NLA-Vorsitzenden Herrn Zoglmann bekannt sei, steht ebenfalls hier. Ich werde es Ihnen, wenn Sie es wünschen, wörtlich vorlesen. Ich glaube aber, die Zeit reicht nicht dazu.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen sich nicht wundern, wenn Sie diese Leute dann an die Brust nehmen,
daß andere dann meinen, daß Sie mit denen etwas hätten.
Herr Kollege Stücklen, ich schätze Sie sehr. Aber mir wurde bekannt, daß Sie in Merkendorf in Mittelfranken vor einiger Zeit gesagt hätten, die NPD sei Ihnen am verlängerten Rückgrat lieber als die FDP.
Dann muß man sich eben auch in Ihren Reihen hüten, solche Ausdrücke zu gebrauchen, damit man nicht in die Nähe derer gerückt wird, von denen wir uns alle hier in diesem Hause distanzieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Stücklen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gleich Herrn Jung
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3996 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Stücklenrichtigstellen. Ich habe in Merkendorf gesprochen, und in Bayern pflegt man sich etwas bildlich-klar auszudrücken.
Ich habe — und hier kam ein Versprecher, den ich unmittelbar danach, unmittelbar, also eine Sekunde danach, korrigiert habe — gesagt: Die FDP ist mir im verlängerten Rückgrat — verstehen Sie?
noch lieber als die NPD im Kopf — nicht umgekehrt, Herr Jung! Und wenn Sie das hier so aufgreifen, ist das eine der üblen Verleumdungen,
— eine der üblen Verleumdungen, die in diesem Parlament nicht vorkommen dürften.
Nun, Herr Bundeskanzler, die Reaktion — meine Presseverlautbarung von gestern — enthält die aufgestaute Enttäuschung über das Fehlen der Bemühungen innerhalb der Parteien, von Person zu Person jede diffamierende Äußerung zu vermeiden.
Sie haben, Herr Bundeskanzler — und zwar Sie persönlich —,
und eine ganze Reihe Ihrer politischen Freunde haben seit Monaten versucht, die CSU in die nationalistische Ecke hineinzudrängen, sie zu diffamieren,
— sie zu diffamieren! In bewußter Weise haben Sie das wiederholt versucht!
Und dagegen wehren wir uns!
Wenn Sie diesen Kampf haben wollen, Herr Bundeskanzler, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir in kürzester Zeit in Deutschland wieder die Verhältnisse von Weimar, die Verhältnisse vom Ende der 20er Jahre haben.
Sie werden mir bestätigen müssen, daß ich immerhin den ernsthaften Versuch unternommen habe, diese persönlichen Diffamierungen der Vergangenheit angehören zu lassen. Aber dann kommt Ihr Sündenregister, Herr Bundeskanzler, und das von Ihnen, Herr Kollege Wehner. Da kommt dann die Bielefelder Rede von wilden Streiks, dann wird verleumdet, dann wird von Verbrechern gesprochen, dann von Volksverhetzung, und dann wird noch— und das habe ich ebenfalls bedauert — von dem von mir geschätzten Finanzminister von der geistigen Verwandtschaft der CDU/CSU zum Nationalsozialismus — und noch zu anderen, in die Kaiserzeit zurückreichenden Dingen — geredet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das sind die Ursachen dafür, daß wir hier so hart reagieren müssen: wir wollen nicht, daß diese Demokratie durch unser eigenes Verschulden wieder in die Situation von Weimar zurückfällt.
Die rechtsreaktionären Kräfte interessieren uns nicht, meine Damen und Herren.
— Herr Schäfer, — —
Das Wort hat Herr Stücklen!
Ich darf nur feststellen- und Sie haben sicher auch meine Parteitagsredevon 1969 gelesen — —
- Ich bedaure das. Dann holen Sie es nach. Das ist ja sehr interessant. Sie lesen ja sonst auch alles, was Ihnen paßt.
- Ja, was Ihnen paßt! Nur das, was ihm paßt, liest er!
Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben uns eindeutig von den rechtsradikalen Kräften distanziert. Wir werden das auch in Zukunft tun,
— auch in Zukunft tun!
Wir werden uns aber nicht das Recht nehmen lassen, alle legalen Mittel auf demokratische Weise anzuwenden, um diese Regierung,
die wir für Deutschland nicht für gut halten, zu stürzen. Das ist die Aufgabe der Opposition!
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3997
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zander.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von den Sprechern der Opposition ist wiederholt behauptet worden, es würde versucht, die CDU/CSU in eine Ecke zu stellen, in eine nationalistische Ecke. Da stelle ich mir allerdings die Frage, wer denn in diesem Hause das Kunststück fertigzubringen vermag, die größte Opposition, die stärkste Fraktion, die es je gab, in eine Ecke zu drängen, in die sie nicht selbst hinein will.
Das müßte allerdings nach Ihrem Selbstverständnis ein Künstler sein.
Der Herr Kollege Breidbach hat hier davon gesprochen, es würde Krawall gesucht. In der Tat, dieser Eindruck drängt sich auf. Es ist ganz sicher offensichtlich für jeden Zuhörer, wer diesen Krawall sucht.
Sie benutzen jede Gelegenheit, mimosenhaft jeden Vorwand, um von der Sache abzulenken.
Ganz offensichtlich dient das, was Sie jetzt hier veranstalten, auch wieder dem Zweck, von der wichtigen Bildungsdebatte, die dieses Haus eigentlich sachlich beschäftigen sollte, abzulenken.
Der Herr Kollege Wörner hat ganz offensichtlich ein Eigentor geschossen, als er davon sprach, man streue Gerüchte. Es ist doch wohl ganz offensichtlich in. den letzten Wochen, daß eine derartige Vielzahl von Gerüchten aus Ihrer Fraktion an die Öffentlichkeit dringt, seien es Gerüchte über bevorstehende Übertritte, seien. es Gerüchte über eine sich wieder abzeichnende Große Koalition und vieles andere mehr. Die Gerüchteküche dieses Hauses ist die CDU/CSU-Fraktion.
— In der Tat!
Meine Damen und Herren, um was geht es in dieser Sache, über die wir heute reden und die Sie hier zur Diskussion gestellt haben? In den letzten Jahren haben sich die politischen Parteien dieses Hauses zunehmend zu Volksparteien entwickelt. Es ist infolgedessen ganz selbstverständlich, daß im Laufe eines solchen Prozesses sowohl rechts als auch links vom parlamentarischen Lager außerparlamentarische Opposition anwächst. Aus diesem Tatbestand stellt sich für die politischen Parteien das Problem der Abgrenzung sowohl nach der rechten als auch nach der linken Seite.
Für Bundesregierung und Oppositionsfraktion dieses
Parlaments aber stellt sich nach meiner Überzeugung die Frage anders. Wer Opposition mit Obstruktion verwechselt, erhält natürlich den Beifall der rechten APO.
Sie müssen sich fragen lassen, ob dieser Stil, den Sie hier praktizieren, nicht einerseits zum Anwachsen oder aber auch mindestens nur zur schärferen Artikulierung der rechten APO beiträgt.
Sie müssen sich fragen lassen, wo die Grenze zwischen Ihrer Rolle nicht so sehr als Partei, mindestens aber als Opposition in diesem Hause, und rechten Kräften verläuft. Sie müssen sich anrechnen lassen den „Bayernkurier", Sie müssen sich anrechnen lassen Ihr Verhalten in der Bundesversammlung vom 5. März des vergangenen Jahres,
wo Sie offen in Stimmgemeinschaft standen. Sie müssen sich sagen lassen, daß man ganz offenbar in Zukunft hier in diesem Hause eines Tages von der Fraktion der CDU, CSU und NLA reden kann. Sie müssen sich anrechnen lassen, was sich alles tummelt in den Freundeskreisen der CSU, hier z. B. der — —
Sie müssen sich anrechnen lassen, was sich in diesen Kreisen tummelt.
Davon müssen Sie sich entweder abgrenzen, oder Sie müssen es sich anrechnen lassen. Grenzen Sie sich doch ob von Professor Rubin, der den Bonner Staat als eine weichgepolsterte Gummizelle bezeichnete, der ein Viertes Reich propagierte, der wörtlich schrieb:
Ohne die lähmende Furcht vor den Methoden des Kommunismus wäre diese sogenannte Revolution kaum so ruhig verlaufen wie der Wechsel eines Vereinsvorstandes.
Und das über die Machtübernahme der Nationalsozialisten! Entweder grenzen Sie sich deutlich ab, oder Sie müssen sich das alles hier anrechnen lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zander, diese Rede, die Sie eben hier gehalten haben — ich weiß nicht, ob es eine Jungfernrede war —, hat eine Fülle — —
— dann nur wäre es zu verzeihen, wenn es eineJungfernrede gewesen wäre —; sie hat aber eine
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Dr. Marx
Fülle — ich muß es sagen, Herr Präsident — von so üblen Unterstellungen gegen die Fraktion der CDU/CSU gebracht — —
— Herr Wehner, wenn Sie glauben, Sie können weiterhin als Mustermann der Demokratie den Kaschemmenton, den Sie oft anwenden, wieder hier hereinbringen, dann muß man Ihnen allerdings antworten, daß die Art, wie Sie draußen in der Öffentlichkeit und hier mit uns diskutieren zu können glauben, jene Art ist, die tatsächlich an vergangene Zeiten erinnert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was war der Ausgangspunkt der Fragen zu diesem Problem und der Aktuellen Stunde? Die Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SPD. Der Herr Bundeskanzler hat hier einige Erläuterungen gegeben, die ihn in der Rolle des sehr behutsam formulierenden Staatsmannes zeigten. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie, in der gleichen Person, haben angeheizt und haben als Parteivorsitzender Argumente und Formulierungen gebraucht, die mit Recht die CDU/CSU-Fraktion aufrufen, zu fragen: Was ist denn da? Welche Kennt• nisse hat denn die Regierung? Wo ist denn dieses Rechtskartell? Wo ist denn diese rechte APO, die— wie jetzt gesagt worden ist — gerade zum entschlossenen Sprung und zum Sturm auf die Grund) festen der parlamentarischen Demokratie ansetzt?
— In meinen eigenen, oder meinen Sie den „Spiegel" für 1,50 DM?
— In meinem eigenen. Lieber Herr Raffert, dazu könnte man jetzt sehr viel sagen, aber dazu reicht die Zeit nicht. Ich werde es aber gern nachholen.Ich habe vielmehr zu Herrn Ehmke noch eine Bemerkung. Herr Ehmke, ich habe heute morgen hier angehört, wie Sie die Fragen abzumachen versuchten.
Ich muß Ihnen sagen — wenn man es liest, wird man es nicht so auffassen —, man sollte dies in eine Ton-Kassette tun und daraufschreiben: Beispiele für Schnoddrigkeit im Deutschen Bundestag.
Denn nur so, verehrter Herr Bundesminister, kann man die Art bezeichnen, wie Sie die Fragen hier abgetan haben.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung wegen dem machen, was hier gegen unseren Kollegen Benda gesagt worden ist. Ich zitiere noch einmal, was Herr Benda vorgetragen und was Sie so erregt hat. Ich zitiere es jetzt einmal ganz nüchtern.
— Herr Mattick, ich glaube, Sie haben es nicht richtig gehört. Er hat gesagt: Wer das neue Deutschland schaffen will, muß nicht in die Tonart des „Neuen Deutschland" verfallen.
Meine Damen und Herren, seit vielen Monaten merken wir, wie sich die kommunistische Propaganda aus Ostberlin und aus der Sowjetunion mehr und mehr von ihrer bisherigen Zielrichtung Bundesrepublik entfernt und gegen die CDU/CSU, gegen die Vertriebenenverbände, gegen die Bundeswehr und gegen das, was man die „Springer-Presse" nennt, konzentriert. Ich habe hier einen Artikel von Herrn Hermann vor mir liegen. Herr Hermann ist, wie Sie wissen, beim Institut für Gesellschaftswissenschaften der SED drüben in Ostberlin als Mitarbeiter.
-- Ich zitiere, was Sie besser lesen sollten, um zu wissen, wo für Sie offenbar manche Quelle verborgen ist. In der „Einheit", dem Zentralorgan der SED, wird im August dieses Jahres dargestellt, was dieses „Rechtskartell" sei, auf das man nun alle Mittel der politischen Auseinandersetzung konzentrieren müsse.
Da wird gefordert — ich zitiere das mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —:SED, SPD, die kommunistische Partei in Westdeutschland und alle friedliebenden und demokratischen Kräfte sollten sich gegen die Gefahr des Rechtsblocks von Strauß über Barzel bis Thadden und gegen die ganze militaristische und Revanchepolitik zusammenschließen.Hier ist in einem Satz umfaßt, was in der Propaganda, überbordend über die Grenze der Bundesrepublik, hereingetragen wird und bedauerlicherweise jetzt bis in die demokratischen Parteien hineinwirkt.
— Herr Apel, wenn Sie so erregt sind, dann schlage ich Ihnen vor, sich doch z. B. die sowjetische Wochenzeitschrift „Sa Rubeshom" vorzunehmen, und zwar vom September, wo die gleichen Dinge stehen. Sie kommen nicht darum herum — ich kenne den Witikobund nicht —, daß in dem gleichen Aufsatz, den ich eben zitierte, der ausdrückliche Hinweis darauf gegeben wird —
Herr Kollege Marx, Ihre Zeit ist abgelaufen. Bitte noch einen Satz, dann müssen Sie Schluß machen.
Herr Präsident, nur diesen Satz noch! Sie kommen nicht darum herum, daß in diesem Aufsatz der ausdrück-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3999
Dr. Marx
liche Hinweis darauf gegeben wird, daß es sich hierbei um eine für das Rechtskartell arbeitende Kaderorganisation handelt. Herr Bundesminister Ehmke, ich habe den Verdacht, daß Sie heute morgen
Ihr Zitat vorgelesen haben, weil Sie ähnlicher Auffassung sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier sind verschiedene Erklärungen für diese Aktuelle Stunde gegeben worden. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, Sie haben sich davon etwas versprochen.
Ich will zu dieser Aktuellen Stunde zwei eigene Fehleinschätzungen über dieses erste Jahr beitragen, das Sie hier zu demonstrieren versucht haben. Die erste ist die, daß die CDU/CSU durch die 1966 im Zwange der Not, hervorgerufen durch eine —Sie erinnern sich der Worte — „lange schwelende Krise", geschaffene Koalition mit der SPD zu einer Versachlichung des Verhältnisses zu den anderen demokratischen Parteien bewegt oder befähigt würde. Das war die erste meiner Fehleinschätzungen.
Die zweite ist die, daß die CDU/CSU, durch die Wahlen vom 28. September 1969 in die Opposition geschickt,
— sicher, durch die Wahlen! —
mit sich selbst ins reine oder doch wenigstens klar kommen würde und sich künftig als politische Partei und nicht als Union zur allmählichen Okkupation des Staates von innen verstehen und bewegen würde.
Das ist das zweite, was ich als Fehleinschätzung
über die Lehren, die die Opposition wie jede Partei
im Laufe von Jahren ziehen würde, zu sagen habe.
Dann ein Wort zum Abgeordneten Benda. Er hat sich heute hier benommen, als wäre er ein Verleumder. Denn daß er uns an Stelle des „Wir schaffen das m o d e r n e Deutschland" die Worte „n e u e Deutschland" unterstellt hat, hat er bewußt getan, um uns mit dem „Neuen Deutschland" der SED identifizieren zu können. Das ist Ihre Art der vorfabrizierten Schablonen.
Meine Damen und Herren, das ist alles vorausgestempelt, das ist das, worauf sich Ihr Fraktionsvorsitzender weiter aufschwingt, indem er die längst vorher gegen mich erhobene Behauptung und den Vorwurf wiederholt, wir seien dabei, Vorurteile gegen Kommunisten abzubauen. Lesen Sie das bitte nach, dann werden wir uns sachlich darüber ganz gut aussprechen können. Darauf aber sollte die Platte gebracht werden. Sie haben gesagt, Sie hätten Urteile über die Kommunisten — so wollen Sie das hier stanzen —; nun, die Herren Höcherl und andere, die sich in Polen und anderswo die Klinke einander aus der Hand nehmen, die verstehen dort gut zu antichambrieren, auch bei Kommunisten. Das werfen wir ihnen nur nicht vor.
Dann komme ich noch auf Herrn Katze r. Ich bedaure, wenn er sich gekränkt fühlt.
Ich hoffe, daß er den ganzen Text liest. — Sie haben doch das alle nicht gelesen. Regen Sie sich doch nicht vorher auf, meine Damen und Herren! Da steht nämlich einiges drin, woraus zu ersehen ist, daß ich ihn bedaure, weil er eine solche Rolle spielt, als ob er Arbeitnehmerflügel sei, es in Wirklichkeit aber nicht ist und erst in der Opposition lernt, daß er es sein möchte.
Wir wollen nur, daß er das nicht auf unsere Kosten tut. Er soll lernen, aber nicht auf unsere Kosten.
Wir haben das Stipendium nicht zu bezahlen. Das ist alles. Im übrigen: hier kann man über die Vorlagen abstimmen — das habe ich bei Herrn Katzer noch nie erlebt —, über Vorlagen, die so Arbeitnehmervorlagen sind, wie es die unseren sind.
Am Schluß, meine Damen und Herren, rechnen Sie diese für Sie mißglückte Stunde noch in das erste Jahr Ihrer Opposition, Sie sind nämlich obstruktiv und destruktiv, weil Sie alles, was Sie nicht selbst dirigieren und nicht selbst einheimsen, verderben und schlecht machen. Sie haben zwei weitere Oppositionsjahre vor sich. Über das dritte, was Sie noch vor sich haben, sage ich Ihnen gleich noch etwas. Das nächste Jahr und das übernächste Jahr werden Ihnen Gelegenheit geben, sich einzustellen, wenn Sie wollen auch — wir haben keine Angst — einzuschießen,
damit Sie dann in dem dritten noch verbleibenden Jahr, in dem Wahljahr, uns und den Wählern eine Alternative zu bieten haben. — Schönen Dank für diese Stunde!
Das Wort hat Herr Abgeordnete Mischnick.
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4000 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scheel ist mehrfach zitiert worden. Ich will wörtlich vortragen, was er gesagt hat. Er sagte wörtlich erstens:
... eine Kampagne, die nicht nur von den interessierten Parteien geführt wird, sondern auch von außerhalb, von starken Kräften unserer Gesellschaft. Aber ich bin davon überzeugt, daß diese Kampagne fehlschlagen wird. Ich habe schon einmal erlebt, 1956, daß mit ähnlichen Mitteln, die nicht immer zimperlich sind, versucht wird, den Liberalismus in Deutschland im politischen Raum zu zerstören.
Zweitens:
Diese Partei ist schon einmal damit fertig geworden, 1956, als man schon einmal den politischen Liberalismus aus dem Parteiengefüge in der Bundesrepublik ausschalten wollte. Und auch dieses Mal ist es ja nicht etwa von selbst gekommen, sondern es ist — um jetzt mal einen Begriff von Schiller zu wählen — eine konzertierte Aktion.
Wir wissen sehr genau aus der Zeit von 1956 und aus den letzten Wochen, wie man sich bemüht, über außerparlamentarische Kräfte Einfluß zu nehmen, und Sie wissen ganz genau, wie das im einzelnen geschehen ist. Wenn Sie sich aber jetzt hier, wie das geschehen ist, so aufspielen, als gäbe es bei der Opposition niemand, der da versucht, andere in die falsche Ecke zu drängen, dann darf ich nur zwei Tatbestände nennen.
Erster Tatbestand. Das Agrarreferat der CSU-Landesleitung in München schreibt unter dem 12. Oktober 1970 — ich zitiere —:
In der Tat ist es beklagenswert, daß sich ein ehemals liberaler Bayer dazu hergibt, als Handlanger einer eigentums- und bauernfeindlichen Inflationsregierung mit dem Anstrich der Treuherzigkeit ein Programm zu verkünden.
So die CSU zu Ertl.
Finden Sie das vielleicht anständig?!
Das ist ein typisches Beispiel der Diffamierung.
Lassen Sie mich zum zweiten in aller Ruhe folgendes sagen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn hier vom Ansehen des Hauses gesprochen wird, dann bedauere ich, jetzt doch einmal feststellen zu müssen, daß es vor einiger Zeit notwendig war, einen Brief zu schreiben, um auf die Dauer zu unterbinden, daß im „Bayernkurier" der Tatbestand, daß ich persönlich zur Beerdigung meines Vaters nach Dresden gefahren bin, ausgeschlachtet wurde, um mich mit kommunistischen Ideen in Verbindung zu bringen. Das war ein Tiefstand!
Wir haben lediglich noch zwei Minuten. Die letzte Wortmeldung kommt von Herrn Benda. Bitte, beschränken Sie sich auf zwei Minuten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wehner hat von zwei Fehleinschätzungen gesprochen. Ich will zum Abschluß von zwei anderen Fehleinschätzungen des Kollegen Wehner sprechen.
Sie haben, Herr Kollege Wehner, die Wahlen vor einem Jahr nicht gewonnen. Sie sind der Fehleinschätzung erlegen, Sie könnten zusammen mit dieser Pendlerpartei — das Wort kommt Ihnen ja wohl irgendwie bekannt vor — in diesem Hause eine Regierung bilden. Sie merken nunmehr, nach einem Jahr, daß das, was Sie sich vorgenommen haben, nicht geht.
Zu der zweiten Fehleinschätzung bekenne ich mich. Ich habe, Herr Bundeskanzler, gehofft, daß wir durch Ihr persönliches Auftreten vorhin eine Erläuterung der hier heute morgen eine Stunde lang diskutierten Behauptungen bekommen würden. Ich habe das Kommuniqué, das Ausgangspunkt dieser Fragen ist, noch einmal von Ihnen vorgelesen bekommen. Ich habe nur eine Interpretation des Wortes „Anschlag" bekommen. Ich zitiere Sie, Herr Bundeskanzler. Sie sagten, mit Anschlag seien Angriffe mit anderen als in der Verfassung vorgesehenen Mitteln gemeint. Wer das tut und wie das gemacht wird, habe ich weder von Ihnen noch von einem der anderen Herrn hier gehört.
Herr Bundeskanzler, lesen Sie bitte einmal nach, was Herr Minister Ehmke hier auf diese Fragen gesagt hat. Er hat zunächst nach einiger Mühe als einziges den Witiko-Bund produziert. Dann wurde ihm von dem Kollegen Ritz gesagt: Aber Herr Ertl geht doch immer dahin; so verfassungsfeindlich kann der nicht sein. Darauf hat Herr Ehmke gesagt: Ich meine natürlich die andere Hälfte des WitikoBundes, zu der Herr Ertl vielleicht nicht hingeht.
Das ist alles — und das ist weniger als gar nichts, Herr Bundeskanzler. Wer den Mund so vollnimmt wie der Bundeskanzler und Parteivorsitzende in seiner Erklärung im Kommuniqué der SPD vom 12. Oktober, muß wenigstens eine Behauptung vor diesem Hause auch verifizieren können.
Darauf warte ich zur Stunde immer noch. Wir haben bisher nichts Derartiges gehört.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4001
Präsident von HasselBevor wir zu Punkt 2 der Tagesordnung kommen, möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen. Wir behandeln zunächst sämtliche Tagesordnungspunkte bis einschließlich Punkt 27 a). Ein großer Teil der Punkte kann ohne jede Debatte abgehandelt werden; es werden nur kurze Erklärungen dazu abgegeben. Anschließend kommen wir dann zur Debatte über die Bildungspolitik. Es ist im Augenblick schwer zu übersehen, wann sie beginnt. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen? daß wir gemäß Beschluß des Ältestenrates zunächst die anderen Punkte erledigen.Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:Beratung der Sammelübersicht 9 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen— Drucksache VI/1219 —Beratung der Sammelübersicht 10 des Petitionsausschusses über Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bundestages zu Petitionen— Drucksache VI/1220 —Ich danke der Berichterstatterin für die Vorlage des Berichts. Das Wort wird nicht begehrt. — Ich stelle fest, daß wir zustimmend Kenntnis genommen haben.Dann rufe ich Punkt 3 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache VI/1010 —Es geht hier um den Tierschutz. Zu einer Erklärung hat der Abgeordnete Rollmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Jahren dringen die deutsche Öffentlichkeit und viele Kollegen aus diesem Hause auf die Verabschiedung eines modernen Tierschutzgesetzes, das an die Stelle des alten Tierschutzgesetzes aus dem Jahre 1933 treten soll. Zwei Entwürfe für ein neues Tierschutzgesetz, die in der 4. und 5. Legislaturperiode aus der Mitte des Hauses eingebracht worden sind, scheiterten an verfassungsrechtlichen Bedenken, an der fehlenden Zuständigkeit des Bundes für die Schaffung eines neuen. Tierschutzgesetzes.
Am Ende der letzten Legislaturperiode hat der Bundestag die Bundesregierung ersucht, sobald wie möglich den Entwurf eines Tierschutzgesetzes, und zwar unter Zugrundelegung einer umfassenden Bundeszuständigkeit für das Tierschutzwesen, vorzulegen. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU bedauert, daß die Bundesregierung diesen Entwurf eines neuen Tierschutzgesetzes heute noch nicht vorlegt. Wir erkennen aber an, daß die Bundesregierung mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes immerhin uni eine einwandfreie Zuständigkeit des Bundes auf diesem Sektor bemüht ist. Gegen diesen Entwurf sind, obwohl er eine Kompetenzerweiterung des Bundes zum Inhalt hat, erfreulicherweise keine Einwendungen von seiten des Bundesrates erhoben worden.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet eine baldige Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs durch den Deutschen Bundestag, wenn auch über Einzelheiten der Formulierung in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages noch gesprochen werden muß. So grundlegend dieser Entwurf auch ist, er ist nur der erste Schritt auf dem Wege zu dem neuen Tierschutzgesetz, auf das Millionen von Tierfreunden draußen im Lande warten. Sie dürfen wir in dieser Legislaturperiode nicht wieder enttäuschen.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet, daß auf diesen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes sehr bald der Regierungsentwurf für ein neues Tierschutzgesetz folgt und die Regierung somit dem Auftrage des Bundestages nachkommt. Das neue Tierschutzgesetz muß in dieser Legislaturperiode endlich verabschiedet werden. Das ist der Wille meiner Fraktion.
Das Wort hat der Abgeordnete Liedtke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion begrüßt es, daß die CDU/CSU ihre Skepsis gegenüber der Regierung im letzten Jahr im Bereich der Tierschutzgesetzgebung heute durch Herrn Rollmann zurückgenommen hat. Ich darf für meine Fraktion folgende kurze Erklärung abgeben.
Das Jahr 1970 ist vom Europarat zum Europäischen Naturschutzjahr proklamiert worden. Es ist ein guter Beitrag der Bundesrepublik, wenn sie durch Einfügung des Tierschutzes in den Art. 74 des Grundgesetzes ,die Basis für ein bundeseinheitliches Tierschutzrecht schafft.
Der Anstoß kommt vom Bundestag selbst. Da der Bundesrat seine Zustimmung erteilt hat, dürfte der Verwirklichung nun eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Wie wir alle wissen, sind die Bemühungen des 4. und des 5. Deutschen Bundestages an der Frage der Gesetzgebungskompetenz gescheitert.
Die vielen Proteste aus der Öffentlichkeit, die Herr Rollmann anklingen ließ, entspringen vielfach dem Gefühl — das ist positiv, Herr Rollmann —, das man mit dem Begriff Tierliebe umschreiben könnte.
Sosehr wir auch diese Tierschutzregelung anerkennen, nämlich den Schutz des einzelnen Tieres gegen brutale Quälereien und sinnlose Tötung, so sehr muß aber auch die nicht ins Auge fallende, längst keine Empörung mehr hervorrufende Behandlung von Tieren im Wirtschaftsleben im Gesetz geregelt werden. Ich meine die lautlose, fast perfektionistische Art von Quälerei bei manchen Formen der Intensivhaltung von Haustieren. Desgleichen
4002 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Liedtke
werden wir dem Transport bei der Gesetzgebung ein wachsames Auge widmen.
Nun sind bei der Behandlung der Tiere die Bayern gewißt nicht besser als die Westfalen oder die Niedersachsen. Was aber verboten ist und folglich bestraft wird, das stellt sich in München anders dar als in Düsseldorf oder in Hannover. Das dieser Grundgesetzänderung folgende Tierschutzgesetz wird, davon bin ich überzeugt, gegen Mißhandlungen aus Gleichgültigkeit, skrupelloser Geschäftstüchtigkeit oder primitiver Rohheit gleichermaßen energisch und bundeseinheitlich vorgehen.
Wir versuchen, die Umwelt, deren Denaturierung wir selbst verschuldet haben, wieder menschengerechter zu machen. Auch den Tieren haben wir diese technisierte Umwelt zudiktiert.
Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf der Regierung zur Änderung des Grundgesetzes ihre Zustimmung geben. Sie dankt den Tierschutzvereinen in der Bundesrepublik, die uns durch ihren Entwurf für ein einheitliches Bundestierschutzgesetz wertvolle Hilfe angedient haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Auch die Freien Demokraten begrüßen es, daß dieser Gesetzentwurf zur Lösung des früher acht Jahre lang unlösbar erscheinenden Problems, wie die Tiere in Bayern und in SchleswigHolstein gleichmäßig geschützt werden können, so überraschend — offensichtlich auch mit der Zustimmung des Bundesrates — eingebracht werden konnte. Am 2. Juli letzten Jahres haben Sie, Herr Rollmann, hier noch von einer unüberwindlichen Mauer gegen eine Erweiterung der Bundeskompetenz gesprochen, die Ihrer Ansicht nach bestand.
Ich freue mich jetzt in diesem Zusammenhang über zwei Dinge — das darf man vielleicht zur Überleitung anmerken —: daß sich nämlich ,das Klima des Hauses so abrupt gewendet hat und daß es unter der jetzigen Bundesregierung auch so abrupt möglich geworden ist, eine unüberwindliche Mauer in einer für uns alle gleichermaßen wichtigen Frage niederzulegen und damit etwas ausgesprochen Konstruktives zu tun; wie ich betonen möchte: zu meiner Freude unter Mitwirkung des ganzen Hauses etwas Konstruktives. Welch ein Gegensatz nach nur einer Viertelstunde!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.Es handelt sich um eine erste Beratung. Wir haben die Vorlage an ,die zuständigen Ausschüsse zu überweisen. Der Ältestenrat schlägt vor: Rechtsausschuß federführend, Innenausschuß und Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mitberatend. — Das Haus ist einverstanden.Ich rufe die Punkte 4 bis 6 und 9 bis 16 der Tagesordnung auf:4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Krankenpflegegesetzes— Drucksache VI/ 1165 -Der Entwurf soll an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit überwiesen werden.5. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozeßordnung— Drucksache VI/1167 —Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Rechtsausschuß vor.6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Oktober 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Spanischen Staates über die Erstattung der Aufwendungen für Sachleistungen der spanischen Träger, welche an die Familienangehörigen der Versicherten deutscher Krankenkassen und die Bezieher deutscher Renten, die im Hoheitsgebiet des Spanischen Staates wohnen, gewährt werden— Drucksache VI/1168 —Der Entwurf soll an den Ausschuß für Arbeit- und Sozialordnung — federführend — und an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit überwiesen werden.9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Erhebung einer besonderen Ausgleichsabgabe auf eingeführten Branntwein- Drucksache VI/1222 —Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft — federführend —, den Finanzausschuß und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. August 1963 zur Änderung des Abkommens vom 7. August 1958 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen sowie zu dem Ergänzungsabkommen vom 24. Januar 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Pakistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen— Drucksache V1/123811. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Revisionsprotokoll vom 23. März 1970 zu dem am 26. November 1964 in Bonn un-.Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4003
Vizepräsident Schmidterzeichneten Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungund zur Verhinderung der Steuerverkürzung— Drucksache VI/1239 —12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. November 1969 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat über die gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen— Drucksache VI/ 1240 —Die drei Vorlagen sollen an den Finanzausschuß überwiesen werden.12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vierten Protokoll vom 14. November 1967, zu dem Fünften Protokoll vom 19. November 1968 und zu dem Sechsten Protokoll vom 16. Dezember 1969 zur Verlängerung der Geltungsdauer der Erklärung vom 12. November 1959 über den vorläufigen Beitritt Tunesiens zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen— Drucksache VI/1241 —Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft.13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. September 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs der Niederlande über den Verzicht auf die in Artikel 14 Abs. 2 EWG-Verordnung Nr. 36/63 vorgesehene Erstattung von Aufwendungen für Sachleistungen, welche bei Krankheit an Rentenberechtigte, die ehemalige Grenzgänger oder Hinterbliebene eines Grenzgängers sind, sowie deren Familienangehörige gewährt wurden— Drucksache VI/1242 —Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Ausschuß für Arbeit- und Sozialordnung vor.14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ubereinkommen Nr. 122 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 9. Juli 1964 über die Beschäftigungspolitik— Drucksache VI/1243 —Der Entwurf soll an den Ausschuß für Arbeit- und Sozialordnung — federführend — sowie den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden.15. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Abkommen über den Internationalen Währungsfonds und über die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung vom 28. Juli 1952und des Gesetzes über das Europäische Währungsabkommen vom 26. März 1959— Drucksache VI/1245 —Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft - federführend —, den Haushaltsausschuß sowie den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit.Wird zu einem der Punkte das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ist das Haus mit den Überweisungsvorschlägen einverstanden? — Das ist der Fall; es ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines VerwaltungsverfahrensgesetzesDrucksache VI/1173 —Das Wort hat Herr Abgeordneter Schneider.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Entwurf liegt das Ergebnis vieljähriger Vorarbeiten zugrunde, die von Bundesinnenminister Schröder eingeleitet wurden und mit dem Bericht der Sachverständigenkommission im Bundesministerium des Innern im April 1960 einen ersten, regierungsinternen Abschluß gefunden haben. Die heutige Regierungsvorlage ist das Ende einer langen Reihe ministerieller Bemühungen; sie ist das Ergebnis wissenschaftlicher Expertisen und intensiver Beratungen des Bundes mit den Ländern. Sie setzt eine Zäsur in der deutschen Rechtsgeschichte.Zum ersten Mal wird es in Deutschland ein allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht geben. Für eine einheitliche, kodifizierte Ordnung der Verwaltungstätigkeit sprechen neben Gründen der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit gleichermaßen rechtspolitische und rechtsstaatliche Überlegungen und Forderungen.In erster Linie muß die Kodifikation eines allgemeinen deutschen Verwaltungsverfahrensrechts den Zielen der Rechtseinheit und der Rechtssicherheit dienen. Mehr denn je besteht die Notwendigkeit, ein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz zu schaffen, das den Erfordernissen der Verwaltungspraxis gerecht wird. Niemand kann bestreiten, daß die Verwaltungstätigkeit nicht nur in den öffentlichen Behörden, sondern auch im privatwirtschaftlichen Bereich stetig zunimmt, und zwar in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht.Die öffentliche Verwaltung des sozialen Rechtsstaates unterscheidet sich nach Auftrag, Struktur und Organisation wesentlich von den Prinzipien und Dienstpflichten des historisch und politisch überholten Obrigkeitsstaates. In dem Maße, in dem die Leistungsverwaltung wächst und nach Umfang und Intensität die Ordnungsverwaltung überflügelt, nimmt ihre allgemeine, soziale, wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung für den einzelnen Bürger zu. So ist es eine Absicht des Gesetzgebers, die er mit dem zur Beratung anstehenden Entwurf verfolgt, die
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4004 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Schneider
Tätigkeit der Behörden für den Bürger übersichtlicher und verständlicher zu machen. Der Staatsbürger soll in die Lage versetzt werden, im Verkehr mit den Behörden sein Recht sicherer zu suchen und schneller zu finden. Der Buchbinder Wanninger, eine in Bayern sehr bekannte Persönlichkeit, soll der Vergangenheit angehören.Die Rechtsstellung des Staatsbürgers wird durch die Vereinheitlichung und Kodifizierung des Verwaltungsverfahrensrechts gestärkt; sein Unbehagen an der Verwaltung soll damit abgebaut, sein Vertrauen in die Verwaltung soll gestärkt werden. Immer wieder auftretende Schwierigkeiten des Publikums im Verkehr mit den Behörden sollen vermieden werden. Dieses Anliegen ist um so dringlicher und verständlicher, als viele Differenzen mit Behörden nicht sachlicher, sondern nur verfahrensrechtlicher Natur sind.Der vorliegende Entwurf ist auch geeignet, das Unbehagen in der Verwaltung abzubauen. Das Verwaltungsverfahren bestimmt wesentlich Arbeitstechnik und rationelle Arbeitsweise der Behörden. Ärgerlicher Leerlauf, sachwidrige Verzögerungen, unnötige Entscheidungsverschleppungen und unökonomische Mehrgleisigkeiten und Gegenläufigkeiten können ausgeschaltet werden. Nicht zuletzt begünstigt ein einheitliches Verfahrensrecht eine zweckmäßige Organisation und funktionale Gliederung der Verwaltung.Der größte Vorteil ist wohl in der Tatsache zu erblicken, daß in Zukunft für sämtliche Verwaltungsebenen ein gleiches Verfahren sichergestellt wird. Die Typisierung und Standardisierung des Verfahrensrechts ist die wesentliche Voraussetzung einer automatisationsgerechten Gesetzgebung. Es ist sowohl im Interesse 'des Bundes als auch im Interesse der Länder gelegen, durch das Instrument eines einheitlichen Verfahrensrechts ein Höchstmaß an Rechtseinheit und Rechtssicherheit zu gewährleisten.Meine Damen und Herren, niemand braucht zu befürchten, daß grundsätzlich neue Verfahrensgrundsätze in die deutsche Verwaltungspraxis eingeführt werden sollen. Nach wie vor gilt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Die Wechselbeziehungen zwischen den öffentlichen Gebietskörperschaften und dem Individuum sollen so angelegt und rechtlich gesichert sein, daß ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit ungeachtet der Gemeinschaftsbezogenheit des einzelnen erhalten bleibt. Der einzelne Bürger soll nicht mehr auf ungeschriebene Rechtsgrundsätze verwiesen sein. Nicht mehr Rechtsprechung und Rechtslehre, sondern das Gesetz soll Auskunft darüber geben, welche Rechte der einzelne besitzt. Das Nachschlagen in dickleibigen Gesetzessammlungen nach speziellen Verfahrensregelungen soll damit in Zukunft unnötig sein.Der Bürger soll durch eindeutige und verwaltungsgerichtlich nachprüfbare Gesetzesnormen um sein Recht wissen und der öffentlichen Behörde unbefangen gegenübertreten.
Das Wort hat der Abgeordnete Bühling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich ist das Verwaltungsverfahren auf den ersten Blick eine der trockensten und kompliziertesten Materien, die die Gesetzgebung überhaupt kennt, aber sie ist trotzdem wichtiger, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Ich kann mich diesbezüglich weitgehend auf meinen Vorredner beziehen.Ein einheitliches und klares Verwaltungsverfahren soll drei Zwecken dienen. Erstens dient es dem Bürger, zweitens dient es der Rationalisierung der Verwaltung und drittens dient es der Übersichtlichkeit der Rechtsprechung. Nur diese bedeutsamen Ziele rechtfertigen überhaupt die umfangreiche Arbeit einer so umfassenden Kodifizierung, wie sie der Entwurf vorschlägt. Der Werdegang dieses Entwurfs ist schon im einzelnen dargelegt worden.Was hat der Bürger von diesem Verwaltungsverfahrensgesetz? Er kann beispielsweise in einem Gesetz nachlesen, was bisher in über 80 Gesetzen verstreut ist; er kann beispielsweise auf den ersten Blick sehen, wann er gehört werden muß, in welchen Fristen er welche Rechte geltend machen muß, wann und wo er Rechtsbehelfe einlegen kann, welche Akten und Unterlagen er einsehen kann, und er weiß schließlich, wann ein ihm gegenüber ergangener Verwaltungsakt zurückgenommen oder widerrufen werden darf. Bei der Unzahl der Berühungspunkte des Bürgers mit der Verwaltung sind das fast alltägliche Fragen, die für jedermann irgendwie bedeutsam werden können.Gewiß haben sich viele Landesgesetzgeber, Behörden und Gerichte schon um die eben erwähnten und ähnlichen Punkte bemüht, aber für den Betroffenen blieb immer die Zersplitterung der Materie in 80 Einzelgesetzen und auch in der Rechtsprechung zu diesen 80 Einzelgesetzen. Ich glaube, daß für den Bürger und auch für die Verwaltung und die Gerichte eine Vereinheitlichung heilsam ist. Es wird in Zukunft nicht mehr möglich und nötig sein, wegen ganz offenbarer gesetzlicher Lücken die höchsten Gerichte anrufen zu müssen. Selbst die z. B. millionenfach vorkommende Frage, ob und in welcher Beziehung ein Verwaltungsakt zu begründen sei, war bisher im Gesetz nicht geregelt und hat die Instanzen hinauf- und heruntergehen müssen. Schließlich bringt das Verwaltungsverfahrensgesetz auch — entweder direkt oder indirekt — eine weitreichende Vereinheitlichung des Verfahrens von Bundes- und Landesbehörden. Auch das dient vor allem den Betroffenen.Das Interesse des Bürgers im Umgang mit der Verwaltung geht vornehmlich dahin, daß die Rechte, die ihm das Grundgesetz gewährt, gerade im Alltag schnell und umfassend gewährt werden. Diesem Bestreben soll der vorliegende Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes Rechnung tragen.Wenn sich bei der Behandlung dieses Gesetzes ergeben sollte — das würde mich nicht überraschen —, daß der Teufel wieder im Detail sitzt
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4005
Bühlingoder viele Teufel in vielen Details unserer so weitverzweigten Verwaltung sitzen - in diesem Dikkicht können sich wirklich größere Scharen von Teufeln verstecken —, so glaube ich doch, daß es ein wahrhaft staatsbürgerliches Interesse ist, einmal ernsthaft und umfassend mit diesen Teufeln des Details zu ringen.Die SPD-Fraktion begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Die wesentlichen rechtlichen Punkte, die bei diesem Gesetz zu begrüßen sind, sind bereits von meinen Herren Vorrednern erwähnt worden. Wegen der notwendigen Zusammenarbeit mit allen Ländern handelt es sich sicherlich um ein Minimalprogramm, auf diesem Gebiet einen festen Rahmen für das Verwaltungshandeln zu schaffen. Aber das muß keineswegs ein Nachteil sein. Denn man könnte andererseits bei dem Versuch, erstmals das Verwaltungshandeln in dieser Weise zu kodifizieren und es nicht mehr wie in der Vergangenheit Rechtsprechung und Lehre zu überlassen, auch befürchten, daß eine wünschenswerte Flexibilität auf diesem Gebiet verlorengeht und ein starrer, ein womöglich auch noch zu eng gegriffener Rahmen die Verwaltung hindert, sich zeitgemäß weiterzuentwikkeln, sowie es die jeweilige Situation erfordert. Insofern scheint mir auch vom Inhalt her dieser Versuch sehr ausgewogen zu sein.
Auf einen Punkt möchte ich an dieser Stelle Ihre Aufmerksamkeit lenken. Wirksam und sinnvoll kann das jetzt im Entwurf vorliegende Gesetz nur werden, wenn es tatsächlich im Bund und in allen Ländern, so wie es ausgearbeitet worden ist, auch in Kraft tritt und zur Anwendung kommt. Die Basis dafür ist lediglich unser Vertrauen, daß die Länder auf Grund ihrer eigenen Kompetenz so verfahren werden. Damit sehe ich hier in einer keineswegs unwesentlichen Frage einen Prüfstein dafür, ob Mängel in der Kompetenzverteilung, die man hier vermuten könnte, durch das vernünftige Handeln von Bund und Ländern zu beseitigen sind und ob derartige Vereinbarungen so gut und soweit tragen, daß nicht an immer weiteren Punkten die Notwendigkeit auftaucht, zu prüfen, ob weitere Kompetenzverlagerungen auf den Bund notwendig werden. Ich glaube, das im weiteren Verlauf zu verfolgen, ist bei dieser Gelegenheit nicht unwichtig.
Keine weiteren Wortmeldungen zu Punkt 7.
Der Ältestenrat schlägt dem Hause vor, die Vorlage dem Innenausschuß als federführendem Ausschuß und dem Rechtsausschuß als mitberatendem Ausschuß zu überweisen. Ist das Haus einverstanden? -- Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes
— Drucksache .VI/1179 —
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dorn zur Begründung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anschläge ausländischer Terroristen auf Einrichtungen der zivilen Luftfahrt, auf Missionen und Handelsniederlassungen fremder Staaten sowie auf das Leben politischer Gegner im Bundesgebiet haben die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße auf die besonderen Sicherheitsprobleme hingewiesen, die mit dem Aufenthalt von mehr als zwei Millionen ausländischen Arbeitskräften in der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind.Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Die überwiegende Zahl der bei uns befindlichen Ausländer verhält sich untadelig. Sie achten unsere Gesetze und sind ein wertvoller Bestandteil unserer Gesellschaft. Unter den Ausländern gibt es jedoch einige — auch das ist unverkennbar —, einzelne Gruppen oder Einzelpersonen, die ihre Gastpflichten verletzen. Es gibt politisch radikale Ausländergruppen oder Einzeltäter, die ihre Ziele im Bundesgebiet mit Terror und Gewalt durchsetzen wollen. Dies kann nicht geduldet werden. Es ist notwendig, unter der großen. Menge der hier befindlichen Ausländer rechtzeitig diejenigen herauszufinden, die unsere Gesetze nicht achten, kriminell tätig sind oder politisch militante Bestrebungen verfolgen.Diesem Ziel dient der Ihnen nunmehr vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes, den die Bundesregierung dem Parlament zuleitet. Nach § 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. September 1950 sind die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder nur zuständig für die Sammlung und Auswertung von Nachrichten über verfassungsfeindliche Bestrebungen. Diese Zuständigkeitsregelung läßt es zweifelhaft erscheinen, ob auch Bestrebungen politisch militanter Ausländer im Bundesgebiet beobachtet werden können, die sich nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes und der Länder richten, die aber die innere Sicherheit oder auswärtige Belange der Bundesrepublik gefährden.Das Gesetz will diese Zweifel ausräumen. Nach der vorgesehenen Erweiterung soll es künftig zu den Aufgaben der Ämter für Verfassungsschutz auch gehören, Bestrebungen von Ausländern zu beobachten, die geeignet sind, die innere oder äußere Sicherheit oder auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen. Die intensive Beobachtung der politisch-kriminellen Tätigkeit von Ausländern und Ausländergruppen ist deshalb vordringlich. Insgesamt bestehen in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit rund 1000 politische Ausländervereinigungen, von denen 100 ihre politischen Ziele
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4006 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dornmit radikalen und teils gewaltsamen Mitteln verfolgen. Die Zahl der Mitglieder und Anhänger dieser radikalen Gruppen mit zum Teil offen anarchistischen, maoistischen und terroristischen Tendenzen wird auf etwa 50 000 Personen geschätzt.Da diese Gruppen fast ausschließlich im geheimen arbeiten, sind nur die Behörden für Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln in der Lage, terroristische und gewaltsame Bestrebungen von Ausländern so frühzeitig zu erkennen, daß sie noch rechtzeitig verhindert werden können.Das Änderungsgesetz stellt weiter klar, daß die Behörden für Verfassungsschutz befugt sind, die Aufgaben der Spionageabwehr wahrzunehmen. Es handelt sich hierbei um eine Klarstellung, da gelegentlich Zweifel aufgetaucht sind, ob auch die Ausspähung der Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik durch Nachrichtendienste fremder Mächte als verfassungsfeindliche. Bestrebungen und damit als Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes anzusehen sind. Diese Frage war schon wegen der politischen Zielsetzung der gegen die Bundesrepublik tätigen Nachrichtendienste zu bejahen. Eine entsprechende Gesetzesänderung soll nunmehr auch in dieser Frage Klarheit schaffen.Die Bundesregierung wäre dem Parlament dankbar, wenn möglichst bald eine Entscheidung darüber hier im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zustande kommen könnte.
Wir kommen zur Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Benda.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Problem, um das es geht, ist von Herrn Staatssekretär Dorn soeben dargestellt worden. Ich brauche dem nichts hinzuzufügen.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Probleme der Überwachung und Bekämpfung der Kriminalität und sonstiger radikaler Aktivitäten von Ausländern schon in ihrer Großen Anfrage zur inneren Sicherheit vom 15. April dieses Jahres, also vor geraumer Zeit, angesprochen. Diese Große Anfrage ist von der Bundesregierung beantwortet worden. Ich hoffe, daß sich bald eine Gelegenheit ergeben wird, darüber in diesem Hohen Hause zu debattieren.
In dieser Anfrage haben wir, Herr Staatssekretär, wie Sie wissen, auch die Frage aufgeworfen, ob die Ausdehnung der Zuständigkeit der Ämter des Verfassungsschutzes nicht eine Änderung des Grundgesetzes voraussetze. Im Bundesrat ist diese Frage bei der Beratung des uns heute vorliegenden Gesetzentwurfs bekanntlich bejaht worden. Eine entsprechende Regierungsvorlage liegt ja vor, zwar nicht diesem Hause, aber dem Bundesrat. Beide Dinge sind natürlich im Zusammenhang zu sehen.
Die Unruhe, die sich in der Bevölkerung über Aktivitäten — ich stimme Ihnen völlig zu — nur eines Teiles der bei uns zu Gast befindlichen Ausländer ergeben hat, ist auch natürlich eine Folge unseres sehr liberalen — ich sage nicht: zu liberalen — Ausländerrechts, das man in dem Zusammenhang erwähnen muß. Um so notwendiger scheint es uns zu sein, dann den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder eine ausreichende Rechtsgrundlage zu geben, um sich den Ausländern zuzuwenden, die das Gastrecht mißbrauchen.
