Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich derKollegin Brigitte Pothmer nachträglich zu ihrem60. Geburtstag gratulieren und auch auf diesem Wegealle guten Wünsche für das neue Lebensjahr übermitteln.
Wir müssen eine Reihe von Wahlen durchführen.Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, den KollegenFritz Güntzler für die Kollegin Antje Tillmann alsMitglied des Gremiums gemäß § 10 a des Finanzmarkt-stabilisierungsfondsgesetzes sowie gemäß § 16 desRestrukturierungsfondsgesetzes, also des Finanzmarkt-gremiums, zu wählen. Stimmen Sie dem zu? – Das istder Fall. Dann ist der Kollege Güntzler als Mitglied die-ses Gremiums gewählt.Die CDU/CSU-Fraktion schlägt weiterhin vor, fürden verstorbenen Kollegen Dr. Andreas Schockenhoffden Kollegen Matern von Marschall als ordentlichesMitglied des Verwaltungsrates des Deutsch-Französi-schen Jugendwerkes zu wählen. Sind Sie auch damiteinverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Damit istder Kollege von Marschall als ordentliches Mitglied desVerwaltungsrates des Jugendwerkes gewählt.Schließlich sollen auf Vorschlag der CDU/CSU-Frak-tion der Kollege Jens Spahn und auf Vorschlag derSPD-Fraktion die Kollegin Bärbel Bas als Mitgliederdes Stiftungsrates der Stiftung Humanitäre Hilfe fürdurch Blutprodukte HIV-infizierte Personen gewähltwerden. Darf ich auch hierzu Ihr Einverständnis feststel-len? – Das ist der Fall. Damit sind die Kollegen Spahnund Bas als Mitglieder des Stiftungsrates gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, dieTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Haltung der Bundesregierung zu einem bun-deseinheitlichen Verbot des Anbaus gentech-nisch veränderter Pflanzen
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfah-ren
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 11. April 2014 über dieBeteiligung der Republik Kroatien am Euro-päischen WirtschaftsraumDrucksache 18/4052Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 3 Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws,Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-lassung der Pille danach aus der Verschrei-bungspflicht und zur Ermöglichung der
Drucksache 18/3834Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
Drucksache 18/4116ZP 4 Beratung des Antrags des Bundesministeriumsder FinanzenFinanzhilfen zugunsten Griechenlands; Verlängerung der Stabilitätshilfe
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Einholung eines zustimmenden Beschlussesdes Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-rungsmechanismusgesetzes auf Verlängerungder bestehenden Finanzhilfefazilität zuguns-ten der Hellenischen RepublikDrucksachen 18/4079, 18/4093ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Thomas Nord, Wolfgang Gehrcke, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKECETA-Verhandlungsergebnis ablehnenDrucksache 18/4090ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie
– zu dem Antrag der Abgeordneten KlausErnst, Susanna Karawanskij, JuttaKrellmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEInteressengeleitetes Gutachten zu Investo-renschutz zurückweisen– zu dem Antrag der Abgeordneten KatharinaDröge, Kerstin Andreae, Dr. ThomasGambke, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKonsultationsergebnisse beherzigen – Kla-geprivilegien zurückweisenDrucksachen 18/3729, 18/3747, 18/3862ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten TomKoenigs, Annalena Baerbock, Marieluise Beck
, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes über dieRechtsstellung und Aufgaben des DeutschenInstituts für Menschenrechte
Drucksache 18/4089Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzDabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 18 – Antrag zum Thema„Griechenland nach der Wahl“ – wird abgesetzt. Damitkein Missverständnis entsteht: Es wird nicht das Themaabgesetzt, sondern der sich ursprünglich auf die Wahlenbeziehende Antrag wird abgesetzt zugunsten der fürmorgen vereinbarten Befassung mit dem Thema„Finanzhilfen zugunsten Griechenlands; Verlängerungder Stabilitätshilfe“. Darüber hinaus kommt es zu den inder Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungendes Ablaufs.Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträg-liche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-punktliste aufmerksam:Der am 5. Februar 2015 überwiesenenachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss fürKultur und Medien zur Mitberatungüberwiesen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Claudia Roth (Augsburg),Marieluise Beck , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENAnerkennung der an den ehemaligen sowje-tischen Kriegsgefangenen begangenen Ver-brechen als nationalsozialistisches Unrechtund Gewährung eines symbolischen finanziel-len Anerkennungsbetrages für diese Opfer-gruppeDrucksachen 18/2694Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Kultur und MedienDer am 5. Februar 2015 überwiesenenachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
zur Mitberatung überwiesen werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanKühn , Lisa Paus, Matthias Gastel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENElektromobilität entschlossen fördern –Chance für eine zukunftsfähige Mobilität nut-zenDrucksachen 18/3912Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitIch frage Sie, ob Sie dem zustimmen. – Das ist derFall. Dann ist das so beschlossen.Bevor wir nun in die korrigierte Tagesordnung eintre-ten, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu er-heben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bun-destag trauert um sein ehemaliges Mitglied HeinrichWindelen. Er ist am 16. Februar im Alter von 93 Jahrengestorben. Heinrich Windelen hat über Jahrzehnte dieLandes- wie die Bundespolitik mitgestaltet – als Parla-mentarier aus Leidenschaft, als Mitglied des Bundesta-ges wie der Bundesregierung. Diesem Haus gehörte erüber drei Jahrzehnte an. Bei seinem Abschied 1990 warer längst eine parlamentarische Instanz.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Heinrich Windelen gehört zu der im wörtlichen Sinne„aussterbenden“ Generation, deren Biografie mit derGeschichte unseres Landes im vergangenen Jahrhunderteng verbunden ist. 1921 geboren, in den schwierigenAnfangsjahren der Weimarer Republik aufgewachsen,war sein Lebensweg nachhaltig vom Zweiten Weltkriegund seinen Folgen gekennzeichnet. Er erlebte den Kriegan der Front, er wurde aus der niederschlesischen Hei-mat vertrieben, er war gezwungen, eine völlig andere be-rufliche Richtung einzuschlagen, als er zuvor geplantund auch begonnen hatte.Die Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Vertreibungprägten Windelens politische Überzeugungen undWerte. Bereits 1946 trat er in die CDU ein, er engagiertesich kommunalpolitisch und zog 1957 erstmals in denDeutschen Bundestag ein. Bei acht aufeinanderfolgen-den Bundestagswahlen wurde er in seinem WahlkreisWarendorf als Abgeordneter direkt gewählt.In der CDU/CSU-Fraktion und in der westfälischenLandesgruppe machte er früh auf sich aufmerksam undwurde ihr Vorsitzender. Viele Jahre war er stellvertreten-der Fraktionsvorsitzender. 1969 war er in der ersten Gro-ßen Koalition kurzzeitig Bundesminister für Vertriebene,Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. In den 1970er-Jah-ren machte er sich parlamentarisch vor allem als ein-flussreicher Vorsitzender des Haushaltsausschusses ei-nen Namen. 1981 wurde er schließlich als NachfolgerRichard von Weizsäckers, der als Regierender Bürger-meister nach Berlin gewechselt war, zum Vizepräsiden-ten des Deutschen Bundestages gewählt. In diesem ho-hen parlamentarischen Amt, das er souverän undüberparteilich ausübte, blieb er bis 1983, dann wechselteer erneut in die Bundesregierung und übernahm dasMinisterium für innerdeutsche Beziehungen.Die Interessen der Vertriebenen lagen ihm, der seineHeimat selbst verloren hatte, besonders am Herzen. Esspricht für seine Gradlinigkeit, dass er sich zur Gültig-keit der Ostverträge bekannte, die er persönlichbekämpft und abgelehnt hatte: weil sie von einem demo-kratisch gewählten Parlament beschlossen worden wa-ren. In seiner Amtszeit als Minister setzte er sich prag-matisch dafür ein, die Folgen der Teilung für dieMenschen zu mildern. Das Wiedervereinigungsgebotdes Grundgesetzes war ihm dabei immer die maßgebli-che Orientierung. Seine deutschlandpolitischen Über-zeugungen vertrat er auch dann unbeirrt, als sie querzum Zeitgeist lagen. Doch zu seiner Persönlichkeit ge-hörte auch, dass er sich nach dem Abschied vom Parla-ment als Vorsitzender der „Stiftung für die deutsch-pol-nische Zusammenarbeit“ intensiv für die Aussöhnungmit unserem östlichen Nachbarn engagierte.Wir sind Heinrich Windelen dankbar für alles, was erfür den Aufbau einer stabilen parlamentarischen Demo-kratie in unserem Land über viele Jahre hinweg geleistethat. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.Seinen Kindern und allen Angehörigen spreche ichim Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme aus.Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 bauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-führung einer Infrastrukturabgabe für dieBenutzung von BundesfernstraßenDrucksache 18/3990Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss Digitale AgendaHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Verkehr-steueränderungsgesetzes
Drucksache 18/3991Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ichkeinen Widerspruch, also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst demBundesminister Alexander Dobrindt das Wort.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir leiten heute ein neues Kapitel der Infra-strukturfinanzierung ein
und vollziehen einen echten Systemwechsel von einervorwiegend steuerfinanzierten Infrastruktur zu einer nut-zerfinanzierten Infrastruktur, das heißt von nicht zweck-gebundenen Steuermitteln hin zur zweckgebundenenNutzerfinanzierung. Kurz gesagt: Es geht um einen wei-teren Schritt bei der Richtungsentscheidung,
hin zur aktiven Mobilitätsfreiheit weg vom grünen Ver-kehrspessimismus, meine Damen und Herren.
Ja, die Bundesregierung setzt das um, was Ihnen nichtgelungen ist: einen großen Anteil der mobilitätsbezoge-nen Einnahmen wieder direkt in die Infrastruktur zu in-
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vestieren und so unsere Wachstums- und Wohlstands-chancen durch Mobilität zu sichern.
Wir bewegen mit der Infrastrukturabgabe 3,7 Milliar-den Euro vom Haushalt des Bundesfinanzministeriumsin den Haushalt des Bundesverkehrsministeriums, undzwar jedes Jahr, dauerhaft und zweckgebunden für dieInfrastruktur. Das ist genau das, was auch die Europäi-sche Kommission in ihrem Weißbuch 2011 von den Mit-gliedstaaten gefordert hat: die umfassende Anwendungdes Prinzips der Kostentragung durch die Nutzer undVerursacher.Wir setzen das um,
und deswegen ist die Infrastrukturabgabe auch ein euro-päisches Projekt. Es erfüllt die drei Grundsätze Subsidia-rität, Solidarität und Gerechtigkeit.
Es erfüllt den Grundsatz der Subsidiarität, weil wirdie Verantwortung für den Erhalt und Ausbau der Infra-struktur in Deutschland übernehmen, die ganz Europamiteinander verbindet.
Einen Augenblick, Herr Minister. Nach der mir vor-liegenden Rednerliste ist sichergestellt, dass noch eineganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu demThema zu Wort kommen. Es wäre schön, wenn das derReihe nach erfolgen könnte.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Herr Präsident, es erfüllt auch so den Zweck einer ak-tiven Debatte.
Von daher kann ich die Grünen nur weiter aufrufen, sichdaran zu beteiligen, wenn es darum geht, sich für die In-frastruktur in Deutschland einzusetzen.Solidarität war der zweite Begriff, den ich als Begrün-dung genannt habe, warum es sich um ein europäischesProjekt handelt.
Weil wir uns heute schon ganz selbstverständlich an derInfrastrukturfinanzierung der meisten unserer Nachbar-länder beteiligen,
wird diese Selbstverständlichkeit jetzt auch auf deut-schen Straßen Realität. Das ist Solidarität und Gerech-tigkeit, weil es zukünftig zwischen Nutzern, die sich ander Finanzierung unserer Infrastruktur beteiligen, undNutzern, die diese Straßen kostenlos benutzen, keinenUnterschied mehr geben wird. Das ist das europäischeProjekt.
Deswegen schlage ich vor: Akzeptieren Sie einfach,dass es sich dabei um einen ordnungspolitischen Grund-gedanken handelt. Zweckbindung ist ein ordnungspoliti-sches Projekt. Wir stellen einen klaren Bezug zwischenEinnahmen und Ausgaben her. Das tun wir bei der Lkw-Maut und bei der Infrastrukturabgabe, und das setzenwir bei öffentlich-privaten Partnerschaften um. Das ma-chen wir übrigens auch bei der Digitalisierung der Mobi-lität über die Digitale Dividende II. Dieser Systemwech-sel ist ein echter Meilenstein in der Finanzierung derInfrastruktur. Das Verursacherprinzip „Wer mitnutzt, derzahlt mit“ wird umgesetzt. Damit schaffen wir eine brei-tere Basis für die zukünftige Finanzierungsgrundlage un-serer Infrastruktur.
In den meisten europäischen Ländern gibt es dreiSäulen der Finanzierung der Infrastruktur: Kfz-Steuer-systeme, Mineralölsteuersysteme und Mautsysteme. InDeutschland haben wir bisher nur zwei Säulen: die Kfz-Steuer und die Mineralölsteuer. Wir bauen jetzt die dritteSäule, wie sie in unseren Nachbarländern bereits exis-tiert. Dass es dabei zu keinen Mehrbelastungen dererkommen darf, die bisher die beiden ersten Säulen bedie-nen, ist, glaube ich, geradezu selbstverständlich.
Deswegen wird es beim Aufbau der dritten Säule, der In-frastrukturabgabe, zu einer Absenkung der mittlerenSäule, der Kfz-Steuer, kommen. Damit gibt es keineMehrbelastung von Haltern von in Deutschland zugelas-senen Kraftfahrzeugen.
Wir bewegen mit der Infrastrukturabgabe jedes Jahr3,7 Milliarden Euro vom Finanzministerium in das Ver-kehrsministerium. Wir erreichen dabei jedes Jahr Mehr-einnahmen von 500 Millionen Euro.
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Diese halbe Milliarde ist nachweisbar solide, präzise undtransparent errechnet. Das können Sie sowohl in unserenBerechnungen als auch in den entsprechenden Gutachtennachlesen. Sie können da sogar nachlesen, dass wir inZukunft mit eher höheren Einnahmen zu rechnen haben,weil das Ministerium hier konservativ vorgegangen istund geradezu vorsichtig kalkuliert hat.Ich habe in den letzten Wochen eine Reihe von Debat-ten über dieses Thema geführt, auch im Bundesrat.
Ich erinnere mich noch sehr genau, was Ihr Vorzeigever-kehrsideologe Winne Hermann gesagt hat: Wir sehenein, dass man nicht nur mehr Haushaltsmittel fordernkann, sondern dass man sich langfristig, perspektivischum eine neue Finanzierung kümmern muss.
Genau das tun wir auch. Aber da wäre es angebracht,dass Sie von den Grünen, wenn Sie schon nach neuenFinanzierungsformen schreien, sich damit auseinander-setzen, was wir vorgeschlagen haben. Sie lehnen aber al-les nur plump ab.
Sie wollen keine Infrastrukturabgabe. Sie wollenkeine Einbindung von privatem Kapital über öffentlich-private Partnerschaften. Sie lehnen auch den Neubauvon Straßen ab, wie man in Ihren Veröffentlichungen im-mer wieder nachlesen kann. Das Einzige, was Sie wirk-lich wollen, ist, unseren Autofahrern immer tiefer in dieTasche zu greifen.
Das machen Sie mit Ihrem Vorschlag zur Mineralöl-steuer. Die Zitate sind doch eindeutig. So sagt WinneHermann: Man könnte in einem ersten Schritt die Mine-ralölsteuer erhöhen. – Lieber Herr Anton Hofreiter, Siehaben gesagt: Das Benzin ist immer noch zu billig. – DerGeschäftsführer der Grünen, Kellner, sagt: ein Extragro-schen auf den Ölpreis! – Wenn es um das Abzocken derheimischen Autofahrer geht, dann werden Sie auf einmalkreativ. Ansonsten verweigern Sie die Mitarbeit.
Dabei darf man nicht vergessen, dass Sie wiederholtvorgeschlagen haben, die Totalmaut einzuführen. Sie be-fürworten ein System, das jeden Kilometer auf derStraße einzeln berechnet, einzeln bepreist und einzelnabkassiert. Sie wollen über GPS-Systeme den gläsernenAutofahrer schaffen. Sie wollen Familien und Pendlermit dieser Totalmaut extra belasten. Mit der ideologi-schen Fundamentalopposition, die Sie pflegen, gefähr-den Sie die individuelle Mobilität in Deutschland. DasEinzige, was Sie vorschlagen, ist ein straßenfeindlichesEntmobilisierungsprogramm, das wachstums- und wohl-standsfeindlich ist. Das ist mit uns nicht zu machen.
Ich verstehe Ihre ganze Aufregung nicht, wenn manIhnen das vorhält, was Sie selber ständig veröffentli-chen.
Sie haben sich in den vergangenen 40 Jahren in Wahrheitnicht sehr viel weiterbewegt. In Ihren früheren Bundes-tagswahlprogrammen ist zu lesen: Wir wenden uns ge-gen einen weiteren Ausbau von Autobahnen und Fern-straßen. Oder: Der beste Verkehr ist der, der gar nichtentsteht.
Oder: Die Grünen wollen den Abschied vom Auto alsMassenverkehrsmittel und wollen die Straßenbenutzungeinschränken. – Davon sind Sie heute in Wahrheit nichtsehr weit entfernt. Das alles passt weiterhin zu IhrerIdeologie.
Sie sagen heute noch: Die Fixierung auf den Infrastruk-turausbau ist der Weg zurück in eine alte Verkehrspoli-tik. Sie sagen: Das Auto ist der Irrsinn der Jahrhunderts.Sie sagen auch: Weniger Autos sind besser als mehr Au-tos. – Das ist der grüne Irrtum in seiner Kontinuität. Sodenken Sie heute noch.
Sie sind gegen Mobilitätswachstum. Sie wollen damitdas Wirtschaftswachstum einschränken. Ich sage Ihnen:Den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Wirt-schaftswachstum und Mobilitätswachstum werden Sienie einsehen. Er ist aber gegeben. Ohne wachsende Mo-bilität werden wir keine wachsende Wirtschaft und kei-nen wachsenden Wohlstand haben, aber dafür stehenwir.
Der Ausbau, der Unterhalt und die Digitalisierung un-serer Verkehrsinfrastruktur sind ein bedeutender Schrittzur Mobilität 4.0. Das ist in der Tat eine der größtenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen He-
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Bundesminister Alexander Dobrindt
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rausforderungen seit Jahrzehnten. Das kann man nur miteinem Höchstmaß an Investitions- und Innovationsbe-reitschaft begleiten. Was Sie hier wieder aufführen, näm-lich Technologie- und Mobilitätsfeindlichkeit immer vorsich herzutragen, führt dazu, dass wir den Anschluss aneine moderne Gesellschaft verlieren,
dass wir bei der Sicherung des zukünftigen Wirtschafts-wachstums und des Wohlstands scheitern werden. Dassind die wahren Alternativen, um die es geht. Mit Ihnen:Einschränkung der individuellen Mobilität, Schwächungunseres Wirtschaftsstandorts, und mit uns: Wohlstands-sicherung, Mobilitätsgewinn und ein Systemwechsel zurNutzerfinanzierung.
Herr Minister, darf die Kollegin Haßelmann eine
Zwischenfrage stellen?
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehr
und digitale Infrastruktur:
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Präsident, vielen Dank auch, HerrMinister, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe gese-hen, Sie haben 16 Minuten Redezeit. Ich frage Sie des-halb, ob Sie vielleicht noch 3 Minuten Ihrer Redezeit da-rauf verwenden könnten, uns etwas Konkretes zu IhremGesetzentwurf zu sagen.
Alexander Dobrindt, Bundesminister für Verkehrund digitale Infrastruktur:Liebe Frau Haßelmann, ich hatte schon immer dasGefühl, dass Sie in der Vergangenheit Schwierigkeitenhatten, zu verstehen, was der Systemwechsel eigentlichbedeutet.
Ich habe jetzt nicht die Hoffnung, dass wir in dieser De-batte zu dem Ergebnis kommen, dass Sie das Prinzip derNutzerfinanzierung, das wir umsetzen, als eines verste-hen werden, dass die zukünftige Investition in unsere In-frastruktur sicherstellt. Ich hatte auch nicht das Gefühl inder Vergangenheit, dass Sie das Prinzip der Gerechtig-keit auf unseren Straßen mit unterstützen.
Sie von den Grünen müssen einfach einmal akzeptie-ren, dass die Lösung des Problems der Infrastruktur-finanzierung, ein Problem, das wir auf Dauer lösen müs-sen, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa, damitzusammenhängt, dass Nutzer sich an der Infrastruktur-finanzierung beteiligen. Glauben Sie bitte einfach: Siekönnen Ihre Haltung, gegen mehr Investitionen undStraßenbau einzutreten, dauerhaft nicht aufrechterhalten.Denn wenn wir das tun, was Sie mit Ihrer Entkoppe-lungstheorie vertreten, nämlich Wirtschaftswachstumund Wohlstand von Investitionen in die Infrastruktur ab-zukoppeln,
tun wir nichts anderes, als unsere Gesellschaft vomWohlstand abzukoppeln. Das können wir nicht zulassen.
Wir erreichen mit dem Investitionshochlauf, den meinHaus beschrieben hat, einen Aufwuchs der Investitionenum 40 Prozent bis zum Jahr 2018. Das ist ein absoluterRekord. Übrigens ist das eine Zahl, die auch von derDaehre-Kommission und der Bodewig-Kommission inihren Berechnungen so eingefordert wird. Sie haben anvielen Stellen in der Vergangenheit das Gutachten derDaehre-Kommission und der Bodewig-Kommission zi-tiert, Sie haben auch darauf verwiesen, dass in der Son-der-Verkehrsministerkonferenz genau die Inhalte diesesGutachtens mit beschlossen worden sind.Sie müssten jetzt einmal akzeptieren, dass wir genaudas auch umsetzen.
Sie sollten sich vielleicht auch daran erinnern, dass dieLänder, an deren Regierung Sie beteiligt sind, dem imBundesrat zugestimmt haben. Daehre und Bodewigsprechen davon, dass wir zusätzliche Haushaltsmittel fürdie Infrastruktur aufwenden sollen – das machen wir –,dass wir eine Erhöhung der Leistungs- und Finanzie-rungsvereinbarung mit der Bahn machen sollen; auchdas tun wir. Mit 28 Milliarden Euro sind es 5 MilliardenEuro mehr als in der letzten Finanzierungsperiode. Dasseine überjährige Mittelbereitstellung erfolgen soll, dashaben wir umgesetzt. Das Prinzip „Erhalt vor Neubau“findet so bei uns statt. Die Ausweitung der Lkw-Mautauf alle Bundesstraßen unter Einbeziehung der Lkw ab7,5 Tonnen setzen wir so um.
Die Daehre/Bodewig-Kommission spricht davon, dassAbgaben für nicht in Deutschland zugelassene Pkw ein-geführt werden sollten. Auch das setzen wir um. Sie ha-ben in den Ländern auch da entsprechend mitgestimmtund dafür gesorgt, dass wir diese Diskussionen heute ha-ben und dass wir den gerade beschriebenen Weg einesSystemwechsels gehen.Dass Sie nach dieser Bilanz – Umsetzung dessen, wasdie Daehre/Bodewig-Kommission vorgeschlagen hat,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8263
Bundesminister Alexander Dobrindt
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durch diese Bundesregierung – jetzt auf Ihrem Parteitagdavon sprechen, dass notwendige Investitionen in die In-frastruktur verschleppt werden, obwohl wir so viel in-vestieren wie niemals zuvor, so viel Heuchelei hätte ichhier eigentlich nicht einmal Ihnen zugetraut, meine Da-men und Herren von den Grünen. Sie tragen nicht nurnichts dazu bei, dass wir einen Investitionshochlauf ha-ben; Sie verweigern sich geradezu dem Systemwechsel.
Wir haben den Investitionshochlauf gestartet. Wirstellen Rekordmittel für die Infrastruktur zur Verfügung.Sie haben nur die Erhöhung von Mineralölsteuer oderSchuldenfinanzierung der Investitionen im Sinn. Dazumuss ich klar sagen: Unser Prinzip ist ein anderes. Mituns gibt es keine Finanzierung der Infrastruktur durchSchulden oder durch Steuererhöhungen. Bei uns heißtdas Prinzip: Gerechtigkeit finanziert die Straßen.
Ich bleibe dabei:
Die Infrastrukturabgabe, sie ist fair, sie ist sinnvoll, undsie ist gerecht. Sie ist fair, weil sie in den meisten unsererNachbarländer genau so durchgeführt wird.
Sie ist sinnvoll, weil jeder Euro, den wir einnehmen, zu-sätzlich in die Infrastruktur investiert wird, und sie istgerecht, weil sie zukünftig jeden, der die Straßen nutzt,angemessen an der Finanzierung beteiligt.Danke schön.
Herbert Behrens ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, auch mit den tragenden Worten des Verkehrsmi-nisters lässt sich nicht überdecken, was uns hier am Endevorliegt. Als der Referentenentwurf bekannt gewordenist, schrieben einige Blätter: Der Berg kreißte und gebareine Maut. – Ich glaube, das ist eine sehr treffende Be-schreibung dessen, was uns hier vorliegt, und es ist aucheine treffende Beschreibung für diesen quälend langenProzess, den wir hinter uns haben, bei dem wir versuchthaben, überhaupt zu erkennen: Was ist denn eigentlichdas Prinzip hinter der Idee, die uns dort auf den Tisch ge-legt worden ist, die erst als Maut und dann als Infrastruk-turabgabe verkauft werden sollte?Ich denke, das Ganze wird ein bisschen klarer, wennwir uns die damalige Situation noch einmal vor Augenführen: Damals waren die Luftverhältnisse über demCSU-Stammtisch noch relativ klar und eindeutig. Ich zi-tiere mal den damaligen CSU-Generalsekretär – er be-fand sich noch in der Metamorphose hin zum Verkehrs-minister –, der in einer Pressemitteilung sagte:Bei der Forderung der CSU nach einer Pkw-Mautfür Ausländer geht es um Gerechtigkeit.– Das haben wir heute noch einmal gehört. –Alle anderen Parteien wollen die Gratis-Fahrten fürAusländer auf unseren Autobahnen weiter hinneh-men. Wir nicht.Herr Dobrindt, eins hätte Ihnen inzwischen klar seinmüssen: Mit diesem Wahlkampfgetöse können Sie keineVerkehrspolitik machen. Es hätte endlich einmal eineklare Ansage gemacht werden müssen, wie Sie sich Ver-kehrspolitik künftig vorstellen wollen.
Jetzt muss also diese Form der Pegida-Maut in eineverfassungsgemäße Form gebracht werden. Sie habenalles versucht, die Quadratur des Kreises herzustellen.Zigmal mussten Sie nachbessern, nachdem Ihnen sogaraus Ihrer eigenen Fraktion Gegenwind ins Gesicht gebla-sen hatte.Erinnern wir uns: Zunächst sollten nur die Autobah-nen bemautet werden, dann alle Straßen.Jetzt zahlen Ausländer auf Autobahnen und Inländerauf Autobahnen und Bundesstraßen, und das nur, weilallen Inländern eine Jahreszwangsmaut abgeknöpft wer-den soll, ohne die die ganze Konstruktion in sich zusam-menfallen würde.Im grenznahen Bereich soll die Maut nicht erhobenwerden, um den Tourismus und den kleinen Grenzver-kehr nicht zu beeinträchtigen.Und obendrein gibt es eine Reform des Kraftfahr-zeugsteuergesetzes, um die inländischen Kfz-Halter umden Betrag zu entlasten, den sie als Pkw-Maut bezahlenmüssen. Nun ist es aber europäisches Recht, dass nie-mand aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werdendarf. Darum wurde die Pkw-Maut für Ausländer mit ei-nem Mal zu einer Infrastrukturabgabe umetikettiert. Sieglauben doch nicht allen Ernstes, dass Ihnen jemand ab-nimmt, dass die Infrastrukturabgabe nichts mit der Ent-lastung bei der Kfz-Steuer zu tun hat? So blind wirdauch in Brüssel niemand sein.
Herr Dobrindt, dieser Versuch ist danebengegangen.Nun versuchen Sie einen anderen Ausweg. In der Ak-
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8264 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Herbert Behrens
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tuellen Stunde – aber in ähnlicher Weise auch heute –sagten Sie, Herr Minister:Wir vollziehen einen echten Systemwechsel in derFinanzierung unserer Infrastruktur von einer vor-wiegenden Steuerfinanzierung der Infrastruktur hinzu einer Nutzerfinanzierung der Infrastruktur. Da-durch stärken wir das Verursacherprinzip.
Herr Kollege Behrens, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Ja, ich lasse eine Zwischenfrage zu.
Herr Kollege Behrens, danke, dass Sie eine Zwi-
schenfrage zulassen. – Sie haben in Ihren Ausführungen
im Zusammenhang mit der Maut gerade von der
„Pegida-Maut“ gesprochen. Mir persönlich hat sich der
Zusammenhang jetzt nicht erschlossen. Ich wäre Ihnen
dankbar, wenn Sie diesen Zusammenhang erklären
könnten.
Das will ich tun. – In der Tat erleben wir bei den De-
monstrationen der Pegida-Anhänger in der Argumenta-
tion einen starken rassistischen Unterton. Immer wieder
wird klargemacht: Das Abendland muss gerettet werden,
indem beispielsweise islamische Tendenzen zurückge-
drängt werden. – Der Zusammenhang zwischen der Aus-
ländermaut und einer Pegida-Maut besteht darin, dass
auch von der CSU in Diskussionen immer darauf rekur-
riert wurde: Die Ausländer fahren auf unseren Autobah-
nen und fahren sie kaputt. Sie müssen auf jeden Fall zur
Finanzierung herangezogen werden. – Das sagt die CSU,
obwohl sie herangezogen werden, und zwar dadurch,
dass sie tanken und in anderer Weise hier an der Finan-
zierung unserer Infrastruktur beteiligt sind. – Das ist der
Grund. Es sind Ressentiments, die mitspielen, und das
gehört sich nicht, schon gar nicht in der Verkehrspolitik.
Nein, jetzt hat wiederum der Kollege Behrens das
Wort. Bitte schön.
Ich habe mich eben darauf bezogen, dass HerrDobrindt gesagt hat, dass ein echter Systemwechsel voll-zogen werden soll. Er sprach von der Nutzerfinanzie-rung der Infrastruktur und davon, dass das Verursacher-prinzip gestärkt werde. Dass es um einen Systemwechselgeht, stimmt in der Tat. Das zweite Argument ist aller-dings völliger Humbug. Das Verursacherprinzip würdedann gestärkt werden, wenn wir wirklich Verursacherheranziehen würden. Wir haben auch in der Diskussionüber die Lkw-Maut darüber gesprochen, dass wir guckenmüssen: Wer verursacht die meisten Beschädigungen aufden Straßen? Wer ist dafür verantwortlich, dass so oftReparaturen an Straßen und Brücken erforderlich sind?Wenn wirklich das Verursacherprinzip das tragendeElement sein soll, dann muss auf jeden Fall bei der Lkw-Maut angesetzt werden; denn die Pkw – das wissen wir –sind wesentlich weniger an der Abnutzung der Infra-struktur beteiligt. Das mit dem Verursacherprinzip istreiner Etikettenschwindel. „Nutzerprinzip“ oder „Wege-lagerei“, das wäre treffender.
Sie behaupten – eben haben Sie das noch einmal ge-sagt –, in Europa sei es völlig selbstverständlich, dasseine Maut kassiert wird. Das ist falsch. Nirgends gibt esdie Maut
für Inländerinnen zurück; nirgends gibt es eine variablePreisgestaltung für die Jahresvignette; nirgends werdenInländer zum Kauf einer Jahresvignette gezwungen.Eine andere Behauptung. Sie behaupten, 2 MilliardenEuro netto würden durch ausländische Fahrzeughalter inden Verkehrshaushalt strömen. Mal ganz am Rande: Beiden diversen Korrekturen am Referentenentwurf ist dasWort „zusätzlich“ inzwischen verloren gegangen. Aberzum Ertrag: Vor ein paar Tagen wollte der Minister end-lich offenlegen, auf welche Berechnungen er sich dennnun bezieht. Heraus kamen ein Gefälligkeitsschreibenaus dem Ministerium und eine Überprüfung durch einenAngestellten eines Unternehmens, das selbst ins Maut-geschäft investiert hat. Das ist übrigens der gleiche Gut-achter, der gegenüber der CSU schon mal 900 MilliardenEuro Bruttomauteinnahmen prognostiziert hatte.
– 900 Millionen. – Diese dürftige Grundlage wurde vonden Fachverbänden in der Luft zerrissen. ADAC, VCDund ACE haben Stellungnahmen abgegeben, die das ab-lehnen. Gestern Abend gab es dann noch ein Gutachtendes Verkehrs- und Wirtschaftswissenschaftlers Eisenkopf.Sein Fazit – Zitat –:… zeigt sich bei der in dieser Kurzstellungnahmevorgenommenen Analyse, wie unzureichend be-gründete oder willkürliche Annahmen in Richtunghöherer Einnahmen wirken. … Insgesamt erschei-nen die Ergebnisse daher aus analytischer Perspek-tive wenig plausibel bzw. überzeugend und die An-nahmen insbesondere ergebnisorientiert gesetzt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8265
Herbert Behrens
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Übersetzt heißt das: Das Ergebnis stand als Erstes fest,dann war der Gutachter gehalten, etwas dazu zu schrei-ben, damit die Summe am Ende auch passt.
Kurz und knapp ist dort beschrieben: 80 Prozent derEinnahmen, die Sie errechnet haben, sind nicht schlüssigbelegt, und die Berechnungsgrundlage ist vollkommenunsolide. – Laut einem Gutachten von Ralf Ratzenberger –Sie kennen es; der ADAC hat es im vergangenen Jahrherausgebracht – kommen nicht 700 Millionen EuroMautgebühren rein, sondern lediglich 262 MillionenEuro, und zwar brutto. Abzüglich der Systemkosten wirddas zu einem Minusgeschäft.Der Verkehrsminister bleibt aber wacker bei seinen700 Millionen Euro brutto pro Jahr. Das trifft aber zu-mindest nicht für die ersten drei Jahre zu. Wir habennachgefragt: 455,6 Millionen Euro sind in den erstendrei Jahren fällig, um dieses System überhaupt zu imple-mentieren. Das heißt, in den ersten drei Jahren fällt dieBilanz sowieso anders aus als die positive Bilanz von500 Millionen Euro netto, die uns jetzt vorgelegt wurde.Die Linke bleibt bei ihrer Bewertung: Die Auslän-dermaut ist nicht nur verkehrspolitisch absurd, sondernsie ist inzwischen auch haushaltspolitisches Harakiri.
Kolleginnen und Kollegen, zum Thema der Europa-konformität wird sicherlich noch gesprochen werden.Das will ich hier nicht tun.Ich komme zum Schluss. Die wahre Absicht wird er-kennbarer. Es geht um die Nutzerfinanzierung, das heißt,der Autofahrer wird herangezogen. Das würde 3,7 Mil-liarden Euro in die Kasse bringen. Gleichzeitig tagt imWirtschaftsministerium eine Expertenkommission, diedie Privatisierung des Straßenverkehrssystems vorberei-tet. Da wird es passend, und es wird erkennbar, wasmöglicherweise wirklich hinter dieser Infrastrukturab-gabe steckt.Ich bleibe dabei – die Linksfraktion sieht es ebenso –:Die Ausländermaut ist weder fair noch sinnvoll oder ge-recht. Sie ist absurd, unvertretbar und unbeherrschbar.Maut und Minister gehören schnellstens aus dem Ver-kehr gezogen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Sören
Bartol das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrten Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielepolitische Beobachter glauben, dass wir heute das wich-tigste Vorhaben der Verkehrspolitik dieser Koalition dis-kutieren. Das mag jeder für sich selbst beurteilen.
Ich denke, man würde dieser Koalition unrecht tun,wenn man unsere Verkehrspolitik nur auf die Pkw-Mautreduzieren würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer eine Koalitioneingeht, muss Kompromisse schließen. Für die SPD ge-hört die Pkw-Maut dazu. Jeder in diesem Hause weiß,dass es das zentrale Vorhaben der CSU ist. Wir haben siejetzt im Koalitionsvertrag mit der CDU und der CSUvereinbart. Damit wird sie kommen. Die Frage ist nur:Wie?Heute beginnen die parlamentarischen Beratungen imDeutschen Bundestag. Angesichts der jahrzehntelangenDiskussion über eine Pkw-Maut sollten wir uns dafürausreichend Zeit nehmen. Es ist der Deutsche Bundes-tag, der darüber entscheidet, wie die Pkw-Maut aussehenwird – niemand anders.
Aus Respekt vor der parlamentarischen Arbeit diesesHauses sollten wir uns alle gemeinsam dabei von nie-mandem treiben lassen.
Das Interesse in der Bevölkerung an den beiden vor-liegenden Gesetzentwürfen kommt nicht von ungefähr.Die Autofahrerinnen und Autofahrer befürchten, dassneue finanzielle Belastungen auf sie zukommen. Siehaben Zweifel, ob das von BundesverkehrsministerDobrindt vorgeschlagene Konzept einer Pkw-Mautfunktionieren kann. Wir Sozialdemokraten nehmen dieseBefürchtungen sehr ernst.
Wir werden im Deutschen Bundestag keiner Pkw-Mautzustimmen, die die deutschen Autofahrerinnen und Au-tofahrer zusätzlich belastet. Das haben wir so verspro-chen. Das haben wir im Koalitionsvertrag so vereinbart,und das werden wir hier im Deutschen Bundestag auchgenau so beschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns in derKoalition einig, dass wir mehr in unsere Straßen, Schie-nen- und Wasserwege investieren wollen. Dafür werdenwir zusätzliche Steuermittel mobilisieren und die Nut-zerfinanzierung ausweiten. Die Einführung der Pkw-Maut darf kein Selbstzweck sein. Sie muss zusätzlicheEinnahmen bringen, die nicht umgehend wieder durchBürokratie aufgefressen werden. Wir werden mit denEinnahmen aus der Pkw-Maut nicht die Probleme bei
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8266 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Sören Bartol
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den Verkehrsinvestitionen lösen. Daher setzen wir auchauf die Ausdehnung der Lkw-Maut auf alle Bundesstra-ßen. Das bringt neue Einnahmen in Höhe von bis zu2 Milliarden Euro pro Jahr.
Bundesminister Dobrindt geht davon aus, dass mit derPkw-Maut 500 Millionen Euro zusätzlich eingenommenwerden können. Ich bin froh, dass man unserer Forde-rung nach mehr Transparenz gefolgt ist; die Berechnun-gen liegen nun endlich offen auf dem Tisch. Wir solltendie kommenden Wochen dafür nutzen, sie auf ihre Plau-sibilität hin zu überprüfen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer zusätzlicheEinnahmen von den Nutzern der Straßen will, muss aberauch klar sagen, wo er denn das Geld investieren will.Die Akzeptanz der Pkw-Maut wird auch davon abhän-gen, ob die Einnahmen dort investiert werden, wo alleim Stau stehen. Eine klare Priorisierung bei den Bundes-verkehrswegen ist deshalb notwendig.
Bundesminister Dobrindt hat im Frühjahr 2014 eineGrundkonzeption für den neuen Bundesverkehrswege-plan 2015 vorgelegt; sie bedeutet einen Paradigmen-wechsel. Er wird von der breiten Öffentlichkeit unter-stützt. Die Länder wollen die Umsetzung. Die Wirtschaftwill die Umsetzung. Und auch die Umweltverbändewollen die Umsetzung. Wer sich einer neuen Bundesver-kehrswegeplanung verweigert, stellt sich am Ende gegendie Interessen der Bevölkerung wie auch gegen die Inte-ressen der Wirtschaft.Für uns steht fest: Wer neue Finanzierungsinstru-mente einführen will, aber gleichzeitig das Geld derSteuer- und Mautzahler mit der Gießkanne nach Him-melsrichtungen ausgeben will, der wird am Ende nichtunsere Zustimmung erhalten.
Der Aufwuchs der Investitionsmittel muss in den kom-menden Jahren mit einer klaren Priorisierungsstrategieeinhergehen.Zuerst müssen wir uns um die bestehenden Brückenund Straßen kümmern.Beim Neu- und Ausbau müssen wir 80 Prozent derMittel in überregionale Projekte investieren. Dabei hatdie Beseitigung von Engpässen absolute Priorität. Genauso steht es auch im Koalitionsvertrag, und daran lassenwir auch nicht rütteln.
Gleichzeitig werden wir für die bessere Anbindungder ländlichen Räume 20 Prozent der Investitionsmittelzur Verfügung stellen.Ich denke, das ist der vernünftige Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist dasgrößte Mitgliedsland der Europäischen Union.
Lassen auch Sie eine Zwischenfrage zu, Herr Kol-
lege?
Ja.
Bitte schön.
Kollege Bartol, ich unterstütze Ihre Position, was die
Bundesverkehrswegeplanung angeht, weil damit tat-
sächlich eine vernünftige Entwicklung der Infrastruktur
möglich wäre. Ich möchte Sie aber fragen, was Sie zu
der Tatsache sagen, dass der Bundesverkehrsminister
jenseits der parlamentarischen Beratungen und jenseits
der Priorisierung bereits eigenmächtig für Maßnahmen
zum Neubau von Straßen 2,6 Milliarden Euro bewilligt
hat.
Frau Leidig, der Bundesverkehrsminister ist ebensowie ich Teil dieser Koalition. Für den Bundesverkehrs-minister und für mich ist der Koalitionsvertrag Grund-lage. Ich freue mich, dass Sie uns allen bestätigen, dasses ein guter Koalitionsvertrag ist; das hört man von derOpposition nicht allzu oft.
Es ist, wie ich glaube, auch ganz klar: Im Moment ha-ben wir geltende Bedarfspläne, haben wir geltende Aus-baupläne. Natürlich ist ein Bundesverkehrsminister amEnde auch dazu da, gemeinsam mit uns im Parlament zuentscheiden, wofür Mittel freigegeben werden und obdie Straßen gebaut werden, die zum Beispiel im Investi-tionsrahmenplan oder in anderen Plänen stehen. Ichglaube wirklich, dass Einigkeit zwischen mir und demMinister darüber besteht, dass es beim Bundesverkehrs-wegeplan 2015 für uns alle am Ende um die Frage geht,ob wir einen Paradigmenwechsel einleiten oder nicht.Insofern sehe ich da kein Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir allesind uns einig, dass wir gute Nachbarn in einem geeintenEuropa sein wollen. Wir haben im Koalitionsvertrag ver-einbart, dass die Pkw-Maut keine EU-Ausländer diskri-minieren, also nicht gegen europäisches Recht verstoßendarf. Die EU-Verkehrskommissarin nennt zwei Krite-rien, die aus Sicht der Europäischen Kommission ent-scheidend sind: Die Gebührensätze für die Zeitvignetten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8267
Sören Bartol
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müssen im Vergleich zur Jahresvignette für ausländischeAutofahrer verhältnismäßig sein, und die gleichzeitigeEinführung einer Pkw-Maut und einer entsprechendenErmäßigung bei der Kfz-Steuer für Deutsche darf nichtzu einer Diskriminierung führen. – Die Bundesregierungist insgesamt zu der Einschätzung gekommen, dassbeide Kriterien erfüllt sind. Das Bundesverkehrsministe-rium hat dazu ein umfangreiches Gutachten vorgelegt,und wir im Deutschen Bundestag werden uns auch dieseBewertung noch einmal ganz genau anschauen.Wir wissen, dass sich die EU-Kommission zu derFrage vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nichtendgültig äußern wird. Damit steht auch fest: Die Ver-einbarkeit mit europäischem Recht wird endgültig erstnach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens ge-klärt werden können. Eines aber sollten wir im weiterenVerfahren jedoch sicherstellen: Sollte die EU-Kommis-sion mit einer Klage gegen die Pkw-Maut erfolgreichsein und die Entlastung bei der Kfz-Steuer kippen, darfam Ende nicht eine Belastung für alle übrigbleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesländerhaben sich sehr ausführlich mit der Pkw-Maut beschäf-tigt. In seiner Stellungnahme hat der Bundesrat 23 Kri-tikpunkte aufgeführt. Ich finde, wir dürfen die Bedenkender Bundesländer nicht einfach beiseiteschieben. Wirsollten sie alle ernst nehmen. Wenn es verfassungsrecht-liche Bedenken gibt, ob der Bund den Kfz-Meldestellender Kommunen neue Aufgaben übertragen darf, mussdas geklärt werden. Wenn die Länder der Meinung sind,dass sie eigentlich bei der Pkw-Maut gefragt werden undzustimmen müssten, muss das geprüft werden. Wenn esZweifel an einer ordentlichen Kontrolle der Pkw-Mautgibt, muss das bewertet werden. Wenn es in Grenzregio-nen immer noch Proteste gibt, weil die Gäste aus denNachbarländern die deutschen Städte eben nur über Bun-desautobahnen erreichen können, müssen wir uns das,finde ich, alle gemeinsam anschauen.
Wenn es weiter Zweifel am Datenschutz gibt, sollten wirdie auch ausräumen. Je weniger Daten gespeichert wer-den, umso besser.Das heißt, die vorgelegten Gesetzentwürfe werfennoch viele Fragen auf. Wir sollten sie gemeinsam klären.Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt beginnt dieKärrnerarbeit der Fachpolitiker in den Ausschüssen. Esgilt wie immer das Struck’sche Gesetz: Es gibt keinenAutomatismus. Kein Gesetzentwurf verlässt den Bun-destag so, wie er hineingekommen ist. – Ich finde, die-sen Grundsatz sollten wir alle gemeinsam ernst nehmen.
Oliver Krischer ist der nächste Redner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esgibt unglaublich viele Herausforderungen in der Ver-kehrs- und Mobilitätspolitik; aber eines muss man fest-stellen: Nach fast anderthalb Jahren Große Koalition ha-ben Sie nicht einmal angefangen, sich mit diesenHerausforderungen auseinanderzusetzen, meine Damenund Herren.
Stattdessen beschäftigen Sie sich mit einer Auslän-dermaut, die keine relevanten Einnahmen bringt, die dieBesucher aus dem Ausland diskriminiert und damiteuroparechtswidrig ist, die keine ökologische Lenkungs-wirkung hat, die ein Bürokratiemonster irrsinnigenAusmaßes ist, die verfassungsrechtlich zumindest be-denklich ist und erhebliche datenschutzrechtliche Fragenaufwirft. Meine Damen und Herren, das ist schädlich fürdie Verkehrspolitik!
Das ist unsinnig! Das ist die Fortsetzung des Betreu-ungsgeldes in der Verkehrspolitik! Das muss hier einmalklipp und klar gesagt werden.
Herr Dobrindt, ich hätte mir angesichts von 16 Minu-ten Redezeit gewünscht, dass Sie auf diese Kritikpunkteeinmal substanziell eingegangen wären. Dazu habe ichNullkommanichts von Ihnen gehört. Das, was Sie hiereben abgeliefert haben, ist ein absolutes Armutszeugnis.Das ist eines Verkehrsministers in Deutschland nichtwürdig.
Ich sage Ihnen auch – so viel Ehre muss sein –: Siehaben in den vergangenen Tagen einen sinnvollen Vor-schlag gemacht. Sie haben vorgeschlagen, dass in Zu-kunft Warnanlagen für Geisterfahrer aufgebaut werdensollen.
Ja, das ist richtig. Die erste Warnanlage muss vor demMinisterbüro aufgebaut werden. Die wird jeden Tag dreiDutzend Mal blinken, meine Damen und Herren.
Seien wir einmal ehrlich: Wenn wir hier über die Aus-ländermaut reden, geht es nicht um Verkehrspolitik, auchnicht um Einnahmen für die Infrastruktur.
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8268 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Oliver Krischer
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Das ist alles Quatsch. Es gibt nur einen einzigen Grund,weshalb wir über dieses Thema reden. Wir reden deshalbdarüber, weil eine rechtspopulistische Regionalpartei
irgendwo im Bermudadreieck zwischen AfD, NPD undPegida auf politischer Beutefahrt ist. Das ist Ihr Thema.Sie wollen damit die Hoheit über die Stammtische ha-ben.
– Sie empören sich jetzt, aber Sie werden sich das anhö-ren müssen: Der Vorsitzende dieser Regionalparteidrischt NPD-Parolen. Das ist unglaublich. Ich erwarte daeinen Aufstand der Anständigen in der Großen Koali-tion; denn das kann man nicht akzeptieren.
Liebe Christ- und Sozialdemokraten, in einer Koali-tion – Sören Bartol hat das gerade angesprochen – mussman Kompromisse machen; das ist völlig klar. Aber dasheißt nicht, dass man Schwachsinn beschließen muss.Aber Sie sind gerade dabei, genau das zu tun.
Daran werden wir Sie mit allem Nachdruck überall inder Republik erinnern, sollte dieses Gesetz verabschie-det werden.Das Mantra von Herrn Dobrindt – das haben wir auchvon Sören Bartol gehört – ist: Die deutschen Autofahrersollen nicht belastet werden, sondern es sollen nur – in-teressanterweise spricht man in dem Gutachten, das HerrDobrindt vorgelegt hat, nicht mehr von den Ausländernund Ausländerinnen – Gebietsfremde belastet werden.
Muss ich als Rheinländer, wenn ich nach Bayern fahre– dort bin ich gebietsfremd –, in Zukunft auch zahlen?
Was ist Ihr Konzept? Was haben Sie da für eine Vorstel-lung?Ich sage Ihnen – das gehört zur Wahrheit dazu –: AmEnde wird ja nicht die Pkw-Maut scheitern; vielmehrwird vor dem Europäischen Gerichtshof und vor der EU-Kommission die Kompensation scheitern. Dann werdenwir genau vor der Situation stehen, dass die deutschenAutofahrerinnen und Autofahrer 3,7 Milliarden Euro be-zahlen müssen. Nachtigall, ick’ hör dir trapsen – das istgenau der Plan: Man will durch die Privatisierung derStraßen über ÖPP 3,7 Milliarden Euro in die Kassen derVersicherer und der Banken spülen.
Das ist doch der wahre Hintergrund des Konzeptes derGroßen Koalition!
Herr Dobrindt, Sie beziffern die Nettoeinnahmen auf500 Millionen Euro. Wir haben über Monate hinwegDutzende Anfragen gestellt, um an die Berechnungs-grundlage heranzukommen; denn wir wollten wissen,wie die Zahl zustande kommt. Aber Sie haben uns im-mer die Unwahrheit gesagt. Sie haben diese Fragen nichtbeantwortet. Die Tatsache, dass die Wochenzeitung DieZeit klagen muss, um an diese Zahlen heranzukommen,damit wir Zugriff darauf haben, das wäre eine Debatteim Deutschen Bundestag wert. Das, meine Damen undHerren, ist ein Skandal!
In dem Gutachten, in dem plötzlich von Gebietsfrem-den die Rede ist, werden Zahlen herangezogen, die zehnJahre alt sind.
Es werden nicht greifbare Annahmen zugrunde gelegt.Es ist nicht nachprüfbar, wie die 500 Millionen Euro zu-stande kommen. Ich glaube – an jeder Stelle atmet dasdieses Stück Papier –: Da ist jemand beauftragt worden,der von den 500 Millionen Euro ausgehend die Zahlenherunterrechnen sollte, um das irgendwie passend zumachen.Der größte Witz an der Geschichte ist, dass Sie je-manden beauftragt haben, die Zahlen zu prüfen und eineStellungnahme abzugeben, der selber möglicherweisewirtschaftlich von der Einführung der Maut profitiert.Das wäre so, als wenn Sigmar Gabriel RWE beauftragenwürde, die Klimaverträglichkeit der Braunkohle zu über-prüfen. Es ist doch klar, was dabei herauskommt. Dastraut sich nicht einmal Sigmar Gabriel. Das ist unter Ih-rem Niveau, Herr Dobrindt, und unter dem Niveau einerBundesregierung.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist eineAusweitung der Lkw-Maut auf alle Straßen; das wärewirklich verursachergerecht; denn die Lkws machen un-sere Straßen und Brücken kaputt, sie sind für den Verfallder Infrastruktur verantwortlich. Das, was Sie jetzt be-schließen wollen, ist zu wenig, das reicht nicht aus. AberSie wollen die Lkw-Maut sogar noch senken.Ich hoffe, dass die Debatte über dieses Thema amEnde dazu führen wird, dass es – Sören Bartol, da nehme
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Oliver Krischer
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ich die Sozialdemokraten beim Wort – einen Aufstandder Vernunft in der Großen Koalition geben wird
und dass Sie dieses Projekt dort versenken, wo es hinge-hört: auf dem Müllhaufen blödsinniger CSU-Projekte.Danke schön.
Steffen Bilger erhält nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der Nockherberg-Fortsetzung von gerade eben
ist es an der Zeit, zum Inhalt der heutigen Debatte zu-rückzukommen, zur Diskussion über die Infrastrukturab-gabe und zu den beiden vorliegenden Gesetzentwürfen.
Im ersten der beiden vorliegenden Gesetzentwürfegeht es um die Einführung der Infrastrukturabgabe, diegleichermaßen von Haltern von im Inland wie von Hal-tern von im Ausland zugelassenen Pkws und Wohn-mobilen für die Nutzung von Bundesfernstraßen zu ent-richten ist. Im zweiten Gesetzentwurf geht es um dieSteuerentlastung der Halter von in Deutschland zugelas-senen Fahrzeugen, die bereits – das sollte man immerwieder betonen – über die Zahlung der Kraftfahrzeug-steuer ihren Beitrag zur Finanzierung des Bundesfern-straßennetzes leisten.
Die Einführung der Infrastrukturabgabe ist dabei nureine Maßnahme eines Gesamtpaketes zur besseren Fi-nanzierung unseres Bundesstraßennetzes durch die Nut-zer. Die große Linie ist: Wer Straßen ab- und benutzt, derbezahlt.
Im Übrigen spiegelt sich dieses Prinzip im WeißbuchVerkehr der EU-Kommission wider: Das Verursacher-prinzip soll gestärkt werden; die Nutzer sollen stärker ander Infrastrukturfinanzierung beteiligt werden.
Der größte Beitrag zur Infrastrukturfinanzierungkommt dabei von denen, die unsere Straßen am meistenbeanspruchen, nämlich von den Lkws. So weiten wir– ich habe den Eindruck, dass das in dieser Debatte überdie Pkw-Maut immer wieder untergeht; deswegen willich das noch einmal betonen – die Lkw-Maut auf 7,5- bis12-Tonner aus, und auch alle vierspurigen Bundesstra-ßen werden zusätzlich zu den Autobahnen bemautet.2018 folgen alle anderen Bundesstraßen. Damit sichernwir, neben den zusätzlichen Mitteln aus dem Bundes-haushalt, die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur.
Hinzu kommt die Infrastrukturabgabe. Die zusätzli-chen Einnahmen aus dieser werden zu einer größerenUnabhängigkeit von der Haushaltslage des Bundes undzu mehr Planungssicherheit bei der Finanzierung derVerkehrsinfrastruktur beitragen.Ich bin sehr froh, dass das Thema Infrastrukturfinan-zierung endlich in den Fokus der Öffentlichkeit geratenist. Noch bis weit in die letzte Wahlperiode hinein wardie Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur weitgehendein Nischenthema für Spezialisten. Leider erst durchdrastische Maßnahmen wie Brückensperrungen undSchlagworte wie „die Bröckel-Republik“ geriet die Ver-kehrsinfrastruktur stärker in den Blickpunkt der Öffent-lichkeit. Für uns Verkehrspolitiker war schon lange dasProblem der Unterfinanzierung klar. Endlich ist diesesThema auch im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeitangekommen. Es war höchste Zeit dafür; denn wir brau-chen definitiv mehr Geld für unsere Infrastruktur, meineDamen und Herren.Letztendlich ist die Infrastrukturabgabe und damit dieBeteiligung der ausländischen Fahrzeughalter an der Fi-nanzierung unserer Straßen für uns aber auch eine Frageder Gerechtigkeit; denn während es bereits nahezu inganz Europa Mautsysteme für Pkws gibt, haben wir inDeutschland bisher darauf verzichtet. Auch das ist einPunkt, der in der Debatte meines Erachtens bisher zukurz kommt.Welche Kritikpunkte wurden in unseren Diskussionenüber die Pkw-Maut in den vergangenen Monaten beson-ders häufig angeführt? Ich habe mir mit Interesse dasProtokoll der Sitzung des Bundesrates vom 6. Februar2015 durchgelesen. Man sieht: Auch in den Debattendort kann es durchaus zur Sache gehen. Keine Frage: Ar-gumente können ausgetauscht werden. Das haben wirheute auch schon gemacht. Aber wir werden bei diesemThema am Ende wahrscheinlich nicht zu einem Konsenskommen. Dass aber Winfried Hermann im Bundesrat dieInfrastrukturabgabe als „Pegida-Maut“ bezeichnet hat– dieses Stichwort wurde hier gerade auch schon ge-nannt –, das ist wirklich völlig daneben und hat mitSachargumenten nichts mehr zu tun.
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Steffen Bilger
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Wer aus der Einführung einer Maut den Vorwurf derAusländerfeindlichkeit konstruiert, dem, meine Damenund Herren, ist wirklich nicht mehr zu helfen.
Doch besser zurück zur sachlichen Auseinanderset-zung: Ein Kritikpunkt, der auch heute schon genanntwurde, ist der mangelnde Datenschutz. Von der Opposi-tion, insbesondere von den Grünen, kommt gerne derVorwurf, die vorliegende Version der Pkw-Maut sei eineDatenkrake und Ähnliches. Dabei haben gerade die Grü-nen immer wieder den Inbegriff der Datenkrake gefor-dert, nämlich die streckenabhängige Pkw-Maut. Bei dervon uns vorgeschlagenen Infrastrukturabgabe gilt derGrundsatz der Datensparsamkeit. Bei einer entfernungs-abhängigen Maut würden wir genau das Gegenteil vonDatensparsamkeit bekommen.
Es passt gut, dass gerade grüne Landespolitiker zur-zeit immer wieder auf ein anderes, unter Datenschutzge-sichtspunkten schwieriges Thema zu sprechen kommen.Es geht um die sogenannte Section Control, um Ab-schnittskontrollen zur Geschwindigkeitsüberwachung.Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein würdendas gerne machen. Niedersachsen testet das bereits. Hierwerden auf einem Straßenabschnitt schlicht alle Fahr-zeuge fotografiert, um überprüfen zu können, ob Auto-fahrer auf längeren Abschnitten im Durchschnitt zuschnell gefahren sind. Es ist schon eine Frage der Glaub-würdigkeit, wenn Sie bei der Infrastrukturabgabe man-gelnden Datenschutz kritisieren, aber dann, wenn es da-rum geht, die Autofahrer zu kontrollieren, sie vielleichtauch abzuzocken, ist der Datenschutz plötzlich über-haupt kein Problem. Das ist nicht glaubwürdig, meineDamen und Herren.
Ein anderer Kritikpunkt, der gerne genannt wird, istdie mangelnde Lenkungswirkung der Infrastrukturab-gabe. Gestern haben wir im Verkehrsausschuss überElektromobilität diskutiert. Eine Forderung der Grünen– sie wird auch in dem Antrag, über den wir gestern dis-kutiert haben, erhoben – ist die stärkere steuerliche Be-lastung von Autos mit höherem CO2-Ausstoß. Konse-quent, meine Damen und Herren, wäre es, wenn Siebegrüßen würden, wie unser Mautsystem aufgebaut ist.
Umweltfreundliche Autos zahlen nämlich deutlich weni-ger als umweltschädliche. Als Berichterstatter meinerFraktion für Elektromobilität freue ich mich darüber,dass Elektroautos unbefristet von der Infrastrukturab-gabe befreit sind. Damit wird ein wichtiger zusätzlicherAnreiz gesetzt, um umweltfreundliche Elektrofahrzeugein den Markt zu bekommen und mehr von ihnen auf dendeutschen Straßen zu sehen. Es handelt sich vor allemum ein weiteres wichtiges Signal, dass wir die Elektro-mobilität auf allen Ebenen vorantreiben.Ein weiteres Thema, das die Opposition in dieser Dis-kussion immer wieder umtreibt, ist die EU-Rechtskon-formität. Ich glaube, die Argumente dazu wurden in denvergangenen Wochen hinreichend ausgetauscht. DieMitglieder des Verkehrsausschusses werden nächste Wo-che in Brüssel die Gelegenheit haben, mit Europapoliti-kern über diese Fragen zu diskutieren. Den ersten Aus-tausch mit der neuen EU-Verkehrskommissarin bei unsim Verkehrsausschuss haben wir alle als sehr konstruktivempfunden.Meine Damen und Herren, die Union begrüßt und un-terstützt die vorliegenden Gesetzentwürfe der Bundesre-gierung. Liebe Kollegen von der SPD, wir freuen uns aufdie Beratungen in den nächsten Wochen. Wir werden dieEinführung einer Infrastrukturabgabe mit Ihnen sicher-lich mindestens genauso intensiv wie die Gesetzent-würfe zum Mindestlohn beraten und dieses Vorhabendann zu einem guten Ergebnis führen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Sabine Leidig ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Die Linke.
Kolleginnen und Kollegen! Nach der bisherigen De-batte ist tatsächlich die Frage berechtigt: Worum geht eseigentlich? Denn die zusätzlichen Einnahmen, die mög-licherweise in die Staatskasse fließen, sind wirklich sehrgering. Sie werden mit Sicherheit deutlich geringer seinals die behaupteten 500 Millionen Euro.Ich finde, das Statement von Herrn Minister Dobrindtist an populistischer Unverantwortlichkeit kaum zu über-treffen.
Sie leugnen die Probleme des Klimawandels – wahr-scheinlich als eine Erfindung irgendwelcher ideologischaufgeladenen Autohasser.
Das hat mit Modernität wirklich überhaupt nichts zu tun.Damit haben Sie sich, was Ihre Argumentation betrifft,in die Steinzeit zurückkatapultiert.
Ich glaube, dieses Ausländer-Mautgesetz ist erstensder Versuch von Herrn Dobrindt, die Auseinanderset-zung um den CSU-Vorsitz zu gewinnen. Zu diesemZweck möchte er dieses Gesellenstück abliefern,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8271
Sabine Leidig
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das ausländerfeindliche Ressentiments bedient. Ichglaube zweitens – ich finde, das ist die viel größere Pro-blematik –, dass tatsächlich die Gefahr besteht – –
– Ich würde gerne in Ruhe reden.
Die Ruhe kann ich Ihnen nicht zusagen, aber dass Sie
zu Wort kommen, schon. – Bitte schön.
Zweitens befürchte ich – das ist aus meiner Sicht ei-
gentlich viel gravierender –, dass dieser Systemwechsel
hin zur Nutzerfinanzierung im Kern dazu führen wird,
dass die Autofahrerinnen und Autofahrer löhnen müs-
sen, wenn sie bestimmte Straßen befahren, die in Zu-
kunft zu einem relevanten Teil von Privaten betrieben
werden sollen. Ob das Geld dann aus der Staatskasse
zurücküberwiesen wird oder nicht, ist letztlich zweitran-
gig. Es besteht die große Gefahr, dass Private – übrigens
mit massiver Unterstützung von Wirtschaftsminister
Gabriel, der dieses Projekt vorantreibt – diese Infrastruk-
tur betreiben und die öffentliche Hand letztlich dafür
zahlt. Das lehnen wir ganz grundlegend ab. Das lehnt
auch die allergrößte Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-
ger in diesem Land ab. Ich kann Sie nur inständig bitten,
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an dieser Stelle
sehr aufmerksam zu sein und dagegenzuhalten.
Ich sehe – da sind wir uns auch alle einig –, dass es im
Bereich der Infrastruktur großen Finanzierungs- und Er-
haltungsbedarf gibt. Wir alle wissen, dass die großen
bzw. immer größer werdenden Lkws das Hauptproblem
sind. Sie machen unter anderem Brücken kaputt, die
nicht für solch große Belastungen geschaffen sind.
Da muss man einfach sagen: Wenn es wirklich darum
ginge, für die Reparatur von Straßen Geld reinzuholen,
dann müsste man mit dem Geld anfangen, das buchstäb-
lich auf der Straße liegt: Es ist nach wie vor so, dass Sie
jedes Jahr Dieselkraftstoff mit 7 Milliarden Euro sub-
ventionieren. Mit diesen 7 Milliarden Euro unterstützen
Sie den zunehmenden Lkw-Verkehr. Ich verstehe über-
haupt nicht, warum man nicht an solche Subventionen
rangeht – wo man perspektivisch eine Menge Geld ein-
nehmen könnte –, um für alle die Infrastruktur in Ord-
nung zu halten.
Ein weiterer Punkt, wie Sie sofort relativ problemlos
große Summen einnehmen könnten, wurde am Montag
in einem Fachgespräch der Deutschen Umwelthilfe an-
gesprochen. Sie hat schon 2013 nachgewiesen, dass die
Autohersteller bei den Verbrauchswerten ihrer Automo-
bile systematisch tricksen und täuschen. Es wäre für die
Behörden einfach, die Angaben zum Spritverbrauch zu
kontrollieren und den realistischen Wert festzustellen.
Damit würden erstens die so betrogenen Autofahrerin-
nen und Autofahrer, die Ihnen angeblich so am Herzen
liegen, vor großem Schaden geschützt – sie müssen
nämlich im Jahr zum Teil zwei-, dreitausend Euro mehr
für Sprit bezahlen, als sie den Angaben des Herstellers
zufolge berechnet haben –; zweitens – das ist ein ganz
wichtiger Punkt – würden 1,4 Milliarden Euro mehr
Steuern eingenommen, weil die Steuerklassen nach
Spritverbrauch festgelegt sind. An dieser Stelle geht es
tatsächlich darum, Gerechtigkeit herzustellen und dafür
zu sorgen, dass alle ihren Beitrag leisten, auch die Auto-
mobilkonzerne.
Meine Forderung: Holen Sie das Geld dort, wo es in
unsinnigster Weise ausgegeben wird! Und – ich möchte
mich der Forderung der Kollegen anschließen, auch mei-
nes Kollegen Herbert Behrens –: Ziehen Sie diese Maut,
diesen Gesetzentwurf aus dem Verkehr! Ich würde auch
diesen Verkehrsminister aus dem Verkehr ziehen.
Besten Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Sebastian Hartmann
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Phasen-weise war der Debattenverlauf wieder von hoher Emo-tionalität geprägt – Aufregung, Vorwürfe härtester Art,sogar der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit –, dabeigeht es im Kern doch um die Finanzierung der deutschenInfrastruktur,
darum, wie man ausreichend Geld für Brücken und Stra-ßen, Bundesautobahnen und Bundesstraßen bereitstel-len kann.
– Herr Hofreiter, warten Sie doch mal ab; dann werdenSie auch sehen, was wir gleich vorschlagen werden. Wirwerden auch etwas zum Verfahren sagen.
Die Große Koalition hat sich an verschiedenen Stellenauf den Weg gemacht, die Infrastrukturfinanzierung aufandere Füße zu stellen. Tatsächlich geht es um eine Um-schaltung von einer Steuerfinanzierung hin zu einer ver-stärkten Nutzerfinanzierung. Aber das Ziel ist nicht al-lein der Weg. Wir wollen eine Infrastrukturabgabe, diekeine Mehrbelastung für den deutschen Autofahrer unddie deutsche Autofahrerin darstellt. Diese Infrastruktur-
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8272 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Sebastian Hartmann
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abgabe muss EU-rechtskonform sein, und sie muss vorallen Dingen einen tatsächlichen Finanzierungsbeitragleisten.Es ist kein Geheimnis, dass die Pkw-Maut – oder In-frastrukturabgabe, wie sie heute heißt – kein Herzensan-liegen der SPD war und dies auch nicht werden wird.
Die Gründe der SPD für ihre Zustimmung sind die Fort-schritte bei wichtigen Fragen des Arbeitsmarktes – wiebeim Mindestlohn –, bei der Mietpreisbremse, derenVereinbarung nun endlich gelungen ist, bei der besserenGleichstellung von Mann und Frau und bei der Rentemit 63, um Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herzustellen.Wir beraten diesen Gesetzentwurf heute in erster Le-sung. Vor uns steht ein langes Verfahren, in dem nochviele Fragen zu klären sind. Deswegen möchte ich anden Koalitionsvertrag erinnern:Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und desAusbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einenangemessenen Beitrag der Halter von nicht inDeutschland zugelassenen PKW erheben … mit derMaßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschlandstärker belastet wird als heute. Die Ausgestaltungwird EU-rechtskonform erfolgen.Das ist die Richtschnur des Handelns, und die SPD stehtzu diesem Koalitionsvertrag. Ob die Bedingungen desKoalitionsvertrages erfüllt sind, wird jedoch erst die Be-ratung der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe zeigen,für die wir uns ausreichend Zeit nehmen werden, um sieordentlich und gut zu machen. Die Bürgerinnen undBürger in unserem Land können sich darauf verlassen,dass der Koalitionsvertrag Bestand hat und wir keinenSchnellschuss machen, sondern uns vernünftig mit denVorgaben des Koalitionsvertrages auseinandersetzen,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir haben als Parlament ausreichend Zeit. Schauenwir uns doch einmal den Zeitablauf an: Im Januar desvergangenen Jahres haben wir die neue Bundesregierunggebildet, im Juli des vergangenen Jahres wurde das ersteKonzept – passenderweise an meinem Geburtstag, am7. Juli – vorgelegt,
Ende Oktober gab es den ersten Referentenentwurf, mitdem die Infrastrukturabgabe im Vergleich zu der Versionim Juli deutlich verändert wurde, und Mitte Dezembererfolgten dann der Kabinettsbeschluss und die Einbrin-gung des Gesetzentwurfs.Nun haben wir Februar 2015; es sind 14 Monate insLand gegangen. Es gehört auch ein Stück zu unseremparlamentarischen Selbstverständnis, dass wir uns alsParlamentarierinnen und Parlamentarier ausreichendZeit nehmen, diesen Gesetzentwurf vernünftig zu bera-ten.Die Opposition hat bisher allerdings nur wenig Kon-struktives beigetragen. Wir werden erst jetzt in die De-batte einsteigen und uns die eingebrachten Vorschlägeanschauen. Wir brauchen aber kein Wahlkampfgetöse,sondern eine vernünftige Auseinandersetzung mit denArgumenten, die in die Debatte eingebracht wordensind.Wir nehmen die Hinweise des Bundesrates sehr ernst.
Die Stellungnahme ist umfänglich, und die 23 Punkte,die dort benannt worden sind, werden im parlamentari-schen Verfahren aufzuarbeiten sein. Es wäre sicherlichzu kurz gedacht, wenn ich sagen würde: Es ist dochselbstverständlich, dass sich die SPD die Position desBundesrates zu eigen macht, da sie in 14 von 16 Bundes-ländern regiert und in 9 Bundesländern den Regierungs-chef stellt. Damit ist die Position des Bundesrates auto-matisch auch die Position der SPD. – Nein, so ist esnicht. Diese Vorschläge und Anmerkungen enthaltenaber viele Punkte, mit denen man sich auseinandersetzenmuss.Warum führen wir eine Infrastrukturabgabe ein? Esgeht tatsächlich um den zusätzlichen Beitrag. Ein wichti-ger Hinweis im Zusammenhang mit der Finanzierungder Infrastruktur ist, dass man sich auch einmal die vor-gelegten Gutachten anschauen sollte. Es geht um diePlausibilität, und ich gebe den Kolleginnen und Kolle-gen recht: Da es uns in der Diskussion im Kern darumgeht, vernünftige Mittel in ausreichender Höhe zu erhe-ben – 600 Millionen Euro waren die Zielmarke im Julides vergangenen Jahres, 500 Millionen Euro sind esnach dem jetzigen Vorschlag –, müssen wir darauf drin-gen, dass die Berechnung nachvollziehbar und plausibelist und gutachterlich unterlegt wird.
Nicht nachvollziehen kann ich – das muss ich in allerOffenheit bekennen –, dass man sich darum einenRechtsstreit liefert; denn tatsächlich geht es uns doch da-rum, einen zusätzlichen Beitrag für die Finanzierung derInfrastruktur zu erreichen. Daraus sollte man keinStaatsgeheimnis machen, und es hat auch mit dem parla-mentarischen Selbstverständnis zu tun, dass wir das hierberaten.Herr Minister, wir waren hier sehr nah bei Ihnen, alsSie gesagt haben: Nein, man muss die Informationen ersteinmal in das Parlament einbringen, bevor man sie derÖffentlichkeit mitteilt. – Leider war es aber so, dass esam vergangenen Wochenende zunächst in den Medienstand und wir erst danach den Downloadlink erhalten ha-ben. Ich denke, im weiteren Verfahren werden wir unsmit diesen Gutachten, die nun endlich veröffentlicht sindund Voraussetzung für die Zustimmung zu dem Gesetz-entwurf sein können und werden, auseinandersetzen.
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Sebastian Hartmann
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Der Bundesrat erwartet in seiner Stellungnahme zuRecht, dass wir ein rechtssicheres Verfahren anwenden.Es ist auch in den Raum gestellt worden, dass man auf-passen muss, ob die Belastung eventuell bestehen bleibt,während die Entlastung plötzlich entfällt. Aus Sicht derSPD sind die Entlastung durch die Senkung der Kfz-Steuer und die Belastung durch die entsprechende Ein-führung einer Nutzerabgabe untrennbar miteinander ver-bunden.
Wir verlassen uns auf das Wort des Ministers, dassdas Ganze EU-rechtskonform erfolgt. Die entsprechen-den Gutachten sind bekannt. Es ist aus Sicht der SPDüberhaupt kein Problem, die Gesetzentwürfe untrennbarmiteinander zu verbinden, sodass das eine nur mit demanderen geht. Das hätte auch den Charme, dass jedemKritiker, der die EU-Rechtskonformität infrage stellt, derWind aus den Segeln genommen wird, da die Behaup-tung nicht weiter aufrechterhalten werden könnte, dasshier etwas getan wird, was die deutschen Autofahrerin-nen und Autofahrer belastet.
– Herr Krischer, Sie wissen noch gar nicht, ob das so ist.Wir werden die Gesetzentwürfe erst einmal beraten.Dann schauen wir, was dabei herausgekommen ist.Wenn wir die Gesetzentwürfe in der notwendigen Zeitausreichend beraten haben, werden wir beschließen. Da-nach kann man dann schauen, ob das vor irgendeinemGericht in Deutschland oder in der EU scheitern könnte.Das ist die Reihenfolge – und nicht anders.Da Sie sich so aufregen, möchte ich der Oppositioneines sagen: Sie können sich hier nicht zum Retter derdeutschen Autofahrerinnen und Autofahrer aufschwin-gen. Dass Sie das nicht sind, haben Sie hier deutlich be-wiesen:
Sie fordern die vollständige Einführung einer Maut aufallen Bundesstraßen,
ohne gleichzeitig die Autofahrerinnen und Autofahrer zuentlasten.
Wer das Bürokratiemonster bekämpfen will, kann nichtalle Straßen bemauten,
alle Autos fotografieren und dann noch sagen: Das isteine bürgerfreundliche Lösung. – So wird es nicht ge-hen.
Auch die Linken können es sich an dieser Stelle nichtso einfach machen. Sie können nicht einerseits den Be-fund erheben, dass wir zu wenig Geld für die deutscheInfrastruktur haben, andererseits eine Nutzerabgabe ab-lehnen und gleichzeitig sagen:
Wir wollen hier keine Steuern erhöhen. – Übrig bliebeeine Finanzierung durch Steuern. – Jetzt kann die Fragegestellt werden.
– Herr Kauder, wenn Sie erlauben, möchte ich diese eineZwischenfrage gerne zulassen.
Ja, aber ich nicht.
Entschuldigung, Herr Präsident.
Gelegentlich finde ich ja auch statt.
Da Ihnen offenkundig entgangen ist, dass Ihre Rede-
zeit seit geraumer Zeit vorbei ist, muss ich Ihnen sagen,
dass es nach abgelaufener Redezeit keine Möglichkeit
gibt, Zwischenfragen zuzulassen. Das versuchen wir
beim nächsten Mal.
Herr Präsident, ich bedaure das und nehme das natür-
lich hin. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich
freue mich auf die Beratungen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege
Behrens das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dem Vor-wurf, dass Vorschläge der Opposition nicht mit Finan-zierungsinstrumenten unterlegt sein sollen, hätte manbereits mit dem Hinweis auf die Diskussionen über denHaushalt 2015 begegnen können. Genau da haben wirunsere Vorschläge gemacht, die zeigen, wie Verkehrs-
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Herbert Behrens
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politik nachhaltig und ökologisch orientiert finanzierbarist. Wenn das nicht zur Kenntnis genommen wird, son-dern bei dieser direkten Diskussion über die Pkw-Mautausschließlich ein Ja oder Nein gefordert wird – dabeiwürden wir Nein sagen –, dann heißt das nicht, dass wirzur Finanzierung keine Vorschläge gemacht haben.
Das Wort erhält nun die Kollegin Valerie Wilms für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste, zahlreich vertreten! Es gibt ja heute aucheine spannende Debatte. – Was für mich in diesen letztenMinuten hier im Plenarsaal so erschreckend war, ist,dass eine kleine Regionalpartei hier mit ausländerfeind-lichen Ressentiments Wahlkampf macht und dann indiese Debatte einen antieuropäischen Grundton hinein-bringt. Das haben wir nun ehrlich nicht verdient.
Das ganze Konzept, das Sie uns hier vorlegen – Siebrauchen dazu nur einmal in Ihre eigenen Gesetzent-würfe zu schauen –, enthält eine absolute Verknüpfungzwischen einer Steuersenkung und dem Einführen derPkw-Maut. In Ihrem Gesetzentwurf ist explizit von„Steuersenkung“ die Rede. Damit haben Sie beides auto-matisch verknüpft. Aber das widerspricht unserer Vor-stellung von einem gemeinsamen Europa. So geht dasnicht. Auf dieser populistischen Welle sollten Sie hier imParlament nicht reiten.
Wenigstens gibt es dabei ein wenig Gerechtigkeit:Herr Dobrindt darf die Suppe, die er sich als Wahl-kampfleiter dieser kleinen Regionalpartei aus dem Sü-den eingebrockt hat, jetzt selbst auslöffeln. Populismus,werter Herr Dobrindt, macht sich vielleicht gut in Wahl-kämpfen. Damit scheitert man aber früher oder später ander Realität. So wird es auch Ihrer Pkw-Maut ergehen.
Sie wird vor europäischen Gerichten enden und sozusa-gen weggeschossen werden. Ihre liebe ParteikolleginClaudia Schmidt von der ÖVP aus Österreich hat geradeheute Morgen im Deutschlandfunk ganz deutlich gesagt,was sie von diesem Unfug hält. Er wird in Europa schei-tern.
Sie können diese CSU-Maut mit Ihrer 80-Prozent-Mehrheit im Plenarsaal vielleicht durchdrücken. Denn esist absehbar, dass Ihre Koalitionspartner CDU und SPDden ganzen Unfug wohl mittragen werden. VernünftigeArgumente haben bei diesem Vorhaben ja noch nie ge-zählt. Hier geht es nur noch darum, wie ein Kleinkind imTrotzalter den eigenen Willen durchzusetzen – koste es,was es wolle!
Es ist schon erstaunlich, dass diese Koalition mit ei-ner Zweidrittelmehrheit hier im Parlament nicht zu mehrimstande ist. Sie müssten sich dringend um den Erhaltder Infrastruktur kümmern, und zwar ernsthaft, werterHerr Dobrindt.
Da passiert aber nichts. Es gibt nur eine riesige Leer-stelle, Schlaglöcher und wegrutschende Brücken. Siesind der Ruinen-Minister, Herr Dobrindt.
Ich habe begründete Zweifel, dass Sie vernünftigen Ar-gumenten überhaupt noch zugänglich sind. Ich werdeSie damit aber dennoch nicht verschonen. Unsinn mussauch klar benannt werden.Um die CSU-Maut vom Wahlkampfhit zum Gesetz-entwurf zu machen, haben Sie einige Kapriolen geschla-gen. Herausgekommen sind hohe Kosten und Bürokra-tie. Und bevor überhaupt nur ein einziger Centeingenommen wird, werden erst mal kräftig Stellen ge-schaffen. Es werden Millionen Briefe an Fahrzeughalterverschickt. Hinzu kommt eine notwendige europaweiteAusschreibung für das Betreibersystem. Die Einführungder CSU-Maut wird so allein schon nach Ihrer Rechnung500 Millionen Euro kosten – verbrannt!Sie werden außerdem erheblich in Anwälte investie-ren müssen – das kennen wir ja schon –, falls, wie so oft,gegen die Ausschreibung geklagt wird. Sie werdenebenso Anwälte brauchen, um Ihr Machwerk vor demEuropäischen Gerichtshof zu verteidigen. Wenn Sie mitall dem tatsächlich einmal durch sind, wird es jährlichmindestens 200 Millionen Euro kosten. Das ist ver-dammt viel Aufwand für ein Biertischversprechen, dasSie durch dieses Hohe Haus bringen wollen. Schade!
Vielleicht könnte man all das verstehen, wenn manwüsste, was das Land wirklich davon hat. Aber Sie be-treiben da ja eine riesige Vernebelungsmaschine. WieKollege Krischer schon sagte: Wir haben etliche Malenachgefragt, aber Sie haben uns schlicht und ergreifendnicht die Wahrheit gesagt. Sie haben nichts rausgerückt,obwohl Sie die Zahlen haben. Jetzt haben wir sie end-lich, aber dann kriegen wir – man muss sich das mal aufder Zunge zergehen lassen – einen simplen Dreisatz aufBasis veralteter Daten, gebastelt in Ihrem Ministerium.Dann haben Sie sich noch einen Gutachter dazugeholt,der diese „Mautbubirechnung“ auch noch als korrekt be-findet. Dieser Gutachter hat aber auch schon Gutachtenfür einen Mautbetreiber angefertigt. Ich frage mich, wiedas ohne Interessenkonflikte gehen soll. So geht es nicht,Herr Dobrindt!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8275
Dr. Valerie Wilms
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Aber dann sagt Ihnen ein weiterer Wissenschaftlervon der tollen Uni Friedrichshafen – die ist wirklich toll –,nämlich Professor Eisenkopf, der auch in Ihrem wissen-schaftlichen Beirat sitzt, dass Ihre Annahmen nicht zu-treffen. Die Zahlen müssen also deutlich nach unten kor-rigiert werden. Wahrscheinlich dürfte das, was derGutachter Ratzenberger für den ADAC errechnet hat, dieRealität sein. Denn schauen wir uns doch mal beispiels-weise die Prognosen für die Grenzregionen an. Um dieseRegionen zu schonen, wurden explizit die Bundesstra-ßen bei der Pkw-Maut für Ausländer ausgenommen.Dennoch gehen Sie in Ihren Berechnungen davon aus,dass alle Tanktouristen und Einkäufer wie bisher überdie mautpflichtige Autobahn nach Deutschland fahrenund brav die Maut zahlen. Wo leben Sie denn, HerrDobrindt?
Sie kennen doch den Mautausweichverkehr bei denLkws. Und hier soll das alles nicht passieren? Erstaun-lich! Das ist ein weiterer Baustein, der aus Ihrem brüchi-gen Machwerk herausfällt und es zur Ruine macht.Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Sie erheblich we-niger einnehmen werden. Und wenn eintrifft, was derADAC voraussagt, nämlich dass das ein Minusgeschäftist, dann wäre das wirklich der völlige Aberwitz. Dannhätte man jahrelange Streitereien, Gerichtsverfahren amHals, und man würde auch noch draufzahlen.
Frau Kollegin, würden Sie freundlicherweise zum
Ende kommen?
Ich komme zum Ende, werter Herr Präsident. – Damit
macht sich die Bundesregierung völlig lächerlich. So be-
feuern Sie den Politikfrust. Denn hier geht es nur noch
um die Gesichtswahrung für den Ruinen-Minister
Dobrindt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, beseitigen Sie die
Ruine Pkw-Maut schnellstens, bevor sie eingeweiht wer-
den kann! Einstürzen wird sie hinterher sowieso.
Danke.
Das Wort erhält nun der Kollege Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen! Natürlich ist die Infra-struktur eines unserer wichtigsten Themen. Man mussimmer wieder feststellen: Für den Mittelstand ist die In-frastruktur so etwas wie der Blutkreislauf, der das Funk-tionieren unserer vielen kleinen Unternehmen gewähr-leistet, die eben nicht alle auf engem Raum konzentriert,sondern in vielen unterschiedlichen Regionen unsererRepublik angesiedelt sind. Um das Ganze am Laufen zuhalten, ist es eine unserer wichtigsten politischen Aufga-ben, für die Infrastruktur mehr zu tun.Ich denke, die Initiative unseres Bundesministers istgenau der richtige Weg, um eine neue Möglichkeit derFinanzierung auf die Beine zu stellen. Sie beinhaltet na-türlich auch einen finanzpolitischen Teil, nämlich dasmit einem schönen Namen versehene sogenannte ZweiteVerkehrsteueränderungsgesetz, das auf der einen Seitedie Grundlage für die Infrastrukturabgabe bildet, auf deranderen Seite aber natürlich auch eine Entlastung derKfz-Halter beinhaltet, die ihr Fahrzeug in Deutschlandangemeldet haben.
Das sind zum Teil auch Kfz von ausländischen Bürgern.Insofern ist es absolut falsch, von Ausländerhetze zu re-den.
Diesen Vorwurf müssen wir natürlich deutlich zurück-weisen.Darüber hinaus gibt es noch einen anderen wesentli-chen Punkt, nämlich die Zweckgebundenheit. Da Sie im-mer auf die CSU schimpfen, möchte ich den Grünenauch einmal sagen: Wenn Sie sich Ihre eigene Fraktioneinmal anschauen, dann werden Sie feststellen, dassdiese nur ein kleines bisschen größer als die Landes-gruppe der CSU ist,
die hier sitzt. Die CSU hat es immerhin über viele Jahregeschafft hat, ein Bundesland zu regieren.
Das sollte Ihnen ein bisschen Respekt abnötigen. Siesollten hier nicht nur rumtrompeten.
Jetzt kommen wir wieder zum Thema zurück. Es gehtdarum, eine zweckgebundene zusätzliche Finanzierungvon Infrastruktur hinzubekommen. Das Zweite Ver-kehrsteueränderungsgesetz soll verhindern, dass eineDoppelbelastung entsteht. Es soll natürlich auch einigetechnische Änderungen geben. Deswegen, KollegeHartmann und Kollegin Wilms: Eine Reduzierung derKfz-Steuer kommt nur dann zustande, wenn auch die In-frastrukturabgabe erfolgt. Es gibt also eine direkte Ver-bindung. Insofern kann man da gar nicht die Sorge ha-ben, dass, wenn das eine nicht käme, das andere dennochkäme. Das ist in dem Gesetz so vorgesehen. Wenn Sie
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8276 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Philipp Murmann
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sich das durchlesen, dann werden Sie feststellen, dasswir gemeinsam dafür gesorgt haben, dass das dann auchso umgesetzt wird.Es sind eben auch noch einige technische Änderun-gen in diesem Gesetz vorgesehen, die daraus resultieren,dass ja inzwischen der Zoll für das Eintreiben und dieVerwaltung der Kfz-Steuer zuständig ist und nicht mehrdie Steuerverwaltungen der Länder. Diese technischenÄnderungen wollen wir natürlich auch umsetzen. Inso-fern ist uns schon daran gelegen, dieses Verkehrsteu-eränderungsgesetz auf den Weg zu bringen. – Das warein langer Satz.
Ich denke, es ist notwendig, dass wir auf diesen Punktnoch einmal hinweisen.Jetzt kommen wir zu den Aspekten, die hier immergenannt werden und die zum Inhalt haben, dass das eu-roparechtlich ziemlich kritisch sei usw., dass da die Aus-länder diskriminiert würden. Wenn Sie sich das genauanschauen, dann stellen Sie fest, dass natürlich im We-sentlichen die Deutschen zur Finanzierung der Infra-strukturkosten herangezogen werden. Die Ausländerwerden nur einen ganz kleinen Teil der Kosten tragen.Bei den Lkws ist das heute schon so, und bei den Pkwswird das in Zukunft auch so sein.In meinem Heimatland Schleswig-Holstein betrifftdas die A7. Sie ist sozusagen die Kernader des Verkehrsvon Norden nach Süden. Sie muss jetzt von vier aufsechs und zum Teil auch auf acht Spuren erweitert wer-den. Das ist nicht nur deshalb notwendig, weil wirSchleswig-Holsteiner so viel fahren, sondern im Wesent-lichen auch, weil wir natürlich ein hohes Verkehrsauf-kommen an Pkws haben, die von den nordischen Län-dern nach Süden fahren. Insofern ist es doch absolut inOrdnung und fair, diese nun, wenn auch nur zu einemkleinen Teil, an den Kosten der Infrastruktur zu beteili-gen.Das Ganze kostet 1,80 Euro pro 100 Kubikzentime-ter, wenn Sie einen Benziner haben, der nach Euro 6 zu-gelassen ist. Das heißt, wir haben das auch an den CO2-Ausstoß gekoppelt. Wenn man sich überlegt, dass für ei-nen Hubraum von 100 Kubikzentimeter – das entsprichtetwa dem Volumen einer Streichholzschachtel –1,80 Euro pro Jahr zu entrichten sind, dann würde icheinmal sagen, dass man darüber nicht stöhnen kann.Auch für Ausländer ist das sicherlich verkraftbar. Dakommen dann bei einem Polo pro Jahr 21,60 Euro he-raus. Das ist genau der Betrag, der dann bei der Kfz-Steuer wieder abgezogen wird. Insofern ist das für dieKfz, die in Deutschland zugelassen sind, eine Eins-zu-eins-Regelung, die aus meiner Sicht absolut fair und inOrdnung ist.Die Kritik an den Kosten ist natürlich ein Teil derDiskussion. Natürlich kostet es am Anfang der Umstel-lung. Im Finanzbereich sind das etwa 77 Millionen Euroüber die ersten drei Jahre,
die sich im Wesentlichen daraus ableiten – lassen Siemich einmal zu Ende reden! –, dass wir natürlich eine ITeinführen müssen, dass wir entsprechend der Anzahl derKfz circa 43,5 Millionen Bescheide verschicken müssen.Das kostet am Anfang Geld, ist aber im Wesentlicheneine Einmalausgabe. Über die Strecke gesehen sind esdann relativ kleine Beträge, die da noch anfallen. Inso-fern glaube ich, dass die Kritik an den Kosten nichtwirklich standhält
und dass auf jeden Fall das positive Element, in eine nut-zerfinanzierte Infrastrukturfinanzierung einzusteigen,bei Weitem überwiegt.
Wenn ich das noch zum Schluss sagen darf:
Wir bekommen natürlich auch die Chance, über die In-frastrukturabgabe zusätzliche Projekte zu generieren. Ichhabe schon die A 7 erwähnt. Das ist ein ÖPP-Projekt.
– Klar, es hat auch ÖPP-Projekte gegeben, die nicht soerfolgreich waren,
aber es hat eben auch einige gegeben, die waren sehr er-folgreich. Ich glaube, an denen sollten wir uns orientie-ren. Es ist eben auch eine Chance für institutionelle An-leger –
wir haben ja, wie wir alle wissen, eine Niedrigzinsphase –,zusätzliche Projekte zu finanzieren und damit Einnah-men zu generieren.Der Kritikpunkt, der da lautet „Warum sollte der Staatdenn jetzt bei niedrigen Zinsen ÖPP-Projekte auf denWeg bringen?“, greift natürlich zu kurz, weil uns die Be-treiber damit auch komplett das Risiko abnehmen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8277
Dr. Philipp Murmann
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Wenn Sie sich das A-7-Projekt angucken, dann wis-sen Sie: Da gibt es einen Betreiber, da gibt es einenFinanzierer, und da gibt es einen Planer. Die tragen amEnde das Risiko, denn die werden nur dann bezahlt,wenn sie eine qualitativ hochwertige Straße bei uns ab-liefern. Das ist ein wesentlicher Vorteil solcher Systeme.
Diese Finanzierungsform können Sie für solche Projektenur generieren, wenn Sie eben auch den entsprechendenCashflow haben.Auch insofern bin ich der Meinung, dass die Nutzer-finanzierung für die Infrastruktur eine echte Chance bie-tet. Ich bitte Sie, dieses Vorhaben mit zu unterstützen,auch wenn es der kleinen grünen Partei an der einen oderanderen Stelle vielleicht schwerfällt. Ich glaube, dass eswichtig ist, dass wir in solch ein neues Finanzierungs-modell eintreten. Sorgen Sie mit dafür, dass die Ver-kehrsinfrastruktur insbesondere für unseren Mittelstand
weiterhin in einem sehr guten Zustand bleibt!Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Andreas
Schwarz das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorvielen Jahren sagte ein Schatzmeister über die Einnah-mengenerierung seiner Partei – ich zitiere –:Wenn rauskommt, wie was reinkommt, komme ichwo rein, wo ich nicht mehr rauskomme.Es ist nicht überliefert, über welche Sanktion im zweitenTeil des Zitats konkret gesprochen wird. Gehen wir ein-mal davon aus, dass sich der Zitierte in einer vertracktenSituation wähnt.In einer vertrackten Situation befindet sich anschei-nend manchmal auch unser Verkehrsminister, wenn esum dieses Thema Maut geht.
Aus welchen Gründen auch immer: Die Basis der Ein-nahmekalkulation sollte partout nicht veröffentlicht wer-den. Erst als es nicht mehr ging und ein Gerichtsurteildazu vorlag, wurden die Zahlen veröffentlicht.
Das war das Gegenteil von Transparenz. Das muss manhier auch kritisch anmerken.
Diese Geheimniskrämerei war kontraproduktiv undhat das Vertrauen in das CSU-Projekt Maut bzw. Infra-strukturabgabe erst einmal nicht gestärkt. Ich bin froh,dass endlich die Stunde des Parlaments schlägt, das Ge-setz eingebracht wird und wir jetzt in die Beratung ge-hen. Da gibt es aus Sicht meiner Partei sicherlich nocheiniges zu klären.Das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren bietetdie Chance, im Sinne der Öffentlichkeit für Aufklärungund Klarstellung zu sorgen. Meine FraktionskollegenSören Bartol und Sebastian Hartmann haben ja bereitsüberzeugend dargelegt, was hier aus Sicht der Verkehrs-politiker durch das Parlament noch aufzuarbeiten ist.Sie gestatten mir, als Finanzpolitiker noch drei Punktezu ergänzen:Erstens, zur Evaluation. In der Begründung zumGesetzentwurf zur Kfz-Steuer lesen wir unter 5. – ichzitiere –:Zwei Jahre nach Einführung … sind die tatsächli-chen Auswirkungen auf den Personalaufwand … zuevaluieren.Der Gesetzentwurf soll laut Zeitplan zum 1. Januar2016 in Kraft treten. Das heißt, eine Evaluation würdeerst zum 1. Januar 2018 erfolgen. Da bleibt doch dieFrage erlaubt: Warum nicht schon nach einem Jahr?
Man fürchtet doch nicht etwa eine Auswertung bereitsim Wahljahr 2017? Darüber sollten wir noch einmal ge-meinsam reden.
Zweitens, die Bundeszollverwaltung. Die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter beim Zoll leisten hervorragendeArbeit. Das stellen wir in diesem Hohen Hause sicher-lich fraktionsübergreifend fest. Berichte belegen aber,dass die Übertragung des Einzugs der Kfz-Steuer vonden Landesbehörden auf die Bundeszollverwaltung zur-zeit noch nicht reibungslos verläuft. Das bedeutet mehrPersonalaufwand, weil die Korrektur manuell erfolgenmuss. Wir müssen deshalb die Arbeitsbelastung in derZollverwaltung, die sich seit Jahresbeginn zusätzlich umdie Überwachung des Mindestlohns kümmern muss,noch einmal genau in den Blick nehmen.Der im Gesetzentwurf dargelegte Erfüllungsaufwandder Verwaltung muss also nochmals intensiv auf seinePraxistauglichkeit geprüft werden. Zum Beispiel siehtder Gesetzentwurf für den Anruf beim Sorgentelefon derZollverwaltung bei Fragen zur neuen Kfz-Steuer einedurchschnittliche Gesprächsdauer von fünf Minuten vor.Das wirkt nicht besonders realitätsnah und bürgerfreund-lich, senkt aber die Verwaltungskosten auf dem Papier.Es muss klipp und klar sichergestellt werden, dass die
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8278 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Andreas Schwarz
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Zollämter mit genügend Personal ausgestattet sind unddie Software störungsfrei läuft.
Sehr geehrter Kollege Dr. Murmann, wir waren unsgestern in unserem Berichterstattergespräch sofort da-rüber einig, dass wir die Zollgewerkschaft zur Anhörungeinladen wollen, um zu erfahren, wo der Schuh drücktund was die Politik gegebenenfalls noch leisten muss.Das Funktionieren und die Akzeptanz der Infrastruktur-abgabe hängen nämlich entscheidend davon ab, ob dieErstattung für inländische Autofahrerinnen und Autofah-rer über die Kfz-Steuer tatsächlich funktioniert.
Drittens. Wer innerhalb eines Jahres überhaupt nichtauf Bundesstraßen oder Autobahnen unterwegs war, solldie Gebühr zurückerstattet bekommen. Das kann aberdas Führen eines Fahrtenbuchs notwendig machen. Dasklingt alles sehr bürokratisch und auch wenig verbrau-cher- und bürgerfreundlich. Wir wollen schließlich keinBürokratiemonster schaffen.
Wir müssen deshalb gemeinsam an einer praktikablerenLösung im Sinne der Betroffenen arbeiten.
Ich komme zum Schluss. Eine Belastung für die in-ländischen Autofahrerinnen und Autofahrer schließt derKoalitionsvertrag klipp und klar aus. An diesem Ver-sprechen wird nicht gerüttelt.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird sehr genau daraufachten, dass es auch dabei bleibt.Wir freuen uns auf konstruktive Beratungen in denparlamentarischen Gremien. Diese würden in Zukunftsicherlich noch reibungsloser verlaufen, wenn das Parla-ment wichtige Informationen zum Gesetzesvorhaben vorder Bild-Zeitung erhält.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Der Großen Koalition ist der Vorwurf ge-macht worden, dass es einen Stillstand in der Verkehrs-politik gibt. Mitnichten! Sehen Sie sich allein den Ver-kehrshaushalt an! Zu Beginn der Legislaturperiodeumfasste der Verkehrshaushalt 10 Milliarden Euro an In-vestitionen. Zum Ende dieser Legislaturperiode werdensie bei 13,4 Milliarden Euro liegen. Das ist ein Auf-wuchs um mehr als 3 Milliarden Euro. Der Großteil da-von wird in die Straße gehen.Für den Verkehrshaushalt insgesamt ist in dieser Le-gislaturperiode ein Aufwuchs um 5 Milliarden Euro vor-gesehen. Mit Einführung der Lkw-Maut für alle Bundes-straßen im Jahr 2018 werden es 8,2 Milliarden Euro sein.Das entspricht in etwa dem Betrag, der laut Daehre undBodewig notwendig ist, damit der Bund die Instandhal-tung sowie Ausbau und Neubau der Straßeninfrastrukturfinanzieren kann.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Lin-ken und Grünen, ist das kein Stillstand, sondern einemassive Fortentwicklung der Verkehrspolitik in der Bun-desrepublik Deutschland.
Frau Kollegin Leidig, Sie meinen, dass die 500 Mil-lionen Euro, die die Pkw-Maut einbringen soll, nichtsseien. Warten wir doch bitte ab! Da der Kollege Bartolund der Kollege Schwarz kein Blatt vor den Mund ge-nommen haben, sehe ich mich veranlasst, auf Folgendeshinzuweisen: Welche Zahlen von der SPD geistertendenn herum, als es um die Frage ging, wie viel der Min-destlohn einbringen wird? Frau Schwesig ging damalsvon 4 Milliarden Euro aus. Ausweislich eines Antragsder SPD aus dem Jahr 2011 waren es dann noch 1 Mil-liarde Euro mehr an Steuereinnahmen und 1 MilliardeEuro mehr an Sozialbeiträgen. Kollege Schwarz, wennwir über Erfüllungsaufwände sprechen, dann ist festzu-stellen, dass es heutzutage beim Zoll 1 600 Stellen mehrgibt. So viel dazu.
Frau Kollegin Leidig, 500 Millionen Euro jährlichreichen zur Ausfinanzierung des Brückensanierungspro-gramms. Ich will Ihnen einmal sagen, wie teuer Brü-ckensanierung mittlerweile ist. In vielen Fällen wird essich nicht um eine Sanierung, sondern um Ersatzneubau-ten handeln. Der Kostenpunkt einer Brücke über dieMüritz in Mecklenburg-Vorpommern, gebaut im Jahr1970 – solche Brücken sind auch für Westdeutschlandtypisch –, liegt bei 500 000 Euro für die Umsiedlung derFledermäuse – mittlerweile scheinen diese Tiere umge-siedelt zu sein, weil man im neuen Fledermausturm Kotgefunden hat – und bei 32 Millionen Euro für die Sanie-rung. So viel kostet eine sicherlich nicht kleine Auto-bahnbrücke im Osten Deutschlands. Von dieser lassensich Dutzende in ganz Deutschland finden. Deswegensind zusätzliche Einnahmen in Höhe von 500 MillionenEuro im Rahmen der Nutzerfinanzierung keine Peanuts,sondern sie sind notwendig, um die Verkehrsinfrastruk-tur in Deutschland zu erhalten und auszubauen.
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Herr Kollege Rehberg, darf der Kollege Thomas
Lutze eine Zwischenfrage stellen?
Bitte.
Bitte schön.
Sehr geehrter Kollege Rehberg, wir reden hier von
der Pkw-Maut. Sie reden nun von Brückensanierungen.
Ist Ihnen bekannt, dass ein 40 Tonnen schwerer Lkw un-
gefähr die 60 000-fache Belastung eines Pkw hat?
Herr Kollege, das ist mir bekannt. Aber ist Ihnen be-kannt, dass die Autofahrer in Deutschland insgesamt53 Milliarden Euro aufbringen? Ist Ihnen weiterhin be-kannt, dass nur aufgrund der Lkw-Maut Nutzer aus demAusland zum Erhalt und Ausbau des deutschen Straßen-verkehrsnetzes massiv beitragen?
Ich halte es für solidarisch und gerecht, dass diejenigen,die mit Pkw unsere Straßen nutzen und nichts zu derenErhalt beitragen, einen Beitrag leisten; denn nach meinerMeinung werden die privaten Pkw-Nutzer aus Deutsch-land schon genug zur Kasse gebeten.
Nun kann man an dem Konstrukt Zweifel haben;diese wurden auch mit Hinweis auf das EU-Recht, dasVerfassungsrecht und die Bund-Länder-Beziehungendargelegt. Ich frage mich nur, welches Vertrauen und Zu-trauen manche in die Bundesregierung haben.
Es handelt sich nicht um einen Gesetzentwurf des Bun-desverkehrsministeriums, sondern um einen Gesetzent-wurf der Bundesregierung. Ob das EU-Recht eingehal-ten wird, wird im Wirtschaftsministerium geprüft. Obdas Verfassungsrecht eingehalten wird, wird nach mei-ner Kenntnis im Innenministerium geprüft. Die Einhal-tung der Rechtsförmigkeit wird im Bundesjustizministe-rium geprüft. Wer nun aber meint, alle Einwendungendes Bundesrates seien gerechtfertigt, sollte sich selberfragen, was für ein Zutrauen er in die Prüfung der Ein-haltung der Rechtsförmigkeit und des EU-Rechts durchdie Ressorts hat.
– Herr Kollege, dass im Zweifel das Bundesverfassungs-gericht oder europäische Gerichtshöfe entscheiden, istmir klar. Aber ich weise mit allem Nachdruck darauf hin,dass es sich hier nicht um einen Gesetzentwurf vonAlexander Dobrindt, sondern um einen Gesetzentwurfder Bundesregierung handelt.
Das sollte sich der eine oder andere vor Augen führen,wenn er so viele Zweifel hat.Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkungzu Nutzerfinanzierung und Steuerrecht machen. Ich weißgar nicht, was einige gegen eine Nutzerfinanzierung ha-ben.
Der Juncker-Investmentfonds baut komplett auf demPrinzip der Nutzerfinanzierung auf. Wie groß war dasErschrecken bei einigen, als sie gemerkt haben, dass essich um nutzerfinanzierte ÖPP-Projekte handelt. Dawurde die Begeisterung etwas geringer.Schauen Sie sich an, was als erste Meldung aus dersogenannten Gabriel-Kommission kommt. Da wird vonregionalen Infrastrukturfonds geredet, da wird von Bür-gerfonds geredet, da wird über eine Autobahninfrastruk-turgesellschaft geredet, teilweise, klar, renditefinanziert,aber zum großen Teil nutzerfinanziert. Deswegen solltenwir, wie ich glaube, auch wenn ich die Entwicklung inder Europäischen Union sehe, unser Augenmerk ver-stärkt auf die Nutzerfinanzierung legen. Wir werden unsdarüber beim Thema Wasserstraßen und auch bei ande-ren Bereichen unterhalten müssen.Ich warne vor einem: Wer meint, dass wir unsere Kfz-Steuer in Deutschland nicht eigenständig gestalten soll-ten, der gibt die nationale Steuerhoheit auf. Ich warnedeswegen dringend davor, weil wir in anderen Fragen– ich will die jetzt nicht ansprechen – gegenwärtig inBrüssel sehr stark darauf pochen, dass wir bei der natio-nalen Steuerhoheit im europäischen Rahmen Ermessens-spielräume haben.
Lassen Sie mich ganz zum Schluss eine persönlicheBemerkung machen. Ich habe lange die Haltung meinerKolleginnen und Kollegen aus Bayern, Baden-Württem-berg und Hessen zum Thema Infrastrukturabgabe nichtverstanden, bis ich im April letzten Jahres zum erstenMal in Südtirol war – danach habe ich sie verstanden;ich komme aus dem Norden Deutschlands –: Wenn dudich dort im Süden überhaupt nur bewegen willst, dann
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8280 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Eckhardt Rehberg
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löhnst du jeden Tag. Das heißt, du löhnst in Österreichfür die Vignette, für den Tunnel; und du löhnst in Italien;du löhnst, wenn du nach Tschechien oder in die Slowa-kei reist; überall musst du löhnen.
Das sind wir im Norden Deutschlands nicht gewöhnt.Wenn man dann die Kennzeichen auf bayrischen Auto-bahnen sieht, dann hat man ein bisschen Verständnis fürdie Menschen in Bayern und Baden-Württemberg.
Lassen Sie mich zum Abschluss als Norddeutschersagen: Man sollte gelegentlich die Kirchturmpolitik seinlassen und sich die gesamtdeutsche Brille aufsetzen.
Das Wort hat nun die Kollegin Kirsten Lühmann für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Wir haben heute in der Debatte genauso viel Lob wieKritik über die geplante Infrastrukturabgabe gehört. Eswar von einem Paradigmenwechsel die Rede, es war vonMurks die Rede; aber ich glaube, dass das bei einemProjekt, das in der Politik und in der Öffentlichkeit soviele Kontroversen auslöst, ganz normal ist.Worüber reden wir? Die Infrastruktur in Deutschlandmuss finanziert werden und benötigt ausreichende Mit-tel. Die Koalition hat in den vier Jahren, in denen sie re-gieren wird, 5 Milliarden Euro zusätzlich dafür zur Ver-fügung gestellt. Aber wir alle kennen das Bodewig-Gutachten, das besagt, dass das nicht ausreicht. Wirbrauchen einen weiteren Aufwuchs. Wir haben nie be-hauptet, dass dies mit der Infrastrukturabgabe oder einerPkw-Maut, wie man das landläufig so nennt, ausrei-chend gelingen kann. Sie ist nur ein Baustein.
Wirkliche Einnahmen versprechen wir uns erst vonder Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen.
Einen ersten Schritt dazu machen wir heute Abend.Wir werden in einem Gesetz die Ausweitung der Lkw-Maut auf weitere 1 100 Kilometer Bundesstraßen unddie Ausdehnung der Mautpflicht auf Fahrzeuge mit ei-nem zulässigen Gesamtgewicht von 7,5 Tonnen auf denparlamentarischen Weg bringen.
Der nächste Schritt wird die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen sein.
Diese im Koalitionsvertrag vereinbarten Schritte derNutzerfinanzierung werden die Mittel für die Infrastruk-turverbesserung dauerhaft jährlich um gut 2 MilliardenEuro erhöhen, und das ist dringend erforderlich.
Dies, meine Herren und Damen, ist eine wichtige undspürbare Maßnahme zum Erhalt und Ausbau unseresStraßennetzes. Zudem ist diese Maßnahme sachgerecht,da sie Fahrzeuge, die die Straßen überproportional schä-digen, auch stärker zur Kasse bittet als andere. Die Mautwird streckenbezogen erhoben. Das heißt, wer viel fährt,zahlt auch viel. Das ist gerecht, und das wird von den be-troffenen Fahrzeughaltenden, übrigens den inländischenwie den ausländischen, auch akzeptiert.Im Koalitionsvertrag haben wir die Nutzerfinanzie-rung durch eine Pkw-Maut vereinbart, die nicht unserHerzensanliegen ist. Aber: Eine Koalition geht man ein,um für die eigenen Vorstellungen parlamentarischeMehrheiten zu bekommen. Man schreibt Gemeinsamesfest und sucht Kompromisse für den Rest. Das ist imBund so wie in den Ländern und wie in den Kommunen.Ich denke, liebe Kollegen und Kolleginnen, die Grünenin Hessen hätten sich vor der Wahl auch nicht vorstellenkönnen, dass sie einmal dem Weiterbau der A 44 zustim-men werden.
Wir haben in den Koalitionsvertrag Kriterien für diePkw-Maut festgeschrieben, und wir werden den heuteeingebrachten Gesetzentwurf daran messen. Ein wichti-ger Punkt dabei ist die Zweckbindung der Mittel. Auchdies ist ein Grund für die hohe Akzeptanz der Lkw-Maut. Die Einnahmen sind zweckgebunden und werdenvon der VIFG, der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungs-gesellschaft, verwaltet – transparent und unter parlamen-tarischer Kontrolle. Daher werden wir diese Gesellschaftund ihr erfahrenes Personal mit der Verwaltung weitererGelder beauftragen. Auch der steuerfinanzierte Straßen-bau kann durch die VIFG organisiert werden. MehrTransparenz bedeutet mehr Fähigkeit zur Steuerungdurch das Parlament und mehr Akzeptanz bei den Men-schen, die die Steuern und Abgaben dafür aufbringen.
Ein offener Punkt bei der Pkw-Maut ist auch die Eu-roparechtstauglichkeit. Wir gehen davon aus, dass derGesetzentwurf mit dem Europarecht vereinbar seinkann.
Die neue EU-Verkehrskommissarin Bulc hat bei ihremBesuch im Verkehrsausschuss allerdings unmissver-ständlich erklärt, dass sie dieses Gesetz erst prüfen kann
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8281
Kirsten Lühmann
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und wird, wenn es verabschiedet ist. Alles andere wäreaus ihrer Sicht auch Stückwerk. Einen Entwurf vor ei-nem parlamentarischen Verfahren zu beurteilen, wäreunvollständig.Wir alle kennen nun die Zahlen und Berechnungen,die dem Gesetzentwurf zugrunde liegen, aber erst seitwenigen Tagen. Was Fachabteilungen im Verkehrsminis-terium erarbeitet und was Fachleute nachgerechnet ha-ben, können wir nicht in wenigen Tagen auf Plausibilitätprüfen. Das wird Teil des parlamentarischen Verfahrenssein. Wir werden dort intensiv darüber beraten, ob dieAnnahmen über die Zahlen, zum Beispiel über dieMenge der Geschäftsreisenden ohne Übernachtung, oderdie Hochrechnungen älterer Verkehrszählungen auf heu-tige Verhältnisse schlüssig sind.Nun wissen wir aber alle: „Prognosen sind schwierig,besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“
Dieser kritische Ausspruch wird einem Naturwissen-schaftler, dem dänischen Physiker Niels Bohr, zuge-schrieben, also einem Mann, der sich mit exakten Be-rechnungen auskannte. Wenn man seit Jahren dieBerichterstattung zur Pkw-Maut in den Medien verfolgthat, musste man eigentlich den Eindruck gewinnen, dassdazu bereits alles gesagt sei. In dieser Debatte ist uns je-doch das Gegenteil gezeigt worden. Gehen wir also mitRuhe und Sorgfalt das Thema an. Vor uns liegen noch in-tensive und arbeitsreiche Wochen, bevor die Pkw-Mauthier in diesem Hause verabschiedet wird.Herzlichen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ja, heute ist durchaus ein entscheidender Tag für diedeutsche Verkehrspolitik. Wir kommen einen gutenSchritt weiter bei der Neuausrichtung unserer Finanzie-rungssysteme.
Wir kommen einen Schritt weiter von einer reinen Steu-erfinanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung nach ei-nem ganz einfachen und simplen Prinzip: Wer unsereStraßen nutzt, der soll dafür zahlen. Das ist gerecht undeinfach. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen– davon haben wir heute schon viel gehört –: Wer dieStraßen zu einem großen Teil kaputtmacht, nämlich derLkw, soll für die Reparaturkosten aufkommen.Wir haben ein erprobtes, bewährtes System der Lkw-Maut. Wir werden die Auseinandersetzung damit heuteAbend vertiefen und das System erweitern. Wir werden2018 auf allen Bundesstraßen die Lkw-Maut einführen.
Das zeigt: Wir bewegen uns Schritt für Schritt – das istja ein politischer Langstreckenlauf und kein Sprint – hinzu einer soliden Nutzerfinanzierung, mit der wir dannplanen können, die Projekte absichern können, zukunfts-sichere Investitionslinien bekommen. Genau diesen Sys-temwechsel vollziehen wir auch heute mit der Beratungüber die Infrastrukturabgabe.
Die Rahmenbedingungen sind klar abgesteckt, liebeKolleginnen und Kollegen sowohl der Koalition wie derOpposition, die daran so zweifeln: keine Mehrbelastungund konform mit dem EU-Recht.
Genau das erfüllen die Gesetzentwürfe, die wir jetzt aufdem Tisch haben.Seien wir doch mal ehrlich! Wir diskutieren diesesThema schon sehr lange. Wer hätte vor einem Jahr da-rauf gewettet, wer hätte auch nur eine Kurzzeitvignettevon 10 Euro gewettet, dass uns Minister Dobrindt einenentsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird? Ich weißdoch, was hier überall gesagt worden ist: Kommt nicht;geht nicht; kann gar nicht sein. – Und jetzt diskutierenwir hier über den entsprechenden Gesetzentwurf. Ichkann nur sagen: Beharrlichkeit, Zähigkeit, Fleiß bei derArbeit zahlen sich aus, und dann liegen auch die entspre-chenden Gesetzentwürfe auf dem Tisch. HerzlichenDank auch mal an den Minister, der das durchgestandenhat!
Kaum ein Entwurf ist doch in der Öffentlichkeit be-reits im Vorfeld so viel diskutiert worden
wie der jetzige. Ich denke selber an viele Diskussions-runden. Das, was nach den Eckpunkten an Kritik kam,hat man aufgenommen. Man hat sich in der Phase zwi-schen Eckpunkten und Gesetzentwurf auch im Detail mitvielen Fragen auseinandergesetzt, und diese sind bereitsheute zufriedenstellend gelöst.
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Ulrich Lange
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Ich nenne nur das Problem „kleine Grenzverkehre“, dieStichworte „Grenzregionen“, „Ausweichverkehre“.Auch dafür gibt es Lösungen, die im Gesetz vorgesehensind: sehr flexibel nachzujustieren. Wer über Mautaus-weichverkehre redet, der sollte sich „2018“ abspeichern.Wenn überall gezahlt wird, gibt es keinen Ausweichver-kehr. Auch das muss einfach mal klar gesagt werden.
Liebe Kollegin Wilms, ausländerfeindlich oder sonstirgendetwas ist diese Infrastrukturabgabe sicher nicht.
Sie ist sehr wohl europäisch und mit dem europäischenGedanken vereinbar. Sie entspricht dem, was die EU-Kommission selber fordert. Man sollte also da die Kir-che im Dorf lassen
und nicht solche Dinge immer wieder behaupten; siewerden dadurch nicht richtiger.
– Ich mache jetzt den Schluss, und dann ist es abgerun-det.Es gibt in vielen europäischen Ländern Mautsysteme,und sie haben das europäische Haus nicht ins Wankengebracht. Ich kann nur, wenn Österreich hier heute ange-sprochen wird, sagen: Die sollen doch selber ihre Haus-aufgaben machen. Ich sage nur: Felbertauern. Das wardiskriminierend gegenüber allen anderen. Österreich dis-kriminiert und nimmt den Mund voll. So geht es natür-lich auch nicht.
Noch ein Punkt – Kollege Rehberg hat das schon an-gesprochen –: Kein Gesetzentwurf ist so lange vorbera-ten worden, nachgewiesen durch Gutachten.
Er war in der Ressortabstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das BMJ als Ver-fassungsressort hat sich natürlich mit diesem Gesetzent-wurf auseinandergesetzt.
Wir haben die Fragen gelöst, die beim Datenschutzstrittig waren. Ich erinnere mich noch ganz genau daran.Jetzt haben wir maximalen Datenschutz.
Liebe Kollegen von den Grünen, das ist halt einfach sowas von unglaubwürdig! Erst zu sagen: „streckenbezo-gen, zeitbezogen, stadtbezogen, verkehrsbezogen“ – füralles müssen Daten erfasst werden; so würde Ihre Mautausschauen –,
und dann zu sagen: „Wir sind aber Datenschützer; Da-tenschutz ist Leitlinie grüner Politik“, das ist verlogen,das ist unehrlich, und das sollten Sie dann auch hiernicht tun.
Gleiches gilt, wenn es um Brückensanierungen geht.Ich habe gerade etwas aus Rheinland-Pfalz gelesen. Daschreiben die Grünen: „Neue Brücken über den Rhein,ob bei Bingen … oder in anderen Orten, lehnen wir ab.“Sie können sich doch jetzt nicht hier hinstellen, über Sa-nierung und Neubau von Brücken reden, und dann vorOrt die Brücken wieder ablehnen. So macht man nichtseriös Politik.
Die Einnahmen sind solide kalkuliert, solide gerechnet.Was das liebe Geld angeht, sage ich allen Dauerkriti-kern: Nur die Vorschläge in Richtung Mehrbelastung derDeutschen als ausschließlichen Ansatz zu sehen – ichsage nur: Schlaglochsoli; Ostern letzten Jahres, Abzo-cker Albig, Erhöhung der Mineralölsteuer –, trifft dieMenschen auf dem Land, die mit dem Auto zur Arbeitfahren müssen. Solche Vorschläge machen wir nicht mit,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Keine Mehrbelastung heißt auch keinen Schlaglochsoliund keine Erhöhung der Mineralölsteuer, um das einmalin aller Deutlichkeit zu sagen.
Es liegt ein bereits ausführlich diskutierter Gesetzent-wurf, Herr Präsident, auf dem Tisch.
Apropos ausführlich diskutiert: Die Redezeit ist abge-laufen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8283
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Ja. – Das sage ich zügig –
ich denke, unser Gesetzentwurf wird nach guter Bera-
tung genauso zügig durch das Parlament gehen –: Wir
brauchen den Systemwechsel von der Steuer- zur Nut-
zerfinanzierung. Wir brauchen eine solide Finanzierung
unserer Verkehrsprojekte. Wir brauchen Mehreinnah-
men, ohne deutsche Steuerzahler weiter zu belasten.
Jetzt sollten wir uns in zügigen Beratungen ein gutes Ge-
lingen wünschen.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention Frau Dr. Wilms, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Werter Kollege Lange,
lieber Uli, was du bezüglich der Ausländermaut gesagt
hast, kann ich so nicht stehen lassen. Ich zitiere Ihre
werte Parteikollegin, Claudia Schmidt, von der ÖVP in
Österreich, die heute Morgen gesagt hat: Das Mautkon-
zept, das nur ausländische Fahrer in Deutschland belas-
ten soll, sei „auf jeden Fall eine Diskriminierung“. Das
sind die Fakten. In Österreich zahlen alle. Sie wollen die
Maut nur die Ausländer zahlen lassen. Das ist die sau-
bere Diskriminierung, die Sie hier machen. Das wird Ih-
nen der EuGH links und rechts um die Ohren schlagen.
Kollege Lange möchte noch kurz erwidern.
Liebe Kollegin Wilms, in Deutschland zahlen auch
alle. Klar. Es zahlen alle. Bloß wir zahlen nicht mehr.
Ich muss der guten Kollegin der ÖVP, so sehr es mir
leidtut, widersprechen. Ich sage nur: Causa Felbertauern.
Da gab es eine Befreiung für die Inländer, und wir Aus-
länder haben alle sauber gezahlt. Das hat die Kommis-
sion aufgedeckt. Deswegen: Wer im Glashaus sitzt,
sollte nicht mit Steinen werfen. Sie sollten sich genauer
informieren.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 18/3990 und 18/3991 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SibyllePfeiffer, Sabine Weiss , Frank Heinrich
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Bärbel Kofler, Axel Schäfer ,Heinz-Joachim Barchmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPDUN-Ziele für nachhaltige Entwicklung globalgestalten – Post 2015-Agenda auf den WegbringenDrucksache 18/4088Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungEine Agenda für den Wandel zu nachhaltigerEntwicklung weltweit – Die deutsche Positionfür die Verhandlungen über die Post 2015-Agenda für nachhaltige EntwicklungDrucksache 18/3604Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEArmut und soziale Ungleichheit weltweitüberwinden, natürliche Grundlagen bewah-renDrucksache 18/4091Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
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8284 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Vizepräsident Peter Hintze
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. Gibt es dazuWiderspruch? – Das sehe ich nicht. Dann ist so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner Bundesminister Dr. Gerd Müller für die Bundes-regierung das Wort.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich dankeIhnen allen, auch den Verkehrspolitikern und den Frak-tionspolitikern, die hier bleiben, aber ganz besondersmeinen Freunden in den Fraktionen der CDU/CSU undSPD für diese wichtige Debatte.Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin? Das istdie Grundsatzfrage, die sich jeder stellen muss, der dieZukunftsfähigkeit unserer Politik bewertet und der ge-staltet. Richten wir doch mal einen kurzen Blick auf dieErdgeschichte, meine Damen und Herren, liebe jungeZuhörer: Schon vor Milliarden von Jahren bestand die-ses Sonnensystem. Auf unserem Planeten, der Erde, spa-zierten nicht wir, sondern Dinosaurier über den Konti-nent und zwischen den Kontinenten,
durch die Regenwälder, von Amerika nach Europa.Liebe Claudia Roth, es gab Eiszeiten, es gab Dürreperio-den, es gab Naturkatastrophen gewaltigen Ausmaßes,
und das alles, bevor es die Grünen und uns Menschenüberhaupt gab. Warum sage ich das? Ich sage das, umuns Menschen einzuordnen. Wir Menschen nehmen unssehr wichtig, vielleicht zu wichtig. Verkürzt man dieErdgeschichte auf 24 Stunden, so tritt der Mensch, alsowir, erst in den letzten fünf Minuten auf diesen Planeten.So kurz ist das Menschenzeitalter, das Anthropozän, wiees Nobelpreisträger Paul Crutzen nennt.Wir Menschen hinterlassen aber einen gewaltigenökologischen Fußabdruck, auch die Verkehrspolitiker.Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen:Wenn man die weltweit pro Jahr verkauften Plastikwas-serflaschen, die zumindest für uns in Deutschland ei-gentlich nicht notwendig sind – wir können Wasser ausdem Glas oder direkt aus dem Hahn trinken –, aneinan-derreiht, dann kommt man 50-mal zum Mond. Wir hin-terlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck, ja,wir haben das Potenzial, die Erde an den Rand derApokalypse zu führen.Da ist zum einen die gewaltige Explosion der Weltbe-völkerung. In Zeiten Jesu lebten Hundert MillionenMenschen auf dem Planeten, auf der gesamten Erde. Vorgut 200 Jahren, zu Zeiten Goethes, lebte 1 MilliardeMenschen. Heute sind es 7,5 Milliarden Menschen.Heute, am 26. Februar 2015, reden wir hier im Deut-schen Bundestag nicht nur über die Maut, sondern eskommen auch 230 000 Menschen auf unserem Planetenhinzu. Sie wollen essen, sie wollen trinken, und sie wol-len in Würde leben. Das sind mehr als 80 MillionenMenschen im Jahr. Die Bevölkerung Afrikas wird sichverdoppeln. Alle diese Menschen haben einen legitimenAnspruch auf ein Leben in Würde, in Frieden, ohneHunger – weltweit, in Afrika und Europa, in Syrien undim Sudan, die Flüchtlingskinder in den Flüchtlingslagernin den Krisen- und Kriegsgebieten im und um den Irak.Wir leben heute in einer Welt. Das Denken „ersteWelt, zweite Welt, dritte Welt“ ist im Zeitalter der Glo-balisierung ein Denken von gestern. Denn jeder kannjedem schaden. Nur gemeinsam können wir die Über-lebensfragen der Menschheit lösen: Frieden schaffendurch Abrüstung und Reduzierung des ABC-Waffen-potenzials – ich sage das als Entwicklungsminister ganzbewusst; das Thema ist in den vergangenen Jahrzehntenetwas beiseitegerutscht –, die Schöpfung erhalten – vonder Arktis bis zum Regenwald –, Ernährung, Gesund-heit, Energie für alle schaffen, ein Leben in Würde er-möglichen.In diesem Jahr, dem sogenannten Entwicklungsjahr2015, werden in der Weltgemeinschaft wichtige Ent-scheidungen fallen: beim G-7-Gipfel in Elmau, beimKlimagipfel in Paris, beim Entwicklungsfinanzierungs-treffen in Addis Abeba, beim UN-Gipfel in New York.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, es geht um nicht weniger und um nicht mehr als umeinen neuen Weltzukunftsvertrag, eine neue Partner-schaft, die wir für die Völker der Erde vereinbaren. Da-bei stellt sich die Frage der globalen Gerechtigkeitebenso wie die neue Frage der weltsozialen Verteilung.Gleiche Rechte für alle Weltbürger – darüber sollten wiruns einmal über diese Debatte hinaus unterhalten. Oderdarüber: Wer erhält wie viel vom Kuchen der Erdtafel?Wenn heute die reichsten 100 Menschen auf der Erde– Oxfam sagt, die reichsten 85 Menschen –, also soviele, wie auf der Besuchertribüne sitzen, genauso vielbesitzen wie die 3,5 Milliarden ärmsten Menschen, dieHälfte der Menschheit, und wir, die reichen Industrie-staaten, die G 7, die nicht einmal 20 Prozent der Weltbe-völkerung ausmachen, 80 Prozent der Ressourcen desPlaneten Erde beanspruchen, dann ist klar: Wir habenein Gerechtigkeits- und ein Verteilungsproblem. DieAntwort kann nicht ein „Weiter so“ sein, sondern muss„Globalisierung“ heißen. Der Markt braucht Regeln,Grenzen, soziale und ökologische Vorgaben.
Das sind spannende Fragen und Prozesse, die über dieTagespolitik hinausgehen. Wir müssen aber diese Fragenund Prozesse, welche über die Zukunft des Planeten undder Menschheit entscheiden, gestalten.Meine Damen und Herren, die Probleme und Zusam-menhänge sind global. Sie sind schwierig, aber lösbar.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8285
Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Deutschland leistet einen entscheidenden Beitrag imRahmen der G-7-Präsidentschaft. Unsere Bundeskanzle-rin Angela Merkel hat eine ehrgeizige Agenda erstelltund geht entschlossen voraus. Das macht sie neben allentagespolitischen Herausforderungen. Ich habe großenRespekt vor der Bundeskanzlerin, dass sie sich auch die-sen grundsätzlichen Themen stellt und hier ihre Verant-wortung in der Weltgemeinschaft zeigt.Deutschland geht in Europa voran. Das geschieht miteiner hier verabschiedeten Nachhaltigkeitsagenda, beimKlimaschutz mit der Finanzierung des Green ClimateFund, im Gesundheitsbereich mit der Finanzierung desGAVI-Fonds sowie in der Entwicklungszusammen-arbeit. Wir gestalten die internationalen Prozesse inFreundschaft und Partnerschaft. Vielen Dank, Frau Kol-legin Umweltministerin Hendricks. Ein gemeinsamerAuftritt der Bundesregierung in internationalen Gremienführt zum Erfolg.Im UN-Prozess wurden jetzt 17 Weltentwicklungs-ziele formuliert. Die Fraktionen haben das in ihren An-trägen dargelegt und dazu Stellung genommen. Wir wer-den dies natürlich in die Beratungen aufnehmen. Dies istein Entwicklungspfad in die Zukunft. Wichtig ist mirbzw. uns, dass wir unsere Kernbotschaften aus diesen17 Zielen entwickeln und dass die Ziele und Unterzielekonkret messbar und überprüfbar sind. Das ist etwasNeues gegenüber den Millenniums- und Nachhaltig-keitszielen.Zukünftig müssen alle über das Erreichte oder Nicht-erreichte Rechenschaft ablegen. Nur dann werden dienachhaltigen Entwicklungsziele ein wirklicher Zukunfts-vertrag, mit dem man Politik gestalten, vorantreiben unddie Welt verändern kann; denn Messbares kann man ein-fordern. Das ist gerade für die Zivilgesellschaften – ichbedanke mich bei der deutschen Zivilgesellschaft sehrfür die großartige Unterstützung und Beteiligung – sehrwertvoll. Auch Deutschland wird sich messen lassenmüssen. Auch wir werden noch mehr gefordert sein,meine Damen und Herren. Darüber wird hier im Bun-destag entschieden. Es wird darüber entschieden, ob wires schaffen, die Ziele in nationale Politik umzusetzen, obuns Budgets und Gesetze unserem Ziel näherbringen undob wir unsere Finanzzusagen gegenüber den Entwick-lungsländern einhalten. Alle Politikbereiche sind tan-giert: Umwelt-, Entwicklungs-, Wirtschafts-, Außenwirt-schafts-, Handels-, Agrar- und Energiepolitik.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich dankeden Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag. Überalle Fraktionsgrenzen hinweg hat die Entwicklungspoli-tik in dieser Zeit durch Sie einen neuen Stellenwert be-kommen. Meine Damen und Herren, Frau Kofler, FrauPfeiffer, wir reden nicht nur, wir handeln auch. UnsereInitiativen zeigen auch Wirkung. Frau Roth wird nach-her gleich die Frage stellen: Was passiert konkret?
Deshalb erkläre ich Ihnen anhand einiger wenigerPunkte, was konkret zur Problemlösung in Deutschlandund darüber hinaus unser Beitrag ist.Unsere Initiativen zeigen Wirkung. „EINEWELTohne Hunger“ schafft Zukunft für die Landwirtschaft inAfrika. Ich habe elf neue Innovationszentren in Partner-ländern Afrikas auf den Weg gebracht. 500 MillionenKinder konnten auch aufgrund des deutschen Beitrags inden vergangenen zehn Jahren gegen Tuberkulose undKinderlähmung geimpft werden. Auch Aids wurde be-kämpft. Vor drei Wochen haben wir hier in Deutschlandeine Finanzierungszusagevereinbarung mit der Weltge-meinschaft, mit vielen Gebern abgeschlossen: Zusätzlich300 Millionen Kinder werden in den nächsten zehn Jah-ren gegen Krankheiten und Seuchen geimpft bzw. im-munisiert werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir starteneine neue Berufsbildungsoffensive. Darüber werden wirmit den Fraktionen und dem deutschen Handwerk nochdiskutieren. Ich habe gestern mit dem Handwerkspräsi-denten darüber gesprochen. Wir haben uns per Hand-schlag das Versprechen gegeben, mit dem deutschenHandwerk für die Jugend in den Kriegs- und Krisenge-bieten und mit der Jugend in Afrika Ausbildungspartner-schaften zu schließen und berufliche Bildung zu einemneuen, verstärkten Schwerpunkt zu machen. Wir entwi-ckeln außerdem ein neues Infrastrukturprogramm – ichwerde es im Rahmen der Haushaltsberatungen vorstel-len –, um Flüchtlingen in und um Syrien – dort alleingibt es 15 Millionen Flüchtlinge – und in der Ukraine zuHause, in ihren Ländern eine Lebensperspektive zu ge-ben. Wir müssen dort mehr Verantwortung übernehmen.
– Danke schön. – Deshalb freue ich mich, dass die Euro-päische Union – was viele nicht geglaubt haben – meinerForderung nachgekommen ist und diese Initiativen miteiner Sondermilliarde aus Brüssel unterstützt. Das kannder Einstieg in eine Neukonzeption des europäischenEngagements sein.Wir in Deutschland können all die anstehenden He-rausforderungen nicht alleine bewältigen. Deshalb istdieser neue Weltzukunftsvertrag – so nenne ich ihn; inKennerkreisen ist er bekannt als „Post-2015-Agenda“ –so wichtig. Es geht um eine Welt in Balance, es geht umfairen Handel – nicht um freien Handel –, und es gehtum eine faire Partnerschaft zwischen Industrie-, Schwel-len- und Entwicklungsländern. Dabei lautet unsere Ge-nerationenaufgabe: die Reichtümer unserer Erde teilen,damit alle Menschen ein Leben in Würde führen können,und ihre Begrenzungen respektieren, damit künftigenGenerationen, der Jugend, ein Leben auf diesem Plane-ten möglich bleibt.Die Herausforderungen sind lösbar. Nutzen wir un-sere Möglichkeiten! Unsere Kinder werden uns daranmessen.Vielen herzlichen Dank.
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8286 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
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Als nächste Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Die Welt diskutiert über eine neueglobale Agenda für nachhaltige Entwicklung, und das istauch bitter nötig; denn wir leben in einer Welt, in der dieArmen immer ärmer und die Reichen immer reicherwerden. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden,wenn wir ernsthaft globale soziale Gerechtigkeit errei-chen wollen.
Die Oxfam-Studie vom letzten Jahr wurde vielfachzitiert. Auch ich möchte noch einmal die Zahlen nennen.Demzufolge hat sich das Vermögen der 85 reichstenMenschen weltweit in den letzten fünf Jahren verdoppeltund entspricht damit dem gesamten Vermögen der ärme-ren Hälfte der Weltbevölkerung. Der Grund dafür liegt indiesem herrschenden Wirtschafts- und Finanzsystem.Der Papst hat dies in einem einfachen, aber klaren Satzausgedrückt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Deshalb kann esin dieser Wirtschafts- und Finanzpolitik kein Weiter-sogeben.
Wir fordern von der Bundesregierung im Rahmen derAgenda, den Kampf gegen die weltweite soziale Un-gleichheit zwischen Staaten und auch innerhalb unserereigenen Gesellschaft zu einem zentralen Ziel der neuenEntwicklungsagenda zu machen. Ich sage ausdrücklich:Ein klares Bekenntnis von der Bundesregierung dazufehlt mir bisher.Herr Minister Müller, mit Blick nach Bayern kann ichnur sagen: Dumpfe Sprüche wie „Wir sind nicht dasWeltsozialamt“ von Ministerpräsident Seehofer – dieserSpruch ist übrigens auch von der NPD plakatiert worden –sind der Diskussion über die globale Agenda abträglich.Das muss doch ein Schlag in Ihre Magengrube gewesensein. Wir lehnen solche Sprüche ab.
Es muss nicht nur die Armut bekämpft werden, son-dern auch der extreme Reichtum. Die enorme Konzen-tration von Eigentum und wirtschaftlicher Macht gefähr-det Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Politik fürdie Interessen der Reichen setzt sich praktisch automa-tisch fort. Um das zu ändern, brauchen wir unabdingbarein gerechtes Steuersystem, das endlich die Reichen hierin Deutschland, in Europa und weltweit massiv besteuertund Steuerflucht weltweit konsequent bekämpft.
Die Bundesregierung hat sich mit der Aussage, kei-nerlei Steuererhöhungen vorzunehmen und keine Ver-mögens- bzw. Reichensteuer einzuführen, gegen diesesoziale Umverteilung gestellt und diesem Anspruch eineAbsage erteilt, und das bei 12,5 Millionen armen Men-schen in Deutschland und weltweit über 1 MilliardeMenschen, die in Armut leben. Das ist in meinen Augenein völlig falsches Signal. Damit nehmen Sie hinsicht-lich der neuen Agenda für nachhaltige Entwicklungkeine Vorreiterrolle ein.
Wie sehen die realen politischen Entscheidungen aus?Wir diskutieren über viele Papiere – das ist auch wichtig –,aber wie sieht es konkret aus? Es werden doch politischFakten geschaffen, die den hehren Zielen der neuenAgenda eigentlich zuwiderlaufen. Ein Beispiel: Auf demWeltwirtschaftsforum in Davos trafen sich im JanuarVertreter der reichsten Wirtschaftsnationen. Auch dieBundesregierung war mit Merkel, Gabriel und Schäublepräsent. Dort waren die Nachhaltigkeitsziele eigentlichüberhaupt gar kein Thema. Es ging um die Ausweitungder Profitzone, insbesondere um die Ausweitung desschädlichen Freihandels, der zu mehr Armut und nichtzu mehr Entwicklung beiträgt. Vor allem Sigmar Gabrielhat dort für TTIP geworben und gesagt, dass er diesesAbkommen vorantreiben will.Herr Müller, Ihr Ministerium hat eine Studie in Auf-trag gegeben, die zu dem Ergebnis kam, dass ausgerech-net TTIP, also die Freihandelszone, die unsere Standardsbedroht, die die Arbeitsbedingungen weltweit ver-schlechtern wird, die mehr Konkurrenz bedeutet, die dieöffentliche Daseinsvorsorge insgesamt bedroht, die dieDemokratie in Europa und in den USA fundamental be-droht, ein Segen für die Länder des Südens sein soll. Eswurde sogar formuliert, TTIP könne der Keim für einneues, faires Welthandelssystem sein. Dazu kann ich nursagen: Das ist Wahnsinn. TTIP wird in keiner Weise zueinem fairen Welthandelssystem beitragen. TTIP mussgestoppt werden. Das ist der beste Beitrag zu einer nach-haltigen Entwicklung.
Es gibt viele Studien, die belegen, dass TTIP auch fürdie Länder des Südens zu massiven Nachteilen führenwird. Deswegen kann ich nur sagen: Geben Sie einmaleine neue Studie in Auftrag bei einem Institut, das viel-leicht ein bisschen seriöser arbeitet.Wir fragen uns natürlich auch: Was bedeuten die Dis-kussionen über eine nachhaltige Entwicklung für diederzeitige Außen- und Verteidigungspolitik? Will dieNATO allen Ernstes nun eine neue Aufrüstungsspirale inGang setzen? Alle NATO-Staaten wurden aufgefordert,2 Prozent des BIP, also des jährlichen Bruttoinlandspro-dukts, für das Militär aufzuwenden. 2 Prozent des BIPwären in Deutschland 52 Milliarden Euro. Dabei habenwir es bis heute nicht geschafft, 0,7 Prozent des BIP, alsoweniger als die Hälfte von diesen 2 Prozent, pro Jahr fürEntwicklungshilfe auszugeben. Das ist doch ein Wahn-sinn!
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Heike Hänsel
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Wir setzen uns dafür ein, dass diese Aufrüstungs-spirale und diese Diskussion über eine neue Kriegspoli-tik der NATO in Europa und international beendet wer-den. Wir brauchen endlich konkrete Abrüstungsziele, diein die globale Agenda für die Finanzierung von Entwick-lungshilfe und Klimaschutz aufgenommen werden.
Wir haben konkrete Vorschläge unterbreitet. Darüberwurde bereits in der Zeit der Wirtschaftskrise, 2008/2009,diskutiert. Damals wurde gesagt: Wir können so nichtmehr weitermachen; wir brauchen grundlegende Refor-men der Finanzmärkte und unseres Wirtschaftssystems;wir brauchen Regulierung. Selbst Angela Merkel hatsich für einen Weltwirtschaftsrat eingesetzt, der von derStiglitz-Kommission vorgeschlagen wurde. Davon istjetzt überhaupt nicht mehr die Rede. Alles geht genau soweiter wie bisher, was zu mehr Armut beiträgt. Deshalbfordern wir, die Idee eines Weltwirtschaftsrates wiederaufzugreifen. Wir fordern auch, dass die UN demokrati-siert werden; denn wenn wir wollen, dass die globalenZiele für alle gelten, dann müssen auch alle Staatengleichberechtigt entscheiden können. Diese Demokrati-sierung ist mit Blick auf eine weltweite Agenda überfäl-lig.Weil Frau Hendricks nach mir sprechen wird, sage ichzum Schluss: Wir fordern auch, dass bei den VereintenNationen eine Art Kompensationsfonds zur Klimafinan-zierung eingerichtet wird. Wir wollen nämlich nicht,dass der Umgang mit klimafreundlicher Technologienach wie vor der Logik des Profitstrebens folgt. Wirwollen, dass es einen Kompensationsfonds gibt, überden solche Technologien solidarisch den Ländern desSüdens umsonst zur Verfügung gestellt werden, weil dieRettung des Planeten und damit die Klimaschutzpolitiküber dem Profitstreben stehen muss.
Deshalb – mein letzter Satz – braucht es zusätzlichesGeld für die Klimaschutz- und Anpassungsfinanzierung.Wir haben den Green Climate Fund, aber wir wollen,dass es auch zusätzliches Geld für die Klimaschutzfinan-zierung gibt.
Es darf nicht verrechnet werden, schon gar nicht mit denGeldern für die Entwicklung. Soziale Entwicklungenund der Schutz des Planeten dürfen nicht gegeneinanderaufgerechnet werden.Danke.
Die Regeln der Mathematik wurden etwas verletzt,weil sich die letzten Sätze zum Schluss etwas häuftenund die Zeit abgelaufen war. Aber wir haben Opposi-tionsmilde walten lassen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort für dieBundesregierung Bundesministerin Dr. BarbaraHendricks.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirbrauchen ein globales Entwicklungsmodell, das nebenden ökonomischen und sozialen Chancen auch die öko-logischen Belastungsgrenzen der Erde respektiert undins Blickfeld nimmt. Es liegt an uns, heute die Grundla-gen dafür zu schaffen, dass auch die kommenden Gene-rationen Wohlstand und Sicherheit in der Weise erlebenkönnen, wie wir sie heute für uns in Anspruch nehmen.Mit den vorgeschlagenen weltweit gültigen Nachhaltig-keitszielen können wir den globalen Umwelt-, Klima-und Ressourcenschutz spürbar voranbringen.Wir alle müssen uns dafür einsetzen, den Wandel zueinem wesentlich nachhaltigeren Wirtschaften weltweitzu beschleunigen. Das gilt zuallererst für uns selbst hierin Deutschland. Wir müssen die Post-2015-Agenda mitEntschlossenheit umsetzen. Nur wenn wir bei Umwelt-schutz und Nachhaltigkeit mit Bestimmtheit vorange-hen, werden uns auch andere folgen.
Wenn wir diese Vorreiterrolle ausfüllen, dann kann un-sere konsequente Umweltpolitik die Basis für dauerhaf-ten wirtschaftlichen Erfolg sein. Aus dem internationa-len Klimaprozess sollten wir gelernt haben, dass dieWelt solche Vorreiter braucht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zusammen mitBundesminister Gerd Müller – ja, wir arbeiten wirklichgut zusammen; das gilt natürlich für sein ganzes Haus –engagiert sich mein Haus dafür, dass beim UNO-Gipfelder Staats- und Regierungschefs im September diesesJahres in New York eine ambitionierte Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung beschlossen wird.
Diese Agenda soll der Welt neuen Rückenwind für denWandel zu einer nachhaltigen Entwicklung geben, dieihren Namen verdient. Dazu gehört der weltweite Kampfgegen Hunger und Armut sowie für ein friedliches Mit-einander.Der Wandel muss alle Länder umfassen, die Schwel-len- und Entwicklungsländer genauso wie die Industrie-länder. Auch Deutschland muss sich daher zur Errei-chung der Ziele der Agenda bekennen und national seineBeiträge leisten. Die Vereinten Nationen haben einenKatalog mit 17 Nachhaltigkeitszielen, den sogenanntenSustainable Development Goals – in internationalen Zu-sammenhängen gibt es ja immer Abkürzungen; es sind
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Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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die sogenannten SDGs –, vorgelegt. Dieser Katalog istein klares Bekenntnis zur weltweiten Verbesserung derLebensbedingungen und zum Schutz natürlicher Res-sourcen in einer universell anwendbaren Agenda. Es istgelungen, einen Konsens zu erreichen, der weit über dieMillenniumsziele, die bisher noch Gültigkeit haben, hin-ausgeht und wichtige neue Herausforderungen wie Res-sourceneffizienz und umweltverträgliches Wirtschaftenaufgreift. Auch das Rechtsstaatsprinzip konnte durchge-setzt werden, übrigens mit der Unterstützung Chinas.Ich will ausdrücklich hervorheben, dass China in denVerhandlungen eine wichtige Rolle gespielt und wesent-lich dazu beigetragen hat, dass sich einige kritischeStimmen am Ende eben nicht durchsetzen konnten. Esist wichtig, dass China und die anderen großen Schwel-lenländer auch im weiteren Prozess eine konstruktiveRolle spielen. Nur wenn China und Indien, die zwei be-völkerungsreichsten Länder der Welt, hinter dem Zielka-talog stehen, kann der globale Wandel gelingen.
Mit beiden Ländern hat die Bundesregierung eine beson-ders intensive bilaterale Kooperation in Schlüsselberei-chen der Agenda. Das Aufholtempo in beiden Ländernist durchaus beeindruckend.Für den weiteren Prozess gilt es, das Ambitionsniveauzu halten und eine Neuverhandlung des Katalogs zu ver-meiden. Umweltschutz muss neben Wirtschafts- und So-zialpolitik ein gleichberechtigter Teil der Post-2015-Agenda bleiben; nur dann können die drei Dimensionennachhaltiger Entwicklung ausbalanciert werden. Wir ha-ben uns vorgenommen, die Agenda in politische Haupt-botschaften zusammenzufassen; das wird dann der Kom-munikation dienen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist erkennbar,dass einige Staaten einseitig auf wirtschaftliches Wachs-tum und Armutsbekämpfung Wert legen. Der Umwelt-schutz darf aber nicht wieder auf der Strecke bleiben wiezuletzt im Jahr 2000 bei den Millenniumsentwicklungs-zielen.Die Industriestaaten müssen sich selbst in die Pflichtnehmen. Wir wollen die Lebensbedingungen aller Men-schen verbessern. Entsprechend muss herausgestelltwerden, welcher Beitrag zur Armutsreduzierung und zurSicherung der natürlichen Lebensgrundlagen geleistetwerden kann.Das Thema „nachhaltiger Konsum und nachhaltigeProduktion“ ist ein wesentliches Element, da es im Kerndarum gehen muss, mit weniger eben mehr zu produzie-ren. Wir wollen ein inklusives Wirtschaftswachstum er-reichen, mit möglichst hoher Ressourceneffizienz. Dasführt zu neuen Geschäftsmöglichkeiten, die Innovatio-nen fördern. Aber auch Chemikalien- und Abfall-management, eine Erhöhung des Anteils nachhaltigerProdukte und Dienstleistungen, Konsumenteninforma-tionen und soziale Unternehmensverantwortung sindweitere Ansätze, die in diesem Zusammenhang Berück-sichtigung finden sollen.Wenn wir etwas für die nachhaltige Entwicklung tunwollen, müssen wir bei der wirtschaftlichen und sozialenEntwicklung immer auch die ökologischen Belastungs-grenzen der Erde im Blick behalten und dürfen sie nichtweiter überschreiten. Deshalb müssen die OECD-Staa-ten – also auch wir – ihren Lebensstil so verändern, dasser bei weltweiter Anwendung die Umweltbelastungs-grenzen der Erde nicht verletzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland istschon weit gekommen, darf sich aber nicht zurückleh-nen. Bei der Umsetzung der Agenda können wir zeigen,dass sich Deutschland seiner internationalen Bedeutungfür eine nachhaltige Entwicklung bewusst ist und sichdieser Verantwortung stellt. National müssen auch wirdazu beitragen, dass „business as usual“ überwundenwird. Wir starten dabei zum Glück auf hohem Niveau.In einem Beschluss hat das Bundeskabinett Bereichefestgelegt, in denen Deutschland einen besonderen Bei-trag leisten will, unter anderem mit der Energiewendeund mit dem Deutschen Ressourceneffizienzprogramm,dem sogenannten ProgRess. Mit der deutschen Nachhal-tigkeitsstrategie haben wir ein gutes Instrument, das wirfür die Umsetzung der globalen Ziele der Agenda nutzenwerden. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass sichalle Akteure und Ebenen von Staat, Gesellschaft, Wirt-schaft, Wissenschaft und Politik in Deutschland dieneuen Ziele tatsächlich zu eigen machen und Anstren-gungen unternehmen, sie zu erreichen.
Die Bundesregierung ist dazu bereit.Herzlichen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-ordneten Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diegroßen Krisen überragen und überschatten mehr undmehr die Fragen der globalen Zusammenarbeit.Amnesty International und Wolfgang Ischinger sprechenfast im Gleichklang – das passiert wirklich nicht oft –vom Zeitalter des Zerfalls unserer Weltordnung. Bei denMenschen herrschen Ratlosigkeit, Entsetzen, Trauer an-gesichts des Leidens und der Gewalt in der Ukraine, an-gesichts von inzwischen über 57 Millionen Flüchtlingen– die größte Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg –, aberauch angesichts des Terrors, der uns immer näher rückt.Erscheint es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,nicht auch merkwürdig angesichts dieser humanitärenTragödien und Katastrophen, wenn wir nun über furcht-bar komplizierte internationale Prozesse reden mit die-sen furchtbar komplizierten Begriffen und Abkürzungen,die außerhalb der Welt von AwZ, BMZ und GIZ keiner
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Claudia Roth
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kennt, wenn wir über die Post-2015-Agenda reden, überSDGs, über eine ODA-Reform, über den TOSD? Michwundert es auf alle Fälle nicht, wenn kaum jemand ver-steht, worum es eigentlich geht – nicht in der Bevölke-rung, nicht im Parlament und leider offenbar auch nichtin der Bundesregierung. Die Debatte, sie ist viel zu vir-tuell, sie ist viel zu fachlich, und sie ist vor allem unpoli-tisch geworden. Das müssen wir ändern!
Die Debatte erreicht nicht die Köpfe der Menschen undauch nicht ihre Herzen. Sie muss raus aus diesem Elfen-beinturm; denn es geht nicht um einen Expertendiskurs,sondern um unsere Verantwortung für die Zukunft desPlaneten und für die Lebenssituation der Menschen.
Dabei müssen zwei Entwicklungen im Mittelpunktstehen: der menschgemachte Umwelt- und Klimakollapsund die rasant zunehmende globale soziale Ungleichheit.Gerd Müller hat es gesagt: Es muss uns alle erschrecken,dass die 80 reichsten Menschen auf der Welt inzwischenso viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte derWeltbevölkerung. 80 Menschen besitzen mehr als3,5 Milliarden Menschen.70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern, indenen die soziale Ungleichheit massiv zugenommen hat.Deshalb kann es uns doch nicht wundern, dass viele ver-suchen, in anderen Ländern für sich und ihre Kinder einePerspektive und Zukunft zu finden.
Was große Migrationsbewegungen – sie sind bei den57 Millionen Flüchtlingen gar nicht mitgezählt – angeht:Das sind in der Zwischenzeit Umwelt- und Klimaflücht-linge. Die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit unddie Bekämpfung der Klimakrise sind heute also die aller-wichtigsten Menschheitsaufgaben.
Ein nachhaltiges und gerechtes Entwicklungsmodell fürdie ganze Welt ist deshalb eine Überlebensfrage und vo-rausschauende Friedenspolitik.Die globalen Nachhaltigkeitsziele sind keine ab-strakte Größe, möglichst ganz weit weg von uns und nuretwas für die vermeintlichen Entwicklungsländer, alsodie Fortsetzung der Millenniumsziele. Nein, sie nehmenuns alle in die Pflicht und bestimmen unser Leben imHier und Jetzt: wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften,wie wir konsumieren, wie wir leben. Hier kommt es aufdie gesamte Bundesregierung an, die Chance, die es indiesem Jahr der Entscheidungen gibt, zu ergreifen.
Es geht schlichtweg um die Frage, ob es den politi-schen Willen für eine nachhaltige Gesellschaft gibt, diesich vom Verbrauch fossiler Rohstoffe entkoppelt undumweltschädliche Subventionen abbaut. Es geht um ehr-liche und verbindliche Zusagen zur Entwicklungs- undKlimafinanzierung und um völkerrechtlich bindende Re-geln und bindende Überprüfungsmechanismen in derKlima- und Gerechtigkeitspolitik. Das sind die Eck-punkte, an denen wir Sie, werte Bundesregierung, mes-sen werden.
Ich habe mir den Antrag der Koalition angeschaut. Erist genau in dem vorhin beschriebenen Sound geschrie-ben: so abstrakt, so virtuell und so wahnsinnig weit wegvon uns. Das reicht eben nicht aus. Es braucht weitausmehr. Der Erfolg der Verhandlungen hängt doch nichtvon schönen Texten und Technokraten ab, sondern da-von, dass sich hier bei uns, in der deutschen Politik, et-was ändert.
Wir müssen auch und gerade die Umsetzung derNachhaltigkeitsziele bei uns gewährleisten. Das sindZiele, die uns in Deutschland betreffen. Es geht um be-zahlbare und nachhaltige Energie, es geht um ein nach-haltiges Wirtschaftswachstum, es geht um menschen-würdige Arbeit, es geht um belastbare Infrastruktur, esgeht um die Verringerung von Ungleichheit, es geht umGeschlechter- und Gendergerechtigkeit, es geht um dieBekämpfung des Klimawandels und der Klimakrise. Dasmuss hier bei uns, vor unserer Haustür, beginnen.
In der UNO wird gerade ein Entwicklungsprogrammverhandelt, das bis 2030 bindend sein wird und auch füruns in Deutschland gilt, weil wir in vielen Bereicheneben auch eine Art Entwicklungsland sind. Ich habe abernicht den Eindruck, dass das in der gesamten Regierungangekommen ist oder von ihr geteilt wird. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen aus dem Entwicklungsausschuss,warum haben Ihren Antrag eigentlich nicht auch die Mit-glieder des Wirtschaftsausschusses, des Verteidigungs-ausschusses, des Haushaltsauschusses und des Finanz-ausschusses mitgezeichnet?
Erleben wir hier nicht eine Art „Hü und Hott“ statt„Hü oder Hott“ – Klima, aber doch die Kohle; fairerHandel, aber doch TTIP; Frieden schaffen, aber dochenttabuisierte Rüstungsexporte, wie es Frau von derLeyen fordert? Oder geht es wirklich um Kohärenz,sprich: um eine ganzheitliche und glaubwürdige Politik?Sie tun so, als hätte das eine rein gar nichts mit demanderen zu tun. Ich sage: Beam me up, Scotty, raus in dieungeahnten Weiten der Technokratie, die weit weg sindvon der eigenen Politik! Aber wenn nicht Deutschlandals eines der allerreichsten Länder zum globalen Vorrei-ter wird, dann wird es mit der Nachhaltigkeitsagendaschwierig. Mit der G-7-Präsidentschaft hat Deutschlanddie Möglichkeit, den internationalen Prozess zu prägenund die größten Industrieländer der Welt auf eine ge-
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Claudia Roth
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meinsame Agenda für den sozial-ökologischen Umbaueinzuschwören. Also: klare Finanzierungsversprechenauf dem Treffen in Addis Abeba – Entwicklungsfinan-zierung ist Klimapolitik –, ein Ende der fossilen Subven-tionen und der Subventionen für die Agroindustrie.Nur wenn diese Vorleistungen in die Verhandlungeneingehen, nur wenn diese Vorleistungen von uns er-bracht werden, dann können wir von den G-77-Ländern,von den Industrieländern und von den Schwellenländerneinfordern, auch ihren notwendigen Beitrag zu leisten:
den Abbau von Korruption, den Aufbau von gerechtenSteuersystemen und die Umverteilung von Reichtum.Frau Merkel hat jetzt die Chance, zu zeigen, wasmehr Verantwortung Deutschlands für die Welt wirklichheißt. Dann wäre eine globale Partnerschaft wirklichmöglich, die wir in einer Zeit der Krisen so dringendbrauchen – vielleicht noch nie so dringend wie heute.Ich danke Ihnen.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Sabine Weiss, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Das Jahr 2015 symbolisiert einen wichtigen Meilensteinfür die Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke, wirkönnen es geradezu ein Schicksalsjahr für die weltweiteEntwicklung nennen. 2015 entscheidet sich im Gipfel-prozess, wie es mit den Millenniumszielen weitergeht. Inder Post-2015-Agenda oder, verehrter Herr Minister, indem neuen Weltzukunftsvertrag werden neue Ziele füreine nachhaltige Entwicklung erarbeitet.Ein kurzer Blick zurück auf die Millenniumsentwick-lungsziele zeigt: Wir sind ein gutes Stück weiter auf demWeg zu mehr Entwicklung und zu besseren Lebenschan-cen für die Menschen gekommen. Der Blick in die Zu-kunft zeigt aber auch: Der Weg bis zum Ziel ist nochweit und mit Herausforderungen gepflastert. Ein Katalogvoll mit hochambitionierten Zielen, der dann bald in derSchublade der Versenkung verschwindet und eventuellnur zu hohen internationalen Konferenzen regelrecht wieeine Monstranz vorneweg getragen wird, wird nichtsbringen. Es ist an uns, diese neuen Nachhaltigkeitszielemit Leben zu füllen und die erfolgreiche Umsetzung inStein zu meißeln.Ich gebe Ihnen recht, Frau Roth: Der Erfolg von Ver-handlungen hängt nicht von irgendeinem Antrag, von ir-gendwelchen Schriftzeilen ab. Er hängt von den Men-schen ab. Aber da bin ich sehr optimistisch: Wir haben inunserem Hause hochengagierte Entwicklungspolitiker.Wir haben einen authentischen, glaubwürdigen Minister.Wir haben eine Umweltministerin, die vieles vorantrei-ben will.
Wir haben gute Teams in den Ministerien. Ich bin sehroptimistisch, dass wir gemeinsam eine Menge auf denWeg bringen können.
Derzeit sehe ich noch drei Bremsen, die unseren Ent-wicklungsmotor in vielen Ländern stottern lassen unddie wir lösen müssen.Bremse Nummer eins: mangelnde Nachhaltigkeit beiden Entwicklungsbemühungen. Eine der zentralen Neue-rungen der Post-2015-Agenda ist die Verschränkungklassischer Armutsziele mit umweltpolitischen Zielen.Dem liegt Gott sei Dank die Erkenntnis zugrunde, dasssich wirtschaftliche und soziale Entwicklung und um-weltpolitische Nachhaltigkeit gegenseitig bedingen.Also: Ohne einen wirksamen Klimaschutz werden in vie-len Entwicklungsländern die Probleme von der Wasser-versorgung bis zur Ernährungssicherheit wachsen. Natur-katastrophen – wir haben es in der jüngsten Vergangenheiterlebt, zum Beispiel den Wirbelsturm Haiyan auf den Phi-lippinen – werden sich häufen.Schneller als bei jedem anderen Thema auf der Post-2015-Agenda kommt hier mit der Klimakonferenz in Pa-ris im Dezember dieses Jahres die Stunde der Wahrheitauf uns zu. Um das 2-Grad-Ziel zu erreichen, muss dieinternationale Gemeinschaft noch kräftig nachlegen.Ich bin deshalb unserer Bundeskanzlerin sehr dankbardafür, dass sie den Klimaschutz zu einem zentralenPunkt des G-7-Gipfels macht. Das gilt übrigens auch fürden Meeresschutz, ohne den Millionen Menschen ihreLebensgrundlage – einschließlich ihrer Ernährung – ver-lieren würden.Wir müssen den Bürgern aber auch noch deutlichermachen, was Nachhaltigkeit erfordert. Wer ist sich schondessen bewusst, dass die Weltgemeinschaft laut WWFjährlich insgesamt 50 Prozent mehr an Ressourcen ver-braucht, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann?Wir verbrauchen also quasi 1,5 Erden und leben damitdeutlich auf Kosten künftiger Generationen.Entwicklungsbremse Nummer zwei: mangelnde Ei-genverantwortung der Partnerregierungen. Das Gebotder Stunde ist und muss sein: mehr Eigenverantwortung!Eine der wichtigsten Aussagen in der Post-2015-Agendaist für die CDU/CSU-Fraktion die Betonung der Eigen-verantwortung aller Staaten für die Entwicklung in ihrenLändern. Das haben wir auch in unserem Antrag betont.Ohne aktive Mitwirkung der Partnerregierungen hat Ent-wicklungspolitik selten gewirkt. Das ist die eine Dimen-sion der Eigenverantwortung. Die andere ist, dass einGroßteil der Menschen, deren Leben durch die neueAgenda verbessert werden soll, gar nicht mehr in nomi-nell armen Ländern und damit letztlich auch nur bedingtin den zentralen Partnerländern unserer Entwicklungszu-sammenarbeit lebt. Indien zum Beispiel betrachten wir
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Sabine Weiss
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als Schwellenland. Es besitzt zwar Atomwaffen und isteine Handelsmacht, aber ein Drittel der Bevölkerung– etwa 400 Millionen Menschen – lebt von weniger als1,25 US-Dollar am Tag.Unsere Entwicklungspolitik konzentriert sich zuRecht auf die ärmsten, auf die am wenigsten entwickel-ten Länder. In dem Maße aber, in dem Länder aus demKreis der ärmsten Länder herauswachsen, nimmt die Ei-genverantwortung der dortigen Regierungen zu, nämlichdie Verantwortung, die nicht erreichten Ziele auch selbstumzusetzen. Das muss unser Anspruch sein.Bremse Nummer drei: die desolate Lage in fragilenStaaten. Eine entscheidende Aufgabe für uns wird darinbestehen, die Millenniumsziele dort zu erreichen, wodies bisher nicht gelungen ist. Da sind wir uns in diesemHause sicherlich alle einig. Leider betrifft dies viele fra-gile Staaten und Konfliktstaaten. Etwa ein Fünftel derglobal extrem armen Menschen lebt in Ländern wieSomalia, im Nord- und Südsudan, in Nordkorea undEritrea – um nur einige zu nennen.Laut Weltbank sind in fragilen Staaten mehr als40 Prozent der Menschen arm. Wenn hier ein erneutesScheitern nicht vorprogrammiert sein soll, müssen – undzwar auf allen Seiten – die Anstrengungen verstärkt wer-den, tragfähige Voraussetzungen für Entwicklung zuschaffen wie Frieden und Sicherheit, die Beachtung derMenschenrechte oder auch grundlegende funktionie-rende staatliche Strukturen.Hier ist der Ansatz unserer Bundesregierung, dieseBereiche gezielt zu fördern, absolut richtig.
Unser Appell richtet sich in besonderer Weise auch andie oftmals diktatorischen Staatsführungen vieler dieserLänder, die die Post-2015-Agenda offiziell mittragenund nach mehr Geld rufen, aber intern alles dafür tun,dass es den Menschen in ihren Ländern weiter schlechtgeht.Diesen Schuh des Scheiterns, liebe Kolleginnen undKollegen, werden wir uns nicht anziehen, wenn die, diein diesen Ländern das Sagen haben, das Eigeninteressevor die Eigenverantwortung setzen.Ich denke, wir sind auf einem guten Weg. Ich freuemich auf die weiteren Beratungen. Es geht voran, aber esgibt noch sehr viel zu tun. Wir packen es an.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Niema Movassat, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!„Business as usual” ist keine Option. Das steht im der-zeitigen UN-Entwurf zu den nachhaltigen Entwicklungs-zielen, kurz SDGs. Dasselbe steht auch im Positionspa-pier der Bundesregierung zum laufenden SDG-Verhandlungsprozess. Auch Sie, Herr Minister Müller,haben ja heute gesagt, dass es kein Weiter-so geben darf.Ich stimme dem voll und ganz zu; denn nach wie vorhungern weltweit je nach Berechnung 800 Millionen bis1,3 Milliarden Menschen. Zugleich nimmt die Ungleich-heit immer unfassbarere Ausmaße an. Schon im nächs-ten Jahr wird 1 Prozent der Menschheit so viel besitzenwie die restlichen 99 Prozent zusammen. Während sichdie einen Luxusvillen leisten, stirbt auf der anderen Seiteder Welt alle sechs Sekunden ein Kind an Hunger. Derglobale Diskussionsprozess um die nachhaltigen Ent-wicklungsziele bietet die Chance, endlich etwas an die-ser himmelschreienden Ungerechtigkeit zu ändern.
Doch schaut man sich die Position der Regierung an,wird klar: Sie spricht vom notwendigen Wandel, beharrtin der Praxis aber auf dem Status quo.Drei Beispiele dafür:Erstens. Im SDG-Entwurf wird unter Punkt zehn gro-ßes Gewicht auf die Bekämpfung von Ungleichheit, so-wohl zwischen Ländern als auch innerhalb von Staaten,gelegt. Im Positionspapier der Bundesregierung tauchtdas Wort „Ungleichheit“ jedoch kein einziges Mal auf.Dabei nimmt die Ungleichheit nicht nur auf globalerEbene, sondern auch hierzulande bedrohliche Dimensio-nen an. 12,5 Millionen Menschen in Deutschland sindarm, die reichsten 10 Prozent besitzen 70 Prozent desgesamten Vermögens. Was braucht es eigentlich noch,damit die Bundesregierung die Bekämpfung der Un-gleichheit hier und weltweit ganz oben auf die Prioritä-tenliste setzt?
Wir brauchen sowohl in Deutschland als auch internatio-nal starke soziale Sicherungssysteme und Steuersysteme,die für Umverteilung von oben nach unten sorgen. Aberstatt dass sich die Bundesregierung im Rahmen desSDG-Prozesses für solche strukturellen Veränderungeneinsetzt, versucht sie, sich aus der Verantwortung zustehlen.Damit bin ich beim zweiten Punkt: Deutschland ver-braucht wesentlich mehr Ressourcen, als im globalenMaßstab nachhaltig wäre. Wir schleudern mehr Dreck indie Luft als andere Nationen, und wir überhäufen dieLänder des Südens mit Produkten zu Dumpingpreisen,die eine eigenständige Entwicklung vieler importieren-der Staaten verhindern. Alle hier kennen das Beispiel derafrikanischen Märkte, die mit deutschen Hühnerabfällenüberschwemmt werden. Kurz gesagt: Wir entwickelnuns auf Kosten anderer Staaten und Menschen. Deswe-gen pochen die Länder des Südens zu Recht darauf, dassStaaten zwar eine gemeinsame, aber eben auch unter-schiedliche Verantwortung bei der Umsetzung der nach-haltigen Entwicklungsagenda haben.
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8292 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Niema Movassat
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Deutschland trägt jedoch nicht nur mehr Verantwortungals Bolivien, Malawi oder die Fidschi-Inseln. Deutsch-land hat auch wesentlich mehr Einflussmöglichkeiten alsdiese Länder, Veränderungen im Rahmen der EU, derUNO oder der WTO in Gang zu setzen. Wenn man kein„business as usual“ will, dann muss man diesen Einflussauch geltend machen.
Mein dritter Punkt. Die viel beschworene Ära einerglobalen Partnerschaft, die die SDGs einläuten sollen,muss auch finanziell und institutionell abgesichert wer-den. Darum soll es auch beim Gipfel in Addis Abeba imJuli gehen. Auf der Tagesordnung wird dort nicht nur derDauerbrenner „Anhebung der Entwicklungsgelder auf0,7 Prozent des Bruttonationalprodukts“ stehen –Deutschland übt sich hier ja seit 45 Jahren in leeren Ver-sprechungen –, sondern ebenso zentral ist auch, dass dieEntwicklungsländer die Möglichkeit stärkerer Kapital-kontrollen erhalten; denn bisher fließt jährlich die un-fassbare Summe von 1 Billion Dollar aus diesen Län-dern ab. Hieran haben Steuerhinterziehung und illegaleGeschäfte internationaler Unternehmen den größten An-teil. Zudem muss endlich eine der Kernforderungen derEntwicklungs- und Schwellenländer, die Demokratisie-rung der Finanzinstitutionen Weltbank und IWF, auf denWeg gebracht werden.
Leider hat die Bundesregierung zu all diesen Punktenweder konkrete Vorschläge gemacht noch Zusagen er-teilt. Diese Untätigkeit ist auch kein Wunder; denn unterglobaler Partnerschaft verstehen Sie ja vor allem die For-cierung öffentlich-privater Partnerschaften in der Ent-wicklungszusammenarbeit. Anstatt Großunternehmenklare gesetzliche Regeln für ihr Handeln aufzuerlegen,lädt die Bundesregierung diese dazu ein, ihre Interessenin den Ländern des Südens mit staatlicher Flankierungbesser durchzusetzen. So fördert das Entwicklungsmi-nisterium die Produktion von Kartoffelchips und Pom-mes in Kenia und Nigeria; mit an Bord: die üblichenVerdächtigen Bayer, Syngenta und Solana. Unter demDeckmantel der Hungerbekämpfung unterstützen Sie alsBundesregierung mit Steuergeldern einmal mehr dieExpansionsbestrebungen der Agrarkonzerne in Afrika.„Business as usual“ eben.
Kurzer Blick auf die Uhr, ja?
Ich komme zum Ende. – Eine Agenda für nachhaltige
Entwicklung sieht anders aus. Dafür werden wir als
Linke kämpfen.
Danke.
Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich finde es wichtig, dass es uns heuteeinmal gelungen ist, zu einer frühen Tageszeit über dasThema Nachhaltigkeitsziele zu sprechen. Leider ist es jaoft so, dass wir uns am Ende der Tagesordnung mit sol-chen Themen befassen.
Das ist schade und bedauerlich, weil ich glaube, wirmüssen uns fachübergreifend mehr mit den Fragen vonNachhaltigkeit, und zwar in globaler Hinsicht, beschäfti-gen.
Wenn man über die Nachhaltigkeitsziele der UNspricht, ist es wichtig, zu fragen: Was haben wir bereitserreicht? Es geht jetzt um den Folgeprozess der soge-nannten Millenniumsentwicklungsziele, die bis 2015 er-reicht sein sollten. Die Frage ist also: Was haben wir indiesen Entwicklungszielen erreicht, was haben wir nichterreicht, und welche Sachverhalte wurden damals über-haupt nicht thematisiert, die aber sehr wohl zur Bekämp-fung von Armut und für Fortschritte in der Entwicklungganz entscheidend sind?Ich glaube, es ist bei den Entwicklungszielen einigeserreicht worden. Ich möchte das sagen, weil das auchMut machen soll, dass wir uns wirklich um Entwick-lungszusammenarbeit bemühen und uns dafür einsetzen.Es ist einiges bei der Bekämpfung von extremer Ar-mut erreicht worden. Das kann man mit Zahlen nicht sorichtig fassen, wenn man dazu Statistiken vorliest. Aberwenn es vor 25 Jahren in den Entwicklungsregionen derErde so war, dass rund die Hälfte der Menschen von we-niger als 1,25 Dollar am Tag, also in extremer Armut,gelebt hat und jetzt, dank der Arbeit im Rahmen der Ent-wicklungsziele, dieser Anteil immerhin auf 22 Prozentgesunken ist – das sind die Zahlen der UN –, dann halteich das für einen positiven Schritt in die richtige Rich-tung. Für die Menschen, die davon betroffen sind, ist dassicherlich wertvoll.
Das heißt aber nicht, dass man sich damit zufrieden-geben kann und zufriedengeben darf. Denn selbstver-ständlich muss die Beseitigung von extremer Armut dasoberste Ziel der Entwicklungsagenda, der Nachhaltig-keitsagenda auch in dem neuen Prozess werden.Wir haben vieles nicht erreicht. Auch das muss mandeutlich sagen. Gerade im Gesundheitssektor ist vielesnicht erreicht worden. Es gibt bei der Müttersterblich-keit, der Kindersterblichkeit riesige Defizite. Ich glaube,das hat in vielen Teilen dieser Erde mit der Stellung der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8293
Dr. Bärbel Kofler
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Frau zu tun; auch das muss man an der Stelle sehr deut-lich ansprechen. Auf der anderen Seite hat das aber auchmit dem absoluten Fehlen von funktionierenden sozialenSicherungssystemen und Gesundheitswesen zu tun. Dashaben wir ja gerade angesichts der Ebolakrise wiederfestgestellt.Ich finde es deshalb wichtig, dass die – schon wiederso eine Abkürzung; OWG – Open Working Group derVereinten Nationen in ihrem Positionspapier festgelegthat, dass es gerade zu diesen Gesundheitszielen eineReihe von Unterzielen geben soll, die auch den Zugangzu sozialen Sicherungssystemen in den Mittelpunkt stel-len. Das ist einer der ganz entscheidenden Punkte.
Ferner muss über Dinge diskutiert werden, über dieim Rahmen des MDG-Prozesses, also der Millenniums-entwicklungsziele, überhaupt nicht gesprochen wordenist. Auch darauf weisen wir in unserem Antrag hin. Esmuss darum gehen, dass dem Ziel „MenschenwürdigeArbeit weltweit“, das in dem UN-Papier formuliert wird,endlich zum Durchbruch verholfen wird.
Da wird es dann spannend. Knapp 900 MillionenMenschen auf dieser Erde verdienen trotz Arbeit unter2 Dollar am Tag und müssen damit sich und ihre Fami-lien ernähren. Ein Drittel der Beschäftigten in den Ent-wicklungsländern lebt trotz der täglichen Arbeit in extre-mer Armut. Informelle Arbeit ist gang und gäbe – dasheißt, der Großteil der Menschen hat keine arbeitsrecht-liche, sozialrechtliche Absicherung –, und fast 21 Mil-lionen Menschen schuften unter sklavenähnlichen Be-dingungen.Wenn wir hier wirklich etwas ändern wollen, dann istsicherlich vieles gefragt, was in den Bereich der Han-dels- und Steuerpolitik gehört; keine Frage. Aber dannmuss es uns auch gelingen, in allen Ländern– Universalität ist ein wichtiger Punkt – ein entspre-chend ausgestattetes eigenes Arbeitsrecht auf dieAgenda zu setzen, damit die Menschen in diesen Län-dern – hoffentlich mit Gewerkschaften vor Ort – ihre In-teressen vertreten können.
Dann muss es uns auch gelingen, die ILO-Kernarbeits-normen in allen Ländern zu verankern, Sozialstandardszu definieren und ein System der sozialen Sicherung auf-zubauen. Das muss jedes Land als Aufgabe für den Ge-setzgebungsprozess in seinem Land begreifen. DasSpannende an dem SDG-Prozess ist, diese konkretenFragen – jetzt wird es ein bisschen konkreter, liebeClaudia Roth – in einzelne Gesetzgebungsvorhaben um-zusetzen und in den nächsten Jahren entsprechendeMaßnahmen durchzuführen.
Das heißt selbstverständlich auch, dass der Beschlussder Entwicklungsziele, zu dem es hoffentlich im Sep-tember in New York kommt, nicht das Ende der Debatteum die Nachhaltigkeitsziele, sondern erst der Beginn derArbeit in allen Parlamenten und Gesellschaften dieserErde ist.Ich nenne ein weiteres Beispiel. Ein Thema, das dieVerschränkung von Ökonomie, Ökologie und Sozialemsehr deutlich macht, aber in den letzten Jahren völligvernachlässigt worden ist, ist die Stadtentwicklung. DieUN schreibt in ihrem Bericht zu den Nachhaltigkeitszie-len zu Recht:Der Kampf für nachhaltige Entwicklung wird inStädten gewonnen oder verloren werden.Dabei geht es um Arbeitsplätze für diese Menschen,um die wirtschaftliche Entwicklung, ebenso wie um alleökologischen Fragen, die damit im Zusammenhang ste-hen. Es geht zum Beispiel darum, ob die Menschen end-lich Zugang zu Energie haben, um selbst produktiv seinzu können, also im Sinne der eigenen Armutsbekämp-fung tätig werden zu können. Es geht aber selbstver-ständlich auch um die ökologischen Grenzen unseresPlaneten. Das betrifft zum Beispiel die Frage, welcheEnergieträger und Verkehrsträger geeignet sind und wiewir die Entwicklung gemeinsam hinbekommen. Studienbelegen, dass zurzeit 2,3 Milliarden Menschen in Ent-wicklungs- und Schwellenländern in Städten leben, fastdie Hälfte davon in Slums. Diese Zahl wird, wenn wirnicht handeln, bis 2050 voraussichtlich auf 3 MilliardenMenschen, die in Slums leben, steigen.Das zeigt, dass es einen ganz konkreten Handlungsbe-darf gibt, was Stadtplanung, Verkehrsplanung und dieFrage angeht, wie man in diesen Ländern endlich auchnachhaltige Entwicklungskonzepte im Energiebereichumsetzen kann. Deshalb bin ich sehr froh, dass es in demvorliegenden Katalog nicht nur einige wenige ausge-wählte Ziele gibt, über die wir diskutieren, sondern dasswir zum ersten Mal alle diese Fragen zusammen disku-tieren. Es sind insgesamt 17 Ziele, zugegebenermaßenmit einer ganzen Reihe von Unterzielen, aber das zeigtauch die Notwendigkeiten. Wir müssen uns auch immerwieder vor Augen führen, dass wir bei der Frage anset-zen müssen, wie in allen Ländern mit diesen Zielen um-gegangen wird.
Ein kurzer Blick auf die Uhr.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident, und möchtenur noch einen letzten Gedanken formulieren, nämlichzur Einnahmesituation der Länder. Auch wir werden un-seren Beitrag dazu leisten müssen. Das haben wir in un-serem Antrag im Übrigen mit dem 0,7-Prozent-Ziel fest-geschrieben. Es wird aber auch darum gehen, dass wirdie anderen Länder beim Aufbau von Steuersystemenunterstützen müssen. Außerdem müssen wir unser eige-nes Recht so ausgestalten, dass zum Beispiel beim Roh-stoffabbau Transparenz hergestellt wird, damit die
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8294 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Bärbel Kofler
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Länder überhaupt eine Chance bekommen, eigene Steu-ereinnahmen zu erzielen.Herzlichen Dank.
Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Peter Meiwald,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrtes Präsidium! Verehrte
Frau Ministerin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sind die Sustainable Development Goals
– SDGs ist eine schöne Abkürzung; Claudia Roth hat es
bereits gesagt – eine globale Entwicklungsagenda zum
Überleben unserer Welt oder vielleicht auch eine Road-
map zur Gestaltung des Paradieses? Was in den 17 Zie-
len formuliert ist, klingt gut. Klar ist: Der dringend ge-
botene notwendige Wandel in Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit – ökonomisch,
ökologisch, sozial, und zwar global, national und lokal –
muss engagiert angegangen werden.
Was bedeutet dieser Prozess für uns in Deutschland
und als Politik im Besonderen? Ihr Antrag, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und SPD, schildert auf
fünf Seiten Prosa den bisherigen Arbeitsprozess ohne
weitere Konkretisierungen. Immerhin: Unter Punkt 14
auf der letzten Seite bekennen Sie sich zum 2-Grad-Ziel,
zum Erhalt der Biodiversität und zur Transformation un-
serer Volkswirtschaft. Doch wie Sie das erreichen wol-
len oder was der konkrete Beitrag Deutschlands im
Rahmen der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Ver-
antwortlichkeiten sein soll, davon steht leider nichts in
Ihrem Antrag.
Man kann sich diesem Thema jedoch völlig anders
nähern. Der norwegische Autor Jostein Gaarder nimmt
den Leser in seinem Buch 2084 – Noras Welt mit in die
Welt der 15-jährigen Nora, die träumt, wie sie im Jahr
2084 ihrer Urenkelin Nova erklären muss, warum es
viele Tiere nicht mehr gibt oder warum arabische Klima-
flüchtlinge durch den Norden Norwegens ziehen. Unsere
Agenda, an der die Staaten der Welt jetzt arbeiten, zielt
nicht auf das Jahr 2084, sondern zunächst auf 2030.
Doch auch das Szenario in 15 Jahren ist – darauf machen
unsere Wissenschaftler schon heute aufmerksam – dra-
matisch genug, um einzusehen, dass nicht nur global,
sondern gerade auch in unserem reichen Land Handeln
geboten ist.
Haben Sie schon einmal einen Goldregenpfeifer pfei-
fen gehört, einen Alpensalamander oder einen Blauschil-
lernden Feuerfalter gesehen? Noch nicht? Dann müssen
Sie sich beeilen; denn unser Bundesamt für Naturschutz
zählt diese drei genauso wie 60 weitere heimische Arten
zu den Hochrisikoarten, die bis 2030 verschwunden sein
werden, wenn wir das 2-Grad-Klimaziel nicht erreichen.
Dass die planetaren Grenzen dabei bereits heute nicht
nur bei der Freisetzung von Klimagasen, sondern bei-
spielsweise auch beim reaktiven Stickstoff aus der in-
dustrialisierten Landwirtschaft weit überschritten sind,
darauf weist der Wissenschaftliche Beirat der Bundesre-
gierung Globale Umweltveränderungen ebenso wie der
von der Kanzlerin eingesetzte Sachverständigenrat für
Umweltfragen, aber auch viele Wissenschaftler immer
wieder hin. Frau Hendricks hat sich darauf bezogen.
Auch Frau Weiss und Frau Kofler kennen diese Informa-
tionen. Wir sind also schon weit fortgeschritten auf dem
Weg zu Noras 2084. Herr Müller, auch Sie haben gerade
in Ihrer Rede betont, dass die Fragen betreffend Umwelt,
Klima und soziale Gerechtigkeit Regeln und Grenzen
brauchen. Wie passt das zusammen mit dem Dogma des
freien Handels, dem sich Ihre Kanzlerin und der Wirt-
schaftsminister bei CETA, TTIP und Co. verschrieben
haben?
Die Konsequenzen daraus ignorieren Sie in Ihrem
Antrag völlig. Wir fragen uns, wo Ihr Antrag, über den
wir heute diskutieren, bezüglich der planetaren Grenzen,
der Umweltziele oder der globalen Gerechtigkeit über
das bereits Erreichte hinausgeht. Eigentlich ist alles in
Ihrem Antrag bereits im Kabinettsbeschluss vom 3. De-
zember enthalten. Daher handelt es sich eigentlich um
eine Nullnummer.
Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt oder
Stickstoffkreislauf sind globale Herausforderungen, de-
nen wir auch lokal begegnen müssen. Die Regierung
geht diese Themen aber auch in der praktischen Politik
nach wie vor nicht an. Der CO2-Ausstoß ist in Deutsch-
land mit 9,4 Tonnen pro Person im Jahr weiterhin viel zu
hoch. Doch wo ist das Kohleausstiegsprogramm?
Die subventionierte Agrarindustrie verdrängt seit Jahr-
zehnten immer weiter die bäuerliche Landwirtschaft zu-
lasten von Umwelt und Natur. Obwohl beim Stickstoff
die planetaren Grenzen erreicht sind, bietet die Novelle
zur Düngeverordnung keine Lösung. Das BMEL weigert
sich nach wie vor, beispielsweise Grenzwerte für Uran in
die Düngeverordnung aufzunehmen, obwohl alle wissen,
dass Uran ab einer bestimmten Menge schädlich für
Wasser, Boden und unsere Umwelt insgesamt ist. Doch
es passiert nichts. Es werden nur schöne Anträge ge-
schrieben.
Ich komme gleich zum Schluss.
Es wäre schön, wenn Sie dieses Versprechen einlösen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8295
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Im Sinne der notwendigen sozialökologischen Trans-
formation muss sich Deutschland selber entwickeln.
„Business as usual“ ist keine Option, um die globale
Entwicklung nachhaltig zu gestalten. Doch gerade ges-
tern haben Sie beispielsweise unseren Antrag zur Ver-
meidung von noch mehr Mikroplastik in den Meeren im
Umweltausschuss abgelehnt, obwohl damit zumindest
ein Teil der weiteren Einträge in unsere Meere leicht zu
verhindern wäre. Was soll das?
Eine urenkeltaugliche Politik ist dringend geboten,
mit der auch für zukünftige Generationen die Chance auf
ein erfülltes Leben gesichert werden kann, und das glo-
bal. Dazu fehlt Ihrem Antrag die Vision und Ihrer Politik
die Kohärenz.
Vielen Dank.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden über die nachhaltigen Entwicklungsziele, die so-genannten SDGs, die im Herbst in New York verab-schiedet werden sollen. Ich möchte zuerst auf die Mil-lenniumsentwicklungsziele, die MDGs, zurückschauen.Sie waren nicht vollständig und willkürlich. Wir habenauch nicht alle erreicht. Aber sie waren fokussiert auf ei-nige Kernziele, die man überprüfen konnte. Sie gabenwichtige Impulse. Es waren Zusagen möglich. Die G 7hat sich damit befasst, und deshalb waren sie erfolgreich.Wenn man darüber nachdenkt, kann man sehen, wasjetzt auf uns zukommt. Wir werden 17 Ziele und169 Unterziele haben. Ich finde, das ist ein ambitionier-ter Katalog. Er wäre nachhaltig, und er wäre umfassend.Das ist es, was wir offensichtlich alle erreichen wollen:das Umfassende, das alles Abdeckende. Das, was manbei den alten Zielen kritisiert hat, nämlich dass sie dasnicht sind, haben wir jetzt bei den SDGs. Es wird so gutwie kein Bereich ausgeklammert. Die NGO-Szene istenthusiastisch bis zum Gehtnichtmehr. Die findet das al-les ganz toll.Ich allerdings, liebe Freunde, habe einige Bedenken.Ich will sie nur einmal äußern, damit wir uns ein biss-chen für die Probleme sensibilisieren. Ich befürchte, dasswir bei 17 Oberzielen und 169 Unterzielen nicht alles er-reichen; bei den alten MDGs hatten wir weniger Ziele.Es könnte dazu kommen, dass sich die Staaten einzelneZiele herauspicken, die gerade kommod sind, die sievielleicht sogar schon erfüllt haben, dass sich Beliebig-keit breitmacht und Ziele nicht mehr der Überprüfbarkeitunterliegen. Ich fürchte, dass es uns nicht gelingt, einSystem zu entwickeln, das uns alle irgendwie weiter-bringt, weil jeder tut und lässt, was er will, was er kannoder was er möchte. Die Schlagkraft geht damit verlo-ren, und ich glaube, das ist nicht richtig.Unser Anspruchsdenken – das haben wir hier in denReden vor allen Dingen der Opposition gehört –, jedenSektor, jeden Aspekt und jede Kleinigkeit zu berücksich-tigen, halte ich für den falschen Weg.
Wir entwickeln so keinen Markenkern. Wir sind nichtmutig genug, um uns auf einige Themen zu konzentrie-ren, die wir dann aber auch erreichen können. Wenn wirdas nicht können und nur noch Politik nach dem Motto„Wünsch dir was“ machen – der eine will dies, der an-dere will jenes, der Dritte hat da eine Priorität –, dannkommen wir zu keinem Ergebnis. Das befürchte ich, unddas will ich nicht.Natürlich können wir uns, wenn wir Prioritäten setzenwollen, sehr wohl auf Prioritäten einigen. Aber wir soll-ten nicht über Beliebigkeit diskutieren; dafür ist die Zeitzu schade, und damit ist man nicht erfolgreich. Ich hoffe,dass wir uns in Foren wie zum Beispiel G 7 oder G 20auf einen prioritären Katalog einigen können, den wirdann genauso nachhaltig abarbeiten, wie wir es bei denMDGs gemacht haben. Ich glaube, mit Kanzlerin Merkelhaben wir da einen guten Partner. Das erkennen wir,wenn wir auf die G-7-Agenda von Elmau schauen. Dawerden wir sehen, wo die Kanzlerin Prioritäten setzenwill.Das Entscheidende ist, dass wir in diesem Zusam-menhang von langfristigen Entwicklungsagenden undNachhaltigkeitszielen sprechen. ISIS, liebe ClaudiaRoth, und die Befriedung der Ostukraine sind Dinge, dieuns im Moment beschweren. Ohne pathetisch klingen zuwollen: Hier geht es um viel mehr. Es geht nämlich da-rum, unsere Welt langfristig überlebensfähig zu halten.Wenn wir an die Themen Migration, Klima, Armutund Weltbevölkerungswachstum denken, dann stellenwir fest, dass das schwierige und langfristige Entwick-lungen sind, die uns beschweren werden. Schauen wirdoch einmal ganz kurz auf Afrika. Im Jahr 2050 wirdsich die Bevölkerung Afrikas verdoppelt haben. Wennwir der Jugend dort keine Perspektiven, keine Ziele undkeine wirtschaftliche Zukunft bieten und der Jugend keinselbstbestimmtes und würdiges Leben in Aussicht stel-len können, dann wird sie den Rattenfängern vor Ortnachlaufen. Das ist so. Wir sollten nicht glauben, BokoHaram und ISIS seien weit weg und brauchten uns nichtzu interessieren. So ist es nicht. Alle Ereignisse auf dergroßen weiten Welt haben für uns Bedeutung.Ich würde gerne Bundespräsident Köhler zitieren,wenn Sie, Herr Präsident, nichts dagegen haben, der ge-sagt hat, dass jeder von uns eigentlich weiß, dass wir nuralle zusammen alles regeln können. Alles, was auf derWelt passiert, tangiert uns hier direkt. Wir sollten nichtunterscheiden zwischen „denen da“ und „uns hier“; viel-
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Sibylle Pfeiffer
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mehr sind wir alle ein ganz großes Gefüge. Wir sind einegroße Schicksalsgemeinschaft. Das ist auch für unsereWahlkreise wichtig. Sie wissen alle: Wir gehen in dieWahlkreise und reden über Ortsumgehungen, Rentener-höhungen und Breitbandausbau. Das alles ist ganz wich-tig. Ich zitiere aber Horst Köhler, der gesagt hat:Die bedrohlichen Konflikte des 21. Jahrhundertsbestehen nicht zwischen „uns“ und „denen“,– sicherlich auch nicht zwischen dem Westen und demRest –sondern zwischen uns und den Enkeln, zwischenkurzfristigen und langfristigen Interessen.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der SDG-Prozess so wichtig. Deshalb brauchen wir einen Erfolg.Deshalb brauchen wir die neue zwischenstaatliche Ord-nung, die es geben wird.Damit einhergehend werden auch Verantwortlichkei-ten reduziert, und in diesem Zusammenhang reden wirüber die öffentliche Entwicklungsfinanzierung, dieODA. Die ODA ist nicht mehr die allein selig machendeFinanzierungsquelle. Aber sie ist Teil der Finanzierung,und deshalb sind wir froh, dass wir die SDGs diskutie-ren. Wir sind erst am Beginn und müssen uns in irgend-einer Weise einigen. Ich glaube, dass es für die Zukunftunseres Planeten, unserer Erde, unserer Welt wichtig ist,dass wir erfolgreich sind hinsichtlich der Finanzierungs-fragen, hinsichtlich der Gemeinsamkeiten, vor allen Din-gen aber hinsichtlich der gemeinsamen Verantwortlich-keiten, die wir haben.Wir haben mit den Nachhaltigkeitszielen, mit demKlimaabkommen in Paris, mit der Finanzierungskonfe-renz in Addis Abeba die Chance, ein ganz neues Buch zuschreiben, ein Buch über ein kooperatives Verhältnis derStaaten untereinander, über Fairness, über Nachhaltig-keit in der Zusammenarbeit. Ich glaube, das ist richtig,selbst wenn uns einige für naiv halten in der Frage, obuns überhaupt der große Wurf gelingt. Wir müssen daranarbeiten, weil es für die Zukunft, für unsere Enkel gutist. Die Welt braucht uns. Die Welt braucht nichts ande-res als die SDGs.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Carsten Träger, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In diesen Tagen ist viel die Rede davon, dasswir der Globalisierung Regeln geben wollen. Das istrichtig. Wir reden viel – vor allem wir in der SPD redenunheimlich viel – über die anstehenden Freihandelsab-kommen. Auch das ist richtig und wichtig. TTIP undCETA sind in aller Munde, und das sollen sie auch sein;denn hier tun Aufklärung und Transparenz bitter not.Aber worüber wir kaum reden, das sind unsere multi-lateralen Abkommen wie der Weltvertrag für nachhal-tige Entwicklung, über den wir heute sprechen, die soge-nannten Sustainable Development Goals, SDGs. Dabeihaben sie eine vielfach höhere Bedeutung; denn durchsie werden Ziele festgelegt, auf die sich die gesamteStaatengemeinschaft verpflichtet – zumindest ist meineHoffnung, dass das gelingen wird. Das werden ambitio-nierte Ziele sein, soweit sich das zum derzeitigen Standder Verhandlungen abschätzen lässt. Es wurden bisher17 zentrale Verpflichtungen zur Entwicklung unseresPlaneten erarbeitet. Sie gelten für Entwicklungsländer,Schwellenländer und Industrieländer gleichermaßen.Alle Länder tragen gemeinsam Verantwortung.
Da geht es nicht um Bevormundung. Welches morali-sche Recht hätten wir, den Entwicklungsländern Wegezu verweigern, die wir selbst beschritten haben? Aber esgeht um die schiere Notwendigkeit, dass wir uns diegleichen Fehler kein weiteres Mal leisten können. Wirstoßen schon heute an die planetarischen Grenzen. Zweidavon scheinen sogar überschritten zu sein. MinisterinHendricks ist darauf eingegangen; aber ich möchte diebeiden wichtigsten Forderungen aus dem Umweltbe-reich wenigstens benennen: Es ist unerlässlich, die glo-bale Erderwärmung auf unter 2 Grad zu begrenzen, unddie auf der UN-Konferenz in Südkorea vereinbartenZiele für die Biodiversität müssen erreicht werden.
Ich mache keinen Hehl daraus: Uns SPD-Umwelt-politikern wäre es sehr recht gewesen, wenn wir als Par-lament noch weiter gehende Forderungen an unsere bei-den Minister adressiert hätten, die uns auf der Konferenzin New York vertreten werden. Ich hätte gerne festge-schrieben, dass sich die Regierung für eine Besteuerungdes Ressourcenverbrauchs oder für die Beendigung vonumweltschädlichen Subventionen einsetzt.
Liebe Ministerin Barbara Hendricks, lieber Herr Minis-ter Müller, vielleicht können Sie diesen Wunsch aberauch so mit ins Reisegepäck nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Sprecher derSPD im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Ent-wicklung ist mir die Bedeutung der SDGs für unseredeutsche Nachhaltigkeitspolitik wichtig. Da nehmen wirim internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle ein, na-türlich bei Paradeprojekten wie der Energiewende, aberauch mit Blick auf die Strukturen, in denen wir inDeutschland Nachhaltigkeitspolitik betreiben. Wir habensowohl auf Regierungsebene als auch auf parlamentari-
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Carsten Träger
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scher Ebene feste Strukturen, wir haben einen politi-schen Grundkonsens, und wir haben eine nationaleNachhaltigkeitsstrategie. Daran müssen wir weiterhinarbeiten, zum Beispiel an der Messung der Fortschrittedurch Indikatoren. Ich finde, diese müssen wir überar-beiten und an die dann hoffentlich verabschiedetenSDGs anpassen. Nachhaltige Politik wird eben nur dannihrem eigenen hohen Anspruch gerecht, wenn sie auchüber den Tellerrand blickt und international Wirkungentfaltet. Wenn es uns gelingt, unsere Nachhaltigkeits-systematik schlüssig von der globalen über die europäi-sche auf die Bundesebene und vielleicht sogar auf dieLänderebene herunterzubrechen, dann ist viel erreicht;dann können wir Synergieeffekte heben und internatio-nal mit noch mehr Glaubwürdigkeit auftreten. LassenSie uns die Gelegenheit nutzen, die sich jetzt bietet!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt große politi-sche Prozesse der internationalen Staatengemeinschaftjenseits der großen Schlagzeilen. Die SDGs gehörendazu. Beharrliche Verhandlungen, die unser Zusammen-leben verbessern und eine nachhaltige Entwicklung un-seres Planeten im Blick haben – auch so geht Politik. InNew York kann ein großer Schritt in eine saubere undgerechtere Zukunft gelingen. Ich finde, wir sind auf ei-nem guten Weg.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-nächst einmal darf ich mich der Kollegin Dr. Kofler an-schließen, die bemerkt hat, dass es doch sehr gut ist, dassdiese Debatte über nachhaltige Entwicklung heute in derKernzeit stattfindet, weil es für unsere Nachhaltigkeits-debatten nicht selbstverständlich ist; das will ich bestäti-gen. Gut, dass wir diese Fragen heute quasi in der Herz-kammer der politischen Debatte behandeln! Oft ist es so,dass wir Nachhaltigkeitsdebatten bei Mondschein füh-ren; das mag auch etwas für sich haben. Ich erinneremich aber an die letzte Debatte, als kurz vor meinem Re-debeitrag die letzten Besucher von der Besuchertribüneverschwunden sind.
Das mag auch mit mir zu tun gehabt haben. Es warenaber schon zuvor nicht viele da.Es ist wichtig, dass wir diese Debatte hier und heuteführen, weil in der Tat, wie schon gesagt wurde, das Jahr2015 ein entscheidendes Jahr für Nachhaltigkeit undKlima ist, vielleicht das Entscheidungsjahr. Deshalb willich auf das zurückkommen, um das es eigentlich geht.Wir erinnern uns alle an die Konferenz in Rio im Jahr1992. Damals war es zum ersten Mal so, jedenfalls zumersten Mal in dieser Breite, dass man Umwelt und Ent-wicklung global zusammengedacht hat. Man hatte nachder Überwindung des Ost-West-Konflikts, nachdemdiese Konfrontation beendet war, die Hoffnung, dassman sich gemeinsam der globalen Fragen von Umweltund Entwicklung annehmen kann und dass man global ingemeinsamer Verantwortung Fortschritte erzielt. Es warso etwas wie Euphorie da. Es war Aufbruchstimmungda, und die Menschen haben daran Anteil genommen.Wenn man sich fast 25 Jahre später fragt: „Was ist er-reicht worden?“, dann muss man sagen: Natürlich gibt esFortschritte, natürlich gibt es Initiativen, natürlich gibt esEntwicklungen in vielen Bereichen. Es ist nicht anDeutschland gescheitert. Deutschland hat hier immereine drängende, eine Vorreiterrolle gespielt. Aber imglobalen Maßstab, gemessen an der Herausforderung, istbeschämend wenig für Entwicklung und Klima erreichtworden. Ich glaube, das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Ge-rade deshalb aber sind diese Initiativen so notwendig, ineiner Zeit, wo ein Rückfall droht, der Rückfall in eineOst-West-Konfrontation. Es ist richtig und notwendig,dass die Bundesregierung Menschenmögliches tut, umfür Frieden einzutreten und diese Konfrontation zu ver-hindern. Genauso wichtig und notwendig ist es, dass sieinternational für Entwicklung und Klimaschutz eintritt.Besonders wichtig ist, dass in diesem Jahr die Konferenzfür Nachhaltigkeit in New York und die Konferenz fürKlimaschutz in Paris stattfinden werden. Ob die Konfe-renzen in New York und Paris gelingen, hängt auch vonBerlin ab. Deshalb ist es richtig, wichtig und notwendig,dass Kanzlerin und Bundesregierung gesagt haben: DieseThemen machen wir zu einem Kernbereich der G-7-Prä-sidentschaft, um unserer globalen Verantwortung ge-recht zu werden.
Liebe Kollegin Roth, Sie haben natürlich recht, wennSie anmahnen, dass es keine technische Diskussion blei-ben darf. Wir müssen die Köpfe und Herzen erreichen.Deshalb finde ich es richtig, dass Minister Dr. Müllernicht nur von einem Post-2015-Prozess gesprochen hat,sondern von einem Weltzukunftsvertrag, von einerneuen globalen Partnerschaft, von fairem Handel, vongemeinsamer Verantwortung. Er hat zusammen mit derBundesregierung bei einem Kongress mit breiter Beteili-gung der Zivilgesellschaft die Zukunftscharta auf denWeg gebracht. Es ist vorgesehen, dies in alle Bundeslän-der weiterzutragen und mit Veranstaltungen und Aktio-nen die Menschen zu erreichen und sie zu begeistern,und es ist richtig, dass dies auf konkrete Initiativen he-runtergebrochen wird. Er hat gesagt, dass den Menschenin Entwicklungsländern durch eine Ausbildungspartner-schaft Perspektiven geboten werden können. So soll zumAusdruck gebracht werden, worum es im Kern geht: umein Leben in Würde. Das ist Armutsbekämpfung. Esgeht aber auch weit darüber hinaus, und zwar in die Be-reiche Bildung und Perspektiven. Es geht um eine ge-meinsame Verantwortung. Die Initiative für faire Texti-lien soll uns alle ermahnen, uns als Verbraucher, aber
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8298 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Andreas Jung
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auch unsere Wirtschaft. Mit dem, was wir tun, überneh-men wir direkte Verantwortung für die sozialen Um-stände bzw. Missstände in den Entwicklungsländern.Wir müssen gemeinsam mehr Verantwortung überneh-men. Für diesen Kurs haben Sie, Herr Minister, unsereUnterstützung.Weiter geht es darum – auch das ist angemahnt wor-den –, dass wir konkret werden und unserer Vorreiter-rolle, die wir nicht nur in Deutschland, sondern auch inEuropa in Anspruch nehmen, gerecht werden. Deshalbkann es nicht sein – ich spreche als Vorsitzender desNachhaltigkeitsbeirats im Namen aller Fraktionen –,dass die Nachhaltigkeitsstrategie in der EuropäischenUnion aufgegeben, dass sie nicht fortgeschrieben wer-den soll, dass sie als Fußnote in der Strategie „Europa2020“ aufgehen soll. In dieser Woche haben wir mit demVizepräsidenten Timmermans Gespräche geführt. Wirerhoffen von der neuen Kommission, dass sie Nachhal-tigkeit institutionell und materiell verankert. Wenn wirdies in Europa nicht voranbringen, wird es kein anderermachen. Daran müssen wir uns messen lassen.
Neben diesen institutionellen Fragen haben wir natür-lich eine finanzielle Verantwortung; auch das ist gesagtworden. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland Zu-sagen im Bereich der Entwicklungsfinanzierung ge-macht. Die müssen – da gibt es kein Vertun – eingehal-ten werden. Deshalb ist klar, dass es besondere Mittelzur Erreichung dieser Nachhaltigkeitsziele geben muss.Es geht nicht nur um Geld, aber es geht auch um Geld.Das muss klar sein. Auch in diesem Bereich müssen wirin diesem Jahr Fortschritte erzielen.Wir befinden uns in diesem Jahr auch im Bereich Kli-maschutz in einer besonderen Phase; das ist bereitsmehrfach angesprochen worden. Es geht darum, in Parisendlich einen Durchbruch zu erreichen. Auch hier hängtviel an Deutschland und Europa, und wir müssen unsereHausaufgaben machen. Das bedeutet, dass wir unsere ei-genen Klimaziele erreichen müssen. Wir diskutieren zur-zeit das Paket, das die Bundesumweltministerin vorge-legt hat. Unsere Lücke muss geschlossen werden, damitwir glaubwürdig auftreten können. Dann müssen wir ge-meinsam mit der Europäischen Union mehr Ehrgeiz ent-wickeln. Darüber haben wir in dieser Woche im Wirt-schafts- und Energieausschuss mit dