Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren! Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die in der Ihnen vorliegenden Liste aufgeführten Vorlagen ergänzt werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Die Erweiterung der Tagesordnung ist damit beschlossen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sollen diese Vorlagen mit den Tagesordnungspunkten V bis XIII am Donnerstag um 18 Uhr, also morgen nachmittag, aufgerufen werden.
Die folgende amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Präsident des Bundesversicherungsamts hat am 27. Mai 1970 die Abrechnung über die Rentenzahlung und Beitragserstattungen in der Rentenversicherung der Angestellten für das Kalenderjahr 1969 zur Kenntnisnahme vorgelegt. Sie liegt im Archiv zur Einsichtnahme aus.
Wir treten in Punkt 1 der Tagesordnung ein: Fragestunde
— Drucksachen VI/869, VI/881 —
Es liegt Ihnen zunächst die Drucksache VI/881 mit zwei Dringlichkeitsfragen des Abgeordneten Dr. Marx aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen vor. Ich rufe die Zusatzfrage 1 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Trifft die Mitteilung in QUICK vom 3. Juni 1970 unter der Überschrift „Vor Kassel kassierte die DDR Milliarden" zu, wonach gemäß dem Beschluß des Politbüros der SED ,,das gesamte Eigentum sämtlicher DDR-Flüchtlinge" bis zum 30. Juni 1969 von staatswegen eingezogen worden ist?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Herold.
Herr Präsident! Da die Fragen 82 und 85 inhaltlich etwa das gleiche wollen, darf ich bitten, sie im Zusammenhang beantworten zu dürfen.
Sie, Herr Kollege Marx, würden die gleiche Zahl von Zusatzfragen haben, ebenfalls der Herr Kollege Reddemann. Ich habe keine Bedenken, so zu verfahren.
Ich rufe auf die Fragen 82 des Kollegen Reddemann und 85 des Kollegen Breidbach:
Sind Mitteilungen in der Illustrierten Quick zutreffend, wonach das SED-Politbüro unter dem Vorwand, Vermögen von Zonenflüchtlingen verwalten zu wollen, diese Vermögen mit so hohen Verwaltungsgebühren belastet, daß dadurch die Vermögenswerte dem SED-Staat anheimfallen?
Was hat die Bundesregierung unternommen, um im Rahmen ihrer Entspannungs- und Verständigungspolitik auf die Ostberliner Behörden einzuwirken, damit zumindest in diesem Falle Erleichterungen für die Menschen erreicht werden können?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Präsident! Auf die in der Illustrierten „Quick" dargestellten Maßnahmen der DDR, die einer strengen Geheimhaltung unterliegen, hatte es Ende 1969 einen ersten Hinweis gegeben. Die der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Informationen waren — anders als behauptet — weder detailliert, noch stammten sie aus dem engsten Kreis der SED-Führung. Auf Grund des ersten Hinweises ist versucht worden, nähere Angaben über die Maßnahmen der DDR-Behörden zu erhalten. Das vorliegende Material ist noch nicht vollständig, und seine Auswertung ist noch nicht abgeschlossen. Sobald ausreichende Informationen vorliegen, wird zu prüfen sein, ob gegenüber der DDR-Regierung Schritte zugunsten der Betroffenen unternommen werden können. Die Behauptung, daß in dieser Angelegenheit bereits Kontakte zwischen Regierungsvertretern beider Seiten stattgefunden haben, ist nicht zutreffend.Ich komme jetzt zu der Frage 1 des Kollegen Dr. Marx und zur Frage des Kollegen Reddemann. Wie ich soeben ausgeführt habe, verfügt die Bundesregierung bisher nicht über ausreichendes, gesichertes Informationsmaterial. Die Richtigkeit der in der Veröffentlichung gemachten Angaben kann daher noch nicht abschließend beurteilt werden. Es scheint jedoch sicher zu sein, daß in der DDR seit Anfang 1969 Verwaltungsmaßnahmen zur genaueren Erfassung des sogenannten Flüchtlingsvermögens getroffen worden sind. Das zurückgelassene Vermögen ist dabei neu bewertet worden. Auf der anderen Seite wurden Steuerschulden und Verwaltungsgebühren neu berechnet. Wie groß die dadurch mögliche Dezimierung dieses Vermögens ist, läßt sich noch nicht übersehen. Die genannte Größenordnung von etwa 100 Milliarden dürfte überhöht sein. Bei den Maß-
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2820 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Heroldnahmen der DDR handelt es sich nicht um Enteignungsgesetze, sondern um geheime Verordnungen und Anordnungen, die sich der Form nach auf die Verwaltung des Flüchtlingsvermögens beziehen, aber in der Praxis enteignungsähnliche Wirkungen haben können.
Zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Marx.
Herr Staatssekretär, können Sie uns sagen — ich berücksichtige natürlich, daß manches nicht vor aller Offentlichkeit ausgebreitet werden kann —, in welcher Weise die Kontakte bisher geführt worden sind und wie die Behörden der DDR auf die Versuche der Bundesregierung, nähere Aufschlüsse zu erhalten, reagiert haben?
Ich möchte Sie bitten — Sie sind Fachmann auf diesem Gebiet —, nach dem Informanten nicht zu fragen. Die Kontakte lagen auf einer Ebene, die nichts mit Regierungen zu tun hat.
Eine zweite Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, würden Sie dann den Eindruck bestätigen, den wir bei vielen Aktionen von Regierungen haben, daß es offenbar den Journalisten rascher gelingt, klare Aufschlüsse über verwickelte Tatbestände zu erlangen, als etablierten Regierungen?
Diesen Eindruck möchte ich nicht bestätigen; aber ein Journalist ist viel freier als eine Regierung.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Breidbach.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, nachdem Sie sehr vorsichtig formuliert haben, daß es sich um geheime Verordnungen handelt, die Enteignungswirkungen haben können, möchte ich Sie fragen, ob dies nicht nach unserer Rechtsauffassung tatsächlich Enteignungen sind.
Ich habe das ja mit „enteignungsähnlichen Maßnahmen" bezeichnet. Da noch keine Gesetze in der Sache vorliegen, kann ich es nicht so bezeichnen.
Eine zweite Zusatzfrage der Abgeordnete Breidbach.
Wäre es dann nicht vielleicht erwägenswert gewesen, im Zusammenhang mit den Gesprächen mit Herrn Stoph und den Aufrechnungen, die seitens der DDR-Regierung wegen angeblicher Schuldenlasten der Bundesrepublik gegenüber der DDR erfolgen, auch diese Frage mit ins Gespräch zu bringen?
Der Herr Bundeskanzler hat sich in Erfurt und Kassel auf diese Summe in keiner Weise festlegen lassen und hat eine Anerkennung dieser Summe zurückgewiesen. Ich würde es deshalb als unklug betrachten, wenn man über diesen Betrag diskutieren würde.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Steiner.
Herr Staatssekretär, warum hat dann die Regierung nicht sofort nach der „Quick"-Veröffentlichung ein energisches Dementi über diese Angelegenheiten abgegeben?
Ich glaube, es war nicht notwendig, über dieses Thema ein Dementi herauszugeben, wenn man den Vorgang noch nicht übersehen kann, wie er in der „Quick" dargestellt wurde.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Klepsch.
Herr Staatssekretär, Sie sagten vorhin, daß die ganze Aktion im Jahre 1969 ihren Anfang genommen habe. Darf ich Sie deshalb fragen, ob in den Vorgesprächen oder in den eigentlichen Gesprächen zu Erfurt oder zu Kassel die Frage irgendeine Rolle gespielt hat.
Herr Kollege Dr. Klepsch, Sie wissen genau, daß es dort noch nicht um Detailfragen ging. Selbstverständlich wird, wenn die Gespräche in die Details gehen, auch diese Frage eine Rolle spielen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Reddemann.
Herr Staatssekretär, halten Sie es nicht für notwendig, daß die Bundesregierung den betroffenen Personenkreis informiert, damit dieser Kreis weiß, was eventuell an Forderungen der anderen Seite auf ihn zukommt?
Wir wissen nur von den Vorbereitungen, Herr Kollege Reddemann, und es wäre doch verfrüht, in diesen Personenkreis Unruhe zu bringen, wenn man noch nicht weiß, in welcher Form diese Maßnahmen nun Gesetzeskraft erlangen. Aus diesem Grunde haben wir uns zurückgehalten.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2821
Herr Kollege Breidbach, wir haben drei Fragen aufgerufen, von denen eine der Kollege Marx gestellt hat. Er hatte zwei Zusatzfragen. Sie haben Ihre zwei Zusatzfragen konsumiert. Der Kollege Reddemann hat eine Frage gestellt. Wir können jetzt keine weiteren Fragen zulassen.
Ich rufe die Dringlichkeitsfrage 2 des Abgeordneten Dr. Marx auf:
Besitzt die Bundesregierung genaue Unterlagen oder ist sie auf Schätzungen angewiesen, um den Wert des eingezogenen Vermögens beziffern zu können?
Zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Präsident, ich bin der Meinung, daß ich diese Frage bereits mitbeantwortet habe.
Dann hat der Kollege Dr. Marx noch zwei Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, ich will nicht insistieren, was die Summe anlangt, sondern nur zunächst fragen, ob Sie, wenn Ihre Untersuchungen abgeschlossen sind — von denen ich wünsche, daß sie mit Energie vorangetrieben werden —, dann bereit sind, dieses wichtige und viele in unserem Lande bedrückende Thema auf Grund Ihrer recherchierten Unterlagen in der Öffentlichkeit vorzutragen.
Das kann wohl als selbstverständlich unterstellt werden.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, es ist uns aus früheren Zeiten bekannt, .daß viele Vermögen versteigert wurden. Ist Ihnen etwas darüber bekannt, was mit dem Erlös dieser Versteigerungen — etwa von Wohnungen, Hausrat, Maschinen, landwirtschaftlichen Erzeugnissen usw. — geschehen ist?
Das geht natürlich weit über die gestellte Frage hinaus. Aber es ist aus der Praxis bekannt, daß einiges Vermögen dem Staate verfallen ist.
Also auch die Erlöse der Versteigerungen?
Ja.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Giulini.
Herr Staatssekretär, ist zu vermuten, daß diese Enteignungen mehr aus einer finanziellen Drucksituation heraus vorgenommen worden sind, oder sind sie eine Art Rache an den Flüchtlingen?
Das kann ich im Augenblick nicht beurteilen.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Klepsch.
Herr Staatssekretär, was ist mit dem landwirtschaftlichen Besitz der Geflüchteten geworden?
Ich darf Ihnen nur sagen: Ich habe diese Frage durch die Antwort auf die Frage von Herrn Marx bereits beantwortet.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Breidbach.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, haben in der Regel, soweit sie im arbeitsfähigen Alter standen, drüben Rentenversicherungsbeträge entrichtet. Könnten Sie darüber Auskunft geben, — —
Einen Moment! Ich lasse diese Zusatzfrage nicht zu, denn ihr Thema ist in keiner der Hauptfragen irgendwie angesprochen. Sie müßten diese Frage dann bitte gesondert einreichen; als Zusatzfrage kann ich sie hier nicht zulassen, denn sie paßt nicht in die Hauptfragen hinein.
Keine weiteren Zusatzfragen? — Ich rufe dann Frage 83 des Abgeordneten Reddemann auf:
Ist der Bundesregierung ein Gesetz der „DDR" bekannt, aus dem die SED-Behörden Rechtstitel herleiten, um zurückgebliebenes Vermögen von Zonenflüchtlingen einzuziehen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Die ist auch schon erledigt, Herr Präsident.
Herr Kollege Reddemann, sind Sie auch der Meinung, daß diese Frage schon beantwortet ist?
Ja, ich verzichte auf weitere Fragen.
Gut. — Dann rufe ich 'Frage 84 des Abgeordneten Breidbach auf:Trifft es zu, daß die in der Illustrierten Quick veröffentlichten Vermögenskonfiskationen, die durch „DDR"-Behörden gegenüber Vermögenswerten von „DDR"-Flüchtenden vorgenommen worden sind, der Bundesregierung „seit Spätherbst letzten Jahres .. . durch detaillierte Informationen aus dem engsten Kreis der SED-Führung" bekanntgeworden sind?
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2822 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Präsident von HasselZur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte!
All diese Fragen sind gemeinsam erledigt, Herr Präsident.
Wenn der Abgeordnete Breidbach damit einverstanden ist, kann man die Frage zwar als erledigt betrachten, aber er hätte dann noch zwei Zusatzfragen. Wollen Sie noch Zusatzfragen stellen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, der Wert des eingezogenen Vermögens konnte von Ihnen nicht genau beziffert werden. Würden Sie mir aber darüber Auskunft geben, ob die Summe, die von Experten festgestellt und in der Illustrierten „Quick" zitiert worden ist, in etwa auch Ihren bisher vorhandenen Erfahrungswerten entspricht?
Ich darf Ihnen hierzu folgendes sagen. Sie könnten eine Milchmädchenrechnung aufstellen. Sie kennen die Zahl der Flüchtlinge; legen Sie für jeden eine bestimmte Vermögenssumme zugrunde und multiplizieren Sie sie mit 3 Millionen, denn so viele Flüchtlinge sind es. Vielleicht können Sie dann eine annähernde Zahl bekommen. Wir sind der Meinung, daß die genannte Zahl — 100 Milliarden — nicht zutreffend ist.
Die letzte Zusatzfrage.
Darf ich Ihre Antwort also so verstehen, daß das, was in der Illustrierten „Quick" über die Expertenaussage von 100 Milliarden steht, eine Milchmädchenrechnung ist?
Ja, sofern es die Summe betrifft, die auf der Grundlage Flüchtlingszahl multipliziert mit Vermögensbetrag errechnet wird. So möchte ich das verstanden wissen.
Ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Vogel auf:
Teilt die Bundesregierung die vom Bundesfinanzminister auf dem SPD-Parteitag in Saarbrücken bezüglich der Erhöhung der Erbschaft- und Vermögensteuer laut „Die Welt" vom 16. Mai 1970 vertretene Meinung, daß die Frage, wo die Grenze zur Enteignung liege, unter anderem von „dem politischen Gestaltungswillen des Gesetzgebers und damit von den politischen Mehrheitsverhältnissen" abhänge?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl.
Ich bitte, Herr Präsident, beide Fragen im Zusammenhang beantworten zu können, wenn der Kollege Vogel einverstanden ist.
Keine Bedenken. — Dann rufe ich Frage 2 des Abgeordneten Vogel mit auf:
Hält die Bundesregierung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die in der genannten Rede ihres Finanzministers zum Ausdruck gebrachte Auffassung für richtig, daß der Umfang eines der Fundamentalgrundrechte — des Rechtes auf Eigentum — von den politischen Mehrheitsverhältnissen abhängt?
Art: 14 Abs. 1 des Grundgesetzes stellt zunächst in seinem Satz 1 Eigentum und Erbrecht unter den besonderen Schutz der Verfassung. Wie sich aus den Ausführungen des Bundesministers der Finanzen auf dem Parteitag der SPD am 12. Mai 1970 eindeutig ergibt, will er nur Steuergesetze vorschlagen, die diese Grundrechte nicht verletzen. Der Bundesminister der Finanzen stimmt darin mit der von der Bundesregierung stets vertretenen Auffassung überein.
Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes legt in seinem Satz 2 weiterhin fest, daß Inhalt und Schranken der Grundrechte des Eigentums und des Erbrechts durch die Gesetze bestimmt werden. Es dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, daß diese Gesetze und damit Inhalt und Schranken der Grundrechte des Art. 14 des Grundgesetzes vom politischen Gestaltungswillen des Gesetzgebers und damit von den politischen Mehrheitsverhältnissen beeinflußt werden. Der Gesetzgeber hat dabei zu beachten, daß er den Kernbereich der Grundrechte nicht antastet. Von diesen Erwägungen hat sich auch der Bundesminister der Finanzen bei seinen Äußerungen leiten lassen; daher sein ausdrücklicher Hinweis darauf, daß die Grenze, die zur Enteignung führt, nicht überschritten werden darf.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vogel.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, stimmen Sie dann der Auffassung zu, daß auf jeden Fall der Möglichkeit, durch die Steuergesetzgebung den öffentlichen Finanzbedarf zu dekken, durch die Eigentums- und Erbrechtsgarantie Grenzen gesetzt sind und daß die Bestimmung dieser Grenzen eine Rechtsfrage ist und daß sie nicht abhängig ist von den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen und vom politischen Gestaltungswillen?
Herr Kollege, es ist richtig, daß die Grenzen durch die Gesetzgebung nach Art. 14 bestimmt werden. Es ist richtig, daß die Schranken — da stimme ich Ihnen völlig zu — des Eigentums und des Erbrechts auch die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2823
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. ReischlSchranken des Steuerrechts sind. Darüber kann es gar keinen Zweifel geben. Es ist auch richtig, daß das eine Rechtsfrage ist. Nur, das Grundgesetz hat einen Vorbehalt, daß der einfache Gesetzgeber diese Schranken bestimmt, und insoweit, aber nur in dieser engen Grenze, hängt die Bestimmung der Grenzen doch logischerweise von den Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause ab. Aber, wohlgemerkt, der Wesenskern beider Grundrechte darf nicht angetastet werden; denn sonst wäre das Gesetz als solches verfassungswidrig.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Vogel.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, stimmen Sie mir dann in der Auffassung zu, daß ein Unterschied besteht zwischen den Steuergesetzen, die die Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs aus der Quote des einzelnen am Volksvermögen betreffen, und den Steuergesetzen, die seinen Anteil am Sozialprodukt betreffen, und daß, soweit es um die Besteuerung des Anteils des einzelnen am Volksvermögen geht, engere Grenzen gesetzt sind als in bezug auf die Besteuerung seines Anteils am Sozialprodukt?
Ob diese Grenzen unbedingt enger sind, Herr Kollege, das hängt doch davon ab, wie hoch die Steuern im allgemeinen I) sind. Aber ich kann nur noch einmal sagen: selbstverständlich gelten die Grenzen des Eigentums auch für die Steuergesetzgebung, und zwar für die gesamte, um das einmal ganz klipp und klar zu sagen.
Noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Vogel.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, trifft es nach der Auffassung der Bundesregierung zu, daß im Hinblick auf Art. 15 des Grundgesetzes die Bemessung von Steuersätzen bei der Vermögen- und Erbschaftsteuer nicht den Zweck einer sozialen Umschichtung haben darf?
Der Art. 15 ist in diesem Zusammenhang überhaupt noch nie herangezogen worden, Herr Kollege, und ich würde es auch ablehnen, mit Hilfe der Steuergesetzgebung etwa Enteignungen vorzunehmen. Ich sage noch einmal, wie ich es vorhin in der Beantwortung ,der Frage gesagt habe: Grenze aller Steuergesetzgebung ist die Eigentumsgarantie, und diese muß eingehalten werden; darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Vogel.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wenn ich davon ausgehe, daß ich mit der Beantwortung der Fragen sehr unzufrieden bin, soweit es sich hier um Rechtsfragen handelt, sind Sie nicht der Auffassung, daß von daher gesehen z. B. eine Gestaltung des Erbschaftsteuerrechts nach den Vorstellungen ides hessischen Ministers der Finanzen durchaus die Frage aufwerfen könnte, wie weit hier die Möglichkeiten der Steuergesetzgebung ausgenutzt werden, um ein gesellschaftspolitisches Ziel zu erreichen, wie es nach unserer Verfassung nur über den Art. 15 möglich ist, und daß von daher durchaus die Berechtigung dieser Fragen in diesem Zusammenhang gegeben ist?
Herr Kollege, ich kann nur bei dem bleiben, was der Bundesminister der Finanzen geäußert hat. Denn schließlich und letzten Endes bestimmen über die Gestaltung der Entwürfe der Steuergesetzgebung zunächst einmal der Bundesminister der Finanzen und die Bundesregierung, und dann werden sie dem Parlament zugeleitet. Infolgedessen kann ich wiederum nur sagen, wir sind der Auffassung, daß die Eigentumsgarantie die Grenze ist, die nicht verletzt werden darf, und daß die Steuergesetzgebung eben nicht dazu benutzt werden kann, diese auf irgendwelchen Wegen zu umgehen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Glauben Sie es doch, wir wollen keine konfiskatorischen Steuern.
Ich rufe auf die Frage 3 des Abgeordneten Krammig:
Wann wird die Bundesregierung von der durch die Finanzverfassungsreform erweiterten Gesetzgebungskompetenz in Artikel 105 des Grundgesetzes Gebrauch machen, um die Vereinheitlichung des Grunderwerb- und Feuerschutzsteuerrechts, das in den Bundesländern unterschiedlich geregelt ist, insbesondere im Hinblick auf Artikel 3 des Grundgesetzes herbeizuführen?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Der Bundesregierung ist bekannt, daß in den Ländern unterschiedliche Regelungen zur Grunderwerbsteuer bestehen. Sie sieht darin zwar keinen Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes, sie hält es jedoch zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit, insbesondere zur Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet für erforderlich, daß der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nach Art. 105 Abs. 2 des Grundgesetzes auf diesem Gebiet Gebrauch macht. Das soll im Rahmen ,der Steuerreform geschehen. Im Rahmen der Steuerreform wird auch die Feuerschutzsteuer überprüft werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Krammig.
Wie kommt es, Herr Staatssekretär, daß ich gestern bereits in den Nachrichten des Bundesfinanzministeriums die Antwort auf meine Fragen lesen durfte?
Herr Kollege,
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2824 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischldas ist eine ganz bedauerliche Panne, die im Hause passiert ist, und zwar dadurch, daß ich die Akten in das Büro zurückgegeben habe mit dem ausdrücklichen Vermerk, daß die Fragen noch nicht beantwortet sind. Ich mußte sie aber ins Büro zurückgeben, weil Anträge auf schriftliche Beantwortung kommen konnten. Da sind sie aus Versehen weitergegeben worden. Da ich aber — das gebe ich zu — die Verantwortung für dieses Haus mit trage, möchte ich ausdrücklich erklären, daß ich das bedauere, und ich entschuldige mich bei den Kollegen, die davon betroffen sind.
Keine weiteren Zusatzfragen. — Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Krammig auf:
Hält die Bundesregierung es mit dem Grundgesetz für vereinbar, daß über 80 v. H. der Erwerbsvorgänge von der Grunderwerbsteuer befreit sind?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Die Bundesregierung sieht in der Tatsache, daß ein sehr hoher Anteil der Grunderwerbsvorgänge von der Grunderwerbsteuer befreit ist, keinen Verstoß gegen das Grundgesetz. Es kommt allein darauf an, ob bei den einzelnen Sachbereichen die Freistellung von der Steuer durch sachgerechte Gründe getragen wird. Das war nach Ansicht der Bundesregierung bisher der Fall. Die Steuerbefreiungen werden jedoch im Rahmen der Reform überprüft werden müssen.
Keine Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Dr. Pohle auf:
Hält die Bundesregierung den Erlaß des Bundesministeriums der Finanzen vom 19. Dezember 1969 mit dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und in diesem Zusammenhang mit den Grenzen der Typisierung im Steuerrecht für vereinbar, obgleich in diesem Erlaß die sog. Verbringensfälle nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 des Absicherungsgesetzes nicht berücksichtigt sind?
Es trifft nicht zu, daß das Bundesfinanzministerium in dem Erlaß vom 19. 12. 1969 die sogenannten Verbringensfälle überhaupt nicht berücksichtigt hat. Der Erlaß enthält eine Billigkeitsregelung für die Fälle des Verbringens von Gegenständen in das Ausland zur Veredelung in einem eigenen oder in einem fremden Betrieb.
Das Bundesministerium der Finanzen hat im Benehmen mit den interessierten Spitzenverbänden der Wirtschafts geprüft, ob noch für weitere Verbringensfälle eine Billigkeitsmaßnahme erforderlich sein könnte. Die Spitzenverbände haben dieses ausdrücklich nur für die Verbringungen auf Verkaufsläger im Ausland beantragt. Diese Fälle konnten jedoch, wie auch andere Arten von Verbringungen, nicht berücksichtigt werden, weil hier eine mit den echten Ausfuhrlieferungen vergleichbare Doppelbelastung nicht festgestellt wurde:
Die Bundesregierung ist hiernach der Auffassung, daß die im Wirtschaftsleben typischen Verbringensfälle nach billigem Ermessen zutreffend behandelt worden sind.
Zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Pohle.
Wenn ich nach dieser Antwort, Herr Staatssekretär, davon ausgehen kann, ,daß das Bundesfinanzministerium die Verbringensfälle nur generell regeln kann, sind Sie dann mit mir der Auffassung, daß nicht jeder der in Betracht kommenden Exporteure die günstige Regelung über ,den Ausfuhrzeitpunkt bei Beginn des Absicherungsgesetzes voll hat ausnutzen können?
Das halte ich für möglich. Das müßte man im Einzelfall nachprüfen.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Dr. Pohle auf:
Hält die Bundesregierung, falls sie die vorstehende Frage bejaht, an ihrer Auffassung auch dann noch fest, wenn nachgewiesen wird, daß in Verbringensfällen Währungsverluste eingetreten sind und die Sonderumsatzsteuer zu einer Doppelbelastung geführt hat, oder ist die Bundesregierung dann bereit, auch für diese Fälle die Möglichkeit eines Erlasses der Sonderumsatzsteuer in dem für Ausfuhrlieferungen geltenden Rahmen zu eröffnen?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Unter den Tatbestand des Verbringens fiel außer den bereits genannten Fällen eine große Anzahl von verschiedenartigen Wirtschaftsvorgängen, wie zum Beispiel das Verbringen von Gegenständen zur Errichtung von Anlagen im Ausland und das Verbringen von Maschinen zur Verwendung in einer eigenen Betriebsstätte im Ausland. Diesen Fällen ist gemeinsam, daß die Ausfuhr nicht oder nur entfernt im Zusammenhang mit einem Umsatzgeschäft steht und daß sich die Bemessungsgrundlage der Sonderumsatzsteuer anders als bei den Ausfuhrlieferungen nicht nach dem vereinbarten Entgelt, sondern nach dem regelmäßig geringeren gemeinen Wert bestimmt. Auch bei den echten Ausfuhrlieferungen ist höchstens die Hälfte der Sonderumsatzsteuer erlassen worden. Wegen der anderen Bemessungsgrundlage für die sogenannten Verbringungsfälle und wegen des fehlenden oder nur entfernten Zusammenhangs der sonderumsatzsteuerpflichtigen Ausfuhr mit einem Umsatzgeschäft ist deshalb nach Erörterung mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft davon ausgegangen worden, ,daß eine mit den Ausfuhrlieferungen vergleichbare unzumutbare Belastung nicht eingetreten ist.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Pohle.
Herr Staatssekretär, kann ich dann davon ausgehen, daß auch nach Ansicht des Bundesfinanzministeriums sich nicht bei jedem Unternehmen die Bestimmung über die Nichtzurechnung der im Ausland entstandenen Kosten vorteilhaft auswirkt, weil eben nach der Ausfuhr kaum
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2825
Dr. Pohleoder nur noch in geringem Umfang Aufwendungen getätigt werden?
Das halte ich ebenfalls für möglich. Auch das hängt eben völlig von den Umständen des Einzelfalls ab.
Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Pohle.
Darf ich das dahin verstehen, daß nach der Ansicht des Bundesfinanzministeriums die individuellen Verhältnisse durch den generellen Erlaß nicht berücksichtigt werden können?
Durch den generellen Erlaß sind sie nicht berücksichtigt worden. Die entscheidenden Behörden müssen es wohl im Einzelfall immer sehr gründlich prüfen.
Die Frage ist beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Meister auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß das Finanzministerium der DDR eine Erhöhung der Steuerausgleichsabgabesätze für westdeutsche und Westberliner Unternehmen angekündigt hat, und wie gedenkt die Bundesregierung dem zu begegnen?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Die Steuerausgleichsabgabe ist inzwischen von der DDR mit Wirkung vom 1. Mai 1970 im Straßengüterverkehr um 25 v. H. und im Binnenschiffsverkehr um 28 v. H. erhöht worden. Es handelt sich um die Anordnung Nr. 2 über die Erhebung einer Steuerausgleichsabgabe für Beförderungsleistungen, Gesetzblatt Teil II Nr. 35 der DDR vom 28. April 1970. Die erhöhten Abgabesätze werden der Erstattung der Steuerausgleichsabgabe durch den Bund an die betroffenen Gewerbezweige zugrunde gelegt. Der Mehraufwand beträgt für den Bund 12 Millionen DM pro Jahr. Für den Rest des Rechnungsjahres 1930 beträgt der Mehraufwand 8 bis 10 Millionen DM.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Meister.
Herr Staatssekretär, Sie bahen mir wohl die Antwort gegeben, daß der Bund einen Ausgleich für diese Belastungen gibt. Aber ich habe ja gefragt: Ist die Bundesregierung bereit, gegebenenfalls Gegenmaßnahmen zu treffen? Denn die Lastzüge der DDR verkehren auf unseren Straßen kostenfrei.
Das ist doch Ihre zweite Frage, Herr Kollege. Ich habe nicht die beiden Fragen zusammen beantwortet, sondern jetzt nur die erste.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, ich möchte nur wissen: Wie beurteilen Sie die im Deutschen Fernsehen ausgestrahlte, ungemein zynische Interpretation des Politbüromitglieds Verner zu diesem Vorgang, begleitet etwa von der Bemerkung, dies sei ein Beispiel dafür, wie man die Verhältnisse untereinander ordnen könne?
Ich habe diese Äußerung nicht gehört. Es ist etwas schwierig, hier dazu Stellung zu nehmen. Man müßte die Äußerung ganz kennen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, würden Sie bitte mitteilen, welche Auffassung die Bundesregierung zu diesen sogenannten Steuerausgleichsabgabesätzen vertritt, ob sie sie als rechtmäßig ansieht und ob sie gegebenenfalls, wenn sie sie nicht als rechtmäßig ansieht, bei der DDR-Regierung dagegen protestiert hat oder irgendwelche andere Maßnahmen gegen diese, wie ich meine, unrechtmäßige Handlungsweise eingeleitet hat.
Ich halte die Abgabe nach den geltenden Steuergesetzen natürlich nicht für rechtmäßig; denn das Beförderungsteuergesetz in seiner alten Fassung von 1917 galt im gesamten ehemaligen Reichsgebiet, damit also auch im Gebiet der DDR. Danach wurde immer nur von dem Finanzamt besteuert — und zwar ohne Rücksicht darauf, wohin die Fahrten gingen —, in dessen Bereich der betreffende Verkehrsunternehmer seinen Sitz hat. Das hat es noch nie gegeben, daß bestimmte Strecken einer Beförderungsteuer besonders unterlagen.
Im übrigen darf ich aber darauf hinweisen, daß ich darüber jetzt in der Antwort auf die nächste Frage spreche. Es wäre wirklich besser gewesen, ich hätte beide Fragen zusammen beantwortet. Ich wollte es aber nicht tun, weil man sie getrennt beantworten kann.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Meister auf:
Wird die Bundesregierung gegebenenfalls ähnliche Maßnahmen für gewerbliche Fahrzeuge aus der DDR in Erwägung ziehen?
Der Bundesfinanzminister hat dem DDR-Finanzminister mit Schreiben vom 11. Mai 1970 vorgeschlagen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die fiskalische Maß-
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2826 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischlnahmen aller Art im Interesse der Verkehrsteilnehmer beider Teile Deutschlands entbehrlich machen, und darüber in Verhandlungen einzutreten. Eine Antwort auf das Schreiben des Bundesministers ist noch nicht erfolgt.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Meister.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, nach Eingang der Antwort das Haus zu verständigen?
Selbstverständlich!
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Staatssekretär, dürfte ich im Anschluß an meine vorhergehende Zusatzfrage bitten, das durch die Pressestelle Ihres Hauses feststellen zu lassen, und fragen, ob sie dann bereit wären, uns eine Bewertung dessen, was ich vorhin andeutete, zu geben.
Ich bin gern bereit, Ihnen gegenüber schriftlich dazu Stellung zu nehmen. Nur weil ich es nicht kenne, ist es etwas schwierig, hier einfach eine Antwort aus dem Ärmel zu schütteln.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Reddemann.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für möglich, daß die steuerlichen Erleichterungen, die die Bundesregierung gegenüber der DDR beschlossen hat, zunächst einmal rückgängig gemacht werden, um ein entsprechendes Mittel gegenüber den Erpressungsmethoden der anderen Seite zu haben?
Mir ist von steuerlichen Erleichterungen gegenüber der DDR nichts bekannt. Wir haben bisher auf diesem Gebiet noch nie eine Beförderungsteuer erhoben; das ist richtig. Das hat bisher noch keine Bundesregierung getan, sondern wir haben uns immer an das Gesetz von 1917 gehalten, während sich eben die andere Seite nicht daran gehalten hat.
Es geht nicht um die Beförderungsteuer, sondern um die Möglichkeit, Importe aus der DDR steuergünstiger hier unterzubringen.
Ob das in einem engen Zusammenhang steht, vermag ich in dieser
Form nicht zu sagen. Ich bin aber bereit, Ihnen diese Frage schriftlich zu beantworten.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Wohlrabe.
Herr Staatssekretär, da meiner Auffassung nach Beförderung von Gütern nach West-Berlin und Interzonenhandel durchaus zusammenhängend zu betrachten sind, würde ich gern wissen, ob gegen diese Unrechtsmaßnahme der DDR-Behörden, die auch dem New Yorker Abkommen über den freien Zugangsweg nach West-Berlin widerspricht, eine Intervention der Bundesregierung durch die Interzonentreuhandstelle stattgefunden hat, wie diese ausgesehen hat und ob die Bundesregierung überhaupt gegen diese Unrechtsmaßnahme der DDR protestiert hat.
Das kann ich so nicht beantworten, weil ich es nicht weiß. Für die Interzonentreuhandstelle ist ein anderes Haus zuständig.
Ich müßte das erst feststellen. Es hat keinen Sinn, hier eine halbe Antwort zu geben.
Ich rufe die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten von Bockelberg auf. —Der Fragesteller ist nicht .im Saal. Die Fragen werden schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 11 des Abgeordneten Würtz auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Die Frage wird ebenfalls schriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Fellermaier auf:Sind der Bundesregierung bereits genauere Zahlen über den Gesamtschaden bekannt, der dem Bund im „Landshuter-Komplex" des sogenannten „Süddeutschen Getreide-Skandals" entstanden ist, welcher derzeit Gegenstand eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens bildet?Die Frage wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Reischl vom 25. Mai 1970 lautet:Das angesprochene Ermittlungsverfahren ist durch den Oberstaatsanwalt Augsburg eingestellt worden, weil ein zur Anklageerhebung ausreichender Nachweis einer strafbaren Handlung nidit geführt werden kann.Mit Rücksicht hierauf und im Hinblick auf die gesetzlichen Vorschriften des § 22 Abgabenordnung und § 44 Außenwirtschaftsgesetz (Verschwiegenheitspflicht in Außenwirtschaftssachen) bedauert die Bundesregierung, keine Auskunft über den Gesamtschaden, auf den sich die Vorermittlungen bezogen, erteilen zu können.Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Jungmann auf:Hat die Bundesregierung den ihr nachgeordneten Finanzbehörden Anweisung erteilt, Praxisgemeinschaften und Apparategemeinschaften von Ärzten entgegen der Vorschrift des § 4 Ziff. 14 des Umsatzsteuergesetzes nicht von der Umsatzsteuerpflicht freizustellen, obwohl ärztliche Gemeinschaftspraxen ebenso wie die sonstige Tätigkeit als Arzt nicht der Umsatzsteuerpflicht unterliegen?Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2827
Das Bundesfinanzministerium hat in dem Runderlaß vom 10. Juli 1969, der die Steuerbefreiung der Heilberufe betrifft, zu dem von Ihnen angesprochenen Fragenkreis Stellung genommen. Nach Abschnitt III gilt folgendes:
Üben Ärzte oder Angehörige der übrigen Heilberufe ihre Tätigkeit im Rahmen einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts aus, z. B. in Form einer Gemeinschaftspraxis von Ärzten, so kann die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes auf die Leistungen der Gesellschaft an die Patienten angewendet werden. Voraussetzung ist hierbei, daß die Einkünfte der Gesellschafter einkommensteuerrechtlich Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit, nämlich als Arzt, sind.
Die von Ihnen in der Frage angeführten Praxisgemeinschaften und Apparategemeinschaften konnten in dem Runderlaß des Bundesfinanzministeriums nicht als umsatzsteuerfrei bezeichnet werden. Aufgabe dieser Gemeinschaften ist es, den Ärzten Praxisräume, Einrichtungen und Apparate gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen. Diese Leistungen fallen nicht unter die Umsatzsteuerfreiheit für die Tätigkeit als Arzt oder unter eine ähnliche heilberufliche Tätigkeit. Selbstverständlich bleibt hiervon die Umsatzsteuerfreiheit der Ärzte selbst unberührt.
Die dargelegte Rechtslage ist in der Finanzverwaltung bekannt. Zur umsatzsteuerrechtlichen Behandlung der Praxis- und Apparategemeinschaften ist daher keine allgemeine Verwaltungsanweisung des Bundesfinanzministeriums und der obersten Finanz) behörden der Länder erteilt worden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Jungmann.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, in Ihrem Hause feststellen zu lassen, daß es im Gegensatz zu der von Ihnen vertretenen Auffassung mindestens in vielen Fällen nicht die Aufgabe derartiger Gemeinschaften ist, den Ärzten Praxisraum und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, sondern daß es vielmehr so ist, daß diese ja auch von der Bundesregierung gewünschten Zusammenschlüsse von Ärzten nichts anderes als die Zusammenarbeit dieser Ärzte zum Ziele haben und daß die gemeinsame Nutzung von Räumen, Einrichtungen und Personal eben eine solche Zusammenarbeit erst ermöglichen soll?
Herr Kollege, ich darf vielleicht noch einmal in Erinnerung bringen, daß ich deswegen am Eingang meiner Antwort die rechtliche Seite dargestellt habe. Ich glaube, es hängt von der rechtlichen Gestaltung dieser Gemeinschaft ab. Wenn die Ärzte zusammenarbeiten und sozusagen eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts bilden, indem sie ein gemeinsames Vermögen haben, nämlich diese Praxisräume und die Apparate, dann fällt es nach unserer Auffassung unter die Steuerfreiheit, weil es ein Teil der ärztlichen Tätigkeit ist. Anders ist es nur, wenn die
Apparategemeinschaft rechtlich selbständig neben den Ärzten steht und diesen gegenüber sozusagen als Vermieter oder Verpächter der Anlagen auftritt.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jungmann.
Herr Staatssekretär, darf ich, um diese interessante und in der Praxis wirklich schwierige Frage noch etwas näher zu klären, fragen, ob es nicht richtiger wäre, davon auszugehen, daß sich in bezug auf die .Natur des ärztlichen Berufes durch den Zusammenschluß von Ärzten zur gemeinsamen Berufsausübung nichts ändert — ich glaube, aus Ihren Antworten auch herauslesen zu können, daß das die Auffassung des Finanzministeriums ist , und dieselbe umsatzsteuerliche Behandlung wie bei der Tätigkeit des einzelnen Arztes auch Zusammenschlüssen von Ärzten — die ja nur der ärztlichen Berufsausübung in einer modernen Form gelten — entsprechend der im Steuerrecht generell geltenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise zuteil werden zu lassen?
Herr Kollege, wenn die rechtliche Gestaltung so ist, daß es sich um eine Zusammenarbeit der Ärzte handelt — ich meine, das hängt doch davon ab, wie man so etwas aufzieht —, dann fällt es genau unter die ärztliche Berufstätigkeit und damit auch unter die Steuerfreiheit.
Keine weiteren Zusatzfragen.Ich rufe die Frage 14 der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus auf. — Sie ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.Wir kommen zur Frage 15 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen:Trifft es zu, daß für französischen Schaumwein, der auf einen Druck zwischen 2,5 und 3 atü — in jedem Fall unter 3 atü —gestellt ist, hei der Einfuhr zunächst ordnungsgemäß die Steuer entrichtet, diese aber dann von den Zollämtern zurückerstattet wird, weil erst dann geltend gemacht wird, daß der Druck unter 3 atü liege?Die Frage wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Reischl vom 2. Juni 1970 lautet:Es ist bereits von verschiedenen Seiten vorgetragen worden, daß für französische Schaumweine mit einem Kohlensäuredruck unter 3 atü, die in der Hauptsache über das Saarland eingeführt worden sein sollen, zunächst die Schaumweinsteuer von den Einführern entrichtet, dann aber auf nachträglich durch Gutachten belegte Vorstellungen, daß der Druck unter 3 atü liege, erstattet worden sein soll. Nach Mitteilung der Oberfinanzdirektion Saarbrücken vom 13. Mai 1970 ist bisher in keinem Fall nach durchgeführter Abfertigung ein Privatgutachten über einen Kohlensäuredruck unter 3 atü vorgelegt oder der Antrag gestellt worden, die Ware zu untersuchen, um die Schaumweinsteuer erstattet zu erhalten. In den Fällen allerdings, in denen bei der Einfuhr, also während der Abfertigung, von Amts wegen Proben entnommen und amtlich untersucht worden sind, müßte die entrichtete Schaumweinsteuer dann aus Rechtsgründen erstattet werden, wenn die amtliche Untersuchung einen Kohlensäuredruck von weniger als 3 atü ergeben hat.Die Nachrichten sind zum Anlaß genommen worden, die Oberfinanzdirektion anzuweisen:1. Bei eingeführten, zolltariflich und steuerrechtlich als Schaumwein angemeldeten Erzeugnissen nachträgliche Anträge auf
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Präsident von HasselEntnahme von Proben zurückzuweisen oder nachträglich vorgelegte Privatgutachten über den Kohlensäuredruck nicht anzuerkennen.2. Eingeführte Erzeugnisse, die z. B. als „nicht steuerpflichtiger Schaumwein mit einem Kohlensäuredruck von weniger als 3 atü", „nicht steuerpflichtiger Schaumwein, Kohlensäuredruck unbekannt", „Perlwein", „Wein" oder dergl. angemeldet werden, einer weinrechtlichen Untersuchung durch die zuständige öffentliche Fachanstalt zuzuleiten.Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Dr. Hauser auf:Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, uni zu verhindern, daß — wie früher über Südbaden — jetzt hauptsächlich über saarländische, aber auch andere Grenzzollstellen ausländische Schaumweine mit einem Kohlensäuredruck unter 3 atü bei 20° C eingeführt und in Verkehr gebracht werden können, wobei entweder die Schaumweinsteuer überhaupt nicht entrichtet oder aber später zurückgefordert und allem Anschein nach von den Zollämtern auch ohne weiteres erstattet wird?Zur Beantwortung, bitte!
Das Bundesfinanzministerium hat in einem Erlaß vom 22. Mai 1970 die Oberfinanzdirektionen angewiesen:
Erstens. Bei eingeführten Erzeugnissen, die zolltariflich und steuerrechtlich als Schaumwein angemeldet werden, ist die Schaumweinsteuer durch endgültigen Steuerbescheid zu erheben. Nachträgliche Anträge auf Entnahme von Proben sind zurückzuweisen und nachträglich vorgelegte Privatgutachten über einen angeblich niedrigeren Kohlensäuredruck als 3 atü sind nicht anzuerkennen.
Zweitens. Eingeführte Erzeugnisse, die z. B. als „nicht steuerpflichtiger Schaumwein mit einem Kohlensäuredruck von weniger als 3 atü", „nicht steuerpflichtiger Schaumwein, Kohlensäuredruck unbekannt", „Perlwein", „Wein" oder dergleichen angemeldet werden, sind einer weinrechtlichen Untersuchung durch die zuständige öffentliche Fachanstalt zuzuleiten. Die zollamtliche Weiterbehandlung der Sendung ist bis zum Eingang des Untersuchungsergebnisses zurückzustellen.
Damit sind die für die Weinuntersuchung und die Lebensmittelüberwachung zuständigen Landesbehörden in die Lage versetzt, ihrerseits das Notwendige wegen einer möglichen Nichtverkehrsfähigkeit der Erzeugnisse zu veranlassen.
In den angesprochenen Einfuhren über Südbaden sind nach Auskunft der zuständigen Oberfinanzdirektion 470 000 DM Schaumweinsteuer erhoben und 120 000 DM Schaumweinsteuer nachgefordert worden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, falls die deutschen Sektkellereien gleichfalls dazu übergehen sollten, Schaumweine mit einem Kohlensäuredruck von weniger als 3 atü zu vertreiben, die nach § 1 der Durchführungsbestimmungen zum Schaumweinsteuergesetz ebenso steuerfrei bleiben würden wie der aus dem Ausland importierte angebliche Schaumwein?
Dagegen müßten doch die Lebensmittelüberwachungsbehörden einschreiten, nicht aber die Finanzbehörden, Herr Kollege. Ich glaube, das hängt sehr eng mit der Beantwortung der zweiten Frage zusammen. Ich habe die beiden Fragen nicht gemeinsam beantwortet.
Ich rufe dann gleich die Frage 17 auf:
Warum stellt die Bundesregierung nicht die notwendige Zusammenarbeit und gegenseitige Unterrichtung der Grenzzolldienststellen und der Lebensmittelkontrolle sicher, um zu verhindern, daß nicht verkehrsfähige Schaumweine auf den deutschen Markt kommen, obwohl nach der bereits in Kraft befindlichen Vorschrift des § 69 Abs. 5 des neuen Weingesetzes von den dort gegebenen „Befugnissen zur Auskunftserteilung auch Gebrauch gemacht werden muß" ?
Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Durch die in der Antwort zu der ersten Frage erwähnte Regelung ist die in der Anfrage erstrebte Zusammenarbeit der Grenzzollstellen mit den für die Lebensmittelkontrolle zuständigen Behörden sichergestellt. Ihrer Auffassung, die Zollbehörden hätten die Lebensmittelkontrollbehörden auf Grund des § 69 Abs. 5 des neuen Weingesetzes von solchen Einfuhren unterrichten können, kann nicht gefolgt werden. Grundsätzlich steht derartigen Benachrichtigungen das Steuergeheimnis entgegen. § 69 Abs. 5 ermächtigt die Zollbehörden nur, den Überwachungsorganen auf deren Verlangen bestimmte Einfuhrunterlagen zur Einsichtnahme zu überlassen und Auskünfte aus ihnen zu erteilen. Der Gesetzgeber hätte die Worte „auf Verlangen" nicht in den Gesetzestext aufgenommen, wenn er eine unbeschränkte Benachrichtigungspflicht der Zollbehörden hätte begründen und für zulässig ansehen wollen. Hieran ändert die von Ihnen, Herr Kollege, angezogene Stelle der Bundestags-Drucksache V/4072 nichts. Ein solches Verlangen ist bisher bei den hier behandelten Schaumweineinfuhren nicht gestellt worden.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, hat Ihr Haus von der ihm erteilten Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung bzw. zum Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorschriften nach der gleichfalls schon in Kraft befindlichen gesetzlichen Bestimmung des § 78 des Weingesetzes bereits Gebrauch gemacht, um, wie es dort heißt, die Einzelheiten des Verfahrens der Einfuhrüberwachung zu regeln und zu Anzeigen zu verpflichten?
Dazu ist folgendes zu sagen. Von der Regelungsmöglichkeit haben wir ja — in einem gewissen Umfang allerdings nur — durch den von mir vorhin angeführten Erlaß vom 22. Mai 1970, der also brandneu ist, Gebrauch gemacht; allerdings, wie gesagt, nur teilweise. Ich
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Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischlhalte es — das darf ich noch einmal sagen — nachdem Text des § 69 Abs. 5 nicht für zulässig, durch eine Verordnung oder Verwaltungsanweisung eine Informationspflicht der Zollbehörden gegenüber der Lebensmittelbehörde ohne eine entsprechende Anfrage zu begründen, weil ausdrücklich im Gesetz die Worte „auf Verlangen" stehen. Wenn diese nicht darin stünden, wäre insoweit das Steuergeheimnis beseitigt, und die Zollbehörde könnte von sich aus die Unterlagen der Lebensmittelkontrollbehörde zuleiten.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hauser.
Herr Staatssekretär, könnte das nicht relativ einfach dadurch geschehen, daß man die Weinzollordnung auf Sekt erweitert, in der ja bestimmt ist, daß Wein, Traubenmost, Traubenmaische, die ins Inland importiert werden, einer amtlichen Untersuchung über ihre Einfuhrfähigkeit unter Mitwirkung der Zollbehörden unterliegen und diese Stoffe nur über bestimmte Zollstellen eingeführt werden können?
Herr Kollege, ich muß sagen, daß diese Detailfrage jetzt so aus dem Stegreif nicht beantwortet werden kann.
Aber ich schlage vor, daß wir doch darüber mal eine Besprechung führen, wo Sie mir das genau auseinandersetzen, und dann werden Sie umfassende Auskunft bekommen.
Ich rufe Frage 18 des Abgeordneten Strauß auf. — Er ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beantwortet.
Die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Burger
Erwägt die Bundesregierung, die im Dritten Reich zwangsweise unfruchtbar gemachten Menschen zu entschädigen?
Würde sich die Form einer öffentlich-rechtlichen Stiftung, ähnlich der Heimkehrerstiftung, hierfür nicht anbieten?
werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Eine Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang im Sitzungsbericht abgedruckt.
Ich rufe Frage 21 des Abgeordneten Pieroth auf:
Welche Gründe sprechen dagegen, daß Arbeitnehmern von mittelständischen Unternehmen ohne eigene Kantine und — auf Grund ortsunabhängiger Tätigkeit — auch ohne die Möglichkeit, in bestimmten Gaststätten eine durch Essensmarken oder vereinbarte Zuschüsse verbilligte Mahlzeit einzunehmen, von ihrem Arbeitgeber denselben steuerlich begünstigten Essensgeldzuschuß erhalten wie Arbeitnehmer in einem Unternehmen mit Kantine oder mit an bestimmte Gaststätten ausgegebenen Essensmarken oder Zuschüssen?
Zur Beantwortung der Parlamentarische Staatssekretär.
Nach den geltenden Bestimmungen sind Essenszuschüsse bis zum Betrag von 1,50 DM arbeitstäglich nur dann lohnsteuerfrei, wenn sie nicht unmittelbar an die Arbeitnehmer, sondern an eine Kantine oder Gaststätte gegeben werden. Essenszuschüsse, die unmittelbar an die Arbeitnehmer ausgezahlt werden, gehören seit jeher zum steuerpflichtigen Arbeitslohn. Hierfür ist die Erwägung maßgebend, daß eine Steuerfreiheit der Essenszuschüsse nur unter dem Gesichtspunkt einer sogenannnten Annehmlichkeit vertretbar ist, was aber voraussetzt, daß die zweckentsprechende Verwendung der Zuschüsse sichergestellt ist, also durch unmittelbare Ablieferung an die Gaststätte. Eine zweckentsprechende Verwendung zum Bezug von Mahlzeiten ist aber dann nicht sichergestellt, wenn die Zuschüsse unmittelbar an die Arbeitnehmer ausgezahlt oder wenn Essensmarken auch in Lebensmittelgeschäften usw. eingelöst werden können.
Für eine Ausdehnung der Steuerfreiheit auf Zuschüsse, bei denen die zweckentsprechende Verwendung nicht überwacht werden kann, fehlt es an einer hinreichenden Rechtsgrundlage. Ich darf noch anfügen, daß der Bundesfinanzhof bereits gegen die Steuerfreiheit der zweckgebundenen Essenszuschüsse rechtliche Bedenken erhoben hat. Bei der jetzt in Angriff genommenen Steuerreform wird auch dieses Problem überprüft werden.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Pieroth.
Herr Staatssekretär, könnten solche Zuschüsse, sofern sie Arbeitnehmern in kleineren Betrieben zugute kämen, nicht auch zweckgebunden genutzt werden? Denn schließlich haben Arbeitnehmer in kleineren Betrieben im Verlauf von acht oder neun Arbeitsstunden auch Hunger und werden auch essen. Halten Sie deshalb eine Überprüfung der Rechtsgrundlagen nicht auch für angebracht?
Herr Kollege, ich bin sicher, daß dieses Problem im ganzen überprüft werden muß. Ich sagte ja schon, sobald die Möglichkeit einer entsprechenden Kontrolle für die Finanzbehörden geschaffen würde, würden vermutlich keine Bedenken bestehen, auch derartige freier benutzbare Essensmarken unter die Regelung fallen zu lassen. Aber nach dem gegenwärtigen Rechtszustand hätte ich Bedenken.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Pieroth.
Wann, glauben Sie, werden diese Untersuchungen beginnen, und wann werden sie zu Ende geführt werden können?
Herr Kollege, sie sind bereits im Gange. Das Zweite Steuerreformgesetz, in dem auch die Reform der Einkommensteuer und damit der Lohnsteuer enthalten ist, soll diesem Hohen Hause bis zum Sommer des nächsten Jahres vorgelegt werden.
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2830 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Pieroth auf:
Trifft es zu, daß Arbeitnehmer, die zur Einkommensteuer veranlagt werden — z. B. wegen der Abschreibung für ein Einfamilienhaus — gegenüber nur lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmern dadurch benachteiligt werden, daß sie Kinderfreibeträge und Freibeträge für erwerbsunfähige und pflegebedürftige Kinder für das betreffende Jahr nur beanspruchen dürfen, wenn diese Kinder vor dem Stichtag des 31. August geboren sind, während bei Arbeitnehmern, die derselben Tätigkeit nachgehen, aber nur lohnsteuerpflichtig bleiben, solche Freibeträge nicht an diesen Stichtag gebunden sind?
Zur Beantwortung, bitte!
Ab dem Kalenderjahr 1970 stehen Kinderfreibeträge für unter 18 Jahre alte Kinder im Einkommensteuerveranlagungsverfahren und im Lohnsteuerverfahren übereinstimmend bereits dann zu, wenn die Voraussetzungen dafür zu irgendeinem Zeitpunkt im Kalenderjahr vorgelegen haben.
Nach den früheren, bis zum Kalenderjahr 1969 einschließlich geltenden Regelungen bestanden hinsichtlich der Gewährung von Kinderfreibeträgen Unterschiede zwischen dem Veranlagungs- und Lohnsteuerverfahren. Im Veranlagungsverfahren stand für ein unter 18 Jahre altes Kind ein Kinderfreibetrag zu, wenn die Altersvoraussetzung mindestens vier Monate im Veranlagungszeitraum vorgelegen hatte. War dies nicht der Fall, so wurde für jeden Monat, in dem das Kind gelebt hatte, ein Betrag von 100 DM als außergewöhnliche Belastung vom Einkommen abgezogen. Dieser Betrag entsprach I in seiner Höhe dem zeitanteiligen Kinderfreibetrag für das erste Kind.
Nach der früheren Regelung für das Lohnsteuerverfahren wurde hingegen für Kinder, die nach dem 31. August des Kalenderjahres geboren wurden, zeitanteilige Kinderfreibeträge gewährt. Diese waren, falls es sich um Freibeträge für zweite oder weitere Kinder handelte, höher als die bei der Einkommensteuerveranlagung in entsprechenden Fällen zu berücksichtigenden außergewöhnlichen Belastungen.
Durch das Steueränderungsgesetz 1968 sind diese Unterschiede mit Wirkung ab 1970 beseitigt worden.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Dasch auf:
Mit welchen Mitteln will die Bundesregierung an den deutschen Grenzen die illegale Einfuhr von Rauschgift stärker als bisher verhindern?
Zur Beantwortung bitte!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesregierung widmet der illegalen Einfuhr von Rauschgift mit ihren Gefahren für die Volksgesundheit ihre besondere Aufmerksamkeit. Die Anzahl der von Grenzzollstellen allein oder in Zusammenarbeit mit der Polizei erzielten Aufgriffe und der hierbei beschlagnahmten Mengen ist im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr stark angestiegen. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß die Zollabfertigungsbeamten der wichtigeren Grenzzollstellen durch Fachkräfte bei der Polizei über Rauschgifte und ihre charakteristischen Merkmale unterwiesen werden. Die Unterweisung wird ergänzt durch Hinweise auf neue Schmuggelmethoden usw. Zoll und Polizei arbeiten bei der Bekämpfung der illegalen Einfuhr von Rauschgift besonders eng zusammen. Eine Zusammenarbeit auf internationaler Ebene besteht in gewissem Umfang mit den Mitgliedstaaten des Brüsseler Zollrats.
Die Oberfinanzdirektion Berlin hat kürzlich einen Rauschgift-Spürhund erfolgreich eingesetzt. Weitere Hunde werden zur Zeit ausgebildet. Sie sollen an Grenzzollstellen eingesetzt werden, die mutmaßlich für ,den Rauschgiftschmuggel besonders in Betracht kommen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dasch.
Kann ich aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß die Bundesregierung trotz der Tatsache, daß den illegalen Rauschgifthändlern in immer stärkerem Maße auf die Spur gekommen wird, verstärkte Maßnahmen für notwendig hält, um diese illegale Einfuhr weitgehend zurückzudrängen?
Herr Kollege, wir sehen mit großem Mißvergnügen, daß der illegale Rauschgifthandel trotz aller Maßnahmen zunimmt, und wir werden alles tun — das sehen Sie schon an der Hundeausbildung, die in Berlin tatsächlich von einem großen Erfolg begleitet war —, um alle Möglichkeiten, die es überhaupt gibt, auszuschöpfen, damit wir die illegalen Rauschgifthändler erwischen.
— Ich weiß nicht, ob die das fressen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Josten.
Herr Staatssekretär, nachdem bekannt ist, daß die Rauschmittel neuerdings auch auf dem Luftweg in die Bundesrepublik gelangen, frage ich Sie: Sieht die Bundesregierung keine Möglichkeit, diese illegale Einfuhr von Rauschgift im Zusammenwirken mit den Nachbarstaaten und den internationalen Fluggesellschaften besser als bisher zu verhindern?
Herr Kollege, letztlich liegt es ja immer daran, daß man das Rauschgift bei der Kontrolle entdeckt, und das ist gerade die entscheidende Schwierigkeit; es ist nicht ohne weiteres erkennbar, zumal die Tarnung oft sehr raffiniert ist. Ich möchte das hier nicht weiter ausbreiten, bin aber gern bereit, Ihnen einmal Beispiele zu zeigen. Daß hier international zusammen-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2831
Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischlgearbeitet wird, darüber gibt es ohnehin keinen Zweifel, weil es ein Abkommen über die Bekämpfung des internationalen Rauschgiftschmuggels gibt. Selbstverständlich werden auch beim Luftverkehr alle Möglichkeiten ausgenützt, um das zu unterbinden. Aber die Lage ist da nicht sehr viel anders als beim Wagen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dasch.
Herr Staatssekretär, können Sie die Frage beantworten, ob die Bundesregierung nicht auch auf dem Wege einer Antiaufklärung der Bevölkerung über die Negativauswirkungen dieser Rauschgifte dem Schmuggel den Boden entziehen könnte, indem der Verbrauch einfach abgelehnt wird?
Herr Kollege, soweit die Leute nicht ausgesprochen süchtig sind, wäre selbstverständlich jede Aufklärungsaktion, für die übrigens das Gesundheitsministerium zuständig wäre, von dem ich annehme, daß es das auch tut, nützlich. Nur fürchte ich, daß es bestimmte Leute gibt, die auch der besten Aufklärung nicht mehr zugänglich sind, und solange das Geschäft lukrativ ist, wird es immer wieder versucht werden. Aber wir werden alles tun, um das zu unterbinden.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe auf die Frage Nr. 24 des Herrn Abgeordneten Dr. Schwörer. Er ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet, ebenfalls die Frage Nr. 25.
Damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reischl, für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Frage 26 des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner:
Ist die Bundesregierung bereit, angesichts des hohen Müllanfalls, der kaum noch zu beseitigen ist, den Verkauf von Einwegflaschen für Bier und Erfrischungsgetränke — wie es in Norwegen und Finnland geschieht — zu verbieten?
Zur Beantwortung, Herr Bundesminister Genscher.
Die Bundesregierung sieht zur Zeit keinen ausreichenden Grund, den Verkauf von Einwegflaschen für Bier und Erfrischungsgetränke zu verbieten. Bei dieser Meinungsbildung stützt sich die Bundesregierung auf die folgenden Ermittlungsergebnisse.
Erstens. Untersuchungen der Zentralstelle für Abfallbeseitigung des Bundesgesundheitsamtes, die bereits im Jahre 1966 eingeleitet wurden.
Zweitens. Verhandlungen, die im Juli 1969 im Bundesministerium für Gesundheitswesen aufgenommen und jetzt vom Bundesministerium des Innern weitergeführt werden. In diesen Verhandlungen sind sowohl führende Fachleute der Abfallbeseitigung und Vertreter der Länderarbeitsgemeinschaft Abfallbeseitigung als auch Vertreter der einschlägigen Industrie und ihrer Verbände beteiligt.
Drittens. Ergebnisse einer speziellen Untersuchung, die an das Battelle-Institut in Frankfurt am Main im Jahre 1969 über den zukünftigen Anfall von Kunststoffabfällen und die Folgerungen für die Abfallbeseitigung als Auftrag vergeben worden ist. Der hierzu vorliegende Abschlußbericht befindet sich zur Zeit in Druck und wird voraussichtlich noch im Juni 1970 der Öffentlichkeit vorgelegt werden können.
Viertens. Untersuchungen über die Auswirkungen der Verbrennung von PVC-haltigem Hausmüll in Hamburg.
Sie sehen aus diesen Untersuchungen, daß die Bundesregierung die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit beobachtet.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner.
Herr Bundesminister, sind Sie der Auffassung, daß es möglich ist, der immer mehr wachsenden und auch kostspieligen Müllprobleme Herr zu werden, ohne auch — und darauf kommt es mir grundsätzlich an — den Verursacher des neuen Müllproblems — wie z. B. im Falle der Einwegflaschen oder vieler anderer Beispiele der Kunststoffverwendung — mit in die Verantwortung für diesen Komplex einzubeziehen?
Die Tatsache, daß wir die Verbände der Verursacher in die von mir unter Ziff. 2 genannten Verhandlungen mit einbeziehen, macht deutlich, daß die Bundesregierung ,die Lage so sieht wie Sie, Herr Abgeordneter.
Keine weitere Zusatzfrage. — Ich rufe die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Dr. Gleissner auf:
Ist die Bundesregierung bereit, Teststationen zur Kontrolle der Auspuffgase an Kraftwagen einzurichten und dort beanstandete Kraftwagen aus dem Verkehr zu ziehen, wie das im US-Staat New Jersey bereits geschieht?
In der Bundesrepublik sind Halter von Kraftfahrzeugen verpflichtet, in regelmäßigen Zeitabständen feststellen zu lassen, ob die Fahrzeuge den Vorschriften, die zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit und zur Verhütung von Belästigungen erlassen worden sind, entsprechen. Dazu gehören auch die Vorschriften zur Verminderung der Verunreinigung der Luft durch Kraftfahrzeugabgase. Das Fehlen von Vorschriften über die regelmäßige Überwachung von Kraftfahrzeugen in den USA macht dort die Errichtung besonderer Teststationen zur Kontrolle der Auspuffgase von Kraftwagen erforderlich. Die deutschen und europäischen Vorschriften enthalten Bestimmungen über die stichprobenweise Überprüfung
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2832 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Bundesminister Genscherder laufenden Produktion, deren Fehlen in den gesetzlichen Maßnahmen der USA von Präsident Nixonals wesentliche Unzulänglichkeit bezeichnet wurde.In der Bundesrepublik sind die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen für eine ausreichende Kontrolle der Auspuffgase sowohl beim InVerkehrBringen neuer als auch bei der Überwachung der im Verkehr befindlichen Kraftfahrzeuge bereits geschaffen wurden. Zur Errichtung besonderer Teststationen zur Kontrolle der Auspuffgase an Kraftwagen besteht in der Bundesrepublik daher kein Bedürfnis.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 28 des Abgeordneten Dr. Slotta auf. — Er ist nicht anwesend. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 29 des Abgeordneten Härzschel auf:
Hält die Bundesregierung die Beibehaltung von Ortsklassen in Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes noch für gerechtfertigt?
Zur Beantwortung bitte, Herr Bundesminister!
In den bestehenden Tarifverträgen ist bestimmt, daß die besoldungsrechtliche Ortsklassenzuteilung auch für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gilt. Sie kann nur durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden, die der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
Die Bundesregierung hat wiederholt gegenüber dem Deutschen Bundestag erklärt, daß in der Einstufung der Gemeinden in die Ortsklassen nichts mehr geändert werden soll. Ziel der Politik der Bundesregierung ist es vielmehr, die Unterschiede zwischen dem Ortszuschlag der Ortsklasse S und dem der Ortsklasse A stufenweise zu beseitigen. Im Besoldungsrecht sind diese Unterschiede mit Wirkung vom 1. April 1969 und 1. Januar 1970 erheblich verringert worden. Für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sind entsprechende Verbesserungen in Kraft getreten.
Die verbliebenen, relativ geringfügigen Unterschiede sollen während dieser Legislaturperiode in zwei weiteren Stufen völlig beseitigt werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Härzschel.
Herr Bundesminister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, bedeutet das, daß die Bundesregierung der Meinung ist, die Stufen sollten im Laufe dieser Legislaturperiode völlig beseitigt werden?
Das ist das Ziel. Bei den Besoldungsänderungen für 1970 haben wir ein Drittel abgebaut, Herr Kollege. Ich bin der Überzeugung, wenn wir mit Zustimmung des Hohen Hauses in demselben Tempo fortfahren können, wird der Unterschied im nächsten und übernächsten Jahr praktisch beseitigt sein.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Härzschel.
Darf ich dann aus Ihren Ausführungen entnehmen, daß auch die Bundesregierung der Meinung ist, daß diese Ortsklassen heute nicht mehr zeitgemäß sind, weil sich die Lebensverhältnisse in den kleineren Städten und in den Großstädten völlig gewandelt haben und heute in den kleineren Städten der Aufwand teilweise sogar größer ist als in größeren Städten?
Ich bin uneingeschränkt dieser Meinung. Ich meine aber, daß man die Beschränkung nicht nur auf die kleineren Städte vornehmen kann. Es gibt auch Landgemeinden mit sehr teuren Lebensbedingungen. Das ist das Motiv, warum die Bundesregierung diesen Unterschied insgesamt abbauen will.
Weil aber dieses Ziel vorhanden ist und Aussicht besteht, es in absehbarer Zeit zu verwirklichen, wäre es jetzt nicht sinnvoll, noch in eine Überprüfung darüber einzutreten, ob eine Veränderung vorzunehmen ist.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dasch.
Herr Bundesminister, erhofft sich die Bundesregierung durch die Angleichung einen positiven strukturpolitischen Effekt, damit auch Angestellte und Beamte in die abgelegenen Gebiete des Landes gehen?
Auch das ist eines der Motive. Hier trifft es sich glücklich, daß dasselbe Ministerium sowohl die Fragen der Raumordnung wie die Fragen des öffentlichen Dienstrechts zu behandeln hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Marx.
Herr Bundesminister, kann dieser stufenweise Abbau als eine stufenweise Anhebung auf ein oberes Niveau verstanden werden, etwa vergleichbar mit dem, was man bisher Ortsklasse S nennt?
Herr Kollege, Sie sollten wissen, daß der Besitzstand ein so wichtiger Begriff des Beamtenrechts ist, daß es sich überhaupt nur um einen „Abbau nach oben" handeln kann.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Bay auf:Was sagt die Bundesregierung zu dem Tatbestand, daß ein Versorgungsamt sich an eine Bescheinigung, die von der nach § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes zuständigen Behörde ausgestellt wurde, nicht gebunden fühlt, sondern im gleichen Fall noch eigene Ermittlungen anstellt?Zur Beantwortung, Herr Bundesminister!
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2833
Seit Inkrafttreten der Dritten Novelle zum Häftlingshilfegesetz am 1. Juni 1969 sind die Bescheinigungen nach § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes für alle Behörden verbindlich, die Leistungen nach dem Häftlingshilfegesetz gewähren. Die Versorgungsbehörden sind daher nicht berechtigt, die Zugehörigkeit eines Antragstellers zum Personenkreis der ehemaligen politischen Häftlinge in Frage zu stellen und eigene Ermittlungen in dieser Richtung vorzunehmen. Im Zweifelsfall kann das Versorgungsamt nur bei der für die Ausstellung der Häftlingsbescheinigung zuständigen Behörde die Änderung oder Aufhebung der Bescheinigung beantragen. Will diese dem Antrag nicht entsprechen, so entscheidet die zuständige oberste Landesbehörde. Falls Sie einen bestimmten Einzelfall im Auge haben, bin ich gern bereit, die zuständige oberste Landesbehörde anzusprechen.
Keine Zusatzfrage. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs, Herr Bundesminister, angelangt. Ich darf Ihnen für die Beantwortung der Fragen danken.
Ich glaube, meine Damen und Herren, Sie geben mir zu, daß es keinen Zweck hat, noch für eine Minute einen neuen Geschäftsbereich aufzurufen. Ich beende daher die heutige Fragestunde und mache darauf aufmerksam, daß es morgen früh um 8 Uhr mit der Fragestunde weitergeht.
Wir treten nunmehr in den Punkt II der Tagesordnung ein:
a) Beratung des Nachtrags zum Jahreswirtschaftsbericht 1970 der Bundesregierung
— Drucksache VI/850 —
b) Beratung des Sondergutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung „Zur Konjunkturlage im Frühjahr 1930"
— Drucksache VI/773 —
c) Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betr. Konjunkturpolitik
— Drucksachen VI/714, VI/847 —
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Müller-Hermann, Dr. Stoltenberg und der Fraktion der CDU/CSU
betr. Konjunkturpolitik der Bundesregierung
— Drucksache VI/511 —
Zur Einbringung der Vorlagen unter a) und b) hat der Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag am 26. Mai 1970 den Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht 1970 vorgelegt, so wie er vor einigen Wochen hier im Hohen Hause angekündigt worden ist. Mit gleichem Datum hat die Bundesregierung die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 30. April 1970 zur Konjunkturpolitik beantwortet. Mit diesen beiden Äußerungen gibt die Regierung diesem Haus und der Öffentlichkeit eine umfassende Zwischenbilanz für das Jahr 1970.Meine Damen und Herren, dies ist eine Zwischenbilanz, die sich sehen lassen kann. Ihr Saldo heißt Steigerung der Produktivität bei allen und des allgemeinen Wohlstandes. Der Saldo heißt nicht Inflation oder Rezession und schon gar nicht Inflation und Rezession. Der Saldo unserer volkswirtschaftlichen Zwischenbilanz zeigt eine Stärkung des gemeinsam erarbeiteten Ertrages. Das möchte ich an Hand folgender sechs Tatsachen feststellen.Tatsache 1 ist: Wir erleben seit rund drei Jahren den stärksten wirtschaftlichen Aufschwung, den es unter vergleichbaren Bedingungen nach dem Kriege in der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Wenn sich die heute erkennbaren Tendenzen fortsetzen, wird das reale Sozialprodukt 1970 nochmals um 6 % zunehmen nach 8 % und 7,2 % in den beiden Vorjahren. Das übertrifft die Erwartungen von Bundesregierung, Bundesbank, Forschungsinstituten und Sachverständigenrat, die Erwartungen, die damals zur Jahreswende 1969/70 formuliert worden sind. Das ist mehr und besser, als wir alle miteinander angenommen haben. Auch Herr Dr. Stoltenberg hat am 24. April in diesem Hause doch für die Opposition bekannt, daß wir alle im Jahre 1969 „Schwierigkeiten gehabt haben, den Konjunkturverlauf sicher zu erkennen". In Wahrheit übertrifft das Wachstum nicht nur unser aller Erwartungen, sondern dieses Wachstum, meine Damen und Herren, widerlegt auch jene Pessimisten, die uns im Sommer 1969 weismachen wollten, nach der DM-Aufwertung bräche die deutsche Wirtschaft zusammen. Das ist auch widerlegt worden.
Tatsache 2: Herr Müller-Hermann, früher sprach man von Wirtschaftswunder. Heute spricht man von Produktivitätswunder.
Na, Ihr Wunder werden Sie noch erleben! Warten Sie mal!
„Produktivitätswunder" ist nicht übertrieben. Wir müssen schon in die Startzeit der Bundesrepublik Deutschland zurückgreifen, um vergleichbare Produktivitätssteigerungen zu finden. Seit der Mitte der fünfziger Jahre war es nicht mehr gelungen, drei Jahre hintereinander einen Produktivitätsfortschritt von jährlich 6 % durchzuhalten. Erst im Zeitraum 1968/70 haben wir das wieder schaffen können, also in dem Zeitraum der neuen Wirtschaftspolitik, unter ungünstigeren Bedingungen als damals Anfang der fünfziger Jahre.Starker Produktivitätsfortschritt erfordert heutzutage weitaus größere Investitionen, erfordert mehr Realkapital als in der Startperiode der Bundesrepublik, in welcher Ergänzungsinvestitionen und
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2834 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Bundesminister Dr. SchillerInvestitionen kleineren Ausmaßes große Produktivitätswirkungen haben konnten. Heute, meine Damen und Herren, unter den heutigen Bedingungen verlangt ein Produktivitätsfortschritt von 6 % jährlich harte Arbeit und sichere politische Steuerung.Was bedeuten diese 6 %? Was würden wir schaffen, wenn es uns gelänge, sie auf weitere Sicht durchzuhalten? Die Antwort, meine Damen und Herren, lautet: Diese 6 % bedeuten eine Verdoppelung der Produktivität in zwölf Jahren, eine Verdoppelung des Volkseinkommens je Einwohner, eine Verdoppelung unseres Wohlstandes in zwölf Jahren. Mit dieser unserer Leistungssteigerung bestehen wir auch den Wettbewerb der Nationen. Damit, aber auch nur damit, können wir unseren vielfältigen Verpflichtungen nachkommen, können wir innere wie äußere Sicherheit fundieren. Diese Leistungssteigerung gibt uns außerdem die Möglichkeit, Wachstum in vernachlässigte Regionen, in die Problemgebiete, Herr Dr. Stoltenberg, von Schleswig-Holstein bis Bayern- zu bringen. Das wollen wir doch alle; denn überall in der Bundesrepublik, in allen Regionen, auch in den Problemgebieten, brauchen wir Vollbeschäftigung und Wohlstand.
— Sie können es wieder einmal nicht abwarten!Tatsache 3: Die Investitionen der privaten Wirtschaft werden in diesem Jahr um fast 20 % zunehmen. Dies, meine Damen und Herren, ist eine tagtägliche Abstimmung über unser Wirtschaftsgeschehen in Mark und Pfennig. Das ist ein Plebiszit.
Einen besseren Vertrauensbeweis der in- und ausländischen Unternehmer und Investoren in die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes und damit auch in die Wirtschaftspolitik dieser Regierung gibt es schlechterdings nicht. Das ist ein Faktum!
Alles Gerede von Vertrauensverfall und ähnlichen Dingen ist widerlegt durch die Zunahme dieser privaten Investitionen.Tatsache 4: Auch ein Vertrauensbeweis: Seit Januar 1970 haben die Währungsreserven der Deutschen Bundesbank wieder zugenommen, und zwar von 27,3 Milliarden DM auf gegenwärtig 30,3 Milliarden DM. Die deutsche Zahlungsbilanz ist gesund. In den letzten vier Monaten sind für rund 3 Milliarden DM aus dem Ausland an Devisen in die Bundesrepublik geflossen, und das, nachdem durch die DM-Aufwertung die vorherige Scheinliquidität beseitigt und die gesamtwirtschaftliche Bilanzwahrheit wiederhergestellt worden ist. Meine Damen und Herren, dieser Devisenzufluß von 3 Milliarden ist ebenfalls ein klarer Beweis für das Vertrauen der inländischen und ausländischen Investoren in die deutsche Wirtschaft und in unsere Wirtschaftspolitik.
— Ja, ich sehe, Sie sind fassungslos, Herr von Bismarck!
Ich möchte Sie einmal sehen! Sie wären ja auch anderer Meinung, wenn die 3 Milliarden nach Herstellung der Bilanzwahrheit, für die Sie doch auch eigentlich sein müssen, nicht zugeflossen wären.Tatsache 5: Es wird weiter gespart. Freilich hat es erhebliche Verlagerungen in den Sparformen gegeben. Gestiegen sind im ersten Vierteljahr 1970 vor allem die dynamischen Sparformen: die Anlagen in Schatzbriefen, Rentenwerten und Aktien. Damit zeigt der Sparer, ,daß er zunehmend anlagebewußter und für gezielte Aktionen der Vermögenspolitik ansprechbarer ist.
—
Abg. Dr. Müller-Hermann: Er flieht in dieSachwerte!)Wenn es gerade in jüngster Zeit zu einigen Rückbildungen nicht im Bestand, sondern im Zuwachs der Spar- und Terminkonten gekommen ist, besonders im Mittelstandsbereich, so enthüllt das noch etwas anderes: daß nämlich unsere kleinen und mittleren Unternehmer gut rechnen können. Angesichts der Spanne, die heute zwischen den Kredit- und den Sparzinsen besteht, ist es nämlich nur vernünftig, wenn diese Unternehmer, die meist nicht emissionsfähig sind, einen Teil ihrer Haushaltsersparnis im eigenen Betrieb investieren. Sie sparen dadurch am Zins. Was äußerlich wie eine Entsparung aussieht, ist in Wahrheit eine Form finanzieller Selbsthilfe. Das ist dieser Punkt.
— Ist ein bißchen schwer für Sie, nicht? Ja.
Und nun die Tatsache 6: Die volkswirtschaftliche Gewinnausschüttung an das ganze arbeitende deutsche Volk, die Einkommensbildung. Die Leistungssteigerungen, von denen ich gesprochen habe, haben Unternehmen und Arbeitnehmer gemeinsam vollbracht, und es ist nicht mehr als recht und billig, daß das gemeinsam erarbeitete Produkt auch gerecht verteilt wird.Nach der außerordentlich starken Gewinnsteigerung des Jahres 1968 und teilweise auch des Jahres 1969 haben die Arbeitnehmereinkommen nun nachgezogen. Das Ergebnis ist: Der private Verbrauch— sprich: der Lebensstandard unserer Bevölkerung — wird sich in diesem Jahr 1970 real um 8 % erhöhen. Niemals zuvor ging es allen Schichten unserer Bevölkerung — Arbeitern, Angestellten, Beamten und Selbständigen — so gut wie heute. Und ich füge hinzu: Nach der Nachholbewegung bei den Löhnen werden wir auch hier wieder zu einem normalen Schrittmaß finden. Denn alle, Arbeitnehmer, Unternehmer und Staat, sind daran interessiert, daß wir den Übergang zu einem spannungsloseren Wachstum finden und vollenden.
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Bundesminister Dr. Schiller
ergeben eine positive Bilanz. Unentwegte Leistungssteigerung und ständige Expansion des realen Sozialprodukts sind dabei gewiß keine letzten Ziele. Sie sind aber unerläßliche Voraussetzung der Wohlstandssteigerung. Diese Bundesregierung weiß auch, daß wir nur in einer wachsenden Wirtschaft soziale und politische Stabilität sichern können. Wachstum bringt Sicherheit, nach innen wie nach außen.
Wir wissen, daß wir nur in einer wachsenden Wirtschaft die inneren Reformen verwirklichen können, die unser Volk braucht. Wir müssen nun auch auf diesen Gebieten die Versäumnisse zweier Jahrzehnte wiedergutmachen.
— Die Wiedergutmachung kommt langsam bei Ihnen an.
— Ich honoriere gleich mit dem nächsten Thema, warten Sie mal ab.
Zugleich wollen wir Wirtschaftswachstum und Preisstabilität. — Ich würde das Wort Preisstabilität etwas deutlicher sagen, wenn Sie mir akustisch die Gelegenheit dazu gäben, jetzt über Preisstabilität zu reden; ich weiß nicht, ob Sie da nicht gern zuhören. — Meine Damen und Herren, Wachstum und Preisstabilität, das ist für uns kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, reden von Stabilität, nun, ich will einmal sagen: seit Ende 1968. Dafür getan haben Sie seitdem gar nichts.
Als Sie mitregierten, haben Sie die Lage stabilitätspolitisch bagatellisiert; so war es.
Und als Opposition heute haben Sie keine konkreten und wirksamen Vorschläge für die Stabilitätspolitik.
Sehen Sie, daß ist Ihre Bilanz, das ist Ihr Saldo der Bilanz.
Aber diese Bundesregierung hat etwas für Stabilität getan, und das ist unsere Bilanz.
— Herr Althammer, um Ihren Horizont noch mehr zu weiten,
sage ich folgendes. Dieser Bundesregierung ist es gelungen, von der internationalen Inflationsfront des Jahres 1970 deutlich abzurücken. Das ist das Verdienst dieser Regierung.
Blicken Sie doch nach den USA, blicken Sie in unsere Nachbarländer, und vergleichen Sie die Zahlen über die Preisentwicklung dort, und schauen Sie in den Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregierung.
Ohne Aufwertung — das ist doch sicher — hätten wir heute Inflationsraten in diesem Lande von 6 bis 7 % für den privaten Verbrauch. Tatsächlich aber liegen wir erheblich niedriger in den Preissteigerungsraten. Wir liegen niedriger gegen den Nichtaufwertungswillen der heutigen Opposition. Das ist auch eine Bilanz.
Diese Bundesregierung hat die Deutsche Bundesbank in die Lage versetzt, als Hüterin unserer Währung tätig zu werden.
— Sie sind immer ganz erstaunt, daß Ihr sogenanntes Monopol als Hüterin der Währung, der Stabilität, gegen Inflation und alles mögliche, wie Sie so schön reden, gar nicht existent ist, sondern das Monopol der Stabiliätspolitik auf einer anderen Seite liegt, nicht bei Ihnen.
— Sie können es nicht abstreiten: erst die Aufwertung vom 24. Oktober 1969 hat die Instrumente der Bundesbank wieder greifen lassen. Das können Sie nun wirklich nicht abstreiten.
Und im März dieses Jahres ist die Bundesbank voll gerüstet zu ihrer Stabilitätsoffensive angetreten, in voller Übereinstimmung mit dieser Bundesregierung, was Sie auch wissen.
— Das haben wir eben angesprochen — ich weiß nicht, ob Sie es gemerkt haben — mit der Stabilitätsoffensive.
Der 6. März war eben gemeint. Die Wirkungen dieser gemeinsamen Aktion von Bundesregierung und Bundesbank zeigen sich mehr und mehr am Auftragseingang und bei den Preisen von Monat zu Monat. Im Gegensatz zu den Jahren 1965/66, als die CDU/CSU für die Wirtschaftspolitik in diesem Lande noch verantwortlich war, hat die jetzige Bun-
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Bundesminister Dr. Schillerderegierung, seit sie im Amt ist, die Stabilitätspolitik der Bundesbank voll unterstützt.
Diese Bundesregierung hat dazu in erheblichem Umfang finanzielle Ausgaben zurückgestellt und Mehreinnahmen in einer Konjunkturausgleichsrücklage eingesperrt. Für die öffentliche Hand ergibt sich 1970 ein Finanzierungsüberschuß in Höhe von rund 16 Milliarden DM. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, vergleichen Sie einmal diesen Finanzierungsüberschuß von 16 Milliarden DM in diesem Jahr mit den entsprechenden Salden im letzten Zyklus; dann werden sie ermessen, wie unterschiedlich der Beitrag der öffentlichen Haushalte zur Stabilität damals war und heute ist. 1965 hatte die öffentliche Hand ein Finanzierungsdefizit — und das in einem Boom — in Höhe von 1,8 Milliarden DM und 1966. noch ein Defizit von 0,5 Milliarden DM. Demgegenüber haben wir heute einen Finanzierungsüberschuß in Höhe von 16 Milliarden DM. Das war damals, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, prozyklische Politik unter Ihrem Regime, und das war keine gute Bilanz.Wir haben also in dieser Bundesregierung für die Stabilität auch fiskalpolitisch gehandelt und haben auch die Folgen in Kauf genommen. Der unvermeidliche Zinsanstieg — es konnte nicht anders sein — hat sich auf die Kurse der Wertpaiere ausgewirkt, der Anleihen wie der Aktien. Das ist im übrigen eine weltweite Tendenz an den Börsen und keine Sonderentwicklung in Deutschland. Aber die gegenwärtige Börse ist in unserem Land — anders als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika — nicht der Ausdruck schlechter oder gedrückter Gewinn- oder Ertragsaussichten. Im Gegenteil, diese Ertrags- und Gewinnaussichten sind für absehbare Zeit gut, auf jeden Fall besser als in vielen anderen Ländern. Die gegenwärtige Börse in Deutschland ist in erster Linie die Folge der Liquiditätsverknappung, nicht der Minderung der Ertragsaussichten.
— Sind Sie denn gegen Liquiditätsverknappung und gegen Stabilitätspolitik, Herr Haase ? Na?
— Dann sind Sie also gegen die Maßnahmen der Deutschen Bundesbank oder ihre Folgen!Nun kommen wir auf die anderen Folgen. Unsere Stabilitätspolitik zahlt sich preispolitisch bereits aus. Der Preisauftrieb bei dem privaten Verbrauch ist in den letzten Monaten deutlich schwächer geworden. Der Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte, der von Dezember auf Januar um 1,2 % gestiegen ist, hat seinen Anstieg verringert. Er ist von März auf April und voraussichtlich auch von April auf Mai um 0,2 % gestiegen. Erste Meldungen über den Preisindex der Lebenshaltungskosten aus , zwei großen Bundesländern im Monat Mai, nämlich Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, bestätigen diese Aussage über die sich abflachende Preisbewegung.
Nach dem Ifo-Konjunkturinstitut erwarten immer weniger Unternehmer in Industrie und Handel steigende Preise. Auch wenn wir — ich sage das deutlich im Namen der Bundesregierung — mit dieser Entwicklung noch nicht zufrieden sind, hier zeigt sich doch: Die Wendung zum Besseren bahnt sich an.
Ich freue mich, daß Sie nachdenklich sind, Herr Dr. Stoltenberg!Sicherlich, wir alle — Sie von der Opposition und wir -von der Koalition und von der Regierung — werden täglich vor die konjunkturpolitische Gretchenfrage gestellt. Sie lautet: Reichen die Maßnahmen der Bundesregierung und der Bundesbank für die Stabilisierung des Preisniveaus aus?
— Jawohl! — Zweitens: Würden weitere Restriktionen das Wachstum und die Vollbeschäftigung gefährden? Das sind doch Teilfragen einer gesamten Gretchenfrage, die wir ernsthaft beantworten müssen.Die Opposition hat sich bisher die Antwort — wie bei dieser Opposition üblich — sehr leicht gemacht.
Von beispielhafter Substanz ist hier das SiebenPunkte-Programm der CDU vom 8. Mai, mit dem sie in den Landtagswahlkämpfen zu hausieren versucht. Steuergutscheine und freiwillige Zeichnung einer Stabilitätsanleihe, meine Damen und Herren von der Opposition, sind doch nicht geeignet, die Konjunkturprobleme dieser und der kommenden Monate in den Griff zu bekommen.
Solche Maßnahmen wie Steuergutscheine und Stabilitätsanleihe — —
Einen Augenblick, bitte, Herr Minister! — Herr Kollege Stoltenberg, dies ist eine Einbringungsrede, und da kann ich Zwischenfragen nicht zulassen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, Herr Präsident! — Steuergutscheine und Stabilitätsanleihe belasten Haushalt und Steuerzahler, ohne daß auch nur annähernd der gewünschte Effekt einer zusätzlichen Ersparnisbildung bei den privaten Haushalten erreicht würde.Der Sachverständigenrat hat in seinem Sondergutachten zu diesem Thema klipp und klar gesagt— ich zitiere —:Keinesfalls sollte ein Stabilisierungsprogrammausschließlich aus- der Emission von Steuergutscheinen oder einer Stabilisierungsanleihe be-
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Bundesminister Dr. Schillerstehen. Denn soweit solche Maßnahmen lediglich zu einer Umschichtung in der Geld- und Kapitalanlage führen, stellen sie eine zusätzliche Belastung des Kapitalmarkts dar, was gegenwärtig unerwünscht ist.Meine Damen und Herren, was die Opposition im Mai vorgeschlagen hat, ist Konjunkturpolitik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!
Wer der Meinung ist, daß zusätzliche Maßnahmen zur Stabilisierung notwendig sind, und sich dabei auch noch auf den Sachverständigenrat beruft, muß Roß und Reiter nennen.
— Wir haben es auch getan
— jawohl — und einer von Ihnen auch; es ist schade, daß er nicht hier ist.Roß und Reiter heißen bei den Sachverständigen: konsequente Anwendung des § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes. Roß und Reiter heißen bei den Sachverständigen: Steuervorauszahlungen und— noch schlimm er für Sie — außenwirtschaftliche Absicherung.
Es ist einfach unredlich, wenn die Opposition aus dem Sachverständigengutachten nur die Passagen zitiert, die ihr in den Kram passen.
Diese Bundesregierung — und nun kommen die Antworten von unserer Seite — hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß für sie das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gilt und nach wie vor in Kraft ist
und daß sie nicht zögern wird, die dort vorgesehenen Instrumente einzusetzen, wenn sie es für notwendig hält.
— Warten Sie mal! Es kommt noch mehr.
— Gehindert hat mich im vorigen Jahr allein die CDU/CSU. Aber das ging nur bis zum 28. September.
— Wir sind doch dabei; vielleicht merken Sie es nicht.Die Bundesregierung ist allerdings ebenso der Meinung, daß es in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation, die immer noch sehr unübersichtlich ist, nicht zu verantworten wäre, heute und hier die schärfsten Waffen der Konjunkturdämpfung einzusetzen.
Sie unterscheidet sich in ihrem Urteil graduell von der Auffassung der Mehrheit des Sachverständig enrats. Aber sie weiß sich in Übereinstimmung mit großen Teilen der Wirtschaft und den Gewerkschaften. Die Bundesregierung nimmt das Urteil der Sachverständigen sehr ernst.Es werden mehrere Alternativen für die Konjunkturpolitik im Sommer 1970 angeboten. Zu den verschiedenen Alternativen möchte ich erklären, daß die Bundesregierung der Meinung der Mehrheit der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, die in der Gemeinschaftsdiagnose zum Ausdruck kommt, am nächsten steht. Nun hören Sie den harten Satz, von dem ich sage: die Bundesregierung steht dieser Meinung am nächsten.In der Gemeinschaftsdiagnose, unterstützt in diesem Fall von der Mehrheit der Forschungsinstitute, heißt es wörtlich:Für den Fall, daß der Preisanstieg sich in unverminderter Stärke fortsetzt — etwa weil sich die Bundesbank aus außenwirtschaftlichen Gründen zur Aufgabe ihres Restriktionskurses gezwungen sieht —, kommen finanzpolitische, vornehmlich steuerpolitische Maßnahmen, wie sie in § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes vorgesehen sind, in Betracht.Das ist das Zitat aus der Gemeinschaftsdiagnose der Forschungsinstitute.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Dem kommen wir vom Standpunkt der Bundesregierung aus am nächsten. Sie sollten sich diesen Satz sehr genau ansehen. Sicherlich gibt es Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die von den Instituten formulierte Bedingung, nämlich Fortsetzung des Preisanstiegs, erfüllt oder in der nächsten Zeit sehr wahrscheinlich ist. Die Orientierung hierfür können uns nur die kommenden Fakten liefern, die realen ökonomischen Fakten und Fakten, die nicht an irgendwelche Termine gebunden sind. Im Augenblick ist eine Abschwächung der Konjunktur in den vor uns liegenden Wochen und Monaten nicht auszuschließen. Die jüngsten uns vorliegenden Daten des Auftragseingangs deuten ebenso darauf hin wie die neuesten Befragungen des Ifo-Instituts. Danach hat sich die konjunkturelle Lage im April weiter differenziert. Nach dem Urteil der Unternehmen ist für den Gesamtbereich der Industrie ein leichtes Nachlassen der konjunkturellen Spannung zu beobachten.Wir müssen auch abwarten und beobachten, welche Entwicklung die Weltkonjunktur nehmen wird. Wir haben im Gegensatz zu den vergangenen zwei Jahren keine synchronisierte Weltkonjunktur mehr, sondern wir haben wieder eine gespaltene Weltwirtschaftsentwicklung: rezessive Tendenzen in den
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Bundesminister Dr. SchillerUSA und anhaltende Hochkonjunktur in Europa. Mit diesen Hinweisen schließe ich natürlich die andere, erstgenannte Alternative nicht aus, daß nämlich — das bezieht sich wieder auf das Zitat — übermorgen eine veränderte Konjunkturlage in Annäherung an das Mehrheitsvotum der wirtschaftswissenschaftlichen Institute auch neue Entscheidungen von uns fordert. In der Konjunkturpolitik — ich wiederhole es — darf man niemals „nie" sagen.
Sollten also neue Daten zeigen, daß sich die Fehlentwicklungen nicht oder nicht weiter abbauen, wird die Bundesregierung erneut handeln.
Sie hat schon bisher gehandelt. Unsere Konjunkturpolitik ist und bleibt sachorientiert und rational.
-- Ich habe das doch wohl richtig gesagt. Sie haben mich nicht mißverstanden, Herr Luda? Sie sind doch auch für rationale Wirtschaftspolitik. Weder Laissez-faire —
— ja, das ist witzig; Sie haben sich genau beim richtigen Wort gemeldet — noch Übersteuerung sind angemessene Verhaltensweisen.
Dazu hängt zuviel von unserer Politik ab, für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch für viele in der Welt, für welche Stabilität in Deutschland auch im eigenen Land sehr viel bedeutet.In der Tat, meine Damen und Herren, die heutigen konjunkturpolitischen Entscheidungen sind auch von erheblicher ordnungspolitischer Bedeutung. Wir alle wissen doch, daß die heute in der Opposition stehenden Kräfte im Sommer 1969 eine rechtzeitige und konsequente Stabilitätspolitik verhindert haben. Wir wissen auch — das möchte ich jetzt betonen —, daß die heutige Opposition damals auch gegen die Marktwirtschaft gesündigt hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat nämlich durch die Nichtaufwertung damals Protektionismen und Dirigismen in anderen Ländern provoziert. Das war die Sünde gegen die Marktwirtschaft, die damals mit der Nichtaufwertung verbunden war.
Die neue Bundesregierung hat auf Vorschlag des alten wie des neuen Bundeswirtschaftsministers ihre Politik — hören Sie zu, Herr Barzel! — mit einem eminent marktwirtschaftlichen Akt begonnen und eingeleitet, nämlich mit der Aufwertung. Das haben Sie verpaßt.
Die Bundesregierung hat zusammen mit der Bundesbank diese Linie in ihrer Stabilitätspolitik fort-geführt. Ich möchte sagen: Wir werden auch die letzte Phase der konjunkturellen Anspannung mit marktwirtschaftlichen Mitteln überwinden, und diese Regierung wird damit ihren weiteren Beitrag zur Förderung der freiheitlichen Ordnung in dieser Welt leisten.
Meine Damen und Herren, die beiden Vorlagen sind eingebracht.
Ich eröffne nunmehr die Aussprache zu allen vier Unterpunkten des Tagesordnungspunktes 2. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stoltenberg für die CDU/CSU-Fraktion. Für ihn sind 45 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 17. Februar hatten wir in diesem Hause zum letztenmal bei der Erörterung des Jahreswirtschaftsberichts eine eingehende Aussprache zur Konjunkturpolitik. Seitdem sind die Sorgen um die Stabilität und die Zukunft unserer Wirtschaft in breiten Schichten unseres Volkes stark angewachsen und die Widersprüche in den amtlichen Aussagen der Regierung immer größer geworden. Wir freuen uns, daß Bundesminister Professor Dr. Schiller heute, offenbar gesund und gut erholt, unter uns sein und an dieser Debatte teilnehmen kann. Es ist uns lieber, mit ihm die Meinungen auszutauschen und in seiner Gegenwart die deutliche Kritik anzubringen, die auch seine heutige Rede herausfordert, als dies ohne ihn zu tun.Was wir hier soeben von Herrn Kollegen Schiller gehört haben, war das Bild einer schöneren und offenbar anderen Welt als der, in der die meisten Bürger dieses Landes leben,
einer anderen Welt als der, von der die Sachverständigen, die Sparkassen, die Bundesbank, die wissenschaftlichen Institute in ihren besorgten und kritischen Analysen der letzten Wochen gesprochen haben. Ich will nur eine Äußerung von gestern abend aus einer öffentlichen Rede des Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, Herrn Emminger, als Kontrast zu dieser Idylle vor der Landtagswahl, die Herr Schiller gezeichnet hat, hier zitieren. Herr Emminger hat gestern abend gesagt, die Gefahren für unsere Wirtschaft seien seit 1950 niemals so groß gewesen wie heute.
Aber nicht nur die Bewertung der Konjunkturlage durch die Regierung vom 17. Februar wurde durch die Entwicklung widerlegt, auch die Versprechungen des Bundeskanzlers blieben unerfüllt. Herr Brandt hat in jener Debatte im wesentlichen drei Zusicherungen gegeben. Erstens. Die Bundesregierung nehme das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz sehr ernst; sie stehe hinter den entsprechenden Aussagen und Ankündigungen von Professor Schiller. Ich zitiere den Bundeskanzler:
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Dr. Stoltenberg„Den Hinweis des Wirtschaftsministers, das darf ich noch einmal sagen, auf § 26 hat jeder verstanden."Zweitens. Der Haushalt trage der angespannten Konjunktursituation Rechnung. Drittens. Die Bundesregierung besitze ein Konjunkturprogramm.Jeder dieser drei Punkte des Bundeskanzlers ist durch das Verhalten der Regierung und die Entwicklung bis zum heutigen Tage eindeutig widerlegt worden.
Unmittelbar nach der Versicherung des Bundeskanzlers, er stehe hinter den Aussagen seines Wirtschaftsministers zur Anwendung des Stabilitätsgesetzes, wurde Professor Schiller in einer dramatischen öffentlichen Kontroverse in genau diesem Punkte von seinem Regierungschef seiner eigenen Partei im Stich gelassen und desavouiert.
Wir glauben, daß der Wirtschaftsminister dem deutschen Volke vor und nach der Bundestagswahl mehr versprochen hat, als er halten konnte.
Heute sind er und andere mit ihm etwas vorsichtiger geworden, was die Möglichkeiten absolut zuverlässiger Prognosen, wissenschaftlich exakter Globalsteuerung und auch die sichtbaren Wirkungen einer Wechselkursänderung betrifft.Wir halten es auch nach wie vor für einen verhängnisvollen Fehler, daß Professor Schiller die) Aufwertung ohne ein ergänzendes binnenwirtschaftliches Programm beschließen ließ und daß er einer stabilitätswidrigen Finanzpolitik mit den leichtfertigen Versprechungen von Steuersenkungen zum 1. Januar 1970 zustimmte.
Der Sachverständigenrat, der ja lange vor Ihnen, Herr Professor Schiller, für eine Aufwertung der deutschen Mark eintrat, stellt jetzt in seinem MaiGutachten fest, daß sie — ich zitiere — „weitgehend nur ein Ersatz für den Wegfall des Absicherungsgesetzes vom November 1968" war und ihre Hauptwirkungen deshalb schon im Jahre 1969 lagen. So wird die heute wieder von Ihnen ohne Beweis aufgestellte Behauptung widerlegt, daß ohne diese Entscheidung die Preisbewegung des Jahres 1970 noch viel ungünstiger verlaufen wäre als bei der vorher gegebenen Rechtslage oder daß ihre Vertagung von Mai auf Oktober 1969 die Ursache für die Schwierigkeiten der Gegenwart bilde. Sie müssen sich, glaube ich, schon in einer rationalen Politik, die Sie für sich hier in Anspruch genommen hatten, mit derartigen ernsten Einwänden der Sachverständigen und Forschungsinstitute auseinandersetzen
und können nicht weiterhin in apodiktischer Unfehlbarkeit alte Aussagen wiederholen, die Ihre eigenen Verbündeten in der Frage der Aufwertung preisgegeben haben.
Aber wir erkennen an, daß Professor Schiller in den letzten Februartagen dieses Jahres — unmittelbar nach der letzten großen Debatte hier — auf Grund damals besserer Einsichten mit großem Nachdruck für eine aktive Stabilitätspolitik gekämpft hat. Er hat damals nicht nur öffentlich hier in Bonn von „bevorstehenden Entscheidungsschlachten" gesprochen mit historischen Vergleichen von Jena bis Skagerrak, über deren Aussagewert für die Wirtschaftspolitik man geteilter Meinung sein kann, die aber vielleicht etwas über die innere Lage seiner Partei aussagen,
sondern er hat auch offen auf die schweren Gefahren — ich zitiere ihn — des „süßen Giftes einer schleichenden Inflation" in dieser Lage, einer weiteren Untätigkeit der Regierung und einer einseitigen, nur von der Bundesbank zu tragenden Steuerung durch den Diskont hingewiesen. Das, Herr Kollege Schiller, waren goldene Worte, von denen wir freilich heute in einer doch stark auf die Landtagswahlen abzielenden Rede nichts mehr gehört haben, ebensowenig wie in der Ergänzung zum Jahreswirtschaftsbericht.
Wir meinen, daß die Lagebeurteilung und Ihre Prioritäten vom 1. März richtig waren. Sie müßten uns schon überzeugender begründen, als das eben geschah, warum Sie jetzt ganz anders sprechen, wenn dialektische Gewandtheit nicht nur als eine Bemäntelung jener schweren Niederlage in den eigenen Reihen erscheinen soll.
Diese Regierung und seine eigene Partei ließen ihn schmählich im Stich. Der Kollege Schiller schätzte offenbar den Wert von feierlichen Zusagen des Bundeskanzlers zu hoch ein.
Vielleicht hat er sich gelegentlich mit einiger Bitterkeit an seine Aussage aus den ersten für ihn schöneren Wochen nach der Bundestagswahl erinnert: „Das Stabilitätsgesetz hat sich eine neue Regierung gesucht." Nun, bei dieser Regierung ist es zu einem armen politischen Waisenkind geworden, für das nicht einmal der gesetzliche Mindestunterhalt gesichert ist.
Die zweite Aussage des Bundeskanzlers vom 17. Februar, es gebe eine konjunkturgerechte Finanzpolitik, wird ihm heute außerhalb der SPD und von Teilen der FDP von niemandem in Deutschland mehr abgenommen.
Der recht unzulängliche Versuch, hier wieder so etwas aufzubauen und zu begründen, ist meines Erachtens gescheitert. Herr Kollege Ollesch, das von der Regierung in ihren Vorlagen für diese Debatte errechnete Wachstum der Bundesausgaben in Höhe
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2840 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Dr. Stoltenbergvon 8,3 % im ersten Quartal 1970 liegt nicht nur in der Ziffer zu hoch, sondern verschleiert zusätzlich noch die Tatsache, daß im Dezember 1969 über 3 Milliarden DM mehr ausgegeben wurden, als es bei einem gleichmäßigen Wachstum gegenüber den Vorjahren angemessen war.
Diese Beträge werden selbstverständlich im ersten Halbjahr 1970 konjunkturwirksam — zusammen mit den extremen Steigerungsraten von 12 % im März und 20 % im April. Auch nach Abzug der international wirksamen Leistungen beträgt die Steigerungsrate für April immer noch 14 %.Gegenüber den Beschönigungen der Bundesregierung und des Kollegen Schiller von heute morgen stellte der Sachverständigenrat am 9. Mai lapidar fest — ich zitiere —: Die vorläufigen Ausgabenkürzungen" — von Bund und Ländern — „betrafen allerdings ein Haushaltsvolumen, das den Ansätzen nach nicht einmal als konjunkturneutral gelten durfte." Angesichts dieses klaren Votums — die sehr scharfe, vernichtende Analyse ist ja einstimmig abgegeben worden; erst im Hinblick auf die Folgerungen gibt es eine Minderheitenäußerung — werden die erneuten Beschönigungen und das Selbstlob aus dem Regierungslager zur bloßen Dekoration einer gescheiterten Stabilitätspolitik.
Dafür, wie weit die Widersprüche gehen, finden wir auch in dem heute zur Beratung anstehenden Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht noch ein recht aufschlußreiches Beispiel. Es heißt in dieser Vorlage auf Seite 7:Zusätzliche Steuereinnahmen werden über die obligatorische Konjunkturausgleichsrücklage hinaus einer freiwilligen Konjunkturausgleichsrücklage zugeführt.Offensichtlich hat man nach der Beschlußfassung des Kabinetts über den Nachtrag vergessen, diesen Passus im Entwurf zu ändern oder zu streichen; denn das Kabinett hat nach übereinstimmenden Berichten führender deutscher Zeitungen den Vorschlag des Finanzministers nicht übernommen, weitere Ausgabenkürzungen zu beschließen, ohne die eine Finanzierung der obligatorischen Konjunkturausgleichsrücklage aus den planmäßigen Einnahmen nicht gesichert ist. Deshalb müssen die erwarteten überplanmäßigen Mehreinnahmen des Bundes in Höhe von 1,6 Milliarden DM zum allergrößten Teil, nämlich in Höhe von 1,5 Milliarden DM, zur Finanzierung dieser obligatorischen Rücklage herangezogen werden. Für eine freiwillige Rücklage bleibt infolgedessen so gut wie nichts übrig.Wir haben in den Ausschüssen für eine weitergehende Lösung votiert. Aber die Regierungsmehrheit hat sie auch diesmal abgelehnt, genauso wie die mehr als 80 Einzelanträge der CDU/CSU auf zusätzliche Einsparungen, die im Haushaltsausschuß gestellt worden sind.Die heute von dem Kollegen Schiller neu und auch besonders betont in die Debatte eingeführten hohen Zahlen eines angeblichen Finanzierungsüberschusses halten einer kritischen Betrachtung ebenfalls nicht stand. Auch in der Antwort der Bundesregierung wird auf Seite 7 eingeräumt, daß in der konjunkturpolitisch richtigen Abgrenzung nach dem Haushaltsplan und dem Kassenprinzip die Gebietskörperschaften im Jahre 1970 keinen Nettofinanzierungsüberschuß haben dürften. Herr Kollege Schiller, es bleiben also nur die Überschüsse für die Sozialversicherung; nach einem etwas anderen Berechnungsprinzip machen sie 7 bis 8 Milliarden DM aus. Die Bundesregierung hat es jedoch versäumt, sicherzustellen, daß diese Mittel tatsächlich durch Stillegung bei der Bundesbank dem Geldkreislauf entzogen werden, und damit bleibt von den konjunkturpolitischen Wirkungen eines Finanzierungsüberschusses praktisch nichts mehr übrig.Meine Damen und Herren, die dritte Behauptung des Bundeskanzlers vom 17. Februar, es gebe ein Konjunkturprogramm der Regierung, war und ist — gelinde gesagt — eine Übertreibung.
Niemand hat es außerhalb der Pflichtverteidiger dieser Koalition bis heute so recht entdecken können, jedenfalls nicht, was den anspruchsvollen Ausdruck „Konjunkturprogramm" verdient. Alle unabhängigen Instanzen, von der Bundesbank über die Sparkassen, den Forschungsinstituten bis zu den Sachverständigen, haben Ihnen doch, Herr Kollege Schiller, in den letzten Monaten in unmißverständlicher Deutlichkeit das Prädikat „Völlig ungenügend" ausgestellt.
Denn mit der Brüskierung des Wirtschaftsministers vom 1. März wurde die Last der Stabilisierung ganz allein der Bundesbank übertragen. Aber das ist doch gerade der entscheidende Vorwurf, den Sie, meine Damen und Herren von der SPD, mit vielen anderen in Deutschland der damaligen CDU/FDP-Koalition im Jahre 1966 gemacht haben, und alle haben in der Tat bei den abschließenden Beratungen des Stabilitätsgesetzes im Jahre 1967 feierlich versichert, daß wir nach den Erfahrungen, die wir seitdem gewannen, und mit den neuen Mitteln, die wir uns schufen, die wir 1966 noch nicht besaßen, in Zukunft rechtzeitig handeln würden. Seit nunmehr drei Monaten trägt aber die Bundesbank die Bürde allein, mit wachsenden Sorgen, wie auch die eindringlichen Ausführungen ihres Vizepräsidenten bei der Kabinettssitzung am 21. Mai nur zu deutlich gemacht haben.
Daß der Bundeskanzler im übrigen die Beratung des alarmierenden Berichts der Sachverständigen vom 9. Mai, der Ergänzung zum Jahreswirtschaftsbericht und der Vorschläge des Finanz- und des Wirtschaftsministers ausgerechnet auf den Tag seiner Kasseler Begegnung mit Stoph ansetzte, demonstriert in erschreckender Weise, welchen geringen Stellenwert die Wirtschafts- und Stabilitätspolitik für den gegenwärtigen Regierungschef trotz aller verbalen Beteuerungen in Wahrheit hat.
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Dr. StoltenbergStaatssekretär Arndt sagte vor acht Wochen in einem Interview offen, daß diese Regierung bei ihrem starken ostpolitischen Engagement keine inneren Belastungen durch möglicherweise unpopuläre Handlungen wünsche und deshalb die Parole „Ruhe an der Heimatfront" vertrete.
Diese „Ruhe an der Heimatfront" scheint mir in der Tat die Philosophie zu sein, die Sie hier anwenden, eine Vokabel, die ein wenig an eine Formulierung aus dem 19. Jahrhundert erinnert: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Aber das ist mit den großen Ankündigungen von Dynamik, von Aktion und Verantwortung nicht mehr vereinbar.
der die Wiedergewinnung eines verlorenen Gleichgewichts nicht durch Handeln, sondern durch tatenloses Abwarten des Staates in Aussicht stellte.
Stabilität und Vollbeschäftigung sind miteinander zu vereinbaren. Wir verteidigen in diesem Punkte ausdrücklich den Karl Schiller des Jahres 1967 gegen den Willy Brandt des Jahres 1970,
und ich füge nach Ihrer heutigen Rede hinzu: wir verteidigen auch den Karl Schiller vom 1. März gegen den Karl Schiller des 3. Juni.
Sie sind, so muß man betonen, allerdings nie- vorgegebene garantierte Größen. Neben einer glaubwürdigen Regierung bedarf es des Stabilitätswillens der autonomen Sozialpartner und Gruppen in ihren Entscheidungen. Bei uns gibt es aber seit Monaten keine wirksame konzertierte Aktion mehr in diesem notwendigen Dialog von Regierung, Unternehmern und Gewerkschaftlern. Die Preis- und Lohnbewegung ist außer Kontrolle geraten. So droht von den um 6,5 % gestiegenen industriellen Erzeugerpreisen und den jüngsten extremen Kostenentwicklungen in der Energie-, Verkehrs- und Bauwirtschaft im Spätsommer und Herbst eine neue starke Steigerung ,der Lebenshaltungskosten.
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2842 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Dr. StoltenbergDie neuen optimistischen Darstellungen der Bundesregierung über die Preisberuhigung, die wir heute hörten, werden sich genauso als falsch erweisen wie die Fehlprognosen der Kollegen Schiller und Möller vom Dezember und Januar, die wir doch noch alle im Ohr haben. Damals hieß es:
„Der Preisauftrieb ist bereits gebrochen", „Wir haben die Entwicklung voll unter Kontrolle", „Es gibt eine antizyklische Finanzpolitik, die in Kürze wirksam werden wird" und anderes mehr. Es hat keinen Sinn, Herr Kollege Schiller, ständig geringfügig variierende Monatsindizes überzuinterpretieren und sie als Alibi für die eigenen Versäumnisse zu benutzen.
Im Gegensatz zum Bundeswirtschaftsminister und in Übereinstimmung mit der Bundesbank erblicken wir in den jüngsten Zahlen für April, soweit sie vorliegen, vor allem in den bereinigten Daten kein Anzeichen für eine Konjunkturwende, auch wenn sich zweifellos zunehmend starke Differenzierungen ergeben. Und Ihnen wird ja heute in einer sehr scharfen Kritik auch in führenden deutschen Wirtschaftszeitungen bescheinigt, daß die Art, wie Sie diese Statistiken gestern noch schnell interpretiert haben, unter die Überschrift „Rechentricks" gehört.
Vor allem die Baupreise steigen in erschreckender Weise weiter an. Von den zunächst festgestellten 16 % gegenüber dem Vorjahr nähern sie sich jetzt weithin 25 %, in manchen Ballungsgebieten sogar den 30 %, und es gehört schon der Mut der Verwegenen dazu, solche Gefahren zu ignorieren und in idyllischen Wendungen von einer Beruhigung des Preisauftriebs zu sprechen.
Man muß, glaube ich, auch die heute vom Herrn Kollegen Schiller aufgenommene Beurteilung etwas genauer untersuchen, die gegenwärtige Lage sei keineswegs mit der des Jahres 1966 vergleichbar. Sicherlich gibt es einige neue positive Merkmale, auf die man hinweisen kann. Aber Professor Köhler hat in seinem gerade von Ihnen ja oft zitierten Minderheitenvotum ausdrücklich auf die größer gewordene Gefahr extremer zyklischer Ausschläge hingewiesen, und noch mehr Sorge bereitet vielen Kundigen in Deutschland, daß die Lage der Weltwirtschaft, von der wir so stark abhängig sind, ungünstiger und risikoreicher ist als damals. Auch das gehört zu einer ungeschminkten Bilanz und zu ungeschminkten Vergleichen.
Deshalb muß die Regierung endlich durch überzeugende Handlungen wieder ein glaubwürdiger konjunkturpolitischer Partner der Unternehmen und Gewerkschaftler werden und ihnen verdeutlichen, daß die gegenwärtigen Steigerungsraten in der Lohnpolitik und in der Preispolitik zu jenem „sich selbst nährenden inflatorischen Prozeß" beitragen, vor dem die Sachverständigen so eindringlich gewarnt haben,Gegenwärtig fördert der Regierungschef in seinen öffentlichen Reden jedoch eine Mentalität, bei der bereits in Verhandlungen, in Verträgen und Dispositionen von vornherein ein Inflationszuschlag von zunächst 4 % einkalkuliert wird. Das ist der Anfang einer möglicherweise schrecklichen Stufenfolge, wenn nicht endlich gehandelt wird. Wir, meine Damen und Herren, wehren uns deshalb mit Nachdruck gegen die böse Unterstellung des Bundeskanzlers, die er in seinen Wahlreden immer wieder ausspricht: daß sich unsere Forderungen nach mehr Stabilität gegen die Vollbeschäftigung und die Sicherheit der Arbeitsplätze richte.
Das Gegenteil ist der Fall, wie die Aussagen der Sachverständigen und anderer klargemacht haben. Dieses Kabinett ist im Begriff, als eine Regierung der einkalkulierten Inflation in die deutsche Wirtschaftsgeschichte einzugehen.
In einer Gesellschaft mündiger Bürger und Gruppen gibt es Selbst- und Mitverantwortung. Wenn autonome Gruppen ihre Forderungen ohne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftlichen Folgen durchsetzen wollen, übernehmen sie ein Risiko. Das kann und soll ihnen eine Regierung nicht in vollem Umfang abnehmen, weder den Unternehmern noch den Gewerkschaften. Zu einem Zeitpunkt jedoch, in dem wir 1,7 Millionen ausländischer Arbeiter im Lande und viele Hunderttausend offener Stellen haben, ist ein deutliches Mehr an Stabilität geboten und ohne Gefährdung unserer Arbeitsplätze möglich!
Wie wenig der Bundeskanzler selber im Grunde seines Herzens an diese von ihm dargestellte Scheinalternative glaubt, hat er am 1. Mai in einer Fernsehdiskussion deutlich gemacht. Er sagte damals auf drängende Fragen hin, wenn die Lebenshaltungskosten über 4 % stiegen, dann sei auch er für weitere stabilisierende Maßnahmen.
Er will damit aber doch sicher nicht selbst die Arbeitsplätze bedrohen und sollte es deshalb auch uns nicht unterstellen, wenn wir bereits eine Inflationsrate von 3,8 % für bedrohlich genug halten, um entschiedeneres Handeln von ihm zu verlangen.
Das gegenwärtige Verhalten der Bundesregierung führt zu besonders schweren Härten. Wir müssen hier auf die vielen Millionen Sozialrentner verweisen, die vom 1. Januar 1971 an eine Steigerung ihrer Bezüge um 5,5 % zu erwarten haben; bei einem Geldwertverlust, einem Substanzverlust in diesem Jahr von 4 %, oder vielleicht schon mehr, das weitaus schlechteste Ergebnis für sie seit der Rentenreform von 1957!
Ähnlich bedrückend ist in der Tat die Bilanz für andere schwache Gruppen, denen doch die beson-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2843
Dr. Stoltenbergdere Fürsorge dieser Regierung gelten sollte, die Kinderreichen, die Lastenausgleichsempfänger und auch viele Menschen aus dem kleinen selbständigen Mittelstand, die nicht in der Lage sind, Zuschläge oder einen Zuwachs zu ihrem Einkommen von 8, 10 oder 12 % zu erzielen. Bei ihnen addieren sich teilweise noch die Wirkungen der Geldentwertung mit den einseitigen Härten der Diskontpolitik,
über deren Folgen der SPD-Pressedienst schon am 9. März in schonungsloser Offenheit schrieb:Eine unmittelbare Beruhigung ist von dieser Entscheidung nicht zu erwarten, eher das Gegenteil. Damit fällt auch das Argument und die billige Entschuldigung, die Maßnahmen des Stabilitätsgesetzes zur gezielten Beschränkung der Nachfrage in spezifischen Überhitzungsbereichen kämen in dieser Konjunkturphase zu spät.Immerhin wären, so meint dieser Artikel des SPD-Pressedienstes, die Schuldigen getroffen worden.Jetzt trifft es zuerst ihre Opfer, z. B. private kleine Bausparer. Das heißt, die Wirtschaftspolitik kann durch diesen Beschluß nicht einfach suspendiert werden.
Das gilt heute genauso wie im März, als es geschrieben wurde.
Niemand kann übersehen, wie das gegenwärtige Verhalten der Regierung zu einem wachsenden Vertrauensverlust in unserem Lande führt, und ich fürchte — ich sage das ganz offen, Herr Kollege Schiller —, daß die leichte Art, mit der Sie diese Fragen heute behandelt haben, nicht geeignet ist, dieses Vertrauen wieder zu stabilisieren,
nicht nur, weil es im Widerspruch zu Ihrer Rede vor dem Deutschen Industrie- und Handelstag vom 27. Februar steht, zu den Thesen von damals, einer schonungslosen Beurteilung der gegebenen Lage, sondern weil die Menschen in allen Parteien und die Wähler aller Parteien Gott sei Dank etwas kritischer geworden sind und etwas mehr von uns an ernster Auseinandersetzung mit ihren Fragen verlangen, als das heute morgen hier geboten wurde.
Die Entwicklung der Spareinlagen, der Börsen, bestimmte Kapitalbewegungen zeigen dies ebenso wie das Verhalten der autonomen Gruppen und der Verbraucher. Man kann ja auch nicht, Herr Kollege Schiller, einmal, wie Sie es in den ersten Tagen dieses Jahres getan haben, die gute Verfassung der Börse als ein Vertrauensindiz für diese Regierung bezeichnen und dann, wie Sie es heute tun, nachdem die Kurse um 30 % gefallen sind, so tun, als ob das mit dieser Regierung überhaupt nichts zu tun hätte und nur die Auslandswirkungen hier wirksam wären.
Jeder weiß, daß die damalige Aussage so einseitig war wie die heutige. Es gibt verschiedene Faktoren, die zusammenwirken, natürlich u. a. internationale, aber daß auch ein Element tiefen Zweifels an dieser Regierung, an ihrer Handlungsfähigkeit und ihrem Stabilitätswillen sich in der Verfassung der Börsen widerspiegelt, das weiß doch ein jeder.
Angesichts dieses gefährlichen Erosionsprozesses vergrößern die führenden Politiker der Sozialdemokraten noch die Unsicherheit über den künftigen Kurs ausgerechnet jetzt durch widerspruchsvolle Aussagen zu Kernfragen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Jungsozialisten haben in Saarbrücken den Kurs ihrer Partei doch schon ein ganzes Stück nach links lenken können. Wir sehen dies im einzelnen an bestimmten Beschlüssen des SPD-Parteitages und an den Aussagen der führenden Männer. So wurde auf Grund einer Vorlage des Parteivorstandes dort ein öffentlich kontrollierter Zentralfonds gefordert, ,der aus Gewinnabgaben der Unternehmen finanziert werden soll. In diesem Fonds erblicken die Initiatoren, wie etwa der hessische Wirtschaftsminister Rudi Arndt klar gesagt hat, ein Instrument der direkten Wirtschaftssteuerung, der Unternehmensplanung und der Vermögensumverteilung.
Vor einem Jahr noch, im Mai 1969, bezeichnete der SPD-Vorsitzende Brandt bei dem vorhergehenden Parteitag, wie man in Protokollen nachlesen kann, einen inhaltlich Bleichlautenden Antrag, damals von Hessen-Süd eingebracht, als „unannehmbar" für ihn.
Er bestand darauf — etwas ungewöhnlich im Verfahren —, daß eine Abstimmung wiederholt wurde, bei der sich zunächst eine Mehrheit für diese Vorlage ergeben hatte, unter Berufung auf den dringenden Rat der Kollegen Schiller und Möller.
Weshalb war denn im Mai 1969 unannehmbar und mit den Grundsätzen des Godesberger Programms und der Marktwirtschaft unvereinbar, was im Jahre 1970 mit der Unterschrift des gleichen Willy Brandt eingebracht und als offizielles Dokument sozialdemokratischer Politik beschlossen wurde?
Darauf möchten nicht nur wir, sondern viele Millionen Menschen in unserem Lande mit uns eine Antwort, weil wir in der Tat nicht mehr wissen, wohin die Reise in der SPD und der von ihr geführten Regierung gehen soll in der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik ebenso wie in der Außenpolitik, weil wir nicht mehr wissen, wie lange die starken Worte des Regierungschefs gelten und wann sie aufgehoben werden.
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2844 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Dr. StoltenbergÄhnlich fundamentale Widersprüche finden wir auch beim Bundesfinanzminister, nur in einem noch wesentlich kürzeren Zeitraum.
Er hat das bemerkenswerte Kunststück fertiggebracht, sich in der zentralen Frage der Steuerlastquote in wenigen Tagen mehrfach grundlegend zu widersprechen. Weil das ein ziemlich harter Vorwurf ist, möchte ich es mit seinen eigenen Zitaten belegen. Am 12. Mai erklärte er in Saarbrücken — ich zitiere —:Ich bin der Überzeugung, daß für die nächsten Jahre unser finanzwirtschaftlicher Spielraum im öffentlichen Gesamthaushalt ausreichen wird, um mit den längst überfälligen notwendigen Reformen zu beginnen.Und er bekräftigt im Anschluß daran noch einmal ganz nachdrücklich den Satz der Regierungserklärung, daß die Steuerlastquote nicht erhöht werden solle. In der folgenden Diskussion äußerte er sich dann unter dem Einfluß der Linken seiner Partei, die natürlich das Gegenteil verlangten, ganz anders. Ich zitiere Herrn Kollegen Möller nach dem Protokoll:Der Genosse Nölling hat darauf hingewiesen, daß wir uns bei der Steuerreform nicht an die jetzige Steuerlastquote binden können. Dieser Forderung widerspreche ich in keiner Weise.
Nachdem dieses Hin und Her ziemlich viel Unruhe erzeugt hatte, kehrte Alex Möller vor dem gemäßigteren und — Sie entschuldigen die Bemerkung — vielleicht auch etwas sachkundigeren Forum des Deutschen Steuerkongresses am 26. Mai wieder zu den alten, bewährten Grundsätzen zurück.
Er stellte sich vorbehaltlos hinter die Aussagen seines Staatssekretärs Emde, der dort ganz entschieden gegen alle Pläne Stellung genommen hatte, die für eine Erhöhung der Steuerlastquote diskutiert werden. Ich zitiere wieder den Kollegen Möller:Ich habe Herrn Emde sein Manuskript zurückgegeben mit dem Hinweis, daß ich den Beitrag für ausgezeichnet halte und ihn in jeder Passage voll verstehe und decke.
Meine Damen und Herren, Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn das Ansehen und die Glaubwürdigkeit dieser Regierung bei solchen Widersprüchen in Kardinalfragen Ihrer künftigen Politik schwindet.
Die Vertreter der marktwirtschaftlichen Konzeption in der SPD, die Kollegen Schiller und Möller, sind aus dem Zentrum der Machtstruktur und Meinungsbildung ihrer Partei offensichtlich an den Randgerückt. Sonst würden sie ja nicht so hin- und her-gestoßen, wie das mit Herrn Schiller im Februar und mit Herrn Möller jetzt im Mai geschah.
Die linkssozialistischen Vorstellungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gewinnen ständig an Boden und machen den künftigen Kurs immer unkalkulierbarer.
Meine Damen und Herren, die Regierung trägt eine besondere Verantwortung nach dem Stabilitätsgesetz. Wir haben hier mehrfach konkrete Vor- schläge für ein wirkungsvolleres Handeln gemacht und unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit ausgesprochen. Ich wies bereits auf unsere Anträge für Haushaltskürzungen hin, die von der Mehrheit abgelehnt wurden. Darüber wird heute nachmittag und in den nächsten Tagen zu sprechen sein. Wir haben bis heute auch keine Antwort auf unseren Vorschlag vom April, alle noch nicht verabschiedeten ausgabewirksamen Gesetzentwürfe der Koalition und der Opposition in ihren Finanzbestimmungen auf das Jahr 1971 zu vertagen.
Wir treten eindeutig für eine Verschiebung der Steuersenkungen auf das nächste Jahr ein
und halten auch die jüngsten Veränderungen in den Plänen der Regierung für nicht ganz überzeugend. Bund und Länder müssen im Finanzplanungsrat eine weitergehende Konjunkturausgleichsrücklage vereinbaren, was natürlich entsprechende Beschlüsse der Regierung für das eigene Handeln voraussetzt. Nur so wird es möglich sein, auch die Investitionen der großen Kommunen konjunkturpolitisch stärker abzustimmen.Die Regierung hat auf dieses Problem der Gemeinden in ihrer Ergänzung zum Jahreswirtschaftsbericht hingewiesen, ohne aber konkrete Vorschläge zu machen. Fraglos werden wir in Ruhe und Sorg, fait zu prüfen haben, ob § 19 des Stabilitätsgesetzes zur Sicherung eines gleichmäßigeren Verhaltens aller öffentlichen Hände einer Erweiterung bedarf, ebenso wie § 26 unter dem Vorzeichen einer möglichen Verfeinerung des Instrumentariums zu erörtern sein wird. In diesem letzten Punkt sind wir uns mit dem Bundesfinanzminister einig, der dies gewünscht hat. Aber dies ist doch keine Entlastung für die Untätigkeit der Regierung hier und heute, den mangelnden Willen, die jetzt gegebenen Möglichkeiten zu nut- zen.
Wir haben uns, Herr Kollege Schiller, in Übereinstimmung mit einem der Punkte des Sachverständigenrates und der Forschungsinstitute ferner für eine freiwillige Verminderung der Nachfrage durch attraktiv ausgestattete Steuergutscheine ausgeprochen. Der Sachverständigenrat hat eine positivere Meinung von diesem Vorschlag als Sie, denn er hat ihn auf Seite 9 seines Katalogs ausdrücklich aufgenommen und nur gesagt, daß er nicht allein aus-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2845
Dr. Stoltenbergreiche. Aber deshalb haben wir in der Frage der Steuern, der Ausgaben und der Konjunkturausgleichsrücklage weitere Vorschläge gemacht, die erheblich über das hinausgehen, was Sie für richtig halten. Deshalb ist es schon eigentümlich, wenn Sie, wie auch andere Sprecher. der Bundesregierung, diese Vorschläge wegen möglicher Umschichtungen als wirkungslos bezeichnen und die Regierung zugleich ihre problematische Bildungsanleihe, bei der diese Gefahren der Umschichtung viel größer sind, als Beitrag zur Stabilisierung anpreisen will.
Auf der Grundlage glaubwürdiger Handlungen der Regierung muß es dann wieder zu einer konzertierten Aktion kommen, die wir heute eben nicht haben, um die volkswirtschaftlichen Eckdaten als Basis einer stabilitätsgerechten Einkommens- und Preispolitik konkreter zu bestimmen.Selbstverständlich sollten diese Vorschläge der CDU/CSU im einzelnen diskutiert und gegebenenfalls ergänzt werden. Nur kann die Regierung, Herr Kollege Schiller, nicht zunächst behaupten, wir hätten überhaupt nichts zu bieten, wir hätten kein wirksames Stabilitätskonzept, und dann anschließend erklären, unsere Forderungen und Vorstellungen bedrohten die Vollbeschäftigung. Daß Sie die Logik Ihrer Aussage in diesem Bereich vielleicht etwas überprüfen, gehört auch zu den Erfordernissen einer rationalen Politik, 'die Sie für sich in Anspruch nehmen.
Wir haben deutlich gemacht, und ich bekräftige dies noch einmal, daß wir auch andere und weitergehende Vorschläge der Regierung aufgeschlossen prüfen werden, sobald wir sie kennen und sobald ihre Begründung mit den Daten vorliegt.Täuschen wir uns nicht, das berechtigte Drängen der Bundesbank wird mit ihren zunehmenden Sorgen stärker und nicht schwächer. Die gestrige Äußerung von Herrn Emminger war hier wohl ein Signal, das niemand in diesem Lande überhört hat.
Sie kann die Last in der Tat nicht mehr lange allein tragen, ohne schwere Strukturschäden für die schwächeren Sektoren und Gruppen, möglicherweise auch ohne zunehmende außenwirtschaftliche Probleme. Daß Sie, Herr Kollege Schiller, gerade heute, da durch die undifferenzierte Diskontpolitik die Strukturschäden in den schwachen Gebieten von Monat zu Monat stärker werden,
die hervorragende Strukturpolitik in der Bundesregierung gelobt haben, das scheint mir doch eine weite Entfernung von der Wirklichkeit zu sein.
Deshalb brauchen wir, Herr Kollege Schiller, eine „Symmetrie der Stabilitätspolitik" — ich habe auch einmal versucht, wortschöpferisch zu sein und insofern einen Ihrer Begriffe aufgenommen -, ein enges Zusammenwirken von Bundesbank und Bundesregierung, das es nach den völlig richtigen Feststellungen der Sachverständigen und der Bundesbank heute nicht gibt. Ich bewundere Ihren Mut, das Gegenteil zu sagen, hier von einem engen, vertrauensvollen Zusammenwirken vor dem deutschen Volk zu sprechen, nachdem Herr Emminger im Kabinett genau das Konträre gesagt hat und die Sachverständigen Ihnen das Gegenteil bescheinigt haben.
Nur die Entlastung der Bundesbank aus einer immer schwierigeren Lage kann sie in der Diskontpolitik wieder handlungsfähig machen und zu einem gleichmäßigen Bremsen ohne extreme Ausschläge in den Mitteln und in den Wirkungen führen.Meine Damen und Herren, einer der führenden Sprecher der amerikanischen Linken, der bedeutende Nationalökonom Galbraith, hat zu diesen Fragen der Stabilität und Inflation und der Verantwortung einer modernen Regierung folgendes gesagt:Eine Entscheidung zum Nichtstun ist untragbar. Überlegen wir einmal gründlich, welcher Art die Inflation ist, über die wir hier reden: Sie wird angeführt von den Preisen der größten und mächtigsten Firmen. Die Lohnforderungen der größten und mächtigsten Gewerkschaftsverbände dienen als Schrittmacher. Wer nachhinkt, sind die schwächeren Firmen und Verbände, ebenso die Staatsbeamten, die Lehrer, die unorganisierten Arbeiter, schließlich die Rentner und die Alten. Wer eine Inflation modernen Stils gutheißt, billigt damit eine Politik, die den Größten und Stärksten das meiste und den Kleinsten und Schwächsten das wenigste gibt.
Aber
— so fährt Galbraith fort —das ist noch nicht alles, was gegen diese Inflation spricht. Sie täuscht das Vertrauen der Sparer. Sie schadet den öffentlichen Diensten. Sie belohnt nicht die Begabtesten, sondern die begabtesten Geldverdiener.
Meine Damen und Herren, im Spiegel solcher Urteile und Gefahren sollten Sie hier und heute endlich den Mut haben, die Lage ohne Beschönigung darzustellen, ein Programm vorzulegen und zu vertreten, das wir von dieser Regierung für unser Land dringend brauchen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lenders. Für ihn sind 40 Minuten Redezeit beantragt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich im Namen der SPD-Fraktion die Vorlage des Nachtrags zum Jahreswirtschaftsbericht begrüßen. Die Bundesregierung hat die ursprüngliche Jih-
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2846 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Lendersresprojektion auf der Basis veränderter Daten korrigiert, ihre Politik der Konjunkturstabilisierung bestätigt und ihre Entscheidungen in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation noch einmal begründet. Dieser Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht stellt angesichts der vor uns ausgebreiteten und sicher nicht nur freundlichen konjunkturpolitischen Fakten die Offenheit und die politische Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung unter Beweis. Gleichzeitig ist dieser Bericht Ausdruck der Stetigkeit und des Maßes der Wirtschaftspolitik dieser Regierung und damit klärend für die gegenwärtige öffentliche Diskussion.Meine Damen und Herren, ich muß das mit aller Deutlichkeit hier sagen: unverständlich ist uns die Haltung der Opposition in diesen Wochen und Monaten. Daß Sie, meine Damen und Herren, eine Ergänzung des Jahreswirtschaftsberichts von der Regierung erwarten, daß Sie danach fragen, ist unbestritten Ihr Recht. Daß Sie die Situation anders beurteilen als wir, als die Bundesregierung, auch das wäre legitim. Daß Sie aber innerhalb dreier Monate, nämlich seit Mitte März bis heute, vier konjunkturpolitische Debatten in diesem Hause in Szene setzen, — —
— Nein, das ist uns nicht unangenehm, Herr Müller-Hermann, und zwar deshalb nicht, weil trotz dieser Ihrer Bemühungen bis heute nicht sichtbar geworden ist, was Sie denn anders tun wollen.
Das kann nur zur Verunsicherung der Wirtschaft hinsichtlich der weiteren Entwicklung beitragen.
Wir sind der Meinung, daß das leichtfertig und nur aus kurzsichtigen, taktischen und parteipolitischen Gesichtspunkten zu erklären ist.
Meine Damen und Herren, Ihr Verhalten fällt genau unter den Einwand, den der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie geltend gemacht hat, als er Ende April dieses Jahres im „Volkswirt" schrieb: „Es ist so ziemlich das Schlimmste, was Konjunkturen passieren kann, daß ständig über sie gesprochen wird." Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben mit Ihrem Anfang dieses Monats veröffentlichten SiebenPunkte-Programm nichts Neues an wirklich wirksamen Maßnahmen vorgeschlagen, nichts, was die Regierung nicht schon von sich aus unternommen hätte.Um es Ihnen noch einmal im einzelnen in die Erinnerung zurückzurufen, Herr Dr. Freiwald, darf ich dazu folgendes sagen. Die Ausgaben des gesamten öffentlichen Sektors werden sich in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr um nur 8 bis 9 % erhöhen' und damit um 3,5 bis 4,5 % unter der Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts von etwa 12,5 % liegen, d. h. der Finanzierungsüberschuß des öffentlichen Sektors wird dementsprechend 1970 in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung rund 16 Milliarden DM betragen. Dieser Überschuß ergibt sich zu einem wesentlichen Teil aus der restriktiven Haushaltsführung des Bundes und der Länder. Das heißt, die öffentliche Hand insgesamt wirkt, über das Jahr 1970 hinweg gesehen, konjunkturgerecht, antizyklisch. Dies unterscheidet sich deutlich von der defizitären Politik der damaligen Bundesregierung in den Jahren 1965/66. Daran ändert auch das nichts, was Sie, Herr Dr. Stoltenberg, hier hin und her gerechnet haben.1970 betreiben Bund und Länder eine konjunkturgerechte Fiskalpolitik. Die èinschneidenden Haushaltssperren belaufen sich auf 4 Milliarden DM der verfügbaren öffentlichen Ausgaben. Die von Bund und Ländern zu bildenden Konjunkturausgleichsrücklagen betragen insgesamt 2,5 Milliarden DM und werden durch zusätzliche Steuereinnahmen freiwillig aufgestockt. Die vorgesehenen Steuersenkungen — auch das muß ich Ihnen sagen, Herr Dr. Stoltenberg — werden nicht in diesem Jahr, sondern erst 1971 nachfragewirksam werden. Auch diese gewiß nicht leichte Entscheidung zeigt, daß Freie Demokraten und Sozialdemokraten an ihrem Stabilitätskurs festhalten.Herr Dr. Stoltenberg und meine Damen und Herren von ,der Opposition, es bedarf Ihres Angebots — das Sie ja in Ihrem Sieben-Punkte-Papier haben und hier noch einmal vorgetragen haben —, ausgabewirksame Beschlüsse gemeinsam zurückzustellen, nun wirklich nicht. Ich will Ihnen etwas sagen. Ich halte dieses Angebot, das Sie in Ihrem Programm schon einmal gemacht haben, im Grunde nur für ein Feigenblatt,
mit dem Sie die ausgabewirksamen Gesetzesanträge Ihrer eigenen Fraktion oder, besser gesagt, der verschiedenen Gruppen Ihrer Fraktion nur verdecken wollten,
ausgabewirksame Gesetzentwürfe, meine Damen und Herren, die Ihnen angesichts Ihrer ständigen konjunkturpolitischen Einlassungen wohl inzwischen selber peinlich geworden sind.Nun bleibt von Ihren Vorschlägen nur noch die ,dem Sachverständigenrat entlehnte Erwägung, Steuergutscheine in Form verzinslicher Papiere auszugeben. Darauf hat Ihnen mein Kollege .Junghans vor kurzem bereits geantwortet. Er stellte fest, daß bei einer freiwilligen Zeichnung von Steuergutscheinen der Kaufkraftentzug so gut wie Null wäre, weil die Steuergutscheine — das müssen Sie doch in Ihre Überlegungen einbeziehen —, wenn sie überhaupt gezeichnet würden, mit größter Wahrscheinlichkeit lediglich zu einer Umschichtung der Ersparnisse in andere Sparformen, nicht aber zu einer Erhöhung .des Sparvolumens, führen würden. Der Sachverständigenrat weist ebenfalls auf diese Problematik hin. Abgesehen davon müßte ,die Verzinsung dieser Steuergutscheine auch nach den Erfah-
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Lendersrungen mit dem Bundesschatzbrief besonders attraktiv sein. Dadurch würde das Zinsniveau noch weiter nach oben gedrückt, eine Operation, die dem Kapitalmarkt bestimmt nicht guttun würde. Kurzum: Ihr Vorschlag ist vielleicht gut gemeint, aber wir halten ihn für unrealistisch.
Somit steht, meine Damen und Herren das, was Sie in Ihrem Sieben-Punkte-Programm anzubieten haben — das ist auch nicht durch Herrn Dr. Stoltenberg ergänzt worden —, zunächst einmal in einem sehr offenen und auffallenden Gegensatz zu den dramatischen Tönen, die Sie hier in bezug auf die konjunkturpolitische und preispolitische Situation angeschlagen haben.
Erfreulich ist nur — das muß ich einschieben —, daß Sie in Ihren Überlegungen — Sie haben das wiederholt, Herr Dr. Stoltenberg — die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Bedeutung der konzertierten Aktion anerkennen. Darüber freuen wir uns.Ich komme nun aber zurück zu der Diskrepanz zwischen Ihren Reden, Ihren dramatischen Tönen, und dem, was Sie konkret vorzuschlagen haben, was Sie konkret in Ihrem Sieben-Punkte-Papier vorgeschlagen und heute konkret gesagt haben. Für diese Diskrepanz, die hier besteht, gibt es eine Erklärung.Wir sind der Meinung, daß die Diskrepanz zwischen der dramatischen Aussage und dem, was Sie an Fakten zu bieten haben, damit zu erklären ist, daß Sie im Grunde genommen der Grundkonzeption der Ziffer 16 des Sondergutachtens der Sachverständigen folgen. Etwas anderes kann nicht dahinterstehen. Das heißt, Sie sind bereit, das Risiko eines über eine Normalisierung hinausgehenden Beschäftigungsrückgangs einzugehen und bewußt den hohen Preis einer leichten Rezession in das Kalkül der Konjunkturpolitik einzubeziehen. Ihre verbalen Beteuerungen zur Vollbeschäftigung täuschen, meine ich, auch nicht darüber hinweg. Meine Damen und Herren, das entspricht genau der Grundhaltung, die Sie bereits in der Auseinandersetzung der Jahre 1966/67 bei der Überwindung der damaligen Rezession eingenommen haben.Sie haben im Gegensatz zum Sachverständigenrat, der neutral eine wirtschaftspolitische Alternative, eine Alternative zur politischen Entscheidung in dieser Frage, aufstellt, nicht den Mut, das offen auszusprechen. Das ist meine Auffassung. Ich frage Sie deshalb, ich muß Sie fragen: Sind wirtschaftliche Stagnation und Arbeitslosigkeit auch heute noch das Mittel Ihrer Konjunkturpolitik, ja oder nein? Darauf müssen Sie eine Antwort geben.
— Auch in Zusammenhang mit Ihren Anträgen! Sie können nicht ständig darum herumreden.
— Die Unklarheit besteht in der Diskrepanz zwischen Ihren dramatischen Reden und dem, was Sie beantragen. Von dieser Dikrepanz hermüssen Sie den Schluß, daß Sie im Grunde denn Sachverständigenrat in seiner Intention folgen, zulassen.
Meine Damen und Herren, unser Ausgangspunkt— den möchte ich noch einmal klarmachen — ist folgender.Erstens. Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik für den Zeitraum 1970/71 binnenwirtschaftlich wie im internationalen Zusammenhang nicht mit ausreichender Bestimmtheit zu beurteilen. Darauf weisen unter anderen auch die Sachverständigen hin.Zweitens. Die Stabilisierungsmaßnahmen von Bund und Ländern sowie die Kreditpolitik der Bundesbank beginnen, sich preispolitisch beruhigend, wenn auch mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, auszuwirken. Der Herr Burndeswirtschaftminister hat heute morgen ,darauf hingewiesen.Drittens. Ein schroffes Bremsen in ,der sich gegenwärtig differenziert entwickelnden Konjunktur könnte an den Preisbewegungen der vergangenen Monate nichts ändern, wohl aber die Binnenkonjunktur zum Kippen bringen. Meine Damen und Herren von ,der Opposition, wenn Sie das zur Zeit sicherlich sehr wechselvolle Spiel der sich von Monat zu Monat verändernden konjunkturellen Indikatoren verwirrt, dann liegt das — das ist unsere Auffassung —daran, ,daß Sie eben bis heute nicht gelernt haben, wirtschaftspolitisch langfristig zu denken und zu handeln.
Mit Ihrer allein auf den jetzigen Augenblick bezogenen Argumentation bleiben Sie wirtschaftspolitisch hinter der Entwicklung zurück.
Die Konstellation der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, in der wir zur Zeit international stehen, bietet für uns nur eine auf die Zukunft gerichtete Strategie.
Diese Strategie beinhaltet die Entscheidung für Vollbeschäftigung, Wachstum und möglichst geringe Preisniveaubewegung.
— Meine Damen und Herren, das können Sie uns doch nicht abstreiten. Um das Ziel der Preisniveaustabilisierung ringen wir, ringt diese Bundesregierung mit Zähigkeit.
Daß wir immer erneut darum ringen müssen, daßuns Stabilität heute nicht geschenkt wird, ist unter
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2848 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Lendersanderem auch die Folge der Integration unserer Volkswirschaft in die Weltwirtschaft.Meine Damen und Herren, ich wiederhole das, was heute morgen der Wirtschaftsminister gesagt hat: Wirtschaftswachstum und Preisstabilität sind für uns ein Sowohl-Als-auch. Mit anderen Worten — und ich komme wie Herr Dr. Stoltenberg auch auf die amerikanische Situation zurück —: Die amerikanische Option, wie wir sie sehen, kommt für uns nicht in Betracht. Die Anfang 1969 in den Vereinigten Staaten eingeleitete restriktive Politik hat zu einer wirtschaflichen Stagnation am Rande der Rezession und zu einer für deutsche Verhältnisse sehr hohen Arbeitslosenquote bei fortschreitender Inflation geführt. Wenn Sie, Herr Kollege Stoltenberg, sagen, das zeige, daß Arbeitslosigkeit und hohes Preisniveau, inflationäre Entwicklungen nebeneinander bestehen könnten, so sagen wir: dieses Beispiel beweist aber auch, wie schwer einmal in Bewegung gekommene inflationäre Prozesse selbst durch ein massives Herabdrücken der Wachstumsrate mit der Folge von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit abzubauen sind.
Dies dann um so weniger, Herr Kollege Stoltenberg, als eine Ausweitung des Angebotsspielraumes unterbleibt, der uns ja heute Entlastung bringt, die Kapazitätsauslastung und damit das effektive Angebot sinken und die Produktivitätsraten abfallen.Bleiben wir bei dem amerikanischen Beispiel, weil auch Sie es zitiert haben. Die Verbraucherpreise stiegen in den USA um 5,4 % 1969 und im ersten Quartal 1970 um 6,2 %. 6 % Preissteigerungen und — das ist doch der Tatbestand — jeder zwanzigste Bürger arbeitslos, das ist nach unserer Meinung die schlechteste aller ökonomischen Welten, die man sich aussuchen kann.
Eine Stabilisierungsrezession ist nicht nur unsozial, sie ist auch, wie das amerikanische Beispiel in diesem Fall zeigt, ökonomisch falsch.
Wir Sozialdemokraten haben seit 1967 eine konsequente Politik der Gleichrangigkeit von hohem Beschäftigungsstand, angemessenem Wachstum und Preisniveaustabilität verfolgt An diesem Konzept halten wir fest, Herr Kollege Russe, und deshalb in dieser Situation mit Recht die Entscheidung der Bundesregierung,
keine schärferen Maßnahmen gegen die Konjunkturentwicklung zu ergreifen.
Ich will ein weiteres hinzufügen. Das Gemeinschaftsgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute vom Ende April dieses Jahres prognostiziert für das Jahr 1970 für die USA eine reale Wachstumsrate von 0 %, für Japan ein sehr hohes reales Wachstum von 11 %, für Westeuropa und für die Bundesrepublik ein reales Wachstum von etwa 5 %. Die Bundesregierung — sie hat das im Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck gebracht — rechnet in diesem Jahr mit einem realen Wachstum von 6 %.Somit läßt sich feststellen, daß sich nach dem stürmischen Wachstum der beiden Vorjahre, die ihren bestimmten Hintergrund hatten, 1. die wirtschaftliche Expansionsrate in der Bundesrepublik sich dem langfristig erwünschten Wachstum nähert und 2. das Wachstum in der Bundesrepublik dem Niveau unserer europäischen Partner entspricht. Das heißt: das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik ist angemessen, und nichts wird uns dazu veranlassen, es durch eine wirtschaftspolitische Fehlsteuerung zum Erliegen zu bringen.Eine jüngst diesem Hause vorgelegte Studie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Industriepolitik der Gemeinschaft unterstreicht die These von der technologischen Lücke zwischen den USA und Europa und gelangt zu dem fundierten Ergebnis, daß die Gemeinschaft den Vereinigten Staaten industriell relativ unterlegen ist und daß dies offenbar auch, für einige Bereiche zumindest, gegenüber Japan und der UdSSR gilt. Die Kommission- kommt zu dem Schluß, daß nur die Modernisierung der gesamten Wirtschaft der Gemeinschaft und ihr weiteres rasches Wachstum diese technologischindustrielle Unterlegenheit korrigieren kann und korrigieren wird.Wir müssen uns also hier über die Bedingungen im klaren sein. Nur in einer wachsenden Wirtschaft ist eine Investitions- und Innovationsbereitschaft vorhanden. Nur eine wachsende Wirtschaft bietet die Möglichkeit, technischen Fortschritt durch Rationalisierungs- und Erweiterungsinvestitionen durchzusetzen. Allein durch diese Investitionen wird in einer Volkswirtschaft, deren Arbeitskräftepotential ausgeschöpft ist, wiederum die Grundlage für künftiges Wachstum durch Produktivitätsfortschritt gelegt.Meine Damen und Herren, aus diesem Grunde unterstützen wir eine langfristige Politik des permanenten Produktionsfortschritts, denn damit sichern wir am besten die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, und auf diese Weise schaffen wir die Basis einer kostenneutralen, inflationsfreien und hohen Einkommensentwicklung für die deutschen Arbeitnehmer. Die Wirtschaftspolitik dieser Koalition liegt so im Interesse aller Schichten unserer Bevölkerung.Auch die Strukturpolitik, die vor einigen Wochen in diesem Hause Gegenstand einer Debatte war, braucht Wachstum, d. h. die wirtschaftlichen und sozialen Ziele der von der Bundesregierung betriebenen und von allen Parteien dieses Hauses für notwendig gehaltenen Strukturpolitik sind ebenfalls nur in einer wachsenden Wirtschaft zu realisieren.Lassen Sie mich noch eine wichtige Feststellung einflechten, weil von Herrn Dr. Stoltenberg hier in verschiedenen Zusammenhängen die Rentner, die
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LendersSozialhilfeempfänger und ähnliche Gruppen angesprochen worden sind. Ich möchte dazu zunächst eine Feststellung treffen. Hätten damals im Herbst 1967, in einer Zeit zerrütteter Staatsfinanzen und wirtschaftlicher Stagnation die Sözialdemokraten nicht mit in der Regierungsverantwortung gestanden und hätten wir damals durch unseren Beitrag nicht die Voraussetzungen für neues Wachstum und schnelle Überwindung der Rezession geschaffen, dann wäre das Kernstück der sozialen Sicherung, nämlich die bruttolohnbezogene dynamische Rente, mit Sicherheit gefährdet gewesen. Auch daran sollte man sich einmal erinnern.
Wir haben in diesem Jahrzehnt einen Rentenberg zu bewältigen. Wir haben andere immense Aufgaben, die im vergangenen Jahrzehnt von Ihnen sträflich vernachlässigt wurden, wie z. B. die Reform des Bildungswesens. Ich möchte ganz nüchtern festhalten: Die mit hohen Ausgaben verbundene Reform des Bildungswesens ist nur dann durchzuführen, die soziale Sicherung in der Bundesrepublik ist nur dann zu bewahren und auszubauen, wenn wir langfristig ein kräftiges reales Wachstum in unserer Wirtschaft sichern.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, daran werden Sie uns nicht hindern.
— Natürlich haben Sie es vor. Sie beurteilen die Situation anders als wir. Im Grunde wollen Sie auf Vorschläge hinaus, die in dieser Situation unser Wachstum und die Vollbeschäftigung gefährden. Das ist doch der Hintergrund.
— Natürlich.
Meine Damen und Herren, noch einige Bemerkungen zum Hintergrund unserer Haltung. Wir sind der Meinung, das binnenwirtschaftliche Gleichgewicht — das muß ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, auch noch einmal sagen —ist heute nicht zuletzt deshalb gestört — daran muß hier noch einmal erinnert werden —, weil Sie sich 1969 bis zum Überdruß geweigert haben, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen. Herr Kollege Stoltenberg, wenn Sie heute davon sprechen, daß die Rentner, die Bausparer und die Sozialhilfeempfänger unter Preissteigerungen zu leiden haben — wir wissen das auch —, so kann ich nur sagen: Sie hätten im Frühjahr oder Mitte desJahres 1969, als Sie sich gegen die Aufwertung gewandt haben, an diese Gruppen denken müssen.
Da wäre es an der Zeit gewesen.
Nun zu der Preisentwicklung! Wir waren uns vor den Bundestagwahlen darüber im klaren, daß wir uns in einer Phase einer aus politischen Gründen aufgestauten Inflation befanden, die sich nach den Bundestagswahlen entladen würde. Deshalb der schnelle und mutige Aufwertungsschriftt der Regierung Brandt/Scheel, nämlich um den erwarteten Schub von Preissteigerungen durch Importverbilligungen und Exportdämpfung aufzufangen.
Das war der Hintergrund.
Nun, auch meine Fraktion beurteilt das Ausmaß der Erhöhungen der Erzeugerpreise und der Lebenshaltungskosten sehr ernst. Diese Entwicklung ist sicherlich aus sozialen Gründen schmerzhaft. Aber gerade auch deshalb unsere entschlossene Politik der sukzessiven Rückgewinnung des binnenwirtschaftlichen Gleichgewichts, ohne die Vollbeschäftigung aufs Spiel zu setzen.Wir sind der Meinung, daß zur Zeit vier sich ergänzende Komponenten in diese Richtung, nämlich in die Richtung der Rückgewinnung des binnenwirtschaftlichen Gleichgewichts, wirken. Das ist erstens die aufeinander abgestimmte Stabilitätspolitik von Bundesregierung und Bundesbank.
Das sind zweitens die hohen Anlageinvestitionen der vergangenen Jahre, die nach wie vor hohen Rationalisierungsinvestitionen in der deutschen Wirtschaft, die den Angebotsspielraum in diesem Jahr erweitern und die Kosten senken, drittens die sich bei nachlassendem Expansionstempo des Auftragseingangs und gleichzeitig sehr hohen Produktionsstand in den ersten vier Monaten dieses Jahres doch eindeutig abzeichnende Normalisierung der Relation von Angebot und Nachfrage, viertens die auf optimale Ausschöpfung der volkswirtschaftlichen Ressourcen ausgerichtete Strukturpolitik der Bundesregierung und fünftens die fast unverändert hohe Sparquote der privaten Haushalte. Darauf ist im Nachtrag des Jahreswirtschaftsberichtes hingewiesen. Hinzu kommen die Tarifverträge zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer bei Metall und Chemie, die dazu einen höchst begrüßenswerten entwicklungsfähigen Ansatz für die Korrektur der Vermögensbildung in der Bundesrepublik darstellen. Sie umfassen nach den bisherigen Abschlüssen für 1970 rund eine Milliarde D-Mark, und wir rech-
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Lendersnen damit, daß sich diese Entwicklung in den weiteren Abschlüssen dieses Jahres fortsetzt.Die von mir aufgezählten fünf Komponenten veranlassen uns zu der begründeten Annahme, daß sich die Preiswelle nach den vorliegenden Indexziffern, die auch vom Bundeswirtschaftsminister heute morgen noch einmal genannt worden sind, deutlich verlangsamt hat
und daß sie im Verlauf des Jahres weiter abebben wird. Wenn Sie sagen, das seien Märchen, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie dann keine Statistiken lesen können.
Ich darf Ihnen die Zahlen wiederholen. Sie sind zunächst einmal in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage in der Drucksache 847 genannt worden. Lesen Sie bitte nach! Ich will Ihnen ein Beispiel aus einer Zahlenreihe in dieser Drucksache nennen. Die Preise für die Lebenshaltung nämlich, die im Januar 1970 noch um 1,2 % über den Stand des Vormonats stiegen, nahmen in den drei folgenden Monaten nur um 0,2 %, 0,4 % und 0,2 % zu und wiesen im Mai in Nordrhein-Westfalen — das ist gestern oder vorgestern veröffentlicht worden — nur noch einen Anstieg gegenüber dem Vormonat um 0,1 % auf. Das ist doch eine deutliche Abflachung des Preisanstiegs, die Sie nicht aus der Welt reden können.
Wir sind der Auffassung: drei der vier Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, nämlich Wachstum, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht, werden in diesem Jahr erfüllt sein. Darauf kann man nicht deutlich genug hinweisen. Das vierte Ziel, die nämlich von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition — das wiederhole ich auch hier noch einmal —, im Jahre 1969 so leichtfertig verspielte Preisstabilität läßt sich eben nur mühsam zurückgewinnen. Und wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ein so kurzes Gedächtnis haben, muß ich Sie daran erinnern, daß Sie sich ja nicht nur gegen die Aufwertung gesträubt haben, sondern Sie haben sich damals im Frühjahr und im Frühsommer auch gegen eine Reihe von Ersatzmaßnahmen, die der Bundeswirtschaftsminister vorgeschlagen hatte, um die Preise in den Griff zu bekommen, aus was weiß ich für Gründen gewehrt. Daran muß man doch einmal erinnern.
Unternehmen wie Gewerkschaften unterstützen die Stabilitätspolitik der Bundesregierung, und wir begrüßen das.
Bei diesem Bekenntnis allein kann es jedoch nicht sein Bewenden haben.
Die Stabilitätsmaßnahmen des Bundes und der Länder gehen sämtlich zu Lasten der öffentlichen Hand, zu Lasten der öffentlichen Investitionstätigkeit; der Spielraum der Wirtschaft wird durch direkte Maßnahmen zunächst nicht eingeengt. Wir müssen deshalb mit allem Nachdruck fordern, daß die Unternehmen — das gilt besonders für die Unternehmen der Erzeugerstufe — durch eine diszipliniertere Preispolitik und Effektivlohngestaltung den Gewerkschaften eine entsprechende Tarifpolitik ermöglichen.Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Ziffer 219 des Jahresgutachtens 1969 des Sachverständigenrates und auf die Ziffer 58 des Jahreswirtschaftsberichtes der Bundesregierung 1970. Dort kommt zum Ausdruck, daß die Verteidigung von ungewöhnlich hohen Unternehmensgewinnen des Jahres 1969 durch Preiserhöhungen heute im Widerspruch steht sowohl zu einem gesellschaftspolitischen Ausgleich wie auch zu den mittel-und langfristigen Interessen der Unternehmen selbst. Ich kann das nicht deutlich genug wiederholen, und auch der Sachverständigenrat hat in seinem Sondergutachten unter Ziffer 12 noch einmal auf diesen Zusammenhang hingewiesen.Noch ein Wort zur Vollbeschäftigung. Ich frage mich oft, ob sich diejenigen eigentlich über die Bedeutung der Vollbeschäftigung, über die Bedeutung einer Wirtschaftspolitik des hohen Beschäftigungsstandes im klaren sind, die bei diesem Begriff leicht erschaudern, entweder weil Vollbeschäftigung nicht in ihre ökonomische Theorie hineinpaßt,
oder weil sie lieber die Kehrseite sähen, in der Annahme, es wäre dann in der Praxis der Wirtschaft oder im Betrieb manches leichter. Ich frage mich immer, ob diejenigen, die so denken und auch so gehandelt wissen möchten, sich darüber im klaren sind, was Vollbeschäftigung ist. Ich möchte das noch einmal deutlich machen.In einer arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft ist eine Wirtschaftspolitik der Vollbeschäftigung die Voraussetzung für die Realisierung des Rechts auf Arbeit der Masse der Menschen in dieser Gesellschaft.
Darüber muß man sich im klaren sein.
Und diese Koalition, Sozialdemokraten und Freie Demokraten haben sich für die Vollbeschäftigung verbürgt,
für eine Politik des hohen Beschäftigungsstandes. Deshalb sind sie auch der Meinung, daß in der gegenwärtigen konjunkturpolitischen Situation, bei der gegenwärtigen Datenkonstellation schärfere Waffen zur Konjunkturdämpfung nicht angebracht sind. Unsere Politik, meine Damen und Herren, die Politik dieser Koalition, bedeutet: Kein Arbeitneh-
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Lendersmer braucht aus konjunkturellen Gründen um seinen Arbeitsplatz zu bangen,
und kein Unternehmer hat eine rezessive Nachfragelücke zu befürchten.Herr Stoltenberg hat eben noch einmal auf das Jahr 1966 und auf die damalige Situation auf dem Arbeitsmarkt abgehoben, unid zwar unter einer ganz bestimmten Perspektive. Ich kann nur eines hinzufügen: Sollte im privaten Unternehmenssektor, in der Wirtschaft, ein gravierender Nachfragerückgang eintreten, würde er durch erhöhte Haushaltsausgaben auf vielen Gebieten von Bund, Ländern und Gemeinden kompensiert werden. Das heißt, im Falle eines Abschwungs starten wir durch. Und das ist der konkrete Hintergrund für das berechtigte Vertrauen der Wirtschaft, ,das berechtigte Vertrauen der Arbeitnehmer und der Unternehmer in diese Regierung.
Sie, meine Damen unid Herren von der CDU/CSU, scheinen dieses Vertrauen ja manches Mal anzuzweifeln, vor allen Dingen das der Unternehmer. Ich habe einige Ihrer Äußerungen im Ohr, Herr Kollege Stoltenberg.
— Herr Kollege Stoltenberg, ich habe den Eindruck: wenn Ihnen konjunkturpolitisch nichts mehr einfällt, dann kommen Sie auf die Jungsozialisten; dann brauchen Sie nämlich keine konkreten Vorschläge zur Konjunkturpolitik zu machen.
Das ist doch der ganze Trick dabei.Ich kann nur sagen, dafür, daß dieses Vertrauen vorhanden ist, ist der beste Beweis, daß nach Jahren eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs die Konjunktur immer noch durch eine hohe und anhaltende Investitionsbereitschaft der Unternehmer in der Bundesrepublik getragen wird. Das ist der beste Beweis dafür.Zum Abschluß, meine Damen und Herren, ein kurzes Wort zu Ihrem Antrag. Ich muß ganz ehrlich sagen, Herr Kollege Stoltenberg, ich habe mit Spannung auf Ihre Rede gewartet, weil ich eigentlich nicht glauben konnte, ,daß )Sie es allein bei dem schon im März dieses Jahres einmal in diesem Hohen Haus eingebrachten Antrag bewenden lassen würden. Ich konnte mir das nicht vorstellen, ich hatte mehr erwartet; aber es ist dabei geblieben. Sie haben den Antrag, den wir im März dieses Jahres schon einmal abgelehnt haben, erneut eingebracht, und ich finde, schon allein deshalb ist er ein wenig abgestanden. Ich wollte das in Erinnerung rufen. Wir — das darf ich für die Koalitionsfraktionen sagen — lehnen diesen Antrag erneut ab. Ich will das in zwei Bemerkungen begründen, denn die rote Lampe ist inzwischen aufgeleuchtet.Erstens. Meine Damen und Herren, Sie fordern in diesem Antrag wiederum die Anwendung des Stabilitätsgesetzes. Schon Minister Schiller hat heute morgen darauf hingewiesen, daß es unredlich ist, wenn sie vage Forderungen erheben, ohne konkret zu werden. Sie werden nicht konkret; dieser Antrag ist ein reiner Demonstrationsantrag. Das ist einer der Gründe unserer Ablehnung.Zweitens. Der Antrag ist gegenstandslos; das Stabilitätsgesetz i s t angewandt! Ich verweise auf die §§ 4, 6 und 15. Weil das Stabilitätsgesetz angewandt ist, sind wir der Meinung, daß dieser Antrag der Ablehnung verfallen muß.Lassen Sie mich einen dritten Gesichtspunkt hinzufügen: Es bleiben — mit Recht hat das heute morgen auch Herr Minister Schiller gesagt — die §§ 26 und 27 des Stabilitätsgesetzes. Sie enthalten die Instrumente der befristeten Steuererhöhung und der Erschwerung der Abschreibungen. Auf Grund eines solchen Antrages ist die Frage an Sie zu richten: Wollen Sie Steuererhöhungen? Wollen Sie die Abschreibungen einschränken? Diese Frage müssen Sie sich stellen lassen. Ja oder nein? Diese Frage müssen Sie deutlich beantworten, und daran können Sie sich auch nicht mit einer solchen Antragsformulierung vorbeidrücken. Ich glaube, die deutsche Offentlichkeit wartet mit Interesse auf eine klare Antwort von Ihnen auf diese Frage.
Das Wort hat der Abgeordnete Kienbaum. Es ist eine Redezeit von 30 Minuten beantragt.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen! Meine Herren! Diese Debatte verdanken wir der Zielsetzung, die Wähler für drei Landtage zu irritieren.
Dem Ziel entsprechen die von der Opposition eingesetzten Mittel des Irritierens. Dem Ziel frontal ent. gegen allerdings läuft der konkrete Inhalt und noch mehr das konkrete Handeln der Opposition. Welches Glück, darf ich hinzufügen!
Die FDP hat nämlich solche Schizophrenie schon mehrfach kennengelernt, aber nie zu schätzen vermocht.
Ich darf die von Herrn Stoltenberg sehr umfassend und blumenreich dargestellte Situation auf die Fakten zurückführen.
Die Lebenshaltungskosten sind 1969 und 1970 nach der Auffassung der FDP unerträglich gestiegen.
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KienbaumDie Monatsergebnisse — ich erwähne einige in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr — waren: 3,5 %, 3,7 % und — die letzte gemeldete Zahl — 3,6 %.
Der Anstieg der Baupreise ist noch wesentlich höher, was Sie vergessen haben zu erwähnen. Ich möchte aber hinzufügen: Löhne und Gehälter haben gegenüber dem Vorjahr noch weit mehr zugenommen.
— Das habe ich vielleicht überhört. — Der Anstieg der Industriegüterpreise, der im Vorjahr 6, 7 und sogar 8 % betrug, schwächt sich ab, und das erscheint mir symptomatisch. Er betrug in drei aufeinander folgenden Monaten noch 1,2 %, dann 0,4% und schließlich 0,2 %.
— Gegenüber dem Vorjahr?
— Der Industriegüterpreise, nicht der Lebenshaltung!
Die Baulandpreise — siehe den neuesten Ausweisdes Statistischen Bundesamtes sind sogar gefallen.
— Im Querschnitt der Bundesrepublik und im Querschnitt der einzelnen Länder.
Das sind alles Fakten, meine Damen und Herren. Nun komme ich zu den Folgerungen.
Der Anstieg der Lebenshaltungskosten folgt der Preissteigerung der Industriegüter mit der klassischen Nachlauffrist von sechs bis neun Monaten. In der gleichen Frist von heute an gerechnet kann— ich betone: kann — in der Zukunft die Beruhigung erreicht sein, weil das Preisbild der Industriegüter sich bereits stabilisiert.
Ich möchte aber auch hinzufügen: Kann erreicht sein, wenn wir neue Auftriebstendenzen konsequent bekämpfen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stoltenberg?
Selbstverständlich!
Herr Kienbaum, ich darf vielleicht, da Sie mich berichtigen wollten, Ihre Zahlen einmal berichtigen. Erlauben Sie, daß ich Sie darauf hinweise, daß nach der schriftlichen Beantwortung der Bundesregierung die industriellen Erzeugerpreise im April um 6,4, im März um 6,4 und im Februar um 6,2 % gegenüber dem Vorjahr angestiegen sind und daß Sie lediglich die Vergleichszahlen gegenüber dem Vormonat genannt haben?
Irrtum! Darf ich wiederholen: Die Auftriebstendenzen
sind gegenüber den Steigerungen des Vorjahres abgefallen. Das haben Sie gerade noch einmal bestätigt, und das war meine Aussage.
Zu den konsequent zu bekämpfenden, Auftrieb mit verursachenden Maßnahmen gehören unter anderem Gefälligkeitsbeschlüsse wie das letzte Besoldungsänderungsgesetz in Nordrhein-Westfalen,
weil es die bisher erfolgreiche Bemühungen der Bundesregierung um Besoldungssystematik und Stabilität durchkreuzt.
Bei diesem Gefälligkeitsbeschluß war die CDU-Landtagsfraktion der Motor.
Sie, nämlich die CDU-Landtagsfraktion, ist damit Motor eines von der FDP bekämpften Preisauftriebs.
— Was er gesagt hat? Er hat Herrn Genscher aufgefordert, Verfassungsklage einzuleiten. Ich begrüße das.Hierher gehört auch die ,ständige Diskrepanz zwischen wohltönenden. Worten und handfesten Ausgabenforderungen der CDU/CSU in diesem Hause. Das hat sich gestern erneut gezeigt.Aber unabhängig davon: es gibt selbstverständlich neue Auftriebstendenzen. Zum Beispiel drohen die anhaltenden Inflationstendenzen im Ausland bei uns erneut Wirkung zu zeigen. Zusatzauftrieb verursacht sicherlich auch der Versuch von Interessenten, Vollbeschäftigung mit Überbeschäftigung gleichzusetzen. Zusätzliche Auftriebstendenzen würden allerdings auch ausgelöst, wenn eine abrupte Verminderung der Auslastung unserer Kapazitäten
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Kienbaumeinträte. Verminderte Leistungen bei nur gleichen Kosten bewirken nun einmal auch ein Steigen der Preise. Deshalb scheidet für uns eine Politik der Unterbeschäftigung aus. Deshalb war die FDP gegen eine Behinderung der Investitionen, über die ja laut nachgedacht wurde, und gegen eine Beeinträchtigung der Investitionsbereitschaft. Wir bleiben dabei und stellen mit Genugtuung den Gleichlauf der Regierungsmaßnahmen fest.Für die FDP gibt es derzeit keine Daten, die eine über die bisherigen Maßnahmen hinausgehende Konjunkturdämpfung rechtfertigen. Die FDP betreibt statt dessen eine ergänzende Politik der konsequenten Angebotsstärkung. Sie betreibt sie einerseits zur Stärkung der stabilisierenden Kräfte, zugleich aber auch — und das soll in der Aussage nicht unterdrückt werden — zur Verbesserung unserer gesamtheitlichen Basis für Reformen.Ich komme zur Ausgangsfeststellung zurück. Die Zielsetzung der Opposition in der heutigen Debatte zwingt dazu, die Ursachen für den jetzigen Preisauftrieb aufzudecken. Die Ursachen liegen bei der alten Führung der CDU/CSU.
Diese Führung wußte genau, was sie tat. Sie wußte, daß die Lebenshaltungskosten nicht vor der Bundestagswahl steigen würden. Deshalb handelte sie nicht. Ich unterstreiche: sie handelte bewußt nicht.
Sie weiß auch, daß der von ihr zu verantwortende Preisanstieg nicht mehr zu beseitigen ist. Und sie weiß schließlich, daß die Wiederherstellung der Stabilität auf neuem Niveau nicht, und zwar von niemandem, vor dem 14. Juni bewerkstelligt werden kann. Deshalb verbreitet sie Unruhe.
Herr Stoltenberg, wenn ich Sie einmal ansprechen darf: was bot die Opposition heute? Darf ich Sie fragen, was wollen Sie konkret? Stimmen Sie mit Herrn Burgbacher, der ja auch im Saal ist, und seinen noch kürzlich im Wirtschaftsausschuß begründeten Erhaltungssubventionen überein? Sind Subventionen Ihr Programm? Dann müssen Sie Steuererhöhungen und höhere Steuerlastquoten wollen.
Wir wollen das nicht, wir wollen keine Konjunkturpolitik des „stop and go". Wir wollen eine stetige Entwicklung zurück zur Stabilität,
die verloren ging, weil die CDU/CSU nichts unternahm.
Nun lassen Sie mich auf Ihren Einwurf eingehen. Wir tun nichts? Das heißt, die Umwandlung von 2,7 Milliarden DM Sperren in 2 Milliarden DM Kürzungen im Haushalt, an der Sie sich erfreulicherweise mitbeteiligt haben, ist nichts.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht?
Selbstverständlich!
Herr Kollege Kienbaum, wissen Sie auch, wie dieser Beschluß zustande kam?
Ich bin durchaus im Bilde, wie der Beschluß zustande kam.
Sie haben vollkommen recht, ich gehöre nämlichdem Haushaltsausschuß nicht an. Er kann also nicht durch meine Initiative zustande gekommen sein.
Ich darf zusammenfassen. Jeden Monat eine Plenardebatte zur Konjunktur, in der Zwischenzeit laut denken und kritisieren, aber auf konkrete Maßnahmen oder das Konkretisieren von Vorschlägen verzichten, — diese Methode bringt uns nicht einen Schritt voran in dem Bemühen um stabile Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik.
Ich kenne Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens auch in Ihrer Fraktion. Wenn ich eine Empfehlung geben darf — die Sie sicher nicht annehmen werden, das unterstelle ich; trotzdem will ich sie aussprechen —, lassen Sie ab von der Verteidigung früherer Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen haben.
Vielleicht wächst Ihnen dann mehr Anerkennung der neuen Abgeordneten in diesem Hohen Hause zu, vielleicht aus allen Fraktionen.
Dem Versuch allerdings, Verwirrung zu stiften, wird die FDP von Mal zu Mal härter entgegentreten.
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2854 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Das Wort hat Herr Bundesminister Möller.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Stoltenberg hat in seinen Ausführungen auch haushaltspolitische und finanzpolitische Fragen angesprochen, und ich möchte mir gestatten, hierzu einige Bemerkungen zu machen. Lassen Sie mich vorweg sagen, Herr Kollege Stoltenberg, daß zwei Punkte, ,die Sie berührt haben, schon des öfteren Gegenstand von Erörterungen hier im Hause gewesen sind, daß sie darüber hinaus auch in Kleinen Anfragen angesprochen wurden sowie — wenigstens in einem Punkt — in der letzten von Ihnen eingereichten Großen Anfrage, die heute mit zur Debatte steht. Ich frage mich eigentlich: Wie oft muß man Ihnen gegenüber die Tatsachen feststellen, um sie endlich auch in Ihr Bewußtsein zu bringen? Es hat doch wirklich keinen Zweck, daß wir noch einmal untersuchen, warum im Dezember 1969 bestimmte Ausgaben notwendig wurden. Sie haben nun erneut in Ihrer Großen Anfrage die Steigerungsrate im Bundeshaushalt — erstes Quartal 1970 — angesprochen. Sie haben auf Seite 6 eine sehr eingehende Antwort erhalten. Nehmen Sie diese Antwort eigentlich zur Kenntnis, oder verzichten Sie darauf, so ausführliche Darstellungen zur Kenntnis zu nehmen?Sie haben in letzter Zeit des öfteren Kleine Anfragen in einem Umfang ausgearbeitet, daß beinahe ein wissenschaftlicher Stab im Bundesfinanzministerium beschäftigt werden müßte, um diese Anfragen zu beantworten.
Wir tun das mit der notwendigen Gründlichkeit. Ich weiß ja auch, wie diese Anfragen zustande kommen. Wir haben ja extra auf Wunsch Ihrer Fraktion Ihrem Arbeitskreis einen Mitarbeiter aus dem Finanzministerium zur Verfügung gestellt. Ich weiß also, wie diese Kleinen Anfragen entstehen. Aber irgendwann müßte sich doch das Ergebnis einer so gründlichen Beantwortung bei Ihnen geistig-politisch niederschlagen.
Denn sonst hat alle Gründlichkeit keinen Zweck. Wenn Sie davon einfach nicht Kenntnis nehmen wollen, weil das nicht in Ihr Rezept paßt, dann werden wir in Zukunft solche Anfragen mit ein paar klaren, einfachen deutschen Sätzen beantworten.
— Nein, nein! Mir liegt sehr daran, daß wir auf jede Anfrage eine gründliche Antwort geben. Aber, Herr Kollege Heck, wenn sich das nicht geistigpolitisch niederschlägt — wobei ich überhaupt nicht vom Fassungsvermögen geredet habe —, wenn das nicht wirkt, dann können Sie mir doch nicht übelnehmen, daß wir eine so gründliche Arbeit nichtmehr vollziehen, weil wir sagen: Das ist zwecklos. Und dann können Sie mir nicht antworten: Mehr Demokratie! Mehr Verständnis, Herr Kollege Heck, für die gründliche Arbeit, die wir leisten, um Sie zu befriedigen, Sie voll zu befriedigen, das ist unser echter Wunsch. Daß man irgendeine Reaktion erkennen möchte, Herr Kollege Heck, das hat doch mit „mehr Demokratie" nichts zu tun.
— Herr Kollege Heck, ich habe Ihnen erklärt, daß wir dann unsere Antworten einfacher, vielleicht auch faßbarer gestalten.
Aber wir wollen uns doch auf eine vernünftige Praxis einigen. Ich kann Ihnen darstellen, wie oft wir in derselben Sache mündlich und schriftlich Wiederholungen vornehmen mußten, die eigentlich im parlamentarischen Verkehr nicht üblich sind.Nun könnten Sie mir sagen: Sie haben aber bei der Großen Anfrage nur Antwort gegeben auf die Entwicklung im ersten Quartal. Nun liegen ja schon die Ergebnisse der ersten vier Monate vor. Sie sehen also, ,daß ich versuche, mich in Ihren Denkprozeß einzuschalten. Jetzt erwarten wir darüber hinaus eine Stellungnahme für die ersten vier Monate. Das soll geschehen.Die Ausgaben des Bundes belaufen sich in den ersten vier Monaten auf rund 25,55 Milliarden DM ohne Schuldentilgungen und ohne die Zuführung an die Konjunkturausgleichsrücklage. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres hatten sie rund 23,43 Milliarden DM betragen. Die Mehrausgaben 1970 gegenüber dem Vergleichszeitraum 1969 belaufen sich also auf rund 2 120 000 000 DM. Das ist ein Mehr von 9,1 v. H.Sie ziehen nun aus dieser Steigerungsrate die Folgerung, daß die vorläufige Haushaltsführung im ersten Drittel 1970 unwirksam gewesen sei. Dabei vergessen Sie aber, die Sonderfaktoren zu würdigen, auf die wir des öfteren hingewiesen haben, die diese Steigerungsraten verursachen und die einem Eingriff durch Bewirtschaftungsmaßnahmen überhaupt nicht zugänglich sind.Ich werde das beweisen. Es handelt sich z. B. um die Personalausgaben, die gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um rund 900 Millionen DM gestiegen sind. Ich will kein Mißverständnis entstehen lassen: Dies ist die Steigerung beim Vergleich der Zeiträume Januar bis April 1970 und Januar bis April 1969. Wenn wir nach Ihnen verfahren wären, wäre das Mehr, auf vier Monate umgerechnet, um 40 Millionen DM höher gewesen. Die Steigerungsrate wäre dann also allein bei den Personalausgaben beträchtlich höher gewesen; denn Sie sind ja über den Regierungsentwurf zur Neuordnung der Besoldung hinausgegangen.Diese 900 Millionen DM ergeben eine Steigerung von 19,9 v. H. Sie beruht also überwiegend auf Besoldungs- und Tariferhöhungen, die der Finanzminister doch nur durchführen kann. Er ist an diese Beschlüsse selbstverständlich gebunden. Sie können ihn dann aber nicht für die Entwicklung der Zu-
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerwachsrate in einem solchen Zusammenhang verantwortlich machen. Ohne diese zwangsläufigen Mehrausgaben hätte die Steigerung gegenüber dem Vorjahr lediglich 6,6 v. H. betragen.Der gleiche Tatbestand liegt bei den Ausgaben für die Kriegsopferversorgung vor. Wie Sie alle wissen, hat dieses Hohe Haus am Ende des vergangenen Jahres wesentliche Verbesserungen der Kriegsopferversorgung beschlossen, die sich mit Mehrausgaben in Höhe von 223 Millionen DM im ersten Drittel 1970, aber nicht im Vergleichszeitraum 1969 ausgewirkt haben. Diese Auswirkung wäre wiederum höher, wenn sich das Hohe Haus Ihren Vorstellungen über eine weitere zusätzliche Erhöhung der Kriegsopferversorgung angeschlossen hätte.Neben diesen Ausgabepositionen, die allein schon das Bild bei einem Vergleich mit dem Vorjahr verzerren, ist die Steigerungsrate von 9,1 v. H. durch weitere besondere Maßnahmen bedingt, die dem normalen Ausgabenrhythmus eines Haushaltsjahres nicht entsprechen. Diese Ausgaben verteilen sich auf die vorgezogenen Zuschüsse an die Deutsche Bundesbahn zur Verbesserung ihrer Liquidität in Höhe von 400 Millionen DM, einen schon in den ersten Monaten des Jahres 1970 anfallenden Mehrbedarf für die EWG-Marktordnung und den Getreidepreisausgleich von insgesamt 330 Millionen DM sowie auf Leistungen für den Straßenbau in Höhe von 235 Millionen DM, weil eine im Dezember 1969 geplante Kreditaufnahme von der Öffa nicht realisiert werden konnte.Diese Sonderfaktoren beanspruchen nahezu die gesamte Steigerungsrate der Bundesausgaben im ersten Drittel 1970. Daß die verschärfte vorläufige Haushaltsführung bei den Ausgaben, die durch Bewirtschaftungsmaßnahmen überhaupt beeinflußbar sind, zu günstigen Auswirkungen geführt hat, verdeutlicht das Beispiel der Ausgaben für den laufenden Sachaufwand, die um 6,7 v. H. unter denen des gleichen Vorjahreszeitraums liegen.Zusammenfassend muß ich zu diesem Punkt sagen, daß die verschärfte vorläufige Haushaltsführung und die von mir im April zusätzlich veranlaßten Betriebsmittelkürzungen den Ausgabenzuwachs in vertretbaren, konjunkturgerechten Grenzen gehalten haben.Wenn Sie zu diesem Kapitel noch Weiteres hören möchten, dann verweise ich auf die Zeitschrift „Der Volkswirt" vom 29. Mai 1970. Da beschäftigt sich ein sehr interessanter Artikel mit der Überschrift „CDU/CSU-Rezepte gegen die Inflation" mit Ihrer — —
— Mein Hausblatt? Ein großer Irrtum! Herr Luda, ich glaube nicht, daß Sie, wenn eine Zeitschrift oder eine Zeitung einmal einen Sie betreffenden kritischen Aufsatz veröffentlicht, daraus schlußfolgern können, daß dieses Blatt in irgendeiner Beziehung zur SPD oder zu SPD-Politikern steht, sondern Zeitungen und Zeitschriften wird bei aufmerksamerBeobachtung Ihrer Haltung nicht entgehen, was für Zwiespältigkeiten in Wirklichkeit vorhanden sind.
— Ich sagte, ich zitiere den „Volkswirt". Ich weiß nicht, ob er mit Absicht nur von der CDU spricht. Hier ist von der CSU nicht die Rede; jedenfalls nicht in diesem Satz. Ich sage das deswegen, weil sonst das Urteil des „Volkswirts" wahrscheinlich noch eindeutiger ausgefallen wäre.
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Zunächst: Die Zitate aus meiner Rede haben Ihre Zustimmung gefunden. Ich habe mich ausdrücklich auf diesen Punkt der Regierungserklärung bezogen und mich zu dieser Regierungserklärung bekannt, auch was die volkswirtschaftliche Steuerquote angeht. Sie haben dann gesagt — ich sage es jetzt etwas vereinfacht mit meinen Worten —, ich sei sozusagen von der Diskussion überrollt worden und hätte in meinem Schlußwort eine — nach Ihrer Beurteilung des Zitats — andere Haltung eingenommen. — Herr Kollege Stoltenberg, Sie sind, soweit ich Sie aus unserer langjährigen parlamentarischen Zusammenarbeit kenne, immer sehr gründlich. Ich glaube, man muß, insbesondere wenn man Zitate verwendet, gründlich bleiben. Gestatten Sie mir deswegen, daß ich den beiden Sätzen, die Sie zitiert haben, hinzufüge, was ich weiter ausgeführt habe, anschließend an den Satz: „Dieser Forderung widerspreche ich in keiner Weise." Der nächste Satz fängt mit einem „denn" an; er lautet:Denn für mich handelt es sich bei der Vorstellung der Vertretbarkeit einer volkswirtschaftlichen Steuerquote nicht um eine heilige Kuh,— „Vertretbarkeit" ist der entscheidende Begriff —sondern um einen Ochsen, der den Karren versäumter Reformen und vernachläßigter Infrastrukturen wieder aus dem Dreck ziehen muß.Das steht auf Seite 89.
Das ist und bleibt meine Auffassung.
— Ja, jetzt wird es noch klarer.Mit dieser Auffassung befinde ich mich in der Nähe von Kollegen — nur in der Nähe, nicht in voller Übereinstimmung mit ihnen —, die sich im Mai auch zu diesem Thema geäußert und in etwa gesagt haben, daß die Frage der volkswirtschaftlichen Steuerquote, insbesondere im Hinblick auf die Aufgaben, die wir auf dem Sektor von Bildung und Wissenschaft zu bewältigen haben, in der öffentlichen Diskussion eine erhebliche Rolle spiele, und zwar unabhängig von der Parteizugehörigkeit, sondern einfach aus der Sorge, wie wir diesen erhöhten Ausgabenbedarf in den nächsten Jahren finanzieren können.Ich habe hier einen Bericht über eine Tagung, auf der der stellvertretende CDU-Vorsitzende Hans Katzer gesprochen hat, Es war eine Tagung der Sozialausschüsse Ihrer Partei in Königswinter. Der Bericht trägt das Datum vom 24. Mai 1970 und die Überschrift „Katzer: Steuerlastquote ist kein Tabu".
--- Das hat er mir nachgesprochen? Ich würde mich freuen, wenn Sie öfter auf vernünftige Gedankengänge von mir eingingen.
In den „Stuttgarter Nachrichten" vom 29. Mai 1970 — ich zitiere wieder einen Angehörigen der CDU; deswegen bitte ich Sie, das doch mit dem notwendigen Respekt anzuhören —
heißt es unter der Überschrift „Bildungsanleihe genügt nicht" : „Kultusminister Hahn hält Steuererhöhungen für zwangsläufig."
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stoltenberg?
Bitte schön, Herr Kollege Stoltenberg!
Herr Kollege Möller, ist Ihnen aus meinen Ausführungen deutlich ge-
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Dr. Stoltenbergworden, daß ich gar nichts zur Sachdiskussion über eine Begründung für die Steuerlastquote gesagt habe
hören Sie es doch erst einmal zu Ende an —, sondern lediglich an Hand Ihrer Zitate, die ich Ihnen noch einmal vorlesen kann, nachgewiesen habe, daß Sie im ersten Satz erklärt haben, die Steuerlastquote reiche für die Bewältigung dieser großen Aufgaben aus, während Sie im zweiten Satz das genaue Gegenteil davon gesagt haben? Darin liegt eine Verunsicherung der Offentlichkeit.
— Ja, Sie kennen ihn, aber ich muß zitieren, damit es allen verständlich wird. Sie sind hinsichtlich der Texte manchen Kollegen des Hohen Hauses etwas voraus. Da heißt es in diesem Teil der Regierungserklärung: „ . . . ohne daß die Steuerlastquote des Jahres 1969 erhöht wird," und zwar „für die in den nächsten Jahren anstehenden Finanzierungsaufgaben". Ich habe dann hinzugefügt:
Allerdings muß ich deutlich hervorheben: Wollen wir ,die volkswirtschaftliche Steuerquote in der nächsten Zeit unverändert lassen, dann ist es unerläßlich, daß wir in stärkerem Maße als bisher von der Möglichkeit der Kreditfinanzierung für öffentliche Investitionen Gebrauch machen. Die Kreditaufnahme des Staates bleibt ein legitimes Mittel der Finanzierung unserer Infrastruktur. Wie in den Unternehmen, so kommt es auch beim Staat auf das richtige Maß und den richtigen Zeitpunkt an.
Sie sehen also, daß ich in keiner Weise die Bedeutung der Finanzierung dieser großen Aufgaben, insbesondere im Bereich von Wissenschaft und Forschung, unterschätzt habe.
Ich darf nun doch noch das dritte Zitat bringen, weil es sich hier um einen von uns allen sehr geschätzten Kollegen Ihrer Fraktion handelt. Herr Kollege Professor Mikat hat nach einem Bericht vom 28. Mai über den Lehrermangel gesprochen und gemeint, daß die Schulreformfinanzierung nur durch Steuererhöhungen möglich sei.
Das ist also die Situation, und daß sich jeder darüber Gedanken und Sorgen macht, wie wir hier bei den verschiedenen bedeutenden Prioritäten auf dem Gebiet der Erfüllung öffentlicher Aufgaben die Finanzierung sicherstellen wollen, ist legitim.
Ich habe mich sehr gefreut, feststellen zu können, daß manche Kollegen der CDU/CSU-Fraktion mit großer Aufmerksamkeit das Protokoll des SPD-Parteitags gelesen haben.
Unabhängig davon, daß Sie nun — das ist Ihr gutes Recht — Zitate bringen können, so wie sie Ihnen in Ihr Konzept hineinzupassen scheinen, verspreche ich mir trotz allem von einer so gründlichen Lektüre des Protokolls des SPD-Parteitages einiges in der Fortentwicklung Ihrer Haltung zur Demokratie
und zu der Erfüllung der gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zeit.
Meine Damen und Herren, Sie haben davon gesprochen, daß der Kollege Schiller und ich nun von den Jusos oder von wem immer „an den Rand" gedrückt worden seien.
Meine Damen und Herren von der Opposition,
machen Sie sich doch darüber keine Sorgen! Wir
werden mit den Dingen schon selber fertig werden,
und ich finde, Sie sollten nicht aus irgendwelchen Äußerungen und Diskussionsbeiträgen voreilige Schlüsse ziehen — so etwas kommt ja bei Ihnen vor —, sondern Sie sollten beispielsweise die Wahlen zum Parteivorstand unserer Partei, die geheim stattfinden, auch als ein politischs Votum werten, und da meine ich, daß wir — Herr Kollege Schiller und ich, wir haben jetzt im Hinblick auf das, was Kollege Stoltenberg ausführte, von dem Kollegen Schiller und von mir zu sprechen — uns über das Vertrauen, das uns der Parteitag für unsere weitere Arbeit entgegenbringt, überhaupt keine Sorgen zu machen haben. Wir sind mit diesem Vertrauensbeweis zufrieden. Und machen Sie sich auch keine Sorgen über diese Auseinandersetzung, die in unserer Partei stattfindet. In einer demokratischen Partei in einer solchen Zeit voller Widersprüche, voller Unruhe, voller Sorgen darüber, wie es weitergeht, sind solche Diskussionen nicht nur legitim, sondern eine zwingende Notwendigkeit, um den Meinungsbildungsprozeß in unserem Volke fruchtbar zu beeinflussen.
Wir werden mit den Dingen fertig. Ich empfehle Ihnen, sich darüber keine Sorgen zu machen, sondern sehr viel ernster die Sorge zu nehmen, die die große demokratische Partei, nämlich die SPD, Ihnen entgegenbringen muß: Wir wissen nicht, wie weit Sie noch nach rechts abrutschen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Müller-Hermann.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2859
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man den Ausführungen der Regierungs- und Koalitionssprecher folgt, so zieht sich ein roter Faden durch die sehr schönfärberischen Ausführungen: Es ist im Grunde alles in Ordnung; es ging uns in Deutschland noch nie so gut wie heute;
die Bundesregierung hat in Abstimmung mit der Bundesbank ausreichende Konjunkturdämpfungsmaßnahmen ergriffen, und die Maßnahmen zeigen ja auch bereits Wirkungen. Das ist doch der Tenor. Bloß, meine Damen und Herren, diese Behauptungen, auch wenn sie nach der Art einer tibetanischen Gebetsmühle ständig wiederholt werden, verschleiern einfach die Tatsachen und halten einer objektiven Lageanalyse nicht stand.Was die Preissteigerungsraten anbetrifft, so ist es ein außerordentlich gewagtes Unternehmen, aus nachlassenden Zuwächsen der Preissteigerungsraten konkrete Schlüsse bezüglich der konjunkturellen Entwicklung zu ziehen. Eine statistische Momentaufnahme gibt durchaus keinen festen Anhaltspunkt für einen Entwicklungstrend. Diesen Zweifel hat der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Dr. Rohwedder, vor kurzem einmal selbst mit den Worten geäußert: „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer." Vielleicht sollte sich der Herr Bundeswirtschaftsminister auch daran erinnern, daß er aus Konjunkturdaten etwa der Monate November und Dezember 1969 völlig falsche Interpretationen für den vor ihm liegenden Konjunkturablauf zog.
Herr Kollege Lenders hat etwas vertieft, was Herr Minister Schiller andeutete, daß sich nämlich aus den letzten Monatsziffern über die Preisentwicklung in Nordrhein-Westfalen ein allgemeiner Trend ableiten ließe. Nun, wir haben natürlich unsererseits die Zahlen, die sicherlich für diesen Termin etwas vorbereitet waren, prüfen lassen beim Statistischen Landesamt in Nordrhein-Westfalen, beim Statistischen Bundesamt und bei der Deutschen Bundesbank. Daraus ergibt sich ganz eindeutig daß diese Zahlen für Nordrhein-Westfalen mit Sicherheit nicht repräsentativ sind für die Bundesrepublik, sondern daß sich hier eine saisonbedingte Abschwächung ausdrückt. Vor allem hat die Preisentwicklung der saisonabhängigen Waren zu einer Abschwächung der Preisauftriebstendenzen beigetragen, insbesondere die Rubrik beim Preisindex für „nichtverarbeitete Frischwaren". Das hängt damit zusammen, daß im Bereich „Gemüse" nicht zuletzt durch billige Importe aus den Niederlanden eine Zufuhr von günstigen Angeboten ermöglicht werden konnte. Das ist richtig, bloß ist das eine saisonbedingte Augenblickserscheinung, die nichts über den langfristigen Trend der Preisentwicklung auszusagen vermag.Auf der anderen Seite hat der Kollege Stoltenberg schon deutlich gemacht, was von der deutschen Wirtschaft an Kostensteigerungen in den letzlen Monaten verkraftet werden mußte und in der vor uns liegenden Zeit verkraftet werden muß. Herr Kollege Kienbaum, die industriellen Erzeugerpreise sind um 6,4 % gegenüber dem Vorjahr angestiegen, die Kontokorrentkredite um 12 %; der Wohnungsbau ist bereits erwähnt worden, die Lohnsteigerungen sind erwähnt worden, Transportpreise, Energiekosten, Benzinpreise. Sie brauchen ja bloß die Zeitungen aufzuschlagen und zu rubrizieren, was an neuen Preis- und Kostensteigerungen der Offentlichkeit tagtäglich mitgeteilt wird.
Ich halte es in dieser Zeit für sehr bedenklich, der Offentlichkeit suggerieren zu wollen, die Entwicklung trete bereits in eine Phase der Beruhigung ein. Wenn Sie das Richtige hören wollen, dann fragen Sie vor allem einmal die Hausfrauen, die tagtäglich ihre Erfahrungen mit der Preisentwicklung machen müssen.
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung selbst hat ja in ihrem Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht zugegeben, daß die augenblickliche Nachfrage das Produktionspotential überfordere und sich in einer solchen Situation eben die Kosten ohne allzu großes Risiko in höhere Preise überwälzen lassen. Ich meine, wir müssen es schon ernst nehmen, wenn sicherlich sehr neutrale und objektive Beobachter wie die Bundesbank, wie eine Reihe von wissenschaftlichen Instituten oder wie die OECD uns darauf hinweisen, daß wir in der nächsten Zeit — sicherlich mit Schwerpunkt im Herbst dieses Jahres — mit einem ungewöhnlichen neuen Preisruck nach oben zu rechnen haben, einem Preisruck, der kaum noch einen Vergleich mit dem Preisanstieg in den letzten Monaten zuläßt.Auch aus der Entwicklung der Auftragseingänge meint die Bundesregierung eine Beruhigung der Konjunktur herauslesen zu können. Die Deutungen der Bundesregierung und ich möchte sagen, das gilt in etwa auch, Herr Minister Möller, für Ihre Auslassungen zur Steuerpolitik und zur Steuerlastquote —erinnern uns etwas an die Praktiken der Antike, wo die Orakeldeuter je nach der politischen Opportuniät vorgingen und alles herauzulesen wußten, was gerade in die Landschaft paßte. Die Bundesregierung versucht, was die Auftragseingänge anbetrifft, mit Hilfe einer sehr umstrittenen Berechnungsmethode, die auf die Arbeitstage eines Monats abgestellt ist, der Offentlichkeit weiszumachen, daß der Auftragseingang im April bereits um 6,1 % zurückgegangen sei. Herr Lenders, man kann Statistiken lesen lernen, aber man muß beim Lesen von Statistiken auch vorsichtig sein. Ich glaube, was hier herausgelesen wird, ist im Grunde statistische Rebulistik. Tatsächlich ist nämlich der Auftragseingang gegenüber dem Vorjahr noch um 8,8 % gestiegen, und damit liegen die Auftragseingänge immer noch um 5 % über den Umsätzen. Die CDU/CSU-Fraktion sieht diese Entwicklung nicht als eine sich bereits abzeichnende Konjunkturabschwächung an; vielmehr sieht sie sich in ihrer Auffassung bestätigt, daß die Anspannungen in der
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Dr. Müller-Hermannverarbeitenden Industrie noch nicht nachgelassen haben.Was die Abschwächung der Unternehmererwartungen anbetrifft, so ist sicherlich nicht zu leugnen, meine Damen und Herren, daß es eine Abschwächung gibt. Aber auch das kann man nicht gleichsetzen mit einer Beruhigung der Konjunktur. Wir sehen in dieser nachlassenden Unternehmererwartung viel eher ein Symptom für eine sich ausbreitende Unsicherheit, in einer Phase, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Bundesregierung die konjunkturpolitische Entwicklung aus der Hand geglitten ist und im Grunde niemand zu sagen weiß, wohin die 'Reise gehen wird.
Auch hier möchte ich einen sicherlich sehr unbefangenen, aber allseits geschätzten und anerkannten Zeugen anführen, nämlich den bisherigen Bundesbankpräsidenten Karl Blessing, der dieser Tage noch mit seinem sehr sicheren Gefühl für unterschwellige Vorgänge dem weitverbreiteten Unbehagen mit den Worten Ausdruck verliehen hat: Irgendwie hat man das Gefühl, daß der Wurm im Apfel drin ist.
Die sinkenden Unternehmererwartungen, meine Damen und Herren, sind eben nichts anderes als das Barometer für eine widersprüchliche, unglaubwürdige und fehlerhafte Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung.Ein Weiteres sollte gerade nach den 'Erfahrungen, die wir in den. 'letzten Monaten sammeln konnten, hinzukommen. Der Bundeskanzler und heute Herr Schiller erklären uns, wenn die Preisentwicklung über die 4 % Marge hinausgehen sollte, würden sie handeln. Nein, meine Damen und Herren, wenn man weiß, daß eine solche Entwicklung auf uns zukommt, dann muß man heute und jetzt handeln und nicht erst in dem Zeitpunkt, wo das Unglück geschehen ist.
Meine Damen ,und Herren! Ich muß noch einmal zurückkommen auf die Fehlerhaftigkeit ,dieser Wirtschaftspolitik, die sich im Grunde in zweierlei Hinsicht ¡geäußert hat. Daseine ist das umstrittene Thema Aufwertung, das ich hier unter keinen Umständen aufwärmen will, weil es sich dabei letztlich umeine Vergangenheitsbewältigung handelt. Wir befinden uns 'heute lin einer Phase — ich wiederhole das noch einmal, ich habe das schon bei einer anderen Gelegenheit einmal ,gesagt —, in einer Phase einer ausgemachten hausgemachten Inflation, die man nicht durch Vorgänge aus der Vergangenheit 'zu bemänteln versuchen sollte.
Die Tatsache ist doch, daß diese Bundesregierung sich aber allzu sehr auf 'die Wirkungen der Aufwertung verlassen hat. Der Parlamentarische Staatssekretär Arndt hat noch im Januar erklärt:Die Bundesregierung geht nichtdavon laus, daßdie 'Gefahr eines spiralförmigen Kosten- undPreisauftriebes in letzter Zeit zugenommen hatoder zu erwarten ist. Dank der Aufwertung der Deutschen Mark und ihrer deutlich ,auf der Handliegenden Wirkung ist das Gegenteil der Fall. Von der rückläufigen Preisentwicklung für die Einfuhren und die Ernährungsgüter gehen deutlich sichtbar stabilisierende Wirkungen auf ,die Verbraucherpreise aus.
Nun, die Erfahrungen haben bewiesen, daß diese ganze Hypothese falsch gewesen ist.Das zweite, meine Damen und Herren, was uns hier und heute beschäftigt und uns mit am meisten Sorge macht, ist die Tatsache, daß die Bundesregierung unter Verzicht auf Stabilisierungsmaßnahmen, die sie zu verantworten hätte, allein der Bundesbank 'das Bremsen überlassen hat.Kollege Möller, ich möchte jetzt nicht die Haushaltsberatung vorwegnehmen. Das, was Sie hier eben vorgetragen haben, wird mit Sicherheit von unseren Sprechern in der Haushaltsdebatte noch eingehend interpretiert und auch beantwortet werden. Aber auf einen Punkt möchte ich doch eingehen, und ich darf Sie, Herr Finanzminister, auch einmal um Ihre Aufmerksamkeit bitten! — Er hat wohl im Augenblick wichtigere Unterhaltungen zu führen.
Sehen Sie, Sie versuchen doch, die Entwicklung so darzustellen, als ob durch das Verhalten aller öffentlichen Hände einschließlich der Sozialversicherungsträger, wie Sie meinen, sogar eine antizyklische Wirkung entstanden sei. Die Sachverständigen haben gesagt, wenn man ,das insgesamt sieht, kann man bestenfalls von einer konjunkturneutralen Verhaltensweise sprechen. Aber jetzt kommt das Wichtige: Bei Ihrer Argumentation gehen Sie davon aus, daß .die Sozialversicherungsträger im Jahre 1970 Rücklagen in einer Größenordnung von 7 bis 8 Milliarden DM machen, die dem Wirtschaftskreislauf entzogen werden. Das ist doch aber vorläufig nur eine reine Hypothese! Sie müssen selbst auf Seite 8 Ihrer Antwort einräumen, daß Sie derzeit prüfen, ob sich solche Möglichkeiten ergeben, und müssen anschließend sagen, bisher hätten sich solche Möglichkeiten nicht ergeben. Sie zitieren dort das Schlechtwettergeld. Offensichtlich ist die Bundesregierung erst durch unsere Große Anfrage an die ungenützten Möglichkeiten der Antizyklik im Bereich der Sozialversicherung erinnert worden. Es bleibt aber, wie mir scheint, wichtig festzuhalten, daß erwartete oder erhöhte Finanzierungsüberschüsse in diesem Bereich keineswegs automatisch einen antizyklischen Effekt haben, wenn nämlich diese Mittel bei einer Vielzahl von Bankinstituten gehalten werden und von der Möglichkeit der Stilllegung bei der Notenbank kein Gebrauch gemacht wird.Auf diese sehr konkreten Zusammenhänge müssen Sie, sehr verehrter Herr Finanzminister, zunächst einmal mit der nötigen Beweiskraft eingehen, wenn Sie weiterhin von einer überzeugend antizyklischen Politik und Verhaltensweise der öffentlichen Hände sprechen wollen.
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Dr. Müller-HermannEs bleibt also dabei, meine Damen und Herren, daß der Schwerpunkt der Bremsmaßnahmen aus Mangel an Mut sowie Durchsetzungs- und Entscheidungskraft dieser Bundesregierung der Bundesbank allein überlassen werden mußte. Meine Damen und Herren, das heißt praktisch, das Bremsen ist im wesentlichen einseitig auf den investiven Bereich verlegt worden. Und das wiederum steht in Widerspruch zu dem, was der Bundeskanzler in letzter Zeit — gestern noch vor dem Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels — betont hat, zu der Notwendigkeit eines weiteren Kapazitätsausbaus. Denn natürlich wünschen auch wir einen weiteren Kapazitätsausbau der Wirtschaft; aber der wird doch durch die Hochzinspolitik, die als einziger Ausweg für eine Beeinflussung der Konjunktur übriggeblieben ist, gerade behindert.Diese Hochzinspolitik hat — auch hier kann ich nur das unterstreichen, was Herr Kollege Stoltenberg schon gesagt hat — eben den investiven Bereich betroffen, die mittelständischen und die kleinen Unternehmer sowie die Hypothekenschuldner, also durchaus den kleinen Mann, aber sie hat als Hebel sicher nicht an der richtigen, an der eigentlich notwendigen Stelle angesetzt, weil eben die Bundesregierung aus rein wahltaktischen Erwägungen andere, d. h. die richtigen und notwendigen Bremsmaßnahmen nicht ergreifen wollte.Ich darf auch in Erinnerung rufen, daß es der Bundeswirtschaftsminister noch in der Januar-Sitzung des Bundesbankrates durch sehr intensive Einreden verstanden hat, eine Diskontheraufsetzung hinauszuschieben, und zwar mit der damaligen Zusage an das Präsidium der Bundesbank, man werde seitens der Bundesregierung konjunkturpolitisch aktiv werden.
Das war zu einer Zeit, sehr verehrter Herr Kollege Schiller, zu ,der Sie noch die Öffentlichkeit und auch uns darauf hinwiesen, Sie seien eifrig bemüht, zu einer internationalen Zinsabrüstung zu kommen; Sie taten damals so, als ob diese unmittelbar bevorstünde. Und die Antwort, die Reaktion auf Ihre schönen Reden, war dann diese Hochzinspolitik, zu der die Bundesbank gezwungen worden ist.Unser Vorwurf richtet sich nicht gegen die Bundesbank, sondern gegen die Bundesregierung, die der Bundesbank gar keine andere Möglichkeit gelassen hat. Sie sind ja in Ihren neuesten Stellungnahmen auch hinsichtlich der internationalen Zinsabrüstung sehr viel vorsichtiger geworden und haben jetzt gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, werde man auch über dieses Thema sprechen können.Wir kommen in unserer Bewertung Ihrer Konjunkturpolitik nicht daran vorbei, daß die Tätigkeit der Regierung charakterisiert ist durch falsche Analysen, falsche Informationen, falsche Diagnosen, falsche Prognosen und durch das Setzen falscher, ungeeigneter Signale.
Der im Grunde beste Zeuge für diese These ist immer wieder der Herr Bundeswirtschaftsminister selbst. Er hat ja in der Öffentlichkeit, in diesem Hohen Hause und vor allem in seiner Partei und der Regierung deutlich gemacht, daß er anderen Maßnahmen den Vorrang gegenüber diesen Entscheidungen der Bundesbank gegeben hätte. Bloß hat sich der Herr Bundeswirtschaftsminister damit innerhalb seiner eigenen Reihen und innerhalb der Bundesregierung nicht durchsetzen können. Wir können es leider nur als ein Merkmal des persönlich sehr geschätzten Herrn Bundeswirtschaftsministers ansehen, daß er nicht gerade mit einem sehr starken politischen Rückgrat ausgezeichnet ist. Wir würden wünschen, daß er, wenn er das, was er für nötig und im Interesse der Allgemeinheit gar für dringend notwendig hält, nicht durchzusetzen vermag, notfalls auch einmal bereit ist, seinerseits die persönlichen Konsequenzen zu ziehen.
Wir waren ja bereit, aber wir sind nicht gefragt worden. Ja, noch mehr: man hat uns gar nicht erst gefragt, damit Ihnen nicht geholfen werden kann.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihre theoretischen Erkenntnisse nehmen sich manchmal wie goldene Worte aus. Ein Zitat aus Ihrem Munde zu dieser Hochzinspolitik — es liegt allerdings einige Zeit zurück — möchte ich Ihnen und uns doch nicht vorenthalten. Da heißt es nämlich:Eine Politik der hohen Zinssätze vermag zur Zeit nicht mehr ... die Preise zu senken. Im Gegenteil: In der augenblicklichen Situation— Sie wissen schon, wann das ungefähr gewesen ist —gibt der kostenerhöhende, d. h. jetzt preissteigernde Effekt hoher Zinssätze der seinerzeit im Gürzenich so eklatant vertretenen Ansicht eines politisch verdienten ökonomischen Laien mehr Recht als der überkommenen Theorie über „Geldzins und Güterpreise".Sie sagen dann selbst, „natürlich würden bei weiter verfolgter Restriktionspolitik eines Tages die Preise purzeln, aber dann eben auch durch Zusammenbrüche, also als Folge einer Stagnation oder schließlich einer Rezession". — Das sind Worte, die sich Ihnen wie uns heute gerne in Erinnerung rufen will.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung versucht jetzt mit ,einer, wie mir scheint, sehr, sehr bedenklichen und gefährlichen Argumentation, ihre eigene Untätigkeit und die Tatsache einer immer mehr schwindenden Stabilität zu rechtfertigen. Es wird in der Öffentlichkeit und auch heute in der Debatte eine völlig falsche Alternative aufgebaut zwischen angeblich gewollter Rezession und der Sicherung der Arbeitsplätze.
Das ist doch nichts anderes als der Versuch desHerrn Bundeskanzlers, eine psychologisch günstige
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2862 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Dr. Müller-HermannAusgangsposition für die bevorstehenden Landtagswahlen zu schaffen. Dieser Vorwurf, den Herr Lenders heute auch wieder anklingen ließ, wir von seiten der CDU/CSU hätten eine Rezession bewußt heraufbewören wollen, ist eine ganz infame Unterstellung, der ich mit aller Entschiedenheit entgegentreten muß.
Das ist einfach ein Schlag unter die Gürtellinie.
Wir sind überzeugte Anhänger einer marktwirtschaftlichen Ordnung, und zu einer modernen marktwirtschaftlichen Ordnung gehört das Bemühen, daß alle Produktionskräfte genutzt und optimal eingesetzt werden. Das heißt, zu einer modernen marktwirtschaftlichen Ordnung gehört — aus dem System selbst heraus — immer vorrangig auch das Ziel der Vollbeschäftigung. An dieser Tatsache wollen wir unter keinen Umständen rütteln lassen.
Tatsache ist aber folgendes: das Ziel der Vollbeschäftigung ist — das sage ich ausdrücklich — derzeit in keiner Weise gefährdet, im Gegenteil. Sehen Sie auf den leergefegten Arbeitsmarkt, auf die Zahl der Arbeitslosen und die Zahl der offenen Stellen. Sehen Sie die Zahl der Gastarbeiter, die wir heute in der Bundesrepublik haben; sie nähert sich der 2-Millionen-Grenze. Wenn in einer solchen Phase der Überbeschäftigung der Bundeskanzler immer nur von der Sicherung der Arbeitsplätze spricht, versucht er damit, die Wirtschaftsbürger langsam auf ein Stabilitätsbewußtsein hinzudrängen, das sich nicht mehr an der Stabilität der Preise, sondern offenbar mehr an dem inflatorischen Gleichschritt unserer Handelspartner orientieren soll.
Hier wird ganz bewußt eine völlig falsche Alternative aufgebaut, nur um das eigene Fehlverhalten und den eigenen Mangel an Entscheidungsfreudigkeit zu verschleiern.
Ich muß eine andere Anmerkung anfügen. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob die Vollbeschäftigung wirklich auf die Dauer gesichert werden kann, wenn dem Ziel der Preisstabilität eine so geringe Bedeutung zukommt.
In kurzfristiger Sicht sind in einer Phase des inflationären Überdrucks die Arbeitsplätze sicherlich nicht gefährdet, da die Preissteigerungen für die Unternehmer zunächst gewinnerhöhend und damit auch investitionsfördernd wirken. Sie pressen jedoch auf mittlere und längere Sicht den Gewinnspielraum zusammen, da die Kostensteigerungen der Vorprodukte und höhere Lohnkosten zu bewältigen sind.Genau in dieser Situation befinden wir uns heute. Die Industrie spürt immer mehr den zunehmenden Kostendruck, und die Gewinne gehen zurück. Ganz sicher werden trotz dieses Kostendrucks derzeit sogar noch vermehrte Rationalisierungsinvestitionen für nötig gehalten; aber mit Sicherheit werden in der nächsten Planungsphase unserer Wirtschaft sehr viel zurückhaltendere Dispositionen getroffen werden als in der jetzt noch in Gang befindlichen Planungsphase. In einer Situation der Übernachfrage lassen sich Kostensteigerungen zum Teil in den Preisen überwälzen. Dies wiederum führt zu Kostenerhöhungen nachgelagerter Industrien, und mit Sicherheit — ich füge hinzu: verständlicherweise — auch zu weiteren Lohnforderungen der Gewerkschaften.Preissteigerungen sind also für den einzelnen Unternehmer nur von kurzfristigem Interesse, weil sie seinen Gewinnspielraum à la longue real nicht vergrößern. Es wird jedoch — und eben das muß man sehen — ein sich selbst nährender Inflationsprozeß eingeleitet, und in dieser Phase eines konjunkturellen Überdrucks wächst dann die Störempfindlichkeit der Wirtschaft. Die Investitionschancen werden zu günstig eingeschätzt, da die konjunkturell bedingten Preissteigerungen eine künstliche Prosperität vortäuschen. Es kommt zu einer Übernachfrage auf dem Investitionsgütersektor mit der Gefahr auch eines Aufbaues von Überkapazitäten. Vor allem werden strukturelle Schwächen überdeckt.In einer vollbeschäftigten Wirtschaft gehen Wachstumsimpulse -- das ist eine unbestrittene volkswirtschaftliche Theorie — hauptsächlich von der Mobilität der Produktionsfaktoren aus. In einer Phase des konstanten Überdrucks aber wird gerade die intersektorale Wanderung gehemmt, und dadurch wiederum wird das zukünftige reale Wachstum beschnitten. Eine Überbetonung des Zieles Vollbeschäftigung in einer Phase der Überbeschäftigung heißt also de facto Verzicht auf reales zukünftiges Wachstum.
Reales zukünftiges Wachstum aber brauchen wir Politiker, wenn wir die Durchsetzung von Reformen auf unsere Fahnen schreiben. Bundeskanzler Brandt verstößt einfach gegen sein eigenes Kredo, wenn er leichtfertig auf die Stabilität des Geldwertes verzichtet.
Bei einer sich eines Tages wieder normalisierenden Konjunktur werden die Überkapazitäten und die strukturellen Fehlentwicklungen schlagartig sichtbar, und dies kann dann leicht dazu führen, daß die Investitionsneigung der Unternehmer einen echten Einbruch erfährt. Dannn ist wirklich die Gefahr von Arbeitslosigkeit und Rezession gegeben. Das sind die Fakten, meine Damen und Herren!Wenn Sie dann noch berücksichtigen, daß in einer sich abschwächenden Konjunkturphase bei uns möglicherweise parallele Entwicklungen bei unseren Handelspartnern eintreten, kann tatsächlich éin gefahrvolle Entwicklung auch für unseren Binnenmarkt entstehen mit einer wirklichen Gefährdung auch der Vollbeschäftigung.Innerhalb der SPD glaubt man aber offensichtlich stärker denn je, daß man ein hohes Wachstum leich-
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Dr. Müller-Hermannter erreichen kann, wenn man auf das lästige Ziel der Geldwertstabilität verzichtet und mehr von dem „süßen Gift der Inflation". Gebrauch macht. Auf diesen Irrglauben ist in der Wissenschaft, aber auch hier im Parlament oft genug hingewiesen worden.Ich will in dem Zusammenhang noch ein vorsichtiges Wort des Verdachts äußern, und hier wende ich mich an den Herrn Bundesfinanzminister „Schöller", ich meine natürlich Möller; ich verwechsle Sie schon mit Herrn Schiller.
Hofft man in den Kreisen der Koalition womöglich, sich bei dem auch von uns unterstützten Wunsch nach inneren Reformen über Inflationsraten und sich darauf ergebenden überproportionalen Steuereinnahmen die Finanzierungsquellen zu erschließen, von denen Sie, Herr Kollege Möller, soeben gesprochen haben? Das wäre genauso bedenklich, wie den bequemen Weg einer Steuererhöhungspolitik einzuschlagen.Es ist schon verschiedentlich von sachkundiger Seite auf die Gefährlichkeit all dieser Thesen hingewiesen worden. Ich möchte nicht, daß wir über einen bewußten Inflationskurs zu einer stillschweigenden Steuerlastquotenanhebung kommen. Die Berechnungen, die Sie, Herr Finanzminister, über ein Absinken der Steuerlastquote in der mittelfristigen Finanzplanung angestellt haben, setzen eben einen Stabilitätskurs voraus, von dem bisher nichts zu merken ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die immer deutlicher werdende Inflationsmentalität dieser Bundesregierung greift natürlich auch innerhalb unserer Wirtschaft, innerhalb der Offentlichkeit mehr und mehr um sich. Offenbar sind die Unternehmer heute dazu übergegangen, bei ihren Preiskalkulationen die zu erwartenden Inflationsraten schon vorwegzunehmen. Das gleiche tun die Gewerkschaften bei ihren Lohnforderungen. Aus dieser Haltung entwickelt sich dann auch ein sich selbst nährender und immer weiter verschärfender Inflationsprozeß. Wenn dann noch Vorgänge hinzukommen in einem Bereich, der durch eine Monopolsituation gekennzeichnet ist — wie etwa bei der Kohle —, dann wird dieses Spiel der beiden Sozialpartner letztlich auf dem Rücken der Verbraucher noch deutlicher und prononcierter.
Allmählich beginnt aber dieses Inflationsdenken auch unsere Verbraucher zu erfassen, die sich natürlich mit Recht sagen: Es ist besser, heute zu kaufen als morgen, wo die Dinge noch teurer werden, und trotz steigender Baukosten lieber noch heute zu bauen als ein oder zwei Jahre später, wo man mit noch höheren Baukosten zu rechnen hat. Ich glaube, dieser Prozeß eines um sich greifenden Inflationsdenkens, einer um sich greifenden Inflationsgewöhnung bei unseren Verbrauchern ist in vollem Gange.Diese Entwicklung, meine Damen und Herren, ist letztlich auf einen Schwund an Vertrauen in die politischen Führungskräfte der Bundesrepublik zurückzuführen, wie wir ihn in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nicht gehabt haben,
und das nach acht Monaten Regierungstätigkeit dieser Koalition. Der abnehmende Sparwille
und die immer mehr wachsende Konsumbereitschaft sind die beredtesten Anzeichen des äußerst gefährlichen Vertrauensschwundes in weiten Kreisen der Offentlichkeit.
Ich weiß, die Bundesregierung — und Sie machen das mit Ihren Zwischenrufen eben auch — versucht, das Nachlassen des Sparwillens in der Offentlichkeit zu bagatellisieren. Aber auch hier sprechen die Tatsachen eine ganz eindeutige Sprache. Im Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht führt die Bundesregierung das Zurückgehen der Sparneigung im wesentlichen auf die veränderte Struktur der Einkommensbildung zurück: stärkerer Anstieg der sparschwachen Einkommen, Verlagerung der Spartätigkeit. Nach Ansicht der Sparerschutzgemeinschaft, deren Erklärungen immerhin eine Aussagekraft haben, trifft diese Begründung durchaus nicht den Kern. Sie würde nur dann eine hinreichende Erklärung bieten, wenn die Privatentnahmen und die Einkommen aus Vermögen absolut erheblich zurückgingen. Das ist jedoch schon deswegen unwahrscheinlich, weil die Zins- und Mieteinnahmen stark gestiegen sind und weiter stark ansteigen werden.In Wirklichkeit ist nicht ein geringer, sondern ein drastischer Rückgang der Sparquote schon vorhanden und für die Zukunft zu erwarten. Jedenfalls betrug er im ersten Vierteljahr 1970 gegenüber dem gleichen Vorjahrsquartal nach den Berechnungen der Sparerschutzgemeinschaft über einen %-Punkt. Das heißt, die Sparquote ist von 11,5- auf 10,4 % zurückgegangen. Woher die Bundesregierung die Zuversicht nimmt, daß die Ersparnis aus den Masseneinkommen und den entnommenen Gewinnen 1970 höher sein wird als im Vorjahr, ist deshalb unerklärlich. Im ersten Vierteljahr sind die Ersparnisse der privaten Haushalte gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum nicht nur langsamer gestiegen, sondern sogar absolut zurückgegangen,
und das bei einer Steigerung des verfügbaren Einkommens um etwa 10 %.Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Es ist eben eine Flucht in die Sachwerte im Gang.
Das sind die Tatsachen. Die auch von Kollegen Stoltenberg mit Recht vorgetragene Tatsache, daß die Sachwertbesitzer durch eine Inflationsentwicklung begünstigt werden, erkennen nun eben auch die Sparer, die einen Weg suchen, wo sich ihnen die Möglichkeit bietet, lieber Sachwerte anzuschaffen, als ihr Geld der Bank und damit der Politik anzuvertrauen.
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2864 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Dr. Müller-HermannIm Zusammenhang mit dieser Sparentwicklung ist auch mit einem neuen Konsumstoß in den vor uns liegenden Monaten zu rechnen. Ich würde diese ganze bedenkliche Situation als eine durchaus berechtigte „Unruhe an der Heimatfront" charakterisieren, die durch die Taten und die Tatenlosigkeit dieser Bundesregierung zustande gekommen ist.
Eine letzte Bemerkung, meine Damen und Herren.
Sicherlich hat nicht nur die konjunkturpolitische Situation zur Verunsicherung der Wirtschaft und breitester Bevölkerungsschichten Anlaß gegeben, sondern auch Dinge, die sich innerhalb der maßgeblichen Regierungspartei auf dem Gebiet der Programmatik und der Gesellschaftspolitik andeuten. Ich will hier die Stichworte „Kapitalbewegung ins Ausland" oder „Börsenstimmung" nicht vertiefen. Aber daß es auch für solche Tendenzen und ihren Zusammenhang mit der Regierungspolitik, Anhaltspunkte gibt, ist ganz unbestritten. Die Gründe liegen in dem Verdacht, in der Sorge, daß unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung und unsere marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung durch diese Regierung und vor allem durch die sie in erster Linie tragenden Kräfte innerhalb der SPD möglicherweise in Gefahr gebracht werden.
Ich weiß — auch Herr Möller hat es selbst bestätigt —, daß nicht nur bei uns, sondern auch in Ihren eigenen Reihen die Sorge vorhanden ist, daß eine solche Entwicklung in Gang kommen könnte. Aber ich glaube, man darf sich auch auf Ihrer Seite die Dinge nicht so einfach machen, nun zu sagen: Bitte, kümmert ihr euch nicht um das, was bei uns vorgeht. Hier dreht es sich wirklich um Kardinalfragen für die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaftsordnung.
Hier sind wir alle zur Wachsamkeit aufgerufen, nicht nur Sie, meine Damen und Herren.
Von Herrn Lenders und, in etwas vorsichtigerer Form, von Herrn Schiller wurde wiederholt die Frage nach unserem eigenen konstruktiven Konzept gestellt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ratschläge brauchen Sie doch eigentlich nicht mehr. Denn nicht nur von seiten der CDU/CSU ist in mehreren programmatischen Aussagen und in einer Fülle von Anträgen in diesem Hause und bei den Beratungen des Haushaltsausschusses sehr deutlich gesagt worden, was wir für nötig halten. Entsprechende Ratschläge sind Ihnen auch von neutralen, zu dieser Aufgabe berufenen Institutionen in Fülle gegeben worden. Wenn also unsere Vorstellungenund Vorschläge weitgehend mit dem identisch sind, was auch von anderer sachverständiger Seite vorgetragen worden ist, können Sie doch nicht immer Ihre eigene Untätigkeit damit entschuldigen, daß wir nicht genügend konkrete und praktikable Vorschläge in den Raum gestellt hätten.
Sie haben sich ebenfalls lange Zeit in der Tätigkeit einer Opposition üben müssen. Wir haben deutliche Angebote gemacht. Wir haben sogar darauf gewartet, auch bei unbequemeren Fragen von der Regierung angesprochen und zur Mitverantwortung herangezogen zu werden. Wenn es hier im Parlament zum Schwur käme, würde sich schon herausstellen, wer den Mut und die Entschlußkraft auch zu angeblich unbequemen und unpopulären Entscheidungen aufbringt. Aber, meine sehr verehrten Herren von der Regierungskoalition, Sie können letztlich nicht von uns, der Opposition, erwarten, daß wir für Sie die Kastanien aus dem Feuer holen,
die Sie anzufassen nicht geneigt sind.
Hier und heute geht es um die Verantwortung der Verantwortung tragenden Bundesregierung und der die Regierung tragenden politischen Kräfte. Noch am 12. Dezember 1969 hat Herr Bundeskanzler Brandt sehr offen gesagt:Vor unpopulären Entscheidungen dürfen wir uns nicht drücken, wenn sie sachlich geboten sind. Wir werden nicht daran gemessen, ob und wie wir die schwierigen Fragen ausklammern, sondern daran, daß und wie wir die Probleme anpacken.
Das ist ein schöner Satz. Wenn er doch nur einmal praktiziert worden wäre! Das wäre besser gewesen, als starke Worte zu gebrauchen, an die man später nicht erinnert werden will.
Nach diesem Zitat des Herrn Bundeskanzlers kann ich mich auf die Feststellung beschränken, wenn der Herr Bundeskanzler an seinem eigenen Leitbild gemessen werden will, kann das Urteil zumindest nach den bisherigen Erfahrungen nur lauten: gewogen und zu leicht befunden.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schachtschabel. Für ihn sind 30 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die bisherigen Ausführungen in der sogenannten Konjunkturdebatte überschaut, scheint das Anliegen der Oppo-
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Dr. Schachtschabelsition in erster Linie darin zu liegen, daß man von „Idyllen" spricht oder fordert, ernste Aussagen zu machen. Man hat sogar, wie Sie zuletzt gehört haben, gesagt, die Behauptungen der Bundesregierung verschleierten die Tatsachen,
und statistische Angaben könnten noch keine festen Anhaltspunkte geben. Dieser gesamte Katalog, meine Damen und Herren, verlangt, glaube ich, eine Antwort. Wir sind bereit, uns ernsthaft mit Ihnen auseinanderzusetzen, wenn Sie dazu Zeit haben. Wir haben Zeit dazu. Man sollte sich einmal überlegen, was denn überhaupt in der wirtschaftlichen und' konjunkturellen Entwicklung passiert ist.Legen wir einmal das in der letzten Zeit vorgelegte Gutachten der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute und auch das Sondergutachten der Sachverständigen zugrunde, und nehmen wir die dort aufgezeigten Konjunkturindikatoren als Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Dann, glaube ich, kommen wir auch auf eine sachlich tragbare Ebene, von der aus diskutiert werden kann. In diesen beiden angezogenen Gutachten wird gesagt, daß mit einer Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts 1970 um 12,5 % statt, wie bisher angenommen, um 9,5 % isowie mit einem Steigen der Verbraucherpreise um 4 % statt um 3 % zu rechnen ist. Wenn wir diese Fakten, die ganz gewiß auch in der Sicht der politischen wie der wissenschaftlichen Argumentation eine ungemein bedeutsame Rolle spielen, zugrunde legen, so ,können diese Fakten in keiner Weise Anlaß dafür sein, die konjunkturelle Entwicklung hochzuspielen und zu argumentieren, es handle sich hier um Verschleierung von Tatsachen.
Wir gehen von diesen Tatsachen aus. Denn wie schon in den Ausführungen des Kollegen Lenders gesagt worden ist: Was sollen denn derartige Anfragen in einer Situation, von der man zuerst einmal sagen müßte, daß wir um eine Sicherheit, um eine Stabilität, um eine Beruhigung der wirtschaftlichen Situation bemüht sein ,sollten? Hier wird aber offenbar versucht, Unsicherheit zu verbreiten, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, und zwar sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer, vermutlich deswegen — ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren —, auf jeden Fall vor dem Wahltag noch genügend Angst aufkommen zu lassen.
Hier ist doch wohl, meine Damen und Herren, wie es vorhin auch Herr Bundesfinanzminister Dr. Möller angesprochen hat, die Frage angebracht, inwieweit von der Opposition versucht wird, die Inflationsangst der deutschen Bevölkerung für wahlpolitische Zwecke zu benutzen, ohne daran zu denken, daß — ich muß auf diesen Punkt noch einmal zurückkommen — die im Januar 1970 von der Opposition, der CDU/CSU, vorgeschlagenen Maßnahmen — also Kindergelderhöhung, Steigerung der Kriegsopferrenten nicht um 16, sondern im 22 % — nachden schon angeführten Quellen, nämlich dem „Volkswirt" Nr. 22 vom 29. Mai 1970, „das Befinden des Patienten noch verschlimmert" hätten.Die zur Beurteilung der gegenwärtigen Konjunkturlage relevanten Daten zeigen deutlich, daß mit einer Abschwächung der Preisauftriebstendenzen gerechnet werden kann. Meine Damen und Herren — das sei insbesondere der Opposition gesagt —, wenn Sie eine ernste Auseinandersetzung verlangen, dann müssen Sie es sich auch gefallen lassen, daß wir mit aufbereitetem, mit verarbeitetem Material aufwarten. Gewiß ist in der letzten Zeit eine Fülle von Material auf uns zugekommen, und manche Angabe können auch den Eindruck erwekken, als ob hier widersprechende Meinungen aufgekommen seien. Wir glauben aber, daß Anlaß genug dazu besteht, in aller Ruhe und in aller Sachlichkeit auf ,ein paar Fakten noch einmal einzugehen, selbst wenn sie in den vorausgegangenen Debatten mit erwähnt und angeschnitten worden sind.Während im Januar 1970 gegenüber dem Dezember 1969 die Erzeugerpreise industrieller Produkte um 1,4 % gestiegen sind, ging diese Rate bis März auf 0,3 % gegenüber dem Vormonat zurück. Ich zitiere dazu — das erscheint mir wichtig — den Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom April 1970, wo es wörtlich heißt: „Seit Juli 1969 war dies die niedrigste monatliche Steigerungsrate." Da kann man nicht mehr von Verschleierung sprechen, meine Damen und Herren, oder man ist böswillig. Ich stelle anheim, wie man darüber befindet.Bei den Erzeugerpreisen für Verbrauchsgüter belief sich der Anstieg im März auf 0,2 %, nach einem starken Preisauftrieb zu Beginn dieses Jahres.Auch beim Index für die Lebenshaltungskosten zeigt eine sich abschwächende Tendenz. Er war im Januar 1970 gegenüber Dezember 1969 noch um 1,2 v. H. gestiegen; im März betrug der Anstieg nur noch 0,4 %, im April 0,2 %.Daraus wieder die Folgerung, wobei wir dazu wiederum die Ansichten von jenen Leuten heranziehen, die dazu berufen sind. Nach dem IFO-Konjunkturtest für März 1970 waren zwar noch Preissteigerungen für industrielle Güter zu konstatieren, jedoch mit weiter sinkender Wachstumsrate. Per Saldo ging die Erwartung steigender Preise, die bei der verarbeitenden Industrie in den Wochen vor der Bundestagswahl mit 30 gemessen wurde, im Januar auf 27 und im März auf 8 zurück. Auch im Großhandel haben die Preissteigerungen laut IFOTest nachgelassen. Sie werden sich nach Meinung der Firmen in den kommen Wochen weiter abschwächen.Ich bin reichlich verwundert, daß hier in den Argumenten der Opposition gesagt worden ist, daß man auf derartige Erwartungen nichts gebe. Ich frage sie einmal: wen sollen wir denn eigentlich in unseren Betrachtungen über den Befund der Verhaltensweisen in erster Linie ansprechen, wenn nicht gerade die Unternehmen und daneben auch die dafür zuständige sozialpartnerschaftliche Organisation der Arbeitnehmer?! Aber hier geht es erst einmal darum, wie der Unternehmer und die Unter-
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Dr. Schachtschabelnehmen diese Entwicklung beurteilen. Diese Entwicklung, von der wir gesprochen haben, zeigt sich darin deutlich, daß auch nach Meinung der Firmen, wie wir noch einmal wiederholten dürfen, in den kommenden Wochen sich weitere diesbezügliche Verläufe abschwächen werden.Dieselbe Entwicklung zeichnet sich im Bereich des Einzelhandels ab. Ich zitiere wörtlich:Nach den Meldungen der Testfirmen hat sich der Preisanstieg im Einzelhandel etwas verlangsamt.Weiter — und das scheint mir wichtig :Für die nächsten Monate rechnet man mit einer weiteren Abschwächung der Preisauftriebstendenzen.
Diese Fakten und Tatsachen, daß die Industrie ihre Chancen bereits zurückhaltender beurteilt und die Bestelltätigkeit bei der Industrie im März 1970 sowohl im Inlandsgeschäft als auch im Auslandsgeschäft ruhiger als im langfristigen Durchschnitt um diese Jahreszeit war, machen die zu erwartenden weiteren konjunkturellen Entspannungstendenzen sichtbar.Ich mußte auf diese Dinge eingehen, weil vorhin der schwere Vorwurf erhoben worden ist, daß hier Verschleierungstaktik mit nicht ordnungsgemäß aufbereiteten Zahlen vorliege und andere Situationen gegeben seien.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Schachtschabel, wollen Sie dabei völlig die Aussagen prominenter Vertreter des Handels und des Einzelhandels übergehen, daß auf Grund der in den letzten Monaten eingetretenen Kostensteigerungen spätestens im Herbst gerade im Bereich der Lebensmittel mit einem neuen kräftigen Preisruck nach oben zu rechnen ist?
Ich werde gleich in meinen weiteren Ausführungen noch darauf eingehen. Aber, Herr Kollege Müller-Hermann, vorhin ist ja in aller Deutlichkeit gesagt worden, daß gewisse Entwicklungstendenzen, die für bestimmte Bereiche, wie Sie selber wissen, als Indikator zugrunde gelegt werden, dann in der Verhaltensweise antizipiert werden. Ich sehe keine zwingende Notwendigkeit, diese Ihre Meinung, die Sie hier dargelegt haben, zu unterstützen. Ganz im Gegenteil, ich bin der Meinung, daß, wenn allgemeine Abschwächungstendenzen sichtbar werden, sich auch das, was Sie hier für einen besonderen Bereich dargelegt haben, entsprechend abwickeln und abschwächen wird.
Diese Entwicklung, von der wir gesprochen haben — und darauf darf ich noch einmal aufmerksam machen —, die auch mit dem im Zusammenhang steht, worauf Herr Kollege Müller-Hermann eingegangen ist, wird auch durch die Gemeinschaftsprognose der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute gestützt. Sie charakterisiert die gegenwärtige konjunkturelle Situation, wie wir wissen, als Spätphase des Aufschwungs, der sich dadurch grundlegend vom Boom 1964/66 unterscheidet, daß die bekannten konjunkturpolitischen Maßnahmen der Bundesbank und der Bundesregierung — darauf hat Herr Bundesfinanzminister Möller aufmerksam gemacht diesmal in die gleiche Richtung zielen. Die Konjunkturforscher rechnen für 1970 mit der Beibehaltung eines hohen Beschäftigungsgrades, eines angemessenen Wachstums der Produktion und einer hohen Kapazitätsauslastung.
Die Entspannungstendenzen werden aber in den kommenden Monaten — so sagen die Konjunkturforscher — deutlichere Konturen gewinnen. Ich glaube, wenn man das einmal zugrunde legt, ist man in der Lage, auch die jetzige Situation nüchterner, ruhiger und objektiver zu beurteilen. Der Preisauftrieb wird sich zwar entgegen früheren Prognosen nach Ansicht der sechs wirtschaftswissenschaftlichen Institute auf nahezu 4 % belaufen, jedoch im Verlauf des Jahres abschwächen. Für die Entwicklung der Preise in der Bundesrepublik sei, so wird gesagt, vor allen Dingen auch der Zusammenhang mit den weltwirtschaftlichen Vorgängen verantwortlich.Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, daß in diesem Zusammenhang besonders auf einen Punkt eingegangen werden muß, der auch hier in den Diskussionen immer wieder eine Rolle spielte. Ich meine die Stellungnahme des Sachverständigenrates im Sondergutachten zur Konjunkturlage im Frühjahr 1970. Zunächst einmal ist festzustellen, daß die Beurteilung der gegenwärtigen konjunkturpolitischen Situation und der nach Meinung der Sachverständigen zu ergreifenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen in einigen wesentlichen Punkten von der Beurteilung durch die Konjunkturforscher abweicht. Schon darin und in der ständigen Revision konjunkturpolitischer Prognosedaten gegenüber den letzten Prognosen zur Jahreswende kommt die Problematik wirtschaftspolitischer Prognosen und der daraus resultierenden Vorschläge für Maßnahmen zur Beeinflussung der Konjunktur zum Ausdruck. Darüber haben wir hier bereits befunden. Dennoch kann nur ein ständiges Prüfen und Verbessern der Einschätzungen weiterhin sachgerechte Entscheidungen und damit Stabilität und Wachstum sichern.Was uns bewegt, diesen Punkt aufzugreifen, ist, daß wir hier an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit feststellen wollen und müssen: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich uneingeschränkt zu den im Stabilitätsgesetz fixierten Zielen der Stabilität, des Preisniveaus, eines hohen Beschäftigungsstandes und eines außenwirtschaftli-
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Dr. Schachtschabelchen Gleichgewichtes bei stetigem und angemessenem Wachstum.Es scheint jedoch unter Berücksichtigung des entsprechenden time-lag konjunkturpolitischer Maßnahmen ratsamer zu sein, erst einmal die Auswirkungen der von Bundesbank und Bundesregierung getroffenen Maßnahmen abzuwarten, ohne gleich nach weiteren Maßnahmen zu rufen. Dementsprechend verhält sich die Regierung gegenwärtig, und ich kann dieses Verhalten nur unterstützen, zumal die neuesten konjunkturpolitischen Daten die bisher getroffenen Maßnahmen ganz eindeutig rechtfertigen.Wenn nun im Sondergutachten des Sachverständigenrates von der Bundesregierung gegenwärtig wirtschaftspolitische Aktivitäten gefordert werden, um das Ziel der Preisstabilität zu erreichen, so muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß solche Aktivitäten die Gefahr rezessiver Erscheinungen mit sich bringen können. Dies würde gleichzeitig bedeuten, daß das wirtschaftspolitische Ziel der Vollbeschäftigung bewußt vernachlässigt werden müßte, was angesichts der Erreichung der genannten wirtschaftspolitischen Ziele sehr bedenklich wäre.Ich mache auf eine Passage in dem Sondergutachten des Sachverständigenrates aufmerksam. Da mir diese Passage außerordentlich wichtig erscheint, weil ich glaube, daß wir — Sie taten es vorhin ebenfalls — auch wirtschaftsgeschichtliche Verläufe berücksichtigen sollten, möchte ich mir erlauben, diese Passage zu verlesen. In dem Sondergutachten des Sachverständigenrats heißt es:Wir halten es für möglich, aber nicht für sehr wahrscheinlich, daß zusätzliche Maßnahmen zur Dämpfung der Nachfrageexpansion einen unerwünchst großen Rückgang des Beschäftigungsstandes bewirken.Und nun kommt dieser berühmte Nachsatz, den man einmal sehr ernsthaft analysieren sollte; denn dieser Nachsatz heißt:Sollte es aber zu einem stärkeren Beschäftigungsrückgang kommen, so bestehen bessere Möglichkeiten als je zuvor, dem rasch entgegenzuwirken: aufgrund des Stabiltäts- und Wachstumsgesetzes, aufgrund der Erfahrungen der konjunkturpoltischen Instanzen mit der Rezession 1966/67 sowie aufgrund der Liquiditätssituation der öffentlichen Hand.Wir wissen alle sehr wohl — und das darf ich hier einmal sehr ernsthaft aussprechen —, wie sehr unsere wirtschaftliche Entwicklung und unsere wirtschaftliche Situation auf die politischen Verhaltensweisen unserer Bevölkerung Einfluß nimmt.
Meine Damen und Herren, haben wir denn vergessen, daß es eine Weltwirtschaftskrise mit 6 und mehr Millionen Arbeitslosen gegeben hat, die dann zur Folge hatte, daß sich diese Menschen in ihrer Verzweiflung extremen Parteien zugewandt haben?
Wenn Sie das wollen, meine Damen und Herren,
dann müssen Sie sich auch über die Folgen im klaren sein.
So heißt es auch im Sachverständigengutachten sehr deutlich, es müsse zwischen der Priorität von Wachstum und hohem Beschäftigungsstand einerseits und Preisniveaustabilität andererseits entschieden werden. Unter dieser Alternative hat sich die Bundesregierung ganz eindeutig für Wachstum und Vollbeschäftigung entschieden.
Wenn eine von Ungeduld — so heißt es dort — geprägte Stabilitätspolitik — und dieses Wort ist hier zitiert worden — betrieben würde, so bestünde die Gefahr, eine ähnliche Entwicklung wie in den USA in Kauf nehmen zu müssen, wo die Arbeitslosenquote achtmal höher liegt als gegenwärtig in der Bundesrepublik bei gegebener Voll- und Überbeschäftigung. Sie erinnern sich vielleicht, daß in den Vereinigten Staaten durch die dort getroffenen Maßnahmen — wie es auch in den letzten Tagen eindeutig berichtet worden ist — eine ,,Kosteninflation bei zunehmender Arbeitslosigkeit" eingetreten ist. Man versuchte, eine Abkühlung der Wirtschaft zu erreichen, und man ist in eine Arbeitslosigkeit geraten, ohne daß es zu einer Verlangsamung der Preissteigerungen gekommen ist. Diese Entwicklung, die sich in den Vereinigten Staaten abzeichnet, sollte auch für die Überlegungen, die hier anstehen, berücksichtigt werden.
Wenn man die gegenwärtige Situation berücksichtigt, muß man noch vermerken, daß die letzte Vergangenheit, aber auch die Gegenwart zeigen, daß die Unternehmen in der gegenwärtigen Situation Nachfrage- und Kostenerhöhungen in ihrer Kalkulation antizipieren. Darauf ist ja auch eben durch eine Zwischenfrage — ich möchte fast sagen: verstärkt — aufmerksam gemacht worden. Wenn das so ist — und ich glaube, daß es in verschiedenen Fällen zutrifft —, dann ist es auch verständlich, daß die Gewerkschaften die zu erwartenden Preissteigerungen bei ihren Lohnforderungen berücksichtigen müssen. Wenn wir diesen Zusammenhang aufzulösen in der Lage sind, glaube ich, daß wir damit auch eine entsprechende Ausgangsposition finden.Ich darf vielleicht noch darauf aufmerksam machen, daß wir aus der eben dargelegten Überlegung die Folgerung ziehen können, daß es bei der Entscheidung über die Priorität, nämlich Vollbeschäftigung und Wachstum einerseits und Preisniveaustabilität andererseits, ganz gewiß einen engen Zusammenhang gibt. Es ist keineswegs so — auch darauf müssen wir eine Antwort geben, weil es gerade in den letzten Ausführungen angeklungen
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Dr. Schachtschabel .ist —, als ob wir alle miteinander — oder gar die Bundesregierung oder sonst jemand — uns in eine Situation hineinschaukeln, die da heißt: Wir wollen uns daran gewöhnen, „mit der Inflation zu leben", wie man mit einer Atombombe lebt.
— Das ist eben nicht der Fall! Wenn Sie diese Auffassung vertreten, glaube ich eben, daß es notwendig ist, noch weitere Konjunkturdebatten zu führen, um Ihnen noch einmal in allen Einzelheiten und auch in aller Offentlichkeit die Indikatoren, die Daten und die Fakten klar und deutlich vorzuführen. Halten Sie es nicht für professorales Getue, wenn ich sage: manchmal habe ich den Eindruck, als ob Sie gar nicht richtig aufpassen.
Lassen Sie uns zu dem Ausgangspunkt, den wir eben markiert haben, zurückkommen, von dem wir sagen können: diese Prioritäten sind gesetzt. Das schließt nicht aus — das müssen wir noch einmal betonen —, daß alle notwendigen Bemühungen um Preisniveaustabilität unternommen werden. Die jetzige Situation aber rechtfertigt durchaus den Beschluß der Bundesregierung in der Kabinettssitzung vom 21. Mai 1970, gegenwärtig keine zusätzlichen konjunkturpolitischen Maßnahmen zu ergreifen. Die in früheren Konjunkturphasen getroffenen wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen — und solche Fehlentscheidungen müssen wir konstatieren— können nun einmal nicht sofort, sondern nur Schritt für Schritt korrigiert werden.Rigorose konjunkturpolitische Maßnahmen, wie sie vom Sachverständigenrat unter Berücksichtigung des wirtschaftspolitischen Zieles der Preisniveaustabilität vorgeschlagen werden, können schon deshalb nicht akzeptiert werden, weil sie eine Preisdämpfungspolitik unter bewußter Inkaufnahme von Beschäftigungsrückschlägen bewirken. Hierdurch wird nicht nur das wirtschaftspolitisch vorrangige Ziel — ich betone: das vorrangige Ziel der Vollbeschäftigung — gefährdet, sondern es werden durch derartige vorgeschlagene Maßnahmen auch ernsthafte Sorgen bei den Arbeitnehmern um ihre Arbeitsplätze hervorgerufen, wodurch wiederum soziale und — wie wir noch einmal betonen müssen — auch politische Folgen eintreten können, die wir sicherlich alle nicht für wünschenswert halten.
Lassen Sie mich abschließend noch auf einen Punkt hinweisen. Die Überlegungen, die heute morgen vorgetragen worden sind, und die vielen vorliegenden Daten zusammengenommen geben uns Gewißheit darüber, daß wir ,uns in einer Situation befinden, die es gerechtfertigt erscheinen läßt, jetzt nicht in hektischer Art und Weise, weder diskussionsmäßig noch in der praktischen Auswirkung, konjunkturpolitische Maßnahmen in der Form einzusetzen, daß dadurch nicht abschätzbare Wirkungen eintreten können. Ich bin der Meinung, daß von der jetzigen Situation aus, so wie wir sie analysiert haben und wofür uns auch die Bundesregierung, spzeiell das Bundeswirtschaftsministerium, die notwendigen Entscheidungsgrundlagen geliefert hat, gesichert in die weitere wirtschaftliche Entwicklung gegangen werden kann. Es steht fest, daß — was noch einmal betont werden muß — die Vollbeschäftigung, das Wachstum und das Einschwenken in ein stetiges Wachstum bei weitgehender Preisniveaustabilität nicht nur das erklärte Ziel der Bundesregierung, des Bundeswirtschaftsministeriums, sondern auch all unserer Freunde sind, die wissen, daß wir uns unterscheiden von Anhängern einer Wirtschaftspolitik des Laisser-faire oder wie sie ähnlich vorhin benannt worden ist.
Wir bemühen uns, wie es Herr Bundeswirtschaftsminister Schiller deutlich gesagt hat, um eine rationale Wirtschaftspolitik, wobei wir aus der Einsicht der jeweiligen Situation die entsprechenden Folgerungen zu ziehen wissen. Das, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung, das Bundeswirtschaftsministerium, bewiesen und wird es auch weiterhin unter Beweis stellen!
Ehe ich weiter das Wort erteile, mache ich darauf aufmerksam, daß es 13 Uhr ist. Wenn ich richtig unterrichtet bin, hatten die Fraktionen vereinbart, daß um 14 Uhr die Haushaltsberatungen beginnen sollen.
— Gut. Ich mache schlicht darauf aufmerksam. Wir haben noch 60 Minuten Zeit bis dahin. Ich habe hier noch fünf Wortmeldungen. Außerdem wird der Herr Bundesminister für Wirtschaft noch sprechen. Ich bitte also, sich entsprechend einzurichten. Was meine Möglichkeiten und meine Verpflichtung anbetrifft: Wenn hier nicht eine Einigung erfolgt, wie verfahren werden soll, dann werde ich die Wortmeldungen, die hier vorliegen, abwickeln müssen.
— Es ist Ihre Sache, das zu vereinbaren.
-- Ich kann nur sagen: Entweder kommt eine Vereinbarung zustande, oder ich verfahre nach der vorliegenden Rednerliste.
Das Wort hat der Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident!- Meine sehr geehrten Damen und Herren! An mir soll es nicht liegen, daß wir nicht pünktlich um 14 Uhr mit den Haushaltsberatungen beginnen können. Ich möchte mich auf einige grundsätzliche Bemerkungen und auf
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Kirsteinige Ausführungen hinsichtlich der Haushaltspolitik beschränken.Die Kollegen Stoltenberg sowohl wie Müller-Hermann haben in ihren Beiträgen, ich würde sagen, sehr leichtfertig mit dem Begriff Inflation um sich geworfen. Daß muß man einmal feststellen. Was wir zweifellos haben, und zwar nicht nur in diesem Hause, sondern überall, ist eine Inflation an Worten und Reden,
und ich meine, in einem zu hohen Maße. Ich glaube, allerdings auch objektiverweise sagen zu sollen, daß man das gar nicht einmal parteipolitisch differenzieren kann, sondern daß hier sicherlich alle überall zuviel und manchmal nach zuwenig Nachdenken geredet haben. Das sollten wir grundsätzlich feststellen und wir sollten gemeinsam aus dieser überhitzten Konjunkturdebatte — nicht überhitzten Konjunktur — die Schlußfolgerung ziehen, es vielleicht zu vermeiden, Formulierungen aus Lust an der Formulierung oder um des Augenblickserfolgs willen zu bringen, von denen man später gar nicht so leicht wieder herunterkommt.Im übrigen halte ich auch nicht viel von dem von Herrn Stoltenberg hier entfachten Zitatenkrieg, den man natürlich auch auf Gegenseitigkeit — das ist eine reine Fleißarbeit — ins Unendliche fortsetzen kann.Worauf es mir nach dieser Vorbemerkung ankommt, ist folgendes. Sowohl Herr Stoltenberg als auch Herr Müller-Hermann haben hier leichtfertig das Wort „Inflation" gebraucht. Davor, dieses Wort unangebracht zu gebrauchen, sollten wir uns gerade in unserem Lande hüten:
— Wenn Sie die Dinge so sehen, wie ich sie sehe — und durch Ihr Kopfnicken zeigen Sie das —, dann wird Ihre Argumentation und wird Ihr Verhalten noch schlimmer! Meine Damen und Herren, wir sollten doch nicht vergessen, daß im Bewußtsein unserer Bevölkerung mit Inflation überhaupt nicht das bezeichnet wird, was wir heute haben, sondern Entwicklungen, die charakterisiert sind durch die Jahre 1923 und 1948. Das wollen wir doch einmal ganz klar und deutlich feststellen. Bei aller echten Besorgnis über die tatsächliche wirtschaftspolitische Entwicklung — warum es dazu kam, werde ich nachher auch noch einmal ganz kürz ansprechen — ist es deshalb falsch, .die heutige Situation — in Ansehung der geschichtlichen Ereignisse, die ich soeben stichwortartig aufgezeigt habe — als Inflation zu bezeichnen. Das ist sachlich falsch, und es ist demagogisch, wenn man selbst die Verantwortung dafür trägt.
Wir haben ja auch bis heute noch kein klares Wort von der CDU/CSU gehört, ob sie nun zumindest, nachdem ,die neue Regierung dieses Versäumnis der alten Regierung aufgeholt hat, die Tatsache der Aufwertung akzeptiert. Es gibt noch nirgends eine Erklärung, daß die Opposition jedenfalls nachträglich mit dieser Aufwertung einverstanden ist. Das müssen Sie doch mindestens zugeben: wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre die von Ihnen beklagte und sicherlich objektiv nicht begrüßenswerte Entwicklung in einem weit stärkeren Maß eingetreten.Nun hat die Regierungsseite zu Recht wiederholt die Frage gestellt, und ich stelle sie erneut: Wo sind denn nun die konkreten Anträge der CDU/CSU außer dem Antrag 511, der uns damals im März hier überraschend auf den Tisch gelegt wurde und der natürlich nichts Konkretes enthält? Herr Stoltenberg hat meiner Ansicht nach mehr in einer Freudschen Fehlleistung bei seiner Zwischenfragestellung das Richtige getroffen, indem er sagte, er habe zur Sache nichts gesagt. Herr Müller-Hermann, Sie haben die Katze nun ganz deutlich aus dem Sack gelassen. Sie haben hier sinngemäß — das Protokoll wird es ausweisen — auf unsere Fragen. nach Ihren konkreten Vorschlägen gesagt: „Dazu sind wir gar nicht da, allenfalls Ratschläge." Dann sind Sie mit diesem netten Beispiel von den Kastanien gekommen. Nun, verehrter Herr Müller-Hermann, dieses Wort ist manchmal richtig, aber ich glaube, es ist nicht richtig in der Situation, in der Sie es anwenden; denn das wissen Sie doch genausogut wie wir, daß es nun wirklich nicht angeht, erst die Kastanien selbst ins Feuer zu legen und dann mit diesem Wort zu kommen.
Ich glaube, das ist ein Punkt, über den man gar nicht streiten kann. Man kann über Meinungen streiten; über Tatsachen kann man nicht streiten. Man kann es versuchen, aber das führt dann zu so langen und fruchtlosen Debatten wie heute. Es ist nun einmal eine Tatsache — das habe ich hier vor einigen Monaten schon einmal ausgeführt —, daß die heutige Preisentwicklung Ausfluß einer langfristigen Entwicklung ist, die nicht in die Verantwortung der gegenwärtigen Regierung fällt, was die gegenwärtige Regierung, Herr Müller-Hermann, nicht der Verpflichtung enthebt, für die zukünftige Entwicklung Sorge zu tragen. Das hat sie nach unserer Auffassung, und das zeigen auch die Tendenzen, über die hier gesprochen worden ist, in ausreichendem Maße getan.Ich meine, Herr Stoltenberg hat im Kern etwas sehr Richtiges gesagt, nur er zieht nicht die richtige Konsequenz daraus. Er hat auf den Stabilitätswillen, der autonomen Gruppen hingewiesen oder auf die Notwendigkeit des Stabilitätswillens der autonomen 'Gruppen; man kann auch sagen: der Kräfte im freien Spiel der Wirtschaft. Ich glaube, das ist eine Gemeinsamkeit in der Feststellung, die, wir festhalten sollten. Ich meine nur, daß dieser für meine Begriffe am entscheidendsten wirkende Stabilitätswillen der autonomen Kräfte auch geschwächt wird durch einen systemfremden Wunderglauben an die Allmacht staatlicher Konjunkturpolitik. Darüber müssen wir uns doch in der Wirtschaftsordnung, auf deren Boden wir hier alle gemeinsam stehen, im klaren sein.
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2870 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Kirst— Den hat ja Herr Stoltenberg heute als Manchester-Liberalisten hingestellt! Wieso? Ich glaube, da befinden wir uns durchaus in Übereinstimmung. Die Nichtübereinstimmung besteht zumindest im Verbalen bei Ihnen, wobei ich nicht weiß, wieweit Sie das Verbale nun tun, weil Sie sich politisch irgend etwas davon versprechen. Aber es wäre ja ganz interessant, einmal zu hören, was denn Ihr alter Wirtschaftspolitiker, der frühere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler, über Ihre dauernden Forderungen nach staatlichem Handeln denkt. Aber er beteiligt sich klugerweise an solchen Debatten offenbar nicht, weder als Zuhörer noch in aktiver Weise.Außerdem wird, um auch dieses Beispiel noch zu bringen, der Stabilitätswille der autonomen Gruppen durch schlechte Beispiele natürlich geschwächt. Ein solches schlechtes Beispiel — ich glaube, das ist hier heute auch schon gesagt worden - ist es natürlich, wenn eine Partei, die CDU/CSU, immer im Lande herumzieht und von Stabilität redet und wenn sie in der Praxis dann z. B. dem Bundesinnenminister, wenn der in Tarifverhandlungen steht und aus allgemeinen wirtschaftlichen Überlegungen dabei auf eine Lösung von 8 % kommen will, in den Rücken fällt, indem sie hier im Hause einen Antrag auf 12 % stellt. Das ist dann sicherlich keine Stärkung, sondern eine Schwächung dieses Stabilitätswillens der autonomen Gruppen.Lassen Sie mich noch einige Punkte erwähnen. Ich hatte versprochen, es kurz zu machen; ich glaube, ich schaffe es, den Durchschnitt der Redezeit der letzten fünf Redner auf 12 Minuten zu bringen, so daß wir um 14 Uhr zum Haushalt übergehen können.Einige Bemerkungen noch zum Haushalt. Ich will da nicht zu viel vorwegnehmen, denn wir werden die Debatte ja in den nächsten Tagen fortsetzen. Aber wenn hier — auch wieder von Herrn Stolten'berg — die Entwicklung im ersten Quartal angesprochen worden ist, dann muß ich, da Sie die Zahlen genausogut kennen wie wir, dazu sagen: wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären, wäre die Steigerungsrate nicht 9,1, sondern 10 % gewesen. Das muß man dabei sehen. Wenn Herr Stoltenberg von 80 abgelehnten Einzelanträgen im Haushaltsausschuß spricht, so antworte ich: mit Statistik kann man natürlich viel beweisen. Bei dieser Zahl sind selbstverständlich all die Anträge mitgezählt, bei denen es darum geht, eine einzelne Stelle nicht zu bewilligen oder ihre Hebung nicht zu genehmigen. So kann man Statistik machen. Er vergißt dann dabei nur, daß wir in zahllosen Fällen — sonst wäre dieses Ergebnis der Haushaltsberatungen nicht herausgekommen— gemeinsam Verbesserungen oder Kürzungen lbaschlossen haben. Ich meine, wir haben im Haushaltsausschuß gemeinsam das Richtige gemacht. Das uns von Ihnen vorgeschlagene Unpraktikable haben wir ablehnen müssen.Sie können sich darauf- verlassen, daß der politische Wille der beiden Regierungsparteien — übereinstimmend mit dem der Regierung — in dieser Etatdebatte hinreichend dokumentiert werden wird. Dieser Wille besteht darin, daß auch der Haushaltsvollzug konjunkturgerecht weiter erfolgt und daß die entstehenden Haushaltsverbesserungen demgemäß stillgelegt werden.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wirtschaft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, die hier gegebenen Anmerkungen, kritischen Bemerkungen und Beiträge aller Art in drei Gruppen zu behandeln. Die erste Gruppe bezieht sich auf die Vergangenheit — wir meinen die konjunkturpolitische Vergangenheit
und ihre Bewältigung sowie auf die Frage der Vergleiche von Vergangenheit und Gegenwart. Die zweite Gruppe meiner Antworten bezieht sich auf die wenigen Fragen nach der richtigen Gegenwartsanalyse bezüglich der Preise, der Aufträge und ähnlichem. Die dritte und wesentliche Gruppe behandelt das, was ich in meinen Einleitungsworten als Antwort auf die Gretchenfrage bezeichnet habe: Ist das, was von Regierung und Bundesbank konjunkturpolitisch eingesetzt ist, ausreichend oder nicht ausreichend? — In diesen drei Gruppen möchte ich jetzt vorgehen.
Zur ersten Gruppe, die die Vergangenheit und den Vergleich mit der Vergangenheit betrifft. Da verstehe ich Herrn Müller-Hermann überhaupt nicht, wenn er hier dauernd — stärker noch als seine Kollegen — auf die schrecklichen Preisentwicklungen hinweist, die heuer stattfinden, und überhaupt nicht erwähnt, was früher einmal gewesen ist. Lieber Herr Müller-Hermann, für den Arbeitnehmerhaushalt mittlerer Qualität gibt es schon lange einen Lebenshaltungskosten-Index. Dieser Lebenshaltungskosten-Index hat im April 1966 um 4,5 % über dem Vorjahresstand gelegen und im April 1970 um 3,6 %. Sie ersehen aus diesem exakten Vergleich, daß es in der Vergangenheit, im Jahre 1966, viel schlimmer gewesen ist als jetzt. Das wollte ich nur noch einmal feststellen.
Eine Zwischenfrage? — Bitte!
Herr Minister, erinnern Sie sich auch daran, daß der damalige Oppositionssprecher dann versprach, mit der Preissteigerung auf 3, 2 oder gar 1 % herunterzugehen, und wir gemeinsam in diesem Hause, die Erfahrungen nutzend, dann das „beste Gesetz" geschaffen haben, das eine Regierung in die Lage versetzt, die Konjunktur besser zu steuern. Das ist der Unterschied zwischen damals und heute. Wie stehen Sie dazu?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Müller-Hermann, Sie laufen auch in Messer hinein, die gar nicht 'vorgesehen sind. Wenn Sie diese Frage stellen, dann muß ich Ihnen so antworten, und zwar hart antworten: Der Wirtschafts-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2871
Bundesminister Dr. Schillerminister Schiller war auf dem besten Wege, in den Jahren 1967 und 1968, da wir bei 1,5 % Preissteigerungsrate angelangt waren, dieses Ziel zu erreichen, wenn ihm nicht 1969 eine andere Gruppe in die Arme gefallen wäre. Das ist die Lage.
Wir waren schon auf dieser Treppe nach unten von 1966 auf 1967 und 1968. Das ist die Antwort.
— Wieso ein Märchen? Sehen Sie diese Zahl, die vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden geliefert wird, als ein Märchen an?
— Ich war gegen die Aufwertung? Nun sind Sie auf ein ganz anderes Thema gekommen, nämlich das Thema der außenwirtschaftlichen Absicherung. Wenn wir damals aufgewertet hätten, hätten wir wahrscheinlich im November 1968 auch nur um 4 % aufgewertet. Sie wissen ganz genau, wie verschieden die Meinungen sind. Aber das hängt mit einem ganz anderen Kapitel zusammen.Fest steht, daß wir in den Jahren 1967 und 1968 auf Idieser Treppe nach unten in Richtung auf 1 % ganz schön vorangekommen waren, und dann kam der Bruch im Jahre 1969. Sie wissen es.
Ein weiteres. Herr Stoltenberg hat an einer Stelle gegen Schluß ähnlich wie Herr Müller-Hermann, aber ganz speziell die Renten und 'die Rentner und deren Los im Jahr 1971 beklagt. Ich darf, auch um der Wahrheit willen, sagen: der Preisindex für die Lebenshaltung von Rentnern lag im April 1966 bei 5,4 %, im April 1970 bei 3,8%. Da sehen Sie, wie damals, im Jahr 1966,
die Rentner schärfere Einbußen an ihrer Kaufkraft zu erdulden hatten als heute. Wenn 'wir nun die Rentenzunahmen nehmen — —
— Jawohl. Trauen Sie mir zu, daß ich die zweite Sacheauslasse, Herr Müller-Hermann?
— Alles Gute; vielen Dank.Wir haben natürlich auch nach den Andeutungen von Herrn Stoltenberg den Rentenzuwachs mit dem jeweiligen Lebenshaltungskostenimdex für Rentner verglichen. Nun haben wir festgestellt, daß es durchaus sein kann, vor allen Dingen im Jahre 1971, daß ;der Zuwachs der Renten 'um 5,5 % minus Preissteigerungsrate dann einen Nettorealzuwachs von vielleicht 2,5%, vielleicht 3% für die Rentner übrig läßt. Das kann das Ergebnis für 1971 sein. Zweierlei ist dazu zu sagen:Erstens. Wir haben in den Jahren 1962 und 1963 nach derselben Rechnung reale Rentenzunahmen einmal von nur 1,7 %, ein anderes Mal von 3,1 % gehabt. Das ist also leider auch schon einmal gewesen.Zweitens. Die relativ kleine Zuwachsrate von 5,5% brutto für die Rentner im Jahre 1971 ist im wesentlichen — das wissen Sie doch — durch die Dreijahresrechnung den niedrigen Lohnzuwachsraten der gewollten Rezession von 1966 zuzuschreiben.
Das ist doch selbstverständlich. Daran werden doch die Renten nach der Formel in ;der Dynamisierung gemessen.
- Ja, das war die weitere Vergangenheit.Dann die etwas nähere Vergangenheit. Es war ein Fehler, so sagt Herr Stoltenberg, daß die Aufwertung 'im Oktober 1969 nicht mit einem binnenwirtschaftlichen Stabilitätsprogramm verbunden worden ist.
Da sage ich nur eins: Sie haben völlig recht. Aber wir alle haben recht, denn keiner von uns hat damals mit der als sehr hoch empfundenen Aufwertung von 9,3 bzw. 8,5% ein sofortiges paralleles binnenwirtschaftliches Stabilisierungsprogramm für notwendig oder erträglich gehalten.
— Ich darf meinen Gedanken eben zu Ende führen, Herr Müller-Hermann. — Ich 'will nur mit einem ganz unverdächtigen Zeugen daran erinnern, wie damals ,die Situation beurteilt wurde. Der damalige Bundesbankpräsident Blessing meinte in seiner Analyse der Lage im Oktober 1969 eine Aufwertung um 8 oder 8,5 % würde die Bundesbank sehr bald in die Lage versetzen, den Diskont lauf 6% und bald auf 5 oder 4 % zu senken. So wurde die Situation von ihm 'eingeschätzt. Ich will Ihnen einen anderen Gewährsträger nennen. Der Sachverständigenrat hat in seinem Sondergutachten von diesem Frühjahr auf das damals nicht vorhandene binnenwirtschaftliche Parallel-Dämrpfungsprogramm hingewiesen. Nur, er selber hat 'ausdrücklich — und er gibt des heute auch zu — in seinem Jahresgutachten, das im November 1969 erschien, auch nicht daran gedacht, etwa ein binnenwirtschaftliches Dämpfungsprogramm parallel zur Aufwertung vorzuschlagen. Alle standen unter dem Eindruck — und wir sitzen da alle in einem Boot, Herr Müller-Hermann —,
daß die Aufwertung von 8,5 % eine solche Bürde für die Gesamtkonjunktur, die Gesamtwirtschaft sein würde, daß es zuviel wäre, wenn man daneben sofort e in binnenwirtschaftiches Dämpfungsprogramm beschlossen hätte. Das ist die Lage.2872 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3, Juni 1970
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Minister, darf ich dazu jetzt einmal folgende Frage stellen. War es nicht eine gemeinsame Erfahrung aller Sachkundigen, die hier im Hause oft genug zum Ausdruck gebracht worden ist, daß, wenn überhaupt Wirkungen in dem von Ihnen gewünschten Sinn von einer Aufwertung zu erwarten sind, sie mit einer großen zeitlichen Verzögerung, im Grunde erst mit einer Jahresverzögerung, eintreten und daß aus diesem Grunde, wie das auch in den Debatten vom Oktober des vergangenen Jahres von uns gesagt worden ist, die Regierung an der Reihe gewesen wäre, parallel zu dieser Aktion, von der sie sich eben zuviel versprochen hat, ein binnenwirtschaftliches Absicherungsprogramm zu entwickeln?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Lieber Herr Müller-Hermann, dieser Argumentation kann ich nicht folgen. Ich kann darauf antworten, indem ich sage: Erstens haben wir in den Einfuhrpreisen sehr schnelle Wirkungen der Aufwertung feststellen können. Wir haben das auch so erwartet. Wir haben zweitens Wirkungen auf dem agrarischen Sektor ab 1. Januar 1970 erwartet, dafür den Einkommensausgleich. Daß das nicht ganz so geklappt hat — das wissen Sie —, lag an anderen Gründen und hat nichts mit dem fehlenden oder vorhandenen binnenwirtschaftlichen Parallel- und Dämpfungsprogramm zu tun. Im übrigen kann ich Ihnen noch einmal sagen: die deutsche Wirtschaft und die deutsche Öffentlichkeit standen weithin unter dem Eindruck, dies müßte erst einmal verkraftet werden, und es wäre zuviel des Guten gewesen, sofort zusätzliche Dämpfungsmaßnahmen zu ergreifen.
Wir alle haben in einem Punkte etwas Wesentliches unterschätzt.
— Jawohl. Vielen Dank, Herr Dr. Luda, das ist der einzige wirkliche Punkt. Wir haben den „drive", die Kraft der Weltinflation um uns herum unterschätzt. Sie hat natürlich einen Teil der Aufwertungswirkung substrahiert, davon abgezogen. Dann stellte sich nach ein paar Monaten heraus, wir sollten binnenwirtschaftlich etwas danebensetzen.
Aber es ist damals am 24. Oktober keiner auf die Idee gekommen, hier sofort ein hartes, restriktives Parallelprogramm zu beschließen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Junghans?
Herr Minister, wären Sie bereit, in Ihre Liste derjenigen, die damals die Aufwertung überschätzt haben, auch Herrn Dr. Müller-Hermann einzubeziehen, der am 30. Oktober hier in diesem Haus erklärt hat, wir hätten uns anschließend mit der Frage zu beschäftigen, wie wir mit dem Klotz am Bein einer hohen Aufwertungsquote leben können, ohne Schaden jetzt und auf die Dauer zu nehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank; ich kann das nur bestätigen.
— Herr Müller-Hermann, hören Sie mir doch auch einen Moment zu.
Ich wollte nur sagen, nach Ihren schönen Ausführungen, die eben zitiert wurden, hätten Sie dann damals sagen müssen: Nun kommt noch ein binnenwirtschaftliches Programm hinzu; das ist ein weiterer Klotz am Bein. Nach Ihrer damaligen These!
— Der Aufwertungssatz war doch auf keinen Fall zu niedrig, nicht wahr?
— Wollen Sie dieses Thema auch wieder in Raten aufnehmen?
Ich wollte jetzt auf die Gegenwart kommen und nur zwei Bemerkungen machen.Da wurde etwas über unsere Statistik und unsere Kommentare zum Thema Auftragseingänge gesagt, „Tricks beim Bundeswirtschaftsministerium" und ähnliches. Ich kan nur folgendes sagen. Die gestrige Kommentierung des sich abflachenden Auftragseingangs ist sachlich völlig in Ordnung. Wir haben nämlich inzwischen die Zahlen der saisonbereinigten Auftragseingänge sowohl von der Bundesbank wie von den Forschungsinstituten. Die Zahlen der Bun desbank zeigen einen Rückgang aller Auftragseingänge — saisonbereinigt — für April dieses Jahres um 2,1 %. Die Institute zeigen sogar einen Rück- gang der Auftragseingänge — saisonbereinigt — für denselben Monat April 1970 um 6,3 %. Das heißt, die verbale Aussage des Bundeswirtschaftsministeriums ist insgesamt völlig richtig gewesen. Sie entspricht diesen Zahlen der beiden unabhängigen Gruppen, die uns heute vorliegen.
— Das ist die Rate der Veränderung gegenüber dem Vormonat.
— Aber die saisonbereinigten Zahlen sprechen, glaube ich, für sich, Herr Stoltenberg. Ich kann sie Ihnen geben. Wir haben sie von den Instituten und von der Bundesbank erhalten.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2873
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube, wir müssen uns wirklich zu dem dritten und entscheidenden Punkt begeben: Reichen die Mittel aus?Ich wollte nur noch etwas zur gegenwärtigen Analyse sagen, und zwar zu den Preisen. Wir haben Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg erwähnt, weil diese beiden Länder — übrigens nicht erst seit kurzem, sondern seit langem — ihre Preisindizes für die Lebenshaltung schneller publizieren als das Statistische Bundesamt für das gesamte Bundesgebiet. Aus den Indizes beider Länder für den Monat Mai haben wir vorsichtig abzuleiten versucht, daß der Anstieg des Lebenshaltungskostenindex um 3,8 Punkte für das ganze Bundesgebiet für Mai wahrscheinlich nicht überschritten wird, sondern möglicherweise sogar um 0,1 Punkte darunter liegt. Das ist ein Anzeichen dafür — und wenn es gleich ist, ist es auch in Ordnung , daß wir nicht in eine Drift hineingekommen sind, die uns in einem fortschreitenden Prozeß in diesem Frühsommer über die 4 % hinausschleudert. Das ist das, was man vorsichtigt und sachlich auf Grund der vorliegenden Daten aus diesen beiden Bundesländern sagen kann.
— Ich weiß nicht, was Sie im Augenblick meinen.
— Da komme ich dann auf die Frage: Was tun in Zukunft? Da müssen Sie dann vielleicht auch noch ein bißchen beisteuern.Nun zu der Gretchenfrage: Reicht das, was heute als Satz, als Bündel, als Coktail von Maßnahmen, als „policy mix", oder wie auch immer man es nennen will, in der Bundesrepublik —
— Das ist sehr schön; Sie üben sich doch auch, Herr Stoltenberg, und machen schon Fortschritte. — Reicht das aus? Ich möchte ganz sachlich und so distanziert wie möglich folgende Gliederung vornehmen. Ich bin nach Anhören aller Meinungen und nach der Lektüre aller Gutachten der Auffassung, daß vier ,Alternativen vorliegen, die in diesen Wochen für die Konjunkturpolitik in der Bundesrepublik von den verschiedensten Gruppen dargelegt werden. Ich will diese vier Alternativen eben kennzeichnen.Die erste ist die der Minderheit des Sachverständigenrates. Dort ist man in der Minderheit der Auffassung — eine Persönlichkeit, wie Sie wissen —, man sollte die Konjunktur so laufen lassen, wie sie jetzt sei; es seien die Wirkungsverzögerungen bei Maßnahmen in der berühmten Spätphase der Konjunktur zu beachten; es sei die Gefahr gegeben, daß zu spät und zu stark eingegriffen werde, und es lauere die Gefahr der Übersteuerung vor der Tür.Das ist die erste Alternative. Ich stimme ihr nicht zu.Die zweite Alternative repräsentiert die Mehrheit der Forschungsinstitute und ist, wie ich in meiner Einführungsrede zum Nachtrag des Jahreswirtschaftsberichts darzustellen versucht habe, auch die Meinung der Bundesregierung. Sie lautet folgendermaßen: Beruhigungstendenzen sind zwar vorhanden; aber es besteht Ungewißheit darüber, ob sie anhalten. Daraus wird die Folgerung gezogen, eingeleitete Restriktionsmaßnahmen zunächst ohne Verstärkung fortzusetzen. Wenn sich Fehlentwicklungen nicht abbauen oder nicht weiter abbauen oder wenn sich neue Fehlentwicklungen zeigen, vor allem ein unverminderter Preisanstieg, sollten Bundesregierung oder Notenbank eingreifen, oder dann sollte auch die Bundesregierung allein handeln, um die Bundesbank in dieser neuen Situation zu entlasten. Auf jeden Fall sind unter diesen Bedingungen in erster Linie neue Maßnahmen der Bundesregierung notwendig.Ich sagte: diese zweite Alternative wird durch die Mehrheit der Forschungsinstitute repräsentiert. Ihr nähert sich die Bundesregierung an. Ich habe heute ein sehr deutliches Zitat — Herr Stoltenberg, Sie haben es vielleicht aufgenommen aus der Gemeinschaftsdiagnose gebracht, das der Meinung der Mehrheit der Institute entspricht, und gesagt: Das kommt uns am nächsten, und darin stehen einige harte Dinge.Die dritte Alternative repräsentiert die Mehrheit des Sachverständigenrates. Zum Teil wird sie auch von Stimmen !der OECD vertreten. Diese Gruppe sagt: Nicht das Ausmaß der Restriktionspolitik von Regierung und Bundesbank — dazu sagen wir zunächst gar nichts —,sondern die Zusammensetzung ist zu kritisieren, d. h. der „policy mix" hätte anders sein müssen, und zwar nicht von einer neuen Situation an, sondern sozusagen „ab origine". Das heißt: absofort oder rückwirkend, was nicht mehr zu schaffen ist, Anwendung des § 26 ohne eine neue Situation — unmittelbarer Kaufkraftentzug, dafür aber Lockerung der Kreditpolitik. Das Ist die Position drei, die von vornherein eine andere qualitative Zusammensetzung der eingesetzten Dämpfungsmaßnahmen verlangt, die nicht etwa beanstandet, daß Wir, d. h. Regierung und Bundesbank, was das Quantum unserer Restriktionsmaßnahmen betrifft, zuwenig oder zuviel täten, sondern die nur die qualitative Zusammensetzung geändert haben will.Dann gibt es — viertens — die neueste Haltung von Mitgliedern des Zentralbankrats. Sie ist noch nacht in Empfehlungen artikuliert oder durch den Präsidenten bzw. Vizepräsidenten „urbi et orbi" formuliert oder dargelegt worden, sondern sie ist in Meinungen aus dem Zentralbankrat zum Ausdruck gekommen. Sie besagt, daß der bisherige „policy Mix", die bisherige Zusammensetzung, der bisherige Satz von Regierungs- und Bundesbankmaßnahmen, bestehenbleiben müsse. Auf der Bundesseite müsse aber zusätzlich, additiv, etwas hinzugefügt werden. Das ist eine vierte und neue Position. Das heißt: der „Cocktail" muß nicht anders zusammengesetzt werden, sondern er ist durch ein weiteres Ingredienz,
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2874 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Bundesminister Dr. Schillerund zwar in der Richtung der §§ 26 und 27, zusätzlich, additiv, eben nicht durch bloße Veränderung seiner Zusammensetzung, zu verstärken.Das ,sind die vier Alternativen. Ich habe sehr deutlich gesagt und wiederhole es noch einmal: Die Bundesregierung steht bei der Alternative zwei.Mich interessiert nun folgendes: Ich frage Sie, Herr Stoltenberg, Herr Müller-Hermann und Herr von Bismarck, nicht nach neuen Vorschlägen, sondern ich frage ganz bescheiden: wo stehen Sie hinsichtlich dieser vier Alternativen? Darüber müssen Sie, glaube ich, sehr sachlich nachdenken. Das ist ja eine fahre Form. Vielleicht haben Sie noch eine fünfte Alternative an der Hand. Das wäre noch schöner. Aber wo stehen Sie angesichts des Angebots von vier Alternativen, mit denen wir uns in der Offentlichkeit auseinanderzusetzen haben?
— Reden Sie nicht zu früh! Dann sind Sie also bei der Alternative drei. Ichweiß nicht, ob das Beschluß Ihrer Partei ist, ob Sie also den Cocktail einfach verändern wollen, indem Sie den Zins heruntersetzen und dafür mit Steuern heranklotzen. Seien Sie vorsichtig, Herr Müller-Hermann!
Hier geht es darum, bei diesen vier Alternativen eine rationale Wahl zu vollziehen.
Unsere Wahl habe ich mehrfach beschrieben. Ich stelle nur bei einigen Äußerungen von CDU-Mitgliedern fest, daß sie bei allen vier Alternativen vorkommen und auch nicht vorkommen. Die CDU/ CSU ist sozusagen überall und auch nirgends. Herr Strauß hat sich z. B. zu einer ganz bestimmten Sache— zwei Alternativen zuzuordnen — geäußert; andere Herren haben sich anders geäußert.
— Es geht jetzt um heute und hier. Ich bin bei der auch uns vorgelegten Frage, ob das, was wir beschlossen haben, reicht, Herr Müller-Hermann, und ich bin nicht bei einem anderen Thema: Vergangenheit. Das war Abschnitt 1 und 2 meiner Darlegung.
Ich frage mich: Was ist mit ,der CDU/CSU los? Es gibt einen Standortfaktor in der ökonomischen Theorie — Herr Stoltenberg, Sie sind sicherlich auch schon so weit gediehen —;
das sind Standortfaktoren, die überall vorhanden sind. Die nennt man ubiquitäre Standortfaktoren.
Es kommt noch viel schlimmer. — Die sind überall vorhanden: wie Luft, Erde und so. Und ich frage eigentlich die CDU/CSU:
Ist die CDU/CSU eine Übiquität? Das ist meine Frage an Sie; Sie sollten sich ,einmal überlegen, wo Sie einzuordnen sind.In einem Punkt — damit Sie sich abregen — ordne ich Sie eindeutig zu.
— Doch, doch, in einem Punkt ordne ich Sie eindeutig zu, daß Sie nämlich bei aller Ambivalenz in bezug auf Ihre Zuordnung zu den vier Alternativen einen Standort gemeinsam mit uns einnehmen, nämlich den deutschen Standort. Der ist nämlich in diesen Tagen sehr wichtig gewesen und ist weiterhin sehr wichtig.Wir haben Ende der Woche die Tagung der EWG-Wirtschafts- und -Finanzminister in Venedig gehabt. Dort ging es um den Stufenplan, Herr Stoltenberg. Da will ich Sie ja gewinnen. Sie wissen, rein äußerlich ist unsere Position die: Reservefonds nicht sofort, sondern zuerst einmal Harmonisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik innerhalb der EWG, so daß man einander näherkommt, und dann Einbau eines Devisenausgleichsfonds. Sie wissen, diese deutsche Position hat von den Niederlanden und von Italien Unterstützung bekommen. Aber das Thema ist noch im Streit. Nur, dahinter steht — und das will ich sagen — ein eindeutig deutsches Anliegen. Wir wollen uns in dem Aufbau der Wirtschafts- und Währungsunion nicht mit einem Schlage auf das Inflationsniveau anderer EWG-Mitgliedsstaaten hinaufbringen lassen, sondern wir kämpfen darum, daß diese Inflationsgemeinschaft bei einer Harmonisierung nicht weiter existiert, sondern daß die EWG wirklich Schritt für Schritt durch die Harmonisierung eine Stabilitätsgemeinschaft wird. Erst in dem Maße, wie diese EWG eine Stabilitätsgemeinschaft wird, können — dieser Auffassung sind wir — zusätzliche devisenpolitische Währungsmechanismen eingebaut werden. Das ist unser Kampf. Ich möchte den Herren von der CDU/CSU wirklich sehr ans Herz legen und ihnen sagen: Dies ist der wirkliche Konflikt, in dein die Bundesrepublik mit anderen Ländern in der EWG steht, der Konflikt um die Stabilitätspolitik in der EWG. Wir sind die Kämpfer dafür, und ich hoffe, daß wir dabei Ihre Unterstützung haben.
Ich habe nach der heutigen Debatte ein wenig mehr Hoffnung, daß wir da wenigstens in dieser Artikulierung und in der Vertretung des deutschen Standpunktes der Stabilitätspolitik nach außen Ihre Unterstützung bekommen, weil ich gemerkt habe,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2875
Bundesminister Dr. Schillerdaß die CDU/CSU, besonders durch den hochverehrten Sprecher, Herrn Stoltenberg, sagen wir mal, in ihrem Annäherungsprozeß oder in ihrem Lernprozeß in bezug auf Schiller eine gewisse Beschleunigung aufzeigt.
— Herr Stoltenberg, Sie müssen rechnen!
Eine geometrische Reihe — es ist ein bißchen viel —, Herr Stoltenberg: Erst haben Sie drei Jahre gebraucht. Sie haben gesagt, Sie seien bei dem Schiller von 1967. Den Schiller von 1967 verteidigen Sie 1970. Gut! Drei Jahre als Basis; nun sind Sie so weit. Dann haben Sie gesagt, Sie verteidigen heute, am 3. Juni 1970, den Schiller von Ende Februar 1970. Das sind drei Monate. Vorher brauchten Sie drei Jahre, in der zweiten Stufe nur noch drei Monate.
— Darf 'ich meinen Gedankengang noch eben zu Ende führen, Herr Stoltenberg; ich glaube, Sie sind ganz zufrieden.Meine Beobachtung ist die: die Beschleunigung, die Konvergenz, in der Sie sich unseren Meinungen nähern, ist sehr zu respektieren.
— Ja, ein Zwölftel immer! Die nächste Phase ist immer nur ein Zwölftel der vorhergehenden Phase. Erst drei Jahre — das sind 36 Monate —, dann nachher nur noch drei Monate. Doch, Herr Luda, ich weiß, das mit der geometrischen Reihe liegt Ihnen ein bißchen fern. Sie haben das letztemal, Herr Stoltenberg, drei Monate gebraucht. Für die nächste Stufe brauchen Sie wiederum nur ein Zwölftel.
Das heißt, in der vor uns liegenden Zeit brauchen Sie nur noch ein Zwölftel von 92 Tagen, das sind sieben bis acht Tage. Sie, Herr Stoltenberg, würden also, ab 3. Juni sieben bis acht Tage weitergerechnet, am 11. Juni etwa der Meinung von Karl Schiller am 3. Juni dieses Jahres sein. Und das gibt uns Hoffnung.
Meine Damen und Herren, ich frage: soll die Vereinbarung der Fraktionen aufrechterhalten werden, wonach diese Debatte um 14 Uhr abgebrochen wird,
ich habe meine Frage noch nicht zu Ende gebracht — oder soll nach der Rednerliste verfahren werden?
— Wir verfahren nach der Rednerliste.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Höcherl; für ihn sind 30 Minuten beantragt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat offenbar eine sehr erfolgreiche Kur in Wörishofen hinter sich — kein Wunder —, er ist mit sehr ausgeprägtem Selbstbewußtsein zurückgekommen, einem Selbstbewußtsein, das mir etwas überkompensiert zu sein scheint. Es war nämlich zu aggressiv. Das Phänomen ist nicht unbekannt. Wenn nämlich ein schlechtes Gewissen existiert, gibt es eine Überkompensation.
Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn ich an die Zeit denke, in der Sie konjunkturpolitisch noch rechtgläubig waren, z. B. im Jahre 1965, als Sie die große Kapuzinerpredigt gehalten haben — drei, zwei, eins —, kann ich mir vorstellen, daß Sie heute in Verlegenheit sind und das überzukompensieren versuchen. Wir sehen es Ihnen nach. Die Kur war ja nicht einfach. Sie mußten sie wegen des Parteikongresses in Saarbrücken unterbrechen. Ich habe Ihre Rede dort studiert. Sie war interessant. Sie haben von Preisen überhaupt nichts gesagt, obwohl sie das bewegende Thema waren, sondern Sie haben Ihre Zuhörer einmal mit Ihrem Wiedererscheinen erfreut und sie in das Traumland der Illusionen der siebziger und achtziger Jahre mit großen außenpolitischen Perspektiven geführt. So war es.
Ich bin eigentlich etwas überrascht, daß Sie diese Rostra mit einem Katheder alter Schule verwechseln. Mit einem Katheder neuer Schule könnten Sie so etwas, was Sie heute den Abgeordneten zugemutet haben, nicht machen.
Selbstbewußtsein ist eine gute und für einen Politiker, vor allem für einen in Not befindlichen Wirtschaftsminister eine notwendige Tugend. Aber das war etwas übertrieben. Ich meine, daß etwas Bescheidenheit angesichts der unglücklichen Entwicklung Ihrer Wirtschaftspolitik und der vielen Irrtümer Ihnen gut getan und Sympathie eingebracht hätte, die Sie brauchen, um voranzukommen.
Ich brauche das, was hier über die Preise gesagt worden ist, nicht zu wiederholen. Aber gegen eines muß ich mich wenden. Es geht nicht an und es ist intellektuell nicht erlaubt, mit Durchschnitts zahlen — 3,6, 3,8 —, mit Wachstumsraten — 0,2 usw. — zu arbeiten. Darum geht es nicht. Vielmehr geht es darum, was den einzelnen wirklich trifft. Wir haben ja Preisanhebungen zu verzeichnen, z. B. beim leichten Heizöl 3,5, bei Wasser 3,6, bei der
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2876 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
HöcherlStahlverformung 20 %. So geht es weiter. Im Hinblick auf den Bau ist das schon x-mal vorgetragen worden. Im Ausbau sind es zum Teil 20, 25 und 30 %. Jetzt nehmen Sie die kleinen privaten Bauherren mit ihren Finanzschwierigkeiten! Damit bezeichnen Sie die Wirklichkeit. Das ist etwas anderes als der Durchschnitt, der aus Gemüse — das billiger wird — und aus solchen Dingen besteht. Das sagt alles nichts aus. Das ist die berühmte Geschichte mit dem Hähnchen: der eine ißt es, der andere nicht; jeder ißt ein halbes — statistisch.
Das ist keine Errechnung. Hier geht es um ernste Vorgänge, die wir gern gemeinsam mit Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister — ich komme auch auf Ihre entscheidende Frage, die Sie in vier Punkte aufgegliedert haben — bewältigen wollen.Es hat mich nicht überrascht — das zieht sich ja durch alle Reden, auch durch die des Herrn Bundeskanzlers, der in Ihrer Abwesenheit diensttuender Wirtschaftsminister war —, daß die Richtlinienpolitik alles umfaßt. Das ist nicht mehr Richtlinienpolitik, sondern das ist Substitutionspolitik.
Ich höre ja, daß das Kabinett gar nicht so beschäftigt wird. Es gibt einen inneren Kreis; der bekommt die wirklichen Informationen. Dann werden sie etwas gedämpft. Ich weiß nicht, zu welchem Kreis Sie gehören — zum innersten ganz bestimmt nicht.
Sonst hätte es nämlich nicht passieren können, daß der Herr Bundeskanzler in Ausübung seiner Richtlinien- und Stellvertretungsgewalt von Ihrer Linie völlig abgewichen ist. Für den Herrn Bundeskanzler sind 4 % Preissteigerung eine harmlose Angelegenheit. 4 % Sie waren bei 3 %. Für unser Verständnis ist schon das viel zuviel.Der Herr Bundeskanzler hat darüber hinaus erklärt, seine größte Sorge gelte dem Wachstum auf der einen und der Vollbeschäftigung auf der anderen Seite. Wachstum, meine Damen und Herren, gibt es nur auf einem einzigen Weg: mehr arbeiten. Einen anderen Weg gibt es nicht; alles andere ist blasse Theorie. Zu mehr Arbeit sind wir angesichts unserer soziologischen Situation aber nicht so ohne weiteres in der Lage. Wir leihen uns Arbeitskräfte aus, und damit vollführen wir das Wachstum. Die Schweiz hat ähnliche Probleme wie wir. Sie sorgt sich sehr um diese Probleme, darüber hinaus auch noch um Probleme monetärer Art, die sie in einem noch höheren Grade zu bewältigen hat. Dort gibt es keine Wachstumsideologie, keinen Wachstumsfetischismus. Wenn wir wirklich ein gesundes Wachstum halten wollen, müssen wir mehr arbeiten. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Was die Vollbeschäftigung betrifft, so ist das ein falscher Begriff. In der heutigen Situation haben wir es mit einer Überbeschäftigung mit all ihren verhängnisvollen Folgen zu tun. Herr Professor Schachtschabel hat sich hier in einer Art historizistischer Anwandlung gestattet, die Gespenster vom Jahre 1931 mit 6 Millionen Arbeitslosen zu beschwören. Ich muß schon sagen: soviel professoraler Historizismus versetzt mich in größtes Erstaunen.
So weit kann man die Travestie einer solchen Debatte im Wahlkampf nicht treiben. Das ist selbst Professoren bei ihrem viel größeren Spielraum nicht erlaubt.
Das Wort des Herrn Bundeskanzlers war ein gefährliches Wort, und zwar deswegen, weil die ganzen Zusammenhänge von autoritativer und autoritärer Seite, so muß man wohl sagen, verfälscht worden sind. Ich nehme nicht an, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß Sie sich auf diesen Boden stellen, und ich hoffe, daß Sie die Vorlesungen, die Sie uns halten wollen, auch Ihrem Regierungschef gegenüber anbringen. Dort sind sie nämlich notwendig, weil noch sehr viele wirtschaftspolitische und wirtschaftswissenschaftliche Unzulänglichkeiten bestehen.Es ist heute schon gesagt worden, daß wir uns in einer Phase der Untätigkeit der Regierung befinden. Sie haben sich da zu der Methode B, also der Nr. 2, bekannt. Die Sozialdemokratie hat hundert Jahre lang gegen das Laisser-faire und gegen den Nachtwächterstaat gekämpft. Heute praktiziert sie ihn durch ihren Wirtschaftsminister!
Ich habe mich nicht gewundert, daß Sie immer wieder mit der Aufwertungsgeschichte kommen. Ich sage ein für allemal folgendes: Die Frage der Aufwertung oder der Nichtaufwertung war eine technische Frage und eine Frage, über die man durchaus verschiedener Meinung sein kann. Wir selber haben sie noch am. 29. September, nachdem bereits alles sichtbar war, durch die Ausweitung der Bandbreiten in Ihrem Auftrag materiell vollzogen, obwohl es eine Aufgabe war, die unsere Grundeinstellung damals keineswegs entsprach. Aber wir wußten, daß Sie dieses Thema während des Wahlkampfes gegen jede Regel und gegen jede Kleiderordnung so hochgespielt hatten, daß natürlich das heiße Geld mit 17 Milliarden geradezu angezogen wurde, so daß kein anderer Ausweg mehr blieb.Ich bestreite auch gar nicht, Herr Bundesfinanzminister, daß dieser Vorgang — das war ein einmaliger kalter Guß und keine Kur — auch gewisse Wirkungen hatte, Wirkungen, die sich berechnen lassen, aber keineswegs die von Ihnen erhoffte Wunderwirkung. Das hat sich in der Zwischenzeit klar herausgestellt.
Jetzt will ich Ihnen etwas sagen. Sie wollten ja gar nicht um 9,3 % oder 8,5 % aufwerten. Es ist zur Genüge bekannt, daß Sie 12 % vorgeschlagen haben, daß der Koalitionspartner Sie daran gehindert hat und daß Sie bei 8,5 % herausgekommen sind. Ich muß sagen: Wir haben mit diesem Koalitionspartner ähnliche Erfahrungen gemacht, und zwar in der Zeit von 1965, die Sie zitieren. Damals war es der
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HöcherlFinanzminister von dieser Seite, der mit den Koalitionsvereinbarungen vielleicht erheblich dazu beigetragen hat, den rascheren Weg des fiskalischen Gegensteuerns nicht zur Durchführung kommen zu lassen.
So waren die Dinge. Sie werden solche Erfahrungen auch noch machen.
— Genauso war es.
Nun noch eine weitere Bemerkung. Hier wurde das Bündnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmern in dieser Frage zitiert. Ich will Ihnen etwas sagen, und da spreche ich ein sehr ernstes Wort dazu, daß Sie sich auf dieses Bündnis — das ist kein offizielles Bündnis, sondern vielleicht ein gewisses Übereinstimmen —, auf ein geheimes Kartell beziehen. Wir wissen sehr wohl, daß es bei steigenden Preisen und inflationärer Entwicklung immer Gruppen gibt, die sich dabei erholen, die einen über den Preis auf dem Markt und die anderen im Tarifbereich. Es gibt aber noch andere, nicht organisierte: 9 Millionen Rentner, die niemanden haben. Die wollen wir verteidigen, und auf deren Seite stehen wir.
Es gibt eine merkwürdige Philosophie: die Schulden werden leichter, die Sachvermögen stärken sich, und der Verbraucher zahlt es über den Preis. Wenn das Ihre Philosophie ist: eine sozialdemokratische Regierung stellt sich hinter dieses Kartell, und der Rentner muß dies hinnehmen! Er ist ja keine organisierte Kraft, also politisch nicht so interessant, und auch alle die übrigen nicht, die sich in der Organisationsform weniger darstellen. Wenn Sie glauben, daß Sie diese Frontstellung beziehen müssen, dann muß ich Sie und kann ich Sie nur warnen.Es gibt eine interessante Abhandlung über 18 Industrieländer, deren Verhältnisse mit den unsrigen vergleichbar sind. Es stellt sich heraus, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß diejenigen Länder, die in den letzten 15, 20 Jahren Stabilitätspolitik betrieben haben — die Abhandlung stammt von Klaus Wienert —, auf die Dauer die größten Wachstumserfolge gehabt haben. Das ist die Wirklichkeit.
Diese Zusammenhänge können Ihnen gar nicht unbekannt sein.Sie sind jetzt in einer Verlegenheit. Sie haben ja ganz anders gedacht. Sie wollten ja noch zusätzliche Maßnahmen ergreifen. Herr Stoltenberg hat das ausgeführt. Sie haben dem Kabinett und Ihrer Fraktion Vorschläge nach § 26 und nach § 27 des, Stabilitätsgesetzes vorgelegt, und Sie sind in beiden Gremien zurückgewiesen worden. Aber Sie haben eines nicht getan: Jeder Minister hat in einer schwierigen Frage, in der er unterliegt, die Möglichkeit, ein Kleidungsstück in die Hand zu nehmen, das ihn auch vor der Offentlichkeit rechtfertigt, nämlich den Hut aufzusetzen und zu sagen: ich bin unterlegen.
Aber Sie behalten ihn fortgesetzt.
— Ich bin im Kabinett und in der eigenen Fraktionnicht ein einziges Mal so durchgefallen, wie derHerr Kollege Schiller innerhalb eines halben Jahres.
Was hat denn diese Sinnesänderung veranlaßt? Herr Professor Schiller, Sie haben im Februar Ihre Vorschläge nach §§ 26 und 27 des Stabilitätsgeset- zes gemacht. Die Bundesbank hat stillgehalten; meines Erachtens viel zu lange. Sie hätte gar nicht so lange stillhalten dürfen, sondern sie hätte, wenn auch nicht so kräftig, langsam anziehen müssen. Sie war der Meinung, Sie könnten sich durchsetzen und Sie würden von Ihrer Regierung unterstützt, die sich ja auch in der Regierungserklärung zu unpopulären Maßnahmen bekannt hat, die also die Rolle des Arztes mit dem Eingriff trotz der Schmerzen wirklich spielen wollte. Die Erwartung wurde enttäuscht, und es kam der kräftige Eingriff.Jetzt kommt eine ganz schwierige Seite der Materie. Natürlich ist die Diskontpolitik ein sehr wichtiges Instrument, das im ganzen Zusammenhang gar nicht vermißt werden kann und das eingeschaltet werden muß. Ich bestreite ja nicht, daß der Bundesfinanzminister auch antizyklische Anstrengungen macht; aber nicht genug. Darum geht es ja: um das Ausmaß, nicht um die Richtung. Dabei sind selbst wegen der Richtung in den letzten Tagen schon einige Zweifel entstanden.Wenn die Bundesbank mit der Diskontpolitik die Hauptlast zu tragen hat, hat das wirtschaftspolitisch die Folge, daß die Last dieser Stabilitätspolitik allein der Investitionsseite aufgebürdet wird. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen darüber, daß sich solche Maßnahmen wegen fälschlicherweise unterbliebener Investitionen entstandene Folgen im strukturellen Bereich noch nach zwei, drei, vier und fünf Jahren schädlich auf die Volkswirtschaft auswirken, weil hier eine einseitige Belastung stattfindet, die gar keine richtige Steuerungsfunktion ausüben kann, sondern nur Hilfsfunktionen. Ihre ergänzenden Maßnahmen fehlen.Darüber hinaus darf ich auch zu der berühmten Frage Stellung nehmen, die Sie als Gretchenfrage bezeichnet haben: Wo ist unser Standpunkt und wo ist unser Standort? Wir brauchen gar nicht auf das zu verweisen, was Ihnen von sachverständiger Seite vorgeschlagen worden ist. Es ist ein einmaliger Vorgang, daß eine Regierung auf die monatlichen Mahnungen ihrer Bundesbank, auf die Aufforderung der OECD und all der Sachverständigen und Verbände, die das Wirtschaftsgeschehen „unten" erleben, nicht Wert legt, sondern ihr eigenes, „besseres" Wissen an deren Platz stellt.
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2878 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Höcherl
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wenn es über 4 '°/o hinausgeht, gibt es keine Rücksichten mehr auf politische Termine. Wenn es tatsächlich so sein sollte, daß Sie wegen des 14. Juni eine solche notwendige Maßnahme unterlassen, haben Sie in einem Verantwortungsbereich ein Bild gezeigt, das vieles befürchten läßt und uns auch Ihren außenpolitischen Aktionen gegenüber weiß Gott mißtrauisch machen muß.
Wo ist denn unser Standort? Wir beziehen uns gar nicht auf die einzelnen Gremien und Institutionen, die ich erwähnt habe, sondern unser Standort ist folgender. Es gibt den einen Standpunkt, den Sie genannt haben. Er deckt sich ja in der Analyse mit unserer Auffassung. Hierin wird nur ausgedrückt, es würde nichts mehr helfen, weil Sie über Monate hindurch untätig geblieben sind.
Das eist die Schlußfolgerung und derwirkliche Zusammenhang.Ich weiß nicht, ob es schon zu spät ist. Das kann vielleicht mit Exaktheit niemand sagen. Aber eines Wissen Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister: wir haben einmal, als Plisch und Plum noch funktioniert haben und Sie nicht aus der Reihe getanzt sind, diese Rezession gemeinsam — nicht Sie allein, gemeinsam — in den Griff bekommen und in sehr kurzer Zeit den Trend nach oben bewegen können. Das war auch Ihr größtes wirtschaftspolitisches Erlebnis, das Sie mit unserer Mehrheit haben ausführen können. Ich will ihm jetzt gar nicht mehr vorhalten, daß er noch immer weiter anheizen wollte. Wir kennen die Geschichte; ich möchte den Film nicht mehr abspielen. Aber es steht fest, daß dine Rezession leichter zu bekämpfen, als eine hohe Konjunktur zu dämpfen ist. Das ist eine Erfahrung, die nicht nur wir heute machen und die uns auch begreiflich macht, daß Sie in keiner einfachen Position ,sind. Wir wollen Ihnen gern helfen, weil uns das letzte Ergebnis interessiert.Die Rezession ist leichter zu bekämpfen, sagte ich. Wenn dem so ist, Herr Bundeswirtschaftsminister — und dafür gibt es gesicherte Erfahrungen —, dann riskieren Sie doch gar nichts, wenn Sie jetzt zu dämpfen versuchen, weil sich rezessive Erscheinungen, sollten sie daraus ,entstehen, dann rasch in gemeinsamen Anstrengungen und mit den aufgebauten Reserven bekämpfen lassen. Das Risiko ist gering. Aber jetzt angesichts der Überbeschäftigung und der offenen Arbeitsplätze malen Sie eine Rezession an die Wand und linden nicht mehr den Mut, wenigstens dem noch immer steigenden Trend entgegenzuwirken. Sie können sich nicht auf die 3, 6 oder 3,7 % beziehen. Nehmen Sie die Aussagen des Einzelhandels, der sagt: Im Herbst kommt eine weitere Preissteigerung; Kasten ,sind entstanden, die weitergegeben werden. Diese Dinge haben noch lange kein Ende genommen.Sie sagen, von Ihrer Philosophie ausgehend, die Aufwertung damals habe die entscheidende Wende gebracht. Sie hat sie nicht gebracht, wie Sie wissen, trotz Ihrer ständig sich wiederholenden gegenteiligen Behauptungen. Sie haben ja damit, daß Ihre eigenen Vorschläge zurückgewiesen worden sind, selbst erklärt, daß das nicht genügt. Infolgedessen können Sie jetzt nicht behaupten, daß die Regierung ihre Pflicht erfüllt habe, wenn Sie selbst keinen Erfolg haben. Die Maßnahmen der Bundesbank sind, wie ich schon sagen durfte, allein nicht ausschlaggebend.Unser Standpunkt und unser Standort ist folgendermaßen zu beschreiben: wir sind der Meinung, daß zunächst einmal der hohe Zuwachs im Umlauf des Geldes mit plus 14 %, ein ganz gefährliches Indiz, in Angriff genommen werden muß. Dazu sind Abschöpfungsmaßnahmen notwendig, Herausnahme aus dem Kreislauf und Stillegungen. Das braucht die Regierung und das braucht das Parlament nicht allein zu vollziehen, sondern kann auch durch die Notenbank geschehen mit verstärkter Offen-MarktPolitik und mit Maßnahmen von uns, durch Steuergutscheine mit verbriefter Verrechnung. Das ist durchaus eine Maßnahme, die in diesem Zusammenhang paßt. Das ist die eine Seite. Darüber hinaus bietet das Abzahlungsgesetz Möglichkeiten; es läßt sich nach vielerlei Richtungen verschärfen. Entscheidend ist der Vollzug des Haushaltes. Im Vollzug des Haushaltes aber sind Mängel festzustellen und ist bei weitem nicht die strikte Haltung spürbar, die wir heute brauchen.Aber das wirklich Wichtige ist folgendes: daß Sie psychologisch sowohl durch Maßnahmen wie durch Ihre öffentlichen Äußerungen
die Öffentlichkeit darauf vorbereiten, daß die Regierung nicht bei einer Grenze von 4 %, sondern jetzt alles unternehmen wird und sich nicht scheuen wird, auch die §§ 26 und 27 des Stabilitätsgesetzes anzuwenden. So hat es einmal der Bundeskanzler in der Aussprache über die Regierungserklärung gesagt. Er hat selbst diese beiden Paragraphen zitiert in einer Situation, ,die noch bei weitem nicht so heiß war — vor sechs oder acht Monaten —, wie das heute der Fall ist. Was ist von all diesen Dingen geblieben? Wir sind der Meinung, Sie müssen durch Ankündigung von Maßnahmen und ihre Durchführung schrittweise und stufenweise in der Öffentlichkeit eine psychologische Vorbereitung schaffen, die zum Ziele hat, die Menschen davon zu überzeugen, daß die Stabilitätspolitik unser ernstes Anliegen ist.Nehmen Sie die Besteuerung, meine Damen und Herren. Sie haben sie alle längst besteuert! Wenn Sie 4 °/o an Kaufkraft nehmen, dann schädigen Sie den Lohnempfänger insgesamt um 8 Milliarden DM und den Sparer insgesamt ebenfalls um 8 Milliarden DM. Das sind Steuervorgänge, auch wenn sie nicht so explizit und so unmittelbar greifbar sind. Im wirtschaftlichen und ökonomischen Effekt ist das genau dasselbe.
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HöcherlDas hätten Sie alles oder wenigstens zum Teil vermeiden können, wenn Sie gehandelt hätten. Wir sind auch bereit, meine Damen und Herren, Ihnen bei der Verbesserung des Stabilitätsgesetzes zu helfen. Wir sind nämlich der Meinung, daß Sie den Mut nicht haben, das Stabilitätsgesetz auszuführen. Deswegen sind wir bereit, automatische Stabilisatoren einzubauen, solange Sie an der Regierung sind, weil wir von Ihnen den Mut nicht erwarten können.
Wenn Sie sich auf das japanische Beispiel beziehen, dann nehme ich nicht an, daß Sie gleichzeitig die 8,3°/oige Preissteigerung der Japaner haben wollen. Außerdem sind die Dinge überhaupt nicht vergleichbar. Dort ist ein Strukturwandlungsprozeß größten Ausmaßes im Gange, der nicht in rein quantitativer Form übertragen werden kann. — Von der Sparentwicklung will ich, nicht sprechen.Sie haben sich heute selbst Vertrauen zugesprochen. Meine Damen und Herren, es würde genügen, wenn Sie Vertrauen von der Öffentlichkeit bekämen! Sie brauchten sich keins zuzusprechen. Die Börse, das empfindlichste Instrument, hat Ihnen in der letzten Zeit weiß Gott gezeigt, welche •Art von Vertrauen in die Wirtschaftspolitik, in die Stabilitätspolitik der Bundesregierung dort-existiert.
Aber ich bin gar nicht an der Vergangenheit interessiert. Ich bin sogar der Meinung, wir sollten eine gemeinsame Anstrengung für heule und morgen machen. Wir könnten alles vergessen, könnten die ganze Vergangenheit begraben und könnten uns heute noch gerade hier zu einer gemeinsamen Anstrengung verbünden. Uns kommt es keineswegs darauf an, für den 14. Juni zu diskutieren, sondern wir möchten Sie bewegen, aus Ihrer Reserve herauszutreten und etwas Zusätzliches zu tun.Sie werden uns bei jedem vernünftigen Vorschlag aus der großen Reihe der Vorschläge, die auf dem Tische liegen, unsere eigenen, Ihre eigenen Vorschläge, die Sie nicht durchsetzen konnten, und Vorschläge aus dem Sachverständigenbereich, an Ihrer Seite finden. Setzen wir uns zusammen! Wenn diese Debatte den Erfolg hätte, daß wir zusammen den Mut haben — und wir helfen Ihnen ja mit dem Teil des Mutes, den Sie nicht mobilisieren können —,
wir sind bereit, Ihnen zu helfen. Bringen Sie den Mut auf! Die Regierung schlägt vor, und wir werden uns noch in dieser Woche zusammenfinden und hier mit Ihnen Stabilitätsmaßnahmen beschließen, damit Sie von dem Verdacht wegkommen, der Ihnen jetzt anhängt. Sehen Sie, so nächstenliebend sind wir!
Die Scylla haben Sie bereits erreicht, jetzt nehmen Sie Kurs zur Charybdis! Warum? Weil hinter dieser instabilen Entwicklung eine schwere Rezessionsgefahr droht; sie muß im allgemeinen Interesse ver-mieden werden. Nicht .die Stabilitätspolitik bringt eine Rezession, sondern genau das Gegenteil, das, was Sie bisher getan haben. Greifen Sie die Hand auf — Sie können es auch bleiben lassen —, ich würde Ihnen dringend dazu raten!
Das Wort hat der Abgeordnete Kater.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verlauf der heutigen Konjunkturdebatte und auch der letzte Beitrag. bei dem ich vergeblich auf die mehrfach angekündigte Standortbeschreibung der konjunkturpolitischen Position der Opposition gewartet habe,
haben erneut zwei politische Positionen deutlich gemacht. Die Debatte hat deutlich gemacht, daß erstens die Bundesregierung ihre bereits zu Beginn ihrer Amtstätigkeit entwickelte klare konjunkturpolitische Konzeption auch weiterhin vertreten und verwirklichen wird, und sie hat zweitens deutlich gemacht, daß die Opposition wie bisher ihre konjunkturpolitische Doppelrolle weiterspielen will. Mit „Doppelrolle" meine ich, auf die Vergangenheit bezogen, die Rolle des 'währungspolitischen Weißmachers und, auf 'die Zukunft bezogen, die Rolle des wirtschaftspolitischen Schwarzmalers. Diese Mischung aus Vergeßlichkeit gegenüber .den Fehlern der Vergangenheit und Geschäft mit der Angst für die Zukunft
mag zwar von Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, als eine vielversprechende Wahltaktik für die bevorstehenden Landtagswahlen angesehen werden; einer kritischen konjunkturpolitischen Analyse hält diese Taktik jedenfalls nicht stand.
Herr Abgeordneter Kater, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breidbach?
Nein.
Meine Damen unid Herren, Sie wissen genauso gut wie wir: Tatsache ist und bleibt, daß die konjunkturpolitische Ausgangslage dieser Regierung denkbar schlecht war.
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KaterTatsache ist und bleibt, daß sich die verspätete Aufwertung als eine schwere Hypothek fürdiese Regierung ,erwiesen hat,
und Tatsache ist und bleibt — auch wenn Sie dem heute und- hier widersprechen —, daß diese Versäumnisse des Jahres 1969, die auf das Konto der heutigen Opposition gehen,
auch jetzt noch von den Sparern und von den Verbrauchern mit gewissen Vermögensverlusten und Preissteigerungen bezahlt werden müssen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich kann zwar verstehen, daß Sie hier widersprechen wollen,
aber man kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur empfehlen, vielleicht etwas mehr über den Ausspruch des ersten Präsidenten unserer Republik nachzudenken, der einmal gesagt hat: Nur wer immer die Wahrheit sagt, kann es sich leisten, ein schlechtes Gedächtnis zu haben.
Und was soll man von einer Kritik halten, die dazu führt, daß. die Vertreter der Opposition im Haushaltsausschuß zusätzliche globale Sperren, also weitere konjunkturpolitische Bremsen, schaffen wollen, in anderen Ausschüssen aber — die anwesenden Herren des Wirtschaftsausschusses können sich vielleicht daran erinnern — finanzwirksame Anträge ohne Deckungsvorschläge,
also den Fuß auf das konjunkturpolitische Gaspedal, stellen?Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten heute eigentlich vorsichtiger argumentieren. Warum? Nach der Aufwertung malten Sie den Untergang der deutschen Wirtschaft an die Wand, weil es nach Ihrer Meinung zuviel war, was damals geschah. Heute sagen Sie, die Bundesregierung tue zuwenig. Sie schreiben und sprechen wider besseres Wissen — —
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Der Redner lehnt Zwischenfragen ab.
— von einer konjunkturpolitischen Untätigkeit der Bundesregierung. Sie behaupten im Widerspruch zu allen auch Ihnen inzwischen und heute hier noch einmal bekanntgegebenen Daten und Fakten,
wir hätten keine konjunkturpolitisch gerechte Haushalts- und Finanzpolitik. Diese Debatte heute, Herr Müller-Hermann, hat sehr deutlich bewiesen, däß bei. solchen Unterstellungen und Behauptungen der Wunsch, aber nicht die Wirklichkeit der Vater Ihrer Gedanken gewesen ist. Denn daß diese Wirklichkeit-anders aussieht, das wissen Sie genauso gut wie wir. Weil Sie das genauso gut wie wir wissen, wäre es auch besser, Sie würden in der konjunkturpolitischen Debatte an die Stelle einer sachlich unbegründeten Kritik an die Adresse der Regierung die sachlich begründete Selbstkritik stellen.
Aber was tun Sie denn selbst? Professor Schellenberg hat Ihnen jüngst bei der Beratung des Sozialberichts ziemlich genau vorgerechnet, welche gewaltigen Haushaltsmehrausgaben Ihre in letzter Zeit eingebrachten Gesetzentwürfe verursachen würden. Ich möchte mich nur auf einen einzigen, allerdings meiner Ansicht nach schwerwiegenden Fall in diesem Zusamemnhang beziehen. Sie haben die Stirn, in der Drucksache VI/748 vom 6. Mai dieses Jahres qua Fraktion zu fordern: Erkennt die Bundesregierung an, daß die Förderungsmaßnahmen für strukturschwache Gebiete grundsätzlich unabhängig von der Konjunkturlage, gegebenenfalls sogar prozyklisch auszurichten sind? Und einen Satz weiter heißt es: Ist die Bundesregierung bereit, daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und die Mittel für Förderungsmaßnahmen auch in diesen Gebieten von Haushaltskürzungen und Sperrungen zum Zweck der Konjunkturstabilisierung auszunehmen?
— Sie sagen „absolut richtig". Was heißt das aber in der Konsequenz? Während Sie eine antizyklische Konjunkturpolitik predigen, praktizieren Sie gleichzeitig mit derartigen Anfragen und Anträgen ein prozyklisches Ausgabeverhalten als Mittel der Konjunkturstabilisierung.
Und das, meine Damen und Herren, bei 846 000 offenen Stellen und 121 000 Arbeitslosen.
— Aber auch das muß ich Ihnen hier sagen: diesewiderspruchsvollen Darstellungen und die sich hiereindeutig abzeichnenden widersprechenden .Argumente und Anträge
decken sich — man könnte es so sagen — mit den fast kautschukartigen Formulierungen Ihres SiebenPunkte-Konjunkturprogramms. So zum Beispiel, wenn Sie dort unter Punkt 2 eine zurückhaltendere, stabilitätsgerechte Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände, vor allem des Bundes, fordern und im gleichen Abschnitt davon ausgehen, daß dabei den regionalen und sektoralen Gegebenheiten Rechnung zu tragen ist.
Diese Beispiele beweisen doch sehr deutlich, wie sehr es der konjunkturpolitischen Kritik der Opposition an Klarheit und wie sehr es der konjunkturpolitischen Konzeption der Opposition an Konsequenz mangelt.Lassen Sie es mich noch einmal sagen: wer wirklich der Meinung ist, die Konjunkturlage sei so kritisch, daß sofort und unverzüglich gehandelt werden müsse, der soll dann auch klipp und klar und deutlicher als die Opposition bisher hier in diesem Hause sagen, auf wessen Kosten und zu wessen Lasten eine derartige Politik, die wir in dieser Situation nicht für notwendig halten, gehen soll.In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU hat die Regierung schriftlich und mündlich sachlich und nüchtern zum Ausdruck gebracht, daß die voraussichtliche Entwicklung im Jahre 1970 nicht voll zufriedenstellen kann, da nur drei der vier Ziele des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft nahezu optimal erfüllt werden: Wachstum, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Das vierte Ziel, die Preisstabilität, wird sich nur allmählich erreichen lassen. Das entspricht im übrigen auch der Einschätzung der Entwicklung, wie sie in der März-Ausgabe der Zeitschrift „Marktwirtschaft" von Herrn Dr. Schäfer als dem Vorsitzenden des Wirtschaftsrats der CDU u. a. zum Ausdruck gebracht worden ist.
Dr. Schäfer schreibt; nur zwei Kernsätze:Trotz einer deutlich dämpfenden Politik und höchst angespannter Liquidität ist der Investitionswille der deutschen Wirtschaft weitgehend ungebrochen. Vorausgesetzt, diese Dämpfungspolitik wird nicht überzogen, wird die Konjunktur auch 1970 auf hohem Niveau bleiben.
Soweit Dr. Schäfer, der damit doch wohl auch sozu verstehen ist, daß er vor weiteren konjunkturpolitischen Dämpfung,smaßnahmen im Moment
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Katerwarnt. Damit hat er sicher recht, denn die Wirtschaftspolitik kann sich nicht nur
einseitig an der gegenwärtigen Preisentwicklung orientieren.
Sie muß darüber hinaus mindestens ein halbes Jahr im voraus denken. Wie wird dann die Konjunkturlage sein? Das ist die Frage. Wie werden sich dann die gestern beschlossenen Maßnahmen auswirken?
Genau, Herr Luda! Diese Fragen müssen gestellt werden, zumal da konjunkturpolitische Maßnahmen, wie Sie alle wissen, meist erst nach Monaten wirksam und sichtbar werden.Wir sind der Auffassung, daß die derzeitige Wirtschaftsentwicklung keinen Anlaß für eine krisenhafte Gefährdung gibt. Eine Krisengefahr könnte nur heraufbeschworen werden, wenn die Bundesregierung jetzt in die sich andeutende Tendenz der Abschwächung hinein zusätzliche Restriktionsmaßnahmen ergreift und damit über einen zu langen Zeitraum hinweg zusätzlich Kaufkraft stillegen würde.
Das aber könnte eine Rezession mit der Gefahr für die Arbeitsplätze — das haben wir oft genug in den letzten Tagen gesagt — zur Folge haben. Genau diesen Weg wollen und werden wir nicht gehen. Denn so, wie die Preiswelle 1970 das Ergebnis der konjunkturpolitischen Versäumnisse des Jahres 1969 ist, könnte auf diese Weise die Grundlage für eine Rezession im Jahre 1971 gelegt werden.Meine Damen und Herren! Das Licht leuchtet auf; ich möchte deshalb zum Schluß kommen. — Das Beispiel der Vereinigten Staaten sollte uns eine Warnung sein.
Daher müssen und werden wir entgegen allen Unkenrufen aus den Reihen der Unionsparteien in diesem Hause die Nerven behalten und in der derzeitigen Konjunkturphase nicht der Versuchung nachgeben, den von Ihnen an die Wand der Wirtschaft gemalten Teufel einer möglichen Inflation mit dem Beelzebub der von Ihnen schon einmal gewollten Rezession auszutreiben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Luda.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bedaure es sehr, daß der Herr Kollege Kater es nicht für erforderlich gehalten hat, in seiner Rede ad hoc auf die Argumente einzugehen, die seine Vorredner, vor allem auch die Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, vorher hier vorgetragen haben. Wann und wo auch immer seine Rede zu Papier gebracht worden sein mag, — das ist kein Beitrag, eine Parlamentsdebatte konstruktiv zu gestalten.
Ich möchte zu einigen Argumenten, die der Herr Kollege Kater, der Herr Bundeswirtschaftsminister Schiller, der Herr Kollege Lenders und auch der Herr Kollege Kienbaum vorgebracht haben, soweit meine Kollegen, vor allem Herr Höcherl und Herr Müller-Hermann, darauf noch nicht eingegangen sind, hier zusätzlich noch ganz kurz Stellung nehmen.Meine Damen und Herren, in seinem letzten Beitrag hat der Herr Bundeswirtschaftsminister in Punkt 1 auf einige vergangene Fakten abgehoben. Er hat darauf hingewiesen, daß die Steigerung der Lebenshaltungskosten im April 1966 4,4 % betragen habe und damit über der heutigen Rate gelegen habe. Meine Damen und Herren, das ist nicht das Problem. Denn die damaligen 4,4 % entstehen aus dem Vergleich mit April 1965, und Sie wissen, Herr Schiller, daß solche bloßen Monatsvergleiche sehr stark von Zufälligkeiten abhängig sind. Ein echter und neutraler Vergleich ist nur dann möglich, wenn man die Durchschnittswerte von zwölf Monaten zugrunde legt, und die Zwölf-MonatsDurchschnittswerte zeigten 1966 eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten um 3,4 %, während Ihr eigenes Haus, Herr Schiller, für das Jahr 1970 eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten um ganze 4 % selbst prognostiziert hat. Das ist der Tatbestand.
Herr Schiller, Sie sind dann ebenso wie Herr Kollege Schachtschabel und auch Herr Kollege Lenders nochmals auf das Jahr 1969 eingegangen. Ich kann es nicht ändern, daß ich auch darauf jetzt noch antworten muß. Sie haben erklärt, 'die CDU/CSU sei Ihnen in den Arm gefallen. Der Kollege Lenders hat von der von der CDU/CSU verspielten Stabilität gesprochen. Ähnlich hat sich Herr Schachtschabel geäußert. Nun, meine Damen und Herren, ich möchte Sie doch alle bitten, angesichts dieser nun wirklich vergammelten Argumentation nachzulesen, was die Bundesregierung in ihrem Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht, der der heutigen Debatte zugrunde liegt, unter der Nr. 1, also ganz am Kopf, selber festgestellt hat. Dort hat sie geschrieben, daß der konjunkturelle Aufschwung im letzten Quartal 1969 in eine Phase der Verlangsamung eingetreten sei; die Kurve der Auftragseingänge habe sich fast bis zur konjunkturellen Stagnation abgeflacht gehabt. So auch Herr Arndt im Januar dieses Jahres. Er hat gesagt: Die Preiswelle ist gebrochen.Diese Feststellungen sind durchaus zutreffend. Das heißt doch auf deutsch, daß die Steigerung der Lebenshaltungskosten, die anschließend Anfang dieses Jahres innerhalb von nur vier Wochen ganze 1,2 % ausgemacht hat, eine Preiswelle ist, die erst nach den Argumenten und nach dem Streit des Jah-
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Dr. Ludares 1969 entstanden ist, nämlich weil die neue Bundesregierung drei Monate lang eine Politik des Däumchendrehens auf dem Gebiet der Konjunkturpolitik betrieben hat.
Soviel zu diesem Argument des Herrn Kollegen Schiller.Er hat dann gesagt: Im Herbst 1969 gab es niemanden, der als flankierende Maßnahme zur Aufwertung der D-Mark ein binnenwirtschaftliches Stabilitätsprogramm verlangt hätte. „Keiner von uns", haben Sie gesagt, Herr Schiller. Sie selbst haben sich im Wahlkampf und noch drei Tage vor der Wahl in einem langen Interview mit dem „Industriekurier" auf Ihr Memorandum vom 23. Juni bezogen. In diesem Memorandum hatten Sie ausdrücklich geschrieben, daß es nicht genüge, eingleisig zu fahren, also nur aufzuwerten, sondern daß eine Aufwertung nur dann sinnvoll sei, wenn sie durch ein binnenwirtschaftliches Stabilitätsprogramm flankiert werde. Drei Tage vor der Wahl haben Sie noch hinzugefügt: Ein solches Stabilitätsprogramm darf keine flankierende Maßnahmen expansiver Art sein, sondern muß im Gegenteil Maßnahmen dämpfender Art beinhalten. Vier Wochen später, am 28. Oktober, verkündet Herr Brandt seine Regierungserklärung. Und was steht darin? Genau das Gegenteil dessen, Herr Schiller, was Sie drei Tage vor der Bundestagswahl den Wählern versprochen haben, nämlich flankierende Maßnahmen expansiver Art im Sinne von Steuererleichterungen und anderen Maßnahmen.
Sie haben also sehr wohl gewußt, daß eingleisig zu fahren keine vertretbare Methode sein kann. Trotzdem haben Sie sich 1969 mit der einseitigen Maßnahme der Aufwertung begnügt, und in diesem Jahr haben Sie sich, Herr Schiller, und hat sich die Bundesregierung mit der einseitigen Maßnahme begnügt, die die Bundesbank ergriffen hat. Daß die Maßnahmen fiskalpolitischer Art nicht hinreichend zu Buche schlagen, um hier wesentlich zum Erfolg beizutragen, ergibt sich inzwischen aus dem Gutachder OECD, dem Nachtragsgutachten der Sachverständigen und auch aus dem letzten Gemeinschaftsgutachten. Meine Damen und Herren, das ist die Sachlage. Die Wegbereiter, Herr Schiller, die Sie dreieinhalb Jahre seit Ihrem Amtsantritt gehabt haben, haben sich inzwischen von Ihnen abgewendet und sind weitgehend auf Gegenkurs gegangen. Das ist der Tatbestand.Herr Schiller hat schließlich zu den verschiedenen Alternativen Stellung genommen, die in der öffentlichen Diskussion aufgeworfen worden sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Beschluß des Präsidiums der Christlich-Demokratischen Union vom 8. Mai 1970 verweisen, aus dem ersichtlich ist, unter welchen Umständen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereit wäre, die Bundesregierung bei der notwendigen Preisstabilisierung zu unterstützen. Meine Damen und Herren, so viel dazu.Der Herr Kollege Kienbaum hat gesagt, wir wollten nur den Wähler irritieren,
und der Herr Schachtschabel hat gesagt, wir wollten nur vor dem Wahltag Angst machen. Meine Damen und Herren, ich verweise auf die Ausführungen des Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, der in der Kabinettsitzung vom 21. Mai eindeutig erklärt hat, daß die bisher von der Bundesregierung zur Preisdämpfung ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichend seien. Er hat weitere Maßnahmen verlangt, und zwar ausdrücklich und wörtlich „ohne Rücksicht auf politische Termine". Daraus können Sie ersehen, meine Damen und Herren, wer hier in diesem Hause Rücksicht auf politische Termine nimmt.
Der Herr Kollege Kater hat mit Recht gesagt, man könne nur dann Kritik üben, wenn man die Lage zu beurteilen versuche. Wenn die Gefahr einer Rezession bestünde, würde sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hüten, diese Regierung zu ermuntern, zusätzliche Maßnahmen zur Preisstabilisierung zu ergreifen. Aber aus folgenden Gründen scheint uns eine Rezessionsgefahr bei zusätzlichen stabilisierenden Maßnahmen im jetzigen Zeitpunkt keineswegs gegeben zu sein.Erstens. Die Auftragsbestände sind wesentlich größer als in vergleichbaren Zyklen früherer Jahre. Die Nachfrage nimmt stärker zu als das Angebotspotential. Die Zahlen, auf die Herr Schiller und auch Herr Kienbaum hinsichtlich der Entwicklung der industriellen Erzeugerpreise hingewiesen haben, bestätigen gerade die Richtigkeit dieses Tatbestandes. Herr Schiller, die industriellen Erzeugerpreise mögen sich in den letzten Wochen im Vergleich zum jeweiligen Vormonat etwas verringert haben. Fest steht aber, daß nach den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts im Monat April die Teuerungsrate der industriellen Erzeugerpreise im Vergleich zum April 1969 6,4 % betragen hat. Mit dieser Teuerungsrate liegen wir absolut an der Spitze der Industriestaaten der freien Welt, wenn man den Extremfall Japan einmal ausklammert. Und selbst wenn in wenigen Wochen gewisse rückläufige Tendenzen zu verzeichnen sein sollten, sind wir hier noch in einer ganz kräftigen Überhitzung, und zwangsläufig muß in absehbarer Frist das, was sich heute in den industriellen Vorstufen ereignet, demnächst durchschlagen auf die Kostensituation des Verbrauchers.
Meine Damen und Herren! Das Sondergutachten, zu dem auch einige Worte gesagt werden müssen, enthält eine massive Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung. Die bisherigen Maßnahmen werden als unausgewogenes und schon darum nicht konjunkturgerechtes Programm bezeichnet. Es habe an der notwendigen Abstimmung zwischen Bundesregierung und Bundesbank gefehlt. — Die gegenteiligen Behauptungen, die von seiten der Bundesregierung immer wieder aufgestellt worden sind, sind objektiv unzutreffend; das ergibt sich auch aus dem Votum, das Herr Emminger am 21. Mai im
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Dr. LudàKabinett abgegeben hat. — Es gelte jetzt, die Inflationsmentalität zu brechen. Das Sondergutachten sieht dann ein Bündel von Maßnahmen vor, die die Bundesregierung zusätzlich ergreifen sollte.Meine Damen und Herren, was ist die Ursache dieses Scherbenhaufens, vor dem die Regierung Brandt/Scheel ausweislich dieses Sondergutachtens heute steht —? Die Ursache liegt darin, daß man im Herbst vorigen Jahres blindlings den Prognosen gefolgt ist, die gesagt haben, im Jahre 1970 werde die Konjunktur rapide zurückgehen. Diese kritiklose Übernahme von Prognosen ist der eigentliche Fehler, den die Bundesregierung in ihrer bisherigen Politik nicht hat vermeiden können.Nun, die Prognose, die damals das Fundament des Entschlusses der Regierung war, nichts zu tun, ist inzwischen widerlegt durch das Sondergutachten, durch das Gemeinschaftsgutachten, durch die OECD, durch die faktische Entwicklung. Wenn aber das Fundament der Beschlüsse der Bundesregierung vom Herbst vorigen Jahres heute nicht mehr besteht, müßte diese Bundesregierung doch der Offentlichkeit eine neue Konzeption vorlegen, die auf dem Fundament der heute gegebenen Tatsachen beruht. Das aber verweigert sie. Dagegen richtet sich unsere Kritik.Die Zeit ist schon weit vorgeschritten. Ich möchte mich aber abschließend noch mit der Frage der Entlastung der Geldpolitik durch die konzertierte Aktion befassen. In der konzertierten Aktion vom 13. März das war die letzte Sitzung — hat es eine Alternative A gegeben, die dahin ging, die Restriktionen isoliert weiterzuführen, auch auf die Gefahr einer Rezession hin. Die Alternative B lautete: Die Sozialpartner schaffen durch ein aufeinander abgestimmtes Verhalten die Voraussetzung dafür, daß die Bundesbank die Restriktionen bald lockern kann.
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas Aufmerksamkeit für den Redner. Fraktionssitzungen können ja vielleicht nach draußen verlagert werden.
Meine Damen und Herren! Diesen beiden Alternativen hat der Vertreter des Sachverständigenrates, Professor Kloten, eine weitere hinzugefügt, indem er sagte: Falls ein aufeinander abgestimmtes Verhalten der Sozialpartner nicht erreicht werden kann, sind weitere Fiskal-maßnahmen der Bundesregierung notwendig. Wir wissen inzwischen, daß die Sozialpartner nicht konzertiert, sondern kontradiktorisch miteinander verhandeln. Ich will das hier nicht kritisieren; sie sind ja autonom. Aber weil es zu der Konzertierung nicht gekommen ist, hätte die Bundesregerung zusätzliche Maßnahmen im Sinne von Professor Kloten ergreifen müssen. Das ist leider unterblieben.
Herr Kollege Arndt hat im März im „Spiegel" geäußert: Wir müssen die Lohnkosten in Einklang mit der internationalen Wettbewerbslage bekommen; wenn es mit den Tarifvertragsparteien nicht geht, wird es gegen die Tarifvertragsparteien durchgesetzt werden müssen. Nach dem Mißerfolg der konzertierten Aktion will die Bundesregierung offenbar irgendwann die Gewerkschaften unter Druck setzen. Bei dieser Sachlage, die ich sehr beklage, auch im Interesse der Gewerkschaften sehr beklage, müssen die Gewerkschaften sich fragen lassen, wie sie es verantworten wollen, daß sie die Bundesregierung noch immer unterstützen, obwohl diese sie unter Druck setzt und obwohl sie durch ihre Handlungsunfähigkeit aus der schleichenden Inflation inzwischen eine trabende Inflation gemacht und so den gesamten wirtschaftlichen Prozeß verunsichert hat.
Wer diese Regierung weiter unterstützt, ist für ihre Fehlleistungen mitverantwortlich.
Worin bestehen sie? Die Schuld trägt zunächst der verantwortliche Ressortchef, der Bundeswirtschaftsminister, der eine Pause einlegte, statt ein Dämpfungsprogramm vorzulegen, der sklavisch die Prognose vom Konjunkturknick, der Mitte 1970 passieren sollte, übernommen hat und damit gescheitert ist. Die Hauptschuld aber trägt der Bundeskanzler Brandt. In seinem Regierungsprogramm, welches er im Wahlkampf am 17. April vorigen Jahres veröffentlicht hat, hat es geheißen:
Die Stabilität des Preisniveaus wird mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen innere und äußere Gefahren verteidigt.
Als Schiller handeln wollte, torpedierte derselbe Willy Brandt wirksame Maßnahmen. Es ist seine Schuld, daß dadurch sein Bundeswirtschaftsminister in eine unmögliche Lage gekommen ist. Er ist nach wie vor zuständig. Er hat nach wie vor die Verantwortung. Aber er hat keinerlei Einfluß auf die Politik dieser Bundesregierung.
Es ist seine Schuld, die Schuld des Bundeskanzlers, wenn, wie Professor Kloten schreibt, „die Öffentlichkeit mehr und mehr das Vertrauen verliert
in die Fähigkeit der Bundesregierung, in jeder Phase die konjunkturelle Entwicklung wirksam steuern zu können".
Herr Abgeordneter, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen. Sie haben das rote Licht mit Ihrem Papier verdeckt.
Ich verstehe, daß die SPD sich darüber freut. Ich komme zum Schluß. Ich verweise auf das Schreiben von Professor Kloten, in dem es weiter heißt: „Es ist seine Schuld, wenn die Offentlichkeit mehr und mehr das Vertrauen verliert in ihren Willen, dem Ziel der Geldwertstabilität jenen Rang einzuräumen, der ihm nach
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Dr. Ludadem Gesetz zukommt." Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich den fundierten Mahnungen der OECD, des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsforschungsinstitute nachzukommen, um weiteren Schaden vom Sparer und vom Wirtschaftsbürger abzuwenden.
Wird weiter das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Ich schließe die, Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Zu den Buchstaben a) und b) schlägt der Ältestenrat Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft — federführend — und an den Finanzausschuß zur Mitberatung vor. Erfolgt hier ein Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.
Bei c) ist nichts zu veranlassen.
Bei d) hat in Übereinstimmung mit dem Überweisungsvorschlag des Altestensrates die Fraktion der CDU/CSU Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft beantragt. Ich glaube, das ist umstritten. — Wollen Sie dazu das Wort? — Herr Abgeordneter Frehsee!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Inhalt dieses Antrags ist klar und eindeutig. Es ist nach Meinung der Fraktion der SPD nicht erforderlich, den Antrag noch an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Wir bean) tragen Abstimmung.
Herr Abgeordneter Müller-Hermann!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Inhalt des Antrags bedarf einer weiteren Debatte im Wirtschaftsausschuß. Wir beantragen daher entsprechend den Empfehlungen des Altestenrats Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft.
Gemäß der Geschäftsordnung muß ich zunächst über den Überweisungsantrag abstimmen lassen. Wer für die Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe.
Ich lasse durch Aufstehen abstimmen. Wer für die Überweisung ist, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Das zweite ist die Mehrheit; die Überweisung ist abgelehnt.Ich lasse jetzt über den Antrag selbst abstimmen. Wer dem Antrag selbst zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Beides war nicht sehr überzeugend; aber es war doch eine Mehrheit dagegen; abgelehnt.Ich rufe Punkt III der Tagesordnung auf:Erste, zweite und dritte Beratung des vonden Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes— Drucksache VI/877 —Auf Begründung und Aussprache wird verzichtet. Ich schlage Überweisung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vor. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.Wir kommen damit zu Punkt IV:Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1970
— Drucksachen VI/300, zu VI/300, VI/580, zu VI/580 —Berichte des Haushaltsausschusses
Ich rufe als erstes auf:Einzelplan 01Bundespräsident und Bundespräsidialamt— Drucksache VI/820 —Das Wort als Berichterstatter hat der Abgeordnete Müller .
— Herr Abgeordneter, Sie können nicht verzichten, weil es Ihre Pflicht ist, zu reden, und nicht Ihr Recht. Aber das Haus verzichtet Ihrer Anregung entsprechend.Wünscht jemand hierzu das Wort? — Das ist nicht der Fall.Wer dem Einzelplan 01 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen; einstimmig verabschiedet.Ich rufe auf:Einzelplan 02Deutscher Bundestag— Drucksache VI/821 —Berichterstatter: Abgeordneter RaweIch nehme an, daß das Haus auf den Bericht des Berichterstatters verzichtet. — Dann erteile ich das Wort dem Herrn Präsidenten des Deutschen Bundestages.von Hassel, Präsident des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 02 ist aufgerufen worden, also der Einzelplan mit den Ausgaben, die der deutsche Steuerzahler für dieses Parlament, für seine Abgeordneten, für die Verwaltung und für die vielschichtigen Funktionen in diesem Hause zu finanzieren hat. Es ist daher im Ältestenrat vorgeschlagen worden, daß der Präsident selber ein paar Worte zu diesem Einzelplan, der uns alle berührt, sagt.
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2886 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
von HasselIch möchte zunächst darauf verweisen, daß wir gegenüber dem Vorjahr eine Erhöhung von 108 Millionen DM auf 131 Millionen DM zu verzeichnen haben. Man hat ausgerechnet, daß das 21,2 % seien. Wir meinen nun, daß es falsch wäre, stillschweigend mit einem Beschluß über diesen Punkt hinwegzugehen, sondern daß einiges zu den Themen, die uns persönlich angehen, und zu den Leistungen, die aus dem Haushalt an uns, die Abgeordneten, erfolgen, gesagt werden sollte.Wie setzt sich dieser Betrag der Erhöhung zusammen? Einmal ist das Personal um 194 auf 1392 Köpfe vermehrt worden. Das macht einen Betrag von rund 7,5 Millionen DM jährlich aus. Dieses Parlament will ein modernes Parlament sein, und es gibt wohl niemanden hier, der die Berechtigung dieser Personalvermehrung bezweifelt.Zum zweiten sind die Sachausgaben um 6 Millionen DM gestiegen. Zum näheren Verständnis brauche ich nur zwei Positionen zu nennen, nämlich die Erhöhung der Telefonkosten um 1,8 Millionen DM auf 4 Millionen DM und die Steigerung der Beträge, die wir für die Ergänzung und Ausweitung der Bibliothek und für die vermehrte Herstellung der Drucksachen benötigen, um 1,3 Millionen DM.Das dritte. Bei den Aufwandsentschädigungen werden 9 Millionen DM mehr ausgewiesen — ein nennenswerter Betrag —, und zwar deshalb, weil nach Ablauf der Legislaturperiode die ausgeschiedenen Abgeordneten auf Grund des Diätengesetzes eine Übergangszahlung bekommen. Ein Drittel der Abgeordneten aus dem 5. Deutschen Bundestag sind ausgeschieden. Daher dieser einmalig höhere Ansatz.Das vierte ist eine Position, die sich um 6 Millionen DM erhöht, nämlich die Kosten für die Mitarbeiter der Abgeordneten, seien es Assistenten, Schreibkräfte oder Sekretärinnen. Diese Kosten erhöhen sich deshalb um 6 Millionen DM auf den vollen Jahresbetrag, weil zum ersten Male fast alle Abgeordneten ein ganzes Jahr hindurch von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.Dann gibt es schließlich noch eine fünfte Position, auf die ich nachher noch eingehen werde: die Erhöhung der Zuschüsse an die Fraktionen um 4 Millionen DM.Es gibt aber ein paar Positionen, die uns unmittelbar selber berühren, und wir haben nicht die Absicht, das zu verschweigen, weil wir glauben, daß diese Kosten ebenfalls das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen brauchen und genauso offen ausgewiesen werden sollten wie alle anderen Kosten, die das deutsche Parlament verursacht.Zunächst einmal die Unkostenpauschale oder die Kostenerstattung. Der deutschen Öffentlichkeit ist vielleicht nicht ganz bekannt, daß der Abgeordnete Kosten für sein Büro hier und für sein Büro im Wahlkreis hat, mit allem, was dazugehört, mit Porto im Wahlkreis und dem vielen Telefonieren, das wir leider über uns ergehen lassen müssen. Hier haben sich ganz wesentliche Kostensteigerungen ergeben. 1958 hat man die Kostenerstattung auf 600 DM festgelegt. Seither, in diesen zwölf Jahren, ist alles teurer geworden, und so sind naturgemäß auch dieseKosten gewachsen. Zweitens ist, seitdem wir durch Beschlüsse des Deutschen Bundestages in der vorigen Legislaturperiode unseren eigenen Mitarbeiter bestellen können, natürlich auch die Intensität unserer Arbeit gewachsen. Das ist mit Kosten verbunden, und darum wird die Kostenerstattung von 600 auf 1200 DM erhöht.Das zweite ist die Reisekostenpauschale. Als man seinerzeit von der Einzelabrechnung zur Pauschalierung überging, hat man die Pauschalierung für die Abgeordneten in Entfernungszonen eingeteilt: der Bonn am nächsten Wohnende bekommt monatlich 600 DM Erstattung für seine gesamten Reisekosten, der am fernsten Wohnende bekommt 900 DM. Über die Berechtigung der 900 DM braucht kein Wort verloren zu werden. Niemand draußen, der uns sonst kritisiert, bestreitet das. Aber die Erfahrung hat gezeigt, daß z. B. — um das nur zu erwähnen — der Bonn näher wohnende Abgeordnete, etwa aus der Eifel, dem Westerwald, dem Hunsrück, dem Sauerland, nicht auf einen Zug oder auf eine Flugverbindung zurückgreifen kann, sondern auf das Auto angewiesen ist. Und es ist daher nur berechtigt, daß diese Staffelung beseitigt wird und die Reisekosten einheitlich auf 900 DM festgelegt werden.Das dritte ist die Frage der Fraktionszuschüsse. Ich glaube, daß uns auch der skeptische Fernsehzuschauer attestieren wird, daß dieser Bundestag wieder das Forum der Nation geworden ist. Das in diese Arbeit im Parlament investierte Geld ist — das wird er beurteilen können — im Grunde genommen gut angelegt. Unser Volk wird davon Nutzen haben, wenn wir gründlich und schnell arbeiten können. Das setzt aber voraus, daß nicht nur die Administration des Parlaments gründlich und schnell arbeiten kann, daß der einzelne Abgeordnete durch seine Assistenten schnell arbeiten kann, sondern daß auch die Fraktionen ihre eigenen Apparaturen entsprechend ausbauen. Und das ist geschehen. Der Betrag, der dafür zusätzlich benötigt wird, beträgt 4 Millionen DM. Ich glaube, daß insgesamt gesehen die Bevölkerung, die uns gegenüber außerordentlich kritisch gewesen ist, in der letzten Zeit eingesehen hat, daß man für die Politik nicht nur widerwillig Geld bereitstellen kann, sondern daß das unausweichlich ist, wenn ein frei gewähltes Parlament funktionieren soll.Das vierte ist eine Bemerkung zu einem Thema, das innerhalb und außerhalb des Hauses diskutiert wird, nämlich die Frage nach der Versteuerung der Diäten. Es gibt dazu z. B. einen Antrag der Herren Windelen und Rawe aus der letzten Legislaturperiode, daß diese Versteuerung durchgeführt wird. Es gibt innerhalb des Hauses darüber eine Diskussion. Es wird deshalb eine Kommission von unabhängigen, objektiven Beurteilern der Situation bestellt werden, die dieses Thema bearbeiten und uns dann im Ältestenrat einen entsprechenden Vorschlag machen wird.Das fünfte ist ein Dank an die Berichterstatter, an den Berichterstatter Herrn Rawe und die Mitberichterstatterin Frau Krappe und an Herrn Kirst für zwei großzügige Lösungen, die sie uns ermöglicht haben.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2887
von HasselErstens danke ich für den nennenswerten Ausbau des Besucherdienstes und der Öffentlichkeitsarbeit, der sowohl im personellen seinen Niederschlag findet als auch in den Kosten für die sachliche Öffentlichkeitsarbeit. Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Hohen Hause, der nicht begrüßt, daß endlich auch der Öffentlichkeitsarbeit im Hause mehr Beachtung geschenkt werden kann und daß dann wahrscheinlich auch die Kritik an uns ein wenig zurückgehen wird, wenn man nämlich erläutert, was hier eigentlich im Bundestag vor sich geht, und z. B. sagt, warum das Plenum nicht immer randgefüllt ist, sondern die Abgeordneten noch anderswo tätig sein müssen.Zweitens danke ich den Berichterstattern und dem Ausschuß — ich glaube, auch im Namen des Hauses —, daß sie uns die Möglichkeit geben, den Wissenschaftlichen Dienst und den Ausschußdienst nennenswert zu verbessern. Sie wissen, es gibt zahlreiche Beschwerden aus den Ausschüssen, daß man mit der heutigen Ausstattung der Sekretariate die große Ausschußarbeit nicht schnell genug leisten kann.Meine verehrten Damen und Herren, der Abgeordnete soll auf Grund von Fakten entscheiden, aber er soll diese Fakten nicht alle selbst zusammentragen, sondern dazu bedarf es Wissenschaftlicher Dienste, die ihm dabei Hilfestellung geben.Das Sechste und Letzte ist ein persönliches Wort. Ich bekomme täglich drei bis fünf Anregungen von meinen Kollegen. Da wird vogeschlagen, wie man die Aufzüge schalten sollte, wie die Klimaanlagen, die nicht funktionieren, ausschauen müßten. Man spricht über die falsche Lose-Blattsammlung und über Kommentare, über das Thema Telefonieren, über die versicherungsmathematischen Probleme des Ruhegehaltes, über Ausschußsitzungen, über Dienstreisen, über Tunnel, über Überführungen, über gedeckten Gang und was es alles so gibt.Meine verehrten Damen und Herren, ich möchte mich bei manchen dafür entschuldigen, daß er auf eine Antwort hat länger warten müssen. Es gibt auch einige Antworten, die offenbar in dem großen Haufen Papier überhaupt untergegangen sind. Aber ich glaube, daß Sie bei Beginn der Arbeit im Herbst dieses Jahres feststellen werden, daß eine Fülle von Dingen, über die Sie sich in diesem Hause völlig zu Recht beschwert fühlen, große Fortschritte machen wird; z. B. der nennenswerte Ausbau der Wissenschaftlichen Dienste, die straffe und die teilweise Neugliederung der Verwaltung. Die Beseitigung sehr vieler Engpässe wird bis dahin wahrscheinlich durchgeführt sein. Der Ausbau der Fraktionsmitarbeiterstäbe, die Anstellung der eigenen Mitarbeiter, all das wird, glaube ich, zum Herbst dieses Jahres praktisch reibungslos funktionieren. Ab Herbst dieses Jahres wird es die Parlamentskorrespondenz geben, ab Herbst wird die Öffentlichkeitsarbeit voll funktionsfähig sein, und in aller Kürze — noch vor der Sommerpause — werden auch die Richtlinien für die Besucherbetreuung, die nennenswert ausgeweitet werden soll, erlassen werden.Sie werden also feststellen, daß es in aller Kürze in diesem Hause nennenswerte Erleichterungen geben wird, ganz abgesehen davon, daß nach der Sommerpause der Abstimmkomputer fertig sein wird. Er wird noch in der nächsten Woche erprobt werden. Das wird natürlich ein großes Unternehmen werden, wenn wir diesen Abstimmkomputer einschalten können.Ich meine, daß man bei dieser Gelegenheit auch der Verwaltung einen Dank aussprechen sollte, einer Verwaltung, die zum Teil wirklich bis zum Umfallen hat arbeiten müssen und mit der wir gemeinsam -- der Ältestenrat, das Präsidium und die Verwaltung — diese eben geschilderten Maßnahmen durchgeführt haben. Ich möchte namens des Hauses all den vielen Mitarbeitern im Hause meinen Dank sagen.
Wird des weiteren das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich lasse abstimmen. Wer dem Einzelplan 02 — Deutscher Bundestag — zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Ich rufe auf:Einzelplan 03Bundesrat— Drucksache VI/822 —Berichterstatter: Abgeordneter Dr. von NordenskjöldIch nehme an, daß der Berichterstatter auf das Wort verzichtet.Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Wer dem Einzelplan 03 des Bundesrates zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Einstimmig verabschiedet.Es folgt nach interfraktioneller Vereinbarung: Einzelplan 08Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen— Drucksachen VI/827, VI/854 — Berichterstatter: Abgeordneter BremerVerzichtet das Haus auf die Berichterstattung?— Das ist der Fall. Dann treten wir in die Aussprache ein.Das Wort hat der Abgeordnete Leicht. Es ist eine Redezeit von 45 Minuten angemeldet.
— Meine Damen und Herren, ich darf um Ruhe für den Redner bitten!
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2888 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was eine Regierung wirklich zu leisten imstande ist, kann sie am ehesten und schnellsten in der Finanz- und Wirtschaftspolitik beweisen. Wir haben uns heute morgen bis jetzt praktisch über die Wirtschaftspolitik, insbesondere über die Konjunkturpolitik unterhalten. Wir wissen, daß die Wirtschaftspolitik die Konjunkturpolitik sehr beeinflußt. Genauso beeinflußt aber auch eine richtige Finanzpolitik die Konjunkturpolitik zum Guten. Das Ergebnis und auch die Ziele der Finanzpolitik schlagen sich dagegen noch mehr in konkreten Zahlen nieder, als das die Wirtschaftspolitik tut, in Zahlen, die jedermann nachprüfen kann.Die Sozialdemokraten haben seit Jahren versucht — ich zitiere den jetzigen Herrn Bundesfinanzminister —, „bei den Wählern das Image einer soliden und stabilitätsbewußten Partei zu erwerben". Wie anders, meine Damen und Herren, sieht die Wirklichkeit aus! Schon nach 200 Tagen sozialistischer Regierungsmehrheit sind jene eines Besseren belehrt, die von der Solidität der Staatsfinanzen und einer ausgewogenen Entwicklung der Volkswirtschaft geträumt haben. Das kündigte sich bereits — und ich glaube, das ist, wenn wir heute in den Einzelheiten über den Etat sprechen, der Ausgangspunkt — in der Regierungserklärung an. Es gab kaum einen Gruppen- oder Interessentenwunsch, dem in ihr nicht durch eine Zusage Rechnung getragen worden ist, und das, Herr Kollege Luda, ist das Zweite, was — neben dem Nichtstun — mit dazu beigetragen hat, die Konjunktur so anzuheizen, daß wir heute die Erscheinungen haben, die heute morgen so stark kritisiert worden sind. Hier schon wäre es, meine ich, eine vornehme Aufgabe des Herrn Bundesfinanzministers gewesen zu bremsen.Wir haben in der Debatte über die Regierungserklärung eindringlich vor den Folgen einer Politik der leichten Hand gewarnt. Ich erinnere nur an das, was damals Herr Barzel, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, gesagt hat, der befürchtete, daß diese Politik, die es sich zu Beginn — so drückte er sich aus — so billig mache, am Schluß alle teuer zu stehen kommen werde. Leider hat sich diese Prophezeiung nur allzu schnell erfüllt, wie die in der Debatte des heutigen Vormittags ausführlich behandelten Preissteigerungen zeigen, und das, obwohl im Finanzplan — jetzt komme ich wieder zu dem, was den Herrn Bundesfinanzminister unmittelbar berührt — Versprechungen aus dem Wahlprogramm der SPD und aus der Regierungserklärung in massiver Weise bereits zurückgenommen waren.Trotzdem — ich gestehe das zu — hat der Herr Bundesfinanzminister sicherlich immer noch genug zu verdauen. Und damit komme ich zu den von Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, angesprochenen Anfragen der CDU/CSU. Ich möchte sie behandeln auf Grund Ihres Beitrags von heute morgen. Diese Anfragen waren notwendig, wie Sie mir sicherlich zugeben werden, weil wir Informationen brauchen. Ich möchte mich deshalb sachlich auch mit den Antworten auseinandersetzen. Daraus sollen Sie auch erkennen, daß wir uns mit diesen Dingen beschäftigen. Allerdings ist es nicht so, daß wir diese Antworten der Bundesregierung nun immer als auch für uns gültig hinnehmen müssen, sondern wir können daraus auch andere Schlüsse ziehen.
Ich komme zurück auf die Anfrage meiner Fraktion nach den Gesamtkosten der im Finanzplan vorgesehenen Maßnahmen, also der in der Regierungserklärung versprochenen Maßnahmen. Damals hat der Herr Bundesfinanzminister erklärt, daß eine Addition dieser Restbestände der in die Regierungserklärung aufgenommenen Maßnahmen — also unter Ausscheidung derjenigen, die man schon bewußt draußen gelassen hat im Gegensatz zu dem, was man versprochen hatte — nicht möglich sei. Mag auch wirklich — das gestehe ich zu — eine derartige Addition nicht ohne Problematik sein, so ist es doch merkwürdig, Herr Finanzmnister, daß man bei der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Regierungsfraktionen keine Hemmungen gehabt hat, die finanzwirksamen Anträge der CDU/CSU zahlenmäßig zu erfassen und auch zu addieren. Dabei sind allerdings eine Reihe methodischer Fehler und Doppelzählungen unterlaufen. Wir haben damals, wie Sie sich vielleicht erinnern können, darauf hingewiesen.Durch die Erklärungen versuchten Sie damals zu verwischen, daß die eingetretene Misere der Staatsfinanzen in Wirklichkeit die Folge der uferlosen Versprechungen in der Regierungserklärung ist. Wenn man einmal nach derselben Methodik, die damals von Ihnen bei der Beantwortung der Anfrage der Koalitionsfraktionen betreffend unsere Anträge angewandt worden ist, eine Rechnung aufstellt, dann, Herr Minister, ergibt sich, daß Beträge in einer Größenordnung von 35 Milliarden DM für den Bundeshaushalt und weiteren 6 Milliarden DM für Länder und Gemeinden, also zusammen etwa 41 Milliarden DM, für die Verwirklichung nur des Restbestandes der neuen Maßnahmen nach der Regierungserklärung erforderlich wären. Das ist das Ergebnis. So also, meine ich, sieht das Bild aus, das durch Verweigerung der Addition der Regierungsmaßnahmen der Öffentlichkeit vorenthalten wird.In der Regierungserklärung war seinerzeit die Frage nach der Finanzierung der Versprechungen nicht beantwortet worden. Der Finanzplan zeigt jedoch — und das ist ja Ihr Finanzplan, und ich bin froh, daß wir ihn haben, weil wir daraus die Dinge erkennen können —, und davor warnten wir: Die inneren Reformen, die die Koalition großsprecherisch verkündet hat, sind in Wahrheit eine abschüssige Einbahnstraße in eine immer höhere Staatsverschuldung. Ich begründe das. Nach dem neuen Finanzplan soll die Verschuldung des Bundes in den kommenden Jahren sprunghaft ansteigen, wie wir wissen, von 4,2 Milliarden DM im Jahre 1971 auf 5,7 Milliarden DM — das sind 36 % Steigerung — im Jahre 1972, auf 8,2 Milliarden DM — das sind weitere 44 % Steigerung — im Jahre 1973. Sie ist damit trotz Anhebung der Steuerschätzung — auch das sollte man dabei berücksichtigen — viel höher
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2889
Leichtals im Finanzplan der vorigen Regierung mit durchschnittlich etwas unter 4 Milliarden DM jährlich.Der frühere Finanzminister, der Kollege Strauß, war bei der Erarbeitung der von ihm vorgelegten Finanzpläne bemüht, auch die Finanzierungsseite mit dem Ziel einer dauerhaften Stabilität in Einklang zu halten, und hat zu seiner Kreditplanung die ausdrückliche Zustimmung der Deutschen Bundesbank erhalten. Die im Finanzplan der neuen Regierung angestrebte höhere Neuverschuldung wird dagegen von der Bundesbank abgelehnt. In ihrem Geschäftsbericht für das Jahr 1969 hat sie diese Kreditansätze mit sehr kritischen Anmerkungen versehen, die ich hier wohl nicht vorzulesen brauche; sie sind Ihnen sicherlich bekannt.Eine Nettokreditaufnahme von 8 Milliarden DM und mehr kann im Bundeshaushalt für ein Jahr volkswirtschaftlich dann vertretbar und sogar geboten erscheinen, wenn es darum geht, in einer Phase wirtschaftlicher Rezession oder Stagnation, wie wir sie ja hatten, Steuerausfälle auszugleichen und das Konjunkturschiff durch erhöhte Staatsausgaben wieder flottzumachen. Wenn aber, wie die Bundesregierung uns jetzt glauben zu machen versucht, auch in einer mittelfristigen Planung unter der Voraussetzung einer mittelfristig gleichgewichtigen Wirtschaftsentwicklung und normal steigender Steuereinnahmen eine über 8 Milliarden jährlich hinausgehende Nettokreditaufnahme zulässig sein sollte, dann wäre nicht mehr zu verstehen, weshalb eigentlich die Einschränkungen des Finanzplanungs- und des Finanzänderungsgesetzes samt der begleitenden Steuererhöhungen und sonstigen Maßnahmen, denen ja auch die SPD zugestimmt hat, notwendig waren. Denn die Finanzierungslücken, zu deren Beseitigung diese Gesetze dienten und die damals zum Auseinanderfallen der Kleinen und zur Bildung der Großen Koalition geführt haben, waren auch nicht größer als etwa 8 Milliarden DM im Jahresdurchschnitt.Damals sprach die SPD angesichts dieser großen Finanzierungslücken von einem „finanzwirtschaftlich sumpfigen Boden" — so der Herr Kollege Hermsdorf — und von einer „Zerrüttung der Bundesfinanzen" ; das sagte der Herr Bundeswirtschaftsminister. Heute nimmt dieselbe SPD als Regierungspartei Finanzierungslücken in dieser Größenordnung in Kauf, schließt sie durch eine mittelfristig überhöhte Umverschuldung und bezeichnet dann noch in einem Musterbeispiel von Dialektik das Ganze als solide und stabilitätsbewußte Finanzpolitik.Es gibt ein interessantes Dokument, das zeigt, daß auch Sie, Herr Bundesfinanzminister, nicht daran glauben können, daß die von Ihnen jetzt geplante Verschuldung noch mit den Grundsätzen einer soliden und stabilitätsbewußten Finanz- und Wirtschaftspolitik in Einklang zu bringen ist. In dem von Ihnen im Wahlherbst des vorigen Jahres, also vor einigen Monaten, aufgestellten Finanzprogramm der SPD haben Sie die vertretbaren und notwendigen Kreditaufnahmen für die Jahre 1970 bis 1973 mit insgesamt 15 Milliarden beziffert. Die für diese Jahre jetzt im Finanzplan, der ja auch von Ihnen stammt, ausgewiesenen Kredite belaufen sich zusammen jedoch auf 20,8 Milliarden. Und das ist noch nicht alles.
Dieser im Finanzplan angestrebten mittelbaren Verschuldung muß noch eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen hinzugerechnet werden. Allein für die Krankenhausfinanzierung soll im Zeitraum 1971 bis 1973 der volle Schuldendienst für Kredite von fast 1,1 Milliarden übernommen werden. Bezieht man diesen Betrag — was, wie ich meine, allein richtig ist — in die Rechnung ein, dann beläuft sich die von der Regierung für die Jahre bis 1973 geplante Neuverschuldung auf 21,9, also auf rund 22 Milliarden DM.
Sie liegt damit fast um die Hälfte über der von Ihnen, Herr Finanzminister, selbst als volkswirtschaftlich vertretbar angesehenen Grenze von 15 Milliarden DM. Ist das eine solide und stabilitätsbewußte Finanzpolitik, darf man dann doch fragen.
Sie brechen mit dieser überhöhten Verschuldungsplanung eines Ihrer wichtigsten Wahlversprechen. Die Verletzung Ihrer im Finanzprogramm aufgestellten Versprechen können Sie, wie ich meine, sicher nicht Ihrem kleinen Bruder in der Koalition in die Schuhe schieben. Die genannte zusätzliche Bundesverschuldung von 22 Milliarden ist aber nur ein Mindestbetrag. Auch das muß man feststellen. Unter Einbeziehung aller neuen Schuldendiensthilfen im Finanzplan, aber auch z. B. unter Einbeziehung der schon geplanten — im Haushalt sind dafür die Mittel bereitgestellt — Bildungsanleihe von 1 Milliarde dürfte die Verschuldung in Wirklichkeit noch viel höher sein.Anders ist es nicht zu erklären, daß Herr Minister Möller eine parlamentarische Anfrage — jetzt bin ich wiederum bei einer Anfrage und möchte mich mit der Antwort auseinandersetzen — nach den einzelnen Zinssubventionen und Schuldendiensthilfen im Finanzplan in der Drucksache VI/637 einfach unbeantwortet gelassen hat. Auf die weitere Frage nach dem Umfang der durch neue Schuldendiensthilfen ausgelösten Kredite hat er sogar erklärt—ich zitiere wörtlich —: „Die Beträge für die Jahre 1971 bis 1973 wurden bisher noch nicht genau ermittelt." Herr Bundesfinanzminister, ich glaube, man kann sich nur mit Bestürzung fragen: mit welcher Leichtfertigkeit wird hier eine Verschuldungsplanung in Milliardengröße aufgestellt? Noch nicht einmal über diese volkswirtschaftlich bedeutsame Zahl verschafft sich der Bundesfinanzminister vor Aufstellung seines Finanzplanes Gewißheit. Diese Frage der Verschuldung spielt doch nicht nur finanzpolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch und konjunkturpolitisch eine entscheidende Rolle.
— Und vor allen Dingen psychologisch; dieser Zuruf ist sehr richtig.
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2890 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
LeichtWas hier gespielt wird, wird noch deutlicher durch die in der erwähnten Drucksache zum Ausdruck gebrachte Weigerung, die Geldvermögensrechnung vorzulegen, mit der die Nettokreditaufnahme in Einklang stehen soll. Für diese Weigerung sind nur zwei Erklärungen möglich, Herr Minister. Entweder weist die Gesamtrechnung die Unvertretbarkeit der Kreditplanung offen aus, oder aber eine solche Rechnung liegt gar nicht vor; dann wäre das noch betrüblicher.Die Ausgabeneuphorie, die in der Planung durch das süße Gift des Schuldenmachens ermöglicht werden soll, hat sich bereits unmittelbar nach der Regierungsneubildung voll entfaltet. Der Geldhahn zu der damals prall gefüllten Bundeskasse wurde aufgedreht. Das Geld wurde, wie es Herr Barzel plastisch ausgedrückt hat, geradezu mit der Schaufel hinausgefeuert.
— Ich muß darauf eingehen, weil der Herr Bundesfinanzminister heute morgen dazu auch Stellung genommen hat. — Im vierten Quartal 1969 stigen die Ausgaben gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um über 16 v. H. an. Wie außergewöhnlich diese Ausgabenschwemme war, erkennt man daran — und insofern unterscheide ich mich von der Beurteilung, die Sie gegeben haben, Herr Bundesfinanzminister —, daß in den ersten drei Quartalen, damals unter der Hand von Strauß, der Ausgabenanstieg nur 5 v. H. betrug. In den Vorjahren war, von einer Ausnahme abgesehen, durchweg gerade im vierten Quartal, also in dem Quartal, über das wir sprechen, der Ausgabenanstieg geringer als vorher. Die 16 v. H. des letzten Quartals 1969 stellen auch für sich allein gesehen eine traurige Rekordmarke dar. Sie liegen noch über der Ausgabensteigerung im vierten Quartal 1967, als im Rahmen der damaligen Konjunkturprogramme die Ausgaben bewußt und gezielt um 11,5 % gesteigert wurden. Insgesamt waren die 16 v. H. im vierten Quartal 1969 dreimal so hoch wie im Durchschnitt der entsprechenden Vorjahresquartale seit 1965, und das ist in einem Zeitpunkt, in dem aus konjunkturellen Gründen eine weitgehende Zurückstellung von Ausgaben notwendig gewesen wäre.Aus Zeitgründen will ich nur am Rande erwähnen, daß sich der Bundesfinanzminister, wie die Jahresrechnung zeigt, recht großzügig — wie ich meine; vielleicht können Sie das korrigieren — über die am 22. Juli 1969 damals noch von der Großen Koalition beschlossene Konjunktursperre hinweggesetzt zu haben scheint. Vor dem Hohen Hause erklärte der Bundesfinanzminister am 18. Februar 1970 — und das muß ich auch ansprechen, weil heute morgen von Ihnen, Herr Finanzminister, versucht worden ist, das etwas anders darzustellen —, er werde in der vorläufigen Haushaltsführung die Ausgabensteigerungen auf 4 v. H. begrenzen.
— Ich will dazu etwas sagen, Herr Kirst. Warten Sie mal ab! — Nach den offiziellen Zahlen des Bundesfinanzministers steigen die Ausgaben in den ersten vier Monaten kontinuierlich weit höher an, in einervorläufigen Höchststeigerung im April um 11,7 v. H., nach der allerdings abweichenden Abgrenzung der Bundesbank — ich sage bewußt: Abgrenzung der Bundesbank — sogar um 20 v. H. Insgesamt belief sich ,der Ausgabenanstieg für die ersten vier Monate nach den Zahlen, die der Herr Finanzminister heute morgen hier genannt hat, auf 9,1 %.Rechnet man richtigerweise — das ist ein Streitpunkt, zu dem ich gleich noch etwas sagen werde — die Zahlungen im Januar und Februar hinzu, die noch zu Lasten des Jahres 1969 geleistet worden sind, so sind es sogar 13 v. H., also mehr als dreimal so viel, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister, am 18. Februar — das Datum ist wichtig —, hier erklärt haben, um die Angriffe abzufangen, die wir als Opposition gegen Ihre Planungen vorgetragen haben.Herr Bundesfinanzminister, ich meine, derartige unrichtige Erklärungen zahlen sich nicht aus. Wir wollen von Ihnen keine beruhigenden Erklärungen, die dann doch nicht stimmen. Das ist übrigens dasselbe, was heute morgen ,dem Herrn Wirtschaftsminister gesagt worden ist.
Wir erwarten vielmehr entschlossene Taten.
Und nun haben Sie sich heute morgen, wie das auch schon in der Fragestunde geschehen ist, wegen der Höhe der Ausgabensteigerung, also wegen der von mir genannten und von Ihnen festgestellten 9,1 % statt der 4 %, die Sie prophezeit haben, die Sie gewollt haben,
darauf berufen, daß diese Steigerung vornehmlich auf das Ansteigen der Personalausgaben und auf das Ansteigen der Renten aus der Kriegsopferversorgung zurückzuführen sei. Sie selber, Herr Bundesfinanzminister haben heute morgen hier gesagt, daß der Deutsche Bundestag bereits im Dezember über die Kriegsopferversorgung beschlossen hat und daß er auch schon die von der Regierung vor Weihnachten eingebrachten Vorlagen über die Beamtenbesoldung und ihre Auswirkungen kannte. Wenn Sie also am 18. Februar hier von einer Steigerung um 4 % gesprochen haben, dann wußten Sie, daß die Personalkosten und daß die Kriegsopferversorgung so steigen würden. Dann können Sie sich heute nicht darauf berufen, daß das die Ursachen dafür seien, daß Ihre Prognose, die Sie gegeben haben, um mehr als das Doppelte überschritten worden ist.
Bei mir verstärkt sich der Eindruck immer mehr — man sollte das einmal offen aussprechen; vielleicht sagen Sie etwas anderes dazu —, daß die wahren Gründe anderswo liegen. Ich frage Sie deshalb — ich weiß es nicht hundertprozentig, ich habe es nur gehört, und einige Feststellungen bei den Beratungen im Haushaltsausschuß haben mich zu dieser Frage veranlaßt —: ist es richtig, daß sie zwar im Erlaß über die vorläufige Haushaltsführung auf dem Papier harte Maßnahmen angekündigt und die Inanspruchnahme der Vorjahresansätze auf 60 v. H. beschränkt haben, daß Sie aber
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2891
Leichtanschließend der harten Konfrontation mit Ihren Kabinettskollegen nicht gewachsen waren, zum Rückzug geblasen und beispielsweise im Verkehrsbereich die Ansätze schon zu 95 v. H. und im Verteidigungsbereich sogar zu 100 v. H. freigegeben haben? In konjunkturpolitischen Fehlentscheidungen, die im übrigen im Hinblick auf Art. 111 des Grundgesetzes nach meiner Meinung rechtlich problematisch sein könnten, dürfte der wahre Grund für die Ausgabensteigerung liegen, die mit 13 v. H. noch wesentlich höher ist als die für das Gesamtjahr von Ihnen anvisierten 8,8 v. H.Herr Bundesfinanzminister, wir wissen doch, wie schwer es ist, die Steigerungsrate für das ganze Jahr niedrig zu halten, wenn dies nicht in der ersten Jahreshälte gelingt. Denn die Erfahrung zeigt, daß die zweite Jahreshälfte die Ausgabenfülle noch mehr vergrößert und dort die Ausgaben in noch größerem Umfang weiterlaufen.Hier wird in sehr konkreten Zahlen erkennbar, meine Damen und Herren, was von den Versprechungen, Herr Finanzminister, zu halten ist, besonders wenn Sie immer davon sprechen, wie Sie für Solidität und Stabilität eintreten. In diesen hohen Steigerungsraten sowohl des letzten Quartals 1969 als auch der ersten vier Monate des Jahres 1970 findet die Unfähigkeit dieser Regierung zu einer konjunkturgerechten Ausgabenpolitik — also das Pendant zu dem, worüber heute morgen im Wirtschaftsbereich gesprochen worden ist — ihren sinnfälligen Ausdruck.
Selbst die Märzrate auf die Konjunkturausgleichsrücklage von 750 Millionen DM — wie Sie wissen, spielt die Konjunkturausgleichsrücklage in der Debatte um die Konjunkturpolitik, um Fragen der Dämpfung eine entscheidende Rolle — konnte nach meinen Kenntnissen nur durch Inkaufnahme eines rechnerischen Fehlbetrags von 1,1 Milliarde DM finanziert werden. Ich will auch sagen, warum. Ich kann zwar verstehen, daß Sie, Herr Bundesfinanzminister, dieses kennzeichnende Ergebnis nicht gern zugeben wollen. Anstatt auf die Zahlen Ihres Vierteljahresberichts berufen Sie sich nämlich nun auf den Kontostand bei der Bundesbank.
Dieses Konto enthält jedoch bereits, wie Sie selber wissen, ausgebuchte Zahlungen an supranationale Behörden — es handelt sich um sogenannte Hinterlegungskonten —, die sich Ende März — das ist der Zeitpunkt, für den das eine Rolle spielt — auf 1,2 Milliarden DM beliefen.Setzt man nun diese indirekten Kredite vom Kontostand bei der Bundesbank ab, nämlich von den 0,7 Milliarden DM, die Sie genannt haben, dann erhalten Sie schon ein Minderguthaben von 0,5 Milliarden DM anstatt des von Ihnen genannten Guthabens von 0,7 Milliarden DM. Außerdem kann das Bundesbankkonto, wie Sie sicherlich auch besser wissen als ich, durch eine Verzögerung oder Beschleunigung bei der Weiterleitung von sogenannten durchlaufenden Mitteln um nur wenigeTage angesichts der Größenordnung der Beträge — ich nenne nur die Beträge des Haushalts 1969; da waren es rund 15,7 Milliarden DM — sowohl nach oben als auch nach unten erheblich manipuliert werden. Man kann, meine ich, nur den Kopf darüber schütteln, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister, angesichts dieser Fakten den Mut finden konnten, sich in der Frage der Finanzierung der Ausgleichsrücklage auf den zufälligen und leicht manipulierbaren Kassenbestand zu berufen. Die einzig nachprüfbaren, maßgeblichen Zahlen sind die in Ihrem eigenen Vierteljahresbericht. Diese Zahlen beweisen eindeutig, daß die Angabe, die Konjunkturausgleichsrücklage sei aus laufenden Einnahmen bedient worden, nicht richtig ist.
Ein kurzes Wort zur Frisierung der Steigerungsrate für den Haushaltsentwurf 1970. Ich weiß, hier besteht eine Kontroverse; wir sind darüber verschiedener Meinung. Zur Entlastung des Haushalts 1970 wurde durch vorgezogene Ausgaben von insgesamt 1,9 Milliarden DM die Basis des Jahres 1969 verschoben. Ich bin der Meinung, daß sich nur dann, wenn man diese Beträge zum Jahr 1970 hinzuzählt, die eigentliche Steigerungsrate ergibt, die eben dann, wenn ich Ihre ursprünglichen Kürzungen nehme, statt 8,8 % 13,8 % beträgt und von 12,2 % im Haushalt 1970 auf 17,1 % anwächst.Obwohl ich mir zwischenzeitlich das, was Sie dazu gesagt haben, reiflich überlegt und nochmals geprüft habe, bin ich nicht in der Lage und sehe ich auch keinen Anlaß, meine Meinung zu ändern. Wir sollten uns hierüber auch gar nicht weiter streiten, sondern heute diejenigen Möglichkeiten wahrnehmen, die uns die Haushaltsordnung an die Hand gibt. Lassen wir diese Frage durch eine unabhängige Instanz, nämlich den Bundesrechnungshof, nachprüfen! Einen entsprechenden Antrag haben wir in diesem Hohen Hause gestellt. Er wird, wenn dies noch nicht geschehen ist, sicherlich gleich verteilt werden. Ich habe nur die herzliche Bitte an Sie, Herr Bundesfinanzminister, daß Sie den Koalitionsfraktionen die Annahme dieses Antrags empfehlen.Noch ein Wort zur Arbeit des Finanzplanungsrats, weil das in die gesamte konjunkturpolitische Diskussion hineinpaßt. Das Kommuniqué über die Aprilsitzung überdeckte nur unzulänglich, wie ich meine, die Tatsache, daß keine konkreten Ergebnisse erzielt worden waren. Die Koordinierung der Haushaltsplanung von Bund und Ländern wird damit in diesem Jahr völlig unzulänglich sein. Eine für den 27. Mai vorgesehene Sitzung des Finanzplanungsrats mit den Ländern ist kurzerhand abgesagt worden. Die zwangsläufige Folge davon ist das Fehlen von abgestimmten Rahmendaten für die Aufstellung der fortzuschreibenden mittelfristigen Finanzpläne und der nächstjährigen Haushaltsentwürfe, über die die Kabinette überwiegend bis Anfang Juli entscheiden werden. Das bedeutet praktisch das Fehlen jeglicher Koordinierung der neuen Haushalte und Finanzpläne von Bund und Ländern.Die Begründung dafür, warum das so ist und warum die Sitzung am 27. Mai nicht stattgefunden
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2892 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Leichthat, liegt in dem Nichtvorhandensein einer Konjunkturprognose für 1971, und das zu einem Zeitpunkt, meine Damen und Herren, zu dem gleichzeitig — das wurde heute morgen in der Rede von Herrn Kollegen Lenders, wenn ich es richtig verstanden habe, deutlich — quantifizierte Programme sogar bis zum Jahr 1980 verlangt werden.Aus Presseveröffentlichungen ist bekanntgeworden, Herr Bundesfinanzminister, daß Sie sich außerstande sehen — ich nehme an, das ist so richtig, wie es dort zitiert war —, für 1971 einen Bundeshaushalt mit einem Volumen von weniger als 99 Milliarden DM vorzulegen. Das würde eine Steigerungsrate gegenüber dem um Sperren und Konjunkturausgleichsrücklage bereinigten Haushaltssoll — nach der Beschlußfassung im Haushaltsausschuß — von rund 12 % bedeuten, und das bei einem in der Steuerschätzung angenommenen Bruttosozialproduktzuwachs von 7,5 %. Wir sind gespannt — ich kann es hier nur andeuten —, wie jetzt wieder die überhöhte Steigerungsrate — sie wird auch in der konjunkturpolitischen Situation des Januar überhöht sein — für das Jahr 1971 gerechtfertigt oder her-untermanipuliert wird.Ich habe das Register — das Sündenregister, darf ich vielleicht sagen — so ausführlich dargestellt —obwohl Sie und ich wissen, daß man nicht alles behandeln konnte und daß noch zu vielem etwas zu sagen wäre —, weil ich deutlich machen wollte, weshalb die CDU/CSU-Fraktion Ihrem Einzelplan nicht zustimmen kann. Ein Finanzminister, dessen politisches Handeln weitgehend, zum Teil — ich habe Beispiele gebracht — mit der Vorenthaltung der Informationen gegenüber dem Parlament, in Widersprüchlichkeiten — auch dazu habe ich einige Ausführungen gemacht —, zum Teil auch in der falschen Darstellung besteht, verdient nicht unser Vertrauen.Ich will Ihnen, Herr Minister, gar nicht den ursprünglichen guten Willen absprechen, einen Kurs der Solidität zu steuern. Ich glaube sogar daran, daß Sie das wollten. Aber entscheidend für die Beurteilung auch eines Finanzministers ist nicht allein der Wille, sondern vor allem der Erfolg. Der Erfolg aber kommt nur, wenn man auch das entsprechende Durchsetzungsvermögen hat. Hier, in der Auseinandersetzung mit den Ressortinteressen, haben Sie, wie ich meine, versagt und sich zu einer konjunkturgerechten Ausgabenpolitik nicht fähig erwiesen. Wenn ich alle Äußerungen, wenn ich alle Beteuerungen, Maßnahmen, Fehlprognosen, wirtschaftspolitischen Irrtümer sowie die Verharmlosungen von Preissteigerungen und ökonomischen Zwangsläufigkeiten -- nicht durch Sie allein, Herr Bundesfinanzminister: durch die Bundesregierung — Stück für Stück zu einem Mosaik zusammenfüge, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier — und jetzt komme ich auf etwas zurück, was heute morgen schon angesprochen worden ist, was aber jetzt auch für ,die Finanzpolitik mitgelten soll — mit einer inaugurierten Inflationsmentalität ein langfristiger wirtschaftspolitischer Kurs angesteuert wird.Die Aufwertung, die Überbürdung der konjunkturpolitischen Verantwortun auf die Bundesbank und die Kreditplanung — deshalb habe ich mich so mit ihr beschäftigt — sind wohl nur dem einen Ziel untergeordnet, finanz- und steuerpolitisch ungebunden bleiben zu können, um vielleicht doch noch den Beweis erbringen zu können, daß diese neue Regierung soviel mehr könne als ihre Vorgängerin, also den Beweis erbringen zu können, daß man unter Umständen doch in der Lage ist, alles das, was man einmal versprochen hat, zu verwirklichen. Die Frage aber ist, auf wessen Kosten.
Hier wird ein Weg beschritten, wie ich meine, der vollgepflastert ist mit Wunschbildern und Illusionen, dessen Schilder die Aufschrift inflationärer Bewegungen tragen und in eine Richtung weisen, über die unsere Vorstellungen weit auseinandergehen, ein gefährlicher Weg, der schon bald in einer Sackgasse enden muß. Wir gehen diesen Weg nicht mit.Zum Haushalt 1970 haben wir daher, Herr Finanzminister, sehr konkrete Anträge vorgelegt. Wir sind befriedigt darüber, daß das Anliegen, die Sperre weitgehend in Kürzungen umzuwandeln — das Sie, Herr Bundesfinanzminister, im Kabinett nicht durchsetzen konnten —, im Haushaltsausschuß auch von den Koalitionsfraktionen mit durchgesetzt worden ist. Das läßt uns ein bißchen hoffen, daß vielleicht das Klima dort in Zukunft besser wird, als es bis jetzt jedenfalls war.
Wir waren uns aber auch bewußt, daß der Haushalt 1970 mit einem formellen Volumen von 90,9 Milliarden DM und einem nach Abzug von Ausgleichsrücklage und Sperren verbleibenden nachfragewirksamen Volumen von 88,9 Milliarden DM noch immer konjunkturell überhöht ist. Wir haben uns deshalb keineswegs auf eine negative Kritik, Herr Finanzminister, beschränkt, sondern wir haben — und wir werden sie hier wiederholen — weitere Kürzungsvorschläge von 2,3 Milliarden DM vorgelegt. Ich habe schon gesagt: wir werden sie auch hier in der zweiten Lesung, zumindest in größerem Umfang, wiederum vorlegen. Der Hauptposten ist ein Betrag von 1,5 Milliarden DM durch Einstellung einer bei konjunkturgerechter Wirtschaftsführung meiner Meinung und Erfahrung nach durchaus zu erzielenden Minderausgabe. Damit haben Sie sich heute morgen befaßt. Sicherlich kann man darüber streiten, ob das das beste Instrument ist. Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie sagen, es ist nicht das beste Instrument. Es ist besser, wenn man in einzelnen Positionen anzeigt, wo man gekürzt haben will. Aber vielleicht können Sie noch auf Ihre Kollegen von der Koalitionsfraktion einwirken, daß wir wenigstens die von uns über die 1,5 Milliarden DM hinausgehenden Streichungsanträge von über 800 Millonen DM, die wir hier zu einem großen Teil wiederholen, vielleicht in die Tat umsetzen
und daß wir darüber hinaus vielleicht doch dann den Globalbeschluß der 10%igen Kürzung der nichtgebundenen Ausgaben verwirklichen. Das ist schwer, das weiß ich. Aber wo ist heute in dieser konjunk-
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Leichtturpolitischen Landschaft etwas nicht schwer, gleichgültig ob es heißt „Steuersenkungen zurückstellen" oder „Ausgaben kürzen" oder „Sperren anbringen". Politik — und insbesondere Finanzpolitik — ist eben nun einmal nicht allein eine Sache der Steuerlastquoten, nicht allein eine Sache der Frage der Verschuldung. Beides sind, wenn Sie wollen, einfache Wege. Das eine ist schon schwieriger, nämlich die Steuerlastquote zu erhöhen, schon schwieriger als die Frage der Verschuldung. Aber auch Finanzpolitik kann man nicht machen, ohne daß man unseren Bürgern in gewissen Situationen zumindest Opfer zumutet. Das gehört eben auch hier dazu. Das gehört auch dazu, wenn man eine Minderausgabe durchsetzen oder wie hier Einzelanträge für Streichungen stellen will.Wir sind jedenfalls fest entschlossen, in dieser zweiten Lesung zu erreichen, daß die Summe von 1,5 Milliarden DM bei der Bundesbank stillgelegt wird — zusätzlich zu den 1,6 Milliarden DM —, so daß wir 3,1 Milliarden DM haben. Denn in Ihrer Lösung, Herr Bundesfinanzminister, die Steuermehreinnahmen zu verwenden, um die Konjunkturausgleichsrücklage zu bezahlen, ist zumindest kein allzu großer konjunkturpolitischer Effekt. Sie wollten es ja ursprünglich gar nicht so. Was Sie wollten, stand in Pressemeldungen. Heute im „Kölner Stadtanzeiger" ist es nur noch einmal ein Nachziehen, mit der Überschrift „Die Regierung drückt sich vor der zweiten Rücklage". Die Pressemeldungen haben in der Öffentlichkeit zunächst den Eindruck erweckt, das Kabinett habe beschlossen, eine freiwillige Konjunkturausgleichsrücklage in Höhe von 1,6 Milliarden DM zusätzlich zu der 1,5-Milliarden-Rücklage zu bilden. Erst dann wurde bekannt, daß das Rumpfkabinett, das damals getagt hat, dem nicht gefolgt ist. Sie wollten also ursprünglich, wenn ich richtig informiert bin, selber eine solche Möglichkeit schaffen.Zur Sicherung der Aufbringung der Minderausgaben — ich habe schon etwas dazu gesagt — sollen entweder unsere Einzelanträge mit Kürzungen dienen, oder es sollte die Ausgabenkürzung um 10 vom Hundert bei den nicht rechtlich gebundenen Ausgaben mit hinzugenommen werden. Darüber hinaus — das scheint mir in der konjunkturpolitischen Betrachtung, die wir ja glücklicherweise heute morgen angestellt haben, sehr wichtig zu sein; die Dinge sind uns ja noch frisch in Erinnerung — sollte endlich einmal die Folgerung aus der Erkenntnis gezogen werden, daß die Konjunktur weniger durch Zahlungen aus dem Haushalt auf bestehende Fälligkeiten als vielmehr durch zusätzliche Aufträge, auch wenn sie erst den Haushalt künftiger Rechnungsjahre belasten, angeheizt wird. Deshalb beantragen wir — wir haben es schon im Haushaltsausschuß getan —, die im Haushalt ausgebrachten Verpflichtungsermächtigungen mit Ausnahme derjenigen für Bildung und Wissenschaft in Höhe von 20 % zu sperren.
Dadurch würde ein Auftragsvolumen des Bundes in Höhe von insgesamt 5 Milliarden DM zurückgestellt. Wenn das Hohe Haus diesen Beschluß faßt, könnte man, wie ich meine, mit guter Aussicht auf Erfolg —das ist dann die psychologische Wirkung eines solchen Beschlusses —
auch im Finanzplanungsrat ein entsprechendes Verhalten der Länder und Gemeinden im Hinblick auf eine etwa gleich große Finanzmasse erreichen. Das auf diese Weise eingeschränkte Auftragsvolumen für 1970 würde sich dann auf insgesamt 10 Milliarden DM belaufen.
Weiterhin könnten 1,5 Milliarden DM mehr bei der Bundesbank — nicht in der Konjunkturausgleichsrücklage — festgelegt werden. Ich habe im Haushaltsausschuß vorgeschlagen, so zu verfahren — sonst blieben nur noch 100 Millionen DM übrig —, weil man keine so feste Bindung vornehmen sollte, denn schließlich gestehe ich auch der Regierung zu, daß sie bei einer Beruhigung der Konjunktursituation, insbesondere der Preissituation, zurückgestellte Aufgaben erfüllen kann, daß sie also auf gewisse Mittel zurückgreifen kann. Die zweite Hälfte sollte also stillgelegt, aber später dem Zugriff leichter zugänglich gemacht werden als eine Konjunkturausgleichsrücklage. Rechnen Sie das alles zusammen, rechnen Sie dazu, was die Länder dann mit beitragen können, und rechnen Sie schließlich auch den psychologischen Effekt dazu, der sich zwangsläufig für die Wirtschaft ergeben würde! Ich glaube, diese Maßnahmen könnten dann einen starken dämpfenden Effekt haben.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß diese Maßnahmen zu harten Einschränkungen im Haushalt führen. Wir sind aber bereit, diese notwendigen Härten in Kauf zu nehmen, weil für uns die Stabilität nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Preissteigerungen des derzeitigen Ausmaßes lassen sich nicht herbeireden — so hat es Herr Schiller einmal formuliert. Man sollte die Preise nicht hochreden. Sie lassen sich aber auch nicht wegreden, wie das heute morgen versucht worden ist.
Die schleichende Inflation ist nicht das blinde Schicksal unserer Marktwirtschaft. Sie ist einzig und allein das Ergebnis Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik, meine Herren von der Regierung, einer Politik, die ihr gesellschaftliches Übermorgen dem konjunkturellen Heute überordnet. Eine solche Politik hat sich noch nie ausgezahlt, und sie wird sich auch in Zukunft nicht auszahlen. Meine Damen und Herren, mit unserer Unterstützung, auch von der Finanzseite her die Konjunktur in den Griff zu bekommen, können Sie rechnen. Anträge liegen vor. Vielleicht haben Sie bessere; dann reden wir darüber, ob wir sie annehmen können. Sie können aber nicht damit rechnen, daß wir alles so schludern lassen, wie es im Augenblick bei der Regierung der Fall zu sein scheint.
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2894 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Das Wort hat der Abgeordnete Seidel. Für ihn sind ebenfalls 45 Minuten Redezeit beantragt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang meiner Ausführungen darf ich die Feststellung treffen, daß es dem Haushaltsausschuß gelungen ist, den Entwurf des Bundeshaushalts 1970 nach seiner Einbringung am 18. Februar 1970 nach etwas mehr als drei Monaten intensiver Beratung aller Einzelpläne jetzt zur zweiten und dritten Lesung vorzulegen. Bei allen sachlichen Gegensätzlichkeiten von Regierungsparteien und Opposition gab es in der Frage der Zeitökonomie ein gemeinsames Interesse: Alle Fraktionen waren daran interessiert, den Haushalt 1970 noch vor der Sommerpause ohne Überschreitung des 'Zeitplans im Hohen Hause zu verabschieden.
Diese Feststellung ist leicht ausgesprochen. Der Haushaltsausschuß sah sich jedoch einem gegenüber allen vergangenen Jahren veränderten Hauhaltsplan gegenüber. Wir hatten diesmal einen Verwaltungshaushalt für 1970 und 1971 und einen Finanzhaushalt für 1970 zu beraten. Im Zusammenhang mit dem Regierungswechsel kam der Ergänzungshaushalt dazu. Dank der kollegialen Zusammenarbeit im Ausschuß ist man mit diesen ungewohnten Beratungsgrundlagen fertig geworden.Die Haushaltsdebatte 1970 soll nach den mehr oder weniger lancierten Meldungen der Opposition zu einer scharfen Auseinandersetzung mit der Koalition genützt werden. Das ist eigentlich nichts Neues, wird auch erwartet. Eigentlich wird das seit Monaten praktiziert. Allerdings, meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Ob Ihre Rezepte, die Attacken und Aktionen von unterschiedlicher Intensität enthielten, erfolgreich waren, können nur Sie beurteilen. Das Durchstehvermögen der Koalition konnten Sie jedenfalls damit nicht ankratzen. Manche Reden und Artikel der Opposition in der jüngsten Zeit sind mir ein Zeichen der Ratlosigkeit der CDU/CSU-Fraktion,
die in eine nie erwartete Opposition geraten ist. Die vergangenen acht Monate haben für die Überwindung dieser Ratlosigkeit nicht ausgereicht.
Für diese Gewöhnungskur wird mehr Zeit benötigt. Sie steht Ihnen auch bevor.
Ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Sie können es immer noch nicht fassen, daß die Richtlinien der Politik vom Bundeskanzler Brandt bestimmt werden und er dafür die Verantwortung trägt.
Bei Ihnen, meine Damen und Herren, hat sich inden vergangenen zwanzig Jahren die Meinung undEinbildung verfestigt, nur Ihre Partei sei dazu ausersehen, berufen und befähigt, den Bundeskanzler zu stellen.
An dieser Einbildung tragen Sie schwer; man merkt es jeden Tag aufs neue.
An der demagogischen Behandlung der innenpolitischen Themen Finanzpolitik und Haushaltspolitik ist es deutlich merkbar.
Ihre Enttäuschung über den eingetretenen Wechsel sollten Sie eigentlich nicht so verbittert tragen, sondern mit mehr Gelassenheit als lehrreiche Lehr-und Wanderjahre ertragen.
Meine Damen und Herren, Sie können es immer noch nicht fassen, daß ein sozialdemokratischer Bundesfinanzminister den Bundeshaushalt 1970 vorlegte und daß dieser wohl erstmalig gegen Ihre Stimmen — zu meinem Bedauern — verabschiedet wird. Sie wollen es nicht wahrhaben, daß dieser Haushalt 1970 auf Wiedergewinnung einer gesunden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung angelegt ist
und durch die Beratungsergebnisse des Haushaltsausschusses dieser Zielsetzung dienen wird.
Der Haushalt 1970 entspricht den Anforderungen von Stabilität und Wachstum.
In dieser zweiten und in der dritten Beratung wird das noch im einzelnen durch unsere Sprecher nachgewiesen werden.
Sie allerdings, meine Damen und Herren, werden nach dieser Beratung Ihre Gralshüterallüren ablegen, die dahin gehen: Nur Sie geben Gewähr für den ausgewogenen und ausgeglichenen Haushalt.
Meine Damen und Herren, Sie können es nicht fassen, daß die Koalition von SPD und FDP im Haushalts- und Finanzausschuß die gründliche, sachbezogene Beratung des Haushalts 1970 durchstehen konnte, und das bei einem Stimmenverhältnis von 17 : 16. Die Beratung führte zu erheblichen Korrekturen am Entwurf der Bundesregierung. Die vorliegenden Ergebnisse in den Einzelplänen weisen das aus. Dieses Durchstehen einer sachbezoge-
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Seidelnen Haushalts- und Finanzpolitik ist für Sie ohne Ihre sonst gewohnte dominierende Kraft ein ungewohntes Erlebnis. Daß dies bei Ihnen keine reine Freude auslöst, läßt sich leicht verstehen. Aber Sie erleben erstmalig: es geht auch anders; und nach unserer Meinung — dieses Selbstlob bitte ich mir zu verzeihen —
sogar um einiges besser.
Das Gesamtergebnis der vorliegenden Haushaltsberatung entspricht genau der Zielsetzung in der Kombination von wirtschaftlicher Stabilität, soliden Bundesfinanzen und gesellschaftlichem Fortschritt.
Die Regierungsparteien weisen in diesem Beratungsergebnis folgendes aus:
Erstens. Das Volumen der Regierungsvorlage wird um 490 Millionen DM vermindert.Zweitens. Von den vorgesehenen gesperrten Beträgen in Höhe von 2,7 Milliarden sind gleich 2023 Millionen DM in Kürzungen umgewandelt und ein Betrag von 1,6 Milliarden DM für besondere Rücklagen bei der deutschen Bundesbank, davon 1,5 Milliarden DM Konjunkturausgleichsrücklage und 100 Millionen DM Sonderrücklage, vorgesehen. Mit dieser Regelung haben wir von der Koalition das Wort gehalten, daß nach der Gesamtübersicht der Haushaltsberatung und der neuerlichen Einschätzung der Konjunkturlage über die Sperrbeträge entschieden wird. Es ist nicht so, wie Herr Kollege Leicht meint, daß wir erst durch Sie dazu bewogen worden sind.
Drittens. Die Sperrbeträge belaufen sich noch auf 440 Millionen DM, davon 340 Millionen DM für den Straßenbau und 100 Millionen DM für Bildung und Wissenschaft.Viertens. Die Nettokreditaufnahme des Bundes sinkt von 2513 Millionen DM auf 302 Millionen DM.
Damit kommt der Bundeshaushalt den Vorstellungen von Bundesbank und fachkundiger Offentlichkeit nach, in der jetzigen Konjunkturphase den Geld- und Kapitalmarkt zu schonen.Bei dieser Darstellung der Ergebnisse darf ich daran erinnern, daß der Bundeshaushalt 1970/71 in einer schwierigen Ausgangssituation erstellt und beim Deutschen Bundestag am 18. Februar 1970 eingebracht wurde. Er mußte der damaligen Konjunkturlage Rechnung tragen und sollte trotz dieser dadurch bedingten Begrenzung des finanziellen Handlungsspielraums die politischen Ziele der Bundesregierung absichern. Als vordringliche gesellschaftspolitische Maßnahmen sollten in erster Linie in Angriff genommen werden --- und das ist geschehen —: die fühlbare Verbesserung der Kriegsopferversorgung ab 1. Januar 1970 und die Dynamisierung dieser Leistungen ab 1. Januar 1971; die Verbesserung des Familienlastenausgleichs; die erhebliche Steigerung der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft gegenüber 1969.Darüber hinaus sind für die Zukunft vorgesehen: die verstärkte Förderung der Vermögensbildung; die Verbesserung der Wohngeldregelung; die Inangriffnahme der Städtesanierung und Dorferneuerung sowie das Problem der Krankenhausfinanzierung.
Durch die Beschlüsse im Haushaltsausschuß ist dafür gesorgt worden, daß diese Maßnahmen nicht beeinträchtigt werden.Nun kommt der Sprecher der Opposition, Herr Kollege Leicht — entschuldigen Sie jetzt bitte die Bemerkung —, in der Art des Buchhalters, notiert nach seinem Fragebogen — siehe Kleine Anfrage der CDU/CSU vom 20. Februar 1970 —, welche von den 43 Fragen noch nicht in die Finanzplanung endgültig aufgenommen sind. Beflissen und eilfertig stellt er fest, weil ein halbes Dutzend Punkte nicht schon zahlenmäßig fixiert sind: Es ist alles Bluff und Schaumschlägerei.Meine Damen und Herren, das ist die Haltung des Buchhalters, der, wie ich meine, aus der Registratur kommt, der die Vorgänge politischer Zielsetzung bis zu den Angaben über Kosten und Zeitpunkt des Inkraftretens nicht begreift oder nicht begreifen will!
Als ich mir den Fragebogen aus der Kleinen Anfrage der CDU/CSU vom 20. Februar 1970 zu Gemüte zog,
kam mir das Sprichwort in den Sinn: Ein Narr kann mehr fragen, als zehn Weise beantworten.
In diesem Falle, meine Damen und Herren, hat der Bundesfinanzminister tatsächlich alles beantwortet, ohne Schönfärberei und mit großer Offenheit, und eigentlich müßte die Opposition ihm dafür dankbar sein.Hand aufs Herz, Herr Kollege Leicht, können Sie sich eine Bundesregierung vorstellen,
die innerhalb von drei Monaten, vom 28. 10. 1969 bis zum 18. 2. 1970 — dabei noch Weihnachten dazwischen —, alle ihre Zielsetzungen im Detail für den Haushalt 1970 und ,die Finanzplanung 1969/1973
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Seidelauf Heller und Pfennig errechnen und ausweisen könnte? Wenn Sie vor sich selbst ehrlich sind,
müssen Sie zugestehen, daß das nicht geht. Was also, so frage ich Sie, soll das bombastische Geschreibsel in Ihrem Artikel des Deutschland-UnionDienstes vom 2. Juni 1970?
Wir haben uns nun einmal vier Jahre vorgenommen, meine Damen und Herren, und die Finanzplanung marschiert in ihrer Fortschreibung in dieser Zeit mit! Darauf können Sie sich verlassen.
Was die Finanzplanung 1969/1973 an sich betrifft, so darf ich zu einigen offenen Fragen wie folgt Stellung nehmen:1. Alterssicherung für die Selbständigen. Die Bundesregierung hat ihre Absicht erklärt, die gesetzliche Alterssicherung für weitere Gruppen der Gesellschaft zu öffnen.
In diesem Rahmen wird eine besondere Einbeziehung der Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung geprüft. In welcher Form und zu welchem Zeitpunkt hier angestellte Überlegungen konkretisiert werden, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen. Deshalb können im Finanzplan die finanziellen Auswirkungen zur Zeit auch nicht annähernd ausgewiesen werden.
2. Einbeziehung des Sparens im Betrieb in die allgemeine Sparförderung. Auch hier handelt es sich um eine Absichtserklärung der Bundesregierung. Form und Zeitpunkt der Verwirklichung dieser Maßnahme sind noch ungewiß.3. Verbesserung der Richterbesoldung. Die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 enthält darüber überhaupt keine konkreten Angaben. Inhalt und Zeitpunkt einer entsprechenden gesetzlichen Regelung sind noch nicht abzusehen. Auch die finanziellen Auswirkungen können, da sie den Bund nur in sehr geringem Maße betreffen, zur Zeit nicht annähernd geschätzt werden.
4. Einführung eine Bildungsurlaubs. Auch hier, so darf ich sagen, handelt es sich um eine Absichtserklärung der Bundesregierung, die allerdings
warten Sie doch ab, Herr Leicht — vor ihrer Verwirklichung noch sorgfältiger Überlegungen über die Gestaltung und den Zeitpunkt der Einführung des Bildungsurlaubs bedarf. Vor Abschluß dieser Überlegungen können gültige Kostensetzungen nicht gemacht werden.Soweit, Herr Leicht, einige Erklärungen für die offengebliebenen Fragen, die auch Sie in Ihrem Artikel angedeutet hatten.
Demgegenüber muß ich jetzt einige Fragen mit positiver Antwort hinzufügen.1. Die Steuerreform. Die Bundesregierung hat für die Vorbereitung der Steuerreform vereinbart, daß die volkswirtschaftliche Steuerquote nicht verändert wird. Mit der Steuerreform wird in erster Linie eine Umverteilung der Steuerlasten im Interesse einer gerechten Vermögensbildung und unter Berücksichtigung der Harmonisierungsbemühungen in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angestrebt.
2. Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages. Wegen der gegenwärtig noch angespannten konjunkturellen Situation in der Bundesrepublik hat die Bundesregierung vorgeschlagen, die im Steueränderungsgesetz 1970 vorgesehenen Steuersenkungen, die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages von 240 auf 480 DM und den Abbau der Ergänzungsabgabe, zeitlich zu verschieben. Die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages wird zum 1. Juli 1970, der Beginn des Abbaues der Ergänzungsabgabe erst zum 1. Januar 1971 in Kraft treten,
mit der Maßgabe, daß die Steuerersparnis kassenmäßig erst im Jahre 1971 eintritt.3. Ein langfristiges Programm des sozialen Wohnungsbaus. Die Bundesregierung betrachtet die Weiterführung des sozialen Wohnungsbaus als eine öffentliche Aufgabe von besonderer Dringlichkeit.
Sie hat daher über die bisherigen Förderungsmaßnahmen hinaus zum Anlaufen des von ihr angestrebten langfristigen Wohnungsbauprogramms ein Sonderprogramm mit jährlichen Verpflichtungen von zusätzlich 25 Millionen DM ab Haushaltsjahr 1970 beschlossen.
Das führt beim Bund zu einem Kassenbedarf 1971 von 25 Millionen DM, 1972 von 25 Millionen DM und 1973 von 25 Millionen DM. Dieser Mehrbedarf ist im Finanzplan des Bundes 1969 bis 1973 enthalten.Damit komme ich zum Punkt 4: Verbesserung des Wohngeldgesetzes. Für die Verbesserung des Wohngeldgesetzes sind im Finanzplan des Bundes von 1969 bis 1973 je Haushaltsjahr berücksichtigt: 1971
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Seidel180 Millionen DM, 1972 200 Millionen DM, 1973 240 Millionen DM. Daneben werden die Länder 1971 in der gleichen Größenordnung belastet. Insgesamt werden also von Bund und Ländern für diese neuen Maßnahmen bis 1973 rund 1024 Millionen DM zusätzlich aufgewendet.
Weil eben Herr Leicht in seinem Artikel gerade den Finanzplan in Frage gestellt hat, möchte ich aus diesem Finanzplan ein paar solcher positiven Projekte herausgreifen.5. Die wirtschaftliche Sicherung leistungsfähiger Krankenhäuser. Sie ist im Rahmen eines Krankenhausfinanzierungsgesetzes unter finanzieller Beteiligung des Bundes an den Krankenhausinvestitionskosten vorgesehen. Da die Haushaltslage eine direkte Bezuschussung vorerst nicht zuläßt, ist zunächst die Übernahme des entsprechenden Schuldendienstes mit der Belastung des Bundes eingeplant. Sie beträgt: 1971 7 Millionen DM, 1972 35 Millionen DM, 1973 76 Millionen DM. Hierdurch wird eine mögliche Kreditbeschaffung erreicht: 1971 in Höhe von 200 Millionen DM, 1972 in Höhe von 400 Millionen DM und 1973 in Höhe von 466 Millionen DM.Noch ein letztes: die Förderung des Sports. Die Ausgaben des Bundes für die Förderung des Sports werden für die Jahre 1970 bis 1973 mit rund 575 Millionen DM im Finanzplan berücksichtigt. Auf die einzelnen Jahre entfallen dabei folgende Beträge: 1970 106 Millionen DM, 1971 160 Millionen DM, 1972 182 Millionen DM, 1973 107 Millionen DM. In diesen Beträgen sind 239 Millionen DM für die Olympischen Spiele 1972 enthalten.
Gegenüber dem vorangegangenen Finanzplan ergibt sich nach diesem Beschluß der Bundesregierung vom Januar dieses Jahres eine Verstärkung der Sportförderung um folgende Beträge:
für 1970 um 67, 1971 um 82, 1972 um 116 und 1973um 41 Millionen DM. Soweit, meine Damen undHerren, einige Vorzeichen aus der Finanzplanung,
die in Übereinstimmung mit der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 stehen.Ich könnte noch weitere Punkte hinzufügen, aber ich will das dem Herrn Leicht nicht antun. Er sollte das noch etwas studieren und noch mehr darüber nachdenken.
Damit komme ich zu meiner Schlußbilanz.
Nach der angespannten Eröffnungsbilanz, die Bundesfinanzminister Möller vorgefunden hat,
bedeutet die von ihm eingeleitete neue Finanz- und Haushaltspolitik eine erfreuliche Wendung.
Sie garantiert mit ihren finanziellen Aufwendungen und den damit verbundenen politischen Zielen, daß die aus den gesetzten Schwerpunkten resultierenden Aufgaben verwirklicht werden können. Sie verdeutlicht im Finanzplan Reihenfolge und Ausmaß der inneren Reformen, die die Regierung im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten und unter der Voraussetzung solider Bundesfinanzen in den Jahren bis 1973 durchzusetzen entschlossen ist.Wir werden dem Einzelplan 08 unsere Zustimmung geben.
Der Herr Abgeordnete Seidel hat nur die Hälfte der angemeldeten Zeit in Anspruch genommen.
Ich sage das als Aufmunterung für den weiteren Verlauf der Debatte.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kirst.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde, was die Zeit anbetrifft, versuchen, auch Herrn Seidel noch zu unterbieten.Was ich jetzt sage, bitte ich, Herr Wohlrabe und Herr Leicht, nicht als Kritik zu verstehen. Aber ich meine — und das trifft bis zu einem gewissen Grade auch den Kollegen Seidel —, daß wohl manches, was jetzt hier von Ihnen gesagt worden ist, ebenso gut beim Einzelplan 60 oder auch erst in der dritten Lesung hätte gesagt werden können. Ich möchte das, wie gesagt, nicht als Kritik, sondern als Vorbehalt verstanden wissen. Ich behalte mir vor, beim Einzelplan 60 oder in der dritten Lesung auf einige der Punkte, die Sie, Herr Leicht, angesprochen haben, noch einmal ausführlicher zurückzukommen. Denn ich habe nach einem Studium der Etatberatungen aus vergangenen Jahren den Eindruck, daß an sich der Einzelplan 08 nicht immer zur Abgabe von — um es vorsichtig auszudrücken — so grundsätzlichen Ausführungen benutzt worden ist. Aber, Herr Leicht, natürlich sehe ich ein, warum Sie das so gemacht haben. Sie mußten selbstverständlich eine Begründung dafür haben, daß Sie jetzt den Etat des Bundesfinanzministers ablehnen wollen.
Deshalb haben Sie das vorgezogen. Aber ich bitte um Verständnis, daß ich auf einige Ihrer Punkte erst bei anderer Gelegenheit im Laufe dieser Haushaltsberatungen — eventuell in der dritten Lesung — zurückkommen werde. Im übrigen kann ich mich
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Kirstin vielen Punkten auf den Kollegen Seidel beziehen, sofern er auf Sie eingegangen ist.Zu einem Punkt möchte ich von vornherein deutlich etwas sagen. Herr Kollege Leicht, Sie haben, wenn ich es richtig gesehen habe, die Planung hinsichtlich der Schuldenaufnahme — sowohl die des Finanzplans als auch die aus der mittelfristigen Finanzplanung — kritisiert. Ich glaube, wir sind uns darin einig, daß man über das jeweilige konkrete Ausmaß der Schuldenaufnahme auch aus der jeweils gegebenen aktuellen Situation reden und notfalls streiten können muß. Aber ich glaube, wir sind uns doch im Prinzip auch darin einig — oder sollten uns einig ,sein —, daß wir sicherlich, wenn wir auf der einen Seite — und das hat heute morgen eine Rolle gespielt, auch in den Zitaten von den Ausführungen unseres Bundesfinanzministers — an der Steuerlastquote festhalten wollen und wenn wir auf der anderen Seite wissen, was wir alles an Notwendigem tun wollen — und nicht nur wollen, sondern auch müssen —, dazu kommen werden, in stärkerem Maße, als es in der Vergangenheit möglich und nötig gewesen ist,
Aufgaben aus Kaplitalmarktmitteln, aus Anleihen zu finanzieren, zumal darin meiner Ansicht nach auch Vorteile liegen, die mehr als finanzieller Art sind. Denn ich glaube, die großen Aufgaben, die vor uns liegen, sind Aufgaben, von deren Verwirklichung auch zukünftige Generationen profitieren sollen. Ich meine, es ist gar nicht richtig und gar nicht möglich, daß das immer aus laufenden Einkommen sozusagen von der jetzigen arbeitenden Generation aufgebracht wird. Das ist die eine Seite der Medaille.
— Herr Leicht, es freut mich, daß Sie das sagen, daß es nur um die 'Größenordnung ging.
— Doch, ich habe sie verstanden, Herr Leicht. Aber vordergründig haben Sie so argumentiert, als ob Sie überhaupt gegen eine höhere und in der Zukunft wesentlich höhere Verschuldung wären.
Wenn Sie sagen, es gehe nur um die Größenordnung, dann werden wir uns im konkreten Fall über die Größenordnung zu unterhalten haben. Ich habe allerdings die Furcht, daß Sie dann, wie die Situation jeweils auch immer sein mag, doch dagegen sein werden.
Herr Leicht, ich glaube, wir sollten eine solche — wenn ich es einmal aus dem Wirtschaftlichen übertragen und so formulieren darf — Senkung der Selbstfinanzierungsquote innerhalb des staatlichen Bereiches auch gesellschaftspolitisch für richtig halten. Denn ich meine, es ist für den Staatsbürger viel besser, er beteiligt sich an der notwendigen Finanzierung, indem er auf direktem oder indirektem Wege dem Staate diese Mittel anleihemäßig zur Verfügung stellt, als daß er sie als Steuern bezahlt. Im zweiten Fall, im Falle der Steuern, ist das endgültig weg; im anderen Fall bleibt es in seinem Vermögen. Aber darüber werden wir uns dann noch weiter auseinanderzusetzen haben.Im übrigen habe ich den Eindruck, daß weite Teile Ihrer Rede, Herr Leicht, dem Zwecke dienten, die heute morgen hier veranstaltete Konjunkturdebatte, die man nach meinem Gefühl ebensogut beim Einzelplan 09 hätte führen können — nach dem, was dabei herausgekommen ist —, jetzt noch einmal mit anderen oder vielleicht gar nicht mit anderen Mitteln fortzusetzen. Ich habe auch nicht die Absicht, auf Ihre Darstellungen über die Entwicklung der Ausgaben im vierten Quartal 1969 und im ersten Quartal 1970 einzugehen. Ich hatte zum Teil den Eindruck, daß Sie die Darlegungen des Finanzministers heute morgen hier gar nicht mitbekommen haben.
Wir haben im Februar darüber gesprochen. Ich will dazu nur sagen: diese Behauptungen werden durch Wiederholung nicht wahrer.
Der Finanzminister wird wahrscheinlich noch einmal mit den Zahlen aufwarten.Herr Leicht, Sie haben die Hoffnung ausgesprochen, daß das Klima im Haushaltsausschuß besser wird. Über das Klima in diesem Hochhaus kann man ohnehin geteilter Meinung sein. Sie meinten das aber anders, Herr Leicht. Ich habe den Eindruck, daß es so schlecht eigentlich gar nicht war.
— Gut, dann sind wir uns wenigstens insofern einig.
Nun muß ich etwas zu Ihren Anträgen sagen, die Sie hier angekündigt haben — zum Teil werden sie auch schon verteilt, wie ich festgestellt habe —, obwohl sie, zumindest formal, zum Einzelplan 60 gehören. Ich möchte vermeiden, daß hier der falsche Eindruck entsteht, Sie hätten gewisse Anträge kumulativ gestellt; Sie haben sie nämlich nur alternativ gestellt. Soviel „Gutes" wollten Sie nun doch nicht. Sie haben in der ersten Phase der Beratungen im Haushaltsausschuß beim Einzelplan 60 den Antrag gestellt, der jetzt auch wiederholt wird: 1,5 Milliarden DM globale Minderausgaben. Das ist richtig. Warum wir ihn abgelehnt haben, kann ich Ihnen jetzt sagen; ich muß es beim Einzelplan 60 sicher noch einmal wiederholen. Sie haben dann, als wir diesen Antrag aus wohlerwogenen Gründen abgelehnt haben, beim Gesetz die beiden anderen Anträge mit 10%igen Kürzungen bei den gesetzlich gebundenen Ausgaben und 20%igen Kürzungen der Verpflichtunsermächtigung gestellt. Ich möchte hier nur nicht den Eindruck
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Kirstentstehen lassen, daß Sie das alles wollten. Im Haushaltsausschuß haben Sie jedenfalls unserer Auffassung nicht widersprochen, daß das alternativ war. Ich habe sogar formuliert: Die 10 % sind die 1,5 Milliarden in anderer Form. Ich glaube, das sollten wir hier einmal deutlich festhalten.Beide Wege können nicht alternativ gesehen werden. 1,5 Milliarden sind sicher ein zu hohes Ausmaß. Das ist nicht möglich, wenn es auch wahrscheinlich ist, daß es nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse, der sich durch Unvorhergesehenes natürlich jederzeit ändern kann, in einem vermutlich nicht unerheblich geringeren Ausmaße der Fall wäre. Aber es ist nicht möglich, das zu quantifizieren und zu veranschlagen. Deshalb werden wir— das habe ich heute morgen schon einmal zum Ausdruck gebracht — durch eine geeignete Form einer Entschließung — um die Meinung der Mehrheitsfraktionen hier zu dokumentieren — die Regierung noch einmal auffordern, das zu tun, was sie ohnehin tun will.Nun zu den Verpflichtungsermächtigungen. Es tut mir leid, daß ich es wiederholen muß. Da Sie aber die Angriffe gegen diese Verpflichtungsermächtigungen zumindest in Form eines Kürzungsantrages immer wieder bringen, muß ich noch einmal sagen: Das optische Bild, das Sie hier in den Vordergrund gestellt haben — nicht heute, sondern im Februar —, also dieses immense Anwachsen der Verpflichtungsermächtigungen, ist falsch. Sie wissen, daß diese optische Steigerung von 9 auf rund 25 Milliarden DM einzig und allein haushaltstechnisch bedingt ist, und zwar durch den Verteidigungsetat, wo diese Verpflichtungen bisher ohnehin bestanden haben, aber jetzt nach der neuen Haushaltsordnung ausgewiesen werden müssen.Ich frage mich auch im Hinblick z. B. auf die Kürzung von 1 Milliarde DM, die wir beschlossen haben, und auch im Hinblick auf das, was der Kollege Zimmermann hier gestern gesagt haben soll— wir hatten gerade eine Sitzung des Haushaltsausschusses, aber es ist mir authentisch berichtet worden —, ob es richtig ist, diese 20%ige Kürzung der Verpflichtungsermächtigungen zu beschließen, weil sie, wenn man genau hinsieht, in ganz entscheidenden Punkten den Verteidigungsetat betreffen würde. Man kann nicht gestern sagen: da geschieht zu wenig, und heute praktisch 3,2 Milliarden DM Verpflichtungen in diesem Etat kürzen sollen.
Das gilt auch für den anderen Bereich, wo nämlich die Verpflichtungsermächtigungen durch den Ergänzungshaushalt gestiegen sind, und zwar im wesentlichen durch zwei Posten: den bekannten Airbus und die Werfthilfen; dieselben Werfthilfen— auch das muß ich noch einmal wiederholen —, die Ihre Hamburger Kollegen zu Recht gefordert haben und die Sie durch diesen Antrag unmöglich machen würden. Das muß man einmal hier ganz deutlich sagen.Ich möchte mich im Augenblick auf diese wenigen Bemerkungen hier beim Einzelplan 08 beschränken. Herr Leicht, Sie haben vorhin, als Sie die Konjunkturdebatte wiederaufleben lassen wollten, die etwas rhetorische Frage gestellt: Was ist nicht schwer in dieser Zeit? Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen das nun laut sage, was ich dabei gedacht habe, weil Sie gerade hier sprachen. Ich möchte sagen: Reden ist leicht, und leicht ist reden!Die FDP stimmt diesem Haushalt zu.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Leicht hat zu Beginn seiner Ausführungen darauf hingewiesen, daß die CDU/ CSU-Opposition zu Beginn der Tätigkeit der neuen Bundesregierung und bis zum heutigen Tag vor einer Politik der leichten Hand gewarnt habe. Ich glaube, er hat gar nicht empfunden, daß er in eine Widersprüchlichkeit hineingeriet, als er dann versuchte darzustellen, daß es sich bei der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 um eine Absichtserklärung für die in Angriff zu nehmenden inneren Reformen gehandelt hat, von denen niemand annahm, daß sieinnerhalb eines Jahres realisiert werden könnten, und
um Absichtserklärungen, die im Hinblick auf die Situation erforderlich waren, verbunden mit den Haushaltsberatungen in den späteren Monaten und der Vorlage eines neuen Finanzplans.Daß wir ohne ,die jetzige Konjunktursituation sehr viel weiter wären und entsprechende Mittel für innere Reformen schon im Jahre 1970 hätten einsetzen können,
kann doch wirklich niemand bestreiten.Sie haben sich auch mit dem Finanzprogramm der SPD zum Wahlkampf im September 1969 beschäftigt. Das haben Sie übrigens auch schon in einem im DUD veröffentlichten Artikelgetan. Ich freue mich immer, wenn man sich mit Vorlagen von uns beschäftigt. Das habe ich ja heute vormittag schon erklärt. Es wäre mir nur lieber gewesen, Sie hätten sich schon während des Wahlkampfes mit unseren Finanzplänen beschäftigt, und zwar dadurch, daß Sie im Wahlkampf selbst eine echte Alternative für die Regierungsvorstellungen der CDU/CSU mit einer finanzwirtschaftlichen Absicherung vorgelegt 'hätten.
Daran haben wir Sie während des Wahlkampfes erinnert. Sie sind uns eine Antwort über Ihre Vorstellungen hinsichtlich der finanzwirtschaftlichen Absicherung schuldig geblieben.Sie haben auch nicht genau verfolgt, wie wir uns im einzelnen zu den Vorstellungen verhalten haben, die in dem von der SPD vorgelegten Regierungspro-
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllergramm entwickelt wurden. Sie haben beispielsweise in Ihrem DUD-Artikel erklärt, wir hätten die Hausfrauenrente in unserem Finanzprogramm in Aussicht gestellt, und ganz übersehen, daß wir darüber schon einmal hier gelegentlich ,der Debatte zur ersten Lesung gesprochen haben und daß ich damals in ,der Pressekonferenz, die wir in Bonn ,abgehalten haben, um unser Finanzprogramm im einzelnen zu begründen, auf eine Frage eines Journalisten schon erklärt habe: Wir waren nicht in der Lage, die Finanzierung der Hausfrauenrente in unser Finanzprogramm aufzunehmen, und haben sie darum zurückgestellt, was ¡in keiner Weise bedeutet, daß wir damit etwa von einer solchen Absicht abrücken. Nur sind wir von vornherein, und zwar sowohl in dem Finanzprogramm der SPD als auch im Regierungsprogramm und in dem dazugehörenden Haushalt 1970 und dem dazugehörenden neuen Finanzplan, von den finanziellen Möglichkeiten ausgegangen, ,die :sich nun einmal aus der Lage ergeben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Leicht? — Bitte!
Herr Minister, nur der Klarheit halber frage ich, ob Sie nicht glauben, daß ich richtig verfahren bin, wenn ich in dieser Frage, die Sie kritisieren, folgenden Satz geschrieben habe: „Weitere Maßnahmen, die vor der Wahl versprochen wurden, wie z. B. die Hausfrauenrente, fanden noch nicht einmal in die Regierungserklärung Aufnahme."
Herr Kollege Leicht, ich muß schon sagen, ich wundere mich, daß sie nicht die Unlogik Ihrer Frage empfinden. Denn wenn ich Ihnen vorhin auseinandergesetzt habe, warum wir es nicht verantworten konnten, in das Finanzierungsprogramm der SPD vor den Wahlen die Hausfrauenrente aufzunehmen, dann können Sie von uns doch nicht erwarten, daß wir uns beim Regierungsprogramm weniger verantwortlich verhalten als bei einem Finanzprogramm, das eine Partei während des Wahlkampfes vorlegt.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Dr. Kraske?
Nein.
Meine Damen und Herren, ich beziehe mich, soweit einige Passagen der Rede des Kollegen Leicht in Frage kommen, auf die Etatdebatte in der erstenLesung und auf meine Ausführungen am heutigen Vormittag. Ich glaube, dem Hohen Hause ist nicht zuzumuten, daß ich dasselbe — vielleicht in anderen Formulierungen — mehrmals wiederhole. Ich kann mich also insoweit auf die Protokolle zur ersten Lesung und auf das Protokoll der heutigen Vormittagssitzung beziehen.Aber Herr Kollege Leicht hat einige sehr bedeutsame und grundsätzliche Fragen angeschnitten, die zu behandeln mir wichtig erscheinen. Das Hohe Haus hat wohl auch einen Anspruch darauf, vom Finanzminister zu erfahren, wie er sich zu diesen verschiedenen Punkten stellt.Sie haben z. B. davon gesprochen, daß unsere Absichten hinsichtlich der inneren Reformen eine Einbahnstraße zur Verschuldung darstellten. Es ist sicherlich notwendig, daß wir uns einmal ganz grundsätzlich mit der Frage der Verschuldung des Bundes in der mehrjährigen Finanzplanung beschäftigen.Sie haben behauptet, durch die von der Regierung vorgesehenen jährlichen Verschuldungsraten würde der Bund in unverantwortlicher Weise belastet und die Währungsstabilität gefährdet. Lassen Sie mich dazu zunächst wiederholen, was ich in meiner Haushaltsrede am 18. Februar dieses Jahres erklärt habe:Die Bundesregierung hält mittelfristig eine Kreditaufnahme des Bundes für notwendig und vertretbar, die höher ist, als im alten Finanzplan vorgesehen. Die Neuverschuldung des Bundes wird 1971 rund 4 Milliarden DM, 1972 rund 5,5 Milliarden DM und 1973 rund 8 Milliarden DM betragen. Nur 1970 wird der Bund, solange die Sperre besteht, keine neuen Kredite aufnehmen.Soweit meine Bemerkungen in der ersten Lesung am 18. Februar.Die Verschuldungsabsichten liegen ganz gewiß tendenziell höher als die Schuldenpläne der vorigen Regierung. Sie liegen allerdings bei weitem nicht in dem Maße über den jährlichen Verschuldungsraten der alten Finanzplanung, wie es immer wieder von der Opposition behauptet wird. So sieht die Finanzplanung für den Zeitraum 1969 bis 1973 eine Neuverschuldung von 24,8 Milliarden DM vor. Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme von 4,9 Milliarden DM. Demgegenüber war im Planungszeitraum 1968 bis 1972, den Herr Strauß zu verantworten hatte, eine Verschuldung von 22,5 Milliarden DM, also durchschnittlich jährlich eine Verschuldung von 4,5 Milliarden DM, vorgesehen.Berücksichtigt man, daß die Bundesregierung infolge der Konjunktursperre 1970 den Schuldenstand des Bundes nicht erhöhen wird, so ergibt sich für den Planungszeitraum 1970 bis 1973 eine Zunahme der Gesamtverschuldung von 18 Milliarden DM bzw. eine durchschnittliche jährliche Neuverschuldung von 4,5 Milliarden DM. Das entspricht genau dem durchschnittlichen Zuwachs der Verschuldung in der von meinem Amtsvorgänger zu verantwortenden Planung 1968 bis 1972. Ich betone hier al-
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerlerdings freimütig, daß die erste Finanzplanung dieser Bundesregierung eine stärkere Bundesverschuldung beabsichtigt hat als die Finanzplanung meines Vorgängers.Wir wollen den öffentlichen Kredit intensiver als bisher als ein aktives Mittel der Finanzierung öffentlicher Ausgaben einsetzen. Diese Konzeption, meine Damen und Herren, ist im übrigen nicht so neu, wie das heute die Opposition wahrhaben möchte. Herr Kollege Strauß hat im Bulletin der Bundesregierung vom 4. September 1968 selbst folgendes formuliert:Ganz generell gesehen — so schrieb Herr Strauß —gibt es keinen Grund, warum die öffentliche Schuld nicht mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung zunehmen kann. Unter normalen und stabilen Währungsbedingungen wirft die öffentliche Schuld, wenn die hieraus finanzierten öffentlichen Ausgaben in den Wirtschaftskreislauf eingegangen sind und sie zum überwiegenden Teil langfristig untergebracht wird, keine weiteren Probleme auf.Das gilt natürlich unter normalen und stabilen Währungsbedingungen.
Deswegen unternehmen wir in diesem Jahr keine Verschuldung. Aber hier ist ja der gesamte Planungszeitraum angesprochen worden, der in dem neuen Finanzplan enthalten ist.Ähnlich hatte Herr Strauß schon ein Jahr vorher im Bulletin vom 23. Juni 1967 geschrieben:Unabhängig davon erscheint es unvermeidbar, auch für die Jahre ab 1969 gegenüber der in der Vergangenheit üblichen Handhabung die Neuverschuldung des Bundes beträchtlich auszuweiten. Die sich aus der gesamtwirtschaftlichen Projektion ergebende Forderung nach verstärkten öffentlichen Investitionen kann nur verwirklicht werden, wenn die Gebietskörperschaften bereit sind, sich — insgesamt gesehen — wesentlich stärker als bisher zu verschulden.Das ist ein Zitat von Herrn Kollegen Strauß. Diese Ansicht von Herrn Strauß über die von der öffentlichen Hand einzuschlagende Schuldenpolitik habe ich persönlich seit mehr als einem Jahrzehnt vertreten, und zwar auch, wie Sie wissen, hier in diesem Hohen Hause.Selbst wenn jetzt Herr Kollege Leicht gegen eine solche schuldenpolitische Konzeption polemisiert, stehe ich nach wie vor zu dieser Konzeption und habe in der Finanzplanung die praktischen Konsequenzen gezogen. Selbstverständlich bleibt die Kreditfinanzierung auf die Investitionen beschränkt, solange keine ungewöhnlichen konjunkturellen Ereignisse eine Kreditfinanzierung anderer Aufgaben erzwingen. Meine Ansichten zur öffentlichen Schuldenpolitik habe ich am 4. März dieses Jahres vor der Rheinisch-Westfälischen Börse in Düsseldorf nochmals deutlich herausgestellt. Ich habe dort geäußert: Förderung der Bildung, der Forschung und der Wissenschaft sowie hohe Sozialinvestitionen sind nötig, um wirtschaftliches Wachstum und soziales Gleichgewicht zu sichern. Ich bin der Überzeugung, daß auch der öffentliche Kredit zur Finanzierung dieser Aufgaben in Anspruch genommen werden muß, wenn eine entsprechende Konstellation das erlaubt.Nun hat Herr Kollege Leicht noch einige Bemerkungen zu den Zinssubventionen und zu den Schuldendiensthilfen im Rahmen des Finanzplans gemacht. Es ist dabei behauptet worden, der Bundesfinanzminister habe eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach Zinssubventionen und Schuldendiensthilfen im Rahmen des Finanzplans unbeantwortet gelassen. Das trifft nicht zu. Ich darf in diesem Zusammenhang nochmals auf die Bundestagsdrucksache VI/737 verweisen, in der die Schuldendiensthilfen der Jahre 1970 bis 1973 sowohl in einer Gesamtsumme als auch nach Sparten aufgeteilt dargestellt werden. Es wird auch angegeben, in welchem Umfang durch die Schuldendiensthilfen Kapitalmarktbelastungen ausgelöst werden. Die Behauptung, die Bundesregierung habe auf die Frage der Opposition zu diesem Themenkreis keine Antwort gegeben, bleibt mir angesichts des Vorliegens der Bundestagsdrucksache VI/737 unverständlich.Es ist noch auf die Geldvermögensrechnung aufmerksam gemacht worden. Auch dieses Kapitel ist in der Antwort behandelt worden. Ich möchte hinzufügen: Die Nettokreditaufnahme, die sich aus der Geldvermögensrechnung ergibt, weist nur für das Jahr 1973 eine Meinungsverschiedenheit zwischen unserer Finanzplanung und der Bundesbank auf. Wir haben hier eine Nettokreditaufnahme von rd. 8 Milliarden DM für die öffentliche Hand vorgesehen — das ist das Jahr 1973, wie ich noch einmal wiederholen möchte —, und die Bundesbank hat in den Beratungen des Finanzplanungsrats empfohlen, nicht über 7,5 Milliarden DM hinauszugehen. Wir werden diese Empfehlung laufend zu überprüfen haben. Wir nehmen jede Empfehlung und jeden Ratschlag, der von der Bundesbank kommt — dessen dürfen Sie versichert sein —, sehr ernst.Sie haben dann noch einmal die Frage der globalen Minderausgabe angesprochen. Ich persönlich habe den Eindruck, daß wir in der prinzipiellen Beurteilung gar nicht so weit voneinander entfernt sind, und darf insoweit noch einmal auf meine Ausführungen von heute vormittag verweisen.Nun haben Sie aber auch noch einmal Kürzungsvorschläge angekündigt. Ich weiß nun nicht, welche Kürzungsvorschläge kommen werden. Auf einige, die in den Haushaltsberatungen nach Mitteilung meiner Kollegen eine besondere Rolle gespielt haben und die vielleicht wiederkommen könnten, möchte ich doch der Vorsicht halber eingehen. Sie haben im Haushaltsausschuß die Kürzung im Verteidigungsbereich bei Verpflegung, Bauausgaben, Fernmeldematerial, Fahrzeugen und Betriebsstoffen um 120 Millionen DM vorgeschlagen, die Kürzung
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2902 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möllerdes Ansatzes „bilaterale Kapitalhilfe" um 50 Millionen DM, die Kürzung des Ansatzes „Diskont für U-Schätze" um 65 Millionen DM, die Kürzung des Ansatzes „Zinsen für Buchkredit" um 20 Millionen DM und die Kürzung des Ansatzes „Personalverstärkungsmittel" um 300 Millionen DM.Lassen Sie mich dazu einige Bemerkungen machen! Vielleicht tragen sie dazu bei, hier eine Klärung herbeizuführen; vielleicht tragen sie auch dazu bei, auf die Anträge und ihre Erledigung Einfluß zu nehmen.Die vorgeschlagenen Kürzungen im Verteidigungsbereich sind unter Berücksichtigung der bereits im Einzelplan 14 vorgenommenen sonstigen Kürzungen nicht mehr zu vertreten.
Ich nehme an, daß das durch die Debatte am gestrigen Tage zum Weißbuch erledigt ist; denn Herr Kollege Zimmermann hat ja einige Bemerkungen auch hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Ausgaben im Verteidigungsbereich gemacht. Ich meine, daß Gleiches für die bilaterale Kapitalhilfe gelten sollte, die durch den Haushaltsausschuß schon um 80 Millionen DM gekürzt wurde. Beim Diskont für U-Schätze ist der Ansatz von 155 Millionen DM für die Umschuldung fälliger Papiere unbedingt erforderlich, und deswegen können wir auf diesen Betrag nicht verzichten. Zum Bedarf an Zinsen für den Buchkredit darf ich darauf hinweisen, daß sich der Rhythmus der Steuereingänge, wie Sie wissen, wegen der Finanzreformzuungunsten des Bundes verschoben hat. Deswegen haben wir vom Beginn des Jahres bis Mitte März Kassenkredite aufnehmen müssen. Es ist nicht auszuschließen, daß der Bund in steuerschwachen Monaten vorübergehend auf den Buchkredit zurückgreifen muß. Ihnen ist bekannt, daß sich der Zinssatz dafür in Höhe des Diskontsatzes bewegt.Dem Kürzungsvorschlag bei den Personalverstärkungsmitteln liegt wahrscheinlich die Annahme zugrunde, daß die in den Einzelplänen veranschlagten Personalausgaben wesentliche Reserven enthalten, wie das in früheren Jahren tatsächlich der Fall gewesen ist. Aber diesmal trifft es nicht zu. Die Personal-Istausgaben sind in den ersten vier Monaten des Jahres 1970 um 19,9 v. H. gestiegen, obwohl das Soll der Personalausgaben für 1970 nur um 16,7 v. H. steigt. Es ist zwar zu erwarten, daß die Steigerungsrate von 19,9 v. H. im Laufe des Jahres 1970 auf 16,7 v. H. absinkt, jedoch ist keineswegs damit zu rechnen, daß Minderausgaben verbleiben. Vielmehr zeichnet sich jetzt schon ein Mehrbedarf von rund 30 Millionen DM ab.Eine Bemerkung zu den Ausführungen, die Herr Kollege Leicht in bezug auf die Konjunkturausgleichsrücklage und die Zahlung der ersten Rate in Höhe von 750 Millionen DM im März gemacht hat: Ihre Ausführungen zu den Hinterlegungskonten ändern wirklich nichts an der Tatsache, daß die erste Rate der Konjunkturausgleichsrücklage in Höhe von 750 Millionen DM bis zum 31. März 1970 aus laufenden Einnahmen gezahlt worden ist.Mit diesen Konten, die Sie angesprochen haben, hat es folgende Bewandnis: Beiträge an die EWG werden haushaltsmäßig zu bestimmten Zeitpunkten fällig und dann abgebucht. Die Bundeshauptkasse verwahrt die entsprechenden Beträge, bis sie endgültig kassenmäßig abgerufen werden. So haben wir ständig Beträge auf den Hinterlegungskonten. Richtig ist, daß wir am 31. März 1970 auf diesem Konto einen Betrag von 1 Milliarde 82,5 Millionen DM gehabt haben. Zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres beliefen sich diese Gelder, die im Januar 1969 1 Milliarde 5,2 Millionen DM betragen hatten, immer noch auf rund 600 Millionen DM. Die Frage der Zahlung der Konjunkturausgleichsrücklage steht also in keiner Weise in einem Zusammenhang mit dem Kontostand auf den Hinterlegungskonten. Der heutige Stand des Hinterlegungskontos z. B. — .ich habe das eben ermitteln lassen — beträgt 530 Millionen.Von Herrn Kollegen Leicht ist auch angekündigt worden, daß Sie Wert darauf legten, eine Begrenzung der Inanspruchnahme der in den Einzelplänen des Haushalts 1970 veranschlagten Verpflichtungsermächtigungen um 20 v. H. auf 80 v. H. anzustreben. Sie wissen, daß nach dem neuen Haushaltsrecht -- darüber haben wir uns eingehend in der ersten Lesung unterhalten — die Verpflichtungsermächtigungen im Haushaltsplan zu veranschlagen sind. Dadurch wird das Budgetbewilligungsrecht des Parlaments verstärkt, weil neben den Ausgaben nunmehr auch die Verpflichtungsermächtigungen bewilligt werden müssen. Die Veranschlagung der Verpflichtungsermächtigung hat weiter zur Folge, daß der Haushalt klarer und durchsichtiger wird. Sie dient dem besonderen Anliegen der Haushaltsreform, bei mehrjährigen Vorhaben die finanziellen Auswirkungen in ihrer Gesamtheit im Haushaltsplan darzustellen.Als Auswirkung des neuen Haushaltsrechts sind die Verpflichtungsermächtigungen von 8 Milliarden DM in 1969 im Entwurf des Haushaltsplans 1970 auf 26,8 Milliarden DM angestiegen. Nach den Beschlüssen des Haushaltsausschusses betragen sie nunmehr 28 Milliarden. Ich habe schon bei der ersten Beratung des Haushaltsentwurfs 1970 auf die Gründe für den Anstieg der Verpflichtungsermächtigungen hingewiesen, als Herr Kollege Dr. Stoltenberg das Anwachsen der Verpflichtungsermächtigungen kritisierte. Die Verpflichtungsermächtigungen entfallen im wesentlichen auf folgende Bereiche: Wirtschaftsförderung 1,2 Milliarden, Ernährung 700 Millionen, Verkehr 3,3 Milliarden, Verteidigung 15,7 Milliarden, Entwicklungshilfe 1,9 Milliarden.Die ungekürzte Beibehaltung der im Haushaltsplan 1970 veranschlagten Verpflichtungsermächtigungen ist im Interesse einer kontinuierlichen Fortführung der einzuleitenden Beschaffungs- und Baumaßnahmen gerade in diesen Bereichen unerläßlich.
Die Begrenzung würde eine nicht zu vertretende Verzögerung der Investitionsvorhaben insbesondere im Bereich des Straßenbaus und der Verteidigung zur Folge haben. Das haben Sie auch den
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Bundesminister Dr. h. e. Dr.-Ing. E. h. MöllerZahlen, die ich nannte, entnehmen können. Diese Verzögerung würde die äußere Sicherheit der Bundesrepublik und auch die Bemühungen um die dringend erforderliche Verbesserung der Sicherheit auf unseren Straßen beeinträchtigen. Ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überlegen, denn ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß die Opposition solche Konsequenzen in Kauf nehmen möchte.Meine Damen und Herren, ich habe mich über einige Bemerkungen des Herrn Kollegen Leicht zur Arbeit des Finanzplanungsrats gewundert. Ich bin sehr froh, daß dieser Finanzplanungsrat existiert. Es hat sich im Finanzplanungsrat eine ganz ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen den Ländern und den Vertretern der kommunalen Spitzenorganisationen ergeben. In meiner Amtszeit haben drei Sitzungen stattgefunden, und zwar am 15. Dezember vorigen Jahres, am 28. Januar 1970 und am 17. April 1970. Wir haben eine Verschiebung der nächsten Sitzung vornehmen müssen
— wahrscheinlich auf die zweite Junihälfte —, weil wir mit unseren Vorarbeiten noch nicht fertig geworden sind. Sie können sich das ja vorstellen, wenn Sie daran denken, daß wir die letzte Sitzung erst am 17. April 1970 abgehalten haben. Ich würde mich sehr freuen, Herr Kollege Leicht, wenn Sie als Vorsitzender des Haushaltsausschusses Gelegenheit nehmen würden, sich an Hand der Tagesordnung, die ich Ihnen gern laufend zur Verfügung stelle, von den auch jetzt zügigen und durchaus vernünftig geführten Beratungen des Finanzplanungsrates zu überzeugen.
Daß früher alles bestens war, ist ja selbstverständlich. Aber ich möchte Sie natürlich auch davon überzeugen, daß es jetzt mindestens ebenso gut sein muß.Die Beratungen des Finanzplanungsrates haben sich so entwickelt, daß man sagen kann, daß der Finanzplanungsrat ein wirksames Instrument zur notwendigen Koordinierung aller Gebietskörperschaften geworden ist. Ich nenne Ihnen nur die im Finanzplanungsrat abgesprochenen und in der Praxis vorgenommenen Konjunktursperren und Konjunkturausgleichsrücklagen. Diese Politik werde ich auch im Verlauf der kommenden Monate beibehalten. Der Finanzplanungsrat wird, wie ich schon sagte, in Kürze wieder zu einer weiteren Beratung zusammentreten und über die auf der Basis des Nachtrags zum Jahreswirtschaftsbericht zu treffenden finanzpolitischen Entscheidungen beraten. Den Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht mußten wir erst haben. Wir mußten ihn im Kabinett beraten, und mir schien es auch wichtig zu sein, die Beratung hier im Bundestag abzuwarten. Wir werden diese Sitzung also in Kürze abhalten.Meine Damen und Herren, Herr Kollege Leicht hat nun auseinandergesetzt, warum die CDU/CSU-Fraktion nicht in der Lage ist, diesem Einzelplan zuzustimmen. Sie werden verstehen, daß ich esbedaure, daß sie nicht glaubt zustimmen zu können.
Daß ich Ihre Begründung nicht vollinhaltlich billigen kann, daß ich in wesentlichen Punkten anderer Meinung bin, werden Sie auch verstehen können. Aber gestatten Sie mir noch zwei Bemerkungen hierzu.Sie meinten, ich wäre in den Auseinandersetzungen mit den Ressortkollegen nicht in der Lage gewesen, den Kurs der finanzpolitischen Solidität abzusichern. Sie dürfen mir glauben, Herr Kollege Leicht, daß ich in allen Phasen der Beratungen im Kabinett, die sich mit Finanzfragen, mit finanzwirtschaftlichen Auswirkungen beschäftigen, immer aufpasse, daß dieser Pfad der Tugend der finanzpolitischen Solidität nicht verlassen wird. Daß es dabei zu Auseinandersetzungen mit den Ressortkollegen kommt, wissen Sie. Ich habe aber aus all den Beratungen gewisse Konsequenzen gezogen.Ich habe zunächst einmal — um darauf noch einmal zurückzukommen — bei der vorläufigen Haushaltsführung veranlaßt, daß mir in den letzten Monaten alle Entsperrungsanträge, die von den Ressorts kamen, persönlich vorgelegt worden sind. Ich habe mir jeden einzelnen Antrag selber angesehen, weil ich mich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, daß vielleicht solchen Entsperrungsanträgen in einem größeren Umfang als MT verantworten Rechnung getragen worden wäre. Ich habe auch in einer Sitzung des Bundeskabinetts sehr nachdrücklich darauf hingewirkt, daß der von uns beschlossene restriktive Haushaltsvollzug beachtet wenden muß. Ich glaube also, daß ich mich in den Auseinandersetzungen mit den Ressortkollegen im Rahmen des Möglichen — daß ,es immer nur einen solchen Rahmen des Möglichen gibt, haben Sie, Herr Kollege Leicht, als Parlamentarischer Staatssekretär sicher auch erfahren — durchaus behauptet habe.Aber eine weitere prinzipielle Änderung hat sich aus den dabei gesammelten Erfahrungen ergeben. Wir werden die Beratungen zum Haushalt 1971 und die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung nicht ein der bisherigen Weise ,fortführen, sondern wir werden uns am 13. Juni, also bevor hier die dritte Lesung des Haushaltsplans 1970 stattgefunden hat, in einer Klausurtagung des Bundeskabinetts mit der Haushaltslage für 1971 und 'mit der mittelfristigen Finanzplanung beschäftigen. Es erfolgt ein eingehendes Referat des Finanzministers mit allen Zahlenunterlagen, und wir werden bei dieser Gelegenheit im Kabinett dann eine Grundsatzberatung mit ,dem Ziel durchführen, daß sich das Kabinett, bevor das Finanzkabinett zusammentritt und die Beratungen mit den einzelnen Ressorts durchführt, um eine Abstimmung zuerreichen, dazu entschließt, eine Liste von Prioritäten aufzustellen, die sich selbstverständlich im Rahmen des finanziellen Bewegungsspielraums halten muß, damit am Anfang der neuen Beratung von vornherein die Verantwortung des Gesamtkabinetts steht.
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Bundesminister Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. MöllerIch 'meine, daß wir diamit einen guten Weg beschreiten, und ich glaube, daß sich dann auch die Kollegen der einzelnen Ressorts stärker beteiligt fühlen und stärker daran interessiert sind, die Gesamtverantwortung zu tragen. Das kann man aber nur, wenn man von vornherein eine volle Mitbestimmung sicherstellt, weil sich nur aus dieser Mitbestimmung auch die notwendige Mitverantwortung ergibt.Herr Kollege Leicht, seien Sie davon überzeugt, daß die Bundesregierung nicht von einer Inflationsmentalität befallen ist und daß ich persönlich ganz sicher nicht davon befallen 'bin. Das ist bei meinem Berufsleben, bei meiner früheren Tätigkeit und angesichts der Tatsache, daß ich zu den Gründern der Sparerschutzgemeinschaft gehöre, wohl überhaupt nicht feststellbar.
— Aber glauben Sie mir, ich würde auch in keiner Weise bereit sein, eine solche Inflationsmentalität mitzumachen oder anzuerkennen oder zu ihr Beihilfe zu leisten.
Sie dürfen versichert sein, daß ich die Verpflichtung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, nämlich Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu verhindern, bei allen vier Postulaten bitter ernst nehme und mir völlig idartiber im klaren bin, welche Bedeutung diese Auflage und diese Verpflichtung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes für das Kabinett und insbesondere für den Finanzminister besitzt.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schmidt ? — Bitte schön!
Herr Minister, könnten wir dann in diesem kritischen Augenblick auf Steuersenkungen verzichten und das auf den Oktober vertagen?
Sie wissen, Herr Kollege Schmidt, daß im Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser Punkt eine Rolle gespielt hat, und ich muß schon sagen: Die Opposition war ja heute vormittag recht eifrig, hat aber diesen Punkt in der Konjunkturdebatte und in der Stellungnahme zum Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht nicht berührt, so daß ich — entschuldigen Sie — der Auffassung war, daß dieser im Nachtrag zum Jahreswirtschaftsbericht gemachte Vorschlag — Abbau der Ergänzungsabgabe stufenweise ab 1. Januar 1971, Verdoppelung der Arbeitnehmerfreibeträge ab 1. Juli 1970, nachfragewirksam aber erst im Jahre 1971 — auch die Zustimmung der Opposition gefunden hat. Denn sonst würden Sie ja bei der heftigen Kritik, die Sie heute auf den verschiedensten Gebieten geübt haben, sicherlich Gelegenheit genommen haben, diesen Punkt ganz besonders zu behandeln.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich habe eine Bemerkung des Herrn Kollegen Leicht sehr bitter empfunden, und zwar die Unterstellung, daß die Regierung die Arbeiten schludern lasse. Ich kann mich, solange ich diesem Hohen Haus angehöre oder parlamentarisch tätig bin, nicht erinnern, daß von dem Vertreter einer demokratischen Partei einer Regierung eines demokratischen Staates ein solcher Vorwurf gemacht worden ist.
— Nein! Wenn hier Herr Kollege Leicht als Vorsitzender des Haushaltsausschusses und in der Frage zu diesem Einzelplan der Regierung eine solche Arbeitsweise unterstellt, möchte ich mir doch erlauben, darauf hinzuweisen, daß wir in den 200 Tagen unserer Regierungsarbeit ein so großes und verantwortliches Pensum zu leisten hatten,
das wir mit aller gebotenen Gründlichkeit und mit jedem notwendigen Verantwortungsgefühl geleistet haben, daß ich meine, niemand im Hohen Hause hat das Recht, der Regierung eine andere als eine seriöse Arbeitsweise zu unterstellen. Wenn das mit ein Grund dafür war, den Einzelplan, der jetzt zur Beratung und Abstimmung steht, abzulehnen, dann bitte ich, Ihre Haltung noch einmal zu überprüfen.
Meine Damen und Herren, wir stehen damit am Ende der allgemeinen Aussprache zu Einzelplan 08.
Ich rufe den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 29 *) auf. Dazu hat das Wort der Abgeordnete Bremer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine allgemeine Vorbemerkung zu der Begründung dieses Antrags, zumal auch noch zu anderen Einzelplänen zum Titel „Öffentlichkeitsarbeit" Kürzungsanträge gestellt werden. Ich darf hier generell feststellen, daß die Ansätze für die Titel „Öffentlichkeitsarbeit" in den Einzelplänen dieses Haushalts um 18 % auf 218 Millionen DM im Haushalt 1970 angewachsen sind. Wenn man dazu noch in die Betrachtung einbezieht, daß durch § 6 Abs. 2 des Haushaltsgesetzes die gegenseitige Deckungsfähigkeit auf Grund der neuen Haushaltssystematik auch die Titel „Öffentlichkeitsarbeit" erfaßt, dann ergibt sich daraus eine weitere Möglichkeit für Steigerungen innerhalb dieser Einzeltitel „Öffentlichkeitsarbeit".
Der hier angesprochene Titel ist der einzige, bei dem im Haushaltsausschuß — eigentlich durch ein reines Versehen dem Antrag der Regierung im Ergänzungshaushalt auf eine Erhöhung nicht gefolgt worden ist. Aber deswegen wird der Antrag auch nicht gestellt; sondern es kommt hier die weitere
*) Siehe Anlage 2
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Bremer
Überlegung hinzu, daß wir im Haushalt 1969 gegenüber dem des Jahres 1968 bei fast allen Titeln für die Öffentlichkeitsarbeit eine jedenfalls zum Teil kräftige Erhöhung im Haushaltsausschuß und anschließend auch im Plenum beschlossen hatten. Das geschah, wie ich meine, aus dem durchaus legitimen Grunde, im Wahljahr 1969 der Regierung die Möglichkeit zu geben, vor der Offentlichkeit eine Bilanz auszubreiten.
Aber das sollte eben nur im Wahljahr so sein, und das ist nun vorbei. Wir sind deshalb auch der Meinung, daß es im Jahre 1970 nunmehr nicht mehr zu vertreten ist, wenn die Erhöhung des Jahres 1969 aufrechterhalten bleibt, geschweige denn die Titel des Jahres 1969 noch darüber hinaus aufzustocken.
Schließlich meinen wir aber auch, daß sich keine sonstige Begründung erkennen läßt. Wir sind sehr wohl der Meinung, daß — um diesen Antrag und um den Haushalt des Finanzministers anzusprechen — die Bundesregierung die Möglichkeit haben muß, bei neuen Gesetzen im Zusammenhang etwa mit der Steuerreform die Offentlichkeit entsprechend zu unterrichten, und daß sie dafür entsprechende Mittel braucht. Aber das ist im Jahre 1970 noch nicht der Fall. Wir glauben jedenfalls nicht, daß es notwendig ist, für eine im Augenblick unklare und den Notwendigkeiten der Konjunkturpolitik nicht entsprechende Finanzpolitik Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung zu stellen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Raffert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, wie er hier zum Haushalt des Finanzministers zwecks Kürzung der Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit gestellt wird, ist ja nur einer; es kommen gewiß bei allen oder doch bei vielen Ressorts ähnliche Anträge. Deswegen möchte ich ein für allemal, für alle diese Anträge, die bei den anderen Ressorts noch zu erwarten sind, die Position der SPD und der Regierung klarlegen.
Wer natürlich meint, besonders in einem Wahljahr müsse dieser Etat hoch sein, hat eine merkwürdige Auffassung von Öffentlichkeitsarbeit!
Gerade zwischenzeitlich müssen die Bürger in unserem Lande über das unterrichtet werden, was in der Politik geschieht, nicht nur in Wahljahren. Wenn Sie sich jetzt gegen mehr Öffentlichkeitsarbeit wenden, dann beweist mir das, was Sie darunter bisher, als Sie sie gemacht haben, verstanden haben!
Sie haben gedacht, das ist etwas, womit man die öffentliche Meinung manipulieren, womit man Menschen in ihrer Urteilskraft einengen kann. Das haben Sie gedacht! Sonst würden Sie doch der Regierung das heute gar nicht mehr bestreiten, man sucht ja niemanden hinterm Ofen, wenn man nicht dahintergesessen hat. — Bitte schön, Herr Franke.
Herr Kollege Raffert, verstehen Sie unter Öffentlichkeitsarbeit z. B. diese Broschüre hier des Bundesministeriums für Arbeit, worin nur Absichtserklärungen stehen und nicht ein Stück einer getanen und verbesserten Leistung?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Na, da hat er mir aber eine gute Gelegenheit gegeben, für die Regierung etwas Feines zu sagen, denn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat ganz gezielt exaktes Informationsmaterial im Angebot. Wer diese Broschüre bekommt, erhält auch eine Karte, auf der er genau anstreichen kann: Kriegsopferversorgung, Sozialversicherung, das, das und das; und ausgehend von den Anregungen, die er in diesem Kurzbericht findet, kan er dann ganz genau — — —
— Es stimmt nicht? Wenn ich noch einmal an meinen Platz gehen würde, Herr von Wrangel, könnte ich Ihnen das im einzelnen genau zeigen. Ich denke aber, daß ich mich so plastisch auszudrücken vermag, daß Sie das auch so begreifen!
Herr Kollege Raffert, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Franke?
Herr Kollege Raffert, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie jetzt ein anderes Propagandainstrument als ich meinen? Ich meine diese Broschüre hier, die Sie offensichtlich noch nicht kennen!
Ich kenne sie ganz genau, ich habe sie ja hier. Das ist kein Propagandainstrument; das, worauf ich hinweise, ist ganz exakte Information!
— Das, worauf ich hingewiesen habe, ist ganz exakte Information! Soll ich es nochmal wiederholen?Meine Damen und Herren, wir sind in der Öffentlichkeitsarbeit von der Propaganda zur Information gelangt. Wir haben es sehr schwer gehabt. Wir haben schon in der Zeit der Großen Koalition alles mögliche ausräumen müssen. Die Propagandainstrumente, die sich die Regierungen vor uns geschaffen hatten, haben wir beseitigt. Ich denke z. B. an die Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise!
Die Dunkelfelder haben wir aufgelichtet; ich denke an die Kontrolle des Reptilienfonds!
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2906 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
RaffertDie gezielte Subvention einzelner Presse- und Verbandsorgane haben wir fast völlig beseitigt.
— Na, das ist doch schließlich mit Ihrer Zustimmung in der Großen Koalition geschehen! Nun lassen Sie uns doch aber auf diesem Wege konsequent fortfahren.
Herr Abgeordneter Raffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Oh, sie drängen sich jetzt. Ich muß nur sehen, daß ich auch meine Rede zu Ende bringe.
Nach dem, was Sie soeben aufgezählt haben, Herr Kollege Raffert, wollte ich Sie nur fragen, ob Sie nicht vielleicht noch einen Schritt weitergehen wollen und auch unserem Antrag zustimmen wollen!
Nein! Gerade Ihr Antrag zeigt, daß Sie die Richtung unserer Bemühungen völlig verkannt haben.
Wer sieht, was die Bundesregierung jetzt an Öffentlichkeitsarbeit macht, der muß erkennen und anerkennen, daß wir die Öffentlichkeitsarbeit benutzen
als einen Beitrag zur Demokratie durch Information.
Herr Franke, Sie haben mich auf die Kurzfassung des Sozialberichts hingewiesen. Ich habe Sie hingewiesen auf das exakte Material, das diejenigen anfordern können, die auf die entsprechende Anzeige reagieren. — Sie werden am Freitag wieder eine große Freude erleben. Sie werden eine Anzeige in den deutschen Zeitungen finden — 5 Millionen in den Boulevardzeitungen, 5 Millionen in der Regionalpresse; die vergessen wir bei der Gelegenheit nicht — über die Auswirkungen des Ausbildungsförderungsgesetzes. Sie werden lesen, daß das eine Maßnahme ist, die noch mit Ihnen zusammen im Juli 1969 verabschiedet worden ist. Das wird darin stehen.
— Nein, es steht darin — —
— Herr Leicht, es steht nicht darin, daß wir das gemacht haben; es steht auch nicht wörtlich darin, daß
wir das mit Ihnen zusammen gemacht haben, sondern es wird darin stehen, daß das im Laufe des vorigen Jahres verabschiedet wurde. Na bitte!
Sogar mit Datum, aus dem jeder, der politisch interessiert ist, wird erkennen können, daß wir das zusammen gemacht haben. — Aber da bieten wir auch ganz exaktes Informationsmaterial an darüber, wer etwas unter welchen. Bedingungen wozu bekommen kann. Das müssen die Leute nämlich wissen. Politik ist überhaupt nicht effektiv zu machen, wenn die Menschen die Maßnahmen nicht auf sich beziehen und nicht für sich nutzen können. Dazu helfen wir ihnen mit dieser Art Arbeit.
Diese Entwicklung hat übrigens nicht dazu geführt, daß der Etat des Bundespresseamtes im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit über Gebühr ausgedehnt worden ist. Das kommt in den Ressorts an. Wir haben gar keine Absicht, aus dem Hause Ahlers ein Aufklärungs- und Propagandaministerium zu machen. Das haben wir gar nicht nötig.
Wir bleiben bei der sachbezogenen Information aus den Ressorts heraus. Das Bundespresseamt hift natürlich ein bißchen technisch dabei, das drucktechnisch sauber und rationell in Ordnung zu bringen.
— Na, wo die neuen Leute hingegangen sind, wissen Sie auch; daß sie nicht in die Öffentlichkeitsarbeit Inland gegangen sind, läßt sich ja beweisen.
Herr Abgeordneter Raffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kraske?
Fällt Ihnen auf, daß Sie seit etwa zehn Minuten in die Wir-Form verfallen sind, obwohl es sich doch hier um die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und, wie ich hoffe, nicht um die Ihrer Fraktion handeln soll?
Wenn Sie auch an den Stellen zuhören würden, wo Sie meinen, daß kein Haken einzuschlagen ist, hätten Sie das mitkriegen können. Sie werden im Protokoll nachlesen können, daß ich sowohl den Standpunkt der von uns getragenen Regierung als auch den unserer Fraktion hier erläutere. Das ist ein ganz schöner Plural, den ich da benutzen kann, und keinesfalls der Pluralis mai estatis.
Ich will Ihnen ein Beispiel für Information geben. Wir geben im Bundesverkehrsministerium in diesem Jahr etwa 10 Millionen DM aus für die Aufklärungsaktion über die neue Straßenverkehrsordnung. Kein Pfennig dieser Mittel wird vom Ministerium selbst ausgegeben, sondern vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat, der diese Aktion machen wird. So machen wir das als Regierung, und wir kümmern uns dann natürlich nicht um die Einzelwünsche, die das Haus haben könnte, bei dem .die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2907
RaffertMittel liegen, sondern um die sachlich notwendigen Informationen, die • gegeben werden. Hier einmal eine Relation: 10 Millionen DM für diese wichtige Information — 13,2 Millionen DM im Augenblick für 1 km sechsspuriger Bundesautobahn. Da kann man einmal die Größenordnung sehen, um die es sich hier handelt, in die Sie mit Ihren Kürzungsanträgen hineinstoßen.Ein anderes Beispiel, auch aus dem Verkehrsministerium: 3,5 Millionen DM für Aufklärung und Erziehungsmaßnahmen zur Bekämpfung von Verkehrsunfällen — 3 Millionen DM gehen an Organisationen wie Verkehrswacht, Verkehrssicherheitsrat usw. Unter anderem wird daraus der Fernsehspot „Der 7. Sinn" finanziert, von dem nun bestimmt niemand sagen kann, daß er zum höheren Ruhme der Regierung gemacht wird, sondern wirklich, um die Bevölkerung auf wichtige Dinge hinzuweisen.Wir werden Sie möglicherweise sogar bitten müssen, auf anderen Feldern im nächsten Jahr noch höhere Beträge mitzutragen. Ich denke besonders an das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, das meiner Meinung nach noch nicht ausreichend ausgestattet worden ist. Wenn wir 455 700 DM — das ist eine schöne Zahl — für gesundheitliche Ernährungsberatung ausgeben und wissen, daß 50 % aller Todesfälle auf Ursachen zurückzuführen sind, die mit falscher Ernährung zusammenhängen, dann sehen Sie, daß wir für Aufklärung auf diesem Felde noch mehr tun müßten und sicher demnächst auch tun werden.
Denken Sie daran, was gespart werden könnte — daß die Folgen, die mit mangelnder Information zusammenhängen, für die Menschen schwerwiegend sind, wissen wir —, wenn wir die Menschen durch Information und Aufklärung dazu bringen könnten, sich Vorsorgeuntersuchungen zu unterziehen, die jetzt von den Krankenkassen angeboten werden und die nur in ganz geringem Maße in Anspruch genommen werden. In Bayern gehen z. B. nur 8 % der krebsgefährdeten Frauen zur Vorsorgeuntersuchung, obwohl ihnen die Kasse das bezahlt. Die Menschen müssen wissen, daß so etwas in Gang gesetzt worden ist und gemacht wird. Wir als Regierung und als die Fraktionen, die die Regierung tragen, müssen dafür sorgen, nicht nur durch Gesetze die Leute in den Stand. zu setzen, besser für sich und ihre Gesundheit tätig zu sein, sondern durch gezielte Informationen auch diese Gruppen zur Aufnahme und zum Mittragen solcher Maßnahmen zu veranlassen.Ich will abschließen. Zwar könnte ich die Reihe der Ressorts fortsetzen, aber ich will meine Zeit nicht überschreiten. Drei Feststellungen möchte ich noch treffen, die, so denke ich, durch diese Einzelbeispiele und durch andere Dinge, die ich vortragen durfte, genügend begründet sind.Erstens. Diese Regierung weiß und die sie tragenden Fraktionen wissen, daß Politik für die Menschen nur dann. effektiv werden kann, wenn der einzelne sie in ihren Auswirkungen auf sich selbst bezieht und nicht als irgend etwas Abstraktes betrachtet. Ich habe gesehen, daß Sie auch einen Kürzungsantrag für die Öffentlichkeitsarbeit des Justizministeriums gestellt haben. Wer gesehen hat, was durch die Vorlage des Informationsmaterials unter Justizminister Heinemann im Zusammenhang mit den Reformmaßnahmen geleistet werden konnte, der wird das als besonders merkwürdig ansehen.Zweitens. Wir wissen auch, daß Verständnis und Wille zur Mitsprache, zum Mitentscheiden und zum Mithandeln nur erreicht werden können, wenn politische Vorgänge, Situationen, Ziele und Maßnahmen transparent werden. Die Regierung ermöglicht das durch das Weißbuch zur Verteidigung, durch den Sozialbericht, durch den in der nächsten Woche vorzulegenden Bericht für Bildung und Hochschulen usw. Die Nachfrage nach diesen Berichten, deren Versand ja auch in die Öffentlichkeitsarbeit gehört, ist so groß, daß wir die Auflagen gar nicht so schnell drucken können, wie sie uns abverlangt wenden.
Hier zeigt sich, welch ein Bedürfnis nach Informationen vorhanden ist.Drittens. Esgibt in der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung keine dunklen Ecken mehr, keine geheimen Finanzierungsmöglichkeiten und daher auch keine Manipulationsmöglichkeiten. Wir gehen allerdings — das ist uns klar — mit der Öffentlichkeitsarbeit auf den offenen Markt. Und diese Arbeit muß sich da Kritikgefallen lassen. Auch Sie sind aufgefordert, sie kritisch zu betrachten. Dem setzt man sich aus, wenn man Öffentlichkeitsarbeit macht. Auch die Informationen, die gegeben werden, müssen sich gefallen lassen, auf ihren Sachgehalt überprüft zu werden. Selbstverständlich! Auch wir werden bestimmt in 'dem einen oder anderen Fall, wenn die gegebenen Informationen uns nicht ausreichen, denen in der Regierung sagen, was wir uns da besser denken könnten.Zusammengefaßt: Selbst wenn Sie schärfste Kritik an diesen Titeln und an der Öffentlichkeitsarbeit über,werden Sie zugehen müssen, daß nach den Vorstufen, die wir in der Großen Koalition unter unserer Beteiligung erreicht hatten, nun der Durchbruch dahin erreicht worden ist, .daß wir von der Propaganda zur Information gekommen sind. Das wollten wir, und dabei lassen wir uns nicht stören!
Meine Damen und Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. — Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 29 ab. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Gegenstimmen waren die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.Damit kommen wir zur Abstimmung über den Einzelplan 08. Der Antrag des Ausschusses liegt vor. Wer dem Einzelplan 08 in der Ausschußfassung zu-
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2908 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenstimmen will, den bitte ,ich um das Handzeichen. — Ich danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen?—Der Einzelplan 08 ist angenommen.Wie üblich wird über Entschließungsanträge erst in der dritten Beratung abgestimmt. Es ist aber Übung des Hauses, daß sie in der zweiten Beratung begründet werden können. Wird das Wort zu dem von der CDU/CSU eingebrachten Entschließungsantrag gewünscht? — Das ist nicht ,der Fall. Damit ist die Beratung :des Einzelplanes 08 abgeschlossen.Ich rufe nunmehr auf:Einzelplan 05Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksachen VI/824, VI/854 —Berichterstatter: Abgeordneter Hermsdorf
Ich frage den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. Herr Abgeordneter, Sie wünschen nicht ,Jas Wort. —Meine Damen und Herren, ich frage, ob das Wort zur allgemeinen Aussprache gewünscht wird. — Bitte schön, Herr Abgeordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird den Einzelplan 05, den Haushaltsplan des Auswärtigen Amtes, ablehnen. In den letzten Debatten, insbesondere über die Ost- und Europapolitik, haben meine politischen Freunde unseren Standpunkt zu diesen Fragen klar umrissen. Wir haben aufgezeigt, in welchem Zusammenhang in der Beurteilung politischer Gegebenheiten Fehler unterlaufen sind. Aus diesen Fehleinschätzungen resultierende Beschlüsse und Maßnahmen dieser Regierung können nicht unsere Zustimmung erfahren, wie ebenfalls in der letzten Debatte deutlich wurde.
Die Standpunkte in wesentlichen außenpolitischen Fragen sind bekannt; sie werden in der vorgesehenen Debatte am 17. Juni weiter erörtert. Wir erwarten aber auch, Herr Minister, daß dann die Bundesregierung und insonderheit Sie auf die offengebliebenen Fragen eingehen und weitere Informationen für die deutsche Öffentlichkeit, geben. Ich will daher heute darauf verzichten, bei der Einzelberatung des Planes 05 eine neue außenpolitische Debatte zu initieren, obwohl auch aus der Sicht des Haushaltsausschusses manches dazu zu sagen und zu fragen wäre. Es ist aber auch anzunehmen, daß bei der Beratung ,des Einzelplans 04, des Haushaltsplanes des Bundeskanzlers, morgen diese Themen anklingen werden, nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, daß die Außenpolitik weitgehend im Bundeskanzleramt formuliert wird und nicht im Auswärtigen Amt.
Herr Kollege, entschuldigen Sie, wenn ich Sie einen Augenblick unterbreche. — Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie die notwendigen Gespräche nach draußen verlegen würden, weil der Herr Außenminister auf der Regierungsbank den Redner nicht verstehen kann. Er will dem Redner natürlich auch antworten. Er muß ihn dazu aber hören können.
— Es ist doch mehr als eine technische Panne, wenn ein politisch so bedeutsamer Brief wie der des Herrn Bundeskanzlers an den Herrn Gomulka durch einen Vertreter Ihres Ministeriums übergeben wird, ohne daß Sie selbst informiert sind, Herr Minister. Wenn das Bundeskanzleramt seine Koordinierungsaufgabe — und ,das gilt nicht nur für den Bereich der auswärtigen Politik — so auffaßt, daß die einzelnen Ressorts in wichtigen politischen Fragen nur noch Materialsammelstellen der Zentrale sind, so wird sich das auf die Dauer auch auf die Arbeit solcher Ressorts auswirken. Diese Auswirkungen sind für das Ansehen dieser Ressorts, aber auch derer, die dafür politich verantwortlich sind, von besonderer Bedeutung. Ich betone das, weil ich auch hier einen Zusammenhang sehe mit den durchaus berechtigten Bemühungen Ihres Hauses, die Arbeit des Auswärtigen Amtes effektiver zu gestalten. Es kann aber nicht ausreichen, nur strukturelle Mängel in einer Bundesbehörde zu beheben, wenn nicht gleichzeitig die volle Verantwortlichkeit dem einzelnen Ministerium erhalten bleibt.Ich habe darauf hingewiesen, daß wir den Einzelplan 05 ablehnen werden. Das bedeutet nicht, daß wir Einzelmaßnahmen, die im Haushalt Ihres Hauses ihren Niederschlag gefunden haben, nicht doch unsere Zustimmung geben. Wir haben das im Haushaltsausschuß getan, z. B. zu der Frage der Verbesserung der Arbeitsfähigkeit, zu den Vorschlägen der Kommission für die Reform des auswärtigen Dienstes, zu der Frage einer Personalreserve, die es durch Weiterbildung, Vorbereitung schlechthin erst ermöglicht, eine bessere Personalwirtschaft zu betreiben. Wir haben den Plänen der Umstrukturierung zugestimmt, hier vor allem der Stellenvermehrung insbesondere im mittleren Dienst, im Hinblick auf die Erkenntnisse im Zwischenbericht der Kornmission, von der ich soeben gesprochen habe.Aber ich sage es noch einmal: daß diese Maßnahmen durchgeführt werden, ist nicht ausreichend. Es ist für die Effektivität des Auswärtigen Amtes auch notwendig, ,daß die Bediensteten, Beamte, Angestellte und Arbeiter, dieses Auswärtigen Amtes nicht verunsichert werden. Herr Minister, die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand von 26 Beamten Ihres Hauses hat eine erhebliche Unruhe in der Öffentlichkeit, in Ihrem Amt, aber auch bei einigen Organisationen ausgelöst. Ich hoffe, Sie sind darüber informiert, ebenso auch darüber, wie sich Ihr Personalrat zu diesem Problem geäußert hat.Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herr Minister, wenn Sie hier von dieser Stelle aus versichern könnten, daß nicht eine zweite oder dritte Liste ähnlicher Art der ersten folgt. Ich glaube auch hier feststellen zu können, daß wir alle miteinander erstaunt waren, daß gerade Sie eine solche Liste vorgelegt haben, denn Sie haben an dem Zwischenbericht der Korn-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2909
Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohensteinmission für die Reform des Auswärtigen Amtes mitgearbeitet. In diesem Zwischenbericht ist ,sehr deutlich zum Ausdruck gekommen, daß sich der § 36 des Bundesbeamtengesetzes für die Veränderungen in der Struktur des Hauses 'schlecht eignet. Insbesondere in den von Ihnen und Ihrem Hause immer wieder vorgebrachten Erklärungen und auch bei entsprechenden Kommentierungen in der Zeitung ist unwidersprochen geblieben, daß der Auslandsdienst verjüngt werden muß. Gerade hier hat dieser Bericht der Reformkommission — und ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren -- sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß auf die früheren Regelungen verzichtet wurde, nach der die Beamten des höheren auswärtigen Dienstes ohne Unterschied der Besoldungsgruppe in den Wartestand hatten versetzt werden können. „Die an ihre Stelle getretene Möglichkeit der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand, die im auswärtigen Dienst von der Besoldungsgruppe A 16 an aufwärts gilt, soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf einen kleinen Kreis politischer Beamter beschränkt bleiben. Dem entspricht ihre rechtliche und finanzielle Ausgestaltung. Eine Benutzung dieses Instituts, um etwa durch Ausdehnung des persönlichen Geltungsbereiches des § 36 Abs. 1 Nr. 2 des Bundesbeamtengesetzes der oben dargestellten Schwierigkeiten Herr zu werden, würde sich aus rechtssystematischen und sozialen Gründen verbieten."Herr Minister, an diesem Bericht haben Sie mitgewirkt. Wenn ein höherer Beamter Ihres Hauses, der inzwischen ausgeschieden ist, als Begründung3) sagt, daß Sie diese Liste vorgefunden hätten, so kann das doch wohl keine ernst zu nehmende Begründung sein. Denn wir erwarten von Ihnen, daß solche Dinge von Ihnen selbst vertreten werden, und nicht, daß Listen vorgetragen werden, die Sie im Amt von Ihrem Vorgänger noch vorgefunden haben.Wir sind der Auffassung, daß § 36 zu extensiv ausgelegt worden ist, daß die Bregründung des Auswärtigen Amts, der Auslandsdienst müsse verjüngt werden, die Heranziehung des § 36 nicht rechtfertigt, hier also nicht ihre rechtliche Grundlage findet. Wenn das Amt in der Beantwortung der Kleinen Anfrage unserer Fraktion darauf hinweist, daß bereits höchstrichterliche Urteile vorhanden sind, so kann ich hier nur feststellen, daß sich die bisherigen Urteile immer auf Einzelfälle bezogen haben, in denen ausdrücklich gesagt wurde, daß die 'Begründung zur Anwendung des § 36 BBG in dem gestörten Vertrauensverhältnis zwischen dem 'einzelnen und dem Amt begründet liegen muß. Hier liegt es doch nahe, anzunehmen, daß die generelle Versetzung in den einstweiligen Ruhestand auch dann auf generellen Gründen beruht, also nicht auf individuellen, das Verhältnis zu den einzelnen Beamten betreffenden Gründen.Ich bin der Meinung, daß diese Fragen für das Arbeitsklima — es liegt mir etwas fern, beim Auswärtigen Amt von „Betriebsklima" zu sprechen -dieses Hauses von entscheidender Bedeutung sind. Ich glaube auch nicht, daß solche Entscheidungen für die Zusammenarbeit zwischen dem Minister und den Bediensteten dieses Hauses auf die Dauer gut sind.Es ist eine reizvolle Frage, ob nicht unter Umständen auch solche Geschehnisse den Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Dahrendorf veranlaßt haben, im „Spiegel" dieser Woche diese Erklärung abzugeben: „Ich würde ganz gern im Außenamt bleiben, aber nach Lage der Dinge geht es nicht mehr." — Auch da, Herr Minister, wären wir dankbar, wenn Sie uns berichten könnten, ob dieses Zitat zutrifft und welche Bedeutung Sie ihm geben.Wir bedauern — das sage ich in aller Ernsthaftigkeit ---, Herr Staatssekretär, Ihren Weggang nach Brüssel. Wir bedauern ihn einmal als einen Verlust für dieses Parlament, aber vor allem auch im Hinblick auf Ihr großes Versprechen, für die Kulturpolitik des Auswärtigen Amts in allernächster Zeit ein Konzept vorzulegen. Sie haben uns noch vor wenigen Wochen im Haushaltsausschuß vorgetragen, daß die Arbeiten an den Leitlinien zur auswärtigen Kulturpolitik im Gange sind und Sie sie in absehbarer Zeit beenden könnten.Wird die Ernennung von Herrn Moersch — ich möchte hier nicht in irgendeine Wertung eintreten — eine kontinuierliche Entwicklung in diesem so wichtigen Bereich bedeuten? Wird auch er sich dieser Aufgabe mit besonderem Nachdruck annehmen, oder was haben wir hier zu erwarten?Lassen Sie mich, Herr Minister, als letztes noch einiges zu Ihrer Öffentlichkeitsarbeit bemerken. Wir sind der Auffassung, daß es für das Ansehen des Auswärtigen Amts, aber auch des deutschen Außenministers nicht sehr zuträglich ist, wenn immer wieder sich widersprechende Meldungen über Fahrten nach Moskau, über bevorstehende Verhandlungen kommen und dann immer wieder zu hören ist: Ja, jetzt noch nicht, aber nächste Woche; jetzt vor der Wahl noch nicht, aber vielleicht nach der Wahl. Eine solche Informationspolitik, die den Bürger draußen im unklaren läßt, ist nicht gut und nicht richtig. Wie peinlich so etwas werden kann, zeigt auch der Umstand, daß Sie auf Spekulationen, die über ein Treffen zwischen Ihnen und Herrn Gromyko in Paris in der Presse erschienen, nicht rechtzeitig eingegangen sind. Daher haben sich laut Agenturmeldungen sowjetische Kreise veranlaßt gesehen, auf ein russisches Sprichwort zu verweisen, man solle im Hinblick auf das Treffen von Herrn Außenminister Scheel und Herrn Gromyko „nicht Kraut und Rüben zusammentun". Das ist nicht unsere Meinung. Aber Sie sehen, daß solche Pressemeldungen doch höchst unglücklich sind und eine gerade für das Auswärtige Amt besonders unschöne Darstellung geben.Wir denken auch an die sehr mißverständlichen Äußerungen vor und während Ihres Besuchs in Madrid über den Ankauf des Panzers Leopard. Auch hier ist es zu einer Diskussion in der Offentlichkeit gekommen, die hätte vermieden werden können. Es wäre, glaube ich, gut, wenn Sie heute von dieser Stelle aus ein klärendes Wort dazu sagen könnten.Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Ich habe darauf hingewiesen, daß wir in
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2910 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohensteinden außenpolitischen Debatten klargestellt haben, welche Vorbehalte wir gegenüber der Außenpolitik des Auswärtigen Amts und der Bundesregierung vorbringen. Ich habe versucht, unsere klaren Begründungen durch meine Ausführungen, die insbesondere die Arbeit des Auswärtigen Amts, aber vor allem auch die Arbeit des Außenministers, betrafen, zu ergänzen.Wir werden diesen Einzelplan ablehnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesaußenminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zunächst sagen, daß ich mit dem Herrn Vertreter der CDU/CSU-Fraktion der Meinung bin, daß im Rahmen dieser zweiten Lesung eine außenpolitische Debatte nicht eröffnet werden sollte. Sie ist in der Tat für den 17. Juni vorgesehen, und wir werden dann die Möglichkeit haben, sowohl die Beantwortung der Großen Anfrage in der Debatte fortzusetzen und den Sachverhalt aufzuklären als auch die im ersten Teil der Debatte entstandenen neuen Fragen- zu behandeln.
— Ich nehme Ihren Zwischenruf auf: und das, was bis dahin noch in der Außenpolitik geschieht.
— Ich habe das in einen wertfreien Ausdruck übersetzt, Herr Kollege. Das hängt natürlich nicht nur von der Opposition ab, die ohnehin genügend Stoff für Diskussionen bis dahin produzieren wird — davon bin ich überzeugt —,
als auch von den außenpolitischen Ereignissen.Prinz zu Wittgenstein hat hier noch einmal die Frage des Briefs an Herrn Gomulka aufgegriffen und die Vermutung geäußert, es werde möglicherweise zuviel von der Außenpolitik im Kanzleramt formuliert. Sie wissen genausogut wie ich, Prinz zu Wittgenstein, daß der Bundeskanzler in der Außenpolitik natürlich eine erhebliche Rolle spielt, weil er die Richtlinien der Politik bestimmt. Das gilt vor allem für die Außenpolitik, die sich ja nicht auf der Gesetzgebung aufbaut, sondern von Fall zu Fall entwickelt werden muß. Sie können sich aber darauf verlassen: Die Zuständigkeit des Auswärtigen Amts ist in keinem dieser Fälle angetastet worden, mit einer Ausnahme, daß nämlich eine Informationslücke in der Brieffrage entstanden ist. Das hat der Bundeskanzler hier im Parlament eindeutig erklärt. Er hat erklärt, daß das eine Panne gewesen sei, und er hat weiter erklärt, daß wir uns darum bemühen würden, daß eine solche Panne nicht wieder vorkommt. Ich glaube, daraus kann man aber nicht den Schluß ziehen, den Sie gezogen haben, daß das Auswärtige Amt an der Formulierung der Außenpolitik nicht in dem notwendigen Umfang beteiligt sei, an der Außenpolitik, die ressortmäßig von ihm verantwortet werden muß. Ich kann Ihnen das jedenfalls hier versichern.Im übrigen freue ich mich darüber, daß Sie, Prinz zu Wittgenstein, obwohl Sie den Einzelplan ablehnen, erklärt haben, daß Sie einzelnen Maßnahmen im Auswärtigen Amt, die in diesem Einzelplan sichtbar werden, zustimmten, daß Sie also nicht mit der Ablehnung des Plans allem, was das Amt tut, widersprechen wollten. Das ist offenbar mehr oder weniger ein Ausdruck für Ihre Auffassung, daß Ihnen die Richtung der Außenpolitik nicht paßt, hoffentlich nur so lange nicht, bis wir uns hier über wesentliche Fragen möglicherweise doch noch geeinigt haben. Denn die Oppositionspartei hat nicht nur einmal, sondern zum wiederholten Male erklärt, daß sie bereit sei, auch die schwierigen Fragen der Außenpolitik gemeinsam mit der Regierung zu tragen, auch wenn solche Entscheidungen schwierig sind und Opfer verlangen. Wir werden von uns aus die Bereitschaft zur Information und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht nur hier erneut erklären, sondern wir werden auch das unsere dazu tun, sie zu verwirklichen. Aber wir müssen uns dabei entgegenkommen, wenn wir zu einem Erfolg kommen wollen.Prinz Wittgenstein hat darauf hingewiesen, daß im Auswärtigen Amt vom 1. Juli ab Organisationsänderungen durchgeführt werden, die auch nach seiner Meinung die Wirkung des Amtes erhöhen. Man kann in der Tat sagen, daß mit dem Personalwechsel, der am 1. Juni wirksam geworden ist, ein Abschnitt im Amte sichtbar wird. Es sind neue Männer im Amt, die die Verantwortung übernommen haben. Es werden durch Organisationsänderungen auch die Akzente anders gesetzt. Wir haben zum erstenmal einen Staatssekretär, der für alle Fragen der europäischen Integration zuständig ist. Das soll die Wirkung unserer eigenen Europapolitik verstärken. Ich hoffe, daß die Kollegen der Fraktionen des Parlaments mit der Bundesregierung der Meinung sind, daß das eine gute Entwicklung ist, die wir hier im Parlament seit langer Zeit gefordert haben.Sie haben auch noch einmal die Entscheidung aufgegriffen, die ich getroffen habe, 26 Beamte in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Prinz Wittgenstein, Sie haben den § 36 angesprochen, der als Grundlage für diese Maßnahme herangezogen worden ist. Ich muß Ihnen sagen: Ich habe diesen § 36 genau entsprechend der Auslegung angewandt, wie sie in dem Zwischenbericht der Reformkommission erwähnt worden ist, nämlich beschränkt auf einen kleinen Kreis, in der Regel auf Beamte, die Missionschefs sind, nur auf diesen kleinen Kreis. Das ist auch der Sinn dieses Paragraphen, daß man ihn auf einen kleinen Kreis beschränkt. Sie wissen, daß wir in der Reformkommission, in der ich mitgearbeitet habe, Maßnahmen vorschlagen, in der Zukunft das gleiche auf andere Art und Weise erreichen zu können. Wir werden also die in der Zukunft notwendigen Strukturänderungen des Aus-
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Bundesminister Scheelwärtigen Amtes dann vornehmen, wenn die Reformkommission einen Abschlußbericht gegeben hat und wir uns auf die Vorschläge dieses Abschlußberichtès stützen können. Ich habe das bei der Einführung der neuen Staatssekretäre vor einigen Tagen hier ausdrücklich erwähnt.Ich darf noch erwähnen, Prinz Wittgenstein, daß der Personalrat, von dem Sie sagen, er habe in dieser Sache Stellung genommen, keine Stellung genommen hat, daß er zumindest keinen Widerspruch erhoben hat. Er ist über diese Sache informiert worden, und zwar über das Maß der notwendigen Information hinaus.Ich darf weiter erwähnen, daß diese Maßnahme, die allein der Verstärkung und der Verbesserung der Wirkungsmöglichkeiten des Auswärtigen Amtes gedient hat, von mir in der Durchführung so gehandhabt worden ist, daß keine Härtefälle entstehen konnten. Es ist jeder einzelne Fall besonders behandelt worden, und wir haben Sorge getragen, daß diese Maßnahme zu keinen besonderen Härten führt.Nun komme ich zu dem nächsten Punkt, den Sie erwähnt haben.
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bach?
Herr Minister, diese Maßnahme, über die Sie gerade sprachen, ist gegen eine Reihe von Beamten des Auswärtigen Dienstes generell durchgeführt worden.
Herr Abgeordneter, das Fragezeichen bitte!
Liegt nicht ein Ermessenmißbrauch darin, daß man die Pensionierung einer Reihe von Beamten mit einem Paragraphen belegt, in dem ausdrücklich das persönliche Verhältnis des Betreffenden zu der Regierung angesprochen ist?
Ich habe, wie Sie sich vorstellen können, Herr Kollege, vorher sehr sorgfältig prüfen lassen, ob diese Maßnahme, die ja nicht etwa kurzfristig, sondern sehr langfristig vorbereitet worden ist, auf Grund des § 36 durchgeführt werden kann. Die Auskünfte der rechtskundigen Berater, die ich um Rat gefragt habe, sind positiv gewesen, so daß ich also in der Lage war, diese Entscheidung zu treffen. Es gibt ja auch keinerlei Rechtseinwände dagegen.
Bitte schön.
Herr Minister, glauben Sie, daß alle Beamte diese frühzeitige Außerdienststellung ohne Rechtsmittel über sich ergehen lassen?
Es sind keine Rechtsmittel eingelegt worden. Ich glaube, das liegt zum Teil auch an der vernünftigen Handhabung der Maßnahme. Ich habe eben darauf hingewiesen, daß wir uns Mühe gegeben haben, die Maßnahme vernünftig zu handhaben.Prinz Wittgenstein hat dann noch gefragt, ob mit dem Weggang meines Parlamentarischen Staatssekretärs irgendwelche politischen Absichten verbunden sein könnten. Aber selbstverständlich waren damit politische Absichten verbunden. Denn Professor Dahrendorf hat mit Sicherheit die Absicht, in Brüssel europäische Politik zu machen, und ich glaube, wir konnten keine bessere Wahl treffen, wenn es uns darauf ankommt, in der neuen Kommission wirkungsvoll vertreten zu sein.
Für mich — ich will das in diesem Hause ganz offen sagen — war es keine einfache Entscheidung, meinen Parlamentarischen Staatssekretär nach sieben Monaten Zusammenarbeit gehenzulassen. Wir haben uns — ich darf das auch hier erwähnen — sehr wohl darüber unterhalten, persönlich, alleine, eingehend unterhalten. Am Ende aber überwog der Gesichtspunkt, daß wir für Brüssel eine gute Wahl treffen müssen, und es überwog neben diesem Gesichtspunkt die Sicherheit, daß ich für meinen Parlamentarischen Staatssekretär einen neuen auswählen würde, der nach Einarbeitungszeit mir die gleiche Stütze sein wird in meiner Arbeit. Ich glaube, Sie werden das denn auch bald merken, sobald der neue Parlamentarische Staatssekretär, wenn er einmal ernannt ist, nach dem 1. Juli mit Ihnen gemeinsam seine Aufgaben zu erfüllen sucht.Es trifft also nicht zu, daß es andere politische Motive gegeben habe als diese. Ich habe mit großer Freude in einem Interview — es sind ja viele Interviews in der letzten Zeit gegeben warden — in der „Bild"-Zeitung gesehen, daß Professor Dahrendorf sehr hart in dieser Sache befragt wurde und ebenso hart und klar Auskunft gegeben hat. Es hat keinerlei Auseinandersetzung zwischen uns über politische Fragen gegeben; das ist nicht der Grund.Sie haben nach dem Konzept für die Kulturpolitik gefragt. Ich kann Ihnen Auskunft geben. Das Konzept für die auswärtige Kulturpolitik, das von Herrn Professor Dahrendorf erarbeitet warden ist, wird bis zum Ende dieses Jahres fertiggestellt werden. Wir werden aber schon vor der parlamentarischen Sommerpause in der Lage sein, Ihnen Leitlinien zuzusenden, sozusagen als Vorab-Konzept für die auswärtige Kulturpolitik. Ich hoffe, daß allein dann sichtbar wird, wie gut es gewesen ist, einen kulturpolitisch erfahrenen Parlamentarier im Auswärtigen Amt mit der Verantwortung für die Kulturabteilung zu betrauen.Der letzte Punkt, den Sie, Herr Kollege, genannt haben,. betrifft die Spekulationen um die Außenpolitik und Spekulationen um Reisen und um Meinungen. Die Außenpolitik befindet sich in einer sehr
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Bundesminister Scheeldynamischen Phase. Um solche wichtigen außenpolitischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, wird naturgemäß gerungen im Parlament, im Kreise der Regierung, in den Fraktionen, in den Parteien, die die Regierung tragen, und auch in der Opposition. Solche wichtigen Fragen bieten naturgemäß immer genügend Anlaß für Spekulationen, die niemand verhindern kann.So habe ich, was meine Reise nach Moskau angeht, vom ersten Tage an genau klargelegt, wann eine solche Reise in Frage kommen könnte. Aber das nützt gar nichts. Ich habe ja in anderem Zusammenhang schon einmal gesagt:
Meine Herren Kollegen von der Opposition, Sie stellen ja auch immer wieder dieselben Fragen, auch wenn sie schon beantwortet sind,
weil Sie nicht nur die Antwort wissen wollen, sondern weil Sie immerfort auch diese Fragen stellen wollen. So ist es auch mit den Spekulationen. Wenn eine Spekulation von mir auf Grund einer erteilten Auskunft als erledigt betrachtet wird, reicht das denen, die die Spekulation weiter pflegen wollen, nicht aus, und ,sie setzen die Spekulationen fort;
meine Damen und Herren, damit müssen wir rechnen, und damit rechne ich.
Die Informationspolitik des Auswärtigen Amtes und vor allen Dingen die Informationspolitik der Pressestelle ist ja nicht etwa zurückhaltend. Wir geben vielmehr exakte und außerdem, wenn es sein muß, auch umfangreiche Auskünfte.
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kliesing?
Ja, bitte sehr, Herr Dr. Kliesing!
Herr Minister, ist Ihre Auffassung darüber, ob eine Antwort tatsächlich eine Antwort ist, nicht reichlich subjektiv?
Herr Kollege Dr. Kliesing, ich habe es einmal so ausgedrückt: Ich werde immer wieder gefragt, und ich gebe korrekte Antworten, die die Position der Bundesregierung darstellen. Aber wenn meine Antwort befriedigend ist, ist die Opposition nicht zufrieden. Ich habe das Gefühl, daß die Opposition manchmal zufriedener ist, wenn meine Antwort unbefriedigend ist.
Das wird man nicht vermeiden können. Damit rechne ich; das war ja schon immer im parlamentarischen Getriebe üblich.
Herr Minister, genehmigen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Wrangel?
Ja, bitte!
Herr Minister, die Opposition wäre zufriedener, wenn Sie nach den vielen Spekulationen jetzt von dieser Stelle aus ein klärendes Wort über Ihre mögliche Reise nach Moskau sagen würden.
Das haben Sie eben nicht getan.
Herr Abgeordneter von Wrangel, als erfahrener Parlamentarier muß ich Sie nachdrücklich bitten, die Frageform zu benutzen.
Herr Präsident, ich unterstelle, daß der Herr Kollege von Wrangel auch in der Frageform hätte zum Ausdruck bringen können, was er wissen will. Wir kennen ihn alle gut genug, um zu wissen, daß er das kann.Ich will ihm gern eine Antwort geben. Sie wissen, daß Staatssekretär Bahr als Ergebnis seiner Gespräche in Moskau eine protokollarische Niederschrift über die Meinung der Gesprächspartner zu bestimmten Punkten mitgebracht hat, die Grundlage einer Entscheidung darüber sein könnte, ob Verhandlungen, die zu einem Gewaltverzichtsabkommen führen sollen, aufgenommen werden. Im Augenblick befassen sich die Fraktionen
und die politischen Arbeitskreise
mit dieser Frage. Ich nehme an, vor allem die CDU/ CSU-Fraktion, wenn ich die Pressemeldungen richtig deute. Morgen wird das Bundeskabinett über diese Frage diskutieren, nachdem in der letzten Kabinettssitzung, an der ich nicht teilnehmen konnte, eine Information gegeben worden ist. Wir werden morgen nach der Kabinettssitzung wissen, ob die Diskussion fortgesetzt werden muß oder ob auf Grund der bisherigen Diskussionen schon eine Entscheidung ins Auge gefaßt werden kann. Nachdem alle diese Dinge abgeklärt sind, wird die Bundesregierung eine Entscheidung treffen, wann und unter welchen Umständen Verhandlungen über den Abschluß eines Gewaltverzichtsabkommens begonnen werden können. Wenn das geschehen ist, werde ich in der Lage sein, hier Näheres über Reisepläne mitzuteilen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2913
Herr Bundesaußenminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Kliesing?
Bitte!
Herr Minister, wann gedenkt die Bundesregierung endlich den Auswärtigen Ausschuß dieses Hauses über den Inhalt der Ergebnisse der Moskauer Verhandlungen des Herrn Bahr zu informieren?
Herr Bahr hat ja keine Verhandlungen geführt, sondern hat — ich wiederhole es noch einmal — als Ergebnis seiner Gespräche
eine Aufzeichnung der Standpunkte zu bestimmten Fragen mitgebracht.
— Herr Kollege, ich werde die nächste Gelegenheit, die wahrgenommen werden kann, im Auswärtigen Ausschuß darüber zu sprechen, selbstverständlich wahrnehmen. Sie werden mir nicht vorwerfen können, daß ich jemals in der Vergangenheit versucht hätte, mich vor dem Gespräch mit ,dem Auswärtigen Ausschuß irgendwie zu .drücken, sondern ich bin im Gegenteil immer an ,der Diskussion im Auswärtigen Ausschuß interessiert gewesen.
Lassen Sie mich nun abschließend ein Wort zu dieser Informationspolitik sagen. Das Auswärtige Amt ist eine Behörde, von der Sie wissen, daß sie am besten arbeiten kann, wenn sie nicht unter Störungen von außen leidet. Wir sind immer in der schwierigen Lage, auf der einen Seite möglichst viel Informationen geben zu sollen, auf der anderen Seite ,her auch Diskretion wahren zu müssen.
Vor allem dann, wenn wir vor Verhandlungen stehen oder in Gesprächen und Verhandlungen mit Partnern sind, muß [Diskretion gewahrt werden. Anders ist Diplomatie, anders ist Außenpolitik nicht mit Nutzen für uns zu betreiben.
Ich möchte alle Kollegen bitten, das doch auch bei ihren eigenen Bemühungen um Informationen in der Außenpolitik zu 'berücksichtigen. Ich 'glaube, wenn wir den Auswärtigen Ausschuß als das nehmen, was er ist — ein Gremium, in dem man vertrauliche und auch geheime Dinge besprechen kann —, wenn wir uns peinlich hüten, aus diesem Ausschuß Informationen herauszutragen, die die Regierung dort zu geben gesonnen ist, dann werden wir im Laufe der Zeit 'wahrscheinlich unsere außenpolitischen Maßnahmen 'in einer besseren Atmosphäre vorbereiten können. Wir wollen 'das unsere dazu tun. Ich darf nur bitten, daß die Kollegen des Parlaments uns ihrerseits dabei helfen.
Herr Minister, erlauben Sie noch die letzte Frage des Abg. Dr. Giulini?
Ja, gern.
Herr Außenminister, bei Anerkennung ,dieses Standpunktes: Haben Sie in. der Opposition genauso ,gedacht?
Allerdings. Ich muß sagen: Ich dehne das auf Regierungsparteien und auf Oppositionsparteien aus. Nicht umsonst wenn ich mir diese Bemerkung noch erlauben darf — ist es eine gute Übung in allen Parlamenten der Welt, immer den Versuch zu unternehmen, in der Außenpolitik ein Höchstmaß an Zusammenarbeit zustande zu. bringen.
Es wäre gut, wenn in 'den wichtigen außenpolitischen Fragen auch die Opposition den Regierungsmaßnahmen Unterstützung leihen würde. Es wäre gut, wenn das geschehen könnte. Dazu bedarf 'es
der Zusammenarbeit, des Sich-aneinander-Gewöhnens.
— Was Sie sagen wollen, schließe ich darin ein. — Ich weiß, wie schwer das ist. Ich darf noch einmal versichern, daß wir uns Mühe geben, das zu erreichen.
Ich bedauere aus diesem Grunde, daß die Opposition eigentlich ohne ausreichende Begründung in diesem Augenblick den Haushaltsplan des Auswärtigen Amtes ablehnt.
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Aussprache liegen nicht vor. Ich rufe jetzt den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU Umdruck 35 *) zur zweiten Beratung des Entwurfs des Haushalts, Einzelplan 05, auf.Das Wort wird nicht begehrt.
— Ja, Herrr Abgeordneter, ich bitte dringend, daß die Redner sich rechtzeitig melden. Sie hatten sich schon zur allgemeinen Aussprache nicht vorher gemeldet. Ich bitte ganz dringend, meine Herren Fraktionsgeschäftsführer, rechtzeitig die Wortmeldungen vorzunehmen.*) Siehe Anlage 3
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2914 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Begründung der Ziffer 1 des Änderungsantrags auf Umdruck 35 möchte ich lediglich auf die Diskussion hinweisen, die eben zu der vorzeitigen Versetzung der 26 Beamten in den einstweiligen Ruhestand geführt worden ist. Aus Tit. 453 01 werden die Umzugskostenvergütungen — es sind sehr hohe Kosten von mehr als 2 Millionen DM, die hierdurch verursacht werden — finanziert. Unserer Auffassung folgend, daß der § 36 BBG nicht die entsprechende Grundlage für diese Maßnahme bietet, haben wir den Antrag gestellt, den Ansatz um 1,5 Millionen DM zu kürzen.
Im Hinblick auf Ziffer 2 des Änderungsantrags auf Umdruck 35 möchte ich darauf hinweisen, daß die Kosten für Sonderaufträge auf dem Gebiet der Verwaltung und der politischen Planung ein Mehr gegenüber dem Vorjahr bedeuten. Wir sind der Auffassung, daß es wegen der Stellenvermehrung sowohl im Auswärtigen Amt wie im Bundeskanzleramt nicht notwendig ist, Forschungsaufträge und Sachverständigengutachten noch außerhalb der Ministerien zu vergeben. Deswegen beantragen wir für das Jahr 1970 eine Kürzung um 100 000 DM auf 320 000 DM und für 1971 ebenfalls eine Kürzung um 100 000 DM auf 520 000 DM.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermsdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Änderungsantrag der CDU/CSU auf Umdruck 35 handelt es sich nicht um eine fiskalische Maßnahme, sondern es ist ein rein politischer Antrag. Die Kürzung hinsichtlich des Kap. 05 01, Tit. 453 01 betrifft ausschließlich das Revirement im Auswärtigen Amt. Wir begrüßen dieses Revirement und stehen dahinter. Wir freuen uns, daß diese Maßnahme endlich durchgezogen wurde.
Das gleiche gilt für Tit. 526 05. Auch hier handelt es sich um Aufträge, die die Flexibilität dieses Amtes erweitern sollen. Auch hier möchte die CDU/ CSU kürzen. Wir sind der Auffassung, daß diese Flexibilität und die Aufträge hinsichtlich der politischen Planung erhalten bleiben sollen. Wir bitten Sie deshalb, diesen Antrag abzulehnen.
Das Wort wird nicht mehr begehrt.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag auf Umdruck 35 zustimmen will, den bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenenthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung in der zweiten Lesung über den Einzelplan 05. Wer dem Einzelplan 05 in der vom Haushaltsausschuß vorgelegten Fassung zustimmt, bitte ich um das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Keine Stimmenthaltungen. Der Einzelplan 05 ist mit der Mehrheit der Regierungsparteien angenommen.
Ich rufe Punkt IV 7 der Tagesordnung auf: Einzelplan 07
Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz
— Drucksache VI/826 —
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Tamblé
Ich frage zunächst den Herrn Berichterstatter, ob er das Wort wünscht. — Das ist nicht der Fall.
Dann treten wir in die Beratung ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Erhard .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Zahlenwerk des Haushalts des Einzelplanes 07 soll das wesentliche Interesse unserer Betrachtungen und Entscheidungen nicht sein. Hinter den Zahlen aber steht der Minister mit seinem Ministerium, d. h. der politisch verantwortliche und auch der politisch dirigierende Minister. An seinen Möglichkeiten müssen wir seine Wirksamkeit messen und an seinen Äußerungen seine Absichten abzulesen versuchen.Der Justizminister hat nach unserer Auffassung in jedem Kabinett eine ganz besondere Aufgabe; denn die Justiz — ich meine jetzt nicht etwa die „Dritte Gewalt", sondern generell die Justiz — und damit unser Recht verdienen besondere Behutsamkeit, wenn es um politische Fragen, um die Durchsetzung politischer Vorstellungen geht; und zwar deshalb besondere Behutsamkeit, weil das Rechtsbewußtsein gerade in der Demokratie ein stabiler und empfindlicher Faktor in einem Staate ist und bleiben muß. Dazu gehört ein gehöriges Maß an Distanz beim Minister, auch wenn ihm das politisch manchmal anders lieber wäre, was ich ihm sehr gern konzediere. Diese Distanz, Herr Minister, ist es, die wir von Ihnen nicht in dem Umfang gewahrt sehen, wie wir es gern haben möchten, und wir sehen darin einige sehr bedenkliche rechtliche Entwicklungen.Schon in den vergangenen Jahren haben Ihre Herren Vorgänger — zum Teil auf Antrag des Bundestages — die verschiedensten Kommissionen berufen, die in sich den Sachverstand aus den verschiedensten Bereichen repräsentieren, um Mängel des gegenwärtigen Systems an den verschiedensten Stellen festzustellen und Vorschläge in die Zukunft zu machen. Ich erinnere an die Eherechtskommission, an die verschiedensten Kommissionen im zivilen und prozessualen Raum; sie alle aufzuführen, ist jetzt nicht Zeit und Gelegenheit. Die Aufgaben, die die Kommissionen aus den vergangenen Jahren haben und heute weiterhin wahrnehmen, sollen uns allen und Ihnen, Herr Minister, dienen. Wenn diese Aufgaben aber richtig wahrgenommen werden sollen, müssen die Kommissionen sich von den Strömungen des Zeitgeistes in gewissem Umfang distanzieren und nach den übergreifenden Grundlagen im Recht und in der Praxis suchen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2915
Erhard
Ich glaube, das beste Beispiel, das uns in der Literatur zur Bedeutung der Justiz vorliegt, ist die Aussage Maria Stuarts in dem nach ihr benannten Drama im siebenten Auftritt des ersten Aktes, woich will das mal zitieren — Maria sagt: „Ich sehe diese würdgen Peers mit schnell vertauschter Überzeugung unter vier Regierungen den Glauben viermal ändern." Das ist im totalitären Staat sicherlich notwendig, aber genau diese Konsequenz verträgt der demokratische Staat überhaupt nicht; denn hier soll ja die Regierung durch Wahlen geändert werden und sich ändern können, das Recht aber muß im Grunde kontinuierlich bestehenbleiben.Wegen dieser Grundüberzeugung, Herr Minister, glaube ich und glauben wir, daß Sie etwas mehr Distanz entfalten sollten. Ich will das nur ganz vorsichtig andeuten und es nicht weiter belegen, weil das zu einer Verhärtung der Verhältnisse zwischen uns führen könnte, an der niemand Interesse haben kann. Aber eine ganz kleine Bitte, vielleicht darin eine Mahnung oder ein Wunsch: Vielleicht ist es Ihnen möglich, ein klein wenig mehr Distanz zum ASJ-Aktiv zu entfalten, und vielleicht ist es auch zweckmäßig, keine Vertrauensbelastungen, die nicht unbedingt nötig sind, zu schaffen wie diejenigen, über die in der letzten Fragestunde gesprochen wurde, daß nämlich das Ministerium beauftragt wurde, über Anträge rein interner Art des SPD-Parteitages in Saarbrücken Ausarbeitungen, Stellungnahmen u. ä. zu erarbeiten. Das kann nicht die Aufgabe eines Justizministeriums sein,
zu dem auch wir Vertrauen haben sollen.
Herr Minister, es geht auch sicherlich nicht nur damit, daß Sie dem Informationsbedürfnis durch häufigere, großangelegte Reden entsprechen. Die gute Rede, die ich Ihnen gern konzediere und sogar manchmal neidvoll anerkenne, die gute Rede allein tut es la noch nicht; denn in der Justiz kommt es weniger darauf an, gut zu reden — das ist vielleicht für ein Plädoyer manchmal ganz gut —, sondern da geht es um ganz konkrete Sachfragen, und es muß auch in Ihrem Interesse liegen, in der Öffentlichkeitsarbeit, also in Äußerungen vor der Öffentkeit, die Schwierigkeiten der Sachprobleme deutlich zu machen und gegebenenfalls feste Pflöcke dort einzuschlagen, wo es darum geht, das Recht des Schwachen und die Sozialfunktion des Rechtes auf jeden Fall sicher anzusprechen. Das scheint mir besonders notwendig zu sein, und gerade da bestehen eine Reihe von Mängeln, die wir zu einigen Ihrer großen Reden, die ja glücklicherweise schriftlich vorliegen und die an den verschiedensten Stellen nachzulesen sind — das ist gut —, anzumerken haben. Ich will einige kleine Beispiele dafür nennen.Sie haben bei der Problematik der Justizreform die eigentlichen Schwierigkeiten weitgehend ausgeklammert und gleich Ergebnisse postuliert. Herr Minister, Sie können nach unserer Überzeugung selbstverständlich die Dreistufigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit als eine sichere Entscheidung proklamieren. Nichts ist dagegen einzuwenden. Sie müssen dann aber sagen, was mit der Eingangsstufe wirklich werden soll oder ob eine Vorschaltstufe notwendig ist. Sie müssen dann auch sagen, wo denn die freiwillige Gerichtsbarkeit angesiedelt werden soll. Denn ohne das ist eine solche Lösung, wie sie Ihnen vorzuschweben scheint, nicht praktikabel und keine Verbesserung, auch nicht in der Aussicht eine Verbesserung. Das gehört wesenhaft dazu.Wir wollen und Sie wollen eine Beschleunigung der Verfahren. Herr Minister, dazu gehört aber, festzustellen, wo heute Verfahren lange laufen und wie lange die Verfahren laufen. Dazu braucht man Zahlenmaterial. Wenn Sie das Zahlenmaterial vorlegen, werden Sie mit Sicherheit feststellen, mindestens aus den uns bis jetzt bekanntgewordenen, aber leider noch nicht über das ganze Bundesgebiet einheitlich vorliegenden Auswertungen und Feststellungen, daß gerade dort, wo Sie wesenhaft ändern wollen, die Verfahrensdauer die kürzeste ist, und da, wo Sie fast ganz schweigen, die Problematik am größten ist, nämlich da, wie jetzt Gott sei Dank die Zuständigkeiten in Ihrem Hause zusammengefaßt sind, wie z. B. bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dort sind auch wesentlich mehr als drei Züge. Dort gibt es in einer Sache, wenn man das Behördenverfahren als erstes nimmt, praktisch schon fünf Instanzen. Und genau da liegt die Problematik auch in der Schnelligkeit der Verfahren und in der Rechtssicherheit des Bürgers, wenn er gegen den Staat, gegen die öffentliche Hand selbst prozessiert. Da liegt das größte Problem — außer beim Strafrecht — für die Frage der Rechtssicherheit des Volkes und des einzelnen Bürgers.Aber dazu, Herr Minister, sind Ihre Ausführungen, soweit ich sie bis jetzt sehen konnte, sehr wenig konkret. Was ist denn die Folge, wenn das so wenig konkret ist? Herr Minister, darüber muß man sich meines Erachtens im klaren sein. Wenn Sie sagen, unsere ordentlichen Gerichte müssen in einer mündlichen Verhandlung entscheiden, wenn Sie sagen, wir müssen die Rechtsmittel beschränken, wenn Sie sagen, wir müssen das möglicherweise durch eine Änderung des Kostenrechts erreichen wie wollen Sie das dann noch überschreiben mit einem „besseren Rechtsschutz", jetzt will ich ein kleines Wort dazusetzen: für den armen Rechtssuchenden —, dann müßten Sie eigentlich auch sagen, wie das erreicht werden soll. Denn das, was dahintersteckt, ist dann nachher nichts anderes als der Vorwurf, Herr Minister, und ich bitte Sie, daß Sie sich von diesem Vorwurf, den ich Ihnen hier jetzt nur formulieren will, möglichst distanzieren, von dem Vorwurf und dem Eindruck nämlich, daß unsere Gerichte zu langsam, weil zu faul oder zu unfähig, arbeiteten, daß in unseren Gerichten die Qualität nachgelassen habe und zu schlecht sei und daß hier bei den Richtern irgend etwas nicht in Ordnung sei. Herr Minister, das müssen Sie ausräumen! Denn unsere Richter tun ihre Pflicht. Ich bin sogar der Überzeugung, unsere Rechtsprechung ist gar nicht so schlecht, wie sie hier manchmal gemacht wird; sie ist nur im öffentlichen Bereich manchmal sehr langsam.
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2916 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Erhard
Ein letzter Gedanke, der aber der stärkste ist, nämlich der, Herr Minister, daß Sie dort, wo die Gesetzgebung bereits abgeschlossen ist, mit Ihrem Einfluß und ihren Stellungnahmen nicht die Objektivität und auch nicht das Bemühen um gemeinsame Lösungen in hinreichender Weise haben erkennen lassen, nämlich dort, wo es um den Gemeinschaftsfrieden ging und geht. In unserer Demokratie ist nun einmal, je größer das Maß der Freiheit ist, um so notwendiger ihr Schutz. Das hängt miteinander zusammen. Wenn wir uns überlegen, Herr Minister, daß an dem gleichen Tage, an dem wir hier das Strafrecht, das den Gemeinschaftsfrieden betrifft, geändert haben, an dem gleichen Tage, an dem hier eine Amnestie beschlossen wurde, in Berlin unfriedliche Demonstrationen stattgefunden haben, über die am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen war, „137 zertrümmerte Scheiben", oder wenn sich am 9. Mai in Berlin solche unfriedlichen Zustände ereignet haben, daß man — ich zitiere nur aus der Zeitung — „erhebliche Schäden durch Steinhagel", „zahlreiche Verletzte" zu beklagen hatte: wo ist da die Änderung — der Friede, der zwischen diesem Staat und der kritischen Jugend herbeigeführt worden sein soll — denn irgendwie sichtbar geworden? Wir sehen das Gegenteil: eine Eskalation in den Mitteln und in der Brutalität dessen, was sich auf unseren Straßen ereignet.
Am 13. Mai hat in Köln eine Straßenschlacht stattgefunden, über die die Zeitung berichtet, so etwas habe es in Köln überhaupt noch nicht gegeben. Die Zeitungen berichten von fünf Verletzten und von hohem Sachschaden. Am 23. Mai in Berlin: „erbitterte Straßenkämpfe". Ich darf feststellen, daß von dort Informationen seitens der Polizei und ihres Präsidenten Hübner vorliegen, der ja vor gar nicht langer Zeit noch als einer unserer Kollegen hier auf dieser Seite des Hauses gesessen hat und der sagt: Wir haben gar keine Möglichkeiten mehr, die tatsächlichen Steinewerfer von seiten der Polizei her überhaupt zu erkennen, und nur die könnten eventuell gegriffen werden.Ich frage Sie, Herr Minister: ist es nicht eine Aufgabe des Justizministers, hier zu sagen, was denn geschehen muß und ob da nicht etwas geändert werden muß? Ist es wirklich keine Angelegenheit des Justizministers, wenn mehrere Generalstaatsanwälte heute schon auf Grund der Novelle zum Strafgesetzbuch, die wir verabschiedet haben, auf dem Standpunkt stehen, es bestehe gar keine Möglichkeit mehr, strafrechtlich gegen denjenigen vorzugehen, der eiserne Wurfgeschosse oder Steine wirft, ohne zu treffen oder eine Scheibe kaputtzuwerfen, also gegen denjenigen, der lediglich ein solches Wurfgeschoß aus der Menge heraus schleudert? Gegen den kann strafrechtlich überhaupt nicht vorgegangen werden; das ist die Meinung von Generalstaatsanwälten und Staatsanwaltschaften. Das ist das, was auf die Polizei zurückwirkt, das ist das, was zurückwirkt gegen den Gemeinschaftsfrieden. Und das ist das große Problem. Hier, Herr Minister, wird Justizpolitik sichtbar.Ich bin auch der Meinung, daß die übergeordneten Interessen eines Staates — erst recht eines so freiheitlichen, wie wir ihn haben — dann sichtbar werden müssen, wenn Staatsbesuche stattfinden. Ist es denn wirklich erträglich, meine Damen und Herren und Herr Minister, daß von der Straße her das Treffen des Bundeskanzlers mit Herrn Stoph in einer Weise in Mißkredit gezogen wird, die uns von der kommunistischen Seite doch nur als Unordnung und als Faschismus ausgelegt wird? Daran kann doch unsere Ordnung kein Interesse haben! Genügen uns die Beispiele von den Besuchen des Schahs in Berlin, des Präsidenten Senghor in Frankfurt und von Herrn Stoph in Kassel nicht, um ernsthaft zu überlegen, ob in unserer Rechtsordnung alles in Ordnung ist? Ich meine, hier muß der Justizminister nicht nur denken, sondern auch sagen, was notwendig wäre. Das kann nicht der Innenminister tun.Herr Minister, ich weiß, daß die Dinge schwierig sind. Aber es darf und kann nicht so bleiben, daß wir uns aus der Schweiz von der Züricher Zeitung „Die Tat" vorwerfen lassen müssen — ich zitiere wörtlich —: „Die Werfer von Stahlkugeln länger als unruhige Jugend qualifizieren zu wollen, entspräche verderblichem politischem Dilettantismus." Das muß uns aus der Schweiz vorgehalten werden! Ich glaube also, hier sind Probleme und Fragen aufgeworfen, die unbedingt gesehen und gelöst werden müssen.Herr Minister, Ihre politische Stimme auch innerhalb der Regierung und innerhalb der sie tragenden Koalition muß sich nicht nur melden, sondern muß sich in solchen Fragen auch durchsetzen. Unsere Zustimmung zu solcher Haltung haben Sie jederzeit.
Solange wir aber eine solche Haltung, die vielleicht bei Ihnen vorhanden ist, aber nicht sichtbar wird, leider nicht sehen können, müssen wir Sie für diese Politik als den Verantwortlichen auch verantwortlich machen und können deshalb Ihrem Etat nicht zustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, ganz kurz auf die Ausführungen des verehrten Kollegen Erhard einzugehen.Ich muß Ihnen ehrlich sagen, Herr Kollege, ich verstehe Sie nicht ganz. Sie haben gemeint, ein Justizbeamter müsse „Distanz" halten. So weit haben Sie recht. Aber wenn Sie gleichzeitig meinen, er müsse sich vom Zeitgeist distanzieren — so habe ich Sie verstanden —, dann weiß ich nicht, was Sie damit meinen. Ich kann mir nicht einen Justizminister vorstellen, der den Zeitgeist außer acht läßt. Ein Justizminister, der für das Recht in dieser Zeit
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2917
Hirscharbeitet, ist ein Justizminister, der — wie ich meine — seine Aufgabe verfehlt hat.
Ob es Ihnen gefällt oder nicht, wir sind froh, daß der amtierende Bundesjustizminister, wie die relativ kurze Amtszeit bewiesen hat, in der Lage ist, das fortzusetzen, was seine beiden Vorgänger in die Wege geleitet haben, nämlich die schon längst fällige Reform unseres Rechtswesens nicht nur in Gang zu setzen, sondern ein gutes Stück weiterzuführen.
Wenn Sie meinen, das könne man machen, indem man sich vom Zeitgeist distanziert, so zeigt das genau den Unterschied zwischen Ihnen und uns, genau den Unterschied. Natürlich darf eine Justiz — da haben Sie mit dem Zitat der Maria Stuart recht — nicht jede Woche oder jedes Jahr anders sein, Herr Kollege.
Herr Kollege Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard?
Herr Kollege, würden Sie bereit sein, zuzugestehen, daß ein Wort, das in einer freien Rede fällt, nicht nur isoliert zu sehen ist, sondern aus dem Zusammenhang? Ich habe gewisse Zeitströmungen gemeint. Würden Sie mir das zugestehen?
Ich gestehe Ihnen alles zu. Aber dann wird die Sache noch unklarer, was den ersten Teil betrifft. Darüber können wir uns gleich bei dem unterhalten, was den zweiten Teil betrifft. Das werde ich tun.Sie haben grundsätzlich die Arbeit dieses Ministers zu kritisieren versucht, indem Sie gesagt haben, er würde grundsätzlich den Zeitströmungen zu sehr nachgeben. Dagegen habe ich mich eben gewandt, und ich glaube, da habe ich recht. Wenn jemand sagt, ein Minister sollte Justizpolitik machen — ich wiederhole das noch einmal ausdrücklich —, ohne in seiner Zeit zu denken, dann fordert er einen Mann, der seine Aufgabe verfehlt.Außerdem haben Sie gemeint, ein Minister müsse sich von seiner Partei distanzieren. Anders kann man das nicht auffassen; Sie haben gesagt: ASJ — Ich würde Sie beglückwünschen, Herr Kollege Erhard, wenn es der CDU endlich gelänge, eine ähnliche Organisation wie unsere Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen zu haben, Ich wünsche es Ihnen ganz ehrlich, das ist keine Polemik.
Denn genau diese Arbeitsgemeinschaft, die es bei uns schon ziemlich lange gibt und bei Ihnen neuerdings — ich begrüße das sehr, das wird unsere gemeinsame Arbeit sehr befruchten —, hat schon vor Jahren gewisse Akzente für eine moderne Justizpolitik gesetzt. Auf ihrer Arbeit beruhten die Möglichkeiten der beiden letzten Justizminister und des amtierenden Justizministers.Daß dieser Justizminister natürlich, da er bekanntlich ein Sozialdemokrat ist, auch versucht, eine sozialdemokratische Justizpolitik zu machen — im Einvernehmen mit unserem Koalitionspartner —, das wollen Sie ihm doch wohl nicht im Ernst vorwerfen. Ihre Justizminister haben natürlich — das war ihr Recht und ihre Pflicht — versucht, eine CDU/CSU-Justizpolitik zu machen. Daß uns das nicht gepaßt hat, liegt auf der Hand. Aber den Angriff so zu führen, daß man einem Minister vorwirft, er mache die Politik seiner Partei, das nehme ich Ihnen nicht ab und das ist kein Argument. Der Minister wird sich ja selber verteidigen, und er hat mich dafür nicht nötig.Aber dann haben Sie noch etwas Merkwürdiges gesagt, Herr Kollege Erhard. Sie haben den Minister wegen seiner Reden gelobt und dann gleichzeitig gesagt, in den Reden habe nicht alles gestanden, was zu dem betreffenden Thema zu sagen sei. Das kann man doch in einer solchen Rede nicht; das wissen Sie doch genau wie ich. Eine Rede darf eine gewisse Zeit nicht überschreiten, und daher kann man nur die Grundsätze anführen. Wenn die betreffenden Vorhaben hier bei uns im Hause als Gesetzentwürfe sind, wird natürlich sehr viel über Zahlen, meinetwegen über Statistiken und Sonstiges, zu reden sein. Aber das kann doch nicht im Rahmen einer Grundsatzrede geschehen, die der Minister beim Anwaltsverein, bei der ASJ oder sonstwo gehalten hat.Ganz abgesehen davon — dies nebenbei, Herr Kollege; es ist ja an sich eine auch etwas lustige Angelegenheit —, Sie haben auch in diesem Fall beantragt, den Öffentlichkeitsarbeits-Etat des Ministers zu kürzen, und gleichzeitig haben Sie mit Recht gelobt, daß man seine Reden jetzt lesen könne. Daß die Reden des Ministers, die er irgendwo in der Öffentlichkeit gehalten hat, jetzt bei uns auf den Tisch kommen — das hat es leider noch nie gegeben —, so daß wir davon Kennntnis nehmen können, welche justizpolitischen Vorstellungen dieser Minister hat, haben Sie mit Recht begrüßt. Man kann doch aber nicht gleichzeitig seinen Etat kürzen wollen. Verehrter Kollege Unertl — ich weiß nicht, ob er da ist; er möge mir das verzeihen —, Sie können nicht im Ernst meinen — Sie bestimmt nicht —, daß die justizpolitischen Vorstellungen in diesem Land allein durch die Presseerklärungen des Herrn Unertl zu gewissen Themen kundgetan werden.Aber nun zu dem Hauptpunkt, mit dem Sie geschlossen haben, also zu Ihrer Argumentation wegen der Demonstrationstaten und wegen des Gemeinschaftsfriedens. Herr Kollege, niemand von uns hat je behauptet, daß durch die Änderung des Strafrechts alle diese Dinge plötzlich aus der Welt geschafft seien. Niemand hat das je behauptet; das wäre ja frivol gewesen.
— Lesen Sie einmal nach, was unsere Redner in der Debatte gesagt haben.
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2918 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
HirschWir sind der Meinung und der Hoffnung, daß durch ein vernünftiges Strafrecht auf längere Sicht diese Dinge besser bewältigt werden können.
— Verehrter Kollege Vogel, der entscheidende Punkt liegt ganz woanders: Diese Sachen haben unter dem alten Strafrecht stattgefunden. Unsere Justiz war nicht in der Lage, mit dem alten Strafrecht und seinen sehr harten Strafdrohungen diese Dinge zu bewältigen. Das wissen Sie genauso wie ich, und ich bedauere es genauso wie Sie.Der Hauptgrund für das neue Strafrecht ist doch der, daß jetzt niemand mehr sagen kann: Diese Gesetze — Landfriedensbruch usw. — sind verfassungswidrig. — Das hat doch unsere Justiz verunsichert. Von der Staatsgewaltschaft angefangen bis über die Richter hat man — örtlich verschieden — nicht recht gewußt, wie man da vorgehen soll. Wir hatten Tausende unerledigte Verfahren und Urteile der verschiedensten Art. Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes — leider ist das durch den Bundesrat verzögert worden, so daß sich für die Zwischenzeit daraus gewisse Schwierigkeiten ergeben haben; das hatten wir aber gleich gesagt — kann niemand mehr behaupten, was in dem Strafrecht steht, sei nicht verfassungskonform. Mit diesem Argument kann niemand mehr kommen.Genau die Stahlkugelwerfer, Herr Kollege Erhard, die Sie angesprochen haben, sollen nach dem neuen Recht selbstverständlich bestraft werden — das wissen Sie genau wie ich —, und ich meine, wenn sie das tatsächlich und nachgewiesenermaßen getan haben, mit der gebotenen Härte des Gesetzes, wie es auch die neuen Bestimmungen vorsehen.Uns ging es darum, daß die wirklichen Gewalttäter — bei Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen — zur Verantwortung gezogen werden. Da sind wir uns einig. Wir waren nur dagegen, daß die Verunsicherung der Justiz bestand. Wir waren dagegen, daß Menschen mit in den Strudel gerieten, die praktisch keine kriminelle Tat begangen haben.
Herr Kollege Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Pinger?
Bitte schön!
Herr Kollege, gestehen Sie zu, daß hier von der Regierungskoalition die Änderung der Bestimmungen über den Gemeinschaftsfrieden maßgebend damit begründet worden ist, daß eine Befriedigung unter der jungen Generation eintreten müsse, und daß die Amnestie, die dann im Zusammenhang damit beschlossen worden ist, in gleicher Weise begründet wurde?
Herr Kollege, für die Vergangenheit! Wir sind der Meinung gewesen und sind es heute noch, daß diese Verunsicherung der Justiz, die u. a. auch zu den örtlich so ungeheuer unterschiedlichen Urteilen geführt hat, beendet werden mußte. — — Denken Sie z. B. an die Absurdität, daß Herr Laepple — der Ihnen ja einigermaßen nahesteht und den Sie sogar für den Landtag kandidieren lassen —,
bestraft worden ist, und Tausende, die später das gleiche gemacht haben, irgendwo in Bremen und Hannover, nicht einmal von der Polizei aufgeschrieben worden sind. Das ist etwas, was ich nicht zu billigen vermag und was meinem Rechtsgefühl zuwiderläuf.
Was die Befriedung anbetrifft, so meine ich, es kann doch niemand von irgendeinem Justizminister der Welt oder von einem Gesetz verlangen, daß nun plötzlich mit dem Erlaß des neuen Gesetzes das aufhört, was Gegenstand dieser Gesetzgebung ist. Das hat niemand von uns behauptet, und es wäre geradezu idiotisch, das anzunehmen. Es wird im Zuge der Zeit — ich sage persönlich: leider — weiterhin umfunktionierte Demonstrationen geben. Es wird Leute geben, die die Demonstrationen benutzen, um Gewalttätigkeiten zu verüben. Mit einem neuen Gesetz kann man das nicht aus der Welt schaffen.
Aber man kann mit dem neuen Gesetz — und das möchte ich hier sehr deutlich sagen —, dafür sorgen, daß die Gewalttäter endlich wirklich vor Gericht kommen und dort so bestraft werden, wie es sich gehört. Die Gewalttäter sind für uns Kriminelle. Aber diejenigen, die zufällig bei einer Demonstration dabei sind, sind für uns keine Kriminellen. Dafür haben wir das Recht geändert.
Herr Abgeordneter Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Arndt ?
Herr Kollege Hirsch, können Sie mir bestätigen, daß ein sichtbarer Erfolg der Justizpolitik — und zwar desjenigen Teils, der hier eben besprochen worden ist — insoweit bereits eingetreten ist, als der breite Solidarisierungsprozeß mit jenen Gewalttätern, die wir noch bei den Schah-Unruhen und bis vor zwei Jahren haben beobachten können, heute völlig abgebaut ist, so daß beim Demonstrieren mit solchen unlauteren Mitteln bloß noch der harte Kern sich nicht befrieden läßt, also die große Masse die Solidarisierung nicht mehr mitmacht?
Herr Kollege Arndt, natürlich kann ich Ihnen das bestätigen. Das weiß jedermann, der die Verhältnisseeinigermaßen kennt. Ich wollte ohnehin darauf hinweisen, daß wahrscheinlich der Erfolg dieses durch die Verzögerung des Bundesrats leider viel zu spät in Kraft getretene Gesetz darin besteht, daß genau gewisse Gruppen, die noch vor einem Jahr in allem Ernst behauptet haben, Gewalt gegen Sachen und Personen ,sei zulässig — verfolgen Sie einmal, was es da an Äußerungen absurdester Art gegeben hat —, Gruppen, die man noch 'einigermaßen ernst nehmen kann, die eine
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2919
Hirschandere politische Haltung haben als ich und meine Partei, jetzt erkannt haben, daß das eben nicht geht. Was übriggeblieben ist, die Leute, die die Sache, die Herr Erhard zitiert hat, in Berlin und wo auch immer pekziert haben, sind Anarchisten. Das ist eine ganz kleine Minderheit, die, wie die Berliner Äußerungen auch der früheren APO beweisen, sogar innerhalb dieser APO längst isoliert ist. Es war unter anderem der Sinn dieser Aktion, diejenigen, die man noch einigermaßen als Politiker anerkennen kann, von denen wegzubringen, die mit dem Vorwand der Politik bewußt Gewalttätigkeiten üben. Gewalttätigkeiten — ich sage es noch einmal— sollten zur Rechenschaft gezogen werden und bestraft werden.Zum Schluß, meine Damen und Herren, muß ich noch auf eines hinweisen, gerade weil Herr Erhard die Kommissionen apostrophiert hat, die das Justizministerium — er hat ja selber gesagt: erfreulicherweise — eingesetzt hat. Genau diese Kommissionen— ich habe die Ehre, einer dieser Kommissionen, nämlich der Eherechtskommission, anzugehören — bürgen in ihrer Zusammensetzung doch dafür, daß sowohl die konservative als ,auch die, wenn ich so sagen darf, fortschrittliche Seite dort ihre Sachkunde einbringen können.Schauen Sie .sich doch den weiten Spielraum gerade in der Eherechtskommission an. Dann kann man wirklich sagen, daß diese Kommission, die von Herrn Heinemann eingesetzt worden ist, wirklich die ganz konservative Richtung auf der einen Seite und, wie gesagt, eine fortschrittliche Richtung auf der anderen Seite widerspiegelt. Wenn die Arbeit in dieser Kommission so viel Freude macht — was ich bei dieser Gelegenheit einmal ausdrücklich sagen möchte —, so ist es der Umstand, daß die sehr, sehr heterogenen Menschen, die darin sitzen, sich in den Grundzügen, wie Sie wissen, letzten Endes geeinigt haben und daß wir deshalb bei der Beratung eines neuen Eherechts eine Basis haben werden, bei der uns nur noch die Nuancen unterscheiden dürften; Sie und ich jedenfalls sind dann nur noch in Nuancen unterschiedlicher Auffassung. Wer hätte ,das vor drei, vier Jahren für möglich gehalten?Daher sehe ich diese Kommissionen — die Kritik daran habe ich gar nicht verstanden — geradezu als ein Musterbeispiel einer einerseits dem Zeitgeist entsprechenden Arbeit des Ministers und andererseits einer Arbeit an, die den in dieser pluralistischen Gesellschaft nun einmal erfreulicherweise vorhandenen verschiedenen Gruppen von ganz rechts bis ganz links Rechnung trägt. Das sollte doch auch Ihre Zufriedenheit hervorrufen.Wenn ich mir Ihre Rede nochmals in die Erinnerung zurückrufe, halte ich alles, was Sie an Kritik geübt haben, eigentlich für ungerechtfertigt, weil las, was Sie in der Sache gesagt haben, für den minister ein Lob bedeutete. Vielen Dank für dieses Lob!
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Diemer-Nicolaus. Die Fraktion der FDP hat eine Redezeit von 30 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen zunächst einmal den Schrecken vor den 30 Minuten nehmen. Die Redezeit wurde am Anfang angemeldet, als ich noch nicht wußte, was kommt. Ich wollte in der Beziehung etwas Spielraum haben. Ich hoffe aber, daß ich die 30 Minuten nicht ausnutze.Dies fällt mir dadurch um so leichter, daß Herr Kollege Hirsch schon vieles von dem vorweggenommen hat, was auch ich sagen wollte. Soweit es sich um Demonstrationsdelikte handelt, sind wir uns vollkommen einig.Herr Kollege Erhard, ich darf Sie auf folgendes hinweisen. Sie haben gesagt, es sei nach Aussagen der Polizei jetzt nicht mehr möglich, einen bestimmten Steinwerfer zu erkennen. Unfriedlich verlaufende Demonstrationen werden von niemandem gebilligt. Gewalttätigkeiten waren kriminell, sind kriminell und werden es auch in Zukunft bleiben. Gerade die Polizei hat uns bei dem Hearing gesagt, daß sie nur den harten Kern ergreifen könne und nicht andere. Insofern ist das, was Sie gesagt haben, nicht schlüssig, um mit diesem juristischen Ausdruck zu sprechen.Ich bin der festen Überzeugung, daß, nachdem der Bundestag klare Grenzen gesetzt hat, jeder weiß, wie weit er bei Demonstrationen gehen darf, daß nur friedliche Demonstrationen durch das Grundrecht gedeckt werden und jeder zur Verantwortung gezogen wird, der dazu beiträgt, eine Demonstration unfriedlich zu gestalten.Ich möchte jetzt auf die Ausführungen zu spre chen kommen, die Herr Kollege Erhard eingangs gemacht hat. Auch ich habe mir die eigenartige Bemerkung aufgeschrieben, Herr Kollege Hirsch, daß sich der Herr Justizminister von zeitgeistlichen Strömungen fernhalten solle. Mir ist durch die Zwischenfrage, die Herr Kollege Erhard gestellt hat, nicht klarer geworden, was er eigentlich mit dieser Bemerkung gemeint hat. Aus der Antwort auf die Zwischenfrage ging hervor, daß er nicht alle, sondern nur bestimmte Strömungen meinte. Er sagte aber nicht, welche. Darauf ist er uns die Antwort schuldig geblieben. Nur wenn er sich ganz konkret geäußert hätte, wüßten wir, mit welchem Zeitgeist sich die Justiz seiner Ansicht nach nicht befassen sollte.Ich möchte ergänzend zu dem, was Herr Kollege Hirsch gesagt hat, daran erinnern, daß wir in unserem Rechtswesen bereits eine ganze Reihe bedeutender Reformen verabschiedet haben. Andere haben wir noch vor uns. Das beruht darauf, daß unsere Gesetze teilweise nicht mehr dem heutigen Zeitgeist entsprechen. Es gibt Spannungen zwischen dem, was die Bevölkerung im allgemeinen für zulässig und nicht kriminell erachtet, und dem, was heute noch hart bestraft wird bzw. bestraft werden sollte, was aber von den Gerichten denken Sie an § 218 —
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Frau Dr. Diemer-Nicolauseinfach nicht mehr mit der früheren Härte bestraft wird.Deswegen ist es notwendig, Herr Kollege Erhard, unsere neuen Justizgesetze so zu gestalten, daß sie unseren heutigen Anschauungen entsprechen und das bestrafen, was echt sozialschädlich ist. Man sollte jedoch nicht glauben, daß man mit Gesetzen moralische Vorstellungen durchsetzen könnte. Wir wissen, daß damit die Gesetze überfordert wären. Über Einzelheiten werden wir wahrscheinlich noch im Laufe dieser Legislaturperiode eingehend diskutieren müssen, Herr Kollege Erhard.Sie haben dann eine Frage angeschnitten, zu der der Herr Justizminister sicherlich Stellung nehmen wird. Es war mir etwas schleierhaft, warum Sie wiederholt gesagt haben, der Herr Bundesjustizminister solle Distanz wahren. Ich begrüße es sehr, wenn Minister möglichst häufig zu wichtigen Problemen Stellung nehmen
und ihre Auffassungen nach außen tragen und damit eine Diskussion einleiten, noch bevor überhaupt Regierungsvorlagen auf dem Tisch liegen. Ich halte es z. B. für außerordentlich fruchtbar, daß im Anschluß an die Rede des Herrn Bundesjustizministers auf dem Anwaltstag über die Frage Dreistufigkeit oder Vierstufigkeit, also wie die Justizreform am besten gestaltet werden kann, eine sehr lebhafte Diskussion zustande gekommen ist. Mankann nämlich nur aus dem Pro und Kontra eine Form für die Justizreform zu finden versuchen, die auf der einen Seite, wie es die FDP immer gefordert hat, das Verfahren möglichst übersichtlich und klar gestaltet und auf der anderen Seite dem rechtsuchenden Bürger möglichst schnell ein Urteil gibt. Das gute Urteil aber hängt nach meiner Auffassung nicht so sehr von der Drei- oder Vierstufigkeit ab wie von der Qualität der Richter. Aber über diese Probleme werden wir uns wahrscheinlich noch sehr eingehend unterhalten.Sie haben dann etwas zu den Verwaltungsverfahren gesagt. Ich begrüße es sehr, daß der Anfang zur Schaffung eines Rechtspflegeministeriums gemacht worden ist. Ich halte es für notwendig, für alle Verfahren, also nicht nur für die Verfahren der Verwaltungsgerichte, sondern auch für die Sozialgerichte, Arbeitsgerichte, Finanzgerichte, eine einheitliche Verfahrensordnung zu schaffen. Das wird nämlich auch die Klarheit und die Übersichtlichkeit unserer Verfahren ganz wesentlich verbessern. Ich wehre mich aber dagegen, daß Sie sagen, das Verwaltungsverfahren sei praktisch nicht dreistufig, sondern sogar fünfstufig aufgebaut, weil vor der Klage innerhalb der Verwaltung vorher Beschwerden möglich sind. Ich finde, so kann man dies nicht sehen. Man darf insoweit nur von den Gerichtsinstanzen ausgehen, auch bei den verschiedenen Verwaltungsverfahren.Ich darf nun auch von mir aus, Herr Bundesjustizminister, noch einige Wünsche anmelden. Ich weiß, wie schwierig die Aufgabe des Bundesjustizministeriums ist, weil an die Qualifikation seiner
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so zu entscheiden, wie es sachlich notwendig ist. Wir sollten uns auch im Rechtsausschuß und im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform bemühen, möglichst gemeinsam die Gesetze so zu gestalten, wie sie dem heutigen Zeitgeist entsprechen, daß es moderne Gesetze sind, damit sie für die Bevölkerung glaubwürdig sind.Dazu ist allerdings dringend notwendig, daß die Mittel, die jetzt endlich einmal bereitgestellt werden, um die Rechtsfremdheit unserer Bürger und Bürgerinnen zu beseitigen — Mittel, die dem Justizministerium zur Information an die Hand gegeben werden sollen —, nicht eingeschränkt werden.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Einige wenige Bemerkungen zu dieser Debatte, zumal ich in einer Reihe von Punkten angesprochen worden bin.Verehrter Herr Kollege Erhard, für Ihre durchaus wohlwollende Kritik — ich verkenne das nicht — bedanke ich mich, auch wenn ich sie nicht in allen Punkten ganz verstanden habe. Aber das liegt wahrscheinlich an mir. Sie haben mich mehrfach aufgefordert, mehr Distanz zu wahren. Ich weiß eigentlich nicht recht, zu wem. Wenn Sie verlangen, daß ich mehr Distanz zur ASJ, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, wahren soll, — der gehöre ich selber an; das Kunststück ist etwas schwer zu vollziehen. Ich würde das nie leugnen. Ich glaube auch nicht, daß es die eigentliche Aufgabe des Justizministers ist, Distanz zu wahren. Worauf es ankommt, ist, daß er Stellung nimmt und deutlich macht, was er will. Das versuche ich in der Tat.Sie meinen, es wäre notwendig, in den Sachfragen noch deutlicher auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. Zunächst kommt es mir darauf an, die Konzeption der Rechtspolitik dieser Bundesregierung in den verschiedenen Gebieten offenzulegen und damit zur Diskussion zu stellen. Ich meine, das ist ein besseres Verfahren, als wenn wir versuchten, bereits mit fertigen vorweggenommenen Ergebnissen in die Diskussion zu gehen; dann würde jede Diskussion zu einem viel zu späten Zeitpunkt stattfinden. Mir kommt es darauf an, die Diskussion bereits über die Konzeption führen zu können. Dafür versuche ich meine Beiträge zu leisten.Das gilt z. B. für die Frage der Dreistufigkeit. Da weiche ich übrigens ,der hinreichenden Darlegung der Schwierigkeiten so viel oder sowenig aus wieNr. 31 des Berliner Programms der CDU, in der es auch ganz präzise heißt:Eine umfassende Justizreform muß für alle ordentlichen Gerichte den dreigliedrigen Aufbau ,durchführen, die Verfahren straffen und ihren beschleunigten Abschlußgewährleisten.Da igibt es keine Differenz zwischen uns. Ich freue mich, daß wir Ida einer Meinung sind. Aber ich meine, daß es notwendig ist, darüber jetzt zu sprechen, nicht nur in allgemeinen Programmen, sondern auch in der Ankündigung dessen, wie man sich die Verwirklichung solcher programmatischen Vorstellungen denkt.Sie haben mich aufgefordert, zu der einen oder anderen entscheidenden, wichtigen Frage etwas deutlicher zu werden. Sie haben als Beispiel die Frage angeführt: Brauchen wir bei der Dreigliederung des Aufbaus der ordentlichen Gerichte auch noch eine Vorschaltstufe? Ich kann Ihnen nur sagen: Hier kommen Sie etwas zu spät. Ich habe meine Meinung nicht nur längst selber gesagt, sondern auch dn dem Beschluß der Justizministerkonferenz, die gerade vor einem Monat stattgefunden hat, können Sie nachlesen, daß ich mit meinen Kollegen in den Ländern darüber einig bin, daß es keine wie immer geartete und ausgestaltete Vorschaltstufe geben sollte. Ich bin jetzt nicht ganz sicher, ob Sie dabeigewesen sind, als ich die Kollegen aller Fraktionen ein oder zwei Tage später über ,die Ergebnisse dieser Konferenz informiert habe. Dabei ist das gesagt worden. Der Vorwurf kann also nicht ernst gemeint sein.Nun sagen Sie, ich soll mich im Hinblick auf die Beschleunigungsnovelle konkreter äußern. Ich kann mich nicht noch konkreter äußern. Hier liegt ein fertiger Gesetzentwurf vor, der Ihnen bekannt ist und der demnächst in diesem Hause zur Debatte ansteht.Ich habe eine herzliche Bitte. Sie haben im Zusammenhang mit diesen beiden Fragen ,gesagt, wir sollten nicht den. Eindruck aufkommen lassen, unsere Rechtsprechung an sich sei schlecht. Ich bedauere es etwas, daß dieses Wort hier überhaupt gefallen ist. Dieses Wort ist bisher in der Debatte nicht oder nicht mit dem Gewicht, das es zwangsläufig erhält, wenn es von dieser Stelle aus gesagt wird, geäußert worden. Wir sollten diesen Eindruck in der Tat nicht aufkommen lassen. Es gibt keinen Grund, die Rechtsprechung in irgendeiner Weise schlechthin zu kritisieren. Aber gibt Anlaß, darüber nachzudenken, ob denn das bestehende Gerichtsverfahren — übrigens nicht nur in Zivilsachen — tatsächlich noch den Anforderungen unserer Zeit entspricht. Darüber müssen alle Beteiligten, die Gerichte, die Anwälte, die Parteien, miteinander reden und mit sich reden lassen.Zum Demonstrationsstrafrecht ist hier einiges gesagt worden. Ich will nichts davon wiederholen, sondern nur auf folgendes hinweisen. Ich möchte unterstreichen, was Herr Kollege Arndt vorhin dazu gesagt hat. Ich meine, es wäre besser gewesen, wir hätten schon früher eine Reform des Demonstrationsstrafrechtes gehabt. Aber nachdem wir sie nun reichlich spät bekommen haben, ist das, was damit
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Bundesminister Jahnverfolgt war — einschließlich der Amnestie —, in der Tat als gelungen anzusehen. Der Prozeß der Differenzierung zwischen denjenigen, die in der Gefahr waren, sich mit den ausgesprochen radikalen Elementen zu solidarisieren, und denjenigen, für die das nicht gilt, hat stattgefunden. Wir wissen heute, daß jene brutalen Exzesse, von denen Sie mit Recht gesprochen haben, sich tatsächlich auf eine kleine Gruppe beschränken, der wir hinreichend deutlich gesagt haben — und wenn es notwendig ist, werde ich das auch weiterhin so sagen wie bisher —, daß derjenige, der anders als friedlich demonstriert, damit gegen den klaren Willen und die Absicht des demokratischen Gesetzgebers verstößt, und zwar mit allen sich daraus ergebenden notwendigen strafrechtlichen Konsequenzen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Pinger?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön!
Herr Minister, Sie haben eben auf die Frage des Kollegen Arndt Bezug genommen. Wollen Sie sagen, daß der Solidarisierungseffekt früher nur deshalb eingetreten ist, weil dike anderen Teilnehmer einer Demonstration damit rechnen mußten, mit bestraft zu werden, und daß es diesen Solidarisierungseffekt heute ,aus dem Grunde nicht mehr gibt, weil der Beteiligtenkreis eingeschränkt woden ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist mir etwas schwergefallen, den Sinn Ihrer Frage zu erfassen, aber das liegt sicher an mir. Am besten sage ich zur Verdeutlichung einfach noch einmal, worauf es mir ankommt. Es bestand die Gefahr, daß im Hinblick auf Tausende von Verfahren und die weiterhin ungeklärte Rechtslage Demonstrationen auch in Zukunft zu einer Fülle von Strafverfahren sowohl gegen solche führen mußten, die im Grunde nichts anderes wollten, als friedlich zu demonstrieren, wie auch gegen solche Demonstranten, die unfriedliche, gewalttätige Demonstrationen im Sinn hatten. Hier einen Differenzierungsprozeß zu ermöglichen und einzuleiten war notwendig und ist nach meiner Überzeugung auch gelungen.
Zu der Wunschliste der Frau Kollegin DiemerNicolaus! Wir haben uns, verehrte Frau Kollegin, in der Zeit der gemeinsamen Arbeit im Rechtsausschuß immer sehr bald über die Notwendigkeiten, gerade auf dem Gebiet des Strafprozesses eine Menge Dinge zu ändern, verständigt, und im Grunde bin ich mit Ihnen der Meinung, daß wir eigentlich bald an den Zeitpunkt kommen müßten, wo wir zu einer umfassenden Reform des Strafprozesses gelangen. Aber wir müssen nüchtern sehen: Alles auf einmal ist nicht möglich. Das gilt auch hier. Ich habe dennoch vor, alsbald eine wenigstens — lassen Sie mich es jetzt so nennen, ohne daß das die Überschrift für alle Zukunft sein soll — kleine Novelle zum Strafprozeß mit zwei Schwerpunkten vorzulegen: erstens einer Beschleunigung 'des Strafverfahrens überhaupt und zweitens der Prüfung der Frage, ob wir entweder gewisse Erleichterungen im Wiederaufnahmeverfahren herbeiführen oder schon jetzt zu einer Ausgestaltung eines Rechtsmittels kommen, das eine weitergehende Tatsachennachprüfung möglich macht. Wie das endgültig aussehen wird, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen; aber ich kann Ihnen folgendes sagen. Wir haben bereits auf Grund der Verabredung, die wir auf der Justizministerkonferenz Anfang Mai getroffen haben, zu einer ersten Arbeitsgruppe zwischen Bund und Landesjustizverwaltungen zur Vorbereitung dieser Novelle eingeladen. Die erste Sitzung wird noch in diesem Monat stattfinden. Sie können davon ausgehen, daß spätestens im Laufe des nächsten Jahres dem Hause eine ausgearbeitete Novelle vorgelegt wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus? — Bitte schön!
Herr Justizminister, Sie sagten eben, daß geprüft wird, ob entweder eine Änderung des Wiederaufnahmeverfahrens oder eine Änderung des Revisionsverfahrens möglich ist. Wären Sie bereit, auch überprüfen zu lassen, ob es nicht in dieser Hinsicht ein SowohlAls-auch gibt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sage: Wir werden beide Fragen prüfen. Zu welchen Ergebnissen wir dann bei der Vorlage der Novelle kommen, muß ich mir heute noch vorbehalten. Selbstverständlich werden aber beide Fragen geprüft, und ich schließe nicht aus, daß man zu dem Sowohl-Alsauch kommt. Geben Sie uns bitte aber ein wenig Überlegungsfrist; denn das Problem ist in der Tat sehr schwierig, und wir müssen uns auch ein wenig darüber verständigen, wieviel angesichts der großen Zahl von sonstigen Reformvorhaben, die dem Hause bereits fest als Vorlagen zugesichert sind, denn überhaupt noch verkraftet werden kann. Ich bin für alles dankbar, was gemeinsam zu bewältigen wir uns vornehmen, gehöre aber dem Hause auch lange genug an, um zu wissen, daß eine Wahlperiode normale zeitliche Begrenzungen mit sich bringt und man in einer Wahlperiode nicht alles schaffen kann.
Meine Damen und Herren, damit bin ich schon am Ende meiner Bemerkungen. Ich möchte dankbar feststellen, daß die Kritik — auch die der Opposition — so ausgefallen ist, daß ich daran die Erwartung knüpfe, daß wir in den nächsten Jahren auch die Mitwirkung der Opposition an einer modernen Rechtspolitik haben können.
Zu diesem Einzelplan liegt mit Umdruck 36 ') ein Änderungsantrag vor.*) Siehe Anlage 4
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Präsident von Hassel) Er wird von Herrn Abgeordneten Hauser begründet. Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf die Gefahr hin, daß der Kollege Raffert nach wie vor der Meinung sein sollte, wir hätten die Richtung der Bemühungen der Regierungskoalition in bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit völlig verkannt,
möchte ich einige Worte zu dem Antrag Umdruck 36 sagen.
Während — wie Herr Kollege Bremer festgestellt hat — in praktisch allen Einzelhaushalten eine wesentliche Aufstockung der Mittel für Öffentlichkeitsarbeit, und zwar im Durchschnitt um 18 %, vorgesehen ist, ist diese Aufstockung beim Bundesminister der Justiz in ihrem prozentualen Anteil besonders gravierend. Sie beträgt nämlich für das Jahr 1970 1662/3% und für das Jahr 1971 2331/3 %. Nun könnte man sagen, diese anormal hohe Aufstockung sei darauf zurückzuführen, daß die Grundbeträge, die für Öffentlichkeitsarbeit vorhanden waren, in der Vergangenheit gering waren. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß die Politik der Regierung auch auf diesem Gebiete, auf dem sie — das ist in der vorigen Debatte zum Ausdruck gekommen — nunmehr zwischen Regierung und Opposition streitiger geworden ist, als es früher der Fall war, mehr als in der Vergangenheit propagiert werden soll.
Niemand wird uns glauben machen können, daß die Absicht bestünde, lediglich über Tatsachen zu informieren und nicht auch über Absichten und Ansichten der Regierung. Wenn dem so ist, ist nicht daran vorbeizureden, daß Propaganda Propaganda bleibt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Raffert?
Bitte schön!
Herr Kollege Hauser, ist Ihnen klar, daß dieser Titel gerade in diesem Jahr auch für die Aufklärung über das neue Straßenverkehrsrecht — auch über Alkoholdelikte — benutzt werden muß?
Ich nehme an, daß die Sendung „Der 7. Sinn" und auch Sendungen zum Verkehrsrecht sehr wohl aus dem recht umfangreichen Titel für Öffentlichkeitsarbeit beim Bundesminister für Verkehr — es handelt sich dort um einen 'Millionen-Titel — bestritten werden könnten.
Diese Dinge, etwa die Sendung „Der 7. Sinn" oder dergleichen, hat es auch in der Vergangenheit gegeben, ohne daß wir solch ,exorbitante Steigerungen in den Titeln für Öffentlichkeitsarbeit zu haben brauchten, und das zu einem Zeitpunkt, wo wir an
sich alle zur Haushaltssparsamkeit aufgerufen wären, gerade bei den Konsumausgaben.
Aber ich glaube, das, was hier wirklich erreicht werden soll, was die Richtung Ihrer Bemühungen ist, Herr Kollege Raffert, haben Sie aus der Bibel, abgelesen: „Schaffet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon".
Bei der derzeitigen Justizpolitik mögen Sie das vielleicht für notwendig halten.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Diemer-Nicolaus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich schon vorhin gegen diese Kürzungen ausgesprochen. Herr Kollege, Sie haben in Ihrer Rede wohlweislich nicht die Zahlen ,genannt, um die es sich handelt, sondern in Prozentsätzen gesprochen. Das ist nicht ganz ehrlich; denn wenn ich von einer Mark auf drei Mark erhöhe, sind das 300 %. Sie müssen einmal nachschauen, um welche Zahlen es sich hier handelt, und sie mit dem Gesamthaushalt vergleichen; in Ihrem Antrag ,stehen sie ja. Nach der Ziffer 1 Ihres Antrags soll der Ansatz von Mitteln zur Unterrichtung der Bevölkerung über Maßnahmen auf dem Gebiet des Rechtswesens für 1970 von 125 000 DM auf 75 000 DM gekürzt werden, und in Ziffer 2 handelt es sich um eine Kürzung von 175 000 DM auf 75 000 DM.
Man muß diese Zahlen einmal ganz konkret nennen und fragen: Lohnt sich das? Ich muß Ihnen sagen, es ist einfach notwendig, daß das Justizministerium eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit treiben kann. Das hat lange gefehlt. Es war dringend notwendig, daß das Justizministerium Schriften herausgegeben hat. Das hat mit einer Schrift über die Strafrechtsreform begonnen. Es wird genauso notwendig sein, daß in Zukunft über weitere Rechtsreformen, leicht verständliche, nicht im Juristendeutsch abgefaßte Darstellungen der Probleme, um die es geht, in die Offentlichkeit gebracht werden.
Es ist notwendig, daß unsere Gesetze Verständnis finden. Ich bin deshalb der Meinung, daß die jetzt in Ansatz gebrachten Summen unter keinen Umständen gekürzt werden dürfen. Ich wäre sehr dankbar, wenn sich die Opposition noch einmal eingehend überlegte, ob es nicht im Interesse des Rechts geboten ist, mindestens ,an diesen Beträgen festzuhalten.
Meine Damen und Herren! Wortmeldungen liegen nicht vor. — Ich bitte um Entschuldigung; es war hier nicht angemeldet. Bitte, Herr Abgeordneter Dr. Tamblé.
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2924 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir von der sozialdemokratischen Fraktion sind davon ausgegangen, daß nach der Grundsatzaussprache, die bei 08 über diese Titel geführt worden ist, nun nicht bei jedem Einzelplan eine Begründung für die Kürzung der Mittel für Öffentlichkeitsarbeit gegeben werden soll.
Von uns aus können Sie das Spiel gern so weitermachen, aber wir werden zu diesen Anträgen nicht mehr Stellung nehmen.
Gestatten Sie mir noch einen Satz. Ich finde, dieser Kürzungsantrag steht in krassem Gegensatz zu dem, was der Kollege Erhard gesagt hat, indem er auf die Bedeutung dieses Ministeriums hingewiesen hat. Aber auf der anderen Seite soll es dem Ministerium unmöglich gemacht werden, seine Arbeiten der Offentlichkeit darzulegen.
Aus diesem Grunde bitten wir, den Antrag abzulehnen.
Es liegen nun in der Tat keine Wortmeldungen mehr vor. Wir kommen zur Abstimmung.
Ich lasse zunächst über den Umdruck 36 abstimmen. Wer diesem Umdruck 36 — Dr. Barzel, Stücklen und Fraktion — zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 07 des Bundesministers der Justiz. Wer diesem Einzelplan zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Meine verehrten Damen und Herren, ich darf zur Geschäftslage folgendes sagen. Wir werden bis 21 Uhr tagen. Ich rufe jetzt den Einzelplan 11 auf. Ihm folgt, sofern wir noch weiterkommen, der Einzelplan 19; dann geht es in der Reihenfolge 16 usw. weiter. Die Einzelpläne dazwischen werden morgen bzw. am Freitag aufgerufen.
Ich rufe auf Einzelplan 11
Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen VI/830, VI/854 —
Berichterstatter: Abgeordneter Krampe
Zunächst darf ich fragen, ob der Herr Berichterstatter das Wort wünscht. — Seitens des Berichterstatters wird das Wort nicht begehrt. Ich darf dann dem Herrn Berichterstatter für seinen Bericht danken.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Krampe. Er hat 20 Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat schon anläßlich der Debatte über den Sozialbericht deutlich gemacht, daß die Bundesregierung zur Weiterführung der Sozial- und Gesellschaftspolitik bisher nur allgemeine, unbestimmte Absichtserklärungen abgegeben hat. Sie hat also versäumt, bislang eigene Prioritäten zu setzen.Der vorliegende Einzelplan 11 des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung bestätigt diese Feststellung. Sein Anteil, am Gesamthaushalt gemessen, kann über fehlende Prioritäten nicht hinwegtäuschen. Die Erhöhung des Volumens des Einzelplans 11 von 17 384 Millionen DM im Jahre 1969 auf 18 768 Millionen DM im Jahre 1970, also um 1420 Millionen DM — unter Einbeziehung der infolge der • Ressortneuverteilung vom Bundesinnenministerium übertragenen Kriegsopferfürsorge —, kann leicht den Anschein erwecken, als würde man in der Sozial- und Gesellschaftspolitik jetzt erst richtig anfangen.Wie steht es mit dieser Zuwachsrate, und wie sieht es da richtig aus? Was verbirgt sich hinter dieser Summe von 1420 Millionen DM? Das muß untersucht und offengelegt werden, damit nicht der Herr Bundesminster für Arbeit und Sozialordnung in Versuchung gerät, dies als Erfolg seiner Politik und seines Einflusses im Kabinett herauszustellen. Einige Zahlen sollen das deutlich machen.1. Der Zuschuß zur Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte ist um ca. 185 Millionen DM höher als 1969. Die Erhöhung des Bundeszuschusses in der Rentenversicherung beruht auf gesetzlichen Bestimmungen, die längst beschlossen waren, bevor die jetzige Bundesregierung im Amt war.2. Der Zuschuß des Bundes zur knappschaftlichen Rentenversicherung ist 1970 um 338 Millionen DM höher als das Ist von 1969 mit 3311 Millionen DM. Auch diese Erhöhung beruht auf gesetzlichen Bestimmungen, die vor der Amtsübernahme der jetzigen Bundesregierung in Kraft gesetzt waren, mit Ausnahme der 90 Millionen DM, die als Ersatz für den weggefallenen Rentn erkrankenversicherungsbeitrag gezahlt werden.3. Die Übergangshilfe des Bundes zum Ausgleich für Arbeitgeberaufwendungen für Kleinbetriebe nach dem Lohnfortzahlungsgesetz beträgt im Einzelplan 11 1970 200 Millionen DM. Diese Position mit diesem Betrag ist eindeutig auf Initiativen der CDU während der Beratungen über das Lohnfortzahlungsgesetz zurückzuführen, zu einer Zeit also eingesetzt worden, als der Kollege Katzer das Amt des Bundesarbeitsministers in der Hand hatte.Diese drei Positionen allein machen 723 Millionen DM aus.Hinzu kommt 4. die Erhöhung des Ansatzes für die Kriegsopferversorgung und gleichartige Leistungen um runde 760 Millionen DM, begründet im Ersten Anpassungsgesetz. Um auch hier einer Legendenbildung vorzubeugen: Nach den Finanznachrichten vom 17. Oktober 1969, noch unter dem damaligen Finanzminister Strauß herausgegeben, waren 900 Millionen DM für die Verbesserung der Kriegsopfer-
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Krampeversorgung eingeplant. Der Bundesminister Katzer hatte damals entsprechende Beträge ebenfalls für die Fortschreibung der Finanzplanung angemeldet. Hinzu kommt, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages vor der Wahl den Kriegsopfern zugesagt hatten, für eine wesentliche Erhöhung ihrer Versorgungsbezüge einzutreten.723 Millionen DM und 760 Millionen DM sind also bereits mehr, als die Gesamterhöhung um 1420 Millionen DM ausmacht. Bestenfalls, Herr Bundesarbeitsminister, kann man im Jahr 1970 beim Einzelplan 11 von einer Fortschreibung und Aufstockung sprechen; es kann aber nicht vom Setzen von Prioritäten die Rede sein. Dieser Haushalt gibt einfach nicht mehr her.Gestatten Sie mir noch einige kritische Anmerkungen. Fehlende Prioritäten sollen durch Propaganda — Flugblätter, Faltbroschüren, Zeitungsanzeigen usw. — ersetzt werden.
Die Veröffentlichung „Was will die Bundesregierung?", ein Auszug aus dem Sozialbericht 1970, ist ein solches Traktätchen, „Soziale Sicherung — das geht auch Sie an", ein weiteres. Die Schrift „Zwischenbilanz" vervollständigt den Propagandareigen. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle Schriften und Veröffentlichungen das Wort hindurch: „Wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit."
— Einen Augenblick! — Der Bundesarbeitsminister erklärte anläßlich der Diskussion über die Kriegsopferneuregelungsgesetzgebung im Zeichen des Ersten Anpassungsgesetzes: „Die Kriegsopferrenten werden um 16 %, die Renten der Kriegerwitwen um 25 % erhöht." Inzwischen steht fest, daß 375 000 Witwen im Endeffekt weniger als die Hälfte der Rentenerhöhung erhielten. Hier bietet sich die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.
Zweitens. Das sogenannte neue Verfahren bei der Rentenkapitalisierung stellt die notwendigen Mittel für diesen Bereich über die Lastenausgleichsbank bereit. Dieses Verfahren und überhaupt dieser Gesetzentwurf ist in den Grundzügen noch in der Ara Katzer konzipiert worden, um eine Finanzierung nach der Haushalts- und Kapitalmarktlage zu gewährleisten. Ob angesichts der derzeitigen Haushaltslage der jetzt beschrittene Weg der günstigste oder der sparsamste ist, Herr Bundesminister für Arbeit, muß überprüft werden. Die Mittelbeschaffung über die Lastenausgleichsbank ist jedenfalls angesichts der zu zahlenden Zinsen kostspieliger als das Ausschöpfen anderer Möglichkeiten.Drittens. Die Rentenerhöhung betrug für die Rentner der Arbeiter- und Angestelltenversicherung 1970 6,35 %. Bei der Knappschaft machte die Rentenerhöhung für 1970 1,92 % aus. Die gesamte Einkommensverbesserung der Knappschaftsrentner beträgt unter Einbeziehung des zurückerstatteten 2%igen Krankenversicherungsbeitrages 3,92 %. Wie ist es — das ist meine Frage — mit dem Bestreben nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu vereinbaren, wenn schon die Preissteigerung der ersten fünf Monate des Jahres 1970 den Einkommenszuwachs der Knappschaftsrentner voll und ganz aufzehrte?
Ich versuche, das einmal auf eine Formel zu bringen, und hoffe, mit ihr das Richtige zu treffen: Der Arendt gab's, und der Schiller nahm's.
Was ist denn nun wirklich im Haushalt neu? Ist die Umwandlung des Bundesinstituts für Arbeitsschutz in eine Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitsschutz neu? Wirklich neu ist dabei doch wohl nur die Standortfrage. Der Standort Dortmund wird Koblenz ablösen. Die Konzeption für die Umwandlung stammt noch aus der Zeit des Amtsvorgängers; die Verwirklichung dieser Maßnahme wird von uns begrüßt und bejaht.Ist der Bereich der Rehabilitation neu? Auch die Aufstockung des Ansatzes von 10 Millionen im Jahre 1969 auf zunächst 20 Millionen DM im Jahre 1970 — davon wurden dann 5 Millionen gekürzt — ist in der Sache nicht neu. Die Hilfe beim Bau von Rehabilitationsstätten und die Bundesbeteiligung beim Bau des Berufsförderungszentrums in Essen einschließlich der Maßnahmen für ältere Generationen sind Fortschreibungstitel, die ein besonderes Anliegen der CDU/CSU-Fraktion waren.Als neuer Titel steht in Einzelplan 11 unter Kap. 11 02 der Zuschuß zur Errichtung und zur Erhaltung des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung in Berlin. Die Errichtung eines solchen Bundesinstituts ist durch den § 60 des Berufsbildungsgesetzes vom 14. August 1969 vorgeschrieben, also auch nicht neu, sondern nur der Vollzug dessen, was unter Hans Katzer eingeleitet wurde und was hier im Plenum beschlossen worden ist.
Es werden Aktivitäten vorgetäuscht, indem man Kommissionen einsetzt. Mit Kommissionen sollen nämlich fehlende Tatsachen überspielt werden. Das wird besonders deutlich auf dem Gebiete der Krankenversicherungsreform. Auf diesem Gebiet hat sich die Bundesregierung auf einen Gesetzentwurf beschränkt, der lediglich die Neuregelung der Versicherungspflicht- und der Beitragsbemessungsgrenze und die Gewährung des Arbeitgeberzuschusses für Angestellte enthält.
Unverständlich ist, warum diese Regierung nicht wenigstens den gesamten Komplex der Vorsorgeuntersuchungen, der doch in allen Reden und Ver-
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Krampeöffentlichungen — schauen Sie einmal in den Traktätchen nach — so stark herausgestellt wird, hier nicht mit einbezogen hat. Die Regierung der inneren Reformen hat hier meiner Ansicht nach eine entscheidungsreife und wichtige Frage abermals einer Kommission überwiesen und übertragen.Die Opposition dagegen hat ein geschlossenes Konzept der Vorsorgehilfe in ihrem Gesetzentwurf zur Fortführung der Krankenversicherungsreform vorgelegt.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat manchen anderen Plan lauthals verkündet, seien es die Ankündigungen über den Abbau der Altersruhegeldgrenzen, mit denen Hoffnungen geweckt werden sollten und von denen man nicht weiß, wie sie finanziert werden sollen, — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Professor Dr. Schellenberg?
Herr Kollege Krampe, würden Sie dem Hause bestätigen, daß es Ihre Fraktion war, die zur Krankenversicherung noch vor einem Jahre mit Wirkung vom 1. Juli 1970 die Krankenversicherungspflichtgrenze für Angestellte auf 990 DM Monatseinkommen festsetzen wollte?
Herr Professor Schellenberg, vielleicht können Sie mir bestätigen, daß dieser Beschluß in der großen Koalition gemeinsam mit Ihnen gefaßt worden ist, daß diese Krankenversicherungspflichtgrenze und die Beitragsbemessungsgrenze ab 1. Januar 1970 auf 1200 DM angehoben worden ist und daß Ihnen die Opposition — das ist meine Aussage dazu —
hier im Hause einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorgelegt hat.
Manche dieser Aussagen, auch im Bereich der variablen Altersgrenze, werden unter Vorbehalt gemacht. Aber es entsteht ein Zwang zum Handeln. Die Frage ist, Herr Bundesminister für Arbeit, wollen Sie in dieser Sache wieder einmal wie im Fall der Weihnachtsgeldversprechungen Erwartungen wecken, denen man dann doch nur mit Mühe und völlig unplanmäßig entsprechen kann? Oder soll der Wahlkampf in einzelnen Bundesländern mit Versprechungen angereichert und bestritten werden, deren Realisierung völlig offen ist?
Die Sozialpolitik der neuen Bundesregierung begann mit einem großen Paukenschlag, mit der Ankündigung des Weihnachtsgeldes für Rentner.
Sie wollen es nicht gerne hören, man muß es nur wieder einmal sagen: Große Reformen wurden angekündigt.
Bisher wurde aufgestockt und fortgeschrieben. — Die Bundesregierung hat nichts für diese zwei Prozent außer den besagten 90 Millionen in ihren Haushalt eingestellt. Versprechungen zu machen und andere bezahlen zu lassen, ist eine Angelegenheit, die nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch durchaus nicht immer in Ordnung ist.
Wir stellen an Hand des Haushalts fest — prüfen Sie ihn einmal nach —: es wurde aufgestockt und fortgeschrieben. Die Sozial- und Gesellschaftspolitik der Bundesregierung lebt von der Erbmasse: Ausbau des Sozialbudgets, Arbeitsgesetzbuch, Vermögensbildungsgesetz, Wiederherstellung der alten Höhe der Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung ab 1972, zugrunde gelegt im Finanzänderungsgesetz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Fraktion der CDU/CSU hatten eigentlich die Absicht, dem Einzelplan 11 unsere Zustimmung zu geben, da mehr als 96 % — und wenn Sie die Personalkosten noch hinzunehmen, fast 99 % — der hier vorgesehenen Ausgaben für soziale Leistungen auf gesetzlichen Verpflichtungen beruhen, die in unserer Ara angelegt und konzipiert worden sind.
Die bisherige sozialpolitische Aktion oder vielmehr Nichtaktion der Bundesregierung macht uns aber eine Zustimmung zu diesem Haushalt unmöglich. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten.
Das Wort hat der Abgeordnete Seidel für die SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Ich hätte den Herrn Kollegen Krampe eigentlich gebeten, seine Rede doch einmal zu überlegen;
denn ich glaube, diese vielen Anmerkungen in bezug auf das, was nicht geschehen sei, sind doch im Grunde genommen eine Angelegenheit der CDU/ CSU.
Warum hat sie denn das, was sie hier so beklagt, bisher nicht getan? Sie hat doch bis zum 21. Oktober vorigen Jahres im Arbeitsministerium bestimmend gewirkt und hatte auch hier im Hause die Mehrheit für ihre sozialpolitischen Auffassungen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni. 1970 2927
Seidel
Ich frage Sie also: Warum haben Sie das nicht getan, und warum kommen Sie jetzt hier an die Klagemauer und reden solches Zeug zusammen? Wo blieben Ihre Antworten, wo blieben Ihre Taten in den vergangenen 20 Jahren,
wenn das alles jetzt erst von Ihnen neu entdeckt wird?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Franke ? — Bitte!
Herr Kollege Seidel, haben Sie schon vergessen, daß in der letzten Legislaturperiode die CDU/CSU nicht die absolute Mehrheit hatte und einmal mit der FDP und einmal mit Ihnen koalieren mußte?
Das habe ich nicht vergessen. Warum sollte ich das? Es war sogar ein großes Vergnügen, das in den letzten Jahren mit Ihnen zu tun.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Götz?
Bitte!
Herr Kollege Seidel, wenn Sie und Ihre Kollegen so oft und immer wieder aus Mangel an besseren Argumenten behaupten, wir hätten in den vergangenen 20 Jahren Sozialpolitik so viel versäumt, wie erklären Sie es sich dann, daß die Bundesrepublik auf Grund der Erhebungen und Untersuchungen des Internationalen Arbeitsamtes in Genf mit ihrem System der sozialen Sicherheit im internationalen Vergleich an erster Stelle steht?
Ich will Ihnen das gar nicht bestreiten,
aber ich möchte doch folgendes sagen: Herr Krampe hat hier so getan, als ob jetzt so viel nachzuholen sei.
Ich muß dazu feststellen, er hätte in der Vergangenheit Gelegenheit gehabt, dies nachzuholen.Hier ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß im Einzelplan 11 96% bzw., wenn wir noch die Personalkosten dazu nehmen, 99 % der Ausgaben durch gesetzliche Maßnahmen festgelegt sind. Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt alles so im einzelnen zum Nachteil des neuen Arbeitsministers anführen. Jede Bundesregierung hat in der Nachfolge auf dem aufgebaut, was ist. Es ist doch selbstverständlich, daß die Anpassung im Rhythmus der Jahre folgen muß. Darüber, daß das hier geschehen ist, gibt es gar keinen Zweifel.Aber eines ist doch wichtig: Jetzt ist in der Kriegsopferversorgung erstmalig die Dynamisierung da. Das ist doch ein sehr positives Zeichen. Die Regelung bei den Kriegerwitwen ist ebenfalls verbessert worden. Sie wissen auch ganz genau, Herr Krampe, daß jetzt geplant ist, nun auch die letzten Ungerechtigkeiten, die hier noch vorhanden sind, durch die kommende Gesetzgebung auszumerzen. Das wissen Sie ganz genau, und deshalb sollten Sie jetzt nicht so tun, als ob das eine völlige Neuentdeckung von Ihnen gewesen wäre.Hinzu kommt noch die Frage des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner. Das ist sehr peinlich für Sie, denn Sie wissen ganz genau, daß es in der Zukunft für 9 Millionen Rentner eine ungekürzte Rente gibt. Das macht für 1970 immerhin 800 Millionen DM mehr aus als bisher. Das Weihnachtsgeld, von dem Sie heute noch reden — im Juni 1970! —, wäre in dieser Höhe überhaupt kein Ausgleich gewesen. Darüber müssen Sie sich im klaren sein.
Und dann haben Sie ganz und gar unterschlagen — es ist aber für Sie eine Notwendigkeit, das zu unterschlagen —, die Erhöhung der Landabgabenrente. Sie wissen genau, daß der soziale Zweck dieser Erhöhung darin liegt, die frühzeitige Hofabgabe und die Verbesserung der Agrarstruktur zu fördern. Das bedeutet eine Erhöhung von 275 DM auf 350 DM für Verheiratete und von 180 DM auf 230 DM für Ledige.Ferner die Frage der Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung. Da frage ich Sie bloß immer — ,auch im Hinblick auf die letzten Jahre —: Wo sind Sie eigentlich mit Ihren Vorschlägen und Vorhaben ,geblieben? Wenn wir in dieser Frage eine Sachverständigenkommission einrichten, dann wissen Sie ganz genau, daß dabei wie bisher bei den Sachverständigenkommissionen eine praktikable Sache herauskommen wird. Diese Regierung wird alles daransetzen, 'daß hier in der Weiterentwicklung der Krankenversicherung wirklich Positives geschieht.
— Natürlich! Wir werden das .Beste herausnehmen, was darin steckt, und nicht 'alles, was da serviert worden ist; darüber sollten Sie sich auch im klaren sein.Dann kommt noch eine Kommission mit der Aufgabe hinzu, ein ,überschaubares Sozialrecht, ein zeitgemäßes Sozialgesetzbuch zu schaffen. Was haben Sie eigentlich 'dagegen, daß diese Dinge wirklich sachkundig erörtert werden? Der Bundestag soll damit eine gute 'Grundlage für diese .Auseinandersetzung bekommen.
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2928 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Götz?
Bitte.
Herr Kollege Seidel, Ihre Fraktion, Ihre Partei und der Bundesarbeitsminister stellen in ihrer Propaganda immer wieder die Neufassung eines Sozial- und Arbeitsgesetzbuches als Leistung, als Reform heraus. Das ist ein sicherlich notwendiges Unternehmen und eine begrüßenswerte Absicht. Aber bringt dies allein wirklich mehr soziale Gerechtigkeit, von ,der Sie so viel reden?
Ich meine doch, daß dadurch mehr soziale Gerechtigkeit eintritt; denn man tut den Betroffenen einen guten Dienst, wenn sie ,diese Übersich erhalten und wissen, woran sie bei diesen Fragen der sozialen Anforderungen, Notwendigkeiten und Rechte sind.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie 'haben hier ¡die Fortschritte in der Vermögensbildung so ein bißchen mit der leichten Hand behandelt. Es ist aber unbestritten, daß gerade das Vermögensbildungsgesetz mit der neuen Sparförderung — Erhöhung des Betrages von 312 auf 624 DM —, das wir wohl in der nächsten Woche verabschieden können, in jeder Weise ein ganz großer Fortschritt ist.
Mir sind die Anmerkungen von Ihnen ein bißchen unverständlich; denn der Sozialpolitische Ausschuß hat, wenn auch Differenzen in Einzelheiten bestanden, gerade bei dieser Frage ein einstimmiges Votum dafür abgegeen. Ich weiß gar nicht, weshalb man das jetzt so abwertend behandelt, wie Sie es hiergetan haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des ,Abgeordneten Krampe?
Bitte.
Herr Kollege Seidel, sind Sie der Meinung, daß mit der Verdoppelung des Betrages von 312 auf 624 DM auch die Sparfähigkeit weitester Kreise mit niedrigem Einkommen steigen wird?
Nun, das wird unsere gute Wirtschaftspolitik immerhin noch weiter f fördern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage 'des Herrn Abgeordneten Müller ?
Bitte.
Herr Abgeordneter Seidel, sind Sie sich 'bewußt, daß das dritte Vermögensbildungsgesetz nur eine Fortentwicklung ,dessen ist, was die CDU/CSU einmal konzipiert hat?
— Wer hat von dem „doppelt so hoch" denn bisher schon profitiert?
Das habe ich keineswegs vergessen. Aber Sie wissen, es läßt sich alles verbessern. Entscheidend 'ist doch erstens einmal die Frage der Einkommensgrenze und zweitens die Berücksichtigung des Familienstandes bei drei und mehr Kindern mit der Erhöhung des Betrages von 468 auf 936 DM. Das ist bei diesem Vermögensbildungsgesetz wirklich eine soziale Tat.
Herr Krampe hat hier auf das Aktionsprogramm für die 4 Millionen Behinderten hingewiesen. Was die bundesweite Planung von Rehabilitationseinrichtungen betrifft, so haben Sie in den sogenannten besten CDU/CSU-Zeiten ganze 5 Millionen DM für diesen Personenkreis eingesetzt. Jetzt sind wir immerhin, wenn auch nicht gerade auf 20, so doch Gott sei Dank auf 15 Millionen DM gekommen. Das ist ein großer Fortschritt für diesen bestimmten Kreis.
Eine letzte Zwischenfrage, der Abgeordnete Krampe.
Herr Kollege Seidel, würden Sie mir bestätigen, daß wir beide als Berichterstatter und Mitberichterstatter gerade diesen Etattitel in den Einzelplan 11 des Arbeits- und Sozialministeriums eingebracht und uns bei der Berichterstattung und auch sonst ständig für diesen Titel verwandt haben?
Wir haben uns dafür verwandt. Ich habe mich nur darüber gewundert, daß Sie moniert haben, daß es jetzt nur 15 Millionen DM seien, obwohl Sie sich sicher daran erinnern werden, daß es einmal nur 5 Millionen DM gewesen sind.Meine Damen und Herren, darauf wollte ich nur hinweisen. Lassen Sie mich abschließend folgendes sagen. Nach unserer Auffassung ist der Einzelplan 11 Arbeit und Sozialordnung — schon in der ersten Lesung in seinen positiven Seiten dargestellt worden. Seit dem 18. Februar, als wir hier darüber diskutierten, ist sehr vieles geschehen. Ich möchte besonders dem Arbeitsministerium sagen: Man sollte den Sozialbericht und das, was sonst noch vom Arbeitsministerium an positiven Leistungen im Sozialbereich erbracht wird, der Öffentlichkeit 'in einer umfassenden Darstellung zugänglich machen. Ich möchte Ihnen, Herr Arbeitsminister, bestätigen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2929
Seideldaß die bisherigen Darstellungen gefällig, ansprechend, sachlich und zum Nutzen der Betroffenen sind.
Vielleicht kommt jetzt wieder der läppische Antrag auf eine Kürzung der Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit. Herr Krampe, Sie wissen genau, daß Herr Katzer in seiner Konzeption für 1970 viel mehr dafür verlangt hatte, als Herrn Arbeitsminister Arendt bewilligt werden soll.
Kurz und gut: Für die sozialdemokratische Fraktion ist dieser Einzelplan unter der Überschrift: wir wollen soziale Gerechtigkeit, bessere soziale Übersicht, größere Chancen im Beruf, ein Einzelplan, dem wir mit frohem Herzen zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt für die Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Krampe hat in der heutigen Haushaltsdebatte wieder einmal ein Musterbeispiel für die Widersprüchlichkeit von seiten der Opposition geliefert. Herr Kollege Krampe, heute früh haben die Kollegen von der Opposition erklärt: Dieser Haushalt ist zu hoch, hier muß eingespart und dies und das gemacht werden.
Zu anderen Haushalten sagen Sie, es dürfe nicht eingespart werden. Ich erinnere nur an den Verteidigungshaushalt, an dem keine Einsparungen vorgenommen werden dürfen.
— Sie können gern fragen; dann werde ich noch einiges dazu sagen.
In diesem Haushalt ist nach Ihrer Auffassung zu viel eingespart worden, obwohl klar ist, wie ich noch an einigen Sachfragen darstellen werde, wie sehr sich dieser Haushalt und im Zusammenhang damit die schon in den letzten Monaten beschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen dieser Bundesregierung von früheren Maßnahmen unterscheiden.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, sozialpolitische Debatten sind ja nicht neu. Sie, Herr Kollege Krampe, haben gesagt, hier seien keine Prioritäten gesetzt worden. Ich hätte in den sozialpolitischen Debatten der letzten Wochen gern einmal von Ihnen gehört, welche Prioritäten Sie vorschlagen würden, abgesehen von kleinen Anträgen oder Verzögerungsmethoden im Ausschuß, z. B. seinerzeit bei der Beratung über den 2%igen Krankenversicherungsbeitrag oder jetzt bei der Frage der Vermögensbildung,
wo Sie plötzlich — ich werde noch darauf kommen
— sehr viel kritisieren und mit einer neuen Runde in bezug auf den Beteiligungslohn anfangen wollen, während die Dinge im Ausschuß auch von Ihren Kollegen auf Grund ihres Verständnisses für die Notwendigkeit und Richtigkeit mitgestaltet worden sind.
— Ich komme gleich noch zu den Kriegsopfern.
Ich habe von Debatte zu Debatte immer mehr den Eindruck gewonnen — —
— Sie können gern fragen. Dann antworte ich Ihnen schon jetzt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller ?
Herr Kollege Müller, bitte!
Herr Kollege Schmidt, können Sie dem Hohen Hause mitteilen, wie oft eigentlich von der Möglichkeit der tarifvertraglichen Vereinbarung vermögenswirksamer Leistungen vor der Bildung der jetzigen Koalition Gebrauch gemacht worden ist?
Das kann ich Ihnen sehr genau sagen, Herr Kollege Müller. Das war leider nur für eine Million Arbeitnehmer. Aber erfreulicherweise sind es in den letzten Wochen etwa 7 bis 8 Millionen Arbeitnehmer geworden, für die vertragliche Leistungen vereinbart worden sind.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Müller ?
Herr Kollege Schmidt, können Sie mir vielleicht sagen, warum das, obwohl es schon vier Jahre möglich war, vorher nicht erfolgt ist?
Das kann ich Ihnen auch sehr genau sagen: Weil seitens der Gewerkschaften — das möchte ich hier ganz offen sagen — in den letzten Jahren sehr viele Hemmungen bestanden, jetzt aber — auch mit dem Zulagensystem usw. — eben ein Durchbruch erzielt wurde.
Ich weiß noch sehr genau, daß die Meinung der Gewerkschaften bei der Verabschiedung des 312-DM-Gesetzes sehr unterschiedlich war. Das wissen wir alle. Heute ist sie Gott sei Dank positiv, und wir haben 7 bis 8 Millionen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Geiger?
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2930 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Herr Kollege Schmidt, wären Sie so liebenswürdig, dem Kollegen Müller auch zu sagen, daß wir jetzt erst in diesem Gesetz die sozialrechtlichen Nachteile beseitigt und damit den Gewerkschaften freie Bahn gegeben haben?
Herr Kollege Geiger, ich darf noch einmal das bestätigen, was ich eben schon sagte: Durch das Zulagesystem ist die Sache natürlich auch interessanter geworden.
— Ich stehe gern zu weiteren Zwischenfragen zur Verfügung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren! Ich habe seit der ersten sozialpolitischen Debatte im Rahmen der Regierungserklärung immer wieder feststellen müssen, daß seitens der Opposition zwar kritisiert wird, daß aber nicht ein einziges Mal eine Linie oder eine Konzeption aus der Opposition heraus — mit entsprechenden Prioritäten — den Vorstellungen der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen entgegengestellt wurde.
Das einzige, was wir in den letzten Wochen und Monaten erlebt haben, war, daß Sie uns plötzlich mit Anträgen überschwemmen, die Sie noch in der letzten Legislaturperiode und auch in Koalition mit uns abgelehnt haben.
Ich erinnere nur an zwei Beispiele. Ich denke zunächst an die Verheiratetenklausel — jetzt ein Antrag aus Ihren Reihen, früher immer abgeschmiert. Ein weiteres Beispiel ist die Begünstigung sozialer Berufe. Eine sehr gute Sache! Jetzt kommt es. Als es in den vergangenen Jahren von einer anderen Seite des Hauses, nämlich von uns, kam, wurde es abgeschmiert. Da werden also jetzt plötzlich die Schubladen aufgemacht, und es wird jetzt das, was früher andere beantragt haben, aus der Opposition heraus — vorher abgelehnt — plötzlich beantragt.Das zweite, was wir immer wieder festgestellt haben, ganz besonders in den letzten Wochen, ist, daß Sie, weil im Rahmen der Krankenversicherungsreform bei Ihnen offenbar für eigene Überlegungen zuwenig Zeit oder zuwenig Lust bestand, das abgeschrieben haben, was diese Koalition in den Regierungserklärungen bereits für die Angestellten als richtig und notwendig niedergelegt hat. Genau das haben Sie abgeschrieben, sogar mit dem Prozentsatz, der zwischen den Koalitionsfraktionen dazu beschlossen wurde. Machen wir uns doch gar nichts vor: abgeschrieben, nichts anderes!
— Herr Kollege Schwörer, vielleicht lesen Sie einmal die Regierungserklärung und die Debatte dazu nach!
Lesen Sie einmal nach, was der Kollege Katzer damals dazu gesagt hat, ob er nämlich da das Problem der Angestelltenversicherungspflichtgrenze mit Dynamisierung und mit Arbeitgeberanteil angesprochen hat oder ob das seitens der Regierungsfraktionen und der Regierung der Fall war! Jetzt, wo dieser Vorschlag, diese Gesetzesinitiative das Kabinett passiert hatte und entsprechend der Gesetzeslage in Richtung Bundesrat lief, haben Sie plötzlich das gleiche eingebracht.
Das wollte ich doch einmal ganz klar sagen.
Das dritte, was mir immer wieder auffällt, ist, daß man so allmählich den Eindruck gewinnt — einiges wurde ja jetzt bei dem Disput mit dem Kollegen Seidel schon korrigiert —, daß an den mittelfristigen Finanzplanungen der letzten Jahre nie CDU/CSU-Minister erheblich beteiligt waren, daß die Fortschreibungen, die auch uns natürlich noch als ein gewisses Gepäck mitgegeben sind, von Ihnen in der Vergangenheit nie beeinflußt worden sind. Jetzt auf einmal kritisieren Sie, das müsse viel, viel mehr sein, Herr Kollege Krampe, das müsse stärker gesteigert werden.Sie haben die Kriegsopferversorgung angesprochen. Lassen Sie mich gleich etwas dazu sagen, und zwar etwas, was in diesem Haus schon einmal diskutiert wurde! Ich muß es trotzdem noch einmal sagen.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Götz, wenn Sie immer wieder den zweiprozentigen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ansprechen, dann werden wir das wiederholen, was vorher manchesmal von den von Ihnen gestellten Ministern — —
— Gut. — Was hat der Kollege Krampe gesagt, ich hätte es mir nicht aufgeschrieben? Ich hatte es gar nicht vor, darüber zusprechen, wenn es nicht gekommen wäre.Ich stelle hier nur folgendes fest. Man sollte die Kriegsopferversorgungs-Entscheidung dieser Bundesregierung, dieser Regierungsfraktionen —eine Entscheidung, die Sie im Endeffekt ja mitgetragen haben, Herr Kollege Götz, aber nach langen Debatten und nach langen Diskursen — nicht wieder bezüglich einiger Dinge kritisieren, die wir daran noch korrigieren wollen. Man weiß — ich nehme nur drei Zahlen, die anderen hebe ich mir auf —, daß im vorigen Jahr die Vorschläge für die Weiterschreibung der Kriegsopferversorgungsmittel durch den damals zuständigen Minister, Herrn Katzer, mit 15 % Anhebung festgelegt wurden, daß sie durch den der Opposition jetzt angehörenden früheren Finanzminister auf 12 % zusammengestrichen wurden, vier Tage vor der Bundestagswahl dann auf 20 % plötzlich noch erhöht wurden. Das möchte ich nur noch einmal feststellen. Alle diese Vorstellungen hätten im Volumen nicht das erreicht, was durch die Dynamisierung und die jährliche Anpassung an
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2931
Fortschreibungsnotwendigkeiten für die Kriegsopferversorgung jetzt .einfach durch unsere Beschlüsse festgelegt warden ist.
Die einzelnen Zahlen will ich mir schenken; ich bin gar nicht so sehr für die Wiederholung. Aber wenn Sie immer wieder auf Dingen herumreiten, die nicht ganz den Tatsachen entsprechen — Herr Kollege Götz, ich meine Sie jetzt nicht persönlich —, wenn das immer wieder hier kommt, muß man die Zusammenhänge ebenso oft deutlich machen, damit die Öffentlichkeit sie richtig sieht.Lassen Sie mich noch wenige Sachbemerkungen zu diesem Haushalt, zu diesem Ressort machen. Wir Freien Demokraten sind der Meinung, daß nicht nur die finanzielle Gestaltung in diesem Ressort im Rahmen des Möglichen gut ist, sondern daß sich einigePrioritäten einfach aus dem ergeben haben, was an Gesetzesmaßnahmen bereits verabschiedet oder in der Erarbeitung ist; auch das hat sich in diesem Haushalt positiv ausgewirkt. Von der Kriegsopferversorgung habe ich bereits gesprochen.Als zweites lassen Sie mich noch wenige Sätze zum Vermögensbildungsgesetz sagen. Ich möchte— ich glaube, der KollegeSeidel ist mir nicht böse— eine Korrektur hier anbringen, die wir im Ausschuß vorgenommen haben, die er vielleicht noch nicht wußte. Ich will das gleich hier korrigieren, sonst macht es die Opposition nachher.
Wir haben den Betrag von 936 Mark beim dritten und vierten Kind gemeinsam dahingehend geändert, daß vom dritten und vierten Kind an eine 40%ige Zulage gewährt wird, aber auch nur auf 624 DM. Ich möchte das hier gleich klarstellen, damit nicht versucht wird, daraus in irgendeiner Form etwas herzuleiten.Es wurde von sozialer Gerechtigkeit bei der Vermögensbildung gesprochen bzw. es wurde kritisiert „Mehr soziale Gerechtigkeit". Was ist wohl sozial gerechter als das von dieser Bundesregierung, von den Regierungsfraktionen in das Gesetz hineingetragene Zulagensystem mit Abbau all der vorher vorhandenen Unzulänglichkeiten für die Rentenberechnung und dergleichen mehr?
Ich glaube, hier ist ein sozial gerechterer Pflock eingeschlagen worden. Das sollte man dann auch anerkennen — zumal Sie ja dem Gesetz am Ende zugestimmt haben — und nicht von sozialer Ungerechtigkeit in diesem Haushalt sprechen.Lassen Sie mich zum Schluß — ,auch ich will mich kurz fassen; wir wollen ja noch andere Haushalte verabschieden — noch einen Sachbereich kurz streifen, der vielleicht kein großes finanzielles Volumen im Haushalt beinhaltet, der aber für uns Freie Demokraten sachlich von großer Bedeutung ist. Das sind die Mittel, die eingesetzt sind für das Sozialgesetzbuch, für das Arbeitsgesetzbuch, für dieDurchforstung und damit das Klarermachen unserer sozialen Gesetzgebung. Ich sehe das auch als eine wesentliche Maßnahme in Richtung einer größeren sozialen Gerechtigkeit an. Dann weiß nämlich der ,einzelne viel besser, wie er in den Dingen dran ist, als das heute zum Teil der Fall ist. Denken Sie nur an die Probleme, die wir mit Rentennachberechnungen und dergleichen mehr haben, weil einfach die Gesetze so verklammert, so wenig überschaubar sind. Wenn wir hier die Sozialgesetzgebung durchforsten und dafür Mittel einsetzen, ist das, glaube ich, auch ein sehr wichtiger Markstein für eine gerechtere soziale Gestaltung unserer gesamten Gesellschaftsordnung.Auf Grund all dieser Bemerkungen, auf Grund der sachlichen und sowohl quantitativ als auch qualitativ guten Streuung der Mittel und auf Grund der Prioritätensetzung in diesem Haushalt werden wir Freien Demokraten diesem Haushalt unsere Stimme geben. Wir stehen voll hinter diesem Haushalt. Wir danken dem Bundesarbeitsminister und seinen Herren für die in den letzten Monaten geleistete Arbeit. Wir danken ihm auch dafür, daß es möglich war, im Haushalt in gemeinsamer Arbeit, in sozial-liberaler Überlegung schon manche Weichen für die Zukunft zu stellen.Meine Damen und Herren von der Opposition, wir können es eigentlich nicht verstehen, daß Sie sich bei diesem Haushalt der Stimme enthalten wollen. Aber das ist Ihre Sache. Sie müssen es sich überlegen ,ob das gerade bei diesem Haushalt ein verantwortliches Handeln von Ihrer Seite darstellt, nachdem Sie keine anderen Prioritäten gesetzt haben, nachdem Sie keine echten sozialen Ungerechtigkeiten nachweisen konnten, wie Sie es gern getan hätten, und nachdem sich, wie Sie ja selbst behaupten, der größte Teil natürlich auch aus dem Gewachsenen der Vergangenheit weiterentwickelt hat. Wir werden dem Haushalt jedenfalls zustimmen. Ihre Entscheidung müssen Sie sich selbst überlegen.
Meine Damen und Herren, ein Wort zur Geschäftslage. Jetzt wird Herr Bundesminister Arendt für 15 Minuten sprechen. Zunächst liegen noch keine weiteren Wortmeldungen vor. Es sieht also fast so aus, als gelänge es, über diesen Einzelplan gegen 20 Uhr abzustimmen. Es folgt dann der Einzelplan 15.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Arendt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei den Haushaltsdebatten der letzten Jahre waren die herausragenden Kennzeichen die große Sorge über das Ungleichgewicht des Gesamtetats und das Bemühen um die Stabilität der Bundesfinanzen. Dabei stand der Einzelplan des Bundesarbeitsministeriums im Mittelpunkt der Diskussion.
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2932 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Bundesminister ArendtDas Haushaltssicherungsgesetz aus dem Jahre 1966, das Finanzplanungsgesetz aus dem Jahre 1967 und das Finanzänderungsgesetz für die Jahre 1968 bis 1971 fixierten nicht nur finanzpolitisch wichtige Stationen; diese Gesetze sind zum Teil sozialpolitisch einschneidende Maßnahmen gewesen. Sie kennzeichneten einen Rückzug des Bundes aus der Finanzierung sozialer Leistungen. Das wird an dem gesunkenen Anteil des Einzelplans 11 am Gesamthaushalt des Bundes in der alten Finanzplanung deutlich.Meine Damen und Herren, diese Sorgen sind gebannt. In dem von mir zu vertretenden Haushalt haben wir den notwendigen Ausgleich wiederhergestellt. Im Jahre 1970 entfallen nahezu 21 % der Gesamtausgaben des Bundes auf den Einzelplan 11. Damit liegt er nicht unerheblich über dem Plafond in der alten Finanzplanung; darin war nur ein Anteil von 19,7 % vorgesehen. Auch der Zuwachs des Einzelplanes gegenüber 1969 liegt mit 8,2 % deutlich über der Zuwachsrate in Höhe von 1% in der alten Finanzplanung. Im Jahre 1972 wird der Einzelplan 11 nach der neuen Finanzplanung der größte Einzelhaushalt des Bundes — noch vor dem Verteidigungsetat — sein. Hier wird deutlich, daß es dieser Bundesregierung ernst damit ist, wenn sie entsprechend der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers mehr soziale Gerechtigkeit ankündigt.Mir liegt daran, die finanziellen Größenordnungen im Sozialhaushalt in zwei Schwerpunkte zu gliedern.Erstens: Der Einzelplan 11 wird zu über 95 % » durch gesetzlich festgelegte Ausgaben bestimmt. Sie sind überwiegend Kriegsfolgelasten. Fast zwei Drittel der Gesamtausgaben in Höhe von 18,7 Milliarden DM haben ihren Ursprung und ihre sozialpolitische Rechtfertigung in den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges. Das trifft für einen wesentlichen Teil der Bundeszuschüsse an die Rentenversicherungen und für die Aufwendungen für die Kriegsopfer zu. Allein diese beiden Blöcke machen über 10 Milliarden DM aus.Zweitens: Neben den gesetzlich festgelegten Ausgaben enthält dieser Haushalt vergleichsweise bescheidene Mittel, die jedoch wegen ihrer Zielsetzung keine geringere Aufmerksamkeit verdienen.Mit der Regierungserklärung hat sich die Bundesregierung auf das Ziel einer größeren sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Der erste Schritt auf diesem Wege — überhaupt das erste Gesetz, das die neue Bundesregierung dem Hohen Hause vorgelegt hat — war das Erste Anpassungsgesetz in der Kriegsopferversorgung. Zum erstenmal seit 1967 ist die Versorgung der Kriegsopfer linear und strukturell vom 1. Januar 1970 an wesentlich verbessert worden. Der Haushalt 1970 enthält die für diese Verbesserung notwendigen Mittel, von denen der überwiegende Teil für die Verbesserung der Witwenrenten benötigt wird. Und wenn Herr Kollege Krampe davon spricht, daß eine Anrechnung der Grundrechte auf den Schadensausgleich erfolgt, dann ist das sicherlich keine neue Entdeckung; denn das gibt es schon seit dem Jahre 1964.
Insgesamt stellte der diesjährige Haushalt für die Kriegsopferversorgung 6,7 Milliarden DM bereit. Hinzu treten die Leistungen für die Kriegsopferfürsorge und Fahrgelderstattungen in Höhe von 467 Millionen DM, die bisher im Einzelplan des Bundesinnenministers etatisiert waren.Das erste Anpassungsgesetz stellte für die Versorgung der Kriegsopfer außerdem eine entscheidende Weiche. § 56 des Bundesversorgungsgesetzes bestimmt die jährliche Anpassung der Kriegsopfer-renten. Die Leistungen der Kriegsopferversorgung werden wie die Bestandsrenten in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der Entwicklung der Löhne und Gehälter erhöht. Diese Dynamisierung gewährleistet für die Zukunft, daß die Kriegsopfer den Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung behalten. Sie brauchen nicht — wie in der Vergangenheit — um die Erhöhung und Anpassung ihrer Renten mit Schweigemärschen oder anderen spektakulären Aktionen zu demonstrieren. Gleichzeitig ermöglicht das Rentenkapitalisierungsgesetz erstmals seit langem wieder ausreichende Mittel für Kapitalabfindungen in der Kriegsopferversorgung bei größtmöglicher Schonung des Bundeshaushalts.Über die großen Blöcke gesetzlich festgelegter Ausgaben hinaus bleibt im Einzelplan 11 für das Haushaltsjahr 1970 ein relativ begrenzter Gestaltungsraum frei. Aber es wäre falsch, die sozialpolitische Wirksamkeit einer Vielzahl von Vorhaben, die innerhalb dieses Freiraums finanziert werden sollen, am Maßstab der Milliardenzahlen im gesetzlich fixierten Teil des Sozialhaushalts zu messen. Lassen Sie mich in aller Kürze einige Programme nennen:Erstens. Im April dieses Jahres hat die Bundesregierung ein Aktionsprogramm zur Förderung der Rehabilitation der Behinderten vorgelegt. Dieses Programm wendet sich an 4 Millionen Behinderte in der Bundesrepublik, unter ihnen 1,6 Millionen Männer und Frauen, die vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und vorwiegend von Renten und anderen Sozialleistungen leben. Abstimmungsgespräche mit den Ländern und der Arbeitsgemeinschaft für Rehabilitation in den letzten Monaten lassen auf einen Bedarf von 14 000 Rehabilitationsplätzen allein für Erwachene schließen. Davon sind nur 7000 vorhanden und zum Teil noch erheblich modernisierungsbedürftig. Natürlich schmerzt es, wenn von den angeforderten 20 Millionen DM 5 Millionen DM unter die konjunkturbedingten Haushaltskürzungen gefallen sind. Ich möchte aber dennoch dem Haushaltsausschuß recht herzlich Dank sagen, daß er der Erhöhung der Mittel für die Rehabilitation zugestimmt hat.Zweitens sind in diesem Haushalt neu Ansätze für den Bundesausschuß für Berufsbildungsforschung und für das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung in Berlin enthalten. Mit diesen Institutionen haben wir künftig Instrumente für eine fortschrittliche Bildungspolitik in der Hand, die uns helfen werden, die vielschichtigen Probleme des modernen Arbeitslebens zu lösen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2933
Bundesminister ArendtDrittens. Ähnlich bedeutsam sind die erstmalig bereitgestellten Mittel zur Erforschung der sozialen Auswirkungen des technischen Fortschritts und des Strukturwandels. Auch diese Mittel, die wir gemeinsam mit dem „Arbeitskreis Automation" einsetzen werden, sind für die weitere Entwicklung außerordentlich wichtig. Die Bundesregierung wird zu diesem Problem in Kürze weitere konstruktive Vorstellungen entwickeln.Viertens wird dieser Haushalt auch die finanziellen Mittel bereitstellen, um Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz wirksam auszubauen. Jährlich verursachen über zwei Millionen gemeldete Arbeitsunfälle und die Verkehrsunfälle Kasten von 20 Milliarden DM.Diese Zahlen zeigen ganz eindeutig, daß wir auf diesem Sektor mehr tun müssen. Eine Voraussetzung dafür ist der Ausbau des Bundesinstituts für Arbeitsschutz zu einer Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitnehmerschutz. Da geht es nicht nur um die Sitzverlegung. Wir beabsichtigen eine grundsätzliche Neuorganisation, bessere personelle und sachliche Ausstattung und natürlich die Verlegung des Instituts an einen neuen Standort, der mit der Nähe zur Praxis und zur Wissenschaft optimale Bedingungen bietet.Fünftens sind über den Ergänzungshaushalt die Ansätze nachgeschoben, die uns die Bildung von drei sozialpolitisch besonders wichtigen Kommissionen ermöglichen: die Kommission zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung, die Kommission zur Vorbereitung eines Sozialgesetzbuches und die Kommission für die Kodifikation und Modernisierung des Arbeitsrechts.Wenn Sie fragen, was „größere soziale Gerechtigkeit" im einzelnen bedeutet, dann möchte ich Ihnen das nur an einem Beispiel erläutern. Wenn es uns gelingt, für jeden Versicherten eine Versichertennummer auszugeben und den jährlichen Kontoauszug Wirklichkeit werden zu lassen, bedeutet das, daß die Zahl der Sozialgerichtsprozesse, bei denen Menschen jahrelang auf die Entscheidung über ihre Ansprüche warten müssen, der Vergangenheit angehören.
Der Versicherte wird regelmäßig Lücken in seiner Versicherungszeit feststellen können, und er wird noch während seines Erwerbslebens die Voraussetzungen für das Schließen dieser Lücken schaffen können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar allgemeine Bemerkungen machen. Wenn Sie einen Blick auf das Gesamtgeschehen im sozialen Bereich der Bundesrepublik werfen, ergibt sich, daß Sie mit dem Einzelplan 11 aus diesem Panorama etwa einen Ausschnitt von einem Sechstel sehen.Die Totaldarstellung der Sozialfinanzen gibt das Sozialbudget in neuer Form und mit verbesserter Aussagefähigkeit wieder. Dieses Hohe Haus hat das Sozialbudget und den Sozialbericht im Mai 1970 diskutiert. Ich erlaube mir, die wesentlichsten Ergebnisse des Sozialbudgets an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen, insbesondere weil sie auch von der Opposition nicht entkräftet werden konnten.Dieses Sozialbudget kommt zu dem Ergebnis, daß erstens die sozialen Leistungen nicht das wirtschaftliche Wachstum beeinträchtigen, zweitens die sozialen Leistungen an die Bürger der Bundesrepublik voll gesichert sind, drittens der sozialpolitische Gestaltungsraum größer ist als bisher angenommen und viertens weiteres Wirtschaftswachstum einen Ausbau des Sozialsystems zulassen wird.Ich hätte mich sehr gewundert, wenn Herr Krampe nicht auch bei dieser Gelegenheit die Frage nach der Priorität gestellt hätte. Solche Fragen, meine Damen und Herren von der Opposition, klingen so, als habe Ihre Fraktion die Sozialpolitik in Erbpacht genommen. Solche Fragen klingen, als halte diese Bundesregierung sich widerrechtlich im Bereich der Sozialpolitik auf. Sie wissen, wir alle wissen, wie groß die Macht der Gewohnheit ist. Ich kann gut verstehen, daß eine Fraktion nach 20 Jahren ununterbrochener Verwaltung der Sozialpolitik länger als einige Monate braucht, sich an den neuen Zustand zu gewöhnen. Aber Sie werden sich daran gewöhnen müssen, meine Damen und Herren!
Manchmal allerdings erinnern Sie mich an den Boxer, der nach Amerika fuhr. Als er in New York ankam, wurde er gefragt, was er von Hollywood halte. Da sagte er: Den kenne ich nicht, aber ich denke, ich werde ihn in der zweiten Runde k.o. schlagen. So ungefähr machen Sie es mit der Priorität.
— Herr Kollege Russe, wer zwischen Berufsbildung und Rehabilitation, wer zwischen Unfallforschung und Vermögensstatistik, wer zwischen Weiterentwicklung der Krankenversicherung und Öffnung der Rentenversicherung nach einem Prioritätenkalender sucht, hat das sozialpolitische Grundproblem der Bundesrepublik im Jahre 1970 mißverstanden! Gesellschaftliche und insbesondere sozialpolitische Tatbestände haben untereinander einen festen Zusammenhang. Handlungen wie Unterlassungen in einzelnen Bereichen wirken in anderen Bereichen weiter. Deshalb richtet diese Bundesregierung ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf bestimmte Sachgebiete, sondern sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Ganze. Und dieses Ganze, meine Damen und Herren, heißt für uns: größere und mehr soziale Gerechtigkeit!
Meine Damen und Herren! Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Umdruck 41 t). Ich darf bitten, daß Sie zur Abstimmung Platz nehmen. Wer diesem Umdruck 41 seine Zu-*) Siehe Anlage 5
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2934 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
Präsident von Hasselstimmung gibt, den bitte ich um das Handzeichen.— Ich bitte um die Gegenprobe! — Enthaltungen?— Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen alsdann zur Abstimmung über den Einzelplan 11 des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Wer diesem Einzelplan seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. -- Enthaltungen? — Gegen einzelne Stirn-men bei zahlreichen Enthaltungen angenommen.Ich rufe auf Einzelplan 15Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit— Drucksachen VI/834, VI/854 —Berichterstatter: Abgeordneter Baier, Abgeordneter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-HohensteinZunächst einmal darf ich fragen, ob die Berichterstatter das Wort wünschen. — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich den Berichterstattern danken.Dann darf ich zunächst einmal die Fraktion der CDU/CSU fragen, ob der Umdruck 42 *) durch den Umdruck 43 **) erledigt ist.
— Ja, weil in beiden der gleiche Punkt behandelt wird; beide bleiben also bestehen.Das Wort hat nun Herr Abgeordneter Baier für die CDU/CSU-Fraktion. 10 Minuten sind angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit zeigt sich erstmals in diesem Haushaltsjahr als ein Ministerium, das im Zuge der letzten Regierungsbildung aus zwei Ministerien zusammengelegt worden ist. Dieses Ministerium ist mit sehr großen Erwartungen in der Offentlichkeit angetreten, hat vielerlei Hoffnungen geweckt und auch viele Erklärungen und Versprechungen abgegeben. Wenn ich zum Etat des Hauses selbst etwas sage, dann muß ich feststellen: die Zusammenlegung von zwei Häusern hat keinerlei Personaleinsparungen gebracht. Im Gegenteil, es sind mehr Beamte als vorher in den beiden getrennten Ministerien, und statt eines Ministers haben wir einen Parlamentarischen Staatssekretär mehr.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter! Darf ich Sie bitten, meine Damen und Herren, daß Sie entweder die Besprechungen draußen fortsetzen oder daß Sie hier etwas mehr
*) Siehe Anlage 6 **) Siehe Anlage 7
Ruhe wahren. Die Unruhe erschwert den Fortgang der Verhandlungen; deshalb glaube ich in unser aller Sinne zu sprechen, wenn ich bitte, ein wenig mehr Ruhe zu halten.
Gleichzeitig, meine Damen und Herren, haben wir gerade in diesem Hause nach der Regierungsbildung viele unerfreuliche, am Rande der Beamtenrechtslegalität liegende Personalvorfälle erlebt.Nun lassen Sie mich zum politischen Teil dieses Ministeriums, und zwar zu dem Teil der Familie, einiges sagen. Sie haben in diesem Haushaltsplan, als Sie ihn einbrachten, 95 Millionen DM zur Verbesserung des Familienlastenausgleichs vorgesehen. Ich hatte seinerzeit bei der Einbringung bereits darauf hingewiesen, daß dieser Betrag ungenügend ist, ungenügend im Hinblick auf jene gemeinsame Bundestagsentschließung, die wir am 23. März 1969 einstimmig gefaßt hatten, wonach das Kindergeld im Jahre 1970 anzuheben ist, aber auch ungenügend, meine Damen und Herren, unter Berücksichtigung der doch ständigen Erhöhungen der Lebenshaltungskosten und schließlich auch mit Rücksicht darauf, daß in allen anderen Bereichen, auch im Bereich der Sozialhilfe, Erhöhungen vorgenommen worden sind, während sich hier nichts getan hat.
Erst kürzlich, am 8. April 1970, hat sich dieses Ministerium entschlossen, einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Kindergeldes dem Bundesrat zuzuleiten, mit einem geschätzten Gesamtvolumen für 1970 von 140 Millionen DM, wobei darauf hingewiesen wurde, die zusätzliche Deckung stecke auch noch im Haushalt. Nun ist eines interessant. In diesen Tagen ist dem Haushaltsausschuß eine Vorlage betreffend Hilfsmaßnahmen für das behinderte Kind zugegangen. Wir sagen dazu ein volles Ja.
— Aber Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen will, Herr Hermsdorf! Seien Sie doch nicht so aufgeregt. — Es ist interessant, daß die Mittel für diese Maßnahme, die wir alle unterstützen, in Höhe von 50 Millionen DM nun wiederum aus dem Etat des Kindergeldes genommen werden sollen mit dem Hinweis, hier seien noch genügend Mittel auch für diese Maßnahme vorhanden.Als wir im Haushaltsausschuß bei der Beratung dieses Etats einen Antrag stellten, statt 95 Millionen DM einen Betrag von 200 Millionen DM für die Verbesserung des Kindergeldes im Jahre 1970 auszubringen, haben die Regierungsparteien das abgelehnt mit dem Hinweis, das gehe nicht. Nun, was soll Idas? Hier geht es nicht, und hier wird es Stück für Stück gemacht. Ich muß Sie fragen, Frau Minister Strobel, denn für diese Vorlage sind Sie verantwortlich: Sind diese Zahlen über die Höhe des Kindergeldes nach der politischen Opportunität manipulierbar, oder was ist der Hintergrund, daß Sie heute über die Höhe des notwendigen Kindergeldes diese und morgen jene Auffassung vertreten?
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2935
BaierZum Antrag der Bundesregierung auf Erhöhung des Kindergeldes frage ich mich, wann er endlich in diesem Hause beraten wird. Jetzt liegt er beim Bundesrat. Es sieht so aus, als wenn erst im Herbst, also ein Jahr, nachdem diese Regierung ihr Amt angetreten hat, dieser Antrag hier überhaupt zur Beratung kommen wird. Auch das dm Hinblick auf jene gemeinsame Entschließung von CDU/CSU und SPD im Jahre 1969. Hier wurde bei dieser notwendigen Maßnahme ein Jahr vertan.
— 1964! Das werden Sie gleich noch hören. Um so dringender ist es, daß endlich etwas geschieht, und das haben ja auch beide Fraktionen in der Großen Koalition beschlossen, verehrter Herr Kollege! Das ist keine Entschuldigung dafür, daß man mit dieser dringenden und notwendigen Anhebung noch ein Jahr zuwartet.
Interessant dabei ist noch, daß die Anhebung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld der eine Bestandteil dieser vorgesehenen Novelle und daß der andere die Erhöhung nur für das dritte Kind um 10 DM ist. Frau Minister, es ist unverständlich, warum Sie Familien mit vier und mehr Kindern von dieser Anpassung ausschließen wollen, obwohl doch diese von der Entwicklung nicht weniger betroffen sind als jene anderen. Ich glaube, es widerspricht auch 'der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Vernunft. Sie hätten doch besser noch einmal in Ihrem Hause in dem Familienbericht nachgeblättert, in dem gerade steht, ,daß Familien mit vier und mehr Kindern, die Sie hier ausschließen, gewährleisten, daß der organische Altersaufbau und damit die künftige Altersversorgung in unserer Gesellschaft gesichert ist. Deshalb müssen wir die Frage stellen, ob die Konzeption, die Sie hier entwickeln, eine Abkehr von der Bereitschaft zur Förderung der größeren Familie sein soll, zumal wir 'in diese Richtung weisende Zungenschläge aus Ihrem Hause des öfteren vom neuen Leiter Ihrer Abteilung „Familie" gehört haben.
Die 'gleiche Tendenz liegt auch in der Konzeption des Wohnungsbaus, wo wie ,die Vernachlässigung der Familienheimförderung durch Wohnungsbauminister Lauritzen erleben. Ich darf Ihnen sagen, gegen beide Dinge werden wir uns energisch zur Wehr setzen.Deshalb haben wir im Herbst des letzten Jahres einen Vorschlag erarbeitet, zu dem wir weiter stehen. Wir haben kein Jahr gebraucht, Herr Kollege Tamblé, um einen Initiativantrag zur Verbesserung des Kindergeldes einzubringen. Das gleiche hätten Sie ja tun können, und wenn Sie es nicht tun, hätten Sie sich ja, wenn Sie gewollt hätten, diesem Antrag anschließen können; idas wäre dann wahrscheinlich noch leichter gewesen. Wir haben damals eine Erhöhung um 10 DM vom dritten Kind an vorgeschlagen, und wir werden Ihnen in dem Stufenplan, wie wir sagten, weitere Anträge bezüglich des Wegfalls der Einkommensgrenze und der Anhebung des Kindergeldes für das zweite Kind 'bringen.Wenn Sie — wie immer — nach den Mitteln fragen, müssen wir darauf hinweisen, daß wir erheblich mehr Steuereingänge haben als vorgesehen. Schließlich meinen 'wir in der CDU/CSU auch, daß die Familienpolitik in dieser Zeiteinen Vorrang vor Steuersenkungsplänen haben sollte.
Doch hier hat die Regierung Brandt andere, nach unserer Meinung falsche Prioritäten gesetzt. Das ist der Grund, aus dem wir .diese Form der Familienpolitik nicht mitmachen, nicht unterstützen können.Es muß endlich nach all den vielen Worten gehandelt werden. Was Ihr Ministerium, Frau Minister Strobel, hier geboten hat, ist zu wenig. Sie haben in .der Familienpolitik die falsche Konzeption gewählt. Deshalb werden wir Ihren Haushalt ablehnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rollmann. Es sind 10 Minuten Redezeit angemeldet.
— Wie lange? Mir ist gesagt worden: 10 Minuten, aber ich bin bereit 15 Minuten zuzugeben. Allerdings darf ich Sie, Herr Kollege Rollmann, darauf aufmerksam machen, daß es eine freie Rede sein muß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beratungen des Bundeshaushaltes 1970 geben uns erstmalig in dieser Legislaturperiode und nach Bildung der neuen Bundesregierung die Gelegenheit,
auch über Fragen der Jugendpolitik in diesem Hohen Hause zu sprechen. Wenn man sich an die Bedeutung erinnert, die die Fragen der jungen Generation im Bundestagswahlkampf der beiden Regierungsparteien eingenommen haben, mußte schon das enttäuschen, was der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 28. Oktober als jugendpolitisches Programm dieser Regierung vorgetragen hat. Wenn man diese Regierungserklärung nun noch mit dem vergleicht, was in den vergangenen Wochen und Monaten dieser Regierung an jugendpolitischen Leistungen sichtbar geworden ist, dann ist die Diskrepanz zwischen Worten und Taten in der Jugendpolitik in der Tat erschreckend.
Die sichtbarsten jugendpolitischen Leistungen dieser 'Regierung sind zweierlei: die Umbenennung des Bundesministeriums für Familie und Jugend in ein Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit und dann die Versetzung von der CDU angehörenden Beamten dieses Ministeriums in den
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Rollmanneinstweiligen Ruhestand und in andere, mindere Aufgabenbereiche in einem Umfang, wie es sonst nur im Bundeskanzleramt der Fall war.
Und dabei sind doch auch die anderen neuen Minister mit ,den der CDU angehörenden Beamten ihrer Häuser nicht gerade zimperlich umgegangen. Sie, Frau Minister Strobel, und Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal haben sich in Ihrer rigorosen Personalpolitik dem Chef des Bundeskanzlers, Minister Ehmke, durchaus als ebenbürtig erwiesen.
Ich frage Sie und die deutsche Offentlichkeit: Was haben diese bewährten, qualifizierten und erfahrenen Beamten Ihres Ministeriums eigentlich getan, außer daß sie der CDU angehörten, daß Sie sie in dieser Weise gemaßregelt haben? Innerhalb weniger Monate hat es die jetzige Führung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit fertiggebracht, das ganze Haus von oben bis unten mit derselben politischen Couleur zu durchfärben.
— Meine Damen und Herren, ich wußte, daß Sie deswegen Bravo rufen würden. Das sind in der Tat die bemerkenswertesten Leistungen, die in den vergangenen Monaten von der Leitung dieses neuen Ministeriums vollbracht worden sind.Ich komme auf die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 28. Oktober 1969 zurück. Was war ihr jugendpolitischer Gehalt? Neben in der Tat sehr begrüßenswerten, allgemein gehaltenen Aussagen ließen Sie an konkreten Vorhaben nur folgendes erkennen: die Herabsetzung des Wahlalters. Nun, das war nicht neu; das war schon vorher Allgemeingut der demokratischen Parteien und Jugendverbände in diesem Land.
Wir waren die ersten, die in dieser Legislaturperiode einen konkreten Gesetzesantrag auf Herabsetzung des Wahlalters eingebracht haben.
Die Überprüfung der Volljährigkeitsgrenze ist nicht neu, und wir werden in dieser Legislaturperiode dazu kommen müssen, wiederum in Übereinstimmung aller Parteien hier etwas zu tun. Zur Erhöhung des Kindergeldes hat bereits mein Kollege Baier gesprochen; auch da ist die Opposition der Regierung mit einem eigenen Gesetzentwurf zuvorgekommen.
'Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten 'Schmidt ?
Herr Kollege Rollmann, würden Sie mir bestätigen, daß der Antrag auf Herabsetzung des Wahlalters, ,den die FDP vor zwei Jahren gestellt hat, im Innenausschuß in der
Hauptsache deshalb nicht beraten wurde, weil nicht Sie persönlich, aber die Kollegen Ihrer Fraktion eine ,solche Beratung verhindert haben?
Verehrter Herr Kollege, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie von mir vernehmen können, daß ich davon gesprochen habe, daß wir diejenigen waren, die in dieser Legislaturperiode als erste einen entsprechenden Antrag eingebracht haben.
Sie haben Ihren damaligen Antrag auf Herabsetzung deis Wahlalters in der fünften Legislaturperiode so spät eingebracht, daß die Kandidatenaufstellung in den einzelnen Wahlkreisen bereits teilweise vonstatten gegangen war. Aus diesem Grunde konnte Ihr Gesetzentwurf in der fünften Legislaturperiode leider nicht mehr verabschiedet werden.
Weiterer Ausbau der Ausbildungsförderung als ein Programmpunkt dieser Regierung. Wir warten seit dem 1. April darauf, Frau Minister Strobel, daß die Bundesregierung dem Ersuchen des Deutschen Bundestages nachkommt und eine Gesetzesvorlage einbringt zur „Neuregelung der Studentenförderung an 'Hochschulen, Ingenieurschulen, Akademien und höheren Fachschulen, die insbesondere gegenüber den bisherigen Regelungen die notwendigen strukturellen und finanziellen Verbesserungen enthält". So das Ersuchen des Deutschen Bundestages vom Sommer des vergangenen Jahres.Reform der Jugendgesetze 'und des Bundesjugendplanes unter Einschaltung der Jugend selbst. Als ob nicht schon immer alle Jugendgesetze in diesem Hause und der Bundesjugendplan unter Einschaltung der jungen Generation gestaltet und entwickelt worden sind.Schließlich das Europäische Jugendwerk als eine Forderung deis Regierungsprogramms. Ebenfalls ein alter Wunsch der demokratischen Parteien und Jugendverbände dieses Landes. Hier möchte ich ausdrücklich anerkennen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Westphal, mit welcher Energie Sie sich in den vergangenen Monaten der Verwirklichung dieser Forderung gewidmet haben.
Ich glaube, wir sind uns ein diesem Hohen Hause einig, daß dieser Planeines weitgespannten Europäischen Jugendwerkes nicht durch das Vorhaben der Europäischen Gemeinschaften auf Gründung eines auf die Sechsergemeinschaft beschränkten Europäischen Jugendrates durchkreuzt werden darf.Damit, meine Damen und Herren, ist der jugendpolitische Teil des doch sonst so ausführlichen und detaillierten Regierungsprogramms bereits erschöpft.
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RollmannWährend alle anderen Bildungsbereiche in der Regierungserklärung wenigstens erwähnt werden, äußert sich die Bundesregierung zur außerschulischen Jugendbildung mit keinem Wort, obwohl diese mit der wachsenden Freizeit immer wichtiger wird. Das Problem, wie alle Jugendämter in Stadt und Land endlich in die Lage versetzt werden können, besser und gleichmäßiger als bisher die ihnen nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz obliegenden Aufgaben zu erfüllen, existiert für die Bundesregierung offensichtlich nicht.
Was die Bundesregierung unter der Reform der Jugendgesetzgebung versteht — die Schaffung eines neuen Jugendhilferechts und die Neukonzipierung des Jugendschutzes —, haben wir erst im Laufe der Zeit den Reden von Frau Strobel und Herrn Westphal entnehmen müssen. Auch wenn die Bundesregierung fortfahren will, die Jugend selbst in die Reform der Jugendgesetze einzuschalten — was unsere volle Zustimmung findet —, so enthebt dies Sie, Frau Bundesminister Strobel, doch wohl nicht der Verpflichtung, wenigstens über die Richtung dieser Reformen etwas zu sagen.Was planen Sie, Frau Bundesminister Strobel, z. B. im Jugendschutz? Nur die Reform oder auch den Abbau und die Beseitigung? Wollen Sie schon demnächst die Initiative ergreifen, oder wollen Sie erst einmal abwarten, welche Ergebnisse bei dem wissenschaftlichen Forschungsauftrag zum Jugendschutz herauskommen, den Ihr Haus gerade in diesen Wochen vergibt? Wir alle sind uns nicht mehr sicher, ob die überkommenen Maßstäbe des Jugendschutzes noch stimmen. Darum treten wir gemeinsam mit den anderen Fraktionen dieses Hauses für die Erteilung dieses Forschungsauftrages ein. Wir werden uns aber dagegen zur Wehr setzen, daß der Jugendschutz in diesem Land minimalisiert wird, solange nicht die Ergebnisse dieses Forschungsauftrages vorliegen
und uns in eine entsprechende Richtung weisen. Zu dieser Frage erwarten wir auch hier und heute Ihre Erklärung, Frau Minister Strobel.Von der Jugendpolitik als einer tragenden Säule der Gesellschaftspolitik, wie sie sich der Deutsche Bundesjugendring gewünscht hat, ist weder in den Worten und noch weniger in den Leistungen dieser Regierung etwas zu spüren.Meine Damen und Herren, was sich jenseits der Namensgebung des neuen Ministeriums und seiner Personalpolitik gleichsam als erste jugendpolitische Tat abzeichnet, ist die vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit geplante Errichtung einer „Deutschen Gesellschaft für Jugend und Familie", in der, wie man hört, sehr verschiedenartige und heute noch selbständige Institutionen der Jugend- und der Familienarbeit zusammengefaßt werden sollen. Früher einmal haben die deutschen Jugendverbände schon in der Konstruktion des Internationalen Jugendaustausch- und Besucherdienstes die Gefahr ihrer Gängelung gesehen. Um wieviel mehr müssen alle, die in diesem Lande auch die Zukunft der freien Sozialarbeit gesichert wissen wollen, angesichts dieses monströsen Vorhabens von Sorge und Unruhe erfüllt werden! Wenn diese „Deutsche Gesellschaft für Jugend und Familie", dieser „Superverein", wie man ihn in den Kreisen des Bundesjugendrings genannt hat, Wirklichkeit werden sollte, dann ist das der Anfang vom Ende der freien Sozialarbeit in diesem Land.
Sie werden dafür niemals die Zustimmung der CDU/ CSU-Fraktion finden.Uns allen klingen noch die freundlichen Worte im Ohr, die der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober für die Sozialarbeit der freien Träger und insbesondere der Kirchen gefunden hat. Wie ist das mit dem zu vereinbaren, Frau Minister Strobel, was der Leiter Ihrer Familienpolitischen Abteilung wenige Wochen später in einer leider erst jetzt bekanntgewordenen Rede über die Sozialarbeit der gleichen Träger gesagt hat? Ich zitiere aus dem nicht dementierten Informationsdienst der Katholischen Nachrichtenagentur vom 27. Mai 1970. Dort heißt es:Bei kirchlichen Verbänden besteht die Gefahr, die Seele mit zu verkaufen. — Im Bewußtsein der Bürger sind karitative Einrichtungen eigentlich nur ein Eingeständnis öffentlicher Unzulänglichkeit. —
Sie sind nur noch gesellschaftspolitische Verspätungserscheinungen. — Im Wettlauf der Qualität gewinnt der Staat. — Für eigentliche konfessionelle Trägerschaft ist kein Raum mehr vorhanden.Das, meine Damen und Herren, sind die Auffassungen des Leiters der Familienpolitischen Abteilung im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit.Was gilt, Frau Minister Strobel: dieses oder das, was der Bundeskanzler mit so schönen Worten in seiner Regierungserklärung im Oktober des vergangenen Jahres gesagt hat? Oder soll auch dies alles so im unklaren, so in der Verschleierung, so im Zwielicht bleiben wie so vieles, was diese Regierung plant und tut?Die Ausführungen dieses hohen Beamten der Bundesregierung werden weder den historischen Verdiensten noch der aktuellen Bedeutung noch den künftigen Aufgaben der freien Träger der Sozialarbeit in unserem Land gerecht.
Ich weise diese Ausführungen im Namen der Bundestagsfraktion der CDU/CSU zurück.
Frau Minister Strobel, dieser Beamte gehört natürlich nicht der CDU an, sondern ist gerade von Ihnen berufen worden. Trotzdem, trennen Sie sich
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Rollmannganz schnell wieder von diesem Herrn und versetzen ihn in den einstweiligen Ruhestand! Sie wissen zur Genüge, wie man das macht.
Den freien Trägern der Sozialarbeit und ihren Zehntausenden von Mitarbeitern draußen im Lande möchte ich sagen: wir müssen gemeinsam Obacht geben; die freie Sozialarbeit ist wieder einmal in Gefahr. Die Linke in diesem Lande, innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratischen Partei — wir haben das gerade jüngst wieder auf dem Deutschen Jugendhilfetag in Nürnberg erlebt —, rüstet sich wieder einmal zum Sturm auf alles, was in diesem Land nicht aus der Initiative des Staates,
sondern aus der Initiative der Gesellschaft an Einrichtungen der freien Sozialarbeit ins Leben gerufen wurde und am Leben erhalten wird.
Wir lehnen die Verstaatlichung und Kommunalisierung der freien Sozialarbeit ab und werden uns dagegen mit allen Kräften zur Wehr setzen.
— Herr Liehr, wenn Sie sich dagegen zur Wehr setzen und behaupten, daß das angeblich nicht der Fall sei, dann nehmen Sie bitte zu den Äußerungen des Leiters der Familienpolitischen Abteilung im Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Stellung.
Sie werden sich jedoch scheuen, die Widersprüche zwischen den Ausführungen des Bundeskanzlers und denen dieses Beamten hier aufzugreifen.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Wir haben nichts gegen das Wenige, das diese Regierung als ihr jugendpolitisches Programm verkündet hat. Wir vermissen vieles von dem, was eigentlich in das jugendpolitische Programm einer Regierung hineingehört hätte, die mit so großen Ansprüchen angetreten ist. Wir sagen nein zu der Jugendpolitik dieser Regierung, wie sie in den vergangenen Monaten sichtbar geworden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Hauck für die SPD-Fraktion. Für ihn sind 10 Minuten Redezeit angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte für die sozialdemokratische Fraktion zurückweisen, was Herr
Rollmann gesagt hat, nämlich daß Sozialdemokraten
die freie Sozialarbeit in diesem Land gefährdeten.
— Moment! Wir lehnen das ab.
— Die Behauptung, daß die freie Sozialarbeit gefährdet würde, weil Tausende und aber Tausende von freien Sozialarbeitern bei uns, in unserem Kreis, organisiert sind und draußen für die Menschen arbeiten, genauso wie diejenigen in kirchlichen, paritätischen und anderen Organisationen.
Sie haben hier ein Zitat aus einer Rede von Herrn Kosmale vom 21. Oktober 1969 gebracht. Stimmt das, Herr Rollmann? — Damals war er noch nicht in dieser Regierung und in diesem Amt.
— Moment! Man kann doch wohl sagen, daß er es vorher gesagt hat, nämlich am 21. Oktober.
— Das stellen wir dann noch fest.
Herr Rollmannn, ich möchte jetzt zu dem kommen, was Sie gesagt haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Herr Kollege Hauck, ich möchte Sie fragen: Billigen Sie die Erklärung des Leiters der Familienpolitischen Abteilung oder nicht? Sie ist bis heute nicht dementiert worden.
Das kann nur ein anderer dementieren. Sie können mich doch hier nicht auf dieser Tribüne zu einer globalen Stellungnahme zu einem Zitat, das Sie vorgelesen haben, veranlassen! Ich kann nur für meine Fraktion erklären, daß man das Zitat nicht pauschal auf die Fraktion, des Ministerium und auf Sozialdemokraten in diesem Land übertragen kann, was Sie unterschwellig versucht haben.
Herr Rollmann, man hat bei Ihnen, ob man nach Hamburg kommt oder Ihnen hier zuhört, immer den Eindruck, daß Sie Ihr Manuskript von der Diskussion über die Regierungserklärung mit sich herumtragen und bei jeder Gelegenheit versuchen, noch einmal über die Regierungserklärung zu diskutieren.
Wir haben Gelegenheit gehabt, darüber zu diskutieren und bei der Aussprache über den Sozialbericht zur Jugend- und Familienpolitik Stellung zu nehmen. Obwohl wir darauf gewartet haben, ist
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970 2939
Hauckkeine Wortmeldung, kein Diskussionsbeitrag gekommen. Ich selbst habe es auf dieser Tribüne bedauert, daß man hier nicht wenigstens einmal über diese Fragen diskutiert hat. Jetzt kommen Sie damit bei der Debatte über den Haushaltsplan, ohne faktisch darauf einzugehen. Wir haben darüber im Ausschuß ausgiebig diskutiert. Sie versuchen, die Dinge so darzustellen, als ob die gesamte Jugendpolitik nichts tauge.Ich wundere mich immer wieder darüber, warum in einem Haus, das Sie — ich meine Sie als Partei— 20 Jahre lang geleitet haben, jetzt Versäumnisse sichtbar werden sollen, die eigentlich gar nicht evident geworden wären, wenn Sie in den vergangenen Jahren eine richtige Jugendpolitik getrieben hätten.
Denn es ist doch billig, zu sagen, außer der Namensumbenennung und der Abberufung von Beamten habe dieses Minsterium bisher nichts geleistet.
— Wir haben in diesem Ministerium, das zweihundert Tage von der Frau Minister und ihren Mitarbeitern geführt wird, erstens einmal einen ganz anderen Stil in der Diskussion mit den freien Trägern der Jugendwohlfahrt erhalten. Das Bundesjugendkuratorium ist jetzt ganz anders unterrichtet, es wird ganz anders informiert; Abgeordnete können dazukommen; das Gespräch mit den Verbänden draußen ist intensiver; das Europäische Jugendwerk — das haben Sie ja selbst gelobt — ist vorangetrieben worden; diese Akzente im Bundesjugendplan werden verändert.
Im Ausschuß habe ich Frau Minister Strobel häufiger gesehen als die Minister in den anderen Legislaturperioden zusammengenommen.
— Wir sind dabei, den Bundesjugendplan — —
— Dann will ich Ihnen auch polemisch antworten: Die Sportjugend ist als Sondergruppe aufgenommen worden.
— Nein, das war nicht der Fall. Sie haben die Mittel dann im Haushaltsausschuß erhöht. Ich darf Ihnen sagen: Der Kanzler hat angekündigt, daß die Reform des Bundesjugendplans erfolgen soll, genauso — und nun komme ich zu Ihnen —, wie gesagt worden ist: Wir werden im Jahre 1970 das Kindergeld erhöhen. Herr Baier, Sie müssen doch zugestehen, daß man über die Form der Erhöhung des Kindergeldes als Zwischenlösung zu der großen Lösung des Familienlastenausgleichs reden kann.
— Nicht ein Dreivierteljahr lang! Es ist doch vorher nichts gemacht worden. Wir mußten ja 1966/67 Kürzungsvorschläge abweisen, wir mußten versuchen, die Einführung von Verdienstgrenzen rückgängig zu machen. Sie wissen das doch ganz genau. Hier hatten Sie doch sehr viele Kontroversen mit Ihrem eigenen Kollegen Wuermeling, der diese Fragen immer wieder hochgespielt hat.In der alten mittelfristigen Finanzplanung war die Erhöhung des Kindergeldes erstmalig für 1972 vorgesehen mit 200 Millionen DM. Dann ist der vom ganzen Haus getragene Antrag gekommen, bereits im Jahre 1970 eine Erhöhung des Kindergeldes als Zwischenlösung vorzunehmen. Herr Kollege Baier, diese Aufgabe ist sogar doppelt erfüllt. Im Jahre 1972 sollten nach der alten „Mifrifi" 200 Millionen DM erstmalig aufgestockt werden. Diesmal sind 95 Millionen DM darin. Auf ein Jahr gesehen, sind es insgesamt rund 400 Millionen DM, und diese 400 Millionen DM sind hundert Prozent mehr als die ursprünglich vorgesehenen 200 Millionen DM.
Also ist das Problem doch erkannt worden. Nur über die Frage, wie man das Gesetz gestalten soll, bestehen noch unterschiedliche Meinungen.Wenn man von familienpolitischen Leistungen spricht, muß man auch daran denken, daß diejenigen, die Kindergeld für das zweite Kind bekommen, seit 1961 bei einer Einkommensgrenze von 650 DM nicht mehr als 25 DM bekommen haben. Da erhebt sich doch die Frage — weil ein Großteil, der Durchschnitt unserer Familien in dieser Gesellschaft eben aus Familien mit zwei oder drei Kindern besteht; man mag das beklagen oder nicht —, ob man nicht auch für diese Personengruppe eine Anhebung vornehmen sollte.
In unserem Gesetzentwurf ist das vorgesehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köster?
Herr Hauck, stimmen Sie zu, daß in Ihrem Gesetzentwurf nicht vorgesehen ist, daß das Kindergeld, das seit 1961 für das zweite Kind 25 DM beträgt, angehoben wird?
Nein, es ist nicht vorgesehen.
Aber die Einkommensgrenze wird erhöht. Bei Ihnen ist da überhaupt nichts vorgesehen.
Nun kommt folgendes. Das will ich abschließend sagen. Herr Baier, das wissen Sie auch. Heute früh haben wir über Konjunkturpolitik diskutiert. Wenn Ihr Plan in Erfüllung geht, kommen wir am Schluß
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Hauckauf 1,8 Milliarden DM. Das steht doch fest. Nun sagen Sie: Das müssen wir durch höhere Steuereinnahmen oder durch andere Sachen abdecken. Ich möchte fragen: Wo sind dann die Realitäten bei einem konjunkturgerechten Haushalt, wenn Sie jetzt schon durch Gesetzentwürfe die Weichen so stellen wollen, daß dann 1971, 1972, 1973 bis zu 1,8 Milliarden DM im Jahr mehr erforderlich sind?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Baier?
Aber, Herr Hauck, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß eine Steuersenkung den gleichen konjunkturpolitischen Effekt hat wie eine Erhöhung des Kindergeldes?
Nein, nicht den gleichen.
— Nein, aber, Herr Kollege Baier, wir sind jetzt eben dazu gekommen, daß Sie mir nicht widersprechen, daß es nicht konjunkturgerecht ist, was Sie hier festschreiben wollen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Köster?
Herr Kollege Hauck, Sie haben eben erwähnt, daß 95 Millionen bereitgestellt worden seien zur Verbesserung des Kindergeldes. Ist Ihnen bekannt, daß Ihr Finanzminister von diesen 95 Millionen 50 Millionen wieder wegnehmen will?
Das hat schon Herr Kollege Baier angeführt. Das ist die Überführung von 50 Millionen in die Deutsche Nationalstiftung für Behinderte.
Das ist zunächst einmal ,abgesetzt worden. — Das steht nicht zur Debatte.
— Wir reden doch jetzt von dem, was zur Debatte steht, Herr Kollege Baier. Sie müssen doch als alter Haushaltsexperte zugeben, daß diese Sache nicht mehr zur Debatte steht. Bei der Beratung des Kindergeldes können Sie damit wieder kommen. Dann wird Herr Köster auch kommen und sagen, was mit den Haushaltsresten ist. Das ist die nächste Runde, die wir führen wollen.
Gestatten Sie noch eine letzte Zwischenfrage, eine Frage des Abgeordneten Dr. Fuchs?
Herr Kollege Hauck, würden Sie mir darin zustimmen, daß Herr Baier gefordert hat, für 1971 und 1972 und die folgenden Jahre die Erhöhung im großen und ganzen zu bringen, und daß das mit der derzeitigen Konjunkturlage überhaupt nichts zu tun hat?
Wir wissen aber auch nicht, wie 1971 'und 1972 die Konjunktur ist.
Wenn Sie das aber jetzt festschreiben wollen, Herr Kollege, dann sind wir doch daran gebunden, weil Sie mit der mittelfristigen Finanzplanung weiterarbeiten wollen. — Sie können doch eines machen, Herr Kollege Baier: wenn sich eine andere Konzeption ergibt bei Ihrem Stufenplan,dann kann man das Gesetz doch auch novellieren. Das werden Sie doch als eine Möglichkeit anerkennen. Denn wir haben ja schon Gesetze wie das Ausbildungsförderungsgesetz, die wir leider nicht behandeln können, bei denen Anpassungen von bestimmten Leistungen notwendig ,sind. Es geht doch nicht an, wenn man eine Maßnahme trifft, gleich wieder in die Zukunft zu sehen und Verurteilungen auszusprechen, wie es leider draußen im Lande sehr oft geschehen ist.
Gestatten Sie noch eine letzte Zwischenfrage, eine Frage des Kollegen Müller ?
Herr Kollege Hauck, wollen Sie das Kindergeld erhöhen, wenn die Konjunktur rückläufig oder gar zum Stillstand gekommen ist?
Dann wäre es eigentlich konjunkturgerecht. Das ist ja das Dilemma unserer Sozialpolitik. Eigentlich müßten wir immer bei rückläufiger Konjunktur konjunkturwirksame Leistungen erbringen. Das ist doch wirklich das Dilemma, in dem unsere Sozialpolitik steht. Wir müßten uns leben dazu durchringen, Konjunkturspritzen dann zu geben, sei es auf diesem oder auf jenem Gebiet.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Ich glaube, daß man nach 200 Tagen Regierung von Sozialdemokraten nicht zu der globalen Verurteilung kommen kann, wie sie die Sprecher der Opposition hier vorgebracht haben. Wir sind dabei, eine moderne Jugendkonzeption zu erarbeiten und diese durchzusetzen. Wir sprechen uns in ein oder zwei Jahren wieder. Dann haben wir das, was Sie vorher 20 Jahre lang versäumt haben, aufgeholt.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt für die FDP-Fraktion. Er hat fünf bis zehn Minuten angemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich für die Freien Demokraten nur einige Anmerkungen zum Einzelplan 15 machen.
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'Schmidt
Zunächst aber ein paar Anmerkungen zu Ihnen, Herr Kollege Rollmann. Ich muß doch noch einmal kurz auf das zurückkommen, was ich in einer Zwischenfrage schon etwas klären konnte, weil Sie von hier oben den Eindruck erweckten, das Wahlalter 18 Jahre sei inzwischen schon Allgemeingut aller Parteien geworden und immer gewesen und Sie hätten in dieser Legislaturperiode den Vorreiter gespielt. Ich weiß, daß Sie persönlich das auch in der letzten Wahlperiode schon hätten sagen können, Herr Kollege Rollmann. Aber Sie haben es hier für Ihre Fraktion gesagt. Dazu muß ich feststellen, daß bereits bei der letzten Bundestagswahl die Möglichkeit bestanden hätte, dieses „Allgemeingut", von dem Sie sprachen, nämlich das Wahlalter 18 Jahre, schon anzuwenden. Das wäre durchaus möglich gewesen
— einen Moment! —, weil wir Freien Demokraten diesen Antrag ein Jahr vorher, nämlich im Sommer 1968, gestellt haben. Daß sich der Innenausschuß in seiner Mehrheit erst im Frühjahr 1969 an dieses Thema heranwagte, um dann nur festzustellen, jetzt ist die Zeit zu kurz, lag ja wohl nicht an den Antragstellern, sondern an denen, die im Innenausschuß gebremst haben. Und wo diese saßen, wissen Sie selbst ganz genau, denn Sie haben versucht, den Laden in Schwung zu kriegen; aber Ihre Freunde haben nicht mitgemacht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Bitte!
Herr Kollege Schmidt, sind Sie bereit, sich daran zu erinnern, daß die CDU in ihr Berliner Programm im Herbst 1960 die Forderung nach Herabsetzung des Wahlalters aufgenommen hat und daß damit grünes Licht in der CDU gegeben war?
Herr Kollege Rollmann, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Sie das in Ihr Berliner Programm brachten, haben wir den Antrag gestellt, und zwar in der Annahme, daß Sie zustimmen würden. Aber Sie haben sich in der letzten Legislaturperiode trotzdem nicht dazu ermannen können.
Wir wollen es doch chronologisch klarstellen. Herr Kollege Rollmann, Sie dürfen nicht immer an Ihre persönlichen Wünsche in der letzten Legislaturperiode denken, sondern Sie müssen auch an das denken, was Ihre Fraktion in der letzten Legislaturperiode dazu gesagt hat.
Nun aber noch einige Bemerkungen zum Einzelplan 15, die, glaube ich, notwendig sind. Meines Erachtens ist bisher zuwenig deutlich geworden, daß für das Ausbildungsförderungsgesetz immerhin ein Betrag von 192 Millionen DM zum erstenmal eingesetzt worden ist und daß wir damit eine Richtung -- auch im Rahmen des Familienlastenausgleichs, denn ,das gehört auch mit in diesen Bereich hinein, Herr Kollege Baier — im Haushalt haben, die wohl von uns allen begrüßt wird. Diese Richtung ist zum erstenmal in diesem Einzelplan enthalten; wir stehen ihr sehr positiv gegenüber.
Lassen Sie mich auch etwas zu der von ,dem Kollegen Baier grundsätzlich angeschnittenen Frage der Weiterentwicklung des Familienlastenausgleichs beim Kindergeld sagen. Wir Freien Demokraten waren und sind der Meinung, daß das Endziel, das im Wege einer Steuerreform oder auf eine andere Art und Weise erreicht werden kann, eine Gleichstellung des ersten Kindes mit dem fünften, sechsten oder siebenten Kind hinsichtlich der Höhe der Kindergeldbegünstigung sein sollte. In diese Richtung geht auch die Überbrückungslösung, die jetzt im Bundeshaushalt finanziell verankert ist; die Gesetzesvorlage liegt zur Zeit im Bundesrat. Wir begrüßen es, daß dieser Weg im Einzelplan 15 eingeschlagen wurde.
Herr Kollege Rollmann, Sie haben die Jugendpolitik angesprochen. Wir begrüßen es, daß die Mittel für den Bundesjugendplan um einiges erhöht worden sind und daß auch die Verteilung etwas anders gestaltet wurde, als es zunächst vorgesehen war. Die bessere Dotierung für die Sportjugend halten wir auch für eine gute Lösung. Ich war nur etwas überrascht, Herr Kollege Rollmann, daß Sie Ihre jugendpolitischen Äußerungen ausgerechnet an einigen innerministeriellen Korrekturen aufhängen wollten; ich bin nicht der Meinung, daß diese Herren unbedingt unter den Jugendschutz gehören.
Wir werden jedenfalls unter diesen Umständen und auf Grund dieser Schwerpunkte, auf die ich noch einmal kurz hingewiesen habe, dem Haushalt unsere Zustimmung geben.
Zur Begründung des Umdrucks 42 hat nunmehr der Abgeordnete Prinz zu Sayn-Wittgenstein das Wort.
— Mir ist mitgeteilt worden, Sie hätten sich zur Begründung dieses Umdruckes zu Wort gemeldet. Aber bitte, Sie haben das Wort zu dem ganzen Thema. Wie lange werden Sie sprechen? — 5 Minuten.
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2944 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 55. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 3. Juni 1970
— Gerade in den letzten Wochen sind im Bundestag auf Grund von Regierungsvorlagen und auf Grund von Anträgen und Beschlüssen der Koalitionsfraktionen auf einigen Gebieten Beschlüsse gefaßt worden,
die dies verdeutlichen. — Zum Beispiel, daß bei der Vermögensbildung in Zukunft Familien mit Kindern statt 30 % Sparzulage eine Sparzulage von 40 % bekommen!
— Genau deswegen werden ja diesmal Sparzulagen gegeben und nicht Steuerfreibeträge bzw. Steuerermäßigungen, damit die kleinen Einkommensbezieher davon Gebrauch machen können!
Weiter ist z. B. bei der Wohngeldverbesserung erst in den letzten Wochen durch Regierungsvorlage die Einkommensfreigrenze wesentlich erhöht worden, der Zuschlag für jedes Familienmitglied von 150 DM auf 200 DM bei der Einkommensgrenze erhöht worden, so daß z. B. eine Familie mit drei Kindern, die bisher Wohngeld nur bis zu einem Einkommen von 1350 DM bekommen konnte, in Zukunft bis zu einem Einkommen von 1600 DM Wohngeld bekommen kann. Das sind doch direkte Verbesserungen für die Familie.
So könnte ich eine ganze Reihe solcher Maßnahmen aufzählen. — Ich bin auch der Meinung — ich möchte das hier noch einmal betonen, obwohl das schon einmal bei einer Debatte geschehen ist — daß auch die Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrages in erster Linie den Familien zugute kommt.
Nun noch zum Kindergeld, meine Damen und Herren. In der mittelfristigen Finanzplanung bzw. im Haushalt 1970 waren für Kindergelderhöhung ab 1. Oktober 95 Millionen DM vorgesehen. Dadurch, daß die Schätzungen der Bundesanstalt uns gezeigt haben, daß mehr Mittel zur Verfügung stehen, ist es möglich geworden, die Kindergelderhöhung statt ab 1. Oktober ab 1. September vorzunehmen und dafür 137 Millionen DM bereitzustellen. Das ist, meine ich, vorhin nicht ganz klargeworden; deshalb muß ich das jetzt herausstellen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köster?
Frau Minister, darf ich fragen, warum Sie statt der 94 Millionen DM, die wir im Etat für das Kindergeld finden, nur 44 Millionen dafür ibereitstellen wollen und die 50 Millionen DM zweckentfremdet verwenden wollen?
Herr Köster, ich kann Ihneen nicht zustimmen, wenn Sie behaupten, daß 50 Millionen, die aus Mitteln zur Verfügung gestellt werden, die nach dem Kindergeldgesetz nicht verbraucht werden und diebehinderten Kindern zugute 'kommen isollen, damit zweckentfremdet würden. Das ist doch keine Zweckentfremdung! Dia wird denen ,geholfen, die es am allernötigsten brauchen,
ganz abgesehen davon, daß, wenn man Ihren Vorschlägen folgen wollte — und deswegen mußte es im Haushaltsausschuß abgelehntwerden —, die Folgekosten im nächsten Jahr weit über die mittelfristige Finanzplanung hinausgehen würden. Dann hätten Sie uns wieder vorgeworfen, daß wir uns nicht an die vorgesehenen Ausgaben halten, sondern darüber hinausgehen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Althammer?
Frau Minister, würden Sie mir zutstimmen, wenn ich hier feststelle, daß es nicht darum geht, diese 50 Millionen DM aufzubringen, über die man sich einig ist, sondern nur darum, daß Sie oder Ihr Haus im Haushaltsausschuß ausdrücklich erklärt haben, daß über die 44 Millionen DM hinaus in diesem Etat an Kinder-
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Dr. Althammergeld nichts vorhanden ist, und jetzt sind doch 50 Millionen DM da?
Herr Althammer, es ist,soweit ich mich erinnere — im Haushaltsausschuß über Beträge in dieser Richtung nicht gesprochen worden.
Herr Baier hatte den Antirag gestellt, daß höhere Beträge für die Kindergelderhöhung zur Verfügung gestellt werden sollten. Mit Rücksicht auf die Folgekosten im nächsten Jahr war es nicht möglich, diesem Antrag zu folgen.
— Es hat keinen Zweck, sich mit Ihnen hier dauernd auf Rede und Gegenrede einzulassen,
weil Sie bei Ihrer Lesart der Situation bleiben und ich bei meiner.
Aber darf ich Ihnen, wenn Sie schon so sehr auf diesem Klavier spielen,
einmal vorlesen, was in der „Welt" vom 12. Mai steht:
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU wird der Regierung in der bevorstehenden Konjunkturdebatte wieder Vorschläge zur Dämpfung der Konjunktur machen. Dazu gehört, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Hessischen CDU-Landesgruppe, Walter Leisler Kiep, Frankfurt, bekanntgab, die Verschiebung ausgabewirksamer Maßnahmen, wie z. B. die Streichung der 3°/oigen Sonderabgabe ,sowie die Erhöhung des Arbeitnehmerfreibetrages und des Kindergel des, auf das Haushaltsjahr 1971.
Meine Damen und Herren, ich habe loyalerweise, wie sich das gehört, bei Herrn Leisler Kiep anfragen lassen, ob er das so gesagt hat. D.ie Antwort aus dem Sekretariat lautet:
Nach Rücksprache mit dem Assistenten von Herrn Leisler Kiep ist festzustellen, daß der Artikel, ,soweit er in der „Welt" ,steht, richtig ist. Der Assistent ... wies aber in einem Gespräch darauf hin, daß man diese Forderung nur als ganzes Paket isehen darf und nicht als Einzelforderung.
Aber im Paket steht jedenfalls — zumindest ist es hier von einem Ihrer verantwortlichen Leute gesagt worden, und es ist mir sogar bestätigt worden —, daß das Kindergeld dann erst lab 1971 erhöht werden soll.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn der Herr Abgeordnete nicht selber erreicht werden kann und sein Assistent sagt: „Nach Rücksprache mit dem Abgeordneten", dann müssen wir wohlannehmen, daß das auch stimmt, was man als Auskunft bekommt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ott?
Ich möchte nicht die Gefahr heraufbeschwören, daß das Haus nachher bei der Abstimmung über Ihre Anträge nicht mehr vollzählig ist.
Schon aus diesem Grunde möchte ich jetzt zu einigen anderen Problemen, die hier angeschnitten worden sind, übergehen.
Zum Problem des Jugendschutzes. Ich habe von vornherein, und zwar im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, darauf aufmerksam gemacht, daß es notwendig ist, die Jugendschutzgesetzgebung gründlich zu überdenken und, wenn notwendig, zu überarbeiten. Ich bin von Ihnen schon im Ausschuß gefragt worden: Wie denn? Ich habe darauf hingewiesen, daß man sich z. B. im Zusammenhang mit der Akzeleration überlegen muß, ob die Altersgrenzen für verschiedene öffentliche Veranstaltungen heute noch aufrechterhalten bleiben müssen usw.
Herr Rollmann, wenn Sie sich heute hier hinstellen und so tun, als hätten Sie diesen Forschungsauftrag erfunden, dann muß ich Ihnen sagen: Das Ministerium ist längst auf die Idee gekommen, einen solchen Forschungsauftrag zu vergeben. Wir werden selbstverständlich die Ergebnisse des Forschungsauftrages abwarten, bevor wir die Jugendschutzgesetzgebung ändern. Sonst bräuchten wir schließlich einen solchen Forschungsauftrag nicht zu vergeben.
Aber Sie stellen sich hierher, als hätten Sie diese Idee aufgebracht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Nein, Herr Präsident. Ich
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Bundesminister Frau Strobelbitte um Verständnis dafür, daß ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit wenigstens zu den angeschnittenen Problemen noch etwas sagen will.
Ich darf ein Wort zur Personalpolitik sagen. Obwohl dieses Kapitel hier so oft abgehandelt wurde, muß ich doch darauf aufmerksam machen: Tatsächlich sind im Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit der Abteilungsleiter „Jugend" und der Abteilungsleiter „Familie" abgelöst und durch neue Abteilungsleiter ersetzt worden. Beide Herren haben mir gesagt, sie wüßten, daß sie politische Beamte sind und daß sie als politische Beamte bei einer Regierungsneubildung oder bei einem Regierungswechsel abgelöst werden können, und sie hatten sogar Verständnis dafür.
— Es kann sich aber doch nur um diese beiden Herren drehen,
denn andere Ablösungen sind doch nach dem Beamtenrecht überhaupt nicht möglich und sind auch nicht vorgenommen worden.
- Natürlich haben wir Leute versetzt, weil wireine Zentralabteilung eingespart haben. Durch die Einsparung einer Zentralabteilung sind Juristen frei geworden, die wir für die Gesetzgebung in den anderen Abteilungen dieses Ministeriums eingesetzt haben. Gott sei Dank haben wir dadurch Leute gewonnen.
— Wir haben neue Fachreferate geschaffen, wir haben Umorganisationen vorgenommen. Aber es fällt schließlich nicht nur in die Rechte, sondern auch in die Pflichten eines Ministers, daß er sein Ministerium so organisiert, wie er es für nötig hält.
Lassen Sie mich ein Wort zur Kritik an einer veröffentlichten angeblichen Äußerung von Herrn Kosmale sagen. Ich habe die ganzen Unterlagen hier liegen. KNA hat sie veröffentlicht. Nach meiner Auffassung ist dies eine unzulässige Zusammenziehung von Aussagen, die, soviel ich weiß — ich kann es also auch nur aus Veröffentlichungen ersehen —, von Herrn Kosmale in einer Diskussion bei der evangelischen Kirche in Bremen, bei der es um Strukturfragen der Kirchen und der Sozialpolitik ging, gemacht worden sind. Ich habe einen Brief von Herrn Kosmale an die Veranstalter gesehen, in dem er sich dagegen verwahrt, daß man, ohne ihm das Protokoll auch nur vorzulegen, ein Stichwortprotokoll veröffentlicht. Im übrigen ist es tatächlich so, wie Herr Hauck sagte: Diese Veranstaltung lag vorder Zeit, in der er bei uns als Abteilungsleiter tätig ist. Außerdem hat ihn jetzt die katholische Kirche aufgefordert, er solle auch mit ihr über diese Strukturfragen diskutieren. Um etwas anderes als um Diskussionen dreht es sich nicht.
Ich muß die Unterstellung nachdrücklich zurückweisen, dieses Ministerium, seine Leitung, die Regierung oder, wie Sie sagten, die Sozialdemokraten oder auch nur ein verantwortlicher Mann im Ministerium strebten an, die freien Träger in der Sozial-und Jugendhilfe zurückzudrängen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Überall fördern wir die Mitarbeit der freien Träger,
weil wir ganz genau wissen, daß es notwendig ist, die freien Träger zu ermuntern, soviel wie möglich auf all diesen Aufgabengebieten zu tun.
— Herr Kosmale wird sich, sobald er aus England zurück ist, zu all diesen Fragen äußern.Wir haben wiederholt, auch mit Herrn Rollmann, über das Problem Jugendhilfegesetz diskutiert. Sie zwingen mich dazu, heute hier wieder folgendes zu sagen. Die Reform des Jugendhilferechts ist dringend notwendig; das weiß jeder Eingeweihte. Ich habe sofort, nachdem ich die Leitung dieses Ministeriums übernommen hatte, geprüft, ob irgendwelche Vorarbeiten im Ministerium für die Reform des Jugendhilferechts vorliegen. Nichts lag im Ministerium vor, keinerlei Vorarbeiten.
Es gibt Vorarbeiten der freien Träger der Jugendhilfe, es gibt Vorarbeiten der Arbeiterwohlfahrt, es gibt Vorarbeiten im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, aber es gibt keine Vorarbeiten im Ministerium. Wir haben jetzt eine Gruppe von 12 Wissenschaftlern berufen, die aufbauend auf dem vorhandenen Material die Reform des Jugendhilferechts vorbereitet. Es ist aber keinesfalls möglich, so wie Sie, Herr Rollmann, es sich immer wieder vorstellen, daß dem Parlament noch in dieser Legislaturperiode dieses große Reformwerk so rechtzeitig vorgelegt wird, ,daß es auch noch verabschiedet werden kann. Das wäre leichtfertig, dazu bin ich nicht bereit. Dieses Reformwerk muß sehr gründlich vorbereitet und erörtert werden.
— Das ist immer Ihr Tenor und deshalb äußere ich mich dazu.Wir haben uns auf Grund sehr vieler Wünsche darangemacht, eine gute Lösung für den IJAB zu finden. Aber uns zu unterstellen, unsere Bemühungen, die freien Träger der Jugendhilfe dadurch zu stärken, daß sie sich kooperativ zusammentun und daß man auch den IJAB in diese kooperative, gemeinsame Arbeit eingliedert, seien ein Versuch in
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Bundesminister Frau Strobelder Richtung eines verstärkten Einflusses des Staates, das ist eine Behauptung, von der Sie, Herr Rollmann, selber wissen, daß sie nicht wahr ist.
Dies soll gemacht werden, um die freien Träger zu stärken, und nicht, um sie zu schwächen.Ich muß noch ein Wort zum Bundesjugendplan sagen. Das geht sehr rasch. Wir haben einen Ausschuß aus Vertretern der Jugendverbände eingesetzt, der die Umstrukturierung des Bundesjugendplanes vorbereitet. Das ist die Einlösung des Wortes, daß wir jugendpolitische Fragen im Dialog mit der Jugend lösen wollen und nicht von oben herab.
Aber schon bei diesem Bundesjugendplan sind die Mittel für die Sportjugend erheblich erhöht worden. Ich muß darauf hinweisen, daß es noch in keinem Bundesjugendplan so viele Mittel für die Sportjugend gegeben hat wie in diesem. Ich muß aber auch darauf aufmerksam machen, daß die reine Sportförderung zum Innenministerium gehört, daß die Mittel für die reine Sportförderung beim Innenministerium veranschlagt sind und nicht beim Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Aber wir haben bereits für den Haushalt 1971 z. B. einen neuen Titel „Sportliche Jugendbildung" im Bundesjugendplan eingesetzt. Wir hoffen, dafür die notwendigen Mittel zu bekommen und dann auch hier noch mehr als bisher tun zu können.Zum ganzen Problem Gesundheitspolitik kann ich in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit nur wenig sagen. Aber, Herr Kollege von Wittgenstein — hoffentlich werde ich nicht wieder kritisiert, weil ich nur „von Wittgenstein" sage; nicht von Ihnen, sondern von draußen —, alle Institute, die zum Bundesgesundheitsamt gehören, stehen allen Ministerien zur Verfügung, wie auch andere Institute, die anderen Ministerien zugegliedert sind. Nehmen Sie das Beispiel Statistisches Bundesamt, das beim Innenministerium ressortiert, aber allen anderen Ministerien zur Verfügung steht.Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß es dringend nötig ist, die Gesamtstruktur des Bundesgesundheitsamtes unter modernen Gesichtspunkten der Wissenschaftspolitik, auch der ressortbezogenen Forschung, zu überdenken. Wir sind dabei — das wissen Sie —, sowohl einen Plan für die Strukturänderungen als auch einen Gesamtausbauplan für das Bundesgesundheitsamt vorzulegen. In diesem Plan ist selbstverständlich die Berichterstattung über die Arbeit aller Institute enthalten.Da im übrigen der Kollege Baier vorhin so freundlich war, zu sagen, daß wir durch die Zusammenlegung nicht nur Personal gewonnen, sondern auch noch zusätzliches Personal bekommen haben, möchte ich an dieser Stelle sagen, daß ein Teil dieser neuen Stellen in das Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie geht. Dieses Institut soll rationelle Verfahren für die Früherkennung von Krankheiten erarbeiten. Auf diese Art und Weise sparen wir mehr Geld, als wir ausgeben, weil die Gesundheitsvorsorge nur dann wirklich finanziert werden kann, wenn sie möglichst rationell durchgeführt wird.Außerdem ist von den neuen Stellen eine Stelle für ein Krankenhausreferat — das ist eine neue Aufgabe des Ministeriums —, eine Stelle für Ausbildungsförderung und eine Stelle beim BGA für die Arzneimittelregistrierung vorgesehen. Dort muß das Personal dringend verbessert werden; das können Ihnen die Kollegen aus dem Gesundheitsausschuß sagen.Zur Krankenhausfinanzierung darf ich noch folgendes sagen: Sqviel mir bekannt ist, hat die CDU/ CSU-Fraktion beim Haushalt der Umwandlung der konjunkturellen Sperren in Kürzungen generell zugestimmt. Darunter fallen auch die Sperren — die nun Kürzungen geworden sind — für die Finanzierung des Nachholbedarfs bei den frei-gemeinnützigen Krankenhäusern. Mit dem Krankenhausgesetz und der umfassenden besseren Lösung der Krankenhausfinanzierung hat das nicht direkt zu tun.Herr von Wittgenstein, daß Sie Mittel für die gesundheitliche Aufklärung streichen wollen, begreife ich trotz besten Willens, mich in die Ideen der Opposition hineinzudenken, nicht.
Ich bin auch sicher, dies nimmt Ihnen draußen wirklich niemand ab. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß Sie dabei ein gutes Gewissen haben. Denn alle, die in der Gesundheitspolitik tätig sind, ob sie nun im öffentlichen Gesundheitsdienst, als praktizierende Ärzte oder als Gesundheitspolitiker tätig sind, sind sich einig, daß es notwendig ist, bei den Menschen die eigene Bereitschaft zur Gesundheitspflege und -vorsorge zu fördern. Das kann man nur, wenn man Gesundheitserziehung, Gesundheitsaufklärung betreibt, ja, Gesundheitswerbung betreibt. Das kommt heute nur an, wenn man sich der modernen Massenkommunikationsmittel bedient.Nehmen Sie als Beispiel unseren neuen Film über die Krebsbekämpfung „Früherkennung rettet Leben". Dieser Film ist von allen Fachleuten als außerordentlich gut und wirkungsvoll anerkannt worden. Wir müssen uns tatsächlich bemühen, solche wirksamen Filme auf vielen anderen Gebieten zu machen; Sie haben das Problem Rauschgift angesprochen. Wir wollen Motivforschung durchführen. Das ist richtig. Wir haben gleichzeitig einen Ausschuß von Experten berufen; er tagt in der nächsten Woche. Wir warten die Vorschläge dieses Ausschusses ab, bevor diese Motivforschung eingeleitet wird. Zu diesen Vorhaben brauchen wir die Mittel aus diesem Titel „Gesundheitliche Aufklärung", denn diese Motivforschung wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführt. Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von Maßnahmen aufzählen, möchte aber wegen der fortgeschrittenen Zeit darauf verzichten. Es ist tatsächlich so, daß wir eigentlich mindestens zweimal soviel Mittel für die gesundheitliche Aufführung haben müßten, wie in diesem Haushalt veranschlagt sind.
Ich hatte eigentlich immer gedacht, daß ein solcher Antrag einmal im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung von Ihnen kommt; denn für die Gesundheit sollte uns eigentlich kein Pfennig zuviel sein.
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Bundesminister Frau StrobelVöllig unverständlich und unverantwortlich ist es aber, davon auch noch streichen zu wollen.
Das Wort für einige wenige Sätze hat noch einmal der Abgeordnete Baier erbeten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mir nicht Ihr Mißvergnügen zuziehen.
Hätte Ihre Ministerin unter dem Motto „mehr Demokratie" Zwischenfragen zugelassen, dann wäre ich nicht hierher gegangen.
„Mehr Demokratie" heißt auch Kontrolle der Regierung, lieber Herr Hermsdorf.
Frau Minister, Ihr Zahlenspiegel bedarf noch einer Richtigstellung. Sie haben am 22. April im Haushaltsausschuß, als ich den Antrag stellte, die Mittel für die Verbesserung des Kindergeldes von 95 um 100 Millionen DM zu erhöhen, erklärt, daß allenfalls eine Einsparung von 50 Millionen DM möglich sei,
und zwar zur Aufstockung des Betrages von 95 Millionen DM. Sie haben dann am 8. April, zwei Wochen später, Ihre Gesetzesnovelle im Bundesrat eingebracht und dabei diese 50 Millionen DM eingeplant. Soweit richtig! 14 Tage später, am 21. Mai, haben Sie über den Bundesfinanzminister Ihre Vorlage zur Errichtung der Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind" gebracht.
Ich muß noch einmal einen Satz sagen, um jede böswillige Polemik, die hier aufgekommen ist, wirklich zu zerstreuen. Niemand in diesem Hause wird dagegen sein, Frau Minister.
Es war eine sehr böswillige Unterstellung von Ihnen, bei der Frage von Herrn Köster so zu tun, als wolle er das nicht. Hier geht es aber um etwas anderes. Sie schreiben hier in der Begründung — —
— Es ist Ihnen wohl etwas unbequem, das zu hören.
Sie schreiben, im Haushalt 1970 würden noch weitere 50 Millionen DM zur Deckung des Mittelbedarfs für diese Stiftung bereitstehen, und das könnte aus diesem Titel gedeckt werden.
Nun muß ich Sie eines fragen: Entweder sind bei Ihnen, wie ich heute abend eingangs schon sagte, die Zahlen nach der politischen Opportunität manipulierbar, oder Sie haben 'die Entwicklung von vier
Wochen nicht Übersehen ioder dem Haushaltsausschuß eine falsche Auskunft gegeben.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nunmehr zu einigen Abstimmungen. Zuerst stimmen wir über den Antrag Umdruck 42 ab. Wer zustimmt, denbitte ich um idas Handzeichen. — Ich bitte um 'die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag Umdruck 42 ist abgelehnt.
Ich rufe zur Abstimmung über den Antrag Umdruck 43 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ,das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? —. Ebenfalls abgelehnt.
Wir kommen ,dann zur Abstimmung über Einzelplan 15, .Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Wer zustimmt, Iden bitte ich um 'das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Ich darf Sie bitten, noch einen Moment zu verweilen. Wir wollen noch zwei Einzelpläne erledigen, die keiner Aussprache bedürfen. Zunächst rufe ich auf:
Einzelplan 19
Bundesverfassungsgericht
Drucksache VI/835 — Berichterstatter: Abgeordneter Picard
Wird vom Berichterstatter .das Wort gewünscht? — Das 'ist nicht der Fall. Die Aussprache ist geschlossen.
Wer Einzelplan 19 —Bundesverfassungsgericht — zustimmt, den bitte ich um ,das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. —
Enthaltungen? — Bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe nun auf:
Einzelplan 20 Bundesrechnungshof
— Drucksache VI/836 — Berichterstatter: Abgeordneter Lemper
Begehren die Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht 'der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nichtgewünscht. Ich schließe .die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 20.
Wer dem Einzelplan 20 — Bundesrechnungshof — zustimmt, den bitte ich um ,das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen!
Damit sind wir am Ende der heutigen Sitzung anjelangt. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen früh, 8 Uhr, ein.
Die Sitzung ist ,geschlossen.