Ich komme jetzt zu einem Punkt, der in einem engen Zusammenhang mit unserem Thema steht und den auch der Bundesrat in einem Teilaspekt angesprochen hat. Das Verfassungsschutzgesetz des Bundes, über dessen Änderung wir heute reden, stammt aus dem Jahre 1950, ist also 20 Jahre alt. Seither ist es in seinem Wortlaut nicht verändert worden, obwohl nicht bezweifelt werden kann, daß sich die Praxis der Behörden in den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelt und in einigen Bereichen auch ausgeweitet hat. Wir sind der Auffassung, daß diese Gelegenheit nunmehr benutzt werden müßte, um bei der Beratung des vorliegenden Regierungsentwurfs, der nur ein Minimalkonzept darstellt, das uns nicht ausreichend erscheint, auch die anderen Tätigkeitsbereiche des Verfassungsschutzes mit einer eindeutigen rechtlichen Grundlage auszustatten, und zwar dort, wo dies notwendig ist. Es gibt einige Punkte, die ich jetzt im einzelnen nicht erwähnen will, wo dies notwendig ist.
Auch der Bundesrat hat bei der Beratung des Entwurfs einen solchen Bereich angesprochen und eine klarstellende Vorschrift über die Zuständigkeit der Verfassungsschutzbehörden für den personellen Geheimschutz angeregt. Diese Anregung halte ich für richtig. Sie ist aber nur eine von mehreren Anregungen, die in diesem Gesamtzusammenhang zu geben sind. Wir werden das in den Ausschüssen im einzelnen vortragen.
Ich möchte aber noch folgendes sagen und bitte, das so ernst zu nehmen, wie es gemeint ist. Meine Fraktion betrachtet diesen Gesetzentwurf und den noch ausstehenden, aber demnächst zur Behandlung hier anstehenden Entwurf zur Änderung der Artikel 73 und 87 des Grundgesetzes als eine Einheit von der Sache her. Das bedeutet praktisch, daß wir unsere Zustimmung zu der Grundgesetzänderung, um die es demnächst gehen wird, von einer befriedigenden Ausgestaltung des Gesetzentwurfs, über den wir heute reden, abhängig machen werden. Insofern ist eine sachliche und politische Einheit beider Dinge unverkennbar.
Das Wort hat der Abgeordnete Sieglerschmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in der glücklichen Lage, weiten Teilen der Ausführungen meiner beiden Vorredner zustimmen und die Sachdarstellung als meine eigene übernehmen zu können. Es ist, meine ich, eine gute Tradition, daß dieses Haus über Fragen, wie sie hier zur Debatte stehen, keine kontroverse, sondern eine zusammenführende Sachdiskussion führt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4007
SieglerschmidtDas Gesetz hat sich in der Tat — Herr Benda hat es schon erwähnt — im ganzen gut bewährt, da es zu der Minderzahl von Gesetzen in der Bundesrepublik gehört, die seit 20 Jahren nicht geändert worden sind. Daß einiges an Klarstellungen zu wünschen übrig blieb, wie sich jetzt gelegentlich der Änderung des Gesetzes im Hinblick auf die Notwendigkeit der Ausländerüberwachung zeigt, steht schon lange fest. Alle, die sich damit befassen, wissen das. Ich meine, daß eine solche Klarstellung auch sowohl hinsichtlich der Spionageabwehr als auch, wie es der Bundesrat vorschlägt, hinsichtlich der Sicherheitsüberprüfung des personellen Geheimschutzes wünschenswert ist.Was die Frage angeht, was darüber hinaus noch an Änderungen notwendig ist, warten wir gespannt auf die Vorschläge der Opposition. Ich möchte hier aber deutlich zum Ausdruck bringen, daß eine grundlegende Erweiterung etwa der Zuständigkeiten dieser Behörden — darüber besteht wohl in diesem Hause Einverständnis — nicht gemeint ist und nicht in Frage kommen kann.
Meine Damen und Herren, was die Ausländerüberwachung, von der die Rede war, betrifft, darf ich namens meiner Fraktion noch einmal unterstreichen, daß hier nur eine Minderheit von Ausländern betroffen ist. Ich meine auch, Herr Staatssekretär, daß es sich wahrscheinlich bei den in Frage kommenden Gruppen, um mich vorsichtig auszudrücken, weniger um die ausländischen Arbeiter als um andere in der Bundesrepublik agierende Ausländergruppen handelt, die das Interesse der Behörden verdienen.Es ist, glaube ich, selbstverständlich — und meine Fraktion legt Wert darauf, das noch einmal zu unterstreichen —, daß durch diese Gesetzesänderung die legale politische Betätigung von Ausländern im Bundesgebiet, soweit sie sich an die bestehenden Gesetze hält, weder eingeschränkt werden soll noch werden darf. Hier soll keine qualitative Änderung der Lage eintreten. Das möchte ich gegenüber mancherlei Mißverständnissen, die möglich sind, doch deutlich unterstreichen.Dieses Ausländerrecht wird ja, wenn ich mir diese Randbemerkung gestatten darf, von zwei Seiten attackiert. Es gibt sehr viele Leute, die sagen, es sei viel zu drakonisch und streng, und es gibt andere Leute, die sagen: es ist zu liberal. Eigentlich zeigt sich für mich damit immer, daß wir — notwendige Änderungen natürlich stets vorbehalten — einen richtigen Weg gegangen sind.Was nun die Folgen der Änderungen anlangt, so ist klar, daß wir mit dem Gesetz den Verfassungsschutzbehörden, die natürlich für derartige Aufgaben am geeignetsten sind, weil die notwendige Beobachtung nur mit nachrichtendienstlichen Mitteln vorgenommen werden kann, eine schwierige Aufgabe übertragen, schwierig nicht nur wegen der mehr technischen Gründe, daß die Aufgaben Sprachkenntnisse und ein Einfühlen in uns ferner liegende politische Verhältnisse erfordern, sondern schwierig auch aus den Gründen, die ich schon berührt habe: weil für die Abgrenzung dessen, was zu beobachten ist, was einzubeziehen ist und was nicht, was legale Tätigkeit und was nicht legale Tätigkeit ist, ein hohes Maß an politischem Fingerspitzengefühl erforderlich sein wird.Es wurde schon erwähnt, daß diesem Gesetzentwurf eine Vorlage über eine Verfassungsänderung folgen wird. Es haben sich Zweifel ergeben, ob dieses hier vorliegende Gesetz ohne Verfassungsänderung möglich ist, Zweifel allerdings, die, wie aus der Entstehungsgeschichte ersichtlich, nach beiden Seiten geltend gemacht werden können: sowohl dahin, ob es denn unabdingbar und zwingend ist, daß eine Verfassungsänderung notwendig ist, als auch umgekehrt dahin, ob dieses Gesetz nur mit einer Verfassungsänderung verfassungskonform ist. Wir werden diese Fragen in den Ausschüssen sehr sorgfältig prüfen und besprechen müssen, da es offensichtlich ist, daß man über sie verschiedener rechtlicher Meinung sein kann.Lassen Sie mich zum Schluß gerade anläßlich der Übertragung neuer Aufgaben an die Verfassungsschutzbehörden noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen, daß insbesondere das, was ich hier über das Fingerspitzengefühl gesagt habe, nicht ein irgendwie geartetes Mißtrauen ausdrücken sollte. Ich möchte vielmehr die Gelegenheit wahrnehmen, den Angehörigen dieser Ämter für ihre undankbare und von der Öffentlichkeit selten richtig gewürdigte Pflichterfüllung im Dienste der Sicherheit unseres Staates zu danken.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert.
Es ist einerseits mißlich, wenn man immer als der Dritte nach so hervorragenden Vorrednern spricht, es hat aber natürlich dies auch den Vorteil, daß man sich besonders kurz fassen kann und die Geduld des Hauses nicht so sehr strapazieren muß.
Ich möchte deshalb nur eine Anmerkung zu dem machen, was Sie, Herr Kollege Benda, gesagt haben. Selbstverständlich sollten wir die Gelegenheit nutzen, dieses Gesetz anläßlich der jetzt vorzunehmenden Änderungen und nicht etwa erst bei der nächsten späteren Gelegenheit daraufhin zu überprüfen, was noch getan werden müßte, damit man nicht zu oft zu Änderungen kommt. Es muß aber auch der Hinweis erlaubt sein, daß Ihre Fraktion in den letzten zwanzig Jahren den Bundesinnenminister gestellt hat und diese zusätzlichen Änderungswünsche, von denen uns vorher nichts bekannt war, erstmals auftauchen, nachdem erst seit einem Jahr der Bundesinnenminister von einer anderen Fraktion gestellt wird.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die erste Beratung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetz-
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4008 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Vizepräsident Schmidentwurf dem Innenausschuß zu überweisen. Ist das Haus einverstanden? — Dann ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 17 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Durchführungsgesetzes EWG-Richtlinie Frisches Fleisch— Drucksache VI/984 —Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksache VI/1209 —
Der Berichterstatter, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs, ist anwesend. — Er verzichtet auf die mündliche Ergänzung des Ausschußberichts.Ich rufe zur zweiten Beratung auf — da keine Wortmeldungen vorliegen — Artikel 1 bis 4, Einleitung und Überschrift. Wer einverstanden ist, der möge das Handzeichen geben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Ich rufe zurdritten Beratungauf. — Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich erheben. — Ich stelle einstimmig Annahme fest.Ich rufe Punkt 18 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. November 1969 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die steuerliche Behandlung von Straßenfahrzeugen im internationalen Verkehr— Drucksache VI/927 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/1234 —
Berichterstatter ist der Abgeordnete Porzner. Er hat mich wissen lassen, daß er auf mündliche Ergänzung des Ausschußberichtes verzichtet. Es handelt sich praktisch um die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages in Landesrecht.Ich rufe die Artikel 1, — 2, — 3, -- Einleitung und Überschrift auf. — Keine Wortmeldung. Ich stelle fest, daß das Haus einverstanden ist.Ich rufe zur Schlußabstimmung auf. Wer zustimmn will, der möge sich erheben. — Danke, ich stelle einstimmige Annahme fest.Punkt 19 der Tagesordnung:Zweite Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. November 1969 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Osterreich über die steuerliche Behandlung von Kraftfahrzeugen im grenzüberschreitenden Verkehr— Drucksache VI/928 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/ 1235 —
Auch hier ist Herr Abgeordneter Porzner Berichterstatter, der auf die mündliche Ergänzung des Berichts verzichtet hat.Ich rufe zur zweiten Beratung die Artikel 1, — 2, — 3, — Einleitung und Überschrift auf. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Ich stelle einstimmige Annahme fest. Schluß der zweiten Beratung.Ich rufe zur Schlußabstimmung auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zustimmen will, möge sich erheben. — Ich stelle einstimmige Annahme fest.Nunmehr rufe ich den fünften der Zusatzpunkte zur Tagesordnung auf, deren Übernahme in die Tagesordnung zu Beginn der Sitzung beschlossen worden ist. Es handelt sich um diezweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zerlegungsgesetzes— Drucksache VI/802 —Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache VI/ 1236 —
Der Berichterstatter des Finanzausschusses, der Abgeordnete Offergeld, ist nicht im Saal; also wird der Abgeordnete keinen Wert darauf legen, den Bericht des Ausschusses mündlich zu ergänzen.Wir kommen zur zweiten Beratung. Ich rufe Art. 1 §§ 1 bis 9, Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift, auf. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Einstimmige Annahme. Ich schließe die zweite Beratung.Wir kommen zurdritten Beratung.Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift, auf. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zustimmen will, möge sich erheben. — Einstimmige Annahme.Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:Beratung der Ubersicht 6 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Drucksache VI/ 1190 —
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4009
Vizepräsident SchmidWortmeldungen liegen nicht vor. — Der Ausschuß schlägt dem Plenum vor, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt zu den nachstehend aufgeführten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht abzusehen. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Ich rufe Punkt 21 der Tagesordnung auf:Beratung des Schriftlichen Berichts des Haushaltsausschusses über den Bericht des Bundesministers der Finanzen betr. Ergebnisse der Entbehrlichkeitsprüfung und der Veräußerung von Bundesgelände zu Zwecken des Wohnungsbaues und der Eigentumsbildung— Drucksachen Vl/399, VI/1178 — Berichterstatter: Abgeordneter BremerDer Herr Berichterstatter ist nicht im Saal. Es wird keine Begründung des Ausschußantrags gewünscht.Der Ausschuß beantragt, den Bericht Drucksache VI/399 zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Wer einverstanden ist, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! Enthaltungen? Einstimmige Annahme des Ausschußantrags. Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf:Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über den Antrag des Abgeordneten Liehr, Schmidt (Kempten) und der Fraktionen der SPD, FDP betr. berufliche Bildung— Drucksachen VI/741, VI/1198 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr.BöhmeDer Berichterstatter verzichtet auf Begründung. Das Wort wird nicht gewünscht.Der Ausschuß schlägt dem Plenum vor, das Haus möge beschließen, den Antrag — Drucksache VI/741 — mit der Maßgabe anzunehmen, daß in Nummer 2 Satz 1 der Termin „31. März 1971" in „Ende 1971" geändert wird. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! - Enthaltungen? — Einstimmige Annahme.Ich rufe die Punkte 23 bis 26 der Tagesordnung auf:23. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für drei Richtlinien des Rates zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit für die selbständigen Tätigkeiten des Güterkraftverkehrs, der Personenbeförderung im Straßenverkehr und der Güter- und Personenbeförderung auf Binnenwasserstraßen- Drucksache VI/672, VI/ 1205 — Berichterstatter: Abgeordneter Fellermaier24. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Richtlinie des Rates über das Mindestniveau der Ausbildung für Fahrer im Straßenverkehr— Drucksachen V1/1110, W1237 —Berichterstatter: Abgeordneter Schmitt
25. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Wirtschaft über die von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschläge der Kommission für eineVerordnung des Rates über die Mitteilung von Investitionsvorhaben von gemeinschaftlichem Interesse in den Bereichen der Erdöl-, Erdgas- und ElektrizitätswirtschaftVerordnung des Rates über die Mitteilung der beabsichtigten Einfuhren von Kohlenwasserstoffen an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften— Drucksachen VI/297, VI/ 1225 — Berichterstatter: Abgeordneter Springorum26. Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit über den von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über alkoholfreie Erfrischungsgetränke— Drucksachen V1/681, V1/1229 — Berichterstatter: Abgeordneter DaschWünscht einer der Berichterstatter das Wort zu Punkt 26? — Nein, das ist nicht der Fall.Das Wort .zur Aussprache? — Dr. Hammans zu Punkt 26.
Hrer Präsident! Meine Damen und Herren! Von der Kommission ist uns ein Vorschlag unterbreitet worden, daß in Zukunft nichtalkoholische Getränke gefärbt werden dürfen. Ich möchte diese Gelegenheit nehmen, um an ein paar- Dinge zu erinnern, die uns, von der EWG kommend, große Schwierigkeiten bereiten. Wir haben in der letzten Legislaturperiode mit viel Mühe und nach großer Anstrengung ein Weingesetz geschaffen, mit dem schließlich alle beteiligten Gruppen einverstanden waren. Inzwischen ist dieses wirklich gute Gesetz durch die EWG-Weinmarktordnung völlig in Frage gestellt. Im Augenblick befinden sich sowohl Winzer wie Weinhändler in einer sehr schlechten Lage, weil sie nicht wissen, ob schon die Weinmarktordnung gilt oder noch das alte deutsche Weingesetz oder das neue.Wir haben ferner Bestrebungen in der EWG, daß das Reinheitsgesetz bei Bier, das aus dem Jahre
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4010 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Hammans1556 stammt und nach dem in Deutschland Bier nur aus Wasser, Hopfen, Malz und Hefe hergestellt werden darf, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft fallen soll.Meine Damen und Herren, hier liegt uns nun eine Verordnung vor, nach . der nichtalkoholische Getränke in Zukunft gefärbt werden dürfen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten die Bundesregierung unterstützen, daß sie dieser Verordnung nicht zustimmt. Sie sollte dem Richtlinienvorschlag, wenn es so weit kommt, nicht zustimmen. Ich meine, wir sollten alles tun, um zu erreichen, daß unsere Nahrungs- und Genußmittel soweit wie möglich von Fremdstoffen frei bleiben. Eine Färbung ist nicht notwendig, sie stört sogar das ästhetische Empfinden.
Weitere Wortmeldungen? — Keine Wortmeldung mehr.
Dann bitte ich das Haus um die Erlaubnis, daß wir der Einfachheit halber gemeinsam über die Vorlagen abstimmen. — Das Haus ist einverstanden.
Wir stimmen ab über die Ausschußanträge auf den Drucksachen VI/1205, VI/ 1237, VI/ 1225 und VI/1229. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme fest.
Ich rufe Punkt 27 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Jacobi , Fritsch, Dr. Rutschke und Genossen eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 45 c)
— Drucksache VI/973 —
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Jacobi , Fritsch, Dr. Rutschke und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages
— Drucksache VI/974 —
Das Wort hat der Abgeordnete Fritsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu den Gesetzentwürfen auf Drucksache VI/973 und auf Drucksache VI/974 betreffend die Änderung des Grundgesetzes sowie die Erweiterung der Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages gebe ich in Ergänzung der vorliegenden schriftlichen Begründung folgende mündliche Begründung. Der Petitionsausschuß dieses Hauses leitet seine Tätigkeit aus Artikel 17 des Grundgesetzes her, der jedermann das Recht gibt, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Von dieser Möglichkeit, sich an die Volksvertretung zu wenden, haben seit 1949 über 150 000 Bürger unseres Landes Gebrauch gemacht. Diese erhebliche Zahl von Petenten ist Ausdruck des Vertrauens in dieses Recht, sie gibt aber auch Aufschluß über die vielfältigsten Sorgen, die unsere Mitbürger bedrücken.Die leider zu früh verstorbene langjährige Vorsitzende des Petitionsausschusses, Frau Helene Wessel, deren Todestag sich gestern gejährt hat, hat einmal dazu gesagt — und diese Aussage hat noch unverändert Gültigkeit —:Für den Ausschuß— also den Petitionsausschuß —und für den Bundestag als Gesetzgeber ist es von großem Nutzen, durch die Petitionen zu erfahren, wie seine Arbeit im Volke aufgenommen wird, wo sich Lücken und Härten in den von ihm beschlossenen Gesetzen befinden, sich über die Tätigkeit der Verwaltung und andere Vorgänge zu informieren, Mißständen nachzugehen und Mängeln durch gesetzliche Regelungen oder Verwaltungsmaßnahmen abhelfen zu können. Aus den Petitionen lernen Ausschuß und Volksvertretung die wirklichen Nöte und Bedürfnisse der Bürger kennen. Der Petitionsausschuß ist die höchste Stelle im Staate, wo der Bürger einmal sein Herz ausschütten kann. Jeder hat das Recht, zu schreiben, wie es ihm ums Herz ist. Der Ausschuß hört die Stimme des Volkes und vernimmt die Sorgen und Nöte des kleinen Mannes. Er ist damit wie kaum ein anderer Ausschuß des Bundestages ein Bindeglied, eine Kontaktstelle zwischen Bürger und Staat, eine Nahtstelle zwischen Gesetz und Mensch. Er hat die Hand am Pulsschlag des Volkes.Diese Kontaktstelle, meine sehr verehrten Damen und Herren, zwischen Bürger und Staat bedarf jedoch der entsprechenden rechtlichen Grundlagen, um ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag schnell und wirksam nachzukommen. Die Erfahrung, insbesondere der letzten Jahre, hat gezeigt, daß die bisher gegebenen Rechte und Möglichkeiten, die sich lediglich aus dem erwähnten Art. 17 GG und aus den §§ 112 und 113 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages herleiten ließen, nicht ausreichten, um im Sinne eines echten Kontrollrechts und eines verstärkten Schutzes des Bürgers tätig zu werden.Es ist daher unserer Meinung nach erforderlich, durch eine Ergänzung des Grundgesetzes eine selbständige Kontrollbefugnis des Petitionsausschusses zu verankern. In Abs. 1 des neu einzufügenden Art. 45 c soll deshalb die Bestellung eines Petitionsausschusses, dem die Behandlung der Bitten und Beschwerden der Bürger obliegt, zwingend vorgeschrieben werden. Bezüglich der zu prüfenden Beschwerden, also der Eingaben, die sich gegen ein Handeln oder Unterlassen der Verwaltung richten, soll der Ausschuß als parlamentarisches Kontrollorgan tätig werden.Der Begriff und die Funktion eines parlamentarischen Kontrollorgans sind sicher nicht ohne Problematik. Es ist bewußt davon abgesehen worden, dem Petitionsausschuß etwa die Qualität eines Untersuchungsausschusses zu verleihen. Andererseits aber erschien es notwendig, in Abs. 2 der vorliegenden
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4011
FritschGrundgesetzergänzung durch eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zu einem einfachen Gesetz die Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrollbefugnis vorzunehmen.Dabei gehen die Antragsteller davon aus, daß dem Petitionsausschuß durch zusätzliche und erweiterte Rechte eine eigene, d. h. von der Regierung und der Verwaltung unabhängige, und unmittelbare, schnelle, weil den Dienstweg ausschließende Sachaufklärung, Tatsachenfeststellung und Wahrheitsfindung ermöglicht wird. Das drückt sich in der vorgesehenen Auskunftspflicht und der Aktenvorlage der Bundesregierung, der obersten Bundesbehörden und der ihrer Weisung und Aufsicht unterstehenden Behörden und Bediensteten aus, die ihre Grenze lediglich in zwingenden Geheimhaltungsgründen findet.Hinzu kommt ein sogenanntes Inspektionsrecht, also die Möglichkeit des Petitionsausschusses oder — im Falle des Abs. 3 des § 1 des Gesetzesantrags auf Drucksache 111/974 — einzelner Abgeordneter, die Ausschußbefugnisse an Ort und Stelle auszuüben. Gerade zu dieser Bestimmung vermag ich aus der Praxis meiner langjährigen Tätigkeit im Petitionsausschuß zu sagen, daß sie wesentlich dazu beitragen wird, wirksame Hilfen zu schaffen und das Vertrauen des Bürgers in dieses Parlament zu verstärken. Die Anhörung des Petenten und anderer Beteiligter stellt weiterhin ein Mittel dar, die Unmittelbarkeit der Ausschußtätigkeit in bezug auf den Beschwerdegegenstand herzustellen. Schließlich haben die Gerichte und die Verwaltungen, auch die Verwaltungen der Länder und der Gemeinden, dem Ausschuß bei der Erfüllung seiner Aufgabe Hilfestellung zu leisten.Die vorliegenden Gesetzentwürfe stützen sich auf eingehende Überlegungen sowohl in den Fraktionen dieses Hauses und ihren Arbeitskreisen als auch im Petitionsausschuß und in den Gremien, die sich mit den Fragen der Parlamentsreform befassen. Auch in den Bundesländern sind das Problem der Verstärkung der Petitionsrechte des Bürgers und das Thema der sich daraus ergebenden gesetzgeberischen Konsequenzen aktualisiert worden. So hat z. B. das Abgeordnetenhaus von Berlin ein Gesetz über die Behandlung von Petitionen an das Abgeordnetenhaus von Berlin beschlossen, welches als besonders fortschrittlich gelten kann.In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Einführung eines Bürgerbeauftragten oder Parlamentsbeauftragten für den zivilen Bereich ,diskutiert worden. Ohne die Vorzüge und Nachteile einer solchen Institution, die in Schweden unter der Bezeichnung Ombudsman eine beachtliche Tradition aufweist, im einzelnen zu erörtern, möchte ich lediglich die Überzeugung äußern, daß die Verabschiedung der vorgelegten Gesetzentwürfe und die dadurch geschaffene neue Lage eindeutig für die Beibehaltung des Petitionsausschusses des Parlamentes sprechen werden. Die in den Gesetzentwürfen enthaltenen Verbesserungen erfordern, wenn man zu einer vollen Wirksamkeit kommen will, sicher noch ergänzende Maßnahmen, insbesondere im personellen Bereich. Die Antragsteller sind der Meinung, daß sie mit diesen Initiativen auf dem Gebiet der Entwicklung des Petitionsrechtes einen Schritt nach vorn getan haben. Manche Vorstellungen gehen noch über das, was die Vorlagen beinhalten, hinaus, und zwar auf Grund der berechtigten Überlegung, daß gerade in unserem sozialen Rechtsstaat, wie ihn Art. 20 des Grundgesetzes postuliert, der Bürger als Mensch mit eigenem Schicksal Vertrauen zu diesem Staat braucht. Im Zuge der Beratungen in den vom Ältestenrat dafür vorgesehenen Ausschüssen wird es sicher möglich sein, den Beweggründen, die zu diesen Gesetzentwürfen führten, noch besonderen Ausdruck zu verleihen. Wir wären für eine zügige Beratung in den Ausschüssen dankbar.
Wird das Wort noch gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den unter Punkt 27 a aufgeführten Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß — federführend —, dem Petitionsausschuß, dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu überweisen.
Es ist vorgeschlagen, den unter Punkt 27 b aufgeführten Gesetzentwurf dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung — federführend —, dem Petitionsausschuß, dem Rechtsausschuß und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu überweisen.
Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen dann zu Punkt 28 der Tagesordnung. Eine Vorbemerkung: Damit wird eine ganze Serie von Aussprachen eingeleitet, die heute noch ablaufen soll. Heute morgen haben wir zur Bildungspolitik noch vier Zusatzpunkte in die Tagesordnung aufgenommen. Ich bin nun in einiger Verlegenheit, wie zu verfahren ist. In Punkt 28 a geht es zunächst um den Bericht zur Bildungspolitik. Diesen Bericht haben wir zu beraten und zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben dann unter den Punkten 28 b und 28 c Schriftliche Berichte des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu beraten, in denen im Hinblick auf die Beschlußfassung über Anträge der CDU/CSU Vorschläge gemacht werden. In den vier Zusatzpunkten geht es dann auch wieder um Anträge der CDU/CSU. Ich schlage Ihnen vor, wie folgt zu verfahren. Zunächst rufe ich Punkt 28 a auf.
— Alle zusammen? Es soll also der ganze Punkt 28 zusammen mit den vier Zusatzpunkten aufgerufen werden?
Es wird sehr schwer werden, Ordnung in die Debatte hineinzubringen.
Sind alle Fraktionen damit einverstanden, daß ich jetzt Punkt 28 a, b und c sowie die Zusatzpunkte 1, 2, 3 und 4, die heute morgen in die Tagesordnung aufgenommen worden sind, aufrufe?
Vizepräsident Dr. Schmid
— Einverstanden. — Sie machen es dem amtierenden Präsidenten schwer, die Rednerfolge einigermaßen vernünftig zu ordnen, aber — —
— Auch mein Nachfolger wird für Ihre Hilfe sehr dankbar sein.
Dann rufe ich also alle Punkte der Tagesordnung auf, die mit Bildung zu tun haben:
a) Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Berichts zur Bildungspolitik
— Drucksache VI/925 —
b) Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. mittelfristige Finanzplanung (Ausbau und Neubau von Hochschulen)
— Drucksachen VI/425, VI/957 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gölter Abgeordneter Moersch
c) Beratung des Schriftlichen Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft über den Antrag der Abgeordneten Dr. Martin, Dr. Reinhard, Dr. Preiß und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Lage der landwirtschaftlichen Fakultäten
— Drucksachen VI/156, VI/958 — Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sperling Ferner:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Finanzperspektiven über die Bildungsplanung für die Jahre 1971 bis 1980
— Drucksache VI/1269 —2. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. Bildungsbedarf
— Drucksache VI/1270 —
2. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ .CSU betr. Lehrermangel
— Drucksache VI/ 12i 1 —4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU betr. vorschulische Erziehung
- Drucksache VI/ 1272 —
Das Wort hat Herr Bundesminister Leussink.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Bericht zur Bildungspolitik hat eine Bundesregierung zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik nicht nur ein Konzept für den Aufbau und den quantitativen und qualitativen Ausbau unseres Bildungswesens von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung vorgelegt, sondern es wurde damit auch ein erster und entscheidender Schritt zu der in Art. 91 b des Grundgesetzes vorgesehenen Gemeinschaftsaufgabe der Bildungsplanung getan. Mit dieser Feststellung möchte ich die heutige bildungspolitische Debattenicht nur einleiten, sondern zugleich versuchen, ihre Schwerpunkte zu markieren, nämlich einmal den Inhalt des Berichts, dann die Funktion des Berichts und endlich das Konzept für eine gesamtstaatlich verantwortete Bildungsplanung für die siebziger Jahre.Bildungspolitik ist zweifelsohne das Kernstück jeder Gesellschaftspolitik. Veränderungen im Bildungsbereich bewirken Veränderungen in der Gesellschaft und natürlich umgekehrt. Bildungspolitische Entscheidungen sind Entscheidungen über Stagnation oder Innovation unserer Gesellschaft, deren Selbstverständnis weder den Bedingungen einer freiheitlichen Gesellschaft noch den Gegebenheiten der sogenannten zweiten industriellen Revolution ausreichend entspricht.Ich möchte es mir und Ihnen, meine Damen und Herren, ersparen, die vielen drastischen Veränderungen aufzuzählen, die als Folge der zunehmenden Verwissenschaftlichung unsere industrielle Gesellschaft prägen und beeinflussen und unter Umständen auch unsere persönliche und politische Freiheit gefährden können. Ich möchte hierfür nur zwei Schlaglichter setzen, einmal das Durchdringen praktisch aller Wissenschafts- und damit auch Lebensbereiche durch die Datenverarbeitung und die dadurch verursachte totale Veränderung aller Kommunikations- und Informationsprozesse und zweitens die Dynamisierung der wissenschaftlichen Entwicklung, die eine entsprechende Dynamisierung des menschlichen Lebens unweigerlich mit sich bringt. Mit anderen Worten, ein Arbeitsleben, der Zeitraum also von etwa 25 bis 35 Lebensjahren, ist für den Menschen physisch zwar noch eine Art von Naturkonstante, nicht aber mehr für seine geistigen und intellektuellen Kräfte. Hier werden ihm ständige Anpassung, Erneuerung, ja Steigerung abverlangt.Es ist die Einsicht in die hier naturgemäß nur skizzenhaft angedeutete Problematik, die die Regierung der sozial-liberalen Koalition veranlaßt hat, der Gesellschaftspolitik im allgemeinen und der Bildungspolitik im besonderen hohe Priorität einzuräumen. Diese 'Einsicht ist auch die Grundlage der bildungspolitischen Konzeption der Bundesregierung, die Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, im Juni dieses Jahres im Bildungsbericht zusammengefaßt vorgelegt worden ist.Mit Erlaubnis des Präsidenten darf ich einige Sätze aus dem Bericht zitieren:Oberstes Ziel ist ein demokratisches, leistungs- und wandlungsfähiges Bildungssystem, das jedem Bürger von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung zu seiner persönlichen, beruflichen und politischen Bildung offensteht.Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleichheit muß durch eine intensive und individuelle Förderung aller Lernenden in allen Stufen des Bildungssystems verwirklicht werden.Die Schule der Zukunft muß im Zuge der Verwissenschaftlichung und der zunehmend raschen Veränderung aller Bereiche des beruflichen und persönlichen Lebens allen Lernenden eine bessere und gründlichere Bildung vermitteln. Be-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4013
Bundesminister Dr.-Ing. Leussinkrufliche Bildung muß den individuellen Interessen und Fähigkeiten entsprechen und als integrierter Teil des Bildungssystems entwickelt werden.Und endlich ist dort gesagt:Bildung soll den Menschen befähigen, sein Leben selbst zu gestalten. Sie soll durch Lernen und Erleben demokratischer Werte eine dauerhafte Grundlage für freiheitliches Zusammenleben. schaffen und Freude an selbständig-schöpferischer Arbeit wecken.Soweit, meine Damen und. Herren, das Zitat.Ich glaube, niemand in diesem Hause wird bestreiten, daß wir von der Verwirklichung solcher Grundsätze noch sehr weit entfernt sind. In ihrer Verwirklichung aber liegt meiner Überzeugung nach die bildungspolitische Herausforderung für die siebziger Jahre, in der Verwirklichung der Chancengleichheit, in der äußeren und inneren Demokratisierung aller Bildungseinrichtungen und in der Überwindung ihres beträchtlichen Modernitätsrückstandes. Das sind die drei Gesichtspunkte, die den ganzen Bildungsbericht und seine Zielvorstellungen wie ein. roter Faden durchziehen.Der Bericht selbst ist so aufgebaut, daß er in seinen einzelnen Abschnitten jeweils von einer Bestandsaufnahme ausgeht. Er beschreibt dann offenkundige Mängel und bereits vorhandene Ansätze zur Reform. Es folgt, soweit das möglich war, eine Beschreibung der Tendenzen der internationalen Entwicklung und. schließlich in enger Anlehnung an die Empfehlungen von Bildungsrat und Wissenschaftsrat die konkreten Zielsetzungen der Bundesregierung für die Zukunft.Ich freue mich, meine Damen und Herren, daß unsere beträchtlichen Bemühungen um eine klare Gliederung, einen übersichtlichen Aufbau und — was bei solchen Berichten immer das schwierigste ist -um eine verständliche Sprache nicht ganz vergeblich waren und manches öffentliche Lob erfahren durften. Wichtiger aber natürlich als alles Lob ist die Tatsache, daß der Bildungsbericht dadurch viele Leser gefunden hat, nicht nur Fachleute und Politiker, sondern auch interessierte Bürger. Darauf vor allem kommt es meines Erachtens an: auf die öffentliche Einsicht in die Notwendigkeit der Bildungsreform und auf die Zustimmung und Unterstützung bei ihrer Verwirklichung.Vorsorglich möchte ich an dieser Stelle schon darauf hinweisen, daß die Bezeichnung der Universität Trier-Kaiserslautern als „Universität Kaiserslautern-Trier" ein schlichter Fehler ist und nicht etwa Ausdruck finsterer bildungspolitischer Intrigen. Ich gebe zu, daß sich vielleicht noch der eine oder andere Fehler dieses gleichen Gewichts etwa in dem Bericht finden mag. Ich hoffe, daß uns solche Schnitzer nachgesehen werden können.
--- Wunderbar!Der Bildungsbericht umfaßt alle Bildungsbereiche, von der Vorschule bis zur Weiterbildung. Er schließtsie zu einem, wie ich meine, klar gegliederten, überschaubaren und einheitlichen Bildungssystem zusammen, in dem es viele Durchgangsstraßen, aber keine Sackgassen und nach Möglichkeit nicht einmal mehr Einbahnstraßen geben soll und darf. Um Chancengleichheit zu verwirklichen, muß Begabungsförderung mit der Elementarerziehung einsetzen und darf nicht mit einem Ausbildungsabschluß in einer Einbahnstraße irgendwann in den Zwanzigern enden. Es gilt vielmehr, ein konsekutives Bildungssystem zu schaffen, das es dem einzelnen ermöglicht, jederzeit von neuem, sei es mit fünfzehn oder mit fünfzig Jahren, wieder in den Bildungsprozeß einzusteigen. Über Bildungswege und Bildungschancen darf es keine endgültigen und irreversiblen Entscheidungen geben, schon gar nicht solche, die im zehnten Lebensjahr Berufs- und Lebenschancen zuteilen, um etwa mit Herrn Schelsky zu sprechen.Es kann nicht mehr ernsthaft bestritten werden, daß unser traditionelles Bildungssystem mit seinen vertikalen Gliederungen, seiner zu frühen Auslese und seinen unzulänglichen Übergängen die erforderlich strukturelle Offenheit nicht besitzt und außerdem von seinen Bildungsinhalten und Bildungszielen her gar nicht chancengerecht sein kann. Deshalb brauchen wir beides: äußere und innere Reformen. Was wir in unseren Schulen und Hochschulen einschließlich der Weiterbildung erreichen müssen, ist außer den strukturellen Reformen eine umfassende Curriculumreform. Nicht die Festlegung auf einen festgeschriebenen Wissensstoff, sondern die Fähigkeit, sich neues Wissen anzueignen und neue Situationen zu erfassen und zu bewältigen, das Lernen und selbständige Denken zu lernen, sind die Voraussetzungen für den gebildeten Menschen von morgen. Schule und Bildung müssen zum lebenslangen Lernen motivieren, damit die in der technisch geprägten Welt geforderte Mobilität nicht nur zur Anpassung, sondern auch zur Bewältigung verhilft. Fortschritt ohne Vernunft ist sinnlos, ja gefährlich; Wissen ohne Verantwortung ist, wie wir wissen, verhängnisvoll.Die Bundesregierung hat im Bildungsbericht die notwendigen Schritte einer so begründeten äußeren und inneren Schulreform konkret beschrieben. Sie weiß, daß Reformen dieses Ausmaßes nicht von heute auf morgen verwirklicht werden können. Sie besteht aber als Bundesregierung darauf, daß sie nicht länger verzögert werden.Lassen Sie mich nun noch einmal in aller Kürze die Schwerpunkte umreißen. Die Bundesregierung hält den systematischen Ausbau der Elementarerziehung für vordringlich. Sie beruft sich dabei auf die Ergebnisse der Begabungsforschung, wonach Begabung eben nicht oder sicher nicht nur Schicksal, sondern Chance ist. Anders gesagt, Begabung ist nur zu einem geringen Teil ein Geschenk der Götter; Begabung ist vielmehr zum größeren Teil Lernfähigkeit und als solche das Produkt möglichst frühzeitig einsetzender und gezielter individueller Förderung und Anregung. Vorschulerziehung soll keinesfalls eine Vorverlegung der Schulzeit bedeuten.
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4014 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister Dr.-Ing. LeussinkDie Reform der Grundschule baut auf der Elementarerziehung auf. Deshalb sind hier ebenfalls neue Lehr- und Lernziele, Inhalte und Verfahren zu entwickeln. Die Grundschule bereitet auf die nächste Stufe vor, ohne an ihrem Ende schon den weiteren Bildungs- und Berufsweg zu bestimmen, so wie das heute eben ist. Die Bundesregierung hat sich in der ersten Sekundarstufe grundsätzlich für das Konzept der Gesamtschule entschieden, die als integrierte und differenzierte Schulstufe und in Form der Ganztagsschule organisatorisch am konsequentesten und pädagogisch am wirksamsten das Prinzip der Chancengleichheit zu verwirklichen verspricht.Außerdem muß nach ihren Vorstellungen die Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung überwunden werden. Für das fünfte und sechste Schuljahr wird, entsprechend den Empfehlungen des Bildungsrates, eine Orientierungsstufe vorgeschlagen. Danach soll das Angebot an Differenzierungs- und Wahlmöglichkeiten allmählich zunehmen. Jahrgangsklassen sollen schrittweise von einem differenzierten Kurssystem abgelöst werden. Erster qualifizierender Abschluß ist nach der Klasse zehn das Abitur I. In der Oberstufe der Gesamtschule soll nach weiteren zwei Jahren, also nach insgesamt zwölf statt bisher dreizehn Jahren, der zweite Abschluß möglich sein: das Abitur II. Daß auch für diese zweite Sekundarstufe neue Bildungsangebote und Curricula entwickelt und eingeführt werden müssen, sei nur der Vollständigkeit halber noch einmal erwähnt.Auf dem Sekundarbereich folgt der tertiäre Bereich. Auch hier sollen bisher getrennte Hochschularten künftig in der integrierten Gesamthochschule mit einheitlichem Lehrkörper und einheitlicher Studentenschaft zusammengefaßt werden. Kernstück der Hochschulreform ist die Lehrkörper- und Studienreform, die ohne Reform des Prüfungswesens nicht vollständig wäre. Quantitatives Ziel im Laufe der 80er Jahre ist die Erweiterung des Gesamthochschulbereichs auf mehr als das Doppelte der gegenwärtigen Kapazität.Als vierte Stufe im Bildungswesen endlich soll die Weiterbildung ausgebaut werden. Hier muß zunächst die Vielfalt der Aktivitäten der privaten und öffentlichen Träger koordiniert werden. Die Angebote der Weiterbildung sollen auf möglichst vielen Sachgebieten so ausgebaut werden, daß einzelne Kursbausteine sinnvoll miteinander kombiniert werden und zu verwendbaren Zertifikaten führen können. Weiterbildungseinrichtungen sollen auch die Möglichkeiten eröffnen, Abschlüsse früherer Bildungsstufen nachzuholen, und damit die bisherigen Einrichtungen des zweiten Bildungsweges allmählich ablösen. Die Bundesregierung wird sowohl die berufliche als auch die nichtberufliche Weiterbildung verstärkt fördern und zu diesem Ziele alsbald Vorschläge für die gesetzliche Einführung des Bildungsurlaubs vorlegen.Weitere Teile des Bildungsberichtes enthalten konkrete Vorstellungen und Zielsetzungen zur Bildungsberatung, zur Lehrplanreform, zur Bildungsforschung, zum Bau und zur Ausstattung von Bildungseinrichtungen. Im Hinblick auf die beschränkte Zeit vermag ich darauf natürlich nicht im einzelnen einzugehen. Darüber wird sicher in der Debatte noch einiges gesagt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bildungsbericht widersteht der Versuchung, Betrachtungen über die Ursachen und die Gründe dafür anzustellen, weswegen es zum heutigen Zustand des Bildungswesens gekommen ist. Einer der Gründe, daß es so gekommen ist, liegt zweifellos darin, daß wir nach der totalen Niederlage zunächst den materiellen Aufbau zu leisten hatten. Wir alle wissen, wie erfolgreich und wie schnell das dank des Fleißes und der Leistungen aller arbeitenden Menschen in unserem Lande gelungen ist. Kein Zweifel auch, daß über diesen materiellen Aufbau die Probleme innerer Reformen beim Aufbau eines neuen Staates und einer neuen Gesellschaft zu kurz gekommen sind. Ich meine, wir sollten heute nicht über die möglichen Ursachen und Gründe dieser Versäumnisse streiten. Auch hat es ja nicht an rechtzeitigen Warnungen und ersten Ansätzen gefehlt. Ab heute, meine Damen und Herren, muß gehandelt werden, und es sollte nicht neuerlich gegeneinander aufgerechnet werden.
Es ist sozusagen High noon in der Bildungspolitik dieses Landes.
— High noon.
— Das war der Ausdruck eines Homo simplex, Herr Martin.
Die umfassende Reform muß zwei prinzipielle Ziele verfolgen: zum einen mehr Demokratie ermöglichen und zum anderen die Modernitätsrückstände überwinden und damit mehr Effektivität für den einzelnen und für die Gesellschaft erreichen. Ich möchte betonen, daß ich unter einem leistungsfähigen Bildungssystem nicht nur ökonomische, sondern auch und vor allem humane und soziale Leistungen verstehe. Leistung und Demokratie müssen sich keineswegs widersprechen. Sie sind durchaus miteinander zu vereinbaren, selbst wenn die demokratische Gretchenfrage „How can we be equal and excellent too?" immer von neuem gestellt und sicher auch immer von neuem beantwortet werden muß. An die Stelle von Privilegien im Bildungswesen muß die Förderung aller treten, und aus der Förderung aller ergibt sich die Auslese der Besten. Erfreulicherweise ergibt ein Vergleich des im Juni dieses Jahres erschienenen Bildungsberichtes der Bundesregierung mit der am 21. Juni dieses Jahres von der Programmkommission der CDU verabschiedeten zweiten Fassung des Entwurfs für das sogenannte Berliner Programm eine, wie ich glaube, grundsätzliche Übereinstimmung in dieser Frage, die ich soeben angegeben habe, und in sehr vielen Einzelfragen, z. B. die grundsätzliche Feststellung, daß Bildungspolitik zum Kernstück einer zukunftsorientierten Politik
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Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4015
Bundesminister Dr.-Ing. Leussinkwird, die Chancengleichheit, vorschulische Erziehung 10. Schuljahr, Durchlässigkeit, Differenzierung und Individualisierung der Bildungsgänge, Entwicklung der beiden Abschlüsse Abitur I und II nach den Vorschlägen des Bildungsrates, Aufnahme der höheren Fachschulen in einen Gesamthochschulbereich, wissenschaftliches Studium für alle Lehrer. Meine Damen und Herren, die Liste ließe sich noch beträchtlich verlängern.Wenn ich es richtig sehe, scheinen sich grundsätzliche Divergenzen zwischen Regierung und Koalition einerseits und Opposition andererseits im wesentlichen auf den Mittel- und Oberstufenbereich des allgemeinbildenden Schulwesens zu beschränken. Hier werfen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, uns ideologische Fixierung vor, eine Ideologie des Dynamischen, des Futuristischen oder auch manchmal der sogenannten sozialistischen Einheitsschule.
Aber ich möchte Sie fragen, ob unser jetziges Schulsystem nicht auch ideologisch geprägt ist — daß einem das nicht bewußt wird, ist ja kein Beweis dafür, daß das nicht so ist —,
z. B. von einer Begabungsideologie, von der Ideologie des klassischen Bildungsideals, dessen Erreichung nur wenigen vorbehalten sein kann, oder von der Ideologie der volkstümlichen Bildung, wie sie leider gelegentlich immer noch in Form barfüßiger Hirtenknaben, frommer Bauern und bedürfnisloser Mütterchen durch unsere Lesebücher geistert.
Auch der besonders gern erhobene Vorwurf, wir wollten die sozialistische Einheitsschule kopieren, geht nicht nur völlg fehl, sondern läßt sich — von dem Adjektiv „sozialistisch" natürlich einmal abgesehen — eher auf das herkömmliche, doch im Grunde wenig differenzierte Schulsystem anwenden, das eben alle Schüler, die in dem System drin sind, über ein und denselben Kamm schert. Übrigens — auch diese Anmerkung sei erlaubt — bringen sozialistische Bildungssysteme nach übereinstimmender Ansicht aller Fachleute — wer einmal in einem sozialistischen Land herumgereist ist, kann das bestätigen — hervorragende Ergebnisse und Spitzenbegabungen hervor, allerdings unter einem unerbittlichen Leistungsdruck.
Aber wenn Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, erklären können wie wir auch ohne Gesamtschule die auch von Ihnen geforderte Durchlässigkeit, die stärkere Differenzierung in der Unterrichtsgestaltung für alle bis zur Auflösung des Klassenverbandes in Leistungs- und Neigungsgruppen erreichen können, dann sind Sie meiner Aufmerksamkeit sicher. Denn es geht uns nicht um Namen, nicht um das Etikett, sondern um die innere Struktur und um die Inhalte.
Ich will hier jedoch gar nicht vorhandene gegensätzliche Auffassungen verbal verkleistern. Ich meine, diese grundsätzlichen Unterschiede müssen ausdiskutiert werden, und das sollten wir uns für die nächsten Wochen und Monate vornehmen. Dennoch besteht, wie ich glaube, ein Consensus zwischen der Koalition und der Opposition, nämlich dahingehend, daß die Lage des Bildungswesens in der Bundesrepublik eine Reform an Haupt und Gliedern erfordert.Gesamthochschulen können und sollen nicht über Nacht aus dem Boden gestampft werden. Sie sollen in umfassenden Modellversuchen entwickelt und erprobt werden. Die Umstellung muß schrittweise, darf nicht überstürzt erfolgen. Noch auf Jahre werden mehrere Schulsysteme nebeneinander bestehen müssen.Aber es besteht für uns jedenfalls kein Zweifel, daß sich das Prinzip der Chancengleichheit nur in der integrierten und differenzierten Gesamtschule voll verwirklichen läßt.
Wir bedürfen hierzu unter vielem anderen einer Lehrerausbildungsreform. Wir bedürfen des Stufenlehrers,, wie er im Bildungsbericht — auch woanders selbstverständlich — beschrieben und erfreulicherweise von der Kultusministerkonferenz im Prinzip in weitgehender Übereinstimmung mit uns in den letzten Tagen, wenn ich richtig unterrichtet worden bin, beschlossen worden ist.Mit der Vorlage des Bildungsberichts und den Empfehlungen von Wissenschaftsrat und Bildungsrat hat der verbale Ausbruch aus der Vergangenheit und der konzeptionelle Aufbruch in die Zukunft begonnen. Wir müssen in dieser Debatte aber auch darüber sprechen, wie sich dieser Aufbruch vollziehen und wie er konkretisiert werden kann. Bildungsplan ist nach Art. 91 b des Grundgesetzes eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Diese Bundesregierung versteht sich entgegen manchen Unkenrufen und manchen Unterstellungen nicht als kompetenzverschlingender zentralistischer Moloch.
Sie respektiert das Grundgesetz und damit die Zuständigkeitsbereiche der Länder. Aber sie sucht und muß, glaube ich, suchen nach effektiven Formen der kooperativen und der koordinierten Zusammenarbeit im Bereich der Bildungsplanung und der Bildungsreform. Sie wird und muß aus gesamtstaatlicher Verantwortung alles daransetzen — es ist hier früher an dieser Stelle schon von anderen Bundesministern, u. a. seinerzeit von Innenminister Höcherl, ausgeführt worden, daß dies notwendig ist —, um die Erneuerung, den Ausbau und die möglichst einheitliche Entwicklung des Bildungswesens voranzutreiben. Hierzu wurde die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung geschaffen. Ihre Bewährungsprobe steht ihr mit der Vorlage eines Bildungsgesamtplans bis etwa Mai nächsten Jahres und eines Bildungsbudgets bevor.Meine Damen und Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin. Die Erwartungen und die Ungeduld
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4016 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister Dr.-Ing. Leussinkder Öffentlichkeit sind beträchtlich. Gerade die Diskussion, die ich mit dem Bundeselternrat vor anderthalb Wochen in Hamburg führte, hat mir wiederum deutlich gezeigt, daß ein gewisses Maß an Einheitlichkeit auch von der Elternschaft mit größtem Nachdruck gefordert wird. Dem auch dort, aber nicht nur dort, wieder zu hörenden Ruf nach dem- Bundeskultusminister konnte ich jedenfalls einstweilen mit der Alternative begegnen, durch einen koordinierten Föderalismus ein Höchstmaß an Einheitlichkeit herzustellen und dann durch eine möglichst weit gefächerte Differenzierung des Angebots der Gesamtschule den die- Schule verlassenden Schüler in die Lage zu versetzen, in der neuen Schule wieder das gleiche Angebot vorzufinden, mit dem er sich in seiner bisherigen Schule befaßt hat. Auf jeden Fall müssen wir, so glaube ich, etwas Wirksames tun, damit der makabre Slogan „Der Vater wird versetzt, die Kinder bleiben sitzen", so bald und so weit wie möglich nicht mehr berechtigt ist.Wir denken bei unseren Vorschlägen für eine wirksamere Kooperation und Koordinierung in der Bildungspolitik auch an die wachsenden Ansätze zur europäischen Integration und an die bisher nicht ausreichend wahrgenommene internationale Zusammenarbeit im Bereich der Bildungsplanung und Bildungsforschung. Die Bundesregierung spricht sich sehr nachdrücklich für einen koperativen Föderalismus aus. Sie ist sich bewußt, daß eine wirksame Bildungsreform ohne die Bereitschaft und ohne die Mitwirkung der Länder nicht zustande kommen kann. Alle Verantwortlichen müssen einsehen, daß die Berufung auf den Kulturföderalismus am Ende kein Entschuldigungsgrund für schul- und hochschulpolitisches Versagen sein wird.Was die Formel von der Bewährungsprobe des Föderalismus betrifft, so hat der hier unter uns weilende Präsident der Kultusministerkonferenz, Herr Minister Vogel, anläßlich der Konstituierung der Kommission für die Bildungsplanung am 29. Juli hierzu folgendes festgestellt — ich darf zitieren —:Ich halte ebenfalls den 29. Juli für einen wichtigen, ja entscheidenden Tag in der Frage der Koordinierung von Bildungs- und Wissenschaftspolitik zwischen Bund und Ländern. Der Föderalismus in Deutschland wird zugrunde gehen, wenn es uns nicht auch im Bereich der Bildungspolitik gelingt, seine Lebensfähigkeit der Offentlichkeit unter Beweis zu stellen.
Ich habe dieser richtigen Einsicht von mir aus nichts hinzuzufügen.
Die erste Bewährungsprobe für die Kooperation zwischen Bund und Ländern ist, wie gesagt, die Art und Weise, in der das Bund-Länder-Abkommen über die Errichtung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung in die Tat umgesetzt werden wird. Die Vorarbeiten in den Ausschüssen und Arbeitsgruppen der Kommission sind inzwischen mit einigem Schwung angelaufen. Die nächste Sitzung findet am 20. Oktober statt; die ersten Grundsatzentscheidungen stehen bis Ende dieses Jahres an. Ich hoffezuversichtlich — und diese Hoffnung ist nach der bisherigen Art der Zusammenarbeit durchaus begründet -, daß diese ersten Grundsatzentscheidungen mit überzeugenden Mehrheiten getroffen werden können.Der Bildungsgesamtplan, der bis etwa Mai 1971 vorliege soll, wird den gemeinsamen Rahmen für die bildungspolitische Reform in der Bundesrepublik und damit die Grundlage für die Entscheidungen der Parlamente und Regierungen abgeben. Er wird allen Beteiligten sozusagen als Wegweiser dienen. Detailpläne müssen folgen, und die permanente Überprüfung aller Pläne ist, wie auf anderen Gebieten, auch hier selbstverständlich unerläßlich. Manche Bereiche der Planung wird man im Detail erst dann endgültig festlegen können, wenn man systematisch experimentiert und Erfahrungen gesammelt hat. Manche — nicht alle — Erfahrungen anderer Länder wird man aber auch übernehmen können. Davor brauchen wir uns nicht zu scheuen. Ebensowenig wollen wir unsere Erfahrungen und Ergebnisse etwa nur für uns behalten.Aber so wahr das alles sein mag und so bereitwillig viele solchen auf Kompromisse hindeutenden Überlegungen sicher sehr gerne zustimmen werden, nichts kann meines Erachtens darüber hinwegtäuschen, daß wir an einer entscheidenden Wende — wenn Sie so wollen: vor einer historischen Stunde — stehen. Wenn ich die bildungspolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik, die Erfahrungen des Auslands und die grundsätzliche Übereinstimmung der Parteien — jedenfalls der Fachleute der Parteien — richtig deute, dann bedeutet der Weg nach vorn den Weg in Richtung Gesamtschule und Gesamthochschule.
Meine Damen und Herren, gehen wir also diesen Weg mutig und, soweit möglich, gemeinsam.
Einige Worte noch zur Bildungsfinanzierung. Es freut mich, hier mitteilen zu können, daß die Regierungschefs von Bund und Ländern bei ihrem letzten Gespräch am 2. Oktober dieses Jahres Übereinstimmung über die weitere methodische Behandlung der Finanzseite erzielt haben. Entgegen manchen Äußerungen, die verlangten oder auch noch verlangen, daß zunächst die Fragen der Finanzplanung generell geklärt werden müssen und daß dies auf Grund der vorliegenden Empfehlungen von Bildungsrat und Wissenschaftsrat geschehen könne, hat man sich erfreulicherweise darauf geeinigt, daß die Fragen des Bildungsgesamtplanes und des Bildungsbudgets gleichzeitig behandelt werden sollen, wie es für die Arbeitsweise der Bildungsplanungskommission ohnehin von vornherein vorgesehen war.Hinsichtlich des Inhalts des Bildungsbudgets können wir es uns leider nicht so einfach machen und ohne weitere Diskussion von den vorgelegten Empfehlungen der beiden Gremien — Bildungsrat und Wissenschaftsrat — ausgehen. Wir werden es uns nicht ersparen können, uns zu konkreteren finan-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4017
Bundesminister Dr.-Ing. Leussinkziellen Aussagen zusammenzuraufen, wenn auch zunächst selbstverständlich nur in relativ globalen Linien. Die inhaltlichen und finanziellen Überlegungen müssen — ich glaube, das ist inzwischen auch allgemein anerkannt — miteinander Hand in Hand gehen. So wenig das Bildungsbudget etwa die schlichte finanzielle Quatifizierung des möglichst idealen Bildungsplanes sein kann, so wenig kann auch der Finanzrahmen von vornherein festgelegt werden, um dann erst den Bildungsgesamtplan wie in eine Zwangsjacke in ihn hieinzupressen. Ich meine, daß wir bei den Planungen an mehr als einer Stelle auch Alternativen anbieten müssen, sonst werden wir den Letztentscheidenden, nämlich den Parlamenten, keine brauchbare Entscheidungshilfe anbieten können.
Die letzten Entscheidungen aller beteiligten Parlamente — des Bundestages und der Landtage — werden selbstverständlich auch die folgenschwersten sein. Es geht darum, daß sich das Bruttosozialprodukt in den nächsten zehn Jahren nach den gängigen Vorausschätzungen nominal knapp verdoppeln wird, während die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Wissenschaft auf das Drei- bis Vierfache ansteigen müssen, wenn wir den Ausbau und die notwendigen Reformen verwirklichen wollen. Anders ausgedrückt: der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt, der zur Zeit knapp 5 % beträgt, muß auf etwa 8 % steigen, was einer Steigerung der Bildungsausgaben von jetzt etwa 25 Milliarden DM pro Jahr auf eine Größenordnung von etwa 100 Milliarden DM pro Jahr Anfang der achtziger Jahre entspricht. Dies wird selbstverständlich nur unter den größten Anstrengungen und sicher auch nur mit einem gewissen Konsumverzicht zu bewältigen sein.
Ich bin aber überzeugt, daß die Mehrheit unseres Volkes dazu bereit ist, wenn ihm ein überzeugender Plan vorgelegt wird.Bitte, verstehen Sie die Angaben über die angestrebten Prozentsätze am Bruttosozialprodukt nicht als Rekordsucht, im internationalen Vergleich etwa an der Spitze liegen zu wollen. Das werden wir auch nach der Erfüllung der angedeuteten Vorstellungen noch nicht erreicht haben. Der Bezug auf das Bruttosozialprodukt ist lediglich ein Indikator. Ein Land von der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik kann es sich aber nicht leisten, in der Skala der Bildungsaufgaben etwa unter den OECD-Ländern in der Schlußgruppe zu liegen,
während Länder wie die Niederlande und Norwegen mit etwa 8 % weit vor uns stehen. Wir können es uns im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten; denn Bildungsrückstand führt, auf gar nicht so lange Sicht nach vorwärts geschaut, zweifellos und unabänderlich auch zu einer Minderung der Wirtschaftskraft.Die Parteien der Regierungskoalition haben auf ihren diesjährigen Parteitagen übereinstimmend beschlossen, den Anteil der öffentlichen Ausgaben für Bildung und Wissenschaft am Bruttosozialprodukt innerhalb der nächsten zehn Jahre auf etwa 8 % zu steigern. Der bereits zitierte Programmentwurf der CDU sieht bis 1975 die Verdoppelung der derzeitigen Bildungsausgaben vor. Auch in dieser wichtigen Frage scheinen also zwischen Regierung und Opposition keine unüberwindlichen Gegensätze zu klaffen. Kein Zweifel, daß das Tempo und die Prioritätenfolge der Reformen — etwa anzufangen mit der Vorschulerziehung oder lieber das zehnte Schuljahr vorzuziehen; ich wäre für das erste — von der Lösung der Finanzfragen beeinflußt werden kann und mit Sicherheit beeinflußt werden wird. Keinesfalls jedoch dürfen sie meines Erachtens den Ansatz und die Richtung der Reformen beeinflussen. Bund und Länder werden Wege finden müssen, aus dem gesamten Steueraufkommen die nötigen Mittel für die Finanzierung der Bildungsreformen aufzubringen und die Lasten untereinander sachgerecht zu verteilen. Ich kann und will insoweit aber der Kommission für Bildungsplanung, in der Bund und Länder sitzen, nicht vorgreifen.Meine Damen und Herren, ich habe die Notwendigkeit der langfristigen Planung besonders betont, weil sie uns im Sektor des Bildungswesens besonders und allzu lange gefehlt hat. Was bislang an Reformen da und dort vollzogen wurde, war bestenfalls eine Teilreform, oft nicht mehr als ein punktuelles Flickwerk und deswegen nicht besonders wirksam. Dennoch darf uns der Entwurf einer in die Zukunft gerichteten Planung nicht davon abhalten, dort neue Stützen einzuziehen, wo das alte Gebäùde nicht mehr tragfähig ist. Die Bundesregierung hat deshalb im laufenden Jahr eine ganze Reihe von Initiativen ergriffen, die einerseits helfen sollen, akute Notstände im Bildungswesen zu beseitigen, andererseits aber deutlich machen, daß sie in das große Konzept, dessen Umrisse sich bereits abzeichnen, hineinpassen.Ich nenne nur ganz wenige Beispiele: das Schnellbauprogramm für die Hochschulen zur Milderung der Zulassungsbeschränkungen — dieses Programm hat inzwischen ein Gesamtvolumen von über einer halben Milliarde DM erreicht —, dann die Entwicklung und Vorbereitung eines Programms zur Förderung von Graduierten, das für die personelle Expansion des Gesamthochschulbereichs unumgänglich ist, und die Bereitstellung von Mitteln für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen und für die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen. Gleichzeitig sind Bund und Länder auf gutem Wege, das Instrumentarium für die Reformplanung zu vervollkommnen, z. B. ein geeignetes Informationssystem einschließlich einer aussagefähigen Statistik einzurichten.Meine Damen und Herren, ich hoffe, zu Beginn dieser wichtigen bildungspolitischen Debatte deutlich gemacht zu haben, daß die Bundesregierung mit allen Kräften bemüht ist, die überfällige Reform des Bildungswesens unverzüglich in Angriff zu nehmen. Es wäre ein großer Schritt nach vorn und bedeutete
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4018 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister Dr. Leussinkangesichts der großen Nostände eine höchst wünschenswerte Beruhigung der Öffentlichkeit, wenn die folgende Aussprache über den Bildungsbericht der Bundesregierung ergäbe, daß alle Parteien des Deutschen Bundestags ebenso wie die Regierungen der Länder und des Bundes bereit sind, die Priorität der Bildungsreform und die dargelegten Grundsätze anzuerkennen und aus dieser Anerkennung die notwendigen harten, konkreten Folgerungen zu ziehen. Was sich bei der Konstitutierung der Bund-LänderKommission bereits manifestiert hat, möge sich heute erneut bestätigen, nämlich daß unser föderalistisch verfaßtes Gemeinwesen in der Lage ist, diese große Aufgabe gemeinsam zu lösen. Beides wird gelingen, wenn die Verantwortlichen jenen drei Instanzen folgen, von denen der damalige Bundespräsident Theodor Heuss schon 1953 bei der Einsetzung des Deutschen Ausschusses für das Erziehungswesen sprach, nämlich von Einsicht, Gewissen und Phantasie.
Meine Damen und Herren, wenn ich recht unterrichtet bin, haben die drei Fraktionen die Absicht, zunächst einmal einige Redner vorzuschicken, die das Gesamtproblem besprechen. Nach den ersten drei Fraktionsrednern will Herr Minister Dr. Hahn, Baden-Württemberg, das Wort ergreifen. Dann steht alles offen und das ist sehr viel. Trotzdem schlage ich vor, daß wir jetzt eine Pause bis 15 Uhr eintreten lassen.
Ich vertage die Sitzung bis 15 Uhr.
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort, und zwar in der Beratung des Tagesordnungspunktes 28.
Das Wort hat Herr Dr. Martin von der CDU/CSU-Fraktion. Für ihn sind 45 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir das Plenum ansehe, was an sich ja „die Fülle" heißt, komme ich auf die Idee, daß der Prediger in der Wüste in einer unvergleichlich besseren Situation war als ein kulturpolitischer Sprecher in diesem Bundestag,
denn die Schrift berichtet, daß aus Jerusalem Scharen herabkamen an den Jordan, um ihn zu hören, während unsere Scharen ins Restaurant gehen und sich zweifellos nicht von Heuschrecken und wildem Honig ernähren.Meine Damen und Herren, Herr Leussink hat in seiner Eingangsrede den Bericht der Bundesregierung erneut dargestellt, ohne für mein Gefühl neue Dinge zu sagen, was auch nicht immer nötig ist. Die Wiederholung ist ja auch ein Wert in sich, und man kann das durchaus üben. Ein neuer Ton war insofern drin, als an mehreren Stellen von der Bereitschaft oder von der Notwendigkeit zur Kooperation gesprochen wurde. Ich möchte am Anfang sagen, daß so etwas natürlich nur möglich ist, wenn man sich in der Sache einigt und wenn man nicht schlicht und ergreifend sagt: Macht mit uns die Gesamtschule, und dann ist die Einigkeit da! So einfach geht das natürlich weder im Leben noch in der Politik.
Ich möchte dabei sagen, ich könnte mir denken, daß die Zusammenarbeit mit dem Minister vielleicht stufenweise erfolgen könnte, indem er erst einmal sein unterkühltes Verhältnis zum Ausschuß bessert und dort Kommunikation herstellt. Es war ja ein Stück seiner Rede, zu sagen, daß eine der totalen Veränderungen die neuen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten sind. Ich hoffe sehr, daß wir davon etwas haben werden.Meine Damen und Herren, der Minister hat gesagt, mit der Vorlage des Berichtes und mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrates und des Bildungsrates habe der verbale Ausbruch aus der Vergangenheit und der konzeptionelle Aufbruch in die Zukunft begonnen.
Ein großes Wort! Ich hätte mir das für eine Rede auf dem Hohen Meißner aufgespart.
Meine Damen und Herren, so ist es zunächst einfach gar nicht. Die Empfehlungen des Bildungsrates und des Wissenschaftsrates und der Bericht der Bundesregierung sind zwar ein Einschnitt in der Debatte, aber nicht mehr. Sie sind ein Einschnitt auf dem Wege zu einem Bildungssystem, das den menschlichen, ökonomischen und politischen Erfordernissen des Industriezeitalters Genüge tun soll. Aber ich glaube, wir müssen uns von der Vorstellung lösen, als ob die Reform von heute ab beginne, als ob sie mit dem Namen dieser Regierung und mit dem Namen dieses Ministers und dieser Rede verbunden sei.
Bei der Bildungsreform haben wir es genau wie in der gesellschaftlichen Entwicklung mit einem dynamischen Prozeß zu tun, bei dem man weder Anfang noch Ende zeitlich fixieren kann. Es ist ja niemand entgangen, daß sich in den letzten 20 Jahren unser Bildungssystem einschneidend verändert und fortentwickelt hat. Ich will nur einige Dinge aufzählen: die gesteigerten Zahlen an Schülern und Studenten, die steigende Zahl an Übergängen in die höheren Schulen, die Einführung neuer didaktischer Methoden, die Vergrößerung und Veränderung der Durchlässigkeit horizontal und vertikal, der Einstrom der Ergebnisse der Tiefenpsychologie und der Lernpsychologie mit dem Ergebnis, daß wir heute neue Vorstellungen über die Bildsamkeit im Kindesalter haben und auf dem Wege sind, die Elementarbildung neu zu ordnen. Das Bildungswesen von 1970 ist anders als das von 1960 und das von 1950. Das trifft auch für die Universitäten zu, die in einem Reform-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4019
Dr. Martinprozeß stehen, vom Blauen Gutachten bis zu den letzten Verlautbarungen des Wissenschaftsrats und der Rektorenkonferenz.Meine Damen und Herren, man muß in einer solchen Debatte aber sehen, daß sich die Entwicklung des Bildungswesens mit der der Gesellschaft nicht unbedingt deckt. Wir sehen es etwa an der Krise der Autorität, die die eigentlichen Probleme in Universitäten und hohen Schulen und auch — wenn man den Ausdruck noch gebrauchen darf — niederen Schulen ausmachen: Mitbestimmung, mehr Transparenz, Demokratisierung, Emanzipation. Das sind die Dinge, die man im Ohr haben muß, wenn man über Bildung berichten will. Es ist ganz offensichtlich eine neu zu gewinnende Erkenntnis, daß ohne Autorität Erziehung und Bildung nicht möglich sind, wenn man nicht auf der einen Seite in das Autoritäre oder auf der anderen Seite in das Anarchische umkippen will.
Ehe ich zu den Einzelheiten komme, möchte ich zweitens sagen: Neben der Krise der Autorität — da befinde ich mich in Übereinstimmung mit dem Herrn Minister — sind wir, glaube ich, zum erstenmal in unserer Geschichte in der Situation, daß wir sagen müssen, daß der naturwissenschaftlichen und technischen Innovation keine entsprechende Vertiefung der Bildung gegenübersteht. Die geistige und seelische Isolation vieler Menschen hat hier ihren Ursprung. Sie werden sich daran erinnern, daß Albert Schweitzer der erste gewesen ist, der — schon 1917 — gesagt hat: Die technische Entwicklung geht zwangsläufig voran, die menschliche hinkt nach und wird zu Verzerrungen in der Gesellschaft und zu revolutionären Zuständen führen. Die Älteren unter uns wissen, daß ein Mann wie Alfred Weber schon 1932 gesagt hat, wir liefen unter Umständen in eine Periode der Rebarbarisierung hinein.Deshalb ist am Anfang eines solchen Berichts zu sagen, daß Bildung und Ausbildung heute etwas anderes bedeuten und mehr bedeuten müssen. Bildung bedeutet, daß man in den Stand gesetzt wird, eine Funktion in der Gesellschaft zu übernehmen. Dies muß aber auch bedeuten, so viel Bildung zu vermitteln, daß die Gesamtperson in all ihren Bezügen, in ihren immanenten und ihren transzendenten, gefördert wird.Von hier aus gesehen muß man feststellen, daß der Bildungsbericht der Bundesregierung die Ausbildung einseitig in den Vordergrund stellt. Ich würde sagen, der Ausdruck „Ausbildungsbericht" würde diese Sache besser treffen als der Name „Bildungsbericht".
Es ist auffällig, daß die Leute in der Bildungspolitik und der Bildungstheorie, die mit quantitativen Überlegungen angefangen haben wie beispielsweise Edding, heute das ganze Gewicht ihrer Meinungsbildung und ihrer Forschung auf die Bildungsinhalte zu verlegen beginnen.Ich möchte gern für meine Fraktion das unterstreichen und einmal — was schwierig ist — zu formulieren versuchen, was heute Bildungsinhalt und -zielauf allen Stufen des Bildungswesens unbedingt sein müssen. Ich würde dazu zählen: die Fähigkeit zu logischem, analytischem, kritischem und strukturierendem Denken
— vor allen Dingen bei solchen, die Verantwortung tragen und klein an Zahl sind —,
die Fähigkeit zu dispositivem Denken
— Herr Moersch, hören Sie sich den Katalog an, es sind zehn Punkte, und nehmen Sie jetzt einmal den Bleistift —, die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, sich zu entscheiden; die Fähigkeit zur Zusammenarbeit; die Fähigkeit zur Ausdauer; die Fähigkeit zur Konzentration und Genauigkeit; die Leistungsfreude aus dem Bewußtsein, Aufgaben lösen zu können; die Bereitschaft, die Verschiedenheit und Freiheit anderer zu respektieren; die Fähigkeit, Konflikte rational auszutragen; notfalls auch im Bundestag
— auf allen Seiten, wie ich hoffe, Herr Raffert —, die Bereitschaft zu persönlichem Einsatz aus dem Bewußtsein gesellschaftlich-politischer Verantwortung und — das ist, glaube ich, das Wichtigste — die Fähigkeit, sich vor den Gefahren der Entfremdung und Manipulation innerlich zu bewahren; die Fähigkeit zu fruchtbarer Muße und die Fähigkeit, mit seinem Körper und seiner Seele so umzugehen, daß Störungen die Ausnahmen sind.Meine Damen und Herren, wer bei dem, was hier in Analogie zu Edding formuliert ist, genau zuhört, wird feststellen, daß es in der Bildung und Erziehung unaufgebbare Positionen und Zielsetzungen gibt. Es ist nicht ganz leicht zu erkennen, daß das, was heute morgen als „klassische Bildung" abqualifiziert worden ist, hier wiederkehrt, etwa in der Goetheschen Formulierung, Bildung sei, ganz er selbst zu sein. Die ganze Philosophie der Persönlichkeit aus dem 19. Jahrhundert ist keineswegs so überholt, wie das hier mit leichter Hand dargestellt wurde.
Solche Bildungsziele müssen in einem Bericht formuliert werden. Wir sprechen heute auf Bundesebene zum erstenmal über diese Frage, und wir müssen uns davor hüten, die allgemeinen Bildungsziele zugunsten der fachlichen Kenntnisse zu vernachlässigen. Ein Ergebnis moderner pädagogischer Forschung ist auch, daß für den Lebenserfolg die persönlichen Qualitäten ausschlaggebend sind und bleiben. Man kann in einem Bildungsbericht nicht so tun, als ob es nur um Abgänge, Berechtigungen und Attestate geht. Es geht bei der Reform von Schulen und Hochschulen um weit mehr. In einem Bildungsbericht des Jahres 1970 hätten die Bildungsziele detailliert formuliert werden müssen.
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4020 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. MartinDer Minister hat als Bildungsziel genannt, Bildung solle es dem Menschen ermöglichen, sein Leben selbst zu gestalten. Man hätte dann gern auch etwas darüber gehört, wie das der Mann am Fließband macht, wie das der Mann macht, der in einer Riesenbürokratie eingespannt ist, und wie das ein junger Mensch macht, der von den Zwängen der modernen Industriegesellschaft erschreckt und ängstlich wird. Man hätte gern gehört, wie sich das, was hier gesagt wird und was aus dem Vorrat der idealistischen Bildung formuliert ist, in der modernen Industriegesellschaft praktisch darstellt. Wir werden das heute freilich nicht ausdiskutieren können.
— Meine Damen und Herren, ich muß mich doch wundern, daß eine Partei, die sich „sozialdemokratisch" nennt, kein Verständnis für die inneren Nöte des modernen Menschen in der Industriegesellschaft hat und hier einfach nicht zuhört.
— Ich würde nicht sagen: Heiterkeit, sondern: Läppischkeit.
Zweitens ist zu dem Bericht im ganzen zu sagen, daß er durchgängig operiert, ohne daß er im einzelnen wissenschaftlich begründet wird. Man kann aus dem Bericht entnehmen, daß Einsichten in die Mängel des gegenwärtigen Bildungssystems und Einsichten in das, was zu tun ist, .nur auf Grund exakter Bildungsforschung und darauf folgender Analysen zu gewinnen sind. Man liest gleichzeitig, daß es das alles noch gar nicht gibt, daß das erst noch entwikkelt werden muß, daß die Bildungsforschung — man dürfe sich darüber nicht täuschen lassen — erst am Anfang steht. Die Bundesregierung hat trotzdem, trotz dieses Tatbestandes, den Mut, grundlegende Entscheidungen ohne wissenschaftliche Absicherung zu vollziehen.Was wir brauchen, meine Damen und Herren, sind laufende Reformen auf der Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Offenheit des Bildungssystems in die Zukunft hinein ist unsere Chance. Unsere Chance liegt nicht im Dogmatismus, sondern in der Modernität, die man nur dann gewinnen kann, wenn man den wissenschaftlichen Erkenntnissen sauber folgt und sie appliziert.
Zu den allgemeinen Grundsätzen und Zielvorstellungen für die Reform des Bildungswesens gehören nach Ansicht der Verfasser des Bildungsberichts die Schaffung eines demokratischen, leistungsfähigen Bildungssystems sowie die Beseitigung der sozial bedingten Chancenungleichheit. Niemand wird solchen Sätzen widersprechen können, weil sie die Selbstverständlichkeiten eines demokratischen Rechtsstaates sind. Aber man muß gleichzeitig feststellen, daß über diese allgemeinen Zielsetzungen hinaus bestimmt werden muß, was das denn eigentlich ist. Was wird unter „Demokratisierung" denn verstanden? Ist es nicht die Pflicht der Bundesregierung, in einem Augenblick, wo unter der Marke „Demokratisierung" an den Universitäten und Schulen diskutiert wird und wo unter diesem Begriff ganz andere Ziele verfolgt werden als die Stabilisierung der freiheitlich-rechtlichen Ordnung dieses Bundesstaates, dazu etwas Konkreteres zu sagen?In vielen Fällen werden die „zu demokratisierenden Strukturen", wie man sagt, nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen Aufgaben, sondern unter dem Aspekt ihrer Herrschafts- oder Machtverhältnisse betrachtet. Man spricht von der Machtstruktur eines Gymnasiums oder einer Universität und übersieht dabei, daß diese Macht meist eine klar begrenzte, auf eine bestimmte Aufgabe bezogene Amtszuständigkeit und Amtsverantwortung ist. Die Leute, die demokratisieren wollen, streben im Grunde genommen eine ständestaatliche Zuteilung der Einflußchancen nach paritätischen oder proporzmäßigen Kriterien an.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist, die Diskussion über die Drittelparität, wobei die radikalste Forderung, die nach Aufhebung nicht nur von Herrschaft, sondern auch von sachlicher Autorität ist.
— Von mir habe ich das, mit Verlaub zu sagen.Wohin diese Formen der Demokratisierung führen, zeigen deutlich die Zustände an den Berliner Universitäten und zum Teil auch an den hessischen Hochschulen. Eine unzumutbare Einschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre hat zu einer Abwanderung von Hochschullehrern und zur Resignation bei qualifiziertem wissenschaftlichen Nachwuchs geführt. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns dieses gefährlichen Irrtums bewußt werden. Die Demokratie wird im allgemeinen für das bequemste Ordnungssystem gehalten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Wichert?
Bitte!
Herr Kollege Martin, ist Ihnen bekannt, daß der Rektor der Frankfurter Uni-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4021
Dr. Wichertversität in einer Rundfunk-Diskussion in der vergangenen Woche erklärt hat, daß Gerüchte, die von nennenswerten Abwanderungen hessischer Wissenschaftler wissen wollen, nicht zu belegen sind?
Wir werden Ihnen im Laufe der Diskussion die Zahlen aus Berlin und Hessen genau nennen.Ich fahre fort. Die Freiheit, die dieses System bietet, wird heute oft mit Recht mit einem beliebigen, oft völlig undisziplinierten Verhalten gleichgesetzt, wobei man vergißt, daß der individuellen Freiheit auch von den Individuen selbst durch Bequemlichkeit und durch Freiheitsmißbräuche Gefahr droht. Es wird vielfach nicht begriffen, daß gerade in einer Demokratie individuelle Freiheit ausreichende Einsichten in das gesellschaftlich Notwendige erfordert und daß das Bemühen um solche Einsichten mehr Anstrengungen von allen verlangt als Bequemlichkeit gestattet.Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Man soll und muß in Schulen und Hochschulen die Formen des menschlichen Miteinander ändern, sie in ihren Strukturen freier gestalten, weniger hierarchisch bestimmen. Für Anhörung, Mitwirkung, Mitbestimmung sollte so weit wie möglich Raum gegeben werden. Nur muß man wissen, was Demokratie und was Demokratismus ist, was demokratische Ordnung ist, wo die Freiheit von Forschung und Lehre und die Effizienz des Unterrichts bedroht sind. Diese Grenze muß man genau sehen.Meine Damen und Herren! Wir haben heute wieder gehört, daß die Bundesregierung das A und O aller ihrer Bemühungen in der Einführung der integrierten Gesamtschule sieht. Das ist der Punkt, von dem aus man denkt, man könne das mannigfache Ach und Weh unserer Kulturpolitik kurieren. Dabei muß man aber wissen, daß sich hier der Bildungsbericht der Bundesregierung im deutlichen Widerspruch zu den Empfehlungen des Bildungsrates befindet. Der Bildungsrat hat aufgrund seiner Einsichten in die wissenschaftlichen Voraussetzungen von Schulorganisation und Bildungsziel diese Frage bewußt offen gehalten. Er hat davon gesprochen, daß man Schulversuche machen müsse, hat aber nicht die Einführung der integrierten Gesamtschule empfohlen. Mit Recht, meine Damen und Herren, denn ,die Diskussion darüber ist noch nicht zu Ende.Ich darf daran erinnern, daß auch qualifizierte Pädagogen, die der SPD nahestehen oder ihr angehören — wie etwa Professor Klafki in Marburg — bis heute die Meinung vertreten, daß die bisherigen Ergebnisse äußerste Vorsicht gegenüber utopischen Hoffnungen als geraten erscheinen lassen.
Die Erfahrungen an der Ernst-Reuter-Schule in Frankfurt sind nicht eben ermutigend. Das gleiche gilt von dem Göteborg-Bericht, in dem wirklich Material vorliegt und ,der von Leuten geschrieben worden ist, die Anhänger und Befürworter der Gesamtschule sind. Sie ziehen das Fazit von einem Dutzend Jahren und sagen: Die integrierte Gesamtschule hat nicht mehr geleistet als das herkömmliche System der Bildung, eher weniger; es gibt nur ein einziges Fach, nämlich Englisch, in dem diese Schule mehr geleistet hat. Es ist ebenso deutlich, meine Damen und Herren, daß die Gefahr der Niveausenkung durch diese Schule keineswegs ausgeschlossen werden kann.Herr Minister Leussink hat heute davon gesprochen, daß die sozialistischen Systeme so effizient seien und daß sie Spitzenleistungen hervorbrächten. Man muß aber natürlich gleichzeitig sehen, daß die Sowjetunion auf Profilschulen, d. h. auf wirkliche, auslesende Leistungsschulen im Interesse des Ganzen zugeht. Es ist wohl auch niemandem verborgen geblieben, daß die CSSR auf dem Rückweg zum gegliederten Schulsystem ist, weil die Ergebnisse der Gesamtschule — das ist hier nicht der Vergleich — negativ gewesen sind.
— Ja, das hängt aber weniger mit pädagogischen Einsichten als mit der Restalinisierung zusammen.
— Von allen, die mich hier hören, sind Sie der einzige, der mich mißverstanden hat.Wenn man den ganzen Erfahrungsschatz mit integrierten Gesamtschulen zusammenstellt, so kann man nicht sagen, daß das wesentliche Ziel, nämlich die soziale Integrierung, erreicht worden ist. Es zeigen sich im Gegenteil neue Niveauklassifizierungen, die die sozialen Konturen noch härter zeichnen, weil sie nicht mehr rückgängig zu machen sind. Nach aller Erfahrung kann die Gesamtschule — ich zitiere wieder Klafki — auch das Faktum der sozialschichtenbedingten Ungleichheit der Bildungschancen nicht direkt aufheben.
— Nicht allein, genau, Herr Meinecke, ich diskutiere jetzt die Problematik der Gesamtschule auf dem Hintergrund eines Berichtes, der ohne Rücksicht auf Erfahrung und Wissenschaft hier eine dogmatische Entscheidung gefällt hat.
Ich möchte noch hinzufügen, daß wir hier auch die Gefahr der Verschärfung der regionalen Chancenungleichheit sehen müssen. Zu einer voll funktionierenden integrierten Gesamthochschule gehört ein sehr großer Einzugsbereich. Wir werden bei der Einführung in den Großstädten erleben, daß sich das Gefälle zum Land zum Nachteil des Landes verschärfen wird.
Ich sage ein letztes Argument. Aus derselben Ecke von Pädagogen kommt folgendes Argument. Die Erprobung von Gesamtschulen braucht zehn bis fünfzehn Jahre. Meine Damen und Herren, wir können aber nicht zehn bis fünfzehn Jahre warten, bis das Ergebnis vorliegt, sondern wir müssen jetzt unser
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4022 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. MartinSchulsystem befähigen, seinen jetzigen Aufgaben in der Gesellschaft gerecht zu werden.
Für den Fall, daß Kooperationsangebote im Raum stehen sollten, möchte ich folgendes sagen: Wir sind bereit, die Fortentwicklung des Bildungswesens ohne Vorurteile auf dem Boden von Wissenschaft und Erfahrung mit Ihnen zu diskutieren. Dies wird um so eher möglich sein, je mehr wir in der Lage sind, uns von unseren Vorurteilen zu trennen.
Der Bericht geht dann zu den Abschlüssen über und spricht davon, daß 50 °/o das Abitur II ablegen und von diesen wiederum die Hälfte etwa 1 Million — ein Studium beginnen sollen. Herr Minister Leussink hat heute in seiner Rede — ganz mit Recht, wie ich glaube — einen Einschub gemacht; denn diese Sache funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß die Begabung ungeheuer plastisch und eigentlich genetisch nicht begrenzt ist.Der Bericht geht eigentlich von einer fast vollständigen Bildbarkeit und Bildsamkeit des Menschen aus; denn sonst ist ja so etwas gar nicht möglich. Hier muß einfach einmal gesagt werden, daß uns die Erfahrungen der amerikanischen Colleges zeigen, daß bei solcher Zielsetzung ein Drop-out, also eine Zahl von Abbrechern, von 24 % entsteht. Ich glaube, es ist eine Frage von hoher sozialer Dringlichkeit, sich Gedanken darüber zu machen, was aus den Menschen wird, die das nicht erreichen.
Man kann sich nicht einfach darüber ausschweigen; denn die Anstrengung der Erziehung und des Lernens bedarf einer sozialen Antwort.Herr Minister Leussink, Sie hätten auch schon dem Bericht des Bildungsrates entnehmen können, daß die wissenschaftliche Situation auf diesem Gebiet eine andere ist. Dort heißt es:Die wissenschaftlichen Grundlagen, die eine Neueinschätzung der Lernfähigkeit der Kinder nahelegen, sind nicht so umwälzend, daß in kurzer Zeit neue intellektuelle oder soziale Leistungen von Kindern erwartet werden dürften.Diese Tatsache wird völlig ignoriert. Es ist ein ganz klares Ziel jeder Bildungspolitik, jeder Begabung zu ihrer optimalen Entfaltung zu helfen. Wir sind der Meinung, daß jedermann so lange ausgebildet werden muß, bis seine Möglichkeiten erschöpft sind. Aber diese Ausbildung gelingt um so mehr, wenn man sie ohne Illusionen betreibt und nicht Kinder in Frustrationen hineintreibt, indem man sie überfordert und sie auf Ziele zutreibt, die sie vielleicht nicht erreichen können. Soweit mein Auge reicht, ist es leider gerade die Intelligenz, die genetisch am schärfsten umgrenzt ist.
— Ja sicher, das ist so. Ich will Ihnen dazu eine Seitenbemerkung machen. Das ist ein Schritt Vergangenheitsbewältigung. Im „Dritten Reich" hat man nur von Genetik gesprochen. Jetzt spricht man überhaupt nicht mehr davon, sondern spricht von der grenzenlosen Bildbarkeit des Menschen. Aber diese grenzenlose Bildbarkeit gibt es so nicht. Was man tun kann und tun muß, ist, das, was an Intelligenz vorhanden ist, maximal zu fördern.
Hier ergibt sich der erste Schwerpunkt jeder Bildungsreform, und zum Glück stimmen wir hier überein. Wir wissen, daß das Optimum an Bildbarkeit in den ersten Jahren liegt. Deshalb ist es unsere dauernde Forderung, die vorschulische Bildung einzuführen und den ganzen Bereich der Kindergärten neu zu ordnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Bitte schön!
Die Frage geht noch einmal auf die genetisch umgrenzte Intelligenz zurück. Gibt es nach Ihrer Kenntnis ein Verfahren, diese Intelligenz wissenschaftlich sauber festzustellen, bevor die Bildungsbemühungen an der entsprechenden Person abgeschlossen sind, d. h. wie wollen Sie jemals erfahren, ob Grenzen erreicht sind, wenn Sie nicht Bildungsprozesse weiterlaufen lassen?
Ich glaube, Sie sehen das nicht richtig, Herr Sperling. Ich will gleich darauf antworten.
— Herr Schoettle, von Ihnen hätte ich diesen Zwischenruf nicht erwartet. Wenn Sie keinen Wert auf die Beantwortung der Frage legen, dann können Wir das ja auch lassen.
Herr Sperling, man kann im übrigen fast in jedem Lebensjahr die Intelligenz genau bestimmen.
Und was das Entscheidende ist: man kann vor allem bestimmen, ob die Intelligenz in ihrer Entfaltung durch Milieu-Einflüsse gehemmt ist, und man kann Mittel und Wege finden, die Intelligenz zu ihrer eigenen Entwicklung frei zu machen. Das ist das Entscheidende. Die Verfahren dazu können heute als sicher gelten. Das weiß man ganz genau. Der Bildungsprozeß, der in Gang zu setzen ist, muß auf dieser Diagnose aufbauen, um dem Kinde den Weg zu zeigen, den es mit Erfolg und ohne Frustration gehen kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Sperling?
Ja, bitte!
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4023
Herr Kollege Martin, es ist Ihr Gebiet, glaube ich, in dem ein Mann namens Guilford geforscht hat, der ein Intelligenzmodell mit etwa 40 Faktoren entwickelt hat, von denen — wenn ich richtig unterrichtet bin — inzwischen ca. 30 nachgewiesen sind, wobei das einen sehr komplexen Zusammenhang abgibt. Wenn das so ist und außerdem, wie man weiß, Intelligenzquotientmessungen nur das messen, was sie messen können, aber nicht die gesamte Intelligenz, woher weiß dann ein Wissenschaftler, in welchem Ausmaß gemessene Intelligenz tatsächlich die ganze Intelligenz ist? Wie kommt es also zu dieser Festschreibung von Intelligenz mit „genetisch umgrenzt"? Das kann man nie vorher wissen, das kann man immer nur nachher wissen. Stimmt das?
Herr Sperling, jetzt müssen wir in die Sache einsteigen. Was Sie sagen, sind die älteren Verfahren von Intelligenzmessungen. Zur Intelligenzmessung gehört heute gleichzeitig eine genaue Durchmusterung der ganzen Persönlichkeit, der Antriebssphäre, der Affektivität, der Energie, des Durchhaltevermögens.
— Ja, das sind ja die Leute, auf die sich Herr Sperling beruft; die machen das so. Ich wollte die Frage beantworten. Warum denn jetzt polemisch? Wir wollen ja ein Sachproblem klären. Ich wollte Herrn Sperling sagen, daß das — selbstverständlich mit Unsicherheitskoeffizienten — sehr weitgehend möglich ist, und ich sehe die Chance eben darin, daß man in der Anwendung solcher Verfahren in problematischen Fällen den richtigen Weg findet. Das ist ja das, was heute in Erziehungsberatungsstellen laufend gemacht wird. — Noch einmal die Frage der Intelligenz? Bitte schön!
Nur eine kurze Frage, wenn Sie so freundlich sind.
Gern!
Nur die kurze Frage: Was halten Sie von der Behauptung, daß die bisherigen Verfahren der Intelligenzmessung selbst schichtenspezifisch orientiert sind und damit eigentlich nur schichtenspezifische Intelligenz messen?
Ich halte das für einen Beutebegriff und eine polemische Behauptung, Herr Sperling; das muß ich Ihnen leider sagen. Die Leute, die an der Sache arbeiten und von denen ich meine Weisheiten beziehe, stehen in aller Regel Ihnen näher als mir. Das sind die bekannten amerikanischen Forschungen über benachteiligte Kinder in den Slums von Chikago usw. Das sind ja die Forschungen, die zu dem Begriff der Bildungsbarriere, der affektiven Hemmungen, der Retardierung der Intelligenz geführt haben. Mir kommt es darauf an, Herr Sperling, diese Möglichkeiten zu nutzen, um individuell für das jeweilige Kind wirklich etwas tun zu können. Hier hat unsere Betonung der vorschulischen Erziehung ihre Wurzel. Das ist auch bildungspolitisch bedeutsam, weil das eine Sache ist, in der wir wissenschaftlich und zum Glück auch politisch einig sind.
Wir sollten diese Runde der Debatte damit beschließen, daß wir alles daransetzen, die vorschulische Bildung durchzusetzen; denn solange wir sie nicht haben, werden Hunderttausende von Kindern an ihrer intellektuellen Entwicklung gehindert werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage .
Ich würde doch jetzt gern — —
... des Herrn Abgeordneten Moersch?
Herr Abgeordneter Moersch!
Ja, für Schizophrenie bin ich nicht zuständig.
Herr Kollege Martin, darf ich die Frage stellen, wie Sie zu Ihrer Feststellung kommen, daß über Vorschulerziehung Einigkeit herrsche. Ist es nicht vielmehr so — ich habe das den Diskussionen auch mit Ihren Freunden und mit Wissenschaftlern entnommen —, daß über das Grundsätzliche der Vorschulerziehung Einigkeit herrscht, über den Inhalt aber bisher überhaupt keine Einigkeit herzustellen ist?
Die politische Einigung ist da, Herr Moersch. Der Kongreß in Hannover über Vorschulerziehung hat nun allerdings gezeigt, daß die Pädagogen über den ganzen Elementarbereich — dahin gehört es auch — nicht einig sind und daß da noch eine ganze Menge zu tun ist. Das ist die Wahrheit. Ich sage: wir sind dem Grunde nach politisch einig, nämlich hier die CDU, dort die SPD und, soweit ich weiß, auch die FDP. Wir haben das ja heute aus dem Munde des Ministers gehört. Wenn ich recht unterrichtet bin, ist Frau Hamm-Brücher der Meinung, daß das, wenn man schon noch einmal Prioritäten setzen soll, die erste wäre. Ich freue mich, daß wir da die erste Übereinstimmung gefunden haben.Lassen Sie mich noch ein Zweites sagen. Ich will jetzt nicht die 1 Million Studenten kritisieren, möchte aber auf folgendes Problem aufmerksam machen. Man muß in der Bildungspolitik vom Bildungswunsch des einzelnen und vom Bildungsbedarf der Gesellschaft ausgehen, weil ja diese 1 Million Studenten einen Beruf haben wollen. Ich bin keines-
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4024 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Martinwegs sicher, daß die Gesellschaft von 1980 in dem Zustand sein wird, daß sie 1 Million Akademiker unterbringen kann. Es ist dringend erforderlich, daß wir Methoden der Bedarfsforschung finden, damit wir laufend die Studenten darüber orientieren können, was Aussicht hat, sozial beantwortet zu werden. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber wir müssen Prognosen nicht nur für den Universitätsbereich, sondern für den Gesamtbereich erarbeiten.Eine weitere Sorge, meine Damen und Herren, muß ausgesprochen werden. Im Bildungsbericht fehlt jede Aussage darüber, wie das Personal für die dringend notwendige Ausweitung unseres Bildungssystems beschafft werden soll. Eine Million Kindergärten zusätzlich! Jedermann weiß, daß es heute schon ein Kunststück ist, für die bestehenden Institutionen Kindergrätnerinnen zu bekommen. Die Gymnasien unterrichten heute etwa 10% eines Jahrgangs. Viele Stunden werden nicht gehalten. Die Relation Eltern-Lehrer-Schüler stimmt nicht. Woher sollen die vielen Lehrer kommen? Woher sollen die Professoren kommen, wenn heute schon, wie man weiß, in bestimmten Fächern auf 500 Studenten ein Professor kommt? Dafür liegt kein Konzept vor. Es liegt kein Konzept für die mögliche Beseitigung des Lehrermangels und für den Zuwachs an Professoren vor. Eine Untersuchung in einem Land unserer Republik hat ergeben, daß die Zahl derjenigen, die sich um ein Lehramt bewerben, zurückgeht.Ein Wort zum Abschnitt über die Hochschulen. Ich will mich kurz fassen. Die Verfasser des Berichts irren sich, wenn sie glauben, mit einer Zuteilung von mehr Autonomie an die Universitäten seien die heutigen Probleme zu meistern.
Faktisch ist es so, daß die Hochschulen kaum in der Lage sind, die Hochschulmisere aus eigener Kraft zu beenden.
Der Ruf nach mehr Demokratisierung birgt die Gefahr, daß Forschung und Lehre von Mitgliedern der eigenen Universität behindert werden. Es kommt vielmehr auf ein ausgewogenes Verhältnis von Hochschulautonomie und staatlicher Aufsicht an.Eine weitere Frage, die heute beantwortet werden müßte, lautet: Wie stellt sich die Bundesregierung ein Fünfjahresprogramm zur Beseitigung des Numerus clausus vor, wenn in den nächsten zehn Jahren eine Million Studenten heranwachsen werden?Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle einmal kurz zusammenfassen. Wir glauben, daß die Reform des Bildungswesens eine laufende, dringliche, zwingend notwendige Aufgabe ist, die unter den Staatsaufgaben den ersten Rang haben muß. Wir bejahen viele Zielvorstellungen des Bildungsrates und des Bildungsberichts. Dazu gehören Elementarerziehung, Kindergartenplätze, Vorverlegung der Einschulung auf das fünfte Lebensjahr, Umstrukturierung des Schulwesens, verstärkter Ausbau und Neubau der Hochschulen, Integrierung der beruflichen Bildung, Entwicklung entsprechender Curricula sowie Ausbau der Erwachsenenbildung und der individuellen Ausbildungsförderung. All daswird von uns nachhaltig unterstützt. Wogegen wir uns wenden, meine Damen und Herren, ist die Vereinfachung, die Verharmlosung der Probleme und die Fixierung auf dogmatische Modelle ohne eine groß angelegte Bildungs- und Curriculumforschung.
Die finanzielle Kapazität zur Durchführung dieses Programms ist naturgemäß begrenzt. Es kommt darauf an, klare Prioritäten zu setzen und unumgänglich notwendige Stufenpläne zu entwickeln. Keine Reform ist möglich ohne Geld. Wir kennen heute die Größenordnungen. Wie immer man auch über Einzelheiten der Reform denkt, so viel ist sicher: daß die Größenordnungen von Bildungsrat und Wissenschaftsrat dem Grunde nach richtig gegriffen sind. Keine Reform wird weniger kosten; alle werden eher mehr kosten. Die Fachleute glauben, daß wir damit an der untersten Grenze sind. Hier liegt das eigentlich politische Problem.Meine Damen und Herren, wir hatten an und für sich vom Bildungsbericht erwartet, daß die Bundesregierung nicht ein drittes Gutachten erstatten, sondern dem Bundestag ein Programm mit politischen Entscheidungen vorlegen würde.
— Gut, ich nehme das auf: Diese Bundesregierung hat mit Recht gesagt, das sei die oberste Priorität. Der Herr Bundeskanzler hat es oftmals wiederholt, der Herr Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat es immer wieder gesagt. Aber wir wissen heute, daß die für die Länder entstehende Lücke den Umfang von 40 Milliarden DM haben wird, wobei wir uns jetzt nicht über 5 oder 8 Milliarden streiten wollen. Dabei muß man wissen, meine Damen und Herren, daß von dem Gesamten die Länder 67 %, die Gemeinden 27 % und der Bund nur 6 % zu tragen haben. Man kann also keinen bildungspolitischen Fortschritt markieren, wenn man von Bundesseite 20, 30 oder 40 % zulegt, denn die machen im Gesamtbudget der Bildung ganz, ganz wenig aus — ganz abgesehen davon, daß das, was hier ausgegeben wird, zum großen Teil nicht der Reform der Schule und Hochschule zugute kommt, sondern den normal laufenden Programmen.Es hätte heute auch etwas darüber gesagt werden müssen, daß dieser Bericht ja — es hört sich schon fast historisch an — davon ausgeht, daß die Baukosten um 3 %,
das allgemeine Preisniveau um 2 % und die Löhne und Gehälter um 6 % steigen werden. Das hört sich an wie ein Bericht aus der Zeit Adenauers.
— Das kann ich auch erwähnen, und da würde ich immer noch glänzend abschneiden. — Jedermann weiß, meine Damen und Herren, daß in diesem Jahre zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik die Kaufkraft bei Planungen für Bildung und
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4025
Dr. MartinWissenschaft auf Grund der inflationären Entwicklung im Rückgang begriffen ist.
Und wir wissen ganz genau, daß die Länder schon bei Ausführung ihrer normalen Programme notleidend sind. Es gibt eine Berechnung aus BadenWürttemberg, die das Defizit auf 53 Milliarden DM beziffert.Wenn die 70er Jahre ein Jahrzehnt der Bildungsreform sein sollen, müssen den Worten auch Taten folgen, und zwar in Gestalt konkreter Finanzierungsvorschläge. Allein mit der guten Absicht, den Bildungsausgaben Priorität einzuräumen, ist es nicht getan.
Ich glaube, die Pflicht der Bundesregierung ist eindeutig. Sie hat das Wort „Priorität" gesagt. Sie hat die 90 bis 100 Milliarden übernommen. Sie hat in der Regierungserklärung gesagt, sie wolle die Länder instand setzen, ihre schwierigen Aufgaben durchzuführen. Die Bundesregierung ist die Inhaberin der Steuerhoheit. Sie ist verantwortlich für die Fortentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und damit auch für die Finanzierung dieser hier vor uns liegenden Aufgaben.Meine Damen und Herren, diese Debatte würde ein Ergebnis haben, wenn eine Antwort käme. Die Antwort, die Herr Leussink gegeben hat, ist, so muß ich sagen, nicht befriedigend. Er hat auf die Prozedur und darauf hingewiesen, daß die BundLänder-Kommission darüber beraten und berichten soll. Aber wer den Umfang der Anforderungen für den Gesamtstaat kennt, weiß, daß diese Anforderungen die Möglichkeiten und Kompetenzen dieser Kommission überschreiten. Das sind Probleme, die an höchster Stelle — von der Bundesregierung selbst — entschieden werden müssen, weil es um folgende Fragen geht. Erstens: Welche Mittel können in den 70er Jahren unter Anspannung aller Kräfte im Gesamthaushalt für die Bildungsreform aufgebracht werden? Zweitens: Welche bildungspolitischen Ziele können und sollen mit diesen Mitteln verwirklicht werden? Drittens: Wer soll für die Verteilung der Mittel im einzelnen zuständig sein?Die Steigerung des Etats um 43 % hier beim Bund ist keine Antwort, weil diese Steigerung nur 6 % betrifft.
Es ist auch keine Antwort, wenn man sagt, daß bestimmte Entlastungen vorgenommen werden sollen. Die 50 Millionen, Herr von Dohnanyi, die mal von hier für ein Graduiertenprogramm angeboten worden sind, reichen gerade aus, um 2000 Lehrer in einem Bundesland zu unterhalten. Mehr ist das nicht. Das sind angesichts der Aufgaben, die hier zu lösen sind, nichts als milde Gaben.Hier liegt der springende Punkt. Wir werden weiter diskutieren müssen über den Inhalt der Bildungsreform, über die Bildungsziele, über die Organisation unserer Bildungseinrichtungen. Dabei plädieren wir dafür, sich nicht im Jahre 1970 festzufahren. Niemand von uns weiß, wie die Gesellschaft von 1980 aussieht.
Jedermann muß offen bleiben für neue Entwicklungen. Wer sich dogmatisch und voreilig entscheidet, schaltet sich selbst aus dem Innovationsprozeß von Wissenschaft und Pädagogik ohne Not aus.
Ich fasse zusammen: Wir halten die Bildungsreform, in der Bildung und Ausbildung gleichwertig und gleichgewichtig berücksichtigt werden, für dringend erforderlich. Die Reform kann nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn sie den gesellschaftspolitischen Hintergrund, aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse genügend in die Planung einbezieht. Angesichts der Tatsache, daß heute schon ein erhebliches Defizit an Lehrern besteht und die baulichen Voraussetzungen fehlen, müssen nach Ansicht der CDU/CSU zunächst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die Mängel im jetzigen Bildungssystem behoben werden können.Die CDU setzt am Beginn einer sinnvollen Bildungsreform folgende Prioritäten: Beseitigung des Lehrermangels, Ausbau der vorschulischen Erziehung zur Verwirklichung der Chancengleichheit, Beseitigung des Numerus clausus, Ausbau der Berufsbildung und volle Integration von Berufsbildung und Weiterbildung. Das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land muß durch den vermehrten Bau von Schulzentren und durch ein auf die Regionalstruktur I bezogenes Schulprogramm abgebaut werden. Nach Auffassung der CDU/CSU darf kein Schulsystem endgültig etabliert werden, das zu einem erheblichen Teil Abbruchschüler produziert. Die Vielgliedrigkeit muß durch einen übersichtlichen und durchlässigen Schulverbund und dessen Leistungsfähigkeit verbessert werden. Schließlich brauchen wir die Erforschung moderner Unterrichtstechnologien und eine genaue Untersuchung über die Möglichkeiten eines Unterrichts im Medienverbund.Wir diskutieren heute zum erstenmal auf Grund neuer Zuständigkeiten, auf Grund einer neuen Lage. Wir wissen heute mehr über unser Bildungswesen, seine Mängel und seine Chancen, als wir vorher wußten. Wir sind an der Stelle angelangt, wo politisch gehandelt werden muß, wo es sich zeigen muß, ob die Priorität für das Bildungswesen ein ernstliches Vorhaben dieser Bundesregierung ist.
Wir werden jedem Vorschlag, der dazu dient, unser Bildungswesen zu verbessern, folgen, wenn er rational begründet und realistisch in die Finanz- und Wirtschaftspolitik unseres Landes eingebaut ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Lohmar.
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4026 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Martin hat uns einen Einblick in die Vorstellungen der parlamentarischen Opposition zum Bildungsbericht der Bundesregierung verschafft. Er hat den interessanten Versuch gemacht, zugleich im konservativen Hinterland seiner Partei wärmende Hütten zu bauen und die Sozialdemokratische Partei links zu überholen. Beides zugleich, Herr Martin, ist schwer zu machen.
Meine, die sozialdemokratische Fraktion bleibt auch angesichts der Einlassungen der Opposition bei dem Eindruck, den wir nach der Vorlage des Bildungsberichts der Bundesregierung öffentlich bekanntgegeben haben. Nach unserer Auffassung ist dies das erste bildungspolitische Dokument in unserem Lande, das die Vorstellungen einer Bundesregierung in sich geschlossen, zusammengefaßt der Öffentlichkeit vorgetragen hat und ein präzises bildungspolitisches Angebot an den Bundestag und an die Bundesländer enthält.
Wir werden über viele Einzelheiten — Herr Kollege Martin, da haben Sie sicher recht — im zuständigen Ausschuß für Bildung und Wissenschaft noch mit der Regierung diskutieren müssen,
wobei ich als Vorsitzender dieses Ausschusses Ihrer Kritik an der Beziehung des Bundesministers zum Wissenschaftsausschuß aus meiner Erfahrung eigentlich nicht begründet finde. Mein Eindruck ist eher der, daß die Opposition vielleicht manche Gelegenheit außer acht gelassen hat, den Minister im Ausschuß mit ihren Auffassungen zu konfrontieren. Aber das ist Ihre Sache.
Da wir von Herrn Dr. Martin auf die formelle Seite der Zusammenarbeit in diesem Hause angesprochen worden sind, möchte ich gerne sagen, daß meine Fraktion die Anwesenheit einer Reihe von Kultusministern der Länder bei dieser Debatte ausdrücklich begrüßt. Ich bitte um Verständnis und Genehmigung der Frau Präsidentin, wenn ich in diese Bemerkung auch den langjährigen Kultusminister von Hessen, Ernst Schütte, einbeziehe, der dieser Plenarsitzung als Gast beiwohnt.
Meine Damen und Herren, meine zweite Bemerkung zum Bildungsbericht bezieht sich auf den Inhalt dieses Berichtes. Es ist hier, was nebenbei bemerkt eine nicht unbeachtliche organisatorische Leistung der Bundesregierung gewesen ist, zum erstenmal gelungen, die zunächst verschiedenen Vorstellungen einzelner Ressorts in einem Konzept zusammenzufassen. Der Bildungsbericht umfaßt den Sektor der Berufsausbildung, den Schulsektor und den Hochschulsektor. Auch dies hat es vorher in keinem
anderen bildungspolitischen Dokument einer Bundesregierung gegeben.
Nun hat Herr Kollege Martin beklagt, daß dieser Bericht eigentlich ein Ausbildungsbericht sei und kein Bildungsbericht. Meine Meinung ist genau gegenteilig, Herr Kollege Martin. Ich meine, daß die Bundesregierung einen Versuch gemacht hätte, ein hölzernes Eisen zu schmieden, wen sie dem Parlament einen Katalog von Bildungsinhalten und -normen angeboten hätte. Im übrigen meine ich, daß es nicht Sache einer Regierung ist, das zu tun.
Wir haben etwa im Deutschen Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen — Sie wissen das alle — über eine Reihe von Jahren, beinahe ein Jahrzehnt lang, versucht, die schwierige Verständigung über Inhalte der Bildung zwischen den verschiedenen Bildungsträgern in unserem Lande auszudiskutieren und zu Kompromissen auszuformulieren. Die Resultate liegen vor. Ich kann mir nicht denken, daß zwischen katholischer Kirche, evangelischer Kirche und sehr vielen anderen Trägern von Bildungseinrichtungen und -vorstellungen in unserem Lande bessere Kompromisse im prinzipiellen Bereich herauskommen könnten, als sie seinerzeit vom Deutschen Ausschuß erarbeitet worden sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Martin?
Herr Lohmar, es würde mich interessieren, wo nach Ihrer Meinung solche Entscheidungen, da sie ja unumgänglich sind, gefällt werden sollen. Zum Schluß muß ein Kultusminister ja sagen, was er eigentlich will.
Herr Martin, erstens besteht nach unserer Verfassungslage ein Unterschied zwischen dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und den elf Kultusministern der einzelnen Länder, was die formelle Seite Ihrer Frage angeht. Zum Inhalt selbst möchte ich auch für einen Kultusminister sagen: Ich halte es für ein Mißverständnis eines staatlichen Amtes, zu meinen, daß man der Bevölkerung den Inhalt von Bildung per staatlichem Erlaß dekretieren kann.
Das ist die Folge — —
Gestatten Sie eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Martin?
Ja.
Abstrahieren Sie nicht von der Tatsache, daß de facto solche Erlasse und Weisungen an die Schulen ergehen, und wer verantwortet die nach Ihrer Meinung?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4027
Das ist nicht unser Thema, Herr Dr. Martin. Läßliche Sünden kann man überall in der Politik beobachten. Im Moment geht es zwischen uns beiden um die Frage, wonach wir uns richten wollen, ob wir sozusagen eine normative Bildungsbegründung staatlich verbindlich anbieten und dann politisch durchsetzen wollen oder ob wir die Festlegung dessen, was Bildung inhaltlich bedeutet, dem freien Spiel der Kräfte und Menschen in unserer Gesellschaft überlassen wollen. Ich bin der zweiten Auffassung. Die Frage, die Sie in Ihrer Rede formuliert haben, gewinnt nur einen Sinn, wenn Sie der ersten Auffassung sind — sonst sollten Sie sie zurücknehmen.
Menie Damen und Herren, Herr Martin hat uns sozusagen die neuen zehn Gebote des bildungspolitischen Selbstverständnisses der CDU/CSU erläutert. Sie werden, Herr Martin, beim Durchlesen Ihrer zehn Punkte bemerken, daß sie im wesentlichen Funktionserwartungen an Menschen enthalten und daß sie auf Eigenschaften von Menschen abstellen, die Sie durch das, was Sie Bildung genannt haben, begünstigen oder fördern wollen. Ich finde jedoch, unser Staat und insbesondere die Bundesregierung haben einstweilen genug damit zu tun, einen Rahmen für die Entwicklung dessen zu setzen und zu schaffen, was an Bildung in unserem Lande sich dann darin entwickeln mag.
Unser Staat sollte sich darauf konzentrieren, Ausbildungsvoraussetzungen für jeden zu schaffen und diese Ausbildungsvoraussetzungen nach erkennbaren und öffentlich diskutierbaren Grundsätzen zu schaffen. Diese Grundsätze finden Sie im Bildungsbericht der Bundesregierung eindeutig vor.
— Ich habe gar kein Bedürfnis danach, mit Ihnen hier über Bildungsinhalte zu diskutieren, Herr Dr. Schober. Das können wir gerne in einem Privatgespräch oder in einem Universitätsseminar machen. Ein Parlament ist aber nicht der Ort, Bildungsinhalte von einer Partei oder einer Regierung aus zu proklamieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Martin?
Nein, Herr Martin, jetzt nicht, nachher. — Na gut, wenn Sie eine so schöne Frage haben, dann meinetwegen.
Vielleicht führt uns das weiter, Herr Lohmar. Ich wollte nur fragen: Ist Ihnen in der Geschichte irgendeines Landes eine Bildungsreform bekannt, die nicht Ausdruck einer Bildungsidee und deren Organisation nicht die Konsequenz davon war? Können Sie mir dafür ein Beispiel sagen?
In unserem Land, Herr Martin, gibt es sehr unterschiedliche konservative, progressive, liberale, soziale, sozialdemokratische, christlich-demokratische Auffassungen in vielen Spielarten, die miteinander konkurrieren. Ich finde das auch gut, wenngleich die Mehrzahl von Bildungsideen im politischen Lager der CDU/CSU uns in den letzten 20 Jahren bestimmt zehn Jahre an bildungspolitischer Reform gekostet hat.
Lassen Sie mich zu den Strukturmerkmalen des Bildungsberichts der Regierung zurückkommen. Meine Fraktion hat vier solcher Strukturprinzipien des Bildungsberichts mit besonderer Zustimmung zur Kenntnis genommen: Erstens den Grundsatz der Chancengleichheit, zweitens den Grundsatz der Demokratisierung, drittens den des pädagogischen Fortschritts und viertens den der Leistung. Lassen Sie mich zu diesen Strukturprinzipien des Bildungsberichts ein paar kommentierende Anmerkungen aus der Sicht meiner Fraktion machen.
Für die Realisierung der Chancengleichheit haben wir eine Reihe konkreter Vorschläge gemacht. Sie reichen von der Vorschulerziehung über ein sehr differenziertes Programm bis zur Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen in ihren Berufen. Sie führen auch zu einem neuen Verständnis des Lehrers und des Lehrerberufs. Wir wollen den Lehrer nicht länger als einen gesellschaftlichen Exponenten einer vergehenden ständischen Ordnung sehen, sondern als Moderator eines pädagogischen, sich inhaltlich demokratisierenden Bildungssystems.
Aus dieser neuen Sicht des Lehrers haben wir die Folgerung gezogen, ihn so auch im Bildungsbericht zu beschreiben.
Ein besonderes Thema der Chancengleichheit haben Sie, Herr Martin, angesprochen. Es ist ein Thema, von dem wir alle wissen, daß es Opposition und Regierung gemeinsam bedrückt, zumal es zu den bösen Erbschaften der letzten zehn Jahre der Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Bund und Ländern gehört, nämlich das Vorhandensein des Numerus clausus. Nur finde ich die Formulierung, die Sie zu diesem Thema gefunden haben, irritierend. Sie haben von der Regierung ein Programm des Numerus clausus gefordert. Das verstehe ich nicht. Meine Fraktion fordert ein Programm zur Überwindung des Numerus clausus
und nicht zur möglichst gedeihlichen Handhabung dieses Übelstands.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfeifer?
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4028 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Lohmar, würden Sie mir bestätigen, daß wir hier vor wenigen Wochen gemeinsam ein Programm zum Abbau des Numerus clausus verabschiedet haben und daß insoweit Ihre Auslegung dessen, was Herr Dr. Martin gesagt hat, für uns irritierend sein muß?
Es ist gut, wenn Sie das irritiert. Damit ist klargestellt, daß das nicht gemeint ist.
— Dann sollte man aber gleich in der Wortwahl genauer sein, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich zur zweiten Markierung kommen, zur Demokratisierung. Wir haben sie im Bildungsbericht der Bundesregierung auf drei Ebenen anvisiert — im Gegensatz zu Ihrer Vermutung, Herr Kollege Martin, es sei nichts Konkretes darüber zu lesen. Wir wollen die Demokratisierung durch eine individuelle Förderung auf allen Ausbildungsstufen für Lehrer und Schüler vorantreiben, für die einen in ihrem beruflichen Sektor, für die anderen in ihren Ausbildungsmöglichkeiten. Wir wollen die Demokratisierung durch eine intensive und extensive Einbeziehung der politischen Bildung in unser Schulwesen fördern, was in dieser Deutlichkeit auch zum erstenmal in einem bildungspolitischen Dokument einer Bundesregierung steht.
Drittens wollen wir sie durch eine kooperative Partnerschaft von Eltern, Schülern und Lehrern in den verschiedenen Schulen fördern. Wir können in der Schule nicht so tun, als ob die Demokratisierung eine wunderschöne Sache nur für alle Bereiche außerhalb der Schule sei, sondern wir müssen die Demokratisierung in einer praktikablen Weise in der Schule selber handhaben, wenn die Sache einen Sinn haben soll.
Es ist immer leichter, anderen Leuten Demokratie zu empfehlen, wenn man selber bei autoritären Verhaltensweisen bleibt. Nur gewinnt ein solches Verhalten gerade bei jungen Leuten nicht an Überzeugungskraft. Das ist der Grund, weshalb die Bundesregierung konkrete Kooperationsmodelle für Eltern, Schüler und Lehrer im Rahmen ,des Bildungsberichts entwickelt hat.
Drittens: zum pädagogischen Fortschritt. Herr Bundesminister Leussink hat in der Begründung zum Bildungsbericht heute vormittag klar gesagt, daß er — um es jetzt in anderen Worten auszudrücken — keine Experimente um der Experimente willen möchte, sondern 'das Experiment, das Wagnis auch im pädagogischen Sektor als ein Element .der Reform bejaht und politisch durchsetzen will. Das heißt: Uns geht es nicht darum, ein nicht durchdachtes Experiment an die Stelle der konservativen Beharrung als dem politischen Grundmerkmal der
letzten zehn Jahre im Bereich der Bildungspolitik zu setzen.
Wir wollen vielmehr das Experiment in vielen Bereichen wagen und es mit einer die Resultate dieser Experimente ständig kontrollierenden Erfahrung verbinden.
Wir wollen das Modell der rollenden Reform verwirklichen. Und dazu gehört eben auch der Mut zum Experiment.
Herr Martin, was Sie uns über die „Gefahren" der integrierten Gesamtschule gesagt haben, haben wir in den von Ihnen zitierten Dokumenten natürlich selber nachgelesen und uns seit geraumer Zeit durch den Kopf gehen lassen. Die CDU/CSU befindet sich in einem Irrtum, wenn sie glaubt, daß die Regierungsparteien — jedenfalls gilt das für die SPD — mit der integrierten Gesamtschule etwa utopische Hoffnungen verbänden. Das tun wir nicht. Wir wissen aber, daß die integrierte Gesamtschule nach allen Erfahrungen und allen pädagogischen Überlegungen, auf die wir uns stützen können, gemessen an anderen möglichen Modellen, die besseren Aussichten bietet, die ständischen Relikte der bestehenden und teilweise schon vergangenen Schulsysteme zu überwinden. Deswegen sind wir für die integrierte Gesamtschule.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Walz.
Herr Kollege Lohmar, wenn Sie so sicher sind, daß die integrierte Gesamtschule die beste Form ist, warum steht dann in Ihrem Bildungsbericht — ich zitiere —:
Die zahlreichen erst in den vergangenen Jahren begonnenen Schulversuche lassen allerdings bisher nur beschränkte Rückschlüsse auf die allgemeine Durchführbarkeit der dort erprobten Strukturen und Inhalte zu.
Wenn das schon in Ihrem eigenen Bildungsbericht steht, woher nehmen Sie dann den Mut, uns diesen Schultyp als die einzige Form zu empfehlen?
Verehrte gnädige Frau, es könnte natürlich im Laufe der Entwicklung geschehen, daß sich aus der Erfahrung noch mehr positive Hinweise auf den Sinn der Gesamtschule ergeben. Zum andern würde ich mich an Ihrer Stelle nicht über eine gewisse Rücksichtnahme der Bundesregierung gegenüber verhaltenen Bedenken aus dem Kreise der jetzigen parlamentarischen Opposition beklagen. Ich rede für meine Partei und nicht für die Bundesregierung. Die Meinung der SPD ist, daß die integrierte Gesamtschule in allen Ländern der Bundesrepublik sobald wie möglich eingeführt
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Dr. Lohmarwerden sollte. Wir werden politisch alles daransetzen, um dies so schnell wie möglich zu erreichen.
Ich komme nun zum vierten Grundsatz, der in dem Bildungsbericht ausgesprochen ist: dem Bekenntnis der Bundesregierung zur Leistung. Ich finde es sehr gut, daß Herr Bundesminister Leussink sich von der in der Öffentlichkeit leider von vielen vertretenen Vorstellung distanziert hat, daß Demokratisierung einerseits und Leistung andererseits zwei unüberbrückbare Gegensätze seien. Dies sind keine Gegensätze. Meine politischen Freunde und ich werden uns auf diese nur vermeintlich richtige Alternative nicht einlassen.Die Anhänger des traditionellen Leistungsbegriffs in unserer Gesellschaft gehen allerdings immer noch davon aus, daß Leistung sozusagen gebunden sein müsse an die Erwartung intellektueller Anpassung desjenigen, der eine Leistung erbringen soll, und an die Einfügung desjenigen, der etwas leisten soll, in bestehende Hierarchien, d. h. an seine Unterordnung oder Einordnung in bestehende Hierarchien. Beides scheinen uns überflüssige Voraussetzungen für den Leistungsbegriff zu sein.
Wenn man diese Voraussetzungen beiseite läßt, wird Leistung mit Demokratisierung nicht nur vereinbar, sondern dann ist es so, daß der eine Faktor den anderen bedingt.Auf der anderen Seite kommt in der Äußerung der Regierung auch klar zum Ausdruck, was ich ebenso notwendig finde, daß die Meinung mancher revolutionärer Anhänger der „neuen Linken" in der Bundesrepublik, Leistung sei schlechthin repressiv und nur ein verhüllender Ausdruck der Machtstrukturen in dieser Gesellschaft, einer genauen logischen und empirischen Betrachtung nicht standhält. Wer für sich selber in einer bevorzugten sozialen Lage das Recht beansprucht, eine Leistungserwartung der Gesellschaft ihm gegenüber dadurch zu ersetzen, daß er nur noch seinen Neigungen nachgeht, beansprucht für sich eine elitäre Außenseiterposition, für die in unserer Gesellschaft kein Platz ist.
Das muß man jedermann sagen, der aus der berechtigten Kritik mancher Gegebenheiten in unserer Gesellschaft fälschlich den Schluß zieht, sozusagen in einem sozialen Naturschutzpark in dieser Gesellschaft für sich selber überwintern zu können und die anderen dafür bezahlen lassen zu können.Eine vorletzte Bemerkung. Herr Leussink hat in seinem Kommentar heute mittag gesagt, die Bundesregierung sei der Meinung, daß wir zu einem koordinierten Föderalismus übergehen müssen. Er geht mit diesem Begriff des koordinierten Föderalismus einen Schritt weiter — vermutlich nicht ohne Absicht — als in dem schriftlich vorliegenden Bildungsbericht der Bundesregierung, wo noch von kooperativem Föderalismus die Rede ist. Die Tatsache, daß man sich in wenigen Monaten veranlaßt sehen kann, das Wort „koordiniert" an die Stelledes Wortes „kooperativ" zu setzen, zeigt das Tempo der Entwicklung an, das wir in der Bildungspolitik in der Bundesrepublik mittlerweile erleben.Es gibt hier ein Problem, das ich heute nur nennen will. Wir können darüber jetzt nicht abschließend reden, aber wir müssen das z. B. im Ausschuß tun. Die SPD hält es für sehr gut, daß wir einen Planungsausschuß für den Hochschulbereich haben und daß wir eine Bildungsplanungskommission haben, die auch den Forschungssektor — teilweise jedenfalls — mit abdecken soll. Nur sind dies Planungsgremien der Exekutiven von Bund und Ländern. Wir werden rechtzeitig darüber nachdenken müssen, wie die Landesparlamente und wie der Bundestag in diesen langfristigen Planungsprozeß einbezogen werden können,
damit wir uns nicht sozusagen in eine Vorabfolge von politischen Entscheidungen, die man Planung nennt, unversehens eingespannt sehen, ohne daß die Parlamente ihrerseits rechtzeitig ein sachliches Votum dazu sagen können.
Das ist ein Thema, über das wir in aller Ruhe miteinander reden müssen. Es wäre nur gut, wenn die Bundesregierung in der gleichen Richtung dächte und uns dabei helfe, dieses Problem zu lösen.
Eine letzte Anmerkung: zur Finanzierung der Aufgaben, die im Bildungsbericht genannt worden sind. Herr Martin, Sie haben natürlich recht: Man kann nicht alles gleichzeitig tun. Das wissen wir auch. Deswegen haben wir zunächst einmal die Prioritätenfrage zu lösen versucht, indem wir aus der nebelhaften Diskussion der vergangenen Jahre einen Ausweg mit der festen Zahl von 8 % gesucht haben. Das wollen wir politisch durchsetzen. Darauf hat sich die Sozialdemokratische Partei festgelegt, und das werden wir in Bund und Ländern schaffen.Damit bleibt die zweite Prioritätenfrage: Was machen wir innerhalb dieses Sektors von Bildung und Wissenschaft zuerst, an zweiter Stelle, usw.? Doch ich glaube nicht, daß man sich die Sache so einfach machen kann wie Sie, indem man ein paar Dinge nacheinander nennt und sagt: Damit fangen wir an, dann kommt das und dann kommt das. Die Erfolgschance einer bildungspolitischen Reform bleibt vielmehr in hohem Grade an die Gleichzeitigkeit von Maßnahmen auf den verschiedenen Sektoren gebunden. Wir können nicht das eine zuerst tun und alles andere vernachlässigen. Wir müssen versuchen, parallel die wesentlichen bildungspolitischen Reformschritte einzuleiten, auch wenn dadurch das Tempo des einzelnen Schrittes gegenüber der anderen Möglichkeit etwas verlangsamt wird.Im übrigen, Herr Kollege Martin, hätte mich wirklich interessiert, was die Opposition zu der ja nicht überhörbaren Anmerkung von Herrn Leussink zu sagen hat, daß ohne eine gewisse Bereitschaft zum Verzicht auch unserer Mitbürger diese Sache mit der Bildung und der Wissenschaft — Sie können auch die Umwelt noch dazunehmen als eine vielen all-
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Dr. Lohmarmählich endlich erkennbar werdende Problematik — und ohne eine Änderung des politischen Grunddenkens in unserem Staat nicht zu machen ist.
Herr Leussink ist der erste Bundesminister für diesen Verantwortungsbereich, der diese Einsicht nicht nur hat, sondern in einem Parlament auch klar und offen ausgesprochen hat.
Ich finde, das ist eine für die Aufrichtigkeit der Diskussion, die wir in den nächsten Monaten miteinander führen müssen, nützliche Bemerkung gewesen.
— Ich habe es nicht gehört, Herr Dr. Schober.Sie werden sich im übrigen bei dieser Frage in der CDU/CSU sehr viel schwerer tun als z. B. wir Sozialdemokraten; denn die Diskussion über das Verhältnis von privatem Wohlstand und öffentlicher Armut ist bei uns seit langem kritisiert worden, im Gegensatz zur CDU.
Sie haben die Bevölkerung in den letzten 25 Jahren systematisch daran gewöhnt, ihre gesamten Lebenserwartungen auf den privaten Konsum zu orientieren
und so zu tun, als ob Schulen, Krankenhäuser, Altersheime, Kindergärten usw. sozusagen vom Himmel fallen und als ob — —
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich wollte gerade noch meinen Satz zu Ende bringen, Frau Präsidentin, dann gerne.
Sie haben die Bevölkerung daran gewöhnt, die Steuern als eine lästige Begleiterscheinung der Tatsache zu werten, daß man Staatsbürger ist. Wir finden, daß wir hier zu einem völlig anderen Denken kommen müssen und daß wir auch aus der Dominanz von privatem Konsum gegenüber öffentlicher Armut heraus müssen,
wenn wir die Finanzierung der Infrastrukturaufgaben in dem nötigen Umfang bewältigen wollen. — So, Herr Martin, jetzt können Sie gerne fragen.
Herr Lohmar, Sie haben die hilfreiche Zahl von 8 °/o genannt. Ich stimme dem zu. Wann rechnen Sie mit entsprechenden Entscheidungen der Bundesregierung und Ihrer Landesregierungen, — wobei ich den Abschnitt aus Ihrer Versammlungsrede vergessen möchte?
Ich weiß jetzt nicht, auf welche Rede Sie sich beziehen, Herr Martin.
Ich halte es nicht für eine Aufgabe der Bundesregierung, nur für sich selber diese 8 % politisch zu markieren,
sondern bei allen Bundesländern, nicht nur bei den sozialdemokratisch geführten
— jetzt nicht, Herr Kollege Pfeifer —, auch bei den von der CDU noch regierten Bundesländern dafür zu sorgen, daß dies geschieht.
Eine letzte Bemerkung, meine Damen und Herren, nun wirklich ausschließlich an die Adresse der parlamentarischen Opposition gerichtet, sozusagen als eine Art Retourkutsche für die Freundlichkeiten, die Herr Kollege Martin der Bundesregierung gesagt hat. Ich habe mir eine Reihe von Stichworten aus Ihrer Rede aufgeschrieben, Herr Martin. Sie fordern in verschiedenen inhaltlichen Zusammenhängen von der Regierung gleichzeitig, daß sie sich vorsichtig anpassen und daß sie entschieden reformieren solle. Sie fordern, daß die Regierung abwarten und forschen soll, andererseits jedoch, daß sie rasch, schnell und zügig handeln solle. Sie reden im ersten Teil Ihrer Rede davon, daß im Bildungsbericht nur von Ausbildung, nicht von Bildung die Rede sei, und gegen Schluß beklagen. Sie die zu geringfügige Einbeziehung der Berufsausbildung in den Bildungsbericht. In vielen Passagen Ihrer Rede machen Sie den Versuch, den Strukturbedingungen unserer Industriegesellschaft auf die Spur zu kommen und auf diese Strukturbedingungen eine demokratische Antwort zu finden; in anderen Bemerkungen — etwa in denen zur Gesamtschule — bleiben Sie hingegen in einer mir unverständlichen konservativen Ausblendung Ihrer eigenen Argumentation
der ständischen Tradition Ihrer Partei verhaftet.
Das alles, meine Damen und Herren, läßt sich nicht auf einen Nenner bringen.
Wenn. man. diese miteinander nicht zu vereinbarenden Positionen
auf einen Nenner zu bringen versucht, stellt man leider fest: es geht nicht.
Herr Kollege, gestatten sie eine Zwischenfrage?
Nein, jetzt nicht. — Man findet sich vielmehr unversehens in einer Art von Lach- und Gruselkabinett wieder, in dem sich die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4031
Dr. Lohmarpolitische Gestalt der Christlich Demokratischen Union so bizarr und komisch bricht, wie es eben in einem solchen Kabinett nicht anders möglich ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Moersch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß offen bekennen, daß ich eigentlich erwartet hatte, der Sprecher der Opposition werde ein Gegenkonzept zum Bildungsbericht der Bundesregierung vorlegen. Ankündigungen dieser Art haben wir ja vernommen. Aber mir muß der Inhalt, offen gestanden entgangen sein. Ich glaube, nichts verdeutlicht besser, wie gut dieser Bericht ist, als die Tatsache, daß Herr Dr. Martin — ohne Zweifel eloquent und zum Teil im Vokabular einer Soziologenschule, die er sonst nicht besonders schätzt —
diese Vorschläge und Vorstellungen der Opposition vorgetragen hat.
— Die Frankfurter Schule.
— Herr Dr. Martin, vielleicht können Sie mich aufklären. Sie sind ja heute ein großer Aufklärer gewesen, was die Intelligenz betrifft.
Jedenfalls muß ich sagen, daß dieser Bildungsbericht der Bundesregierung eine hervorragende Leistung darstellt und ein in sich schlüssiges, konsequentes, logisches Konzept einer Rahmenregelung für die Entwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland anbietet. Ich bin der Auffassung, daß dieses Hohe Haus allen Grund hat, und zwar unabhängig von der Zugehörigkeit zu den Fraktionen —, Herrn Minister Leussink und seinen Mitarbeitern, nicht zuletzt auch Frau Staatssekretärin Dr. Hamm-Brücher, für diese hervorragende Arbeit zu danken.
Denn es ist nach langen Jahren vielfältiger und oft recht privater Äußerungen — „privat" im richtig verstandenen Sinne — zu dem, was man Bildungsreform nennt, hier doch eine Art Zeichen gesetzt worden, und wir müssen uns in der künftigen Diskussion dessen, was wir tun wollen, an diesen Bericht halten.
Ich sehe allein aus dem stetigen, unübersehbaren Wandel, der sich in einigen Ländern in diesem Bereich vollzieht, und auch aus dem Wandel, der in einigen Passagen — das muß man doch hervorheben — des Oppositionssprechers hinsichtlich der Haltung der CDU/CSU zum Ausdruck gekommen ist — ich muß doch wohl annehmen, daß Sie, Herr Dr. Martin, hier für Ihre ganze Fraktion und Partei gesprochen haben; daß muß man doch mindestens zunächst einmal vermuten —
— wie immer? darauf werden ich gleich kommen —, daß hier doch eine wichtige Einwirkung dieser Regierungskoalition auf die bessere Einsicht bisher oppositioneller Kräfte im Bildungswesen stattgefunden hat.
Ich möchte gleich hinzufügen, daß die Tatsache, daß die Diskussion auf der Basis eines solchen, sehr konkreten Berichts, der Gott sei Dank — das muß ich Herrn Dr. Martin entgegenhalten — auf allgemeinen bildungsidealistischen Schwulst verzichtet,
uns die Möglichkeit bietet, in Bund und Ländern das nachzuvollziehen, was unsere Verfassung uns mit der Forderung in den Grundrechten nach Gleichheit der Chancen, d. h. Gleichheit der Bildungschancen, bereits vor zwanzig Jahren aufgetragen hat.
Insofern ist es dank einer Koalitionsbildung, die die entsprechende Mehrheit gerade für diese Politik sicherstellt, nun endlich möglich geworden, in unserem Lande etwas zu tun, was für die Entwicklung der Demokratie, für die Existenz der Demokratie von entscheidender Bedeutung sein wird.
Denn in einem Land — darüber sind wir uns doch hoffentlich im klaren, meine Damen und Herren —, das auf dem Wege demokratische Verfassungen erhält, wie es Deutschland in seiner Geschichte immer widerfahren ist, d. h. als Folge von verlorenen Kriegen und nicht als Folge revolutionärer demokratischer Bewegungen, wie es sonst in europäischen demokratischen Ländern geschehen war — ich erinnere an Großbritannien, Frankreich und andere —, mußte das Auseinanderklaffen von demokratischer Verfassungsordnung, die niedergeschrieben ist, und tatsächlichem gesellschaftlichen Zustand, der sich am meisten in der Struktur des Bildungswesens ausdrückt, mußte eine solche Diskrepanz zwischen der Idealforderung nach Demokratie in der Verfassung und der Praxis hierarchischer, vielfältig ständisch gegliederter Bildungsstrukturen zu genau den Spannungen führen und hat dazu geführt, die wir in den vergangenen Jahren, ganz besonders während der Zeit der Großen Koalition, in dieser Bundesrepublik Deutschland von der Jugend her zu registrieren und sehr oft auch zu beklagen hatten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Probst?
Herr Abgeordneter Moersch, was verstehen Sie eigentlich unter ständischen Gliederungen in unserem Staat? Dieses Wort wird ständig gebraucht. Können Sie den Begriff einmal ein bißchen konkret erhellen?
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4032 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Kollege Dr. Probst, das will ich gern tun. Da müssen wir uns einmal eine ruhige Stunde aussuchen.
— Ich will Ihnen das ein bißchen erklären. In der bayerischen CSU gibt es Mitglieder, die uns im sogenannten Dokumentationszentrum in Madrid vor zwölf Jahren die Vorstellung einer Demokratie verkündet haben, die exakt auf den ständischen und ständestaatlichen Vorstellungen, wie sie sich in Portugal darboten, aufgebaut waren. Es gibt in Ihren Kreisen eine Reihe von Leuten, die etwa einer Stiftung angehören, die sich irrtümlicherweise Deutschlandstiftung nennt, und die das Ideal eines ständischen Aufbaus unseres Staates vertreten, das weit entfernt ist von dem, was in den Grundrechten unserer Verfassung steht.
Und es gibt unter den bildungspolitischen Leitsätzen, die Sie früher vor allem in der CSU, aber auch in diesem Hause schon vorgetragen haben, eine ganze Reihe von Komponenten — im Laufe dessen, was ich zu sagen habe, komme ich noch mit Einzelbeispielen darauf, daß hier noch Relikte vorhanden sind —,
bei denen man einfach übersehen wollte, daß die Forderungen nach Chancengleichheit eben nicht mit einer quantitativen Ausweitung des bisherigen Systems zu verwirklichen ist, sondern daß die quantitative Ausweitung dieses Systems soziokulturelle Milieusperren überhaupt nicht verhindern kann, sondern im Gegenteil noch verfestigen wird.
Es ist doch eine Tatsache, daß die Parole — Herr Professor Leussink hat es mit den Lesebüchern etwas anders umschrieben —: „Arm, aber reinlich" und „nicht zu viele Akademiker", damit die anderen die richtigen Arbeitskräfte bleiben, leider nicht nur von vorgestern ist, sondern gestern noch vertreten wurde und zum Teil heute noch vertreten wird. Es gibt z. B. Kollegen der CDU — im Landtag BadenWürttemberg gibt es zwei, die das gelegentlich tun —, die jetzt den besonderen Wert — sozusagen als Gegenprogramm zur Erweiterung des Hochschulwesens; als ob das eine Alternative wäre! —der Berufsschulen -- alter Art selbstverständlich —, der allgemeinen Berufsausbildung und überhaupt des beruflich-ehrlichen Daseins gegenüber den bösen Studenten uns öffentlich verkünden. Das nenne ich einen Geist, der dem Demokratieverständnis widerspricht, das Liberale und diese Koalition hier im Hause zu vertreten haben.
Es ist eben doch ein großer Unterschied, ob Sie hier — und die Sprecher, die dem Wissenschaftsausschuß angehören und deren Mitarbeit dort wir hoch schätzen in der Form rationaler Argumentation bildungspolitische Inhalte und bildungspolitische Strukturvorstellungen vortragen oder ob im Stile des Feld-Wald-Wiesen-Agitators auf dem Lande den Leuten jeweils nach dem Munde geredet
wird und ihnen gesagt wird, es sei eigentlich ganz gut, daß nicht soviel für die Bildung und Weiterbildung geschehe, weil sonst ihre eigenen Kinder ihnen ja künftig fremd würden, da sie selbst auch nur die Volksschule besucht hätten. Das ist eines der Argumente, die Sie draußen hören können.
— Das wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten?
So weltfremd sind wir ja nicht. Wir kennen unsere Pappenheimer, und wir wissen, wie sie sich jeweils auf ihr Publikum einzustellen pflegen.
— Herr Dr. Schober, Sie sind im Zweifel in einem solchen Fall überhaupt nicht gemeint. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ein Verleger so einfach argumentieren würde; das gibt es gar nicht. Aber daß es andere gibt, die das tun wollen, werden Sie hoffentlich nicht bestreiten.
— Na gut, dann bestreiten Sie es; dann sind wir verschiedener Meinung. Das ist ja auch schon einmal eine Feststellung.
— Ich habe das soeben zitiert. Soll ich Ihnen Namen nennen oder nicht? Sie lesen doch hoffentlich auch Lokalzeitungen und nicht nur Weltblätter, wie ich annehme.
— Ja, eben. — Dann werden Sie wohl finden, daß solche Äußerungen täglich getan werden, weil sie der Volksmeinung und leider auch dem Volksempfinden entsprechen.
Ich bin zu diesem Exkurs gezwungen worden, weil Herr Dr. Probst diese Frage gestellt hat. Herr Dr. Probst, ich frage mich immer, wieso Sie solche Antworten nicht selber wissen können. Sie sind doch in Bayern zu Hause;
Sie wissen doch, was dort auf diesem Gebiet verzapft wird.
Herr Kollege Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schober? — Bitte!
Herr Kollege Moersch, ist Ihnen entgangen, daß der Begriff des Stände-
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Dr. Schoberstaates dem Vokabular der 20er Jahre angehört, daß er eine nichtparlamentarische Form des Staates bedeutet und daß es keine demokratische Partei in unserem Staate gibt, die nach dem Kriege versucht hat, einen Ständestaat wiederaufzubauen?
Also, Herr Dr. Schober, da muß ich Ihnen sagen: dann sind wir offensichtlich über die Tragweite des Begriffes verschiedener Meinung.
Ich habe in diesem Hause als Berichterstatter bei
der Presse allerdings — eine Menge Kukolores gerade aus den Reihen der CDU/CSU auf diesem Gebiet gehört,
z. B. über die Einrichtung von Wirtschaftsräten, von besonderen Einrichtungen, die das Parlament denaturieren sollten, weil die gesellschaftlichen Gruppen autonom werden sollten, und ähnliches mehr. Das alles ist von Ihnen und von Ihren Freunden in diesem Hause früher schon vorgetragen worden. Das wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten.
Da stecken sicher Ideen dahinter, deren Verfechter eben diese ständische Ordnung noch vertreten und so getan haben, als ob es heute noch möglich wäre, diese Gruppen überhaupt abzugrenzen, was ja längst nicht mehr der Fall war.
Herr Kollege Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, Frau Präsidentin, wenn das auf die Redezeit entsprechend angerechnet wird.
Wird verlängert.
Herr Abgeordneter Moersch, nach der von Ihnen soeben gegebenen Definition des Ständestaates ist also die Tarifautonomie ständestaatlich, reaktionär, faschistisch oder was auch immer? — Würden Sie das bitte interpretieren; denn hier ist ja von einer gesellschaftlichen Gruppenautonomie die Rede.
Herr Professor Kotowski, jetzt muß ich Ihnen einmal eine Antwort geben, die Sie vielleicht überraschen wird. Ich habe von einem Professor der Geschichte — einem Kollegen von Ihnen — mal gehört, daß es eigentlich richtig wäre, die Möglichkeiten der Reife in einem Examen eines Kandidaten nicht nach seinen Antworten zu beurteilen, sondern nach der Intelligenz der gestellten Frage.
Es kann Ihnen doch offensichtlich überhaupt nicht entgangen sein, daß ich genau die Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie durch Übertragung von staatlichen Rechten auf gesellschaftliche Gruppen gemeint habe, wenn ich ständestaatliche Vorstellungen meinte. Sie wissen doch ganz genau, was hier gemeint war: Reichswirtschaftsratsmodelle und anderes mehr. Die Weimarer Republik hat doch solche Relikte gehabt,
und sie ist doch nicht gut dabei gefahren, daß man diese Dinge tradiert hat. — Herr Dr. Probst, Sie haben das große Vergnügen, daß Sie damals noch nicht im Bundestag waren. Es hat in diesem Haus eine ganze Menge von Leuten gegeben, die mit diesen Vorstellungen gelebt haben, weil sie Demokratie-Verständnis aus dem Obrigkeitsstaat bezogen und geglaubt haben, daß es da einen Kompromiß gebe.
Nun sind wir genau an dem Punkt, der mir bei dieser Bildungsdebatte so wichtig ist.
Jetzt stellt sich nämlich heraus — allein durch Ihre Intervention hier —, daß wir tatsächlich 20 Jahre zu spät dran sind, wenn Sie so wollen, mit der Frage der Grundlagen unseres Erziehungs- und Bildungswesens im Verhältnis zur Demokratie in Deutschland. Es ist kein Vorwurf, wenn ich sage, daß das 1949 nicht geschehen ist. Wir hatten andere Sorgen. — Ich komme am Schluß noch auf eine Bemerkung des Kollegen Martin, die mich stutzig gemacht hat. — Aber es ist doch ein Wahnwitz gewesen, daß sehr viele Kräfte in diesem Lande geglaubt haben, man könne diese eminent entscheidende Frage aus der Verantwortung des Gesamtstaates und des Gesamtparlaments und der Bundesregierung herauslassen und könne sie elf Ländern, ihrer alleinigen Zuständigkeit und Hoheit übertragen.
Das ist kein Vorwurf gegen die Länder. Aber dieses Verständnis in einer so wesentlichen Frage beruhte doch einfach darauf, daß man im Grunde von einer sehr alten deutschen Tradition ausgegangen ist, die darin bestand, daß es im Jahre 919 zunächst einmal die Länder, ich muß mich berichtigen: die Herzogtümer, und dann erst den übergeordneten Verband gab und daß 1000 Jahre später, nach 1945 die eigentliche Basis der Staatlichkeit wiederum die Länder gewesen sind.
In einem Land, das zu einem größeren Europa kommen "will, in dem wir einen gesamtstaatlichen Willen auch im Bildungs- und Erziehungswesen brauchen, kann das eben nicht gutgehen. Es führt zu Spannungen und Ungerechtigkeiten, jedenfalls zu einer Verhinderung der Chancengleichheit, die unsere Verfassung nun einmal aus gutem Grund vorschreibt. Wären wir in den Vereinigten Staaten, wäre die Bundesrepublik ein Kontinent, könnten wir es uns vielleicht leisten, zwischen einem Staat wie Kalifornien und einem Staat wie New York
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4034 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Moerschein solches Gefälle in den Lebenschancen zu haben. Da wir aber in der sehr kleinen Bundesrepublik Deutschland leben, können wir es uns nicht leisten, die bildungspolitische, die pädagogische Provinz in einer Weise mißzuverstehen, wie es in den vergangenen 20 Jahren sehr oft geschehen ist.
Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung und, wie ich meine, auch das Verdienst der Freien Demokraten, daß sie unablässig auf diese Thematik hingewiesen haben und wenigstens zu Verfassungsänderungen beitragen konnten, die uns ein Stück weitergebracht haben, Verfassungsänderungen, die Sie alle mit in die Verantwortung nehmen. Wenn ich sage: Sie alle, dann muß ich beklagen, daß nicht nur bei der Opposition, sondern auch bei meiner eigenen Fraktion und bei der SPD diejenigen, die jetzt einmal zuhören müßten, wenn z. B. von Prioritäten bei der Finanzierung gesprochen wird, abwesend sind.
Möglicherweise ist ihnen das unangenehm, weil nämlich Priorität auf diesem Gebiet heißt, daß man woanders etwas kürzertreten muß.
Die CDU löst das Problem neuerdings verbal auf sehr elegante Weise.
Ich habe vorhin Ihre Anträge gelesen. Neuerdingswird, offensichtlich unter. Betonung dessen, daß nichtalle Leute wissen, was „Priorität" auf deutsch heißt,
von „obersten" Prioritäten, nämlich für die Lehrerausbildung, und von „hohen" Prioritäten für die Vorschule gesprochen. Das erinnert mich ein bißchen an die Definition der dreifachen Art von Wahrheit, die wir in diesem Hause auch schon einmal gehört haben.
Das ist die feine Abstufung, die Sie offensichtlich deswegen wagen, weil Sie die wirkliche Priorität hier nicht deklarieren wollen. Etwas kann also nur an erster Stelle sein, und so kann es jedenfalls nicht sein. Diese rein sprachlichen Feinheiten zeigen schon, wie schwer Sie sich tun, wirklich Prioritäten zusetzen.
— Herr Professor Kotowski, dieser Zuruf ist mir zu meinem großen Bedauern entgangen. Ich habe ihn akustisch nicht ganz verstanden. Ich werde das nachprüfen.
— Ich weiß, was ein Prior ist. Das ist mir in diesem Zusammenhang durchaus bekannt.
Ich weiß auch, was „Priorität" heißt. Aber sagen Sie mir doch einmal, was eine „oberste" und was eine „hohe" Priorität ist, wenn Sie hier schon etwas definieren! So etwas haben Sie nämlich in Ihrem Antrag geschrieben. Nur soviel hierzu.Ich möchte dazu eine zweite Bemerkung machen, nämlich zu der — Herr Kollege Lohmar hat es dankenswerterweise schon angeschnitten — immer wieder gehörten Unterstellung, daß zwischen einem nach demokratischen Gesichtspunkten geordneten Bildungswesen und dem Leistungsgedanken eine Kluft, ein unauflösbarer Gegensatz bestehe.
Wir wollen — das ist in den Vorschlägen, die von den Freien Demokraten zum Aufbau des Bildungswesens gemacht worden sind und die dankenswerterweise in wesentlichen Teilen Eingang auch in den Bildungsbericht gefunden haben, sehr deutlich geworden — gerade auf der Basis der Gleichheit der Startchancen, der Chancen überhaupt, durchaus die Leistungsdifferenzierung fördern. Wir glauben, daß wir sogar zu einer Förderung des Leistungswillens kommen werden, wenn dies auf der Basis einer fairen Wettbewerbssituation geschieht. Zunächst war und ist es aber notwendig, die Wettbewerbsbedingungen überhaupt erst einmal anzugleichen, um zu einer gerechten Leistungsdifferenzierung kommen zu können.
Wer weiß, nach welchen Gesichtspunkten heute Examina abgenommen oder benotet werden und wie es mit dem steht, was man „Leistung" nennt und was dabei prüfbar ist, dem wird auch klar, was es bedeutet, daß wir etwa die Überbetonung bestimmter mehr theoretischer Fähigkeiten und Veranlagungen gegenüber den praktischen Fähigkeiten und Veranlagungen durch den Aufbau eines neuen Bildungswesens und eine neue Wertung ausgleichen wollen. Ich meine, das ist wichtig für sehr viele Eltern, die vor der Entscheidung stehen, welchen Schulzweig etwa ihre Kinder besuchen sollten oder welche Art von Berufsausbildung sie haben müßten.
- Zum Bildungsinhalt komme ich gleich, Herr Dr. Schober. Das ist eben ein Irrtum. Es ist noch lange kein Festlegen eines Bildungsinhalts, wenn ich sage, daß diejenigen, die bisher in unserem Bildungswesen durch bestimmte Prüfungsordnungen sozusagen benachteiligt gewesen sind, entweder weil sie vom Elternhaus her nicht die nötigen sprachlichen Fähigkeiten mitbekommen haben oder weil ihre Begabung mehr technisch-praktischer Art gewesen ist und sie damit allein etwa in der Benotung der verschiedenen Fächer unterbewertet worden sind, dadurch aufgewertet werden müssen, daß wir den Wert der berufspraktischen Bildung gleichsetzen mit dem, was man theoretische und sprachliche Begabung und Bildung nennt. Das ist doch ein ganz wesentliches Element.
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Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4035
Moersch— Entschuldigung, so weit können wir wohl vom Staat her gehen. Ich will das gleich abgrenzen. Es muß sichergestellt sein, daß jemand, der Sicherheit in seiner beruflichen Tätigkeit erlangt und berufliche Erfahrungen gewonnen hat, der über eine innere Sicherheit verfügt, bestimmte Probleme bewältigen und lösen zu können, der — etwa im Zuge einer Berufsausbildung — systematisch vorgehen gelernt hat, auf Grund dieser Eigenschaften in ähnlicher Weise reif ist für eine Weiterführung im Bildungswesen wie ein anderer, der das sozusagen von der Theorie her gelernt hat. Das scheint mir einer der wesentlichen Inhalte zu sein, die in diesem Bildungsbericht ja leicht zu erkennen sind.Ich möchte nun zu dem kommen, was Herr Dr. Martin hier aufgeworfen hat — Herr Dr. Lohmar ist darauf schon eingegangen —, als er meinte, daß die Bildungsinhalte vernachlässigt worden seien, daß im Bericht zu wenig über sie stehe. Ich bin da ganz anderer Meinung. Ich meine, es steht genau so viel darin, wie in einer pluralistischen Gesellschaft, in einer Demokratie von einer Regierung überhaupt gesagt werden kann.
— Herr Dr. Martin, wenn bei Ihnen genau das gleiche steht oder sogar genausoviel, dann frage ich mich, weshalb Sie sich da von uns abgesetzt haben.
Herr Moersch, das ist eine kleine Vereinfachung. Ich habe gesagt, das Bildungsziel muß gerade in der Lage, in der sich die Menschen heute befinden, detailliert gestaltet werden. Und ich wollte eben durch den Zwischenruf klarmachen, daß das durch eine pluralistische Gesellschaft abgedeckt ist.
Würden Sie bitte eine Frage stellen und keine Erklärung abgeben!
Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin!
Ich hatte doch den Eindruck gewonnen, daß Sie im Grunde — —
— Nein, das ist kein liberales Vorurteil. Liberale haben viel weniger Vorurteile, als Sie gelegentlich annehmen.
— Herr Dr. Martin, das war eine deutliche Erklärung. Sie sind in dieser Sache vom Fach, wie ich zugeben muß. Aber es lebt sich gelegentlich — den Eindruck hatte ich, wenn ich Redner aus Ihren Reihen hörte — doch mit den Vorurteilen offenbar ganz angenehm.Hier geht es darum, daß Sie offentsichtlich weniger Vertrauen in die Mündigkeit derer haben, denen wir dieses Bildungswesen in eigene Verantwortung geben wollen, als diese Koalitionsregierung. Es geht darum, daß wir uns nicht befugt fühlen, hier über einen gewissen Mindestrahmen hinauszugehen, und daß wir den Kräften in Wissenschaft und Gesellschaft — den Eltern beispielsweise, den Lehrern und anderen — selbst zutrauen wollen, daß sie die Inhalte im einzelnen bestimmen. Ja, ich gehe so weit, zu sagen, daß wir uns eines Tages — und zwar eines nahen Tages — entscheiden müssen, ob wir, wie ich das hier ein bißchen herausgehört habe, ein zentralistisches System haben möchten, das bis ins einzelne Bildungsinhalte einschließlich der Lehrplaninhalte definiert, oder ob wir nicht endlich dazu kommen wollen, lediglich die Zieldefinition dessen vorzunehmen, was wir etwa unter „Reife" verstehen, wobei wir ,den Lehrern im Zusammenwirken mit den Eltern, der Wissenschaft, der Pädagogik — oder, wenn Sie wollen, Lehrerkonferenzen in größerem Stil, etwa einer Bundeslehrerkonferenz; in Weimar gab es ja einmal einen ähnlichen Versuch, der allerdings nicht sehr gelungen war — dann überlassen müssen — etwa parallel zu dem, was der Juristentag tut —, in einer freien Diskussion über Erfahrungen und wissenschaftliche Kenntnisse im einzelnen zu bestimmen, was innerhalb der gegebenen Zielsetzungen, die im wesentlichen von der Verfassung selbst bestimmt werden, in den Einzelschulen überhaupt möglich ist, damit wir dann von der reinen Wissensvermittlung nach Vorschrift wegkommen und die Kinder wirklich in dem Sinne erziehen, daß sie selbständig und selbstverantwortlich handeln können, indem man ihnen Alternativangebote in großer Zahl macht, und zwar nicht nur, um etwa dem Lehrer die Arbeit zu erleichtern — darum ginge es gar nicht —, sondern auch, um diejenigen, die heranreifen, als Bürger — auch als Staatsbürger — an die Problemstellungen heranzuführen und sie in Verantwortungen auch beispielsweise über den Lehrinhalt selbst hineinzustellen, um sie damit auch entscheidungsfreudig zu machen. Das scheint mir ein Kriterium zu sein, das für die Demokratie außerordentlich wichtig ist.
So sehen wir ein Bildungswesen, das politische Bildung nicht als Fach allein zum Inhalt hat, sondern als durchgehendes Prinzip. Daß man es gerade schon an der Bestimmung bestimmter Bildungsinhalte in der Schule selbst erprobt, das mag dem einen oder anderen etwas zu weit gehen, aber sie sind — —
— Das ist gar nicht theoretisch. Wenn Sie auf diesen Weg gehen — und Sie sind ja offensichtlich alle bereit, ihn zu gehen —, der hier mit der differenzierten Gesamtschule oder der offenen Schule, wie wir gesagt haben, was die liberale Form der Gesamtschule ist, mit der Gesamthochschule, mit einer Integration der Berufsbildung, d. h. mit einer Gleichstellung der Berufsbildung mit der Allgemeinbildung, wie wir sie früher gekannt haben, nicht in der einzelnen Form gleichgestellt, aber im Inhalt jedenfalls, wenn Sie diesen Weg gehen, dann müssen Sie konsequenterweise zu dieser vollen Dezentralisation kommen und müssen den Staat herauslassen, ob der „Kultusminister" heißt dort „Bundesminister" oder
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4036 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Moerschwie auch immer, oder Landtag oder Bundestag. Sie müssen den Staat herauslassen, wo immer es möglich ist, und müssen es wagen, den Kräften, die hier selbst beteiligt sind, die Bestimmung der Inhalte im Einzelfall voll zu überlassen. Es kann sehr wohl sein, daß wir dann mehr zu einem gelockerten System privater Einrichtungen und staatlicher Einrichtungen kommen. Das hielte ich nicht für einen Schaden, sondern möglicherweise für ein großes Glück. Dann werden wir nämlich den Pluralismus wirklich praktizieren, der so schwer in diesem Lande zu praktizieren ist, obwohl er sich so leicht gelegentlich hinschreibt und obwohl er in der Verfassung praktiziert ist. Wenn es schon fast unmöglich ist, etwa im Strafrecht, einen Consensus über bestimmte Ansichten zu finden, wieviel schwerer wird und müßte es dann sein, die Bildungsinhalte im einzelnen so zu beschreiben, wie es hier von der Opposition vorgeschlagen worden ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Schober?
Herr Kollege Moersch, haben Sie die Zuversicht, daß Ihre ja sehr liberale, ich möchte nicht sagen: liberalistische Meinung zu möglichen Bildungsinhalten von Ihrem Koalitionspartner auch in Zukunft geteilt wird?
Herr Kollege Schober, die Sorge brauchen Sie sich gar nicht zu machen.
Sie haben soeben von Dr. Lohmar gehört, daß die sozialdemokratische Fraktion diesem Bildungsbericht voll zustimmt, und Sie haben von ihm über Demokratie und Leistung einiges gehört, was selbstverständlich die Ansicht der Liberalen ist. Ich kann nur sagen, daß hier der Consensus zwischen den beiden Koalitionspartnern größer ist und fast vollständig ist gerade in dieser Frage, jedenfalls weit größer, als er zwischen uns und Ihnen, solange wir in der Koalition waren, jemals sein konnte.
Das ist übrigens gar nichts Neues. Das war 1949 in allen klassischen Bildungsfragen in den Ländern so; das wissen Sie ganz genau. Da bestanden immer _deutliche Unterschiede zwischen FDP und CDU.Nun komme ich zu dem Punkt, wo Herr Dr. Martin zwar allgemein, aber nicht konkret gewesen ist. Auch über die Frage der Mitverantwortung, der Mitbestimmung, hat er eine wunderschöne Formel gefunden, über Demokratisierung und anderes mehr. Ich glaube, wir müssen doch endlich einmal davon loskommen, das nur unter, wie gesagt, formalistischen Gesichtspunkten zu sehen, sondern wir müssen auch hier ein bestimmtes Maß an Vertrauen investieren. Wir können aber nicht erwarten, wenn wir neue Formen der Mitverantwortung in Schule und Hochschule einführen, eine Mitbeteiligung etwa funktionaler Art, was ja insgesamt vorgesehen ist, daß die Generation, die das jetzt zum erstenmal praktizieren soll, das sofort in. der richtigen Weisepraktiziert. Wir können es vor allem deswegen nicht erwarten, weil ja niemand diese Generation auf diese Sache vorbereitet hat. Aber die Frage ist doch, ob ich deswegen, weil die Betroffenen — nicht nur die Studenten und die Schüler, sondern auch die Lehrer und Dozenten — auf diese Art von Mitverantwortung und Mitwirkung von Kooperationsmodellen durch keine Erziehung früher und jetzt vorbereitet worden sind, die ganze Sache fallenlasse oder ob ich gewissermaßen die Leute zunächst mal ins kalte Wasser springen lasse oder werfe und darauf vertraue, daß sie sich hier behaupten können, daß sie lernen, sich sachgerecht zu verhalten. Ich habe jedenfalls in meinem Leben die Erfahrung gemacht — das ist noch nicht so sehr lange her, aber es genügt für diesen Fall —, daß man gerade zu jungen Leuten und überhaupt in der Gesellschaft ein hohes Maß an Vertrauen in die Verantwortlichkeit investieren muß, um zu selbstverantwortlicher Verhaltensweise zu kommen. Ich bitte Sie, hier auch gewisse Schwierigkeiten, die da und dort entstehen mögen, nicht überzubetonen. Wir wissen sehr wohl, daß wir genau auf die Einhaltung der gebotenen Grenzen achten müssen. Das kann für einen Liberalen nur heißen, daß hier ganz klar der Begriff der Freiheit zu definieren ist, nämlich daß Freiheit des einzelnen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen berührt ist. Das ist ein klarer Fall. Daß das im ganzen nicht mechanistisch vor sich gehen kann, wissen wir ebenfalls. Aber ich meine, Sie verhalten sich hier etwas retardierend und möchten im Grunde genommen nicht darangehen. Überhaupt stelle ich fest, daß heute bei der Stellungnahme der Opposition insofern ein gewisser Wandel gegenüber früheren Stellungnahmen eingetreten ist, als Sie von der Opposition sich doch sehr stark unseren Grundvorstellungen anpassen, aber im einzelnen eben ein bißchen bremsen möchten. In anderen Fällen — Herr Dr. Lohmar hat es betont — haben Sie plötzlich sehr in die Zukunft weisende Vorstellungen entwickelt — ohne konkreten Inhalt, aber immerhin!Ich habe allerdings den Eindruck, daß Sie die Sache jetzt nach einem Verfahren praktizieren —weil Sie ja im ganzen keine Alternative bieten können —, das man aus der Massenpresse kennt. Dort gibt es die berühmten Meister der zweiten Welle. Das sind diejenigen, die mit der Behandlung eines Themas warten, bis es von jemandem, der der Katze erst einmal die Schelle umgehängt hat, in die Öffentlichkeit gebracht worden ist. Wenn bei dem Thema sozusagen der Durchbruch von denen geschafft ist, die sich dafür prügeln lassen müssen, kommen die anderen und nehmen sich dieser Thematik an, weil sie wissen, daß bereits eine bestimmte Grundpopularisierung erreicht ist. Dieses Verfahren ist im Schwäbischen als Weisheit der sieben Schwaben sehr geläufig: Joggele, geh du voran! Das ist eine bewährte Parole aller vorsichtigen Menschen, nur politische Führung ist das nicht.
Da möchte ich Sie daran erinnern, daß Sie in Ihren Reihen einen Mann haben, den ich heute als Redner vermisse; das ist Herr Professor Mikat. Ich verstehe gar nicht, was Sie gegen die differenzierte Gesamt-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4037
Moerschschule haben. Ich habe mir sagen lassen, daß Herr Professor Mikat vor sechs oder sieben Jahren die ersten Modelle dieser Art eingeführt hat.
— Er war der Meinung, daß die Sache vollständig klar sei. Er hat gar nicht die Zweifel geäußert — soweit ich das sehe —, die Sie haben. Das ist die Konsequenz einer Veränderung der Universitätsbildung, der Hochschulbildung, der Lehrerbildung überhaupt. Da gibt es gar kein Zurück. Das hat er getan. Ich frage mich nur: warum schicken Sie nicht jemand ins Treffen, der diese hervorragende Erfahrung hat? Ich kann nur vermuten: weil er eben zu konsequent auf diesem Gebiet gewesen ist und Ihre Bedenken keineswegs teilt. Es wäre jedenfalls interessant, das einmal hier zu erfahren.
Herr Kollege Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schober?
Ja.
Herr Kollege Moersch, sollten Sie Herrn Kollegen Martin wirklich so mißverstanden haben, daß Sie der Auffassung sind, er habe dezidiert die Gesamtschule für schlecht gehalten? Haben Sie nicht gehört, daß er gesagt hat, es müsse in der Ausbildung dieses Modells vorsichtig vorgegangen werden, es müßten Erfahrungen gesammelt werden und es könne auch die Möglichkeit bestehen, daß die Ergebnisse nicht unbedingt ermutigend seien, sondern daß sich auch negative Folgen zeigen könnten?
Herr Kollege Schober, ich darf einmal ganz vereinfachend sagen, was ich für einen Eindruck hatte. Ich hatte den Eindruck: es war weder heiß, noch kalt, sondern war ziemlich lauwarm.
— Natürlich, so haben Sie sich hier in der Sache selbst herausgeredet. Sie haben einerseits gesagt: so, und andererseits: so! Das war die Stellungnahme, die ich gehört habe. Ich müßte mich da sehr täuschen.Lassen Sie mich aber noch ein paar Bemerkungen zur Gesamthochschule machen, die mir doch von Wichtigkeit zu sein scheinen. Einmal ist im Zusammenhang mit dem Numerus clausus die Frage der Eingangsqualifikation angesprochen worden. Ich glaube, auch hier müssen wir zu einer Vorstellung kommen — und zwar für den Eingang zur Hochschule überhaupt —, die anders ist als das Bisherige. Das, was mit dem Abitur II gemeint ist, müßte doch durch die Möglichkeit zu ergänzen sein, die bestimmte Fachqualifikation dort zu erwerben, wo man sie innerhalb dieses Schulabschlusses nicht besitzt, aber nicht in Form eines Eingangstestes, sondern in Form einer Zusatzprüfung, die etwa nach einem Jahr bei angebotenen Fachkursen abgelegt werden sollte. Das wäre eine Möglichkeit, die inähnlicher Form nach dem Kriege an den Hochschulen schon einmal gegeben war.Wir müssen dabei auch bedenken, daß die so wichtige Studienreform, die in dem Bericht mit Recht hervorgehoben worden ist, entscheidend von der Veränderung der Inhalte der Staatsexamina und überhaupt der Examensinhalte abhängt. Es wäre nützlich, dort, wo überhaupt denkbar, Staatsexamen zugunsten von Universitäts- oder Hochschulexamen abzuschaffen.Weiter ist folgendes zu unterstreichen. Das Fernstudium, das, wie ich hoffe, in einer vernünftigen Weise — nämlich als Studium im Medienverbund -zustande kommen wird, sollten wir vor allem als Mittel zur Verbesserung der Didaktik überhaupt ansehen. Es sollte auf die Art der Darbietung im gesamten Bildungsbereich einwirken, und seine Bedeutung sollte weniger in der Entlastung liegen, die sich manche Leute davon versprechen und die sicherlich so schnell nicht eintreten wird.Die Neugliederung des Hochschulwesens und die regionale Verteilung haben einen eminent wichtigen Effekt in der Herstellung der Chancengleichheit nach Regionen, d. h. zu weilen ein wichtiges Mittel der Regionalpolitik sein. Es wäre schön, wenn man die Hochschulorte so lokalisieren könnte, daß künftig die Fahrtwege zum Hochschulort für den einzelnen Studierenden nicht mehr als 50 oder 60 km betragen.Ein letztes noch zu Dr. Martin. Er hat wieder ein Lieblingsthema hochgebracht, nämlich die Bedarfsforschung und die Bedarfsfeststellung für Akademiker. Er hat die besorgte Frage gestellt, was wohl mit den vielen Akademikern im Jahre 1980 werden wird. Zunächst einmal gibt es keine Kriterien, um den Bedarf in bestimmten Berufen im Jahre 1980 festzustellen. Ich glaube, das ist allgemein anerkannt. Ich kann nur warnen, neue Versuche dieser Art machen zu wollen, nachdem sie in den letzten 25 Jahren voll gescheitert sind. Ich denke an die Empfehlungen 'in den 40er und 50er Jahren, nicht Medizin zu studieren, oder noch 1948, nicht Lehrer zu werden, weil es ein Überangebot an Lehrern geben werde. Alle staatlichen Vorhersagen, wie immer sie gewonnen worden sind, waren hier nicht so ganz zuverlässig. Deswegen, glaube ich, müssen wir uns doch endlich von der Vorstellung freimachen, daß jeder berufsqualifizierende Abschluß — das ist ja hier in diesem Bildungskonzept als erstes Diplom vorgesehen — unter allen Umständen auch genau zu dem Beruf führen solle, für den er insgesamt gedacht ist. Wir versuchen ja gerade mit der allgemeinen Weiterbildung — dazu wird nachher mein Kollege Jung noch etwas sagen — eben eine zu frühe Differenzierung und zu frühe Spezialisierung zu verhindern. Wir werden dann auch davon ausgehen müssen, daß es bestimmte Berufstätigkeiten gibt, die ein Akademiker oder ein Nichtakademiker wahrnimmt, wie das heute auch schon der Fall ist, und daß dies gar nicht schlimm ist und keinen Verlust an finanzieller Substanz bedeuten muß, sondern daß eben die verschiedenen Möglichkeiten, sich Qualifikation zu erwerben, offengehalten werden müssen und daß es hier zunächst ein
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MoerschRecht auf Bildung gibt, ja auch ein Recht, wenn Sie so wollen, auf Überschuß an Bildung, wenn man das überhaupt so sagen kann. Wir sollten jedenfalls nicht restriktiv in diesen Prozeß eingreifen, sondern eher durch Information, durch Aufklärung, soweit das denkbar ist, ein Fehlverhalten in größerem Umfange zu vermeiden versuchen. Das ist einer der Punkte, die man anschneiden muß. Ich halte es also nicht mit der Quantifizierung. Ich glaube, das würde nicht gut gehen.
— Ach, hören Sie doch auf mit dem akademischen Proletariat! Das ist doch eines der Schlagwörter, Herr Dr. Schober, die Sie selbst nicht mehr ernst nehmen können. Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie die Hochschulkapazitäten ausweiten? Sie sind doch derjenige, der auch gesagt hat, der Numerus clausus müsse abgeschafft werden.
— Ja, bitte schön, dann seien Sie doch endlich einmal konsequent und finden Sie einmal eine staatliche Zugangsordnung für die Hochschulen. Dann sind Sie diese Sorge los. Ob Sie in zehn Jahren noch Ärzte haben, wird sich ja dann beispielsweise heraustellen. Das ist doch alles nicht fundiert. Da ist doch die Frage, was z. B. morgen irgendeiner Mehrheit einfällt, an Qualifikationsvoraussetzungen für den öffentlichen Dienst zu fordern. Da liegen doch die Fragen. Wenn Sie das Beamtenrecht so ändern, wie ich glaube, daß man es ändern muß, wenn man ein neues Bildungssystem aufbaut, dann werden Sie morgen ganz andere Fragestellungen haben. Sie deduzieren immer aus den Erfahrungen von vorgestern und meinen, damit könne man für übermorgen Politik machen. Das geht nicht.
Bisher waren jedenfalls alle Prognosen dieser Art ziemlich falsch. Sicher gibt es in einigen Berufen Überschuß, in anderen gibt es Mängel, aber wir wollen ja ein Bildungssystem aufbauen, das eben künftig den Übergang von einer Berufstätigkeit zur anderen erleichtert, und nicht dieses Kastensystem, Guckkastensystem, wenn Sie so wollen, das wir in der Vergangenheit gehabt haben.Nun fällt mir noch auf, was Herr Dr. Martin zusammenfassend gesagt hat. Er hat uns, da er insgesamt offensichtlich diesen Weg, den wir gehen wollen, für richtig hält, die dringende Empfehlung gegeben, zunächst die Mängel im jetzigen System zu beheben. Ich glaube, damit hebt sich die ganze Sache wieder auf, denn genau das haben wir ja mit großem Mißerfolg in der Vergangenheit gemacht: erst einmal quantitativ erweitern, anschließend nachdenken. Wenn wir dann nachgedacht haben, haben wir gemerkt, daß wir es gar nicht mehr verändern können, weil zuviel investiert ist. Siehe die Empfehlungen des Wissenschaftsrates 1960: Ausweitung der Dozentenstellen, und jetzt Schwierigkeiten: siehe Numerus clausus. Eben weil nicht das System selbst verändert worden ist, sondern weil man nur Mängel im jetzigen System beheben wollte,ist man im Grunde genommen in die Irre gegangen. Es ist besser, bestimmte Schwierigkeiten noch eine Weile anhalten zu lassen, als das alte System einfach zu erweitern und dann in zwei oder drei oder fünf Jahren potenzierte Schwierigkeiten zu haben. Dann muß man den Mut und auch die Nerven haben, etwas Richtiges neu zu beginnen und das Richtige sorgfältig vorzubereiten, d. h. das Neue richtig zu tun. Das muß man behutsam, aber entschlossen in Angriff nehmen.Ich meine, in diesem Bildungsbericht ist der Weg gewiesen, der hier gegangen werden sollte. Ich möchte Sie alle bitten, auch die Damen und Herren von der Opposition, die Bundesregierung auf diesem Wege schon deshalb zu unterstützen, weil wir sonst bei unserer schwierigen Verfassungslage die Zusammenarbeit mit den Ländern — sie wird ja nicht ganz leicht sein — unter keinen Umständen im Sinne derer voranbringen können, die die Betroffenen von Fehlern sind, die hier gemacht werden, nämlich der Kinder, die heute schon leben, und der Kinder, die morgen geboren werden.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser wichtigen Debatte mochte ich mich kurz zu drei Fragen äußern.Erstens möchte ich sagen, daß wir die notwendigen Reformen gerade auf dem Bildungssektor als einen kontinuierlichen Prozeß zu verstehen haben und die Probleme nicht mit einem einmaligen großen Einschnitt zu lösen sind.Zweitens möchte ich die Interdependenz, die gegenseitige Abhängigkeit der reformerischen Aufgaben in zahlreichen Bereichen unserer Gesellschaft betonen und darauf hinweisen, daß wir insbesondere bei dem Zusammenhang zwischen Bildungsreform und Weiterentwicklung der bundesstaatlichen Struktur nicht warten können, bis alle an sich notwendigen Reformen vollständig durchdacht und beschlossen sind. Wir müssen das jeweils Mögliche tun.Schließlich liegt mir daran, die Bildungsreform als eine Gemeinschaftsaufgabe par excellence hervorzuheben, zu deren Erfüllung insbesondere auch die Mitwirkung der Parlamente in Bund und Ländern von großer Bedeutung ist.Nun wissen wir alle, daß die Bundesrepublik Deutschland in der Debatte um innere Reformen nicht allein steht. Alle Industriestaaten in West und Ost erkennen die Notwendigkeit, angesichts der beschleunigten wissenschaftlich-technologischen Entwicklung Reformen in ihrer Gesellschaft durchzuführen.Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren, daß in unserem Staat heute nicht nur ein breites Drängen auf Reformen zu spüren ist. Wir wissen, daß auch die Erwartungen groß sind. Teile der Bevölkerung erwarten Reformen mit chirurgischer Dra-
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Bundeskanzler Brandtmatik, gewissermaßen so: Der Patient wird operiert, und in kurzer Zeit ist alles in Ordnung.
Ein allgemeines Reformbewußtsein entsteht auf großer Breite aber leider häufig erst, wenn die Reform schon äußerst dringlich geworden ist. Dies gilt nirgendwo mehr als auf dem Bildungssektor.Die Bildung dieser Regierung vor einem Jahr beruhte, wie es Kollege Genscher vor einigen Tagen gesagt hat — auch Herr Kollege Moersch hat sich eben darauf bezogen —, entscheidend darauf, daß die Notwendigkeit einer Anzahl großer Reformen unserer Politik nach außen und im Innern von Freien Demokraten und Sozialdemokraten gleichermaßen oder ähnlich gesehen wurde. Dies gilt seit langem gerade im Bildungsbereich.
Aber, meine Damen und Herren, diese Regierung kann es der Bevölkerung nicht ersparen, nüchtern auf die Zeiträume hinzuweisen, die für die Durchführung der Bildungsreformen notwendig sind, sowie innerhalb der Reformvorhaben auch aus finanziellen Überlegungen heraus Prioritäten zu setzen. Ich muß daran erinnern, daß diese Regierung in ihrer Regierungserklärung vor einem Jahr der Bildungspolitik eine herausgehobene Priorität einräumte und zugleich auf die Langfristigkeit der Reform hinwies.
Sie hat zu Beginn ihrer Regierungszeit einen Bildungsgesamtplan und ein Bildungsbudget für einen langfristigen Zeitraum zu wichtigen Bausteinen ihrer Arbeit erklärt. Vor uns liegt nun in den kommenden Monaten die große Entscheidung über den Inhalt dieses Bildungsplanes, für den Bund und Länder eine gemeinsame Kommission gebildet haben. Diese Kommission muß wirkliche Entscheidungen treffen. Sie darf zentrale Fragen, die noch streitig sind, nicht ausklammern; sonst würde die Bildungskrise weiter verschleppt werden, und genau das darf nicht geschehen.
Meine Damen und Herren, die Regierungschefs von Bund und Ländern haben sich die letzte Entscheidung über die Empfehlungen der Kommission selbst vorbehalten. Die Konstruktion der Kommission nimmt bewußt die Ministerpräsidenten und den Bundeskanzler für die Zukunftsaufgabe „Bildung" voll in Pflicht. Wir verstehen unsere Pflicht vor allem als Auftrag zur Integration und Abstimmung. Integriert werden die Zielvorstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen von Bund und Ländern. Sie werden auf einer Ebene integriert, die den gefaßten Beschlüssen ein hohes Maß an politischer Verbindlichkeit gibt und die Chancen für die Durchführung der Planungen entscheidend vergrößert. Abstimmung wollen und müssen wir zwischen der Bildungsplanung einerseits und den konkurrierenden Kernbereichen staatlicher Aktivität andererseits zu erreichen versuchen. Die Instrumente langfristiger Planung für diese anderen Bereiche fehlen überwiegend noch. Man muß sie schaffen, um auch hier zurealistischen Programmen für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre zu kommen.
Aus der Gegenüberstellung und Gewichtung der Programme müssen wir schließlich zur Entwicklung gesamtstaatlicher Perspektiven mit klaren Prioritäten und Stufen der Verwirklichung gelangen.
So weit sind wir noch nicht, doch die gemeinsame Bildungsplanung ist ein guter Anfang.
Meine Damen und Herren, wenn ich hier jetzt so oft das Wort „wir" gebrauche, so deswegen, weil ich mit den Regierungschefs der Länder in der Sicht unserer Verantwortung im Einklang zu sein glaube. Herr Kollege Martin, ich muß auch um Verständnis dafür bitten, daß die Antwort auf verschiedene Fragen, die Sie aufgeworfen haben, aus meiner Sicht und aus der Sicht der Bundesregierung loyalerweise nicht an den Ländern vorbei gegeben werden kann.
Sonst hat das ganze Vorhaben, mit dem wir jetzt begonnen haben, keinen Sinn.
Ich möchte hier — in Anwesenheit von kompetenten Mitgliedern des Bundesrates — betonen, daß die Bundesregierung und ich persönlich die bisher gezeigte partnerschaftliche und offene Haltung der Länder sehr zu würdigen wissen. In einer Zeit, da in verschiedenen Fragen, wie wir das ja heute auch schon erlebt haben, Regierung und Opposition hier im Deutschen Bundestag oft hart aufeinanderstoßen, hat sich die Zusammenarbeit mit den Regierungschefs der Länder, gleich welcher Partei sie ,angehören, für mich erfreulich sachbezogen und kooperativ gestaltet. In den Bereichen von Bildung, Wissenschaft und Forschung ist es schon gelungen, den im Grundgesetz durch die Finanzreform verankerten Auftrag der Gemeinschaftsaufgaben mit Sinn zu erfüllen. Die erfolgreiche und loyale Wahrnehmung dieser Aufgaben ist eine Probe auf die Möglichkeiten, Herr Kollege Lohmar, jetzt sage ich: des kooperativen und . koordinierten Föderalismus, damit ich nicht in meiner Wortwahl hinter dem zurückbleibe, was Sie aus dem Vertrag des Kollegen Leussink herausgelesen haben. Das gilt für Bund und Länder gleichermaßen. Nur wenn die Klammer des Art. 91 b des Grundgesetzes in der Praxis hält, kann der Versuch, den wir gemeinsam beginnen, als gelungen gelten. Insoweit ist die gemeinsame Bildungsplanung das Kernstück der Bund-Länder-Kooperation schlechthin.
Die Regierungen von Bund und Ländern bedürfen bei ihrer Planungstätigkeit der Unterstützung. Neben den Parteien, die als gemeinsames politisches Element in Bund und Ländern eine besondere integrierende Rolle spielen — jedenfalls spielen können —, sind hier die Parlamente, Bundestag und Landesparlamente, entscheidende Mitgestalter der Zukunft.
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4040 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundeskanzler BrandtDie heutige Diskussion zeigt, wie ernst es dieses Hohe Haus mit seiner Beteiligung an den Entscheidungen der Bildungsplanung meint. Dabei bin ich mir der Spannung wohl bewußt, meine Damen und Herren, die durch die Perfektionierung der Instrumente staatlicher Planung gegenüber dem Gestaltungswillen der Parlamente entsteht, und ich will das hier offen ansprechen. Das Budgetrecht der Parlamente wird, je längerfristig Planung sein muß, um so ergänzungsbedürftiger durch andere Formen der Mitentscheidung.
Die Bundesregierung erwartet von dieser Diskussion, von der Meinungsbildung dieses Hohen Hauses, die mit dem heutigen Tag nicht abgeschlossen sein wird, eine Leitlinie auch für ihre gemeinsame Planungstätigkeit mit den Ländern. Wenn so neben das Budgetrecht die aktive Einwirkung des Parlaments, nein: der Parlamente, nach unserer Verfassungsstruktur in der Bundesrepublik, auf die Strukturen und Inhalte des Bildungswesens tritt, dann kann dies für den Erfolg und die Tragfähigkeit der Reformplanung nur gut sein. Jedermann weiß, daß die Bildungsreform nur in Zusammenarbeit von Bund und Ländern durchgeführt werden kann. Jedermann weiß, daß sie nur durchgeführt werden kann, wenn dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen werden, und jedermann weiß auch, daß noch geraume Zeit darüber beraten und gestritten werden wird, wie wir zu einer möglichst produktiven Gestaltung oder Weiterentwicklung — wie man will — unserer bundesstaatlichen Ordnung gelangen. Wir sollten uns, so meine ich, durch nichts davon abbringen lassen, Klarheit über den' Inhalt der für die Bundesrepublik notwendigen Bildungsreform sowie über die dafür erforderlichen finanziellen Auswirkungen zu schaffen und die notwendigen Entscheidungen herbeizuführen. Uber Zuständigkeiten und Verantwortung sollten wir dann weiter- reden, wenn wir uns geeinigt haben, was wir bildungspolitisch für notwendig halten und was volkswirtschaftlich machbar ist.Meine Damen und Herren, die Strukturen, die wir entwerfen, die Kapazitäten, die wir schaffen, die Lehrer die wir ausbilden, all dies soll doch einem immer größeren Teil der Gesellschaft zur Verfügung stehen, und, Herr Kollege Martin, dies heißt, von allen möglichen Theorien dieser oder jener Gruppe abgesehen, für mich zunächst einmal Demokratisierung:
daß das, was an Bildung darzustellen ist, einem zunehmend größeren Teil der Gesellschaft zur Verfügung stehen soll. Dies kostet viel Geld. Zahlen sind heute genannt worden. Sie mögen nach genauer Berechnung anders lauten, die Dimension ist dennoch erkennbar.Wir müssen uns darüber klar sein, meine Damen und Herren, daß unsere Bürger diese Lasten nur unter zwei Bedingungen akzeptieren werden.Zum einen: Sie müssen davon überzeugt sein, daß es hier um ein Bildungswesen für das ganze Volk geht.
Deshalb kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß es hier auch und nicht zuletzt um die Berufsbildung geht.
Jeder soll jederzeit und überall seine Chance haben. Weder Herkunft noch Besitz, weder Alter noch Konfession, weder Wohnort noch Geschlecht soll die Chancengleichheit, soll das Bürgerrecht auf Bildung einschränken.
Nur wenn alle dies wissen und sehen, werden auch alle dieses Bildungswesen mittragen wollen.Zum anderen: In den neuen Strukturen muß auch ein neuer Geist wohnen. Gleichgültigkeit und Unlust dürfen die Reform nicht hemmen. Die Menschen in dem modernen Bildungssystem, das wir — es wird mühsam genug sein — entstehen lassen wollen, diese Menschen, ob Lehrende oder Lernende, sollen es aktiv und voll in Anspruch nehmen, d. h. aus dem Guten das Bessere machen und durch eigene Initiative und Leistung die verbesserten Bildungsmöglichkeiten nutzen. Diese Gesellschaft, so hoffe ich, will sich in einer großen, in einer dauernden Anstrengung ein neues und besseres Bildungswesen schaffen. Derjenige, der darin arbeitet, lehrt oder lernt, muß diese Anstrengung, die letztlich auch seine eigene ist, als Verpflichtung erkennen.Bei der Bildungsreform, meine Damen und Herren, geht es natürlich um die Zukunftssicherung, von der heute schon die Rede war. Natürlich war davon die Rede. Aber es geht dabei doch um den Einzelnen und seine Chance. Gelingen kann die Bildungsreform nur mit dem Einzelnen. Das ist die Chance dieser Gesellschaft und dieses Staates.
Das Wort hat Herr Staatsminister Professor Hahn.D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich in dieser Stunde als der Kultusminister eines Landes und der derzeitige Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundesrates das Wort ergreife, so möchte ich zunächst einmal aussprechen: Der Versuch der Bundesregierung, ein Gesamtkonzept für die Bildungspolitik der nächsten Jahrzehnte vorzulegen, ist zu begrüßen. Ein auf die Zukunft bezogenes Gesamtkonzept ist eine Forderung, die ich seit sieben Jahren in Baden-Württemberg erhoben und auch zu realisieren versucht habe. Ich stimme deshalb mit dem Bemühen, ein solches Gesamtkonzept zu erstellen, durchaus überein.Es mindert dabei die Leistung nicht, sondern empfiehlt sie, daß dieses Konzept nur in geringem Umfang eigenständig ist, vielmehr im wesentlichen eine Zusammenfassung der Ergebnisse des Strukturplans des Bildungsrates und der Empfehlungen
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4041
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg des Wissenschaftsrates darstellt, daß aber auch Reformvorschläge beispielsweise von Baden-Württemberg — etwa in der Frage des beruflichen Schulwesens oder der Erwachsenenbildung — ausgiebig verarbeitet worden sind. Dieses Auswerten von bereits vorgelegten Arbeiten dürfte den Konsensus hinsichtlich der Reformmaßnahmen erheblich erleichtern.Aber, meine Damen und Herren, erstmalig und nicht unbedenklich ist, daß die Bundesregierung einen Bildungsbericht als ein umfassendes und detailliertes Programm allein und nicht gemeinsam mit den Ländern vorlegt. Auch nachdem durch Grundgesetzänderung Art. 91 b neu eingefügt wurde, bleibt die wesentliche Kompetenz der Länder für das Bildungswesen voll erhalten. Allerdings ist der Bund berechtigt, mit den Ländern gemeinsam zu planen. Das ist notwendig, um eine einheitliche und in die Zukunft weisende Planung zu garantieren.Der Bildungsbericht und auch die Ausführungen des Herrn Bundesministers beteuern, daß es nur ein Diskussionsbeitrag sei und die Bundesregierung ein ganz enges Zusammenwirken mit den Ländern anstrebe. Herr Bundeskanzler, ich habe mit großer Zustimmung Ihre Erklärungen gehört, die Sie soeben abgegeben haben und in denen Sie ein sehr deutliches Ja zur bundesstaatlichen Struktur unseres gesamten Staatswesens gesagt haben. Aber eine Reihe von Äußerungen und Anzeichen deutet darauf hin, daß der Bericht mehr als ein Diskussionsbeitrag sein soll und daß die Länder zur Unterwerfung unter den Willen des Bundes genötigt werden sollen.Der neue Begriff, der hier eingeführt worden ist — Herr Kollege Lohmar hat darauf hingewiesen, daß er in dem Bericht stehe —, „koordinierter Föderalismus", wirft einige Fragen auf, die im Augenblick noch gar nicht ohne weiteres zu übersehen sind. Ich hoffe, daß es doch bei dem bleibt, was der Herr Bundeskanzler jetzt gesagt hat: daß es sich lediglich um eine Integration und Abstimmung zwischen Bund und Ländern als zwei gleichberechtigten Partnern im Bildungswesen handelt.Wir haben aber auch feststellen müssen — das dürfen wir aussprechen —, daß an keiner Stelle des Berichts und auch nicht in der Rede des Herrn Bundesministers von den großen Leistungen der Länder beim Aufbau des gegenwärtigen Bildungswesens die Rede gewesen ist, auch nicht von der Tatsache, daß der Weg zur Bildungsplanung durch die Bundesländer beschritten worden ist und daß es bestimmte Bundesländer gegeben hat, die als allererste den Weg der Bildungsplanung gefunden und alle Grundlagen dafür gelegt haben.
Auch von den unendlich vielen Schwierigkeiten, die in der Nachkriegszeit beim Wiederaufbau des Bildungswesens von Ländern und Gemeinden bewältigt worden sind, ist nicht die Rede gewesen.Zweifellos, meine Damen und Herren, entspricht eine Stärkung der Bundeskompetenz einer weitverbreiteten Stimmung in der Öffentlichkeit. Der Kulturförderalismus und insbesondere die Kultusministerkonferenz werden für alle Schwierigkeiten im Bildungswesen verantwortlich gemacht. Ich glaube, Herr Kollege Moersch wollte seine Ausführungen ja auch in dieser Richtung verstanden wissen. Man spricht leichthin vom Versagen der Kultusministerkonferenz und fordert dann als Allheilmittel die Zentralisation im Bildungswesen.Meine Damen und Herren! Es war ein ganz neuer Gesichtspunkt, daß durch den Föderalismus etwa die Chancengleichheit verhindert würde. Ich würde gern einmal nachgewiesen haben, inwiefern das der Fall sein soll. Im allgemeinen wird hier ja ein ganz anderer Vorwurf erhoben.Ich möchte zu diesen Vorwürfen ganz kurz folgendes sagen. Zunächst einmal: Auch alle Länder mit zentralistischer Bildungspolitik leiden unter den gleichen Schwierigkeiten. Es handelt sich bei diesen Schwierigkeiten, wie der Herr Bundeskanzler richtig hervorgehoben hat, um ein internationales Phänomen, das sehr viel tiefere Wurzeln hat als das Versagen einer dezentralisierten Bildungsverwaltung. Deshalb würde sich der heute weitverbreitete Unmut über die Notstände im Bildungswesen, die natürlich vorhanden sind, bei einer Zentralisierung sofort auf die Bundesregierung verlagern, während heute elf Kultusminister, jeder an seinem Stück, unter persönlichem Einsatz mit den Problemen ringen.Zweitens. Die wichtigste Klage ist, daß das Bildungswesen nicht überall gleichgeordnet ist. Meine Damen und Herren, dabei wird zweierlei verkannt. Neben der Forderung nach Einheit des Bildungswesens geht ebenso laut die nach Erfüllung differenzierter Wünsche. Jede Woche fordert eine Elterngruppe oder eine Stadt eine Speziallösung im Schulwesen und beruft sich dafür auf ihr demokratisches Mitbestimmungsrecht. Deshalb sind nicht die Unterschiede zwischen den Ländern, sondern die Unterschiede zwischen den Schulen in den Ländern mit differenzierten Programmen die Hauptursache der Vielgestaltigkeit.
Dazu kommt die Fülle neuer Reformüberlegungen, die überall experimentell veränderte, aber oft auch einmalige Lösungen vorschlagen. Wenn es gar Wirklichkeit würde, was Herr Kollege Moersch vorgeschlagen hat, daß die Curricula jeweils von den Beteiligten in jeder einzelnen Schule und Stadt gestaltet werden sollten und es nicht Lehrpläne geben sollte, die vorgeschrieben werden wollen, dann möchte ich einmal sehen, wo die Einheit des Bildungswesens bleibt und wie es möglich sein soll, von einer Schule zur anderen überzuwechseln.
Wenn wir es mit dem demokratischen Mitbestimmungsrecht aller am Bildungswesen Beteiligten ernst nehmen, meine Damen und Herren, müssen wir auch künftig mit einem Höchstmaß an Vielgestaltigkeit leben. Die Uneinheitlichkeit bleibt also auch bei dem Bundeskultusministerium voll bestehen.
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4042 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-WürttembergDrittens. Zur Frage des Föderalismus möchte ich folgendes feststellen — ich spreche hier quasi pro domo —: Die Kultusministerkonferenz hat in der Stille und trotz der oberflächlichen Kritik eine gute Arbeit geleistet.
Sie hat im Rahmen des Möglichen koordiniert und insbesondere für das innere Schulwesen — ich nenne beispielsweise die Neuordnung des mathematischennaturwissenschaftlichen Unterrichts als ein Beispiel aus der letzten Zeit — schon ein gutes Stück an Reformen geleistet. Sie hat die Grundlage geschaffen für eine langfristige und realistische Reform aller Bildungsstufen, und das alles auf der Basis der freiwilligen Koordination, getragen von der Sachkenntnis und den Impulsen der Kultusministerien und der Landesparlamente.Eine Übertragung der Entscheidungen nach Bonn würde überdies eine Anonymisierung und Bürokratisierung des Bildungswesens mit sich bringen.
Das Maß an Verärgerung, die es heute ja in hohem Grade gibt, würde sprunghaft ansteigen, aber es würde sich nur auf die zentrale Instanz richten.
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen, die wir mit der Demokratisierung haben, sind sehr viel realistischer als die, die hier zum Teil vorgetragen worden sind von Leuten, die nicht täglich mit diesen Problemen in den Schulen zu ringen haben.
Ich möchte mich im Augenblick auf diese Probleme nicht einlassen.Es sollte also gerade in einer auf dem Bildungssektor so bewegten Zeit bei der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes zwischen Bund und Ländern bleiben. Der Föderalismus muß zweifellos noch mehr kooperativ und funktionsfähiger werden. Aber eine grundsätzliche Verschiebung zugunsten des Bundes wäre weder der Bildungsreform dienlich noch mit dem Grundgesetz zu vereinen.Meine Damen und Herren, meine zusammenfassende Kritik bezieht sich auf fünf Punkte.a) Das bisherige und in der Vergangenheit — ich sage das betont — auch bewährte Schulsystem wird in dem Bundesbericht zu schnell als überholt und angeblich an einer nichtdemokratischen Gesellschaftsform orientiert abgewertet und zur Auflösung freigegeben.
Umgekehrt werden — damit stimme ich mit dem überein, was sehr viele hier gesagt haben — noch völlig unerprobte Bildungsinstitutionen, wie die integrierte Gesamtschule oder die integrierte Gesamthochschule, als Allheilmittel angeboten.
Herr Minister Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lohmar?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön!
Herr Minister Hahn, ich wollte mich bei Ihnen nur erkundigen, ob Sie Ihre letzte, soeben getroffene Feststellung gemacht haben als Präsident der Kultusministerkonferenz oder in Ihrer Eigenschaft als Minister Ihres Landes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie irren sich. Ich spreche überhaupt nicht als Präsident der Kultusministerkonferenz. Der Präsident der Kultusministerkonferenz ist derzeit Herr Kollege Vogel, — damit Sie richtig orientiert sind.
— Ich bin auch nicht Vizepräsident, sondern ich spreche hier lediglich als Landesminister und als Mitglied des Bundesrates.Meine Damen und Herren, man vergesse nicht: Es gibt überhaupt noch keine integrierte Gesamthochschule. Wir in Baden-Württemberg haben den Begriff „Gesamthochschule" erfunden, und wir experimentieren in diesem Augenblick die Zusammenfassung an unseren Hochschulen durch. Aber noch weiß niemand, was eine integrierte Gesamthochschule sein wird und ob sie sich bewähren wird.
Trotzdem ist sie hier im Bericht schon festes und als Optimum empfohlenes Programm.
b) Die quantitativen Vorstellungen über die anzustrebende Entwicklung werden vom Wissenschaftsrat übernommen ohne jede kritische Analyse.
Der Bericht baut auf Zahlen auf, die zum Teil noch unausgereift, lückenhaft und hypothetisch sind.
Diese Zahlen sind weder von der Nachfrage her noch durch die Anforderungen des Bedarfs untermauert, sondern auf der Basis von gesellschaftspolitischen Wunschvorstellungen gegriffen.
Der Bildungsbericht stellt damit ein Expansionsprogramm auf, das nicht den Anspruch erheben kann, realistisch zu sein.
Ich stimme mit dem Herrn Bundeskanzler durchaus überein, wenn er hier die Forderung nach Realismus unterstrichen hat.c) Das Programm ist finanziell nicht abgesichert und in dieser Weise auch gar nicht durchführbar. Es nimmt auf die mittelfristige Finanzplanung in Bund
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D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg und Ländern keine Rücksicht. Es bezieht große und kostspielige Bereiche des Bildungswesens wie die Ausbildungsförderung und den Ausbau der Sonderschulen noch gar nicht in seine Berechnungen ein. Es ist also unvollständig. Auch nimmt es auf andere dringende Staatsaufgaben wie Verkehr, Gesundheitswesen, Umweltschutz keinerlei Rücksicht, sondern setzt voraus, daß all dieses zurückgestellt wird, um ein ideales Bildungsprogramm in Kürze zu verwirklichen. Es bekennt damit, daß das Bildungswesen mit Gesundheit, Verkehr und Umweltschutz in einer tiefen, sachlichen Interdependenz steht.
d) Weiter verkennt der Bericht, daß die personelle Ausweitung durch Vermehrung des Lehrerpersonals und seine immer höhere Entlohnung eine natürliche Grenze hat. Die OECD hat auf ihrer großen Konferenz im Sommer in Paris festgestellt — ich habe an ihr teilgenommen , daß Bildungsausgaben nur bis zu einem gewissen Prozentsatz an den Gesamtausgaben eines Staates und des Volkseinkommens zur Steigerung der Effektivität der Volkswirtschaft sich produktiv auswirken. Es gibt ein Limit, dessen Überschreitung die Ausbalancierung des Ganzen gefährdet. Herr Kollege Moersch, es gibt durchaus auch Fehlinvestitionen — er ist leider nicht da —: wenn wir z. B. Germanisten ausbilden und sie später als Tankwarte einsetzen müssen, dann ist das eine Fehlinvestition.
e) Schließlich fehlen — allerdings auch beim Bildungs- und Wissenschaftsrat alle Überlegungenüber die soziopsychologischen Auswirkungen vieler Maßnahmen. So wird z. B. nicht gefragt, ob sich das Hineinnehmen von etwa 12- bis 16jährigen Schülern in eine der heutigen Universität sehr gleichende Gesamtschule, in der das Jahrgangsklassenprinzip zugunsten von lauter individuellen Kursen aufgelöst ist, nicht ebenso anonymisierend und sozial und psychisch belastend auswirkt wie heute hei vielen Studenten unser Universitätssystem.
Wie wirkt sich ein solcher Massenbetrieb auf die psychische und soziale Haltung unserer Jugend aus, zumal wenn sie schon in ganz frühen Jahren in einen solchen Massenbetrieb hineinkommt? Wird sie dadurch nicht allzu früh aus helfenden sozialen Bezügen gelöst? Wird sie dadurch noch mehr zu Neurosen neigen, als es jetzt schon der Fall ist? Wird sie um so mehr nach Rauschgiften greifen?
Wird sie dazu noch mehr sozial aggressiv werden?
Kann man heute in der Zeit des Jugendprotestes Reformprogramme aufstellen, ohne sich diese soziopsychologischen Fragen zu stellen?
— Ich verstehe Ihre Aufregung nicht. Das sind doch Fragen, die in diesem Hause, wie ich annehme, wohl noch gestellt werden dürfen,
zumal die Frau Bundesgesundheitsministerin diese Fragen auch sehr laut stellt.
Doch nun wende ich mich der Kritik der Zahlen zu, und damit komme ich ins Detail, und im Detail sitzt bekanntlich der Teufel. Der Bildungsbericht erklärt lapider in Anlehnung an Forderungen des Wissenschaftsrats: Etwa die Hälfte eines Altersjahrgangs solle das Abitur II — also das heutige Abitur in ganz veränderter Form — erwerben und davon die Hälfte — also 25 % — solle in den Gesamthochschulbereich eintreten. Man kann diese Forderung nur richtig beurteilen, wenn man die Annahmen des Wissenschaftsrates und die bisherige Entwicklung kennt.Meine Damen und Herren, die erste Frage lautet: Ist eine solche Steigerung der Zahl der Abiturienten bis zum Jahre 1980/81 zu erreichen und kann sie von uns verkraftet werden? Dazu muß man folgendes wissen. Wir hatten im Jahre 1952 rund 4 % Abiturienten pro Altersjahrgang. Wir hatten 1969 rund 10 % Abiturienten pro Altersjahrgang.
Diese schnelle Steigerung um 6 % pro Altersjahrgang hat teilweise zu unerträglichen Engpässen und Schwierigkeiten an unseren Gymnasien und Hochschulen geführt. Sie braucht Jahre, um verkraftet zu werden.
Jetzt aber ist eine Steigerung um 40% pro Altersjahrgang in 11 Jahren geplant. Dies bedeutet, daß sich die absolute Zahl der Abiturienten von 1969 bis 1980 versechsfachen würde, während die Zahl zwischen 1952 und 1969, also in 17 Jahren, nur auf das Dreifache gestiegen ist. Nur jemand, der alle Maßstäbe verloren hat, kann glauben, daß eine solche Steigerung in so kurzer Zeit nicht zu katastrophalen Verhältnissen führen wird.
Die zweite Frage, die ich stellen muß, lautet: Was soll aus diesen 50% eines Altersjahrgangs werden? Der Bildungsbericht der Bundesregierung erklärt, etwa die Hälfte, also 25 %, sollten in den Gesamthochschulbereich eintreten. Das klingt für den Nichtkenner vernünftig und unverdächtig. Aber, meine Damen und Herren, hier liegen die schwersten Probleme, die mir auch auf bohrende Fragen im Wissenschaftsrat selbts nicht beantwortet werden konnten.Da ergibt sich zunächst die Frage: Was sollen 25 % eines Altersjahrgangs machen, die das Abitur II absolviert haben, also die Hochschulreife besitzen, aber nicht in den Hochschulbereich gehen sollen? — Die Antwort lautet: Sie sollen in die Wirtschaft gehen. — Auf die Frage, ob die Wirtschaft entsprechende Berufe anzubieten hat, die diese 25 % eines Altersjahrgangs mit Abitur auf-
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D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg nehmen, mußte zugegeben werden, daß es solche Laufbahnen bisher nur in verschwindend geringem Maße gibt.
Meine Damen und Herren, es ist auch gar nicht denkbar, daß diese innerhalb der kurzen Spanne von 10 Jahren geschaffen werden. Mit anderen Worten: 25% eines Altersjahrgangs sollen 1980 zwar das Abitur II machen, ohne in die Hochschulen zu kommen, aber — und das ist gravierend — ohne daß diesen 25 %ein äquivalentes qualifiziertes Berufsangebot gemacht werden kann. Auf diese Fragen haben die Verfasser der Pläne keine Antwort.So fragen wir heute die Bundesregierung: Was soll 1980 oder, 1981 aus 25 % eines Altersjahrgangs werden, der mit dem Abitur II in die Wirtschaft gehen soll? Welche Berufe sollen diese Abiturienten ergreifen? Wir haben heute einen Numerus clausus für 1 % eines Altersjahrgangs, der Medizin oder Elektrotechnik studieren will. Das führt schon zu Protesten und zu Demonstrationen. Man erklärt, daß der Abiturient auf Grund von Art. 12 des Grundgesetzes ein Recht auf Studium habe. Was aber wird, so frage ich, wenn statt 1 % eines Altersjahrgangs 25 % zwar die Berechtigung zum Studium erwerben, aber keinen Studienplatz bekommen sollen und bekommen können? Denn davon ist nirgends die Rede, und das ist auch unmöglich, daß für 50 % eines Altersjahrgangs Studienplätze geschaffen werden. Demgegenüber nimmt sich die Forderung, den Numerus clausus jetzt abzubauen, sehr merkwürdig aus. Denn es muß zu einer unerhörten Verschärfung des Numerus clausus in den nächsten Jahren führen, wenn die Pläne so durchgeführt werden.Nun ergibt sich aber für die anderen 25 % des Altersjahrgangs 1981, die in den Gesamthochschulbereich eintreten sollen, eine ebenso schwerwiegendes Problem, ein Problem, das zeigt, wie undurchdacht doch hier geplant wird. Der Bericht gibt auf Grund von Annahmen des Wirtschaftsrates an, man werde dann mit etwa 1 Million Studenten rechnen können. Dies sei wünschenswert. Es ergebe sich allerdings eine Kapazitätslücke an den Hochschulen, die mit etwa 200 000 bis 250 000 Plätzen angesetzt werden müsse.Diese Zahlen halten keiner Nachprüfung stand. Die Zahl der Studenten wird vielmehr sehr viel höher liegen, meine Damen und Herren, und das Defizit an Studienplätzen wird ein Vielfaches betragen.Die Rechnung sieht so aus: Wenn wir die 25 % eines Altersjahrgangs einmal als 100 % der Studenten des Gesamthochschulbereichs ansetzen, so sollen von ihnen 40 % in ein Langstudium von vier bis sechs Jahren bzw. in ein Lehramtsstudium von vier Jahren gehen und 60 % in ein Kurzstudium von nur zwei- bis dreijähriger Dauer. Nur diese kurze Studiendauer bzw. Studienbegrenzung führt zur Zahl von rund 1 Million Studenten.Nun kann uns aber niemand die Frage beantworten, welche Studiengänge in vier bis sechs Semestern absolviert werden sollen. Kein einziges Fach ist zu einer solchen Verkürzung bereit. Faktisch haben wirfast überall mindestens acht bis zehn Semester, und wer ist in der Lage, die Fächer zu benennen, in denen so kurzfristig ausgebildet werden kann? Und wer, so frage ich, meine Damen und Herren, hat die politische Kraft, eine solche Kurzausbildung gegen den massiven Widerstand der Studenten durchzusetzen? Wer will hier mit welchen Mitteln lenken? Und das soll bei 60 % der Studienanfänger geschehen; das wären später rund 375 000 bis 450 000 Studenten.Läßt sich aber die Verkürzung auf vier bis sechs Semester für 60 % der Studienanfänger nicht durchsetzen und setzen wir statt dessen im Durchschnitt acht bis neun Semester an, so erhöht sich die Gesamtzahl der Studenten für das Jahr 1980 bereits von 1 auf 1,25 Millionen. Dies ist eine Mindestzahl. Es ist aber unmöglich, für eine solche Zahl bis 1980/81 die notwendigen Studienkapazitäten zu erstellen.Dies alles steht hinter der Fassade dieses Bildungsberichts der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, ich fürchte, es handelt sich um ein Potemkinsches Dorf.
Und ich fürchte, daß, wenn einmal diese Massen der Studenten vor den Türen der Universitäten stehen und nicht eingelassen werden, die Unruhe eine ganz andere sein wird als die, mit der wir es heute zu tun haben.
Nun kommt noch zum Schluß die Frage der Finanzierung, die ich aber nur kurz ansprechen möchte, weil sie ja von verschiedenen Sprechern dieses Hauses — sowohl von Herrn Kollegen Martin als auch vom Herrn Bundeskanzler — bereits angesprochen worden ist .Ich bin mit dem Bildungsbericht der Bundesregierung der Meinung, daß die Aufwendungen der öffentlichen Hand für das Bildungswesen sehr gesteigert werden müssen. Sie müssen sogar eine weit über das heute Vorstellbare hinausgehende Höhe erreichen. Aber es bleiben ja doch zwei Forderungen: Erstens. Auch die Aufwendungen für das Bildungswesen müssen im Rahmen der Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft gesehen werden. Priorität für das Bildungswesen darf nicht absolute Priorität sein, vielmehr muß die Gesellschaft, um gesund zu bleiben, ein entsprechendes Wachstum auch auf anderen Gebieten haben. Das Bildungswesen darf also nicht isoliert gesehen werden. Hierzu gehört etwa auch die Beachtung der Konjunktur und die Erhaltung der Stabilität der Währung.Zweitens. Das Steueraufkommen ist so zu gestalten und zu verteilen, daß diejenigen, die die Hauptlast tragen, auch zu den Leistungen instand gesetzt werden. Es ist schon davon die Rede gewesen, daß bisher die Länder 63 % der Kulturausgaben getragen haben, die Kommunen 26 % und der Bund etwa 11 %. Die Länder sind aber mit den heutigen Steuermitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, nicht in der Lage, die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen.
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D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-WürttembergIch lege dies noch in wenigen Worten dar; dabei beziehe ich mich auf die dem Bildungsbericht zugrunde liegenden Vorstellungen des Bildungsrates. Diese haben so wichtige und aufwendige Bedarfsfaktoren wie die Ausbildungsförderung — ich erwähnte das schon —, die Sonderschulen, die Gesamtschulen und die Ganztagesschulen noch nicht einbezogen. Deshalb liegen die im Bildungsbericht angegebenen Zahlen für die Schulen mit 44 bis 59 Milliarden DM im Jahre 1980 erheblich zu niedrig. Aber auch für die Hochschulen, für die 26 bis 36 Milliarden angesetzt sind, wird nur mit 1 Million Studenten statt mit mindestens 1,25 Millionen gerechnet. Deshalb sind auch hier die angenommenen Zahlen zu gering.Während der Bundesbericht eine Gesamtsumme von 100 Milliarden jährlich für das Bildungswesen vorsieht, wird man also unter Berücksichtigung der vom Wissenschaftsrat und Bildungsrat rechnerisch nicht hinreichend ausgewiesenen Bedarfsfaktoren — ich nannte Ausbildungsförderung, Sonderschulen, Gesamtschulen, Ganztagesschulen, Versorgungsbezüge — und in Anbetracht der zu erwartenden höheren Studentenzahlen eine Summe von 110 bis 130 Milliarden ansetzen müssen. Das bedeutet eine Erhöhung der Bildungsausgaben, die 1970 ca. 22 Milliarden betragen, auf das Fünf- bis Sechsfache bis 1980.Es kann nicht meine Aufgabe sein, Vorschläge zur Lösung dieser Problematik anzubieten.
Feststellen muß ich aber, daß bei der derzeitigen Steuerverteilung die Länder dies nicht leisten können. Eine entsprechende Verschuldung ist auch nicht denkbar. Wenn der Bund bildungspolitische Ziele aufstellt, die weit über den Spielraum der öffentlichen Gesamthaushalte hinausreichen, muß er sich gleichzeitig zur drastischen Erhöhung der Steuerlast bekennen, die allein noch eine Finanzierung möglich macht. Ich darf bei dieser Gelegenheit erwähnen, daß die Steigerungsraten bei den Ländern zum Teil sehr viel höher sind. Das ist vorhin angesprochen worden. In meinem Haushalt beträgt er von diesem Jahr zum nächsten 19 % und nicht nur 8 % für das Bildungswesen.Diese Fragen stellen bedeutet nicht, notwendige Reformen bremsen zu wollen.
Es bedeutet im Gegenteil die Forderung nach einem tatsächlich durchführbaren, realistischen Reformprogramm, das dann in Stufen aufgebaut und mit den unabdingbaren Reformen und Maßnahmen in anderen Gebieten der Gesellschaft abgestimmt ist. Wir können keine Idealprogramme gebrauchen, die alles zugleich wollen und denen weder unsere finanziellen noch personellen noch organisatorischen Kräfte entsprechen, sondern wir brauchen ein bis ins letzte durchdachtes realistisches Konzept. Ich bin im Grunde dankbar dafür, daß das zum Schluß vom Herrn Bundeskanzler dann auch unterstrichen worden ist, während es aus dem Bildungsbericht der Bundesregierung in dieser Form nicht hervorgeht.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Porzner?
Herr Minister, ich nehme das sehr ernst, was Sie eben zur Finanzierung der Bildungsaufgaben gesagt haben. Halten Sie es für möglich, daß Sie mit Mitgliedern Ihrer Partei sprechen mit dem Ziel, daß sie einen Antrag auf Steuersenkung, der von Abgeordneten der CDU gestellt wurde und der den Gemeinden einen Steuerausfall von einigen hundert Millionen Mark verursuchen würde, morgen im Finanzausschuß zurücknehmen?
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Herr Kollege, der Vorgang ist mir leider nicht bekannt. Da ich Ihrem Hohen Hause nicht angehöre, kann ich im Augenblick nur schwer dazu Stellung nehmen. Das ist eine Sache, mit der ich im Augenblick jetzt konfrontiert werde.
Ich möchte zum Schluß aussprechen: ich hoffe, daß es den gemeinsamen Bemühungen von Bund und Ländern in der Bildungsplanungskommission gelingen wird, zu einem verantwortbaren realistischen Aktionsprogramm zu kommen.
Das Wort hat der Kultusminister des Landes Niedersachsen, Herr Professor von Oertzen.Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin mir natürlich völlig darüber im klaren, daß ich im Begriffe bin, das ohnedies in Frage gestellte Renommé des Kulturföderalismus noch weiter zu mindern, wenn ich es jetzt als Landesminister unternehme, die außerordentlich strapazierte Tagesordnung dieses Hauses noch um einige Minuten zu verlängern. Ich möchte deswegen auch darauf verzichten, hier in der Gestalt eines Diskussionsbeitrages eine kulturpolitische Regierungserklärung abzugeben, sondern nur einige Bemerkungen zu Argumenten machen, die insbesondere von seiten der Opposition im Laufe des Nachmittags vorgetragen worden sind, Argumenten, zu denen ein für das Schulwesen verantwortlicher Landesminister vielleicht einiges sagen kann.Man könnte freilich meinen, das sei im Grunde überflüssig. Aber mir scheint, daß mit diesen Argumenten weitverbreitete Vorurteile berührt, ausgesprochen, formuliert, wenn auch, wie ich meine, nicht begründet worden sind. Es könnte ja in Zukunft einer auf die Idee kommen, einmal die Protokolle dieser Bildungsdebatte in der Erwartung nachzulesen, sich da — wenigstens was die Beiträge der Opposition betrifft -- sachlich über den Stand der Probleme zu informieren, und vor einem solchen Irrtum möchte ich den Leser dieser Protokolle wenigstens partiell zu bewahren versuchen.
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4046 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. von Oertzen, Minister des Landes NiedersachsenHerr Dr. Martin hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Problem der Gesamtschule — und darauf möchte ich mich beschränken — auf den Göteborg-Report bezogen. Der Göteborg-Report erinnert mich so ein bißchen an den berühmten Segler des Fliegenden Holländers, der immer wie ein Schatten in der Diskussion auftaucht, der aber, wenn man ihn zu greifen versucht, verschwindet. Es wird hundertfach zitiert, aber nur sehr selten wirklich gelesen, was man niemandem zum Vorwurf machen kann, denn nur die wenigsten Leute in unserem Lande vermögen Schwedisch zu lesen und zu sprechen.
— Ja, ich komme jetzt darauf. So töricht bin ich nun nicht, daß Sie mich gleich bei der ersten Gelegenheit damit fangen können.
Ich möchte, um die Auseinandersetzung darüber zu vereinfachen, mich auf eine, wenn auch zusammenfassende, aber, wie ich glaube, sehr zuverlässige deutsche Quelle stützen, nämlich auf das Journal des Instituts für Bildung und Wissen, das von katholischen Kreisen herausgegeben wird und wegen seiner unnachgiebigen Gesamtschulfeindlichkeit völlig jeder Einseitigkeit — von Ihrer Seite her — unverdächtig ist. Ich beziehe mich dabei auf die OktoberNummer des Jahrgangs 1969.Herr Kollege Martin hat von einem Fazit von einem Dutzend Jahre gesprochen, das aus den Ergebnissen dieser Untersuchung gezogen worden sei. Das ist einfach unrichtig. In der Stadt Göteborg ist die Gesamtschule als Pflichtschule im Jahre 1963 eingeführt worden. Im Jahre 1963 hat auch die Untersuchung begonnen. Die beiden Versuchsgruppen datieren aus den Jahrgängen 1964/65 bzw. 1966/67. Der äußerste, bei größtem Wohlwollen in Anspruch zu nehmende zeitliche Raum der Bewährung für die Gesamtschule kann also höchstens mit fünf Jahren angenommen werden. Man wird sagen können, daß fünf Jahre keine überwältigend lange Zeit sind für die Bewährung und Einübung einer in diesem Ort jedenfalls neuartigen Schulform.Darüber hinaus befaßt sich dieser Report nun nicht etwa mit dem Vergleich der Leistungsfähigkeit zweier Schulsysteme ausschließlich unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten Ergebnisses — qlus oder minus —, sondern es ist, wie Sie sicher wissen werden, eine sehr differenzierte Untersuchung, in der methodische Fragen —, ob man überhaupt Schulsysteme vergleichen könne und durch Anlegung welcher Maßstäbe — im Vordergrund stehen.Im übrigen muß natürlich bemerkt werden, daß die Ergebnisse dieser Untersuchung für deutsche Verhältnisse relativ wenig aussagen, weil das schwedische Gesamtschulmodell sich vom deutschen Gesamtschulmodell radikal unterscheidet. Das Modell der differenzierten und integrierten Gesamtschule beginnt ja mit der Differenzierung stufenweise im fünften Schuljahr; in Schweden beginnt dieDifferenzierung nach dem alten Gesamtschulmodell, das hier in Frage steht, im achten Schuljahr, und die volle Differenzierung wird im neunten Schuljahr erreicht. Auch das stellt die Vergleichbarkeit in Frage.Aber das Interessante ist, daß sogar in dem Referat in dieser der Gesamtschule sehr kritisch gegenüberstehenden Publikation über die Absichten der Verfasser — und ich darf jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten einige Zeilen wörtlich zitieren — folgendes gesagt wird:Bei aller Sorgfalt, die verwendet wurde, bleiben sich doch die Verfasser der schwerwiegenden Mängel und der Grenzen solcher Vergleichsversuche bewußt.
Als der gravierendste Mangel des UG-Materials — UG ist der Titel der Untersuchung —bezeichnen sie, daß eine allgemeinverbindliche Zielsetzung zwischen den ungleichen Vergleichsgruppen nicht gegeben ist.Und an einer anderen Stelle sagen sie noch einmal sehr skeptisch:Wieweit ein Schulsystem ganz oder zum Teil als vergleichbar anzusehen ist, läßt sich mit letzter Sicherheit nie beantworten.Diejenigen, die die Schwierigkeiten empirisch sozialwissenschaftlicher Vergleichsuntersuchungen kennen, werden mir zustimmen müssen, daß man, wenn man sich positiv oder negativ auf solche Vergleichsuntersuchungen bezieht, äußerst vorsichtig sein muß. Darum muß man auch mit dem Argument, irgendein bestimmtes Schulsystem sei wissenschaftlich in der Vergleichsuntersuchung noch nicht genügend erprobt, sehr vorsichtig sein. Ich will fairerweise einräumen, daß natürlich das entgegengesetzte Argument, irgendein Schulsystem sei wissenschaftlich gegen alle denkbaren Einwendungen gefeit, unter demselben Vorbehalt steht. Das gibt aber der schulpolitischen Entscheidung natürlich einen wesentlich größeren Raum, als gemeinhin in der Diskussion eingeräumt zu werden pflegt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gölter?
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Ja, gern.
Herr Minister, stimmen Sie der Aussage des Bildungsrates im Vorwort zu, wo es im Zusammenhang mit Schulversuchen mit Ganztags- und Gesamtschulen wie folgt heißt:Schulversuche sind nicht einmalige Unternehmungen zur Erhärtung oder Widerlegung umstrittener bildungspolitischer Thesen; sie sind vielmehr ein notwendiger und dauernder Bestandteil in einem zur Zukunft hin offenen Bildungssystem. Die Bildungskommission ist der Überzeugung, daß alle Strukturempfehlungen einen vorläufigen Charakter haben müssen. Sie
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4047
Dr. Göltersind Formulierungen dessen, was nach dem gegenwärtig möglichen Erkenntnis- und Informationsstand ausgesagt werden kann.Stimmen Sie dem zu?Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen: Ich danke Ihnen außerordentlich für das Zitat, das mir im Augenblick nicht gegenwärtig war. Es stützt die These, die ich eben vorgetragen habe, in vollem Umfang,
daß nämlich schulpolitische Entscheidungen nicht in letzter Instanz durch Berufung auf wissenschaftliche Untersuchungen getroffen werden können.
Nun möchte ich einen weiteren Punkt erwähnen.
— Ich komme auf dieses Problem noch einmal zu sprechen. Nun bringen Sie mir doch, meine Damen und Herren von der Opposition, meine schöne Systematik nicht durcheinander.
Herr Dr. Martin hat an einer Stelle vorsichtshalber recht kurz, aber doch völlig unüberhörbar bemerkt, daß die Problematik der Einzugsbereiche bei Gesamtschulen die Gefahr in sich berge, daß hier ein ohnedies gegebenes Gefälle zwischen Stadt und Land noch weiter verstärkt wird. Hier muß ich nun mit allem Nachdruck betonen, daß das einfach unter jedem denkbaren Gesichtspunkt vollständig unrichtig ist.
Im übrigen habe ich mit Interesse festgestellt — und das wird bei meinen Überlegungen eine Rolle spielen —, daß Herr Dr. Martin, wie übrigens seine Parteifreunde in Niedersachsen ebenfalls, sich positiv zum Institut des Schulzentrums geäußert hat.
Ich glaube, ich habe das nicht falsch verstanden, als er seine Schlußthesen vorgetragen hat. Nun kann man folgende Berechnung anstellen - darüber sind sich Kritiker wie Gegner, alle diejenigen, die sich mit der Gesamtschule überhaupt beschäftigen, einig —, daß die Mindestbreite eines Schülerjahrgangs zwischen 180 und 210 Schüler betragen muß, um eine sechs- bis siebenzügige Gliederung bei einer Grundgruppe von 30 Schülern zu ermöglichenAuf der anderen Seite besteht kein Zweifel darüber, daß, wenn man Schulzentren errichtet, die zwar die verschiedenen Schulsysteme räumlich einander zuordnen, aber die Schulen des vertikal gegliederten Systems getrennt nebeneinander stellen, zur Funktionsfähigkeit eines solchen Schulsystems eine noch breitere Anlage des Schülerjahrgangs erforderlich ist. Dann wird man mindestens mit einer zwei- bisdreizügigen Realschule, einem zwei- bis dreizügigen Gymnasium und einer drei-, wenn nicht vierzügigen Hauptschule rechnen müssen. Das heißt also, die Breite des Schülerjahrgangs beträgt mindestens acht bis zehn Gruppen zu 30 Schülern, so daß im Grunde der Einzugsbereich für die Errichtung von Schulzentren noch ungünstiger wäre als für eine Gesamtschule, wo der Einzugsbereich durchaus kleiner sein kann.Im übrigen wird bei solchen Überlegungen vergessen, daß zwar — und da liegt das eigentliche Problem — bei der Einrichtung eines Gesamtschulsystems die Besucher jenes Teils der Gesamtschule, den man etwa der jetzigen Hauptschule gleichstellen könnte, in Zukunft längere Schulwege haben werden — das könnte eine gewisse zusätzliche Belastung für die ländliche Bevölkerung bedeuten —, daß aber diejenigen, die jetzt im ländlichen Raum die klassischen weiterführenden Schulen, Realschulen und Gymnasien, besuchen, heute wesentlich längere Schulwege zu machen haben, als sie bei einem ja wesentlich dezentralisierteren Gesamtschulsystem zurückzulegen haben.Dies ist nicht nur eine Behauptung. Für den Westteil des Kreises Quakenbrück im Lande Niedersachsen liegt eine wissenschaftliche Standortuntersuchung unter dem Gesichtspunkt der Schulwege vor, in der klipp und klar nachgewiesen wird — ich bin gerne bereit, Ihnen diese Untersuchung zur Verfügung zu stellen —, daß die Lösung des Transportproblems auf der Basis des Gesamtschulmodells, gemessen an allen übrigen Varianten des Schulsystems, optimal ist. Auf Grund dieser Untersuchung haben die mehrheitlich Ihrer Partei angehörenden Kommunalpolitiker in den örtlichen Schulträgern sich entschlossen, den Ausbau des weiterführenden Schulsystems in diesem Teil unseres Landes auf der Basis der Gesamtschule durchzuführen.Nun, meine Damen und Herren, ein paar Bemerkungen zu der Grundthese, daß die Gesamtschule eben unerprobt sei und daß es deswegen unverantwortlich sei, diese schulpolitischen Zielvorstellungen überhaupt aufzustellen, bevor die Erprobungsergebnisse vorlägen. Ich glaube, meine Damen und Herren, hier liegt ein Mißverständnis über den Unterschied zwischen einem Gesamtkonzept, das man durchaus aus allgemeinen und begründbaren Erwägungen für richtig halten kann, und der Erprobung einzelner Formen zur Lösung bestimmter spezieller Probleme vor. Ich meine, daß mindestens zwei grundlegende Argumente auf jeden Fall jenseits aller noch denkbaren Varianten in wissenschaftlichen Erprobungen bereits jetzt vorgebracht werden können.Einmal besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß der Ubergang aus einer .Schullaufbahn in eine andere in einem vertikal gegliederten Schulsystem wesentlich schwieriger ist, in dem die verschiedenen Schultypen getrennt voneinander existieren, vielleicht gar räumlich getrennt, organisatorisch getrennt, in der Schulaufsicht getrennt, in der Strukturierung des Lehrkörpers getrennt, oder wenn diese Übergänge im Rahmen eines und desselben und in sich elastisch und durchlässig organisierten Schulsystems stattfinden. Es wird auch nicht der
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4048 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen Charakter des Scheiterns, des Abgehens und des Neueintretens mit diesem Wechsel der Schullaufbahn zusammenhängen, sondern es ist eben ein Wechsel auf Grund interner schulischer Entscheidungen.Zweitens besteht in einem Gesamtschulsystem bei Differenzierung des Unterrichts in den sogenannten Leistungsfächern auf jeden Fall die Möglichkeit, daß diejenigen Schüler, die bei einem vertikal gegliederten Schulsystem heute etwa die Hauptschule oder die Volksschuloberstufe besuchen, in einzelnen Fächern, in denen sie eine herausragende Leistungsfähigkeit beweisen, an Kursen auf einem Niveau teilzunehmen, wie es gemeinhin nur an der Realschule und dem Gymnasium angeboten werden kann. Erste Ergebnisse aus den anlaufenden Gesamtschulversuchen, z. B. aus der Martin-Buber-Gesamtschule in Berlin, zeigen, daß der Teil der Schüler, der eigentlich, wie man so sagt, „nur" als volksschulfähig beurteilt worden war, bis zu einem Drittel, wenn nicht mehr, von dieser Möglichkeit mit Erfolg Gebrauch macht. Eine solche Förderung, etwa in Mathematik oder in den Fremdsprachen, kann auch das bestausgebaute Hauptschulsystem schlechterdings nicht bieten, weder personell noch materiell. Allein diese beiden Vorzüge der Durchlässigkeit und der besseren Förderung der Durchschnittsbegabung würden es rechtfertigen, dem Gesamtschulsystem den Vorzug zu geben.Herr Kollege Hahn hat eingewendet, daß hier mit Notwendigkeit der Massenbetrieb Platz greifen müsse, daß gewisse Bindungen durch Auflösung der Jahrgangsklassen in Gefahr gerieten. Diesen Äußerungen, meine Damen und Herren, könnte ich mit Leichtigkeit eine ganze Reihe von Überlegungen von Schulreformern aus den Reihen der im großen und ganzen konservativ ausgerichteten Verbände und Organisationen entgegenhalten, die ja gerade das bestehende Schulsystem, etwa das Gymnasium oder die Realschule, zu erhalten versuchen, indem sie die Grundsätze der Differenzierung, der Auflösung der Jahrgangsklassen und eine Aufweichung des starren Versetzungsprinzips durchsetzen möchten. Dieselben Vorwürfe etwa hinsichtlich der Auflösung der Jahrgangsklassen müßte man den konservativen Schulreformern vom Philologenverband machen — ich nenne den Namen von Frau von der Lieth —, die versuchen, durch Reformen ihr Schulsystem zu erhalten. Es gibt aus den Reihen Ihrer Partei, meine Damen und Herren von der Opposition dieses Hauses, eine ganze Reihe prominenter Stimmen, die sich zum Problem der Differenzierung und auch zur Errichtung größerer Systeme durchaus positiv geäußert haben. Im übrigen ist es eine Sache der inneren Schulorganisation, des architektonischen Aufbaus, auch bei der Zusammenfassung von 1 200, 1 500 oder 1800 Schülern einen Massenbetrieb im soziologischen Sinne des Wortes zu verhindern.Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung über die nicht nur von Ihnen, Herr Dr. Martin, sondern auch von vielen anderen in diesem Zusammenhang häufig vorgetragene Klage, daß sich das Ziel der Gesamtschule, eine bessere soziale Integration, nach den vorliegenden Versuchsergebnissen offenbar nicht so ganz einfach erreichen lasse. Das ist sicher richtig. Die Frage ist natürlich, wie es denn mit dem sozialen Integrationseffekt des bestehenden vertikal gegliederten Schulsystems bestellt ist.
Daß die Zusammenführung von Kindern aus auch heute noch durch Vorurteile, durch Unterschiede des Kulturstandards, des Bildungsgrads getrennten Bevölkerungsschichten in einer einheitlichen Schulgemeinsamkeit zu Problemen führt, haben auch die Vertreter des Gesamtschulgedankens nie geleugnet. Sie haben auch nie den Standpunkt vertreten, daß die rein organisatorische Zusammenfassung der drei getrennten Schulsysteme unter einem Dach die Lösung des Gesamtschulproblems darstelle. Kein vernünftiger Vertreter des Gesamtschulgedankens wird leugnen, was Professor Klafki einmal ausgedrückt hat: daß Bildungsreform eine wirkliche Reform nur sein werde, wenn sie nicht nur organisatorische, sondern auch didaktische Reform sei.
Insoweit stimmen wir Ihnen zu.Sie halten uns nun mit Recht vor — damit will ich abschließen —, daß die Bildungsreform die Gesellschaftsreform nicht ersetzen könne. Ich glaube, Sie können sicher sein, daß das ein Gesichtspunkt ist, der gerade bei Sozialdemokraten auf vollstes Verständnis stößt. Auch das beste, den einzelnen am weitesten fördernde, seine intellektuellen und sozialen Fähigkeiten in idealem Umfang ausbildende Bildungssystem wird nicht verhindern können, daß der, der beispielsweise einen Arbeitnehmerberuf ergreifen will und muß, nach der Entlassung aus der Schule in die harten und zum Teil sehr bitteren Abhängigkeiten des sozialen und des wirtschaftlichen Lebens gerät. Diese Abhängigkeiten des Menschen zu lockern, zu zerbrechen und schließlich in einer Gesellschaft wirklicher Freiheit und Gleichberechtigung aufzuheben
— ich werde ,dazu in Verbindung mit einem konkreten Beispiel noch einige Worte sagen —, ist nun in der Tat eine Aufgabe, die über die Bildungsreform weit hinausgeht.Ich möchte mich nicht in die Angelegenheiten einmischen, die ausschließlich im Kompetenzbereich dieses Hohen 'Hauses liegen. Gestatten Sie mir an dieser Stelle also nur eine kurze Bemerkung. Ich bin z. B. der Überzeugung, daß ein wesentlicher Schritt zur Befreiung des Menschen jenseits der Sphäre der Bildung und der Ausbildung die Möglichkeit der konkreten Mitgestaltung an seinem Arbeitsplatz, in seiner Arbeitsstätte ist.
Wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zu dieser entscheidenden Frage der Befreiung des Menschen von sozialen Abhängigkeiten stehen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4049
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen werden wir sehen, wenn wir Ihre Stellungnahme zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes in diesem Hause hören.
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Herr Professor Leussink.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst vorrangig an den Vorsitzenden des Kulturausschusses des Bundesrates wenden. Lieber Herr Hahn, was Sie hier vorgeführt haben, war doch nichts weiter als eine Wiederholung der vielen Debatten, die wir miteinander im Wissenschaftsrat geführt haben. Dort sind Sie halt unterlegen. Können Sie denn das nicht zur Kenntnis nehmen?
Der Wissenschaftsrat setzt sich aus 22 unabhängigen Wissenschaftlern und Wirtschaftlern, z. B. dem Chef von Bosch, Herrn Merkle, aus 11 Kultusministern und 11 Länderstimmen zusammen. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die Sie soeben mit Ihren Zahlen angegriffen haben, sind - man höre und staune — vom Wissenschaftsrat einstimmig verabschiedet worden. Sie mögen selber damit fertig werden, wie das mit der Stimme Ihres Landes im einzelnen gewesen ist.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfeifer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich!
Herr Bundesminister, gehört es nicht auch zur Demokratie, daß jemand, der im Wissenschaftsrat mit seiner Ansicht unterlegen ist, das Recht haben muß, vor diesem Parlament seine andersgeartete Meinung vorzutragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Halten Sie es für undemokratisch, wenn man die Tatsachen so, wie sie wirklich sind, darlegt?
Herr Hahn, Sie können doch wirklich nicht im Ernst glauben, daß der Chef von Bosch Utopien — oder wie immer Sie es bezeichnen wollen — nachrennt. Die Wirtschaftler im Wissenschaftsrat haben nach sehr langen Überlegungen mitgemacht. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die
Dinge nicht einfach sind. Das System muß aber geändert werden. Mit Ihrer Beweisführung beweisen Sie doch immer wieder messerscharf, daß es große quantitative Veränderungen im bisherigen System nicht gebe. Darin stimme ich Ihnen voll zu. Sie müssen doch beides gleichzeitig in den Griff bekommen, nämlich die quantitativen Veränderungen und die qualitativen Veränderungen, die damit verbunden sind.
Wie ich gebaut bin, halte ich den Begriff „Utopie", den Sie verwenden, für ein Gütezeichen.
Ich wäre betrübt, wenn Sie das, was wir hier vorschlagen, nicht als Utopie bezeichneten. Dann bekäme ich erhebliche Zweifel, ob ich überhaupt imstande bin, irgendwie in die Zukunft hinein zu projizieren.
Anstatt diesen unfruchtbaren Streit und diese Betrachtung zu wiederholen, sollten Sie ganz konkret sagen, wieviel Prozent Sie denn wollen. Darüber können wir dann miteinander reden.
Eine Bemerkung zur Studienzeit. Sie haben gesagt, es sei völlig undenkbar, daß man so kurze Studienzeiten, wie in den verschiedenen Berichten vorgeschlagen, überhaupt durchsetzt. Sie sind doch Mitglied der Kultusministerkonferenz, und wenn ich die Zeitung richtig gelesen habe, hat die Kultusministerkonferenz vor wenigen Tagen beschlossen, daß die Ausbildung eines großen Teils der Lehrer 6 Semester dauern soll. Die angehenden Lehrer machen wahrscheinlich für die nächsten Jahre 50 % der Studenten aus. Also, wie stimmt das miteinander überein? Ich glaube, so einfach dürfen wir es uns nicht machen.
Wir dürfen es uns auch mit dem nicht so einfach machen, was Sie zu dem soziokulturellen Bereich oder meinetwegen auch sozio-psychologischen Bereich — ich meine die Sache mit dem Rauschgift — gesagt haben. Frau Käte Strobel hat doch nicht in einem System gewarnt, das aus Gesamtschulen besteht, sondern in einem System, das aus bisherigen Schulen besteht.
Herr Hahn, mir wird oft vorgeworfen, daß ich mich als Tunnelbauer betätige. Ich habe ein bißchen den Verdacht, auch Sie sind in Ihren alten Beruf zurückgefallen: mit dem. Anmalen der Hölle usw.
Das geht bei uns nicht. So schnell lassen wir uns nicht bangemachen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Walz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gern.
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4050 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Bundesminister, ist Ihnen nicht klar, daß die Rauschgiftsucht unter der Jugend am stärksten in Amerika ist, wo es nach Ihrer Meinung lauter Gesamtschulen gibt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es gibt in den Vereinigten Staaten nach meiner Kenntnis nicht nur Gesamtschulen, sondern die verschiedensten Schulsysteme.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Abgeordneten Moersch?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber gern.
Herr Minister, können Sie für die Frau Kollegin bestätigen, daß die Rauschgiftsucht im Orient und ganz besonders in China schon vorhanden war, ehe dort Gesamtschulen eingerechtet wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Heiterkeit des Hauses beweist, daß das offensichtlich kein Kriterium ist, mit dem man dieses Thema sachlich behandeln kann.
Zur Finanzierung. Sie haben völlig recht, auf dem Kongreß der OECD, an dem Sie kürzlich teilgenommen haben, ist dieses Thema ebenfalls angesprochen worden, daß nämlich unbeschränktes Wachstum der Bildungsausgaben irgendwie einmal ineffizient wird. Das kann jeder nachrechnen. Aber bedenken Sie, daß es dabei um Länder geht, die in Zukunft mit 10, 11, 12 % rechnen, und nicht um Länder, die noch unter 5 % liegen, wie das bei uns der Fall ist. Sie wissen genau, wie wir bei den OECD-Betrachtungen immer wegkommen. Ich will gar nicht sagen, daß die Statistik in allen Fällen richtig ist. Aber ich glaube, auch dieses war kein ernsthaftes Argument, um finanzielle Betrachtungen aus dem Feld schlagen zu können.Gesamthochschulen: Sie sind in Baden-Württemberg erfunden, jedenfalls der Name. Wenn ich mich recht entsinne, war es Herr Dahrendorf, der die Frage der Gesamthochschulen dort bearbeitet und auch den Namen erfunden hat.
Als Gesamthochschulen sind sie natürlich nicht erfunden worden, wie wir überhaupt derzeitig in der Hochschulpolitik die Abschreibenden sind. Es gibt selbstverständlich an anderen Stellen längst gesamtschulartige und gesamthochschulartige Gebilde.Dann haben Sie gesagt, wir hätten das alles nicht gemeinsam mit den Ländern gemacht. Das stimmt. Den Vorwurf, wenn es einer sein soll, nehme ich gern hin. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt, in dem Bericht stehe nichts Neues; es sei eigentlich nur beim Wissenschaftsrat und beim Bildungsrat abgeschrieben. Wissenschaftsrat und Bildungsrat sindGemeinschaftsunternehmen von Bund und Ländern. Beide Empfehlungen sind dort einstimmig verabschiedet. Aus sachlichen Gründen ist dann doch wohl ein Abstimmen im einzelnen nicht notwendig. Und von der Technik her gesehen — da haben wir doch alle unsere Erfahrungen — war es, wenn wir in absehbarer Zeit dem Hause hier einen Bericht vorlegen wollten, gar nicht möglich, das nach dem althergebrachten Verfahren zu tun.Sie haben gesagt, die Leistungen der Länder seien nicht anerkannt worden. Nun, ich habe heute früh schon ausgeführt: Wir haben uns bewußt nicht mit der Vergangenheit beschäftigt, sondern wollten den Bericht so knapp wie möglich halten und haben den Blick nach vorwärts gewandt. Aber auf der Seite 140 dieser Ausgabe können Sie z. B. lesen: „Vor allem Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen haben erste Ansätze einer integrierten Bildungsplanung geschaffen." — Solcher Stellen gibt es noch eine ganze Menge. Ich glaube also, das, was notwendig ist, ist getan worden. Wir haben es uns abgewöhnt, uns hier mit silbernen Tellern hinterherzulaufen.
Ich glaube, es gibt doch gar keinen Zweifel, und alle meine Ausführungen deuten darauf hin, daß sich in unserem Hause und in der gesamten Bundesregierung und hier in diesem Hause — davon bin ich überzeugt — jeder darüber klar ist — der Bundeskanzler hat es soeben noch bestätigt —, daß das nur ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen Bund und Ländern sein kann.Und zum Schluß, Herr Hahn: Ich bin Ihnen dankbar für zwei Bemerkungen. Erstens bin ich dankbar dafür, daß Sie hier vor diesem Hause festgestellt haben, daß wir bei der Bildungsplanung zwei gleichberechtigte Partner sind. Wie gesagt, ich bin Ihnen dankbar für diese Feststellung. Ich bin Ihnen auch dankbar für die Feststellung, daß Sie zustimmen, daß es einen solchen Bericht gibt, und daß Sie offensichtlich frühere Bedenken hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Grundlagen dazu nun nicht mehr haben.Da ich gerade hier bin, möchte ich nur noch zwei Bemerkungen an die Adresse von Herrn Martin anschließen. Zunächst zu den Ausführungen über Genetik, Intelligenz, Begabung usw. Die Ausführungen, die Sie dazu gemacht haben, könnten mich fast ermutigen, nun meinerseits als krasser Laie dazu auch Ausführungen zu machen. Ich will aber dieser Versuchung widerstehen. Ich möchte Ihnen folgendes anbieten: Darüber sollte man sich einmal mit modernen Biologen, z. B. dem Kollegen Eigen aus Göttingen und dem ebenfalls dort lehrenden Begabungsforscher — so kann man wohl sagen — Roth unterhalten.
— Gut, ich auch. Viele von uns haben das getan. Ich glaube, wir sollten einmal ein gemeinsames Seminar mit den beiden Herren veranstalten, damit wir in dieser Angelegenheit auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dann werden wir sehen, wie vielschichtig das ist.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4051
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink— Gut, wir brauchen dann nur noch unseren Terminkalender abzustimmen.
Nun zu den Zahlen! Mit Zahlen und Prozentsätzen wird furchtbar leicht Unsinn getrieben. Wenn Sie einerseits die Zahl 100 Milliarden DM für Bildung und Wissenschaft — so muß sie immer verstanden werden -- hier debattieren, dann heißt das, daß der Anteil des Bundes an diesem Betrag — das geht auch an die Adresse von Herrn Kollegen Hahn — in diesem Jahr 18,4 % Bildung plus Wissenschaft — ausmacht und daß der Anteil des Bundes im Jahre 1975 auf etwa 30% steigen soll und wird und im Jahre 1980 sicher noch höher sein wird. Wenn man von der Zahl 100 Milliarden DM Anfang der 80er Jahre ausgeht oder von den 25 Milliarden DM heute, darf man nicht sagen, daß der Bund daran nur einen Anteil von 6 % hat.
— Nein, an den 25 Milliarden DM, die wir derzeit für Bildung und Wissenschaft — d. h. zu deutsch: für Bildung und Forschung — ausgeben, hat der Bund einen Anteil von 18,4 %. Da beißt die Maus keinen Faden ab.Sie können sich natürlich auch ein Gebiet herauspicken, auf dem der Anteil des Bundes 0 % beträgt: das sind nämlich die Schulen. In der Tat tut der Bund für die Schulen praktisch gar nichts; dies kann er auch nicht. Man kann auf diese Weise auf einen Anteil von 0 °/o kommen, aber das hat doch keinen Sinn! Wir müssen Bildung und Forschung doch immer zusammen sehen. Schon wegen der Hochschulen sind sie gar nicht auseinanderzudividieren.
Das Wort hat der Kultusminister des Landes BadenWürttemberg, Herr Minister Hahn.
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da ich leider nicht die Möglichkeit habe, aus dem Hohen Hause heraus Fragen zu stellen, muß ich noch einmal das Wort ergreifen.
Ich muß Ihnen, lieber Herr Leussink, sagen: So leicht kommen Sie mit einer blumenreichen Sprache und mit der Beschwörung von Himmel und Hölle bei den harten Fragen, die ich zu stellen habe, nicht davon. Das, was Sie gesagt haben, ist völlig richtig: Ich bin in gewisser Weise im Wissenschaftsrat mit dieser Berechnung, die ich zwei Jahre lang immer wieder vorgetragen habe — das ist mir von allen bescheinigt worden —, nicht gegen die wissenschaftliche Kommission durchgekommen.
In der Kommission, in der sämtliche Kultusminister und der Bund vertreten waren, waren alle — auch die SPD-Minister — mit mir der Meinung, daß diese Zahlen vollkommen unrealistisch sind.
Sie waren alle mit mir der gleichen Meinung und haben mir erklärt, diese Zahlen seien nicht realistisch und könnten sich nicht halten. Man hat nur das eine gesagt: Wir wollen den Bericht nicht aufhalten, er soll erst einmal herausgehen.
Ich habe meinerseits angekündigt, daß ich mich damit nicht zufriedengeben würde;
denn es handelt sich um eine nationale Frage von allergrößter Bedeutung,
ob wir die Zahlen der Abiturienten in einer unverantwortlichen Weise steigern und nachher 20 % eines Altersjahrgangs vor den Türen der Universitäten als enttäuschte Leute stehen haben, die keinen Studienplatz finden. Das ist auch ein Problem von außerordentlicher sozialer Bedeutung. Sie müssen sehen, daß dies nicht parteipolitisch gefärbt ist, sondern meine Verantwortung als Kultusminister —ich bin der älteste Kultusminister im Amt und habe viele Erfahrungen auf diesem Gebiet — gebietet es, daß ich sage, was auf diesem Gebiet realistisch ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Sperling?
Herr Minister, halten Sie es nicht für ein noch schlimmeres Problem, daß wir, obwohl wir vielleicht die Möglichkeit hätten, so viele Abiturienten oder Hochschulstudierende zu bekommen, darauf verzichten und damit das Intelligenzpotential dieses Volkes sozusagen brachlegen? Könnte es nicht genutzt werden, um das Wachstum der Wirtschaft zu steigern? Müssen wir denn immer erst fragen: Wieviel Geld haben wir? Können wir nicht erst fragen: Wohin wollen wir, und wie mobilisieren wir dann das Geld dafür?
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Da geben Sie mir ein ganz ausgezeichnetes Stichwort. Es geht darum, daß wir das fortschreiben müssen, was als tatsächlicher Trend vorhanden ist. Damit beantworte ich zugleich die Frage von Herrn Leussink: Wieviel Prozent halten Sie für richtig?
Wenn wir den Trend, wie er sich entwickelt, die steigenden Zahlen der Abiturienten und auch die Wünsche aus der Bevölkerung nehmen — die Problematik der Bedarfsfeststellung ist mir völlig bekannt; wir brauchen sie im Augenblick nicht weiter zu erörtern —, wenn wir alles das berücksichtigen, kommen wir im ganzen auf 22 %. Das kann sich natürlich ein bißchen nach oben oder unten verändern, aber das ist noch realistisch. 50 % sind nicht realistisch.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Raffert?D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Gern.
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4052 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß es in einem Land gelungen ist, innerhalb einer einzigen Dekade die Zahl der Abiturienten — jeweils auf einen Altersjahrgang bezogen — von 30 % auf 60 % und die Zahl der Studierenden von 15 auf 30 % zu steigern? Das war in der letzten Dekade in Schweden.
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg: Ich muß Ihnen sagen, daß mir diese Zahl nicht bekannt ist. Auf der anderen Seite ist aber sofort die Frage nach der Niveausenkung zu stellen.
Die Frage nach der Niveausenkung ist so ernst, daß jedenfalls an diesen Hochschulen in Schweden gefragt wird, wie man mit den Leuten noch fertig werden kann, die weitgehend nicht mehr das Niveau haben, das sie in früheren Zeiten hatten. Ein Hinweis auf Schweden ist hier in gar keiner Weise ein Beweis. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, daß es nicht gelingen wird, hier in zehn Jahren eine Vermehrung der Abiturientenzahlen von 10 % auf 50 % zu erreichen und damit fertig zu werden.
Jetzt noch ein Weiteres, Herr Leussink. Sie haben gesagt, Sie hätten sich der Utopie verschrieben, und Sie meinten, die Utopie sei etwas sehr Wichtiges. Sicher, es gibt eine Utopie, die man entwickeln und der man nachgehen kann; sie kann auch manches in Bewegung bringen. Aber in dieser Situation — und das war schon sehr oft in der deutschen Geschichte so — ist Utopie unser Unglück. Es ist geradezu ein deutscher Nationalfehler, daß wir immer den Utopien nachlaufen und dadurch die Demokratie untergraben.
Meine Damen und Herren, es kommt auf den relativen Fortschritt an. Er ist viel wichtiger als die Utopie. Die Tatsache, daß man die Leistungen der vergangenen Jahre, eine ganz gewaltige Anstrengung auf dem kulturpolitischen Gebiet, immer als gar nichts ansieht, liegt daran, daß man sich immer an der Utopie orientiert, statt zu fragen: Was ist uns möglich, wenn wir alle miteinander kooperieren? Nur dann wird sich die Demokratie in unserem Lande halten. Das ganze Unbehagen unserer Jugend liegt daran, daß sie sich an Utopien statt am realen Fortschritt orientiert.
Die Utopie ist geradezu der Feind des realen Fortschritts in dieser Situation.
Herr Leussink, Sie haben die Erwähnung des Rauschgifts, die bei mir nur ganz nebenbei geschah, hochgespielt. Ich habe ja eine ganz andere Frage gestellt. Ich habe die Frage gestellt nach den ganz großen Systemen mit der Aufgabe kleiner Einheiten, also nach dem, was wir in der Universität haben, gerade in der deutschen Universität im Unterschied zur angelsächsischen Universität, die ja
kleine Einheiten beibehält. Wenn wir das alles jetzt in viele nebeneinanderlaufende Kurse auflösen, unter denen das zehnjährige, das elfjährige, das zwölfjährige Kind sich jeweils einen aussucht — eine Stunde ist es drüben in der Klasse mit diesen Kindern zusammen, die nächste Stunde ist es in einer ganz anderen Klasse mit ganz anderen Kindern, und so weiter, ohne daß das Kind eine richtige Heimat in der Schule hat —,
dann frage ich: wie wirkt sich das letztlich sozial aus? Sind das nicht außerordentlich wichtige psychologische, sozio-psychologische Fragen, die hier gestellt werden müssen?
Es ist mir bisher kaum begegnet, daß diese sich heute doch wahrhaftig nahelegende Frage ernsthaft diskutiert worden ist, und ich meine, ich hätte allen Grund sie Ihnen hier einmal nahezubringen.
Herr Leussink, Sie schlagen eine Steigerung der Bundesbeteiligungen an den Ausgaben für das Bildungswesen bis zum Jahre 1980 bis auf etwa 30 % vor. Sehr schön! Aber zunächst einmal müssen Sie von der grundgesetzlichen Situation ausgehen. Sie müssen bei der Verteilung der Gelder von den Aufgaben, so wie sie verteilt sind, ausgehen. Tatsächlich sind es die Länder, denen fast alle Aufgaben aus dem Bundesbericht zufallen. Deswegen muß es dann auch zu einem neuen Schlüssel für die Verteilung zwischen Bund und Ländern kommen. Das ganz allein ist die Lösung der Frage.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Leussink.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr verehrter Herr Kollege Hahn, in der Tat wird es nicht so einfach sein mit den Zahlen. Ihre Zahl ist 25 %. Wenn Sie sich jetzt einmal anschauen, wieviel heute in dem System, das demnächst wohl in etwa das gesamte Hochschulsystem werden könnte, verweilen, dann kommen Sie zu einem Jahrgangsprozentsatz von annähernd 20 %. Wenn Sie diesen Anteil in zehn Jahren nur auf 25 % erhöhen wollen, dann sind Sie weit unter dem Trend der letzten zehn Jahre. Denn allein die lineare Trendverlängerung der letzten zehn Jahre bringt viel mehr. Ich vermute, daß Sie bei Ihren Berechnungen immer noch das alte Universitätssystem vor Augen haben. Wenn Sie dabei 25 % zugrunde legen, sind wir völlig einig. Dann besteht zwischen uns überhaupt keine Differenz, was ja sehr schön wäre.Ich darf etwas zur Utopie sagen. Das haben Sie falsch interpretiert. Ich habe gesagt: Für mich ist das keine Utopie, die Vorstellungen sind sehr realistisch. Ich wäre nur betrübt, wenn Sie es nicht als Utopie bezeichnen würden.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4053
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Probst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesen sehr detaillierten Wechselreden der Regierenden in diesem Lande vielleicht wieder zurück zu der parlamentarischen Auseinandersetzung. Ich meine, wir sollten dankbar sein, daß es heute möglich war, sehr unterschiedliche und auch gegenläufige Auffassungen hier vor diesem Hohen Hause zu diskutieren, einfach deshalb, weil es in so einer wichtigen Frage notwendig ist, die Standpunkte abzuklären. Wir sollten gerade auch dem Herrn Kultusminister Hahn besonders dankbar sein, daß er sich hier der unangenehmen Aufgabe unterzieht, das, was sich nicht so populär anhört, vor diesem Hause zu vertreten.
Lassen Sie mich aber noch ein paar Bemerkungen zu den Rednern machen, zunächst zu Herrn Kultusminister von Oertzen. Man kann, glaube ich, dann mit ihm völlig übereinstimmen, wenn man davon ausgeht — das wollte er im Zusammenhang mit der integrierten Gesamtschule gesagt haben —, daß hier eben nicht alles erprobt ist, ja, daß manches nicht so läuft, wie man es gern hätte. Bloß der Schluß, der daraus gezogen wird, daß man nämlich die integrierte Gesamtschule mit allen Konsequenzen deshalb einführen müsse, weil noch nicht der Beweis da ist, daß es völlig unmöglich ist, sie einzuführen —, ja, diese Konsequenz ist es doch gerade, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben.
Der Bildungsbericht der Bundesregierung ist insofern eine schöne Sache, als man die mit ihm aufgeworfenen Fragen einmal vor dem Hohen Haus diskutieren kann. Daß er inhaltlich nichts Neues ist, ja sogar ein etwas dürftiges Konglomerat von dem ist, was der Bildungsrat und der Wissenschaftsrat gemacht haben, liegt in der Natur der Sache. Es ist meiner Meinung nach zunächst überhaupt einmal wertvoll, daß man hier vor diesem Hohen Hause darüber diskutieren kann.
Wir hätten allerdings, Herr Minister, wesentlich mehr erwartet. Wir hätten heute bereits Schritte erwartet. Ich darf darauf hinweisen, daß es doch diese SPD war, die zehn Jahre lang gesagt hat, was sie an inneren Reformen alles leisten werde, wenn sie nur schnell an die Regierung komme. Nach einem Jahr hätten wir erwartet, daß jetzt Schritte sichtbar werden, daß jetzt sichtbar wird, was Sie tun wollen.
Statt solcher Schritte haben Sie eine Nuance festgelegt, nämlich die integrierte Gesamtschule als das alleinseligmachende Modell.
— Es ist heute wiederholt diskutiert worden, Herr Meinecke, und es scheint so die Auffassung zu sein. Wenn das nicht der Fall wäre, könnten wir uns sehr, sehr schnell einigen. Uns und mir besonders, da ich mich in diesem Metier einigermaßen auskenne, scheint es wissenschaftlich nicht seriös zu
sein, zu sagen, daß man die integrierte Gesamtschule zwar nicht erprobt habe, aber sie als das Alleinseligmachende in der Zukunft im Unterrichtswesen wie auch im Hochschulwesen ansehen möchte. Wir streiten uns doch hier um die Offenheit, um die Frage, wieweit wir den Entwicklungen der Zukunft offen gegenüberstehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lohmar?
Ja, ich möchte den Gedankengang nur noch schnell zu Ende führen.
Wenn sich dann ein so kühler Mann wie der Herr Kollege Lohmar noch dazu versteigt, einzig in der integrierten Gesamtschule das Demokratische in diesem Lande zu sehen, dann weiß ich überhaupt nicht mehr, wie man diese ideologische Versteigerung beurteilen soll. Dann sind doch wir von der Union, wenn wir das nicht wollen, keine Demokraten. Genau das hat er Ihnen doch vorgeworfen, Herr Martin.
Herr Kollege Probst, darf ich die letzte Bemerkung von Ihnen zu der Anmerkung benutzen, daß ich für die pädagogische Vorzugswürdigkeit des Gesamtschule plädiert habe und nicht dafür, daß sie die einzig mögliche demokratische Form in unserem Lande sei. Aber dies wollte ich nicht fragen. Ich wollte Sie gern fragen, wie Sie die beiden vorhergehenden letzten Bemerkungen in Ihrer Rede miteinander vereinbaren wollen: auf der einen Seite die These, daß die SPD und die Bundesregierung in einem Jahr kein schnelleres Tempo vorgelegt hätten, und auf der anderen Seite Ihre Warnung, etwa in Sachen Gesamtschule nun wirklich voranzumachen? Man kann doch nur das eine oder das andere wollen.
Herr Lohmar, ich weiß nicht, ob das jetzt wieder eine der in der SPD üblichen falschen Alternativen ist. Es ist doch völlig klar, daß die Frage der inneren Reformen nicht eine Sache von heute ist.
Sie müssen doch einfach zur Kenntnis nehmen, daß die Reform im Schulwesen längst eingesetzt hat und daß das, was im Bildungsbericht heute vorgelegt wird, eigentlich nichts anderes als ein Sammelsurium all dessen ist, was man heute in der bildungspolitischen Landschaft der Länder findet.
— Natürlich! Auf Bayern komme ich noch zu sprechen, wenn ich mich mit Herrn Moersch auseinandersetze. Er hat dazu verschiedene Ausführungen gemacht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sperling?
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4054 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Ja, bitte!
Herr Probst, würden Sie, damit wir uns nachher nicht über Worte streiten, zur Kenntnis nehmen, daß Sozialdemokraten das Seligmachen anderen Institutionen als den Schulen überlassen.
Etwas anderes habe ich von den Sozialdemokraten gar nicht erwartet. Ich habe nicht gedacht, daß Sie die Leute in den Schulengar in Ihren eigenen Schulen - unbedingt seligmachen wollen.
Meine Damen und Herren, es ist heute sehr viel darüber geredet worden, was wir eigentlich wollten. In den grundsätzlichen Fragen und Zielen sind wir uns einig. Sie sind nämlich auf Grund des Fortschritts der Reformen inzwischen so weit gediehen, daß sie heute fast Allgemeingut sind.
In den organisatorischen Fragen sind wir uns nur deshalb nicht einig, weil Sie sich hier ideologisch verschließen, weil Sie hier nicht den offenen Weg gehen und die Dinge sich nicht so entwickeln lassen, wie sie sich entwickeln werden.
— Es ist natürlich sehr einfach, den anderen immer dann als rückständig und als besonders hartnäckig konservativ zu bezeichnen, wenn er nicht bereit ist, jeden geistigen Höhenflug mitzumachen.Meine Damen und Herren, wenn man ein Schulsystem, und sei es die integrierte Gesamtschule, einführen will, ohne daß man die nötige wissenschaftliche und praktische Rückendeckung hat, gleicht das einem Hochseilakt, bei dem allerdings nicht diejenigen abstürzen, die die Urheber für diesen Hochseilakt sind, sondern die Kinder, die in der Zukunft in die Schule gehen müssen. So sieht es doch in Wirklichkeit aus.
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Lohmar hat gesagt, daß das Experiment als politischreformerisches Wagnis notwendig sei. Völlig einverstanden! Wir wenden uns nicht gegen das Experiment, sondern gegen die Generalforderung, nur in Richtung auf dieses Experiment hin zu gehen. Hierin liegt aber ein gewaltiger Widerspruch.Herr Kollege Lohmar, Sie sagen, die CDU denke nur daran, den Konsum anzuheizen. Die Krankenhäuser, das sei unsere schlichte Meinung, fielen sowieso vom Himmel. Ich muß Sie aber einmal fragen: Wer hat denn anfangs Steuersenkungen versprochen. Die „Regierung der inneren Reformen hat doch offenbar in völliger Fehleinschätzung der realen Verhältnisse echte Steuersenkungen versprochen.
— Das war gar nicht entwaffnend, Herr Kollege Wehner.
Es ist klar, daß Sie das nicht gern hören.
— Daß Sie natürlich versuchen, das ins Lächerliche zu ziehen, entspricht Ihrem Stil.Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar Beweise dafür antreten, daß die Bildungsreform tatsächlich schon begonnen hat. Ich meine, gerade der Bund hätte allen Grund, den Ländern dafür zu danken, daß Sie auf dem Gebiet der Bildung ungeheure Anstrengungen unternommen haben. Das gilt nicht nur für das Experimentieren, sondern auch für das Aufwenden von Mitteln. Ich darf das vielleicht an Hand einiger Zahlen aus Bayern stellvertretend für die anderen Länder verdeutlichen.
Ich bin mir darüber im klaren, daß die anderen Länder, gleich welcher Couleur, ähnliche Anstrengungen gemacht haben.In Bayern ist die Landschulreform durchgeführt. Wir haben heute praktisch keine Zwergschulen mehr, meine Damen und Herren. Ist das eine Leistung oder nicht?
— Ich freue mich außerordentlich, daß Sie dem Erfolg der bayerischen Entwicklung solchen Beifall zollen.
Einige weitere Zahlen: In Bayern haben 77 % aller Hauptschüler heute Englischunterricht.
Die Übertrittsquoten für Realschulen bzw. Gymnasien sind in den letzten zehn Jahren von 18,9 auf 30,8 bzw. von 18,3 auf 24 % gestiegen. 201 weiterführende Schulen sind entweder neu gebaut oder voll ausgebaut worden; die Kosten dafür beliefen sich auf etwa 2 Milliarden DM. Die Zahl der Lehrer ist in den letzten zehn Jahren um 16 000 angewachsen. Die Haushaltssteigerung sieht so aus: 1960: 856 Millionen, 1970: 2,9 Milliarden DM.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4055
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Moersch?
Herr Kollege Dr. Probst, wollen Sie uns vielleicht auch noch mitteilen, daß das Volksbegehren in Bayern von der CSU ausgegangen ist?
Herr Moersch, nur die große Unkenntnis hinsichtlich der bildungspolitischen Verhältnisse in Bayern Ihrerseits kann es ausmachen, daß Sie nicht realisieren, daß es das Volksbegehren der CSU in Bayern war, das dieses moderne System eröffnet hat.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie lachen, ist es Unkenntnis.
Wissen Sie denn,
daß wir, wenn es nach dem Volksbegehren der SPD gegangen wäre, in ,Bayern heute noch die Konfessionsschule hätten? Wissen Sie denn das?
Herr Abgeordneter Probst, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hansen?
Ja, Herr Hansen, wenn es sein muß.
Herr Kollege Probst, da Sie hier nun schon so eine fulminante Erfolgsstatistik aufstellen, frage ich Sie: Haben Sie auch einmal ausgerechnet, wie viele Schulen mehr Sie noch hätten bauen können, wenn der bayerische Staat nicht Herrn von Finck 100 Millionen DM geschenkt hätte?
Wenn er was nicht hätte? — Herr Kollege Hansen, ich habe Ihre Frage leider nicht verstanden.
Ich werde also in meinen Ausführungen fortfahren.Herr Kollege Moersch, Sie haben davon gesprochen, daß in den CDU-Ländern -- und wie viel schlimmer müßte es dann noch in einem CSU-Land sein — Werbung gegen die Bildung auf dem Lande betrieben wird und daß hier das bildungspolitische Gefälle ja erst noch richtig aufgebaut wird. — Nun, es gibt eine Umfrage, eine Analyse für Bayern. Danach steht fest — jetzt hören Sie gut her -, daß inNiederbayern von den sogenannten unterprivilegierten Schichten 57 % an den weiterführenden Schulen vertreten sind. Zum Vergleich: München hat nur 25 % der unterprivilegierten Schüler an diesen Schulen. Sie mögen daraus ersehen, daß die Chancengleichheit, die auch eine Frage der Regionen ist, auch durch die Art der Schulplanung im Lande gewährleistet wird und schon große Fortschritte gemacht hat. Es ist also nicht so, daß man in diesen Gebieten erst auf ein Schulmodell warten müßte, das noch nicht genügend geprüft ist.Meine Damen und Herren, die Länder haben ungeheure Anstrengungen unternommen und auch ungeheure Leistungen vollbracht. Ich meine, wir vom Bund sollten dafür dankbar sein. Wir haben allen Grund, auf Grund dieser Überlegungen das föderative System als vernünftig und also sogar sehr gut zu bezeichnen, einfach deshalb, weil in den Ländern das Gebiet der Bildungspolitik den ersten Stellenwert in den Haushalten besitzt, was vom Bund nicht unbedingt gesagt werden könnte, Die Länder haben eben die Bildungsaufgabe in der Hauptsache zu betreuen, und sie haben die Konsequenzen daraus gezogen.Bloß vor einem sollten wir in Zukunft warnen: daß wir hier als Bund quasi die Normen festlegen, was künftig im Bildungssystem geschehen soll, aber nicht gleichzeitig auch sagen, wie sich das realisieren läßt und woher die Gelder dazu kommen. Das könnte dann dazu führen, daß die Länder sich gegenseitig zerfleischen. Das wäre dem Gesamtsystem nicht unbedingt förderlich.Die Frage der Finanzierung ist heute schon häufig angesprochen worden. Gestatten Sie mir, daß ich hierzu noch ein Wort sage. Der Herr Bundeskanzler hat in dem Interview, das im „Stern" der vergangenen Woche abgedruckt worden ist, gesagt, wenn er seine Regierungserklärung noch einmal schreiben müsse, würde er hineinschreiben, daß nicht alles auf einmal gemacht werden könne und daß man auch Opfer verlangen müsse. Es mutet grotesk an, daß ein Bundeskanzler, der ja lange auch Regierender Bürgermeister von Berlin war, nach einem Jahr zu dieser Erkenntnis kommt: „Man kann nicht alles auf einmal machen." Das ist eine völlig neue Erkenntnis, eine bisher überhaupt noch nicht gekannte Neuigkeit.
— Für mich natürlich nicht, für den Herrn Bundeskanzler offenbar.Wir haben heute realistische Zahlen über den Geldbedarf gehört: daß es sich um Größenordnungen von 100 bis 130 Milliarden DM handeln werde, was 1980 aufgewendet werden soll. Wir lesen Zahlen, daß der Straßenbau bis 1985 125 Milliarden verschlingen wird, daß der Krankenhausbau enorm viel Geld kosten wird, auch in einer Größe von vielen Milliarden. In der Frage des Umweltschutzes sind bisher Zahlen wohlweislich überhaupt noch nicht genannt worden, weil man wahrscheinlich mit Größen rechnen muß, die wir uns überhaupt noch nicht haben träumen lassen. Auch ist nicht davon
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4056 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Probstgesprochen worden, was die Forschung verschlingen wird, und nicht davon, was künftig in den sozialen Wohnungsbau mehr investiert werden muß. Wenn Sie alles das zusammennehmen, kommen Sie auf finanzielle Ausgabengrößen, die in viele hundert Milliarden DM gehen. Es ist doch ganz logisch, daß die „Regierung der inneren Reformen" nicht sagen kann: „Wir werden das in einer Bund-Länder-Kommission diskutieren", sondern daß sie echte finanzpolitische Schwerpunkte setzen muß,
das sie sich nämlich entscheiden muß, was sie zu tun gedenkt. Alles andere ist nur Augenauswischerei und führt nicht weiter.Wenn Sie den Bildungsbericht heute vorlegen und nicht gleichzeitig wenigstens in Aussicht stellen, wie Sie die finanzpolitischen Probleme lösen wollen,
dann gleicht das jemandem, der ein kaltes Buffett serviert, die Gäste dazu lädt, aber dann nur die Speisekarte aufliegen hat.
Sie müssen das kalte Buffett, das Sie als große Hoffnung hingestellt haben, auch ausfüllen.
Wir werden natürlich gerade im Zusammenhang mit der Betrachtung der Finanzprobleme Schwerpunkte setzen müssen. Der Herr Kollege Martin hat schon einige genannt. Lassen Sie mich noch einmal auf ein paar eingehen.Ich möchte noch ein Wort zu der Frage der Lehrerbildung sagen. Es ist gar kein Zweifel, daß jede Art Weiterführung von Reformen auf das engste mit der Lehrerfortbildung gekoppelt ist. Sicher ist es aber auch so, daß wir heute noch gar nicht sagen können, ob wir bei Ausschöpfung von modernen Lehrmethoden — z. B. programmiertes Lernen und dergleichen — für eine gegebene Zahl von Schülern die gleiche Zahl von Lehrern wie heute brauchen. Wir sollten sehen, was auf diesem Gebiet an Rationalisierung möglich ist.Lassen Sie mich dazu noch einmal ein Beispiel aus Bayern anführen. In Bayern ist für ein anderes Gebiet ein völlig neuer, bisher in der Bundesrepublik einmaliger Weg gegangen worden: der Weg des Telekollegs. Das Telekolleg hat 1969 dreimal soviel Abschlüsse gebracht wie alle Abendrealschulen der Bundesrepublik zusammen. Die Kosten — vor allen Dingen konnten die Lehrerkosten sehr gesenkt werden — betrugen je Ausgebildeten, also für jeden, der die mittlere Reife geschafft hat, nur ein Zehntel dessen, was sonst in einem normalen Fall aufgewendet werden muß.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Schlei?
Ja, bitte!
Herr Kollege, Sie haben so beeindruckende Zahlen über die Bestrebungen des bayerischen Bildungswesens genannt. Darf ich Sie fragen, wie Sie es dann erklären, daß bayerische Mädchen die niedrigste Beteiligung am Abitur haben — nämlich eine Quote von 4,8 % —, während die Berliner Mädchen in der Zeit der Regierung von Willy Brandt eine Quote der Beteiligung am Abitur von 9,7 % erreicht haben? Wie erklären Sie sich, daß Sie bisher hinsichtlich der Mädchen- und Frauenbildung nicht erfolgreicher gewesen sind?
Gnädige Frau, das ist natürlich ein ganz hervorragender statistischer Trick. Aber Ihnen müßte doch geläufig sein, daß Sie einen Stadtstaat nicht mit einem Flächenstaat vergleichen können. Nehmen Sie einmal die Zahlen von München und Berlin, dann werden Sie feststellen können, daß die Unterschiede nicht sehr gravierend sind.
Zum anderen ist es ja nicht so, daß jeder weiterführende Schulweg unbedingt ins Abitur münden muß. Das haben Sie bei dieser Schau sicherlich nicht berücksichtigt.
Der Herr Bundeskanzler hat ganz zum Schluß noch ein sehr schönes Wort gesagt. Er sagte: Natürlich dürfen wir auch das berufsbildende Schulwesen nicht vergessen. — Wenn man die heutige Debatte verfolgt hat, wenn man den Bildungsbericht liest und wenn man gerade das noch einmal mit verfolgt, was der Herr Sperling in Zwischenfragen immer wieder deutlich gemacht hat, dann kann man doch den Eindruck gewinnen, daß Sie Förderung im Unterricht ausschließlich als eine Entwicklung hin zum Abitur verstehen. Meine Damen und Herren, sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie dann, wenn Sie diesen unheilvollen Weg gehen, eine neue Klasse schaffen, nämlich die Klasse derjenigen, die das Abitur nicht schaffen und sozusagen keinen Zugang zu höheren Möglichkeiten haben? Das ist außerordentlich gefährlich.
Wir sollten diesen Gegensatz abbauen. Wir sollten durch einen besonders starken Impuls für das berufsbildende Schulwesen den Gegensatz abbauen, der heute darin besteht, daß man alles, was theoretisch abstrakte Ausbildung ist, überbewertet und alles, was praktische Ausbildung oder praktische Begabung darstellt, relativ unterbewertet, obwohl bei der gewaltigen Ausdehnung des Dienstleistungsgewerbes — gerade auch des qualifizierten Dienstleistungsgewerbes — der Typ besonders gefragt sein wird, der intelligent und manuell oder sonst praktisch begabt ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Horn? —
Herr Kollege Probst, Sie sagten vorhin: wenn man den Bildungsbericht liest, könnte man den Eindruck haben. Warum haben Sie eigentlich immer den falschen Eindruck? Wenn Sie den Bildungsbericht gelesen hätten, wenn Sie die Ausführungen von Herrn Professor Leussink und auch
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Horndie Ausführungen des Bundeskanzlers angehört hätten, mit denen er expressis verbis auf die berufliche Bildung hingewiesen hat, dann wären Sie doch sicher zu anderen Folgerungen gekommen und hätten hier nicht offene Türen eingestoßen.
Ich- kann Ihnen dazu nur noch einmal sagen, was der Herr Bundeskanzler gesagt hat. Der Herr Bundeskanzler hat ganz am Schluß etwa folgendes gesagt: Es geht auch um Berufsbildung. In diesem „auch" liegt es, meine Damen und Herren.
— Wenn es anders sein sollte, Herr Raffert, sollte es mich nur freuen. Es wäre wunderbar, sollte es anders sein.
Förderung nur in der abstrakt-theoretischen Richtung, das wäre eine zu einseitig ausgerichtete Sache.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß kommen und noch einmal zusammenfassen. Der Bildungsbericht, der hier vorliegt, ist auf der einen Seite zunächst einmal eine Basis für die Diskussion. Er wird uns nicht von der Pflicht entbinden — schon gar nicht die Bundesregierung —, finanzpolitische Wege aufzuzeigen, um hier echt Reform machen zu können. Wenn Sie sich allerdings überlegen, daß Sie eine Steuererhöhung in Höhe eines Viertels der Lohn- und Einkommensteuer, aus der man 60 Milliarden DM schöpft, vorsähen, könnte man daraus immer noch erst 15 Milliarden DM schöpfen. Meine Damen und Herren, sehen Sie zu, daß Sie einen realistischen Weg finden, und sehen Sie zu, daß Sie die wichtigeren Dinge morgen anpacken. Die Bundesregierung kann es sich nicht so leicht machen, daß sie sagt: Bis 1974 werden wir die Bildungsausgaben um 4,6 Milliarden DM steigern. Sie sagt wörtlich: „Mit dieser Ausgabensteigerung leistet der Bund seinen finanziellen Beitrag zur Bewältigung der Aufgaben in Bildung und Wissenschaft." So einfach kann es sich die Bundesregierung nicht machen. Sie muß Zeichen setzen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Bundesminister Arendt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung geht von der Vorstellung eines einheitlichen Bildungssystems aus. Das heißt insbesondere, daß wir das bestehende System von allen Eigenschaften befreien wollen, die wie Mausefallen wirken: die Entscheidung für einen bestimmten Bildungsgang ist leicht zu treffen, aber späterhin nur unter großen Anstrengengen oder aber überhaupt nicht mehr zu ändern. Die Einheit des Bildungssystems entsteht durch gleichwertige Bildungsgänge auf den einzelnen Stufen, durch viele leicht erreichbare Umsteige-Stationen, sowohl innerhalb der Stufen als auch zur nächst höheren, oder durch gleichrangige Abschlüsse.Innerhalb eines solchen Systems, meine Damen und Herren, stellt die Berufsausbildung einen Bestandteil von gleichem Wert und von gleichem Rang dar. Reform der Bildung heißt immer auch Reform der Berufsbildung.
Parlament und Regierung tragen für Studenten und Auszubildende die gleiche Verantwortung. Zwischen der Berufsausbildung im Hochschulseminar und der Berufsausbildung an der Werkbank darf kein Unterschied bestehen, der sich in der Qualität der Ausbildung niederschlägt.
Aber, meine Damen und Herren, viele von den 1,2 Millionen auszubildenden Facharbeitern und Handwerkern erleben es täglich anders. Viele, wenn auch längst nicht alle, werden während ihrer Ausbildungszeit mit Hilfsarbeiten beschäftigt, die sie billiger erbringen als jeder andere Hilfsarbeiter.
Viele werden sogar mit Arbeiten beschäftigt, die mit ihrem Beruf und ihrer Ausbildung überhaupt nichts zu tun haben. Das sind sicherlich nur besonders krasse und besonders deutliche Mängelerscheinungen in der Berufsausbildung, aber sie sind vorhanden.Wir kennen außerdem das erhebliche Qualifikationsgefälle, das sich im Zahlenverhältnisse zwischen Ausbildern und Auszubildenden, haupt- und nebenberuflichen Ausbildern und der Ausstattung der Ausbildungsstätten zeigt und die betriebliche Berufsausbildung belastet.Wir wissen, daß betriebliche und schulische Ausbildung nicht gut genug ineinandergreifen. Wir wissen, meine Damen und Herren, daß fast 15 000 Berufsschullehrer fehlen. Mit anderen Worten: 39 % aller Stellen sind nicht ordnungsgemäß besetzt. Die Reformbedürftigkeit der Berufsschulen nach Aufbau und Lehrstoff versteht sich fast nebenbei.Das alles ist bekannt. Im Bildungsbericht heißt es: „Die Unruhe in der berufstätigen Jugend und die öffentliche Kritik an der beruflichen Bildung nehmen zu". Da ergibt sich die Frage: Was soll geschehen?Die Bundesregierung wird in der Bund-LänderKommission darauf drängen, daß die Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen die vorberufliche Bildung mehr als bisher berücksichtigen. Die Schüler aller Klassen müssen einen besseren Überblick erhalten, wie sich Wissenschaft und Facharbeit in einer industrialisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft gegenseitig bedingen und voneinander abhängen. Allen Schülern soll die Wirklichkeit der Wirtschafts- und Arbeitswelt eröffnet werden. Das kann zugleich als Vorbereitung auf die Berufswahl dienen.
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4058 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister ArendtGewicht hat in unseren Augen die Verbesserung der Berufsberatung.
Auf diesem Felde besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und der Bundesanstalt für Arbeit, um z. B. zentrale Informations- und Beratungsstellen innerhalb der Arbeitsverwaltung einzurichten.Zunächst werden wir die Richtlinien über die Zusammenarbeit zwischen Schule und Berufsberatung neu fassen und die Ausbildung der Berufsberater verbessern. Es kommt uns darauf an, Fehlentscheidungen der Jugendlichen für ihre Berufswahl möglichst zu vermeiden. Berufsberatung bedeutet für ihre persönliche Entwicklung eine ganz entscheidende Weichenstellung.Die Erfahrungen mit der betrieblichen Berufsausbildung schwanken — ich habe das schon angedeutet zwischen negativen und positiven Eindrücken. Großes Gewicht haben deshalb rechtsverbindliche, bundeseinheitliche und vor allem moderne Ausbildungsordnungen.Wir finden aber leider die Tatsache vor, daß bei den Industrie- und Handelskammern die sogenannten Ordnungsmittel für die 531 Ausbildungsberufe seit 1945 noch nicht einmal zur Hälfte an die veränderten Verhältnisse angepaßt worden sind.
Die Bundesregierung wird in kurzer Zeit neue Ausbildungsordnungen erlassen, z. B. für schlosserische und elektro-technische Berufe, für die Berufe der Textil- und Bekleidungsindustrie und für einige andere Berufszweige.
Das macht er mit; darauf können Sie sich verlassen.Für die Qualität der Ausbildung besitzen Ausbilder und Ausbildungsstätten eine entscheidende Bedeutung. Die Bundesregierung wird die Vorschriften für die fachliche und pädagogische Eignung der Ausbilder erhöhen, und zwar über die Vorschriften hinaus, die das Berufsbildungsgesetz schon enthält. Sie wird sich dabei des Bundesausschusses für Berufsbildung bedienen und sich mit ihm abstimmen. Die Berufsbildungsausschüsse in den Ländern und bei den Kammern müssen in diesem Zusammenhang wichtige Kontrollfunktionen erfüllen.Viele Schwierigkeiten für die Berufsausbildung liegen aber außerhalb der gesetzlichen Neuerungen, in den Betrieben selbst. Solche Schwierigkeiten müssen an Ort und Stelle behoben werden. Wir wollen deshalb unsere Pläne für die Verbesserung der beruflichen Ausbildung im Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung abstützen. Der Entwurf eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes — darüber werden wir in diesem Hohen Hause bald zu sprechen haben — erweitert die Rechte der Jugendvertretungen und verstärkt die Mitbestimmung des Betriebsrates in der betrieblichen Berufsbildung.
Meine Damen und Herren, damit erhalten die Jugenlichen einen zusätzlichen Schutz auf die gesetzliche Qualitätsgarantie für ihre Ausbildung.Wir halten es auch für richtig, daß die Jugendlichen besser über ihre Rechte und Pflichten im Ausbildungsverhältnis unterrichtet werden. Die Bundesregierung wird die Jugendlichen selbst befragen, welche Mängel sie während ihrer Berufsausbildung erfahren haben. Solche Erfahrungen der Auszubildenden werden in eine Informationsschrift eingehen, die sie zum Berufsbildungsgesetz herausgeben will.Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Vorschriften aus dem Jugendarbeitsschutzgesetz müssen stärker kontrolliert und Verstöße weniger nachsichtig behandelt werden.
Um dies zu erreichen — das ist nicht Sache der Bundesregierung — hat die Bundesregierung Gespräche mit den Ländern aufgenommen.Einen weiteren Schwerpunkt in der Reform der beruflichen Bildung erkennt die Bundesregierung in der Ordnung der beruflichen Fortbildung. Die Berufsausbildung allein reicht für den Arbeitnehmer immer weniger aus, den Anforderungen zu entsprechen, die der technische und wirtschaftliche Wandel stellt. Wir halten deshalb ein breit gefächertes, aber überschaubares System der Fortbildung und seinen Ausbau für notwendig. Im Interesse der Arbeitnehmer werden wir von der gesetzlichen Möglichkeit, berufliche Fortbildungsgänge durch Rechtsverordnung zu regeln, im erforderlichen Maß Gebrauch machen. Mit diesen Unternehmungen hofft die Bundesregierung, die Eigeninitiative der Arbeitnehmer durch gesellschaftliche Hilfen zu unterstützen. Damit hilft die Gesellschaft sich am Ende selbst.In diesem Zusammenhang mißt die Bundesregierung dem Bildungsurlaub für berufliche und gesellschaftspolitische Fortbildung eine hohe Bedeutung zu.
Ich möchte wiederholen, was ich schon angedeutet habe: In einer demokratischen Gesellschaft, in einer Gesellschaft mündiger Bürger, können Beruf und Arbeit nur im Zusammenhang mit dem gesamten gesellschaftlichen Leben gesehen und gewertet werden. In einer Demokratie sind Beruf und Arbeit Erscheinungen und Vorgänge ersten Ranges.
Deshalb halten wir es für unabdingbar, daß der Bildungsurlaub sowohl zur staatsbürgerlichen als auchzur beruflichen Weiterbildung genutzt werden kann.
Das wissenschaftliche Fundament für eine verbesserte und an zukünftige Veränderungen anpassungsfähige Berufsausbildung wird das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung legen. Der Aufbau dieses Instituts, das nach dem Auftrag des Berufsbildungsgesetzes entstanden ist, wird naturgemäß eine gewisse Zeit beanspruchen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß bereits im Juli der Präsident und die Abteilungsdirektoren gewählt worden sind und mit
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Bundesminister Arendtder Arbeit begonnen haben. Wir versprechen uns von der gesetzlich vorgeschriebenen Selbstverwaltung des Instituts vor allem, daß die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen in der Selbstverwaltung die Arbeitsergebnisse aus dem Institut ohne Verzug in die Praxis übertragen werden. Das wird jedoch nach Lage der Dinge nicht von heute auf morgen geschehen können.Zuvor wird die Bundesregierung deshalb ein Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung vorlegen. Dieses Programm faßt die konkreten Schritte zusammen, mit denen die Bundesregierung den Auftrag erfüllen will, den das Berufsbildungsgesetz ihr gegeben hat. Das Berufsbildungsgesetz stellt in seinen grundsätzlichen Normen hohe Ansprüche an die Qualität der Berufsausbildung. Aber zwischen den Wünschen des Gesetzgebers und der Wirklichkeit des Berufslebens bestehen erhebliche Spannungen. Wir werden darauf achten, ob die vorhandenen gesetzlichen Mittel zur Verbesserung der beruflichen Bildung ausreichen und wo sie möglicherweise nicht ausreichen. Wir werden dafür sorgen, daß der Wandel in der Berufsausbildung, den das Gesetz normiert, für den Auszubildenden auch in der Praxis spürbar wird. Das Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung lehnt sich an die Arbeiten des Deutschen Bildungsrats und an den Bildungsbericht der Bundesregierung an. Wir werden es insbesondere mit der jungen Generation in der Öffentlichkeit diskutieren. Das soll in der Form eines Gesprächs geschehen mit allen, die dazu bereit sind.Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen. Das bestehende System der Berufsausbildung war über Jahrzehnte vorbildlich. Jetzt ist es reformbedürftig.
Nicht alles aber ist so schlecht, daß es nur durch Zerschlagen verbessert werden könnte.
Aber — das muß ich hinzufügen — dieses System hat zweifellos weiche Stellen und verschlissene Partien.
Deshalb hat die Bundesregierung die ernste Absicht, die Berufsausbildung in der Bundesrepublik wiederum zu einem vorbildlichen System umzuformen. Das kann die Fachausbildung nicht allein betreffen. Vorbildlich kann die Berufsausbildung nur sein, wenn sie Bestandteil der sozialen Demokratie wird, auf die wir hinarbeiten. Das Stichwort Reform der Berufsausbildung ordnet die Bundesregierung unter das Ziel, die Chancengleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermesdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, aus dem Gesamtkomplex der Bildungspolitik einen Teilbereich herauszugreifen, der mir besonders wichtig zu sein scheint. Neben der Bildungsfinanzierung, die bei der Verbesserung und dem Ausbau unseres Bildungssystems die entscheidende Frage sein wird, stellt der Lehrermangel bei der Fortentwicklung des Bildungswesens sicherlich das schwierigste Problem dar. Eine genügende Zahl von Lehrern ist die unabdingbare Voraussetzung für jegliche Bildungsreform. Was sollen alle Reformpläne, was nutzen alle baulichen Investitionen in der Zukunft, wenn bereits jetzt nicht genügend Lehrer zur Verfügung stehen?
Der Lehrermangel besteht bereits 10 Jahre. Schüler, Lehrer und Eltern leiden unter ihm, die Leistungsfähigkeit unserer Schulen wird durch ihn entscheident geschwächt. Das Defizit an Lehrern ist in den letzten Jahren trotz aller Bemühungen der Länder stetig gewachsen und hat inzwischen ein bedrohliches Ausmaß erreicht. Wenn es uns nicht gelingt, hier eine Änderung herbeizuführen, bleiben Reformpläne bildungspolitische Utopien. Die Fraktion der CDU/CSU ist der Meinung, daß der Lehrermangel ein Schlüsselproblem der Bildungspolitik darstellt und daß die Gewinnung und Ausbildung der benötigten Zahl von qualifizierten Lehrern die erste und wichtigste bildungspolitische Aufgabe ist.
In diesem Sinne steht die Beseitigung des Lehrermangels für die CDU/CSU-Fraktion an erster Stelle der Prioritätenskala, und dies, weil wir an die Millionen Kinder und Jugendlichen denken, die zur Zeit auf unseren Schulen sind und denen wir zunächst einmal — das ist unsere Meinung — helfen müssen.
Der Bildungsbericht widmet dem Problem des Lehrermangels nur einen kleinen Absatz. Daß hier ein Kardinalproblem unserer Schul- und Bildungspolitik liegt, ist nicht genügend herausgearbeitet. Das liegt auf der Generallinie des Bildungsberichts, die Probleme nicht konkret anzusprechen, kein politisches Konzept zu skizzieren, sondern über einer Projektion auf das Jahr 1980 — die selbstverständlich auch notwendig ist — die Gegenwartsprobleme und die Gegenwartsaufgaben nicht hinlänglich zu berücksichtigen.
Wie ist die Lage? Exakte Zahlen für das gesamte Bundesgebiet liegen nicht vor; eine Folge der Misere der deutschen Bildungsstatistik, der schleunigst durch die Schaffung eines umfassenden Informations- und Datenerhebungssystems abgeholfen werden sollte. Der Strukturplan des Bildungsrates gibt lediglich die Ist-Zahlen der Lehrer. Danach waren im Jahre 1968 im Bundesgebiet 325 000 hauptamtliche und hauptberufliche Lehrer im gesamten Schulbereich tätig. Das Defizit ist leider nicht ausgewiesen.Nach einer gesicherten Statistik, die auf Schüler- und Lehrerzahlen der KMK basiert, fehlten im Schuljahr 1968/69 bei Grund-, Haupt- und Sonderschulen 23,5 % der Lehrer, bei Realschulen 20,5 %
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4060 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Hermesdorf
und bei Gymnasien 25,4 %. Inzwischen dürfte sich bei Grund- und Hauptschulen sowie bei Realschulen die Lage etwas entspannt haben. Bei den Gymnasien und im Bereich des berufsbildenden Schulwesens aber hat sie sich verschlechtert. Am stärksten ist der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht betroffen. Seine Lage in der Bundesrepublik ist beklagenswert.Hier schließt sich ein verhängnisvoller Kreislauf, der sobald als möglich durchbrochen werden muß. Da der Unterricht in diesen Fächern nicht mehr voll erteilt wird und schon lange nicht mehr voll erteilt wird, reduziert sich die Zahl der in diesen Disziplinen gut ausgebildeten Absolventen unserer Schulen, und dies in einer Zeit, in der mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse immer wichtiger werden und Mathematiker und Naturwissenschaftler in steigender Zahl benötigt werden.In den kommenden Jahren wird der Lehrerbedarf nach übereinstimmender Ansicht aller Experten rapide ansteigen. Nach den Berechnungen des Strukturplans des Bildungsrates — ich unterstelle einmal, daß die Zahlen stimmen — werden im Jahre 1980 im gesamten Schulbereich 569 000 — das ist die untere Grenze — bis 699 000 — das ist die obere Grenze — Lehrkräfte benötigt werden. Das bedeutet gegenüber dem Stand von 1967 eine Steigerung um 67 % bis 105 % (Obergrenze). In dieser Zahl sind die für den Elementarbereich benötigten Erzieher, deren Zahl man für das Jahr 1980 auf 71 000 bis 95 000 beziffert, noch nicht einmal enthalten. Der Bildungsbericht schweigt sich darüber aus, wie die Bundesregierung sich konkret die Deckung dieses zukünftigen Bedarfs vorstellt.Der Mangel an Lehrkräften, der nach Ländern, Schulformen und Fächern sehr verschieden ist, wird zur Zeit zum Teil verschleiert, zugleich aber auch in seinem Auswirkungen gemildert durch Beschäftigung vieler Aushilfslehrer, durch Überstunden hauptamtlicher Lehrkräfte, durch Klassenkombinationen, durch erhöhte Klassenfrequenzen und sonstige befristete Überbrückungsmaßnahmen. Entscheidend aber dafür, daß unsere Schulen trotz des großen Lehrermangels ihre Aufgaben erfüllen können, ist das vorbildliche Engagement unserer Lehrer.
Sie überwinden die vielen mißlichen Schwierigkeiten und Erschwernisse durch erhöhten Einsatz.Die Öffentlichkeit würdigt die schwierige Arbeit der Lehrer in überfüllten Klassen und bei dauernder Mehrbelastung viel zu wenig. Sie sollte den Lehrern mehr Rückendeckung geben und sie auch psychologisch mehr tragen und stützen. Wir sind allen Lehrern sehr zum Dank verpflichtet, und das sollte in diesem Hohen Hause einmal deutlich ausgesprochen werden.
Es gibt etliche Maßnahmen, durch die man die Lehrer in relativ kurzer Zeit entlasten und die Arbeitsbedingungen in der Schule verbessern könnte. So sollten Assistenten für technische Aufgaben und Verwaltungsaufgaben die Lehrer von nicht pädagogischer Arbeit entlasten und sie für ihre eigentliche Tätigkeit freimachen. In anderen europäischen Ländern, so z. B. in Frankreich, haben sich diese Mitarbeiter ohne Studium schon seit langem glänzend bewährt. Auch die technischen Unterrichtsmittel, die immer größere Bedeutung in der Schule gewinnen, können zur Entlastung und zur Einsparung von Lehrern beitragen. Dasselbe gilt von Lehr- und Lernprogrammen. Es wäre wünschenswert, daß das Ministerium für Bildung und Wissenschaft die pädagogischen Technologien in den Kreis der zu fördernden neuen Technologien aufnehmen oder aber ihre Entwicklung auf anderem Wege intensiver als bisher fördern würde.
Nur langfristige Maßnahmen können den Lehrermangel wirksam verringern und eine bessere Bedarfsdeckung in Zukunft sichern. Gerechte Besoldung, befriedigende Aufstiegsmöglichkeiten, die Chance, sich im Laufe der Berufstätigkeit höher qualifizieren zu können, und die Möglichkeit geregelter Weiterbildung werden die pädagogischen Berufe in Zukunft für Studienbewerber attraktiver gestalten können. Sehr viel wird von der Studienreform abhängen, die zur Zeit von der KMK beraten wird, und davon, ob es gelingt, durch Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen genügend Studienplätze anzubieten.Lehrerbildung und Lehrerbedarf müssen in Zukunft besser aufeinander bezogen werden. Voraussetzung dafür ist eine Qualifizierung des Lehrerbedarfs nach Unterrichtsfächer sowie eine bessere Informierung der Studienbewerber und vorher schon der Schüler der Sekundarstufe II über die — wenn ich einmal dieses Wort gebrauchen darf — Marktlage.Der Antrag meiner Fraktion zum Lehrermangel und Lehrerbedarf auf Drucksache VI/ 1271 möchte die Erstellung genauer statistischer Unterlagen veranlassen. Wir wollen Klarheit und Ubersicht. Ungesicherte Annahmen oder utopisches Wunschdenken dürfen nicht Basis weitesttragender politischer und finanzpolitischer Entscheidungen werden. Wir benötigen fundierte, maßvolle, sachgerechte Ansätze unter Berücksichtigung der gebotenen Sparsamkeit und auch unter Berücksichtigung des neueren Trends der Bevölkerungsentwicklung, der ja manche Ansätze nach unten zu korrigieren zwingt. Die statistischen Berechnungen sollen nicht Selbstzweck sein, sondern es uns ermöglichen, in pragmatischem Vorgehen eine wirkungsvolle Gesamtstrategie der zweckdienlichen Maßnahmen gezielt und planmäßig zu entwerfen und durchzuführen.Im zweiten Teil fordert unser Antrag die Regierung auf, diejenigen Maßnahmen zu skizzieren, die sie zur Überwindung des Lehrermangels im Rahmen von Vereinbarungen mit den Ländern zu fördern beabsichtigt. Die Bundesregierung hat zwar im Bildungsbericht eine entsprechende Absichtserklärung abgegeben, aber keine konkreten Maßnahmen genannt.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4061
Dr. Hermesdorf
Meine Damen und Herren, ich bitte das Hohe gründung des Antrags meiner Fraktion auf Drucksache V1/ 1271 den zuständigen Ausschüssen zu überweisen.
Gestatten Sie mir noch ein kurzes Wort zur Begründuno des Antrags meiner Fraktion auf Drucksache VI/ 1272, der die Bundesregierung auffordert, eine Berechnung der Ausgaben für die vorschulische Erziehung bis zum Jahre 1980 vorzulegen.
— Ich bin, wenn Sie es wissen wollen, über elf Jahre im Parlament von Nordrhein-Westfalen gewesen. Es liegen schon genug Beispiele dafür vor, daß solche Berechnungen möglich sind. Wenn Sie die einschlägige Literatur durchsehen, werden Sie feststellen, daß das geht.Ich kann mich bei der Begründung des Antrags sehr kurzfassen, da die Problematik der vorschulischen Erziehung heute bereits eingehend diskutiert worden ist. Meine Fraktion erkennt der Vorschulerziehung einen hohen Stellenwert bei der Verbesserung und dem Ausbau unseres Bildungswesens zu. Wir haben heute morgen schon davon gesprochen, daß die moderne psychologische und erziehungswissenschaftliche Forschung die vorschulische Erziehung der Kinder des vierten bis sechsten Lebensjahres für besonders geeignet hält, Benachteiligungen durch soziale Herkunft, häusliches Sprachmilieu, mangelnde Umweltanregungen und fehlende Lernanreize auszugleichen und dadurch Milieuschranken abzubauen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hansen?
Herr Präsident, ich habe noch eine Minute Redezeit. Ich möchte deshalb mit meinen Ausführungen fortfahren, um zum Schluß zu kommen. Herr Kollege Hansen, ich denke, daß wir im Ausschuß ausgiebig Gelegenheit dazu haben, diese Punkte zu besprechen.
Die frühkindliche Förderung im Kindergarten und in den Vorschulklassen ist hervorragend geeignet, die Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten in der Familie zu untertützen und zu ergänzen und zur Herstellung der Chancengleichheit in unserer Gesellschaft Entscheidendes beizutragen. Die Bundesregierung hat ebenfalls die Vorschulerziehung als einen wichtigen Schritt zur Schulreform bezeichnet. Wir freuen uns über diese Übereinstimmung der Meinungen. Die Fraktion der CDU/CSU hält es für erforderlich, daß die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern und unter Berücksichtigung der Vorarbeiten des Bildungsrates eine Vorausberechnung des Finanzbedarfs für die vorschulische Erziehung, so wie ihr quantitativer und qualitativer Ausbau im Bildungsbericht skizziert ist, erstellt. Bildungsplanung kann nur sinnvoll betrieben und
die schwierigen Probleme der Finanzierung der Bildungsaufgaben der Zukunft können nur sinnvoll diskutiert werden, wenn exakte Kostenberechnungen für bestimmte Teilgebiete vorliegen. Damit soll nicht der Arbeit der Bildungsplanungskommission vorgegriffen werden. Wir sehen vielmehr in einer solchen Ausgabenberechnung eine Vorarbeit für die Tätigkeit der Kommission und eine notwendige Ergänzung der Vorschläge des Bildungsberichtes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, den Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache VI/ 1272 gemäß den Überweisungsvorschlägen des Ältestenrates den zuständigen Ausschüssen zu überweisen.
Ich darf Herrn Abgeordneten Hermesdorf zu seiner Jungfernrede in diesem Hause gratulieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Liehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, man kann schlicht und einfach sagen: der Bericht der Bundesregierung zur Bildungspolitik ist ein Markstein in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Bundesregierung will mit den längst überfälligen Reformen endlich ernst machen.
— Wer Reformen begrüßt, Herr Dr. Martin, der wird sich nur freuen können über die Absicht, die der Herr Bundesarbeitsminister soeben z. B. für den Bereich, zu dem ich mich hier speziell äußern möchte, den Bereich der beruflichen Bildung, erklärt. Der Herr Bundesarbeitsminister hat mitgeteilt, daß die Bundesregierung ein spezielles Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung im Auge hat, durchführen wird und der jungen Generation anbieten wird. Ich denke, wir sollten die Bundesregierung dazu beglückwünschen.Mit dem Bundesarbeitsminister zusammen sagen wir, daß Bildungsreform zugleich auch eine Reform der beruflichen Bildung ist. Dies ist keine umwerfend neue Erkenntnis. Aber neu ist, daß wir uns nicht länger, wie in den zwei Nachkriegsjahrzehnten, die hinter uns liegen, bis zum Überdruß — wir haben das auch heute abend gemerkt — nur an den Erkenntnissen berauschen, sondern die Erkenntnisse, die vorliegen — das ist neu an dieser Feststellung —, endlich auch in die Praxis umsetzen. Der ernsthafte Wille dazu ist gegeben.
Viel zu lange war die berufliche Bildung ein Stiefkind der allgemeinen Bildungsbemühungen. Niemand wird mich mißverstehen, wenn ich hier sage: so wichtig und im Grunde überfällig das ist, was unter der breitgehaltenen Überschrift „Hochschulreform" steht, die Probleme der jungen Arbeitnehmer dürfen nicht länger in ihrem Schatten stehen.
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4062 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
LiehrEs wäre verantwortungslos, die politischen Prioritäten, die hier zu setzen sind, etwa an der Lautstärke oder Aggressivität der in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen zu orientieren und etwa zu glauben, daß die arbeitende Jugend wegen ihres gemäßigten Verhaltens geringere Beachtung auch dieses Hauses verdiene.
Ganz im Gegenteil! Ich kann hier nur Neugierige warnen und sagen: es ist spät, aber es ist nicht zu spät, Reformen ohne äußeren Druck auch in diesem Bereich der beruflichen Bildung durchzuführen. Es wäre jedenfalls verhängnisvoll, sich auch in diesem Felde Reformen abtrotzen zu lassen. Ich richte diese Mahnung nicht ohne Grund und auch gestützt auf die Erfahrung bei der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes vor allem an die Adresse der CDU/ CSU. Ich richte sie aber auch an die Adresse der Arbeitgeberorganisationen und -kammern, ferner an die Ausbildungsbetriebe und nicht zuletzt an die Landesregierungen, und ich tue dies in der besonderen Verantwortung für den Bereich des beruflichen Schulwesens.Die Bundesregierung verdient mit den Zielsetzungen ihres Berichts zur Bildungspolitik unser aller Unterstützung. Erstmals haben wir die Chance, das Stadium unverbindlicher Reden und Empfehlungen zu verlassen und zu einer wirklichen Gemeinschaftsleistung zwischen Bund und Ländern zu kommen. Wenn ich diese sehr optimistische Feststellung ) treffe, möchte ich mich nicht beirren lassen durch das, was der Kultusminister von Baden-Württemberg, Herr Professor Hahn, hier nach meinem Dafürhalten reichlich negativ und verzerrt dargestellt hat.
Wir erwarten, daß der Bildungsgesamtplan und auch das Bildungsbudget nun innerhalb eines Jahres erstellt werden, wenn wir auch alle wissen, daß dies leichter gesagt als getan ist, zumal die Datenerhebungs- und Informationssysteme völlig unzulänglich sind.Herr Dr. Martin, Sie haben in Ihren Darstellungen z. B. beklagt, daß wir mit den elementaren Voraussetzungen in der Bildungspolitik, was überhaupt die wissenschaftliche Fundierung anlangt, noch weit im Rückstand sind. Dies ist nicht zuletzt auch ein Eingeständnis eigener Versäumnisse in all den zurückliegenden Jahren,
wo wir uns bis zum Überdruß immer wieder mit den Fragen der Bildungspolitik befaßt haben, zumal wir alle wissen, daß das, was heute spürbar werden soll, längere Anlaufzeiten — das dauert Jahre, zum Teil noch länger — benötigt.Auf dem Felde der beruflichen Bildung, die fest im Bildungsgesamtplan integriert ist und integriert sein muß — ich denke, daß daran nicht der geringste Zweifel besteht —, gibt es verheißungsvolle Ansätze durch die emsige Tätigkeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt fürArbeit. Auch da gibt es einen ungeheuren Nachholbedarf, der zunächst nur durch Forschung gedeckt werden kann.Die Strukturverschiebungen zwischen traditionellen Berufen, die Wandlung der Tätigkeitsinhalte bei diesen traditionellen Berufen spielen dabei ebenso eine gewichtige Rolle wie die sogenannten Zukunftsberufe. Dazu gehört aber auch die zunehmende Konzentration der Ausbildungsberufe. Der Bundesarbeitsminister hat darauf schon aufmerksam gemacht. Ich möchte noch ein paar, wie ich glaube, sehr eindrucksvolle Zahlen dagegensetzen. Über 50 % der männlichen Lehrlinge werden in nur 12 Ausbildungsberufen ausgebildet. Bei den weiblichen Lehrlingen sind es sogar über 80 %, die in nur 12 Ausbildungsberufen ausgebildet werden. Umgekehrt sind in 257 anerkannten Ausbildungsberufen nur etwa 3300 Ausbildungsverhältnisse registriert, d. h. 0,24 % des Gesamtbestandes. Das bedeutet schlicht und einfach, daß wir es hier mit einem unrealistischen Angebot zu vieler Ausbildungsstellen — man müßte dieses Wort an dieser Stelle in Gänsefüßchen setzen — zu tun haben. Darin liegt gewiß eine der Ursachen dafür, daß wir in ganz erheblichem Umfang berufliche Fehlleitungen junger Menschen zu verzeichnen haben.Zu diesem Teil will ich nur zusammenfassend sagen: wir glauben, daß ein Berufsbildungsplan als Teil eines Bildungsgesamtplans mit seinen Orientierungsdaten von erheblicher Bedeutung sein könnte.Was nun das Bildungsbudget anlangt, so kann man hier wohl ohne Übertreibung feststellen, daß der Dschungel in bezug auf die berufliche Bildung wohl am dichtesten ist. Hier gibt es einen überaus großen Kostenanfall bei gediegener Ausbildung und in nicht wenigen Fällen bei einer unzureichenden Ausbildung beachtliche Erträge. Ich weiß, daß dies nur ein Teilaspekt des Ganzen ist. Aber ich darf in Erinnerung bringen, daß gerade heute erst ein Antrag der Fraktionen der FDP und SPD vom Hause verabschiedet worden ist, wonach bis Ende 1971 Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung ermittelt werden sollen, damit wir ein klareres Bild davon bekommen, wie die Situation in den verschiedenen Berufen und Wirtschaftszweigen sein wird. Jedenfalls müssen Vorschläge dazu gemacht werden, wie eine für die Einzelbetriebe gleichrangige Bildungsfinanzierung gewährleistet werden kann.Ich denke, daß es ohne weiteres einleuchtend ist, daß wachsende gesetzliche Verpflichtungen, wie z. B. aus dem Berufsbildungsgesetz ergeben, zu einem zusätzlichen Kostendruck für die ausbildungsintensiven Betriebe führen und daß diejenigen Betriebe, die ihren Ausbildungsverpflichtungen voll nachkommen — wir sollten ihnen bei dieser Gelegenheit auch einmal den Dank des Hauses aussprechen —,
in einen Wettbewerbsnachteil gegenüber denjenigen Betrieben geraten, die nicht qualifiziert genug ausbilden oder überhaupt nicht zur Berufsbildung junger Menschen beitragen, aber sehr wohl daran
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Liehrinteressiert sind, später gut ausgebildete Arbeitnehmer an sich zu ziehen.Für eine Lösung gibt es also zur Zeit noch keine abgerundeten Modelle, weder im In- noch im Ausland, die einer solchen überbetrieblichen, ausgleichenden Finanzierungsregelung zugrunde gelegt werden könnten. Daß aber gerade auch auf diesem Felde Untersuchungen von besonderem Interesse sind, braucht wohl nicht weiter vertieft zu werden.Meine Damen und Herren, die Neuorientierung der Zielvorstellungen gerade auch für den Bereich der beruflichen Bildung wird durch den bildungspolitischen Bericht der Regierung sehr stark gefördert. Besondere Beachtung verdient dabei die Absicht, das berufliche Bildungswesen zum Bestandteil der zweiten Stufe des Sekundarbereichs werden zu lassen. Nie zuvor ist der untrennbare Zusammenhang zwischen Bildung und Ausbildung durch eine Bundesregierung eindeutiger konzipiert worden als durch die Zielvorstellungen, die im Bericht der Bundesregierung enthalten sind.
Nur so wird es im Bildungswesen möglich sein, flexible, aber zugleich auch gleichwertige Übergänge zu weiteren Ausbildungsgängen oder aber in den Beruf zu eröffnen und damit zugleich dem Bedarf der Arbeitswelt gerecht zu werden, der sich ständig wandelt und differenziert.Meine Damen und Herren, diese langfristige Zielsetzung läßt nicht außer acht, daß es gegenwärtig darauf ankommt, das duale System der Berufsausbildung, also die Verpflichtung von Betrieb und Schule, spürbar zu verbessern. Es ist schlechterdings ein Unding und einer Industrienation vom Range der Bundesrepublik Deutschland unwürdig, daß zwar das Praktisch-Fachliche eines Ausbildungsberufs bundeseinheitlich geregelt wird, daß aber das Theoretisch-Schulische für ein und denselben Beruf elfmal unterschiedlich in den Ländern zur Anwendung kommt. Ich hätte mir sehr gewünscht, daß der Kultusminister von Baden-Württemberg, der hier gesprochen hat, seinen Beitrag weniger polemisch angesetzt hätte, indem er diesem Hohen Haus zu erkennen gegeben hätte, ob und inwieweit z. B. auch Baden-Württemberg nunmehr bereit und in der Lage ist, dabei mitzuwirken, daß das, was den berufsschulischen Teil anbelangt, nun auch wirklich eine bundeseinheitliche Regelung erfährt. Dafür gibt es aus der Praxis heraus ein vordringliches Bedürfnis. Ich denke, daß es künftig nicht länger dem Zufall überlassen bleiben darf, ob ein junger Arbeitnehmer in Bayern, in Hessen, in Schleswig-Holstein oder in Berlin ausgebildet wird.Dazu gehört aber auch, daß man sich die Sorgen der Berufsschullehrer vor Augen führt. Hier kann man nur schlicht und einfach feststellen, daß diese für den Bereich der beruflichen Bildung die eigentliche Last zu tragen haben. 39 % aller Stellen sind nicht ordnungsgemäß besetzt. Es fehlen etwa 15 000 Berufsschullehrer. Seit 1959 ist die Zahl der Berufsschullehrer beinahe konstant geblieben. Die Folge davon ist, daß in einigen Ländern nicht einmal der gesetzliche Mindestunterricht vermittelt werden kann, vom zweiten Berufsschultag ganz zu schweigen. Hier liegt, nachdem vorhin Bayern so lobend herausgestellt worden ist, Berlin an einsamer Spitze und wird für alle anderen Länder zur Nachahmung empfohlen.
Wir haben alle Veranlassung, meine Damen und Herren — und damit möchte ich schließen —, die Bundesregierung und die Landesregierungen zu ermutigen, die vorgelegte Konzeption, gestützt auf diese Bestandsaufnahme, zügig durchzusetzen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Jung.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bildungsbericht realisiert endlich die immer wieder von der FDP vorgetragenen Forderungen.
Ich darf daran erinnern, daß die FDP als erste der im Bundestag vertretenen Parteien auf ihrem Bundesparteitag 1951 die Bundeskompetenz im Bereich des Bildungswesens gefordert und frühzeitig auf die Notwendigkeit der Entwicklung eines Planungsinstrumentariums im Bereich der Bildungspolitik hingewiesen hat.
— Aber der Bildungsbericht in dieser Form, Herr Kollege Leicht, ist ein großer Schritt dieser sozialliberalen Koalition auf dem Wege zur inneren Reform unserer Gesellschaft, und zwar im Gegensatz zum Bildungsbericht 1968,
der bezeichnenderweise vom Bundesminister des Inneren herausgegeben wurde.
— Natürlich, das sage ich doch eben gerade. — Er ist vom Bundesminister des Innern herausgegeben worden, und dort war auf 500 Seiten zusammengetragen, was die Länder wollen. Man ließ also damals die Länder ihr Süppchen kochen und hat keine Information über die Zielvorstellungen der Bundesregierung gegeben. Das ist jetzt anders, jetzt endlich.
Jetzt endlich sind klare Zielvorstellungen entwikkelt worden, die zusammen mit den Ländern diskutiert und in die Tat umgesetzt werden sollen.Ich kann mir natürlich vorstellen, daß diese Zielvorstellungen nicht immer ganz in Ihrem Sinne sind. Herr Kollege Martin, Sie hatten in Ihrer Rede vorhin als Mangel festgestellt, daß der Bildungsbericht der Regierung keine Interpretation des Bildungsbe-
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Junggriffes und der Bildungsinhalte enthalte. Dabei ist mir Art. 131 der bayerischen Verfassung eingefallen, den ich mit Genehmigung des Präsidenten hier zitieren möchte. Da heißt es:Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne. Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen. Die Mädchen sind außerdem in der Säuglingspflege zu unterweisen.Herr Kollege Martin, wollten Sie, als Sie vorhin Ihre Forderung erhoben, daß die Bundesregierung das oder so etwas Ähnliches als Interpretation des Bildungsbegriffs und der Bildungsinhalte in den Bericht hätte hineinschreiben sollen? Wollten Sie das in der Tat?
Nun, ich meine, die Diskussion,
— sehr schön! —
die heute im Bundestag über diesen Bericht möglich ist, zeigt einen von der FDP gewünschten politischen Stil gegenüber dem Bürger. Anstatt dieses Haus in eine Gesetzesmaschinerie in Bildungsfragen umzuwandeln, werden die bildungspolitischen Konzeptionen offen diskutiert, um wirksame Reformen durchzuführen.In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Themenkreise behandeln, nämlich die Vorschulerziehung und die Weiterbildung.Es ist nachgerade eine Binsenweisheit, daß Stehenbleiben auf einem erreichten Bildungsniveau zu sozialer Stagnation und weiter zu sozialem Abstieg führt. Das Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung erfordert daher die Weiterbildung als integrierten Bestandteil der übrigen Bildungsbereiche. Sie ist davon nicht zu trennen.Die „education permanente" oder verdeutscht: das lebenslange Lernen ist eine elementare Forderung, nicht nur um sozialen Abstieg zu vermeiden, sondern auch um entfaltete Potenzen ständig weiterzuentwickeln und Möglichkeiten zu schaffen, das elementare Bürgerrecht auf Bildung über den ersten Lebensabschnitt hinaus zu gewährleisten.Die Notwendigkeit der Weiterbildung wird offensichtlich am Beispiel der Lehrer. Denn wir wissen ja alle, daß die Unterrichtsmethoden zum Teil hoffnungslos veraltet sind und daß wir uns nach neuen Lehr- und Lernmethoden, nach programmiertem Lernen, Sprachlabors usw., umsehen müssen. Aber sie wird besonders deutlich im Bereich der Naturwissenschaften. Es ist selbstverständlich, daß Ärzte, Ingenieure, Chemiker, Physiker die Weiterbildung notwendig haben und daß Möglichkeiten hierfür eröffnet werden müssen. Das gleiche gilt natürlich auch für Juristen, für Handwerker und für viele andere auch. Einzelne Berufsgruppen sind ohnehin zur ständigen Weiterbildung gezwungen. Denken Sie z. B. an die Programmierer.Wie ist nun die Situation heute? Zwar sind Weiterbildungsmöglichkeiten vorhanden, aber ich stelle fest: systemlos und durcheinander. Es bemühen sich die Volkshochschulen, die Kirchen, die Gewerkschaften, es bemühen sich Fernlehrinstitute und auch die Massenmedien Rundfunk, Fernsehen und Presse. Aber es ist nicht koordiniert und nicht programmiert. Die „Abschlüsse" — hier wirklich in Anführungszeichen — in Form von Diplomen und Zertifikaten sind weitgehend unbrauchbar. Es ist ein Chaos geschaffen worden durch ein falsch verstandenes Prinzip des Föderalismus, partikularistisches Denken bestimmter Gruppen und — das darf man auch nicht verschweigen — durch privates Gewinnstreben einzelner Fernlehrinstitute auf Kosten eines wünschenswerten Bildungswillens vieler.Damit keine Mißverständnisse entstehen: ich will die Initiativen gesellschaftlicher Gruppen oder einzelner nicht schwächen. Im Gegenteil. Aber es muß hier eine Effektivierung fehlgeleiteter Kapazitäten durch Koordination und Vermeidung von Geschäftemachereien, z. B. im Fernunterricht, an allgemeinen Interessen hergestellt werden. Daher ist es wichtig, daß eine Richtlinienkompetenz für den Bund geschaffen wird, die Bildungsträger mit einem klar profilierten Abschlußsystem ermöglicht, das auch brauchbar ist. Es ist das Ziel, neue Kenntnisse für den einzelnen zu eröffnen und Umschulungsmöglichkeiten zu schaffen, die durch die Weiterbildung eben erst erleichtert werden. Denn die Mobilität in unserem Gesellschaftssystem ist nun einmal eine Tatsache, und die Weiterbildung ist ein wesentlicher Faktor zur freien Entfaltung des einzelnen.Darüber hinaus gilt es natürlich auch, die allgemeine politische Bildung weiterzuentwickeln. Denn die Demokratie braucht kritische Demokraten. Dies ist nur durch Bildung möglich. Wesentliche Voraussetzungen für die Weiterbildung sind das Ausbildungsförderungsgesetz und der Bildungsurlaub; mein Kollege Grüner wird möglicherweise über diese Probleme auch noch kurz referieren. Der Bildungsurlaub ist besonders notwendig, weil er das Wechselspiel von berufspraktischen und weiterbildenden Phasen, die sich gegenseitig befruchten, sicherstellt. Notwendig ist dabei, daß Wege der Weiterbildung untereinander und mit anderen Bildungsbereichen integriert werden, also ein Baukastensystem entsteht, das den differenzierten individuellen Bedürfnissen angepaßt ist und das Bildungs- und Ausbildungsgänge für den einzelnen ermöglicht.Dabei ist die Fachbildung mit der allgemeinen politischen Bildung untrennbar verbunden. Eine zwangsläufige Folge ist, daß „permanente Bildung" heißt: permanente Bewegung an der Spitze des Problembewußtseins.Die gesellschaftliche Konsequenz ist unter anderem die Ausschaltung von Emotionen bei Konflikten,
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JungDas wird z. B. besonders beim Generationskonflikt deutlich. Wenn die ältere Generation bislang diese Weiterbildungsmöglichkeit gehabt hätte, könnte sie vermutlich die Probleme der jüngeren Generation besser nachvollziehen. Aber hier ist festzustellen, daß weitgehend noch der Ausbildungsstand vorhanden ist, der vor dem zweiten Weltkrieg gegeben war. Die Weiterbildungsmöglichkeiten in der Zwischenzeit waren eben nicht so, wie wir sie uns vorstellen und wie auch die Bundesregierung in ihrem Bildungsbericht sie für notwendig hält.Der Weiterbildung ist aber durch die Schaffung von formalen Möglichkeiten allein nicht gedient. Daher muß der Bildungswille Lernmotivationen anregen. Dazu ist hier insbesondere die vorschulische Erziehung geeignet.Wie ist es denn hier heute? Die Kinder sind bei ihrem Schuleintritt weitgehend durch die soziale und kulturelle Umwelt konditioniert. Die Chancengleichheit, die auch im Laufe dieser Debatte immer wieder herausgestellt wurde, ist schon beim Schulbeginn nicht vorhanden. Die Elementarerziehung muß deshalb korrigierend wirken.Der Bildungsbericht weist mit Recht auf die Bedeutung der Vorschulbildung hin. Vorschulische Einrichtungen müssen die in mangelhaftem sozio-kulturellen Hintergrund begründete Spracharmut beseitigen, den Wortschatz bereichern und die Ausdrucksmöglichkeiten vergrößern. Als Folge stellt sich dann von selbst das steigende Selbstgefühl der Kinder ein. Es stimuliert die eigene Betätigung und die gesellschaftliche Kommunikation.Zusammengefaßt: Die Milieueinflüsse müssen zurückgedrängt werden, die die Bildungsmotivation erschweren und einschränken. Die FDP mißt der Lernmotivation entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung von Bildungschancen im späteren Leben zu.Die Bedeutung der Elementarbildung ist also nicht zu verkennen. Sie stellt nicht nur die Chancengleichheit her, sondern fördert auch später die Bereitschaft zur éducation permanente. Der Bildungsbericht betont deshalb mit Recht die Priorität dieser Elementarbildung und der vorschulischen Erziehung.Ich habe diese zwei Schwerpunkte behandelt, die auch der Bildungsbericht als wesentlich erkennt und die beinahe traditionelle Anliegen der Freien Demokraten sind. Betonen möchte ich noch, daß diese liberalen Vorstellungen nicht nur Interesse in der Öffentlichkeit gefunden haben, sondern auch weitgehend — das wurde heute abend schon von verschiedenen Seiten deutlich gemacht — von den anderen Parteien anerkannt und akzeptiert worden sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wegen der fortgeschrittenen Zeit möchte ich mich auf ein paar Bemerkungen beschränken. Zunächst aber, lieber Herr Kollege
Liehr, folgendes: Ich bin fast von meinem Sessel gefallen, als Sie hier anfingen: Endlich können mal die Reformen wirklich beginnen!
Meine Damen und Herren, die Wirklichkeit sieht doch anders aus. Noch in keiner Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist so viel für die berufliche Bildung getan worden wie in der 5. Legislaturperiode.
— Lieber Herr Kollege Liehr, Sie müßten genau wissen — Sie waren ja Vorsitzender des Unterausschusses —, welche Schwierigkeiten hier vorlagen. Sie kamen nicht erst durch unsere Fraktion, sondern schon durch den Streit in der Regierung über die Zuständigkeit und durch andere Dinge.
Beispielsweise mußten wir uns mit der traditionellen Entwicklung und der bundesstaatlichen Ordnung auseinandersetzen bzw. diese bei der Beratung des Berufsbildungsgesetzes berücksichtigen.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Liehr?
Bitte schön!
Herr Kollege Müller, ist Ihnen in der Eile entgangen, daß das, worauf wir uns dann nach erheblichen Geburtswehen haben verständigen können, noch einmal ganz entscheidend zum Negativen hin verändert worden ist durch Änderungsanträge, die Ihre Fraktion dem Hause unterbreitet hat und die mit dazu beigetragen haben, daß dieses Berufsbildungsgesetz in der Öffentlichkeit und bei den jungen Arbeitnehmern so ungeheuer in Verriß geraten ist?
Herr Kollege Liehr, ich kann Ihnen nur sagen, daß an einer einzigen Stelle, und zwar in der Handwerksordnung, Änderungen vorgenommen worden sind, die an sich nur einer dort vorhandenen Tradition mehr Rechnung getragen haben, als das vorher der Fall war. Bei allem anderen wissen Sie wie ich, daß es im Handwerk genauso Anwendung findet wie in allen anderen Bereichen unserer Wirtschaft. Es ist also eine weitgehende Übertreibung, was Sie hier vortragen. Sie wissen auch genauso, daß wir uns bei der Beratung dieser Gesetzentwürfe, über die ich hier noch einige Worte sagen werde, immer von dem gleichen gemeinsamen Gedanken haben leiten lassen. Ich bin der Meinung, daß muß hier an diesem Pult einmal gesagt werden, zumal in der Diskussion von allen Seiten wiederholt wurde, was auch unsere Meinung ist. Wir sind uns einig, daß für alle Staatsbürger die gleichen Bildungschancen bestehen müssen, wir sind uns aber auch einig, wie ich glaube, daß die berufliche Bildung den gleichen Rang und
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Müller
das gleiche Gewicht haben muß wie jeder andere Zweig der Bildung. Dabei sind Hochschulbildungen nicht ausgenommen.
Dann muß aber auch der gleiche Stellenwert im Bericht und in der Diskussion ganz deutlich zum Ausdruck kommen. Ich kann nicht sagen, daß das bisher geschehen ist. Ich nehme auch an, daß wir darin einig sind, daß die schnelle technische Entwicklung und die damit verbundene ständige Wandlung der Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft eine berufliche Flexibilität aller Arbeitnehmer, d. h. auch derer, die heute schon tätig sind, die berufliche Anpassung an neue Aufgaben, erforderlich machen. Aus diesem Grund darf ich noch einmal ausdrücklich unterstreichen, daß es in der 5. Legislaturperiode bei der Beratung und Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes, von dem ich keineswegs behaupte, daß es vollkommen oder nicht reformbedürftig sei, im Gegenteil — ich darf an dieser Stelle sagen, daß ich die Ausführungen des Herrn Bundesarbeitsministers mit Genugtuung entgegengenommen habe —, genau diese Gedanken gewesen sind, die uns damals auch bewegt haben und die durchaus nicht untergegangen sind. Er kann sich unserer Unterstützung sicher sein, wenn er diese Reformen, so wie er es hier dargestellt hat, durchführen wird,
nämlich nicht das Alte zerschlagen, sondern das Bestehende fortentwickeln und das Beste daraus machen.Aus diesem Grunde haben wir dieses Berufsbildungsgesetz in der letzten Wahlperiode geschaffen und ausdrücklich darauf verzichtet, von einer Berufsausbildung zu sprechen, und haben das Gesetz nicht Berufsausbildungsgesetz, sondern Berufsbildungsgesetz genannt, weil es auch für die berufliche Fortbildung und die berufliche Umschulung, die zu einer anderen beruflichen Tätigkeit befähigen soll, gelten soll. Die berufliche Fortbildung, so will es der Gesetzgeber, soll es ermöglichen, die beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen oder beruflich aufzusteigen.Ich will an dieser Stelle keine Ausführungen mehr über das Berufsbildungsgesetz machen. Wir hoffen nur, daß es sich bewährt. Aber, Herr Bundesarbeitsminister — er ist jetzt nicht da —, auch uns sind einige Schwierigkeiten, die entstanden sind, bekanntgeworden, insbesondere was die Bildung der Bildungsausschüsse bei den Kammern angeht; bis heute sind, obwohl die Frist bald abgelaufen ist, einige noch immer nicht gebildet. Auch die Zusammenarbeit ist nicht gerade so, wie sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat. Wir haben gehofft, daß mit der Zusammensetzung der Bildungsausschüsse, sei es auf Bundesebene, sei es auf Landesebene oder Kammerebene, die durch die bundesstaatliche Ordnung auftretenden Schwierigkeiten zwischen berufsausbildungsbegleitender Schule und betrieblicher Ausbildung überwunden werden. Das kann man heute noch nicht sagen.Ich komme noch einmal auf den Inhalt der Berufsbildung zurück. Das Gesetz ist, wie gesagt, kein Berufsausbildungs- sondern ein Berufsbildungsgesetz. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die berufliche Fortbildung ein lebenslanger Bildungsprozeß ist, kann auch ein Bildungsbericht hieran nicht vorbeigehen; das ist aber leider geschehen.
— Ich werde Ihnen mit Erlaubnis des Präsidenten die wenigen Sätze, die der Bericht hat, zitieren. Es heißt: Dieses Prinzip hat die Bundesregierung bereits im Sozialbericht 1970 zum Ausdruck gebracht. Das ist alles. Im Zuge der Reform soll das berufliche Bildungswesen Bestandteil der zweiten Stufe, der sogenannten Sekundarstufe, werden. Das haben Sie Herr Liehr hier auch vorgetragen, aber ohne zu sagen, wie die Reform in Zukunft eigentlich aussehen soll.Auf Seite 38 heißt es dann lediglich — ich zitiere —:Aus dem Wandel in den Anforderungen der Berufswelt ergibt sich eine weitere Forderung an das berufliche Bildungswesen, der es heute nicht ausreichend gerecht wird: Der Berufstätige muß in der Lage sein, sich auf neue Arbeitsbedingungen einzustellen.Auch wir sind der Meinung, daß es in der Tat so ist. Die umwälzende technische Entwicklung, die einen umfassenden wirtschaftlichen und beruflichen Umbildungsprozeß ausgelöst hat, stellt an den einzelnen so hohe Anforderungen, sowohl an die Berufswahl — wer weiß heute normalerweise noch, ob der Beruf, den er ergreift, noch Aussicht hat, auch in der Zukunft zu bestehen? — als auch an die berufliche Anpassung, daß er aus eigener Kraft, ohne öffentliche Förderung die Probleme nicht bewältigen kann. Jedenfalls ist es die Pflicht des sozialen Rechtsstaats, hierfür Vorkehrungen zu treffen, um eine strukturelle Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das aber ist nach unserer Meinung in erster Linie eine Frage der beruflichen Bildung.Berufliche Fortbildung und berufliche Umschulung wenden sich aber vorwiegend an Erwachsene, die bereits Berufs- und Lebenserfahrung besitzen, und nicht an Jugendliche. Hier sind die besonderen Erfordernisse der beruflichen Erwachsenenbildung zu berücksichtigen. Auch darüber steht in dem Bildungsbericht nichts Spezifisches. Von all dem ist in dem Bildungsbericht nichts zu lesen.Ich wundere mich, daß dort mit keinem Wort das ebenfalls in der 5. Wahlperiode von diesem Hohen Hause einstimmig verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz erwähnt worden ist.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Sperling?
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Sollte es Ihnen entgangen sein, daß der Bildungsbericht auf den Seiten 74 und 75 unter der Überschrift „Weiterbildung" eine ganze Menge zur beruflichen Bildung Erwachsener sagt?
Müller ,(CDU/CSU) : Das ist mir nicht entgangen. Aber da ist wenig Konkretes, sondern nur die Zielvorstellung enthalten.
Ich wundere mich, daß in diesem Bericht mit keinem Wort — und das ist jetzt ganz konkret — die Rede von dem Arbeitsförderungsgesetz ist, obwohl gerade dieses Gesetz mit zu der Berufsbildung gehört, weil es auf dem Berufsbildungsgesetz aufbaut und dort auch die Normen für die Förderungsmaßnahmen enthalten sind. Wenn der Bericht nicht einmal mit einem einzigen Wort darauf eingeht, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir kritisch werden und wenn bei uns der Verdacht aufkommt, daß die Bundesregierung, aus welchen Gründen auch immer, das in der 5. Wahlperiode von Arbeitsminister Katzer eingebrachte und hier einstimmig angenommene Arbeitsförderungsgesetz nicht richtig beachtet und bewertet und das damit geschaffene Instrumentarium zur Förderung der breiten beruflichen Bildung nicht nützt. Ich hätte gewünscht, daß hierüber etwas ausgesagt worden wäre. Dann wären wir uns wahrscheinlich schneller einig geworden. Gerade dieses Arbeitsförderungsgesetz ist die Grundlage auch für die Weiterführung der beruflichen Bildung.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau von Bothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin etwas erstaunt über den eben gehörten Beitrag des Herrn Müller aus Berlin. Wenn er den Bericht schon nicht richtig gelesen hat, sollte er ihn wenigstens nicht so kritisieren. Ich finde, das bringt uns wenig weiter.
Ich begrüße es, daß wir hier einmal über die Schule sprechen. Das ist in diesem Hause neu. Alle, die von der Schule, wie sie jetzt ist, betroffen sind — ich sage absichtlich „betroffen" und schließe hier Lehrer, Schüler und Eltern ein —, werden froh sein, daß wir in diesem Hohen Hause heute über das Thema „Schule" sprechen.
In diesem Bildungsbericht, über den wir nun schon einige Stunden sprechen, werden nicht nur Mißstände und Versäumnisse im Schulbereich aufgezeigt; es wird auch ein klares Konzept für die Zukunft angeboten. Ich meine, man kann mit diesem Konzept zufrieden sein, denn keine der bisherigen Regierungen hat ein solches Konzept vorgelegt. Man muß sich fragen: Hätte die Reform nicht schon bald nach 1945 einsetzen müssen, und hätte die Kernfrage dabei nicht lauten müssen, welche Strukturfehler des deutschen Bildungswesens den verhängnisvollen Weg unserer Geschichte mit verschuldet haben könnten?
Dem Versäumnis einer solch frühzzeitigen Besinnung ist in den letzten 20 Jahren nicht ausreichend Rechnung getragen worden. Erst jetzt haben wir eine Regierung, die Reformen des Bildungswesens für ihre wichtigste Aufgabe hält. Das Grundmotiv dieser Reform ist Chancengleichheit und Demokratisierung. Jetzt zögere ich allerdings schon wieder, denn nachdem ich heute gehört habe, wie die Opposition ,den Begriff „Demokratie" verwendet, fällt es mir schwer, ihn hier einfach zu verwenden. Meine Damen und Herren von der Opposition, man hat das Gefühl, Sie verstehen etwas grundlegend anderes unter diesem Begriff, zumindest wenn Herr Martin sagt, Demokratie sei natürlich die leichteste Form des menschlichen Zusammenlebens.
Ich will es uns zu dieser späten Stunde ersparen, noch Unterricht über den Begriff „Chancengleichheit" zu halten. Sie haben ja auch zum Ausdruck gebracht, daß Sie die Chancengleichheit befürworten. Niemand wird das im Grundgesetz verankerte Recht auf Bildung einigen Bürgern länger vorenthalten wollen. Wer möchte sich heutzutage noch für ständestaatliche Privilegien einsetzen? Herr Dr. Probst, in diesem Zusammenhang muß ich aber doch noch etwas zum Ständestaat sagen. Sie fragten, was man darunter zu verstehen hat. Ich finde, das ist ganz einfach aus dem in der Schule gelehrten System der Dreiteilung abzulesen.
— Die Hauptschule oder die Volksschule ist für Soldaten und das einfache Volk da.
Die Realschule ist für mittlere Beamte, Feldwebel oder Unteroffiziere da.
Das Gymnasium ist für die Elite da. Ich glaube, über diesen Zustand sind wir hinweggekommen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kotowski?
Bitte!
Frau Kollegin, sollte es Ihnen entgangen sein, daß der Begriff „Ständestaat" in der wissenschaftlichen Literatur vollkommen klar definiert ist, und zwar als diejenige Staats- und Gesellschaftsform, in der politische und soziale Privilegien verfassungsmäßig von denselben Personen und Gruppen wahrgenommen werden? Glauben Sie nicht, daß, wenn das so ist, die von Ihnen genannte Dreiteilung aus der Schule — wenn
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Dr. Kotowskiich mich schon ,auf den Boden Ihrer Argumentation stelle — allenfalls auf den Klassenstaat, aber nicht auf den Ständestaat zutrifft?
Danke schön, Herr Kotowski. Aber die Leute, die durch das Gymnasium gingen, nahmen diese Privilegien allein wahr. Insofern ist vielleicht doch etwas dran. Aber einigen wir uns auf Klassenstaat.Jedenfalls liegt noch heute den Lehrplänen der Schulen im allgemeinen zugrunde, daß die Hauptschule eine volkstümliche, handwerkliche, praxisorientierte Bildung, die Realschule eine gehobene, berufsorientierte und das Gymnasium eine theoretische, . wissenschaftliche Bildung vermittelt. Dabei geht man von den drei klassischen Begabungsgruppen aus, wobei Begabung und soziale Herkunft in merkwürdiger Übereinstimmung sind.Nun endlich will man das anerkannte Bürgerrecht auf Bildung für alle auch politisch durchsetzen, und die Konsequenz davon ist die Gesamtschule. Die Bildungskommission des Bildungsrates spricht davon und drückt klar aus,. daß Gesamtschule nicht Nivellierung bedeuten kann, daß Chancengleichheit in der Gesamtschule nicht Nivellierung bedeutet, sondern frühzeitiges Ausgleichen von Chancenunterschieden. In manchen Fällen, so sagt die Bildungskommission ausdrücklich, wird Chancengleichheit bedeuten, daß manchen besondere Chancen gewährt werden müssen.Denjenigen, die von der Gesamtschule ein Absinken des allgemeinen Leistungsniveaus befürchten — und das ist auch heute schon angeklungen —, kann man antworten, daß durch die gleichgestellten Ausbildungsgänge für den einzelnen erhöhte Konkurrenz erwächst, die sich leistungssteigernd auswirken dürfte. Dabei muß man Leistung natürlich nicht verstehen als das auf das Zeugnis hin gerichtete, sich in Klassenarbeiten niederschlagende Wiedergeben von schnell gelerntem Lernstoff, sondern als selbständiges Arbeiten auf Grund des Verständnisses von Zusammenhängen.Wir haben heute sehr Eindrucksvolles über den Intelligenzquotienten gehört. Ich frage mich nur: Selbst wenn das so ist, wie es Kollege Martin sagte, wer hat das je auf die Schule angewandt? Wann sind denn Kinder je so sorgsam untersucht worden, wie weit ihre Intelligenz reicht, wo sie aufhört und in welchen Schulzweig die Kinder infolgedessen gehen müssen? Das ist für die Schulpraxis doch einfach blasse Theorie. Das bisherige Schulsystem drängt 10jährige in eine Entscheidung, die nachher bei vielen zum Schiffbruch führt. Das eben schaltet die Gesamtschule aus. Denn da kann das Kind innerhalb der gleichen Schule verschiedene Kurse besuchen und sich seinen Fähigkeiten entsprechend ausbilden. Es wird kein Abbrechen und kein Zurückschulen mehr geben, und damit werden all diese seelischen Belastungen, die auf den jungen Menschen zukommen, wegfallen.
— Ja, da bin ich sicher, Herr Probst. Ich wunderemich, daß Sie es gerade umdrehen. Denn wir kennendie Schäden des jetzigen Schulsystems, daß so viele, die in die höhere Schule oder in die Realschule gehen und den Schulabschluß nicht erreichen, abbrechen und in die Volksschule zurückgehen müssen. Das ist doch wohl offensichtlich ein Schaden.Außerdem ist entgegen vielen Befürchtungen die Gesamtschule natürlich nichts Starres und einmalig Fixiertes. Es wurde hier von Kultusminister von Oertzen schon gesagt, daß die Gesamtschule selbstverständlich von wissenschaftlicher Forschung begleitet und für Neuerungen und Veränderungen offenbleiben muß und daß sich dort gesellschaftliche Weiterentwicklung mit vollziehen muß.Da Bildung nicht erst in der Schule beginnt und auch nicht erst in der Vorschule und da Bildung ein kontinuierlicher Prozeß ist, muß auch der Kindergarten zusammen mit der Vorschule, d. h. der .Elementarbereich, in das Bildungssystem einbezogen werden. Wenn es nun darum geht, an Modellversuchen Erfahrungen zu sammeln und geeignete Lernziele zu entwickeln, müssen in solche Versuche Schulkindergarten und Vorschule ebenso wie Schule einbezogen werden. Ein frühzeitig begonnener gesellschaftlicher Prozeß der Integration, der in der Vorschule über die Grundschule weitergegangen ist, darf nun nicht mehr durch den Eintritt in weiterführende Schulbereiche abgebrochen werden. Hier soll — ich meine, das kann man als eines der wichtigsten Kriterien ansehen — auch sozialer Ausgleich geschaffen werden. Außerdem sollen die heute unvermeidlichen Verständigungsschwierigkeiten, die zwischen den verschiedenen Bildungsgruppen lebenslang bestehen, entschärft werden.Wenn Sie nun, meine Damen und Herren von der Opposition, mit uns der Meinung sind, daß Schulreform nötig ist, so muß man doch einmal fragen: Warum soll es dann nicht Gesamtschule sein? Was .spricht denn dafür, daß das dreigeteilte bisherige Schulsystem das bessere sei? Dafür haben Sie in der heutigen Diskussion auch nicht ein einziges Argument gebracht.
Wenn Sie hier sagen, daß Vorschule ja sein sollte, weil sie die Intelligenz und die Chancengleichheit fördert, so muß ich feststellen, daß einer Ihrer Kollegen gesagt hat, man müsse aber Angst haben vor zu vielen Abiturienten. Was wollen Sie dann in Ihrem Konzept mit Vorschule? Sie wollen die Menschen zuerst fördern, aber nachher haben Sie Angst davor, daß diese Intelligenz tatsächlich das Abitur schafft.
— Ich möchte einmal wissen: wo ist eigentlich Dogmatik? Können Sie an irgendeinem Ende nachweisen, daß Gesamtschule etwas mit Ideologie zu tun hat? Das unterschieben Sie ständig. Ich würde wirklich raten: Lesen Sie den Bildungsbericht! Da ist mit keinem Wort von Ideologie die Rede.
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Frau von Bothmer— Wenn man von Ideologie sprechen kann — das ist heute schon einmal gesagt worden —, dann ist sie eher vorhanden im bisherigen System der dreigeteilten Schule mit ihrem etwas verwässerten Humboldtschen Bildungsideal.
Ich kann es mir nicht versagen, nun auch darauf hinzuweisen, daß eigentlich alle in den letzten Jahren erreichten neuen Schulkonzeptionen — Mittelpunktschule, 9. Schuljahr, Förderstufe — nur im zähen Kampf sozialdemokratischer Bildungspolitiker gegen christdemokratische Bildungspolitiker zu unseren Gunsten endlich durchgekommen sind.
Ich sehe, leider kämpfen wir jetzt anscheinend den gleichen Kampf auch um die Gesamtschule. Aber Sie können getrost sein: auch der wird zu unseren Gunsten ausfallen.
Wenn davon gesprochen wird, daß gar keine politischen Aspekte in der ganzen Sache seien, dann tut es mir leid, wenn Sie nicht begriffen haben, daß es eine gesellschaftspolitische Entscheidung ist, die hier getroffen wird.
— Keine politische? Dann möchte ich Sie darauf hinweisen, daß Schule an sich als ein Teil des Gemeinwesens auch ein politischer Bereich ist und daß der staatspolitische Auftrag in der Schule keineswegs damit erfüllt ist, daß man das Lernfach Gemeinschaftskunde unterrichtet.
Die Schule selbst ist Ort politischen Geschehens; hier muß Demokratie und politisches Verhalten geübt und gelebt werden. Denn wie sonst könnten Lehrer, Schüler und Eltern überhaupt Verantwortung in der Schule für sich verbindlich anerkennen und ausüben! Schülermitverantwortung und Elternvertretung müssen sonst einfach Farce bleiben.Es ist daher merkwürdig, daß es immer noch Schulen gibt, in denen der politische Bereich als Tabu gilt, ja, Schulen, die stolz darauf sind, daß sie völlig unpolitisch sind. Es wird dadurch eine Haltung suggeriert, als könne man überhaupt denken und handeln, ohne Werte zu setzen.
— Wie, darin stimmen Sie mit mir überein? Das ist ja prima!
Dadurch wird das alte Vorurteil, mit Moral garniert, aufgewertet, das vorgibt, der wahrhaft gebildete Mensch brauche sich nicht in die Niederungen der Politik zu begeben.
— Oh, das sagen sehr viele, die leider, so muß ich sagen, mit der Schule und mit dem Gymnasium zu tun haben, ohne daß ich allen, die mit dem Gymnasium zu tun haben, damit zu nahe treten will.
— Das ist eine Lehre, die leider viele Schüler diesesLandes aus ihrer Schulzeit mit nach Hause nehmen.
Ich muß sagen: Dann wären wir alle, die wir hier sitzen, nicht gebildet. Das aber möchte ich nicht voraussetzen. Aber ich weiß nicht, ob wir auf diese Art mündige Bürger erziehen können. Diese Enthaltsamkeit der Schule, die bei den Schülern Resignation und Langeweile hervorruft, diese Enthaltsamkeit auf jedem Gebiet, das in die Öffentlichkeit ausstrahlt, also mit der Politik zu tun hat, nenne ich Bildungsnotstand, und der ist nicht erst von heute! Er hat mit dem Schulnotstand — Raummangel, Unterrichtsausfall und Lehrermangel — nicht ursächlich zu tun.Ich will mir des Zeitmangels wegen jetzt nicht erlauben, die Ausführungen des Herrn Stoltenberg zu verlesen, der hier in der Debatte im Februar etwas über den Bildungsnotstand gesagt hat.
Dem Sinn nach drückte er seine ernste Sorge aus — was Sie ja alle gern tun —, daß sich die Schule von der Arbeitswirklichkeit, von der Welt der Arbeit, und der Wirklichkeit entferne.
Ich wundere mich, daß es Herrn Stoltenberg erst jetzt einfällt, diese Sorge auszudrücken.
— „Er hatte damals keine Kompetenz" — dahinter versteckt man sich gerne. Ich bin sicher, daß es auch ohne Art. 91 b schon möglich gewesen wäre, hier über diese Dinge nachzudenken.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Gnädige Frau, darf ich Sie fragen: Warum haben denn die Kultusminister, die der SPD angehören, das, was Sie hier verlangen, nicht gemacht?
Sie haben es gemacht!
Ich weiß nicht, ob Sie jetzt auf die CDU-Kultusminister schauen. Herr Hahn war heute ein ganz vortreffliches Beispiel dafür.
Man kann sich doch darüber wundern, warum z. B. Herr Mikat heute hier nicht spricht. Statt dessen spricht Herr Hahn. So müssen wir annehmen, daß er I h r Bildungspolitiker ist.
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4070 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
— Nun, Herr Holthoff gehört gar nicht zu diesem Parlament, wohl aber Herr Mikat. Das wäre nicht so schwierig gewesen.Es soll Länder geben, in denen das Zur-SchuleGehen noch Spaß macht. Wir allerdings tun so, wenn unsere ABC-Schützen zur Schule gehen, als sei das, was ihnen bevorsteht, eine ganz große Freude. An diesem Tag sparen wir nicht mit Zuckertüten und ähnlichen Dingen.
— Sehr schädlich, aber es wird gemacht. Wir wolihnen damit an diesem Zur-Schule-Gehen Freude machen. Es dauert meistens nicht sehr lange, bis diese Freude vollkommen erloschen ist. Daran kann auch das fleißige und leidenschaftliche Bemühen vieler einzelner Lehrer nichts ändern; denn Spaß kann das Zur-Schule-Gehen bei uns erst dann wieder machen, wenn der Bruch zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Schulstruktur durch Bildungsreform überwunden sein wird.
— Sie wissen, was ich meine. Wir brauchen uns darüber nicht zu unterhalten.
Diese Bildungsdebatte macht uns doch einigen Spaß. So könnte ja auch die Schule Spaß machen.Nun will ich darauf zu sprechen kommen, daß eine reine Wissensanhäufung in der Schule natürlich nicht das ist, was wir wollen. Ich will mir diese Ausführungen verkneifen. Ich muß mir dabei verkneifen, ein Zitat Ihres Vorsitzenden zu verlesen, was ich gern getan hätte. Er warnt dort so ernsthaft vor der Wissensschule und spricht von den produktiven Kräften der Einbildung, durch die allein große Gedanken und große schöpferische Leistungen möglich seien. Er sagt 'das im Hinblick auf die Schule. Ich kann das hier aber nicht weiter ausführen.
Ich glaube auch, daß wir die großen Gedanken als allgemeines Ziel dahingestellt sein lassen können. Es ist richtig, daß junge Menschen, die kritiklos Wissen schlucken, nicht gerade geeignet sind, nachher alle Funktionen dieses Staates zu übernehmen, und das erwarten wir ja von ihnen.
— Herr Martin, wir haben vorhin mit Ihrer langen Rede auch viel Geduld gehabt.
Herr Abgeordneter Martin, über das Licht befindet der Präsident, nicht Sie.
Wie man's nimmt.
Ich will noch darauf zu sprechen kommen, daß die Gesamtschule natürlich nicht mehr ausliest, sondern fördert. Infolgedessen muß auch der Absolutheitsanspruch der Zensuren, die sich in Zahlen ausdrükken, in Frage gestellt werden. Eine moderne Schule wird differenziertere Bewertungskriterien finden. Es ist auch nicht zu verantworten, daß viele Schüler jetzt trotz so entsetzlich vieler Nachhilfestunden ein imaginäres Klassenziel nicht erreichen. Ja, ich möchte dabei sogar an den volkswirtschaftlich unverantwortlich ausgegebenen Wert für diese Nachhilfestunden erinnern.
Zuletzt möchte ich noch ein Problem aufzeigen. Eine wirkliche Erneuerung der Schule ist schwer vorstellbar, meine ich, wenn die Schulaufsicht, so wie sie bisher im allgemeinen praktiziert wird, nicht ebenfalls auf ihre negativen Auswirkungen hin untersucht wird.
Wir müssen verhindern, daß dringend notwendige pädagogische Initiative an Verwaltungsvorschriften scheitert.
Wir hier und die Öffentlichkeit werden mit Interesse verfolgen, wie die einzelnen Länder zusammen mit dem Bund auf dieses Angebot und diese Konzeption der Bundesregierung eingehen werden.
Wir von der SPD-Fraktion jedenfalls gratulieren der Bundesregierung zu diesem entscheidenden Schritt auch für den Bereich der Schule. Wir werden seiner Verwirklichung alle Hilfe gewähren.
Meine Damen und Herren, so erstaunlich es ist, aber sieben Redner haben ihre Wortmeldung zurückgezogen.Ich habe bekanntzugeben, daß interfraktionell die Absetzung der Punkte 28 b und c für heute vereinbart worden ist.Wir haben nun den Bericht zur Bildungspolitik unter Punkt 28 a zu überweisen. Ich schlage vor, an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als federführenden Ausschuß sowie an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, an den Haushaltsausschuß und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zur Mitberatung. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich komme zu den Zusatzpunkten. Für den Punkt 1 ist die Überweisung des Antrags an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als federführenden Ausschuß und an 'den Haushaltsausschuß zur Mitberatung vorgesehen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4071
Vizepräsident Dr. JaegerZu Zusatzpunkt 2 wird vorgeschlagen, den Antrag an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als federführenden Ausschuß sowie an den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Der Antrag unter Zusatzpunkt 3 soll dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als federführendem Ausschuß und dem Haushaltsausschuß als mitberatendem Ausschuß überwiesen werden. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Ich komme zu Zusatzpunkt 4. Es wird empfohlen, den Antrag an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als federführenden Ausschuß sowie an den Haushaltsausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit als mitberatende Ausschüsse zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 15. Oktober 1970, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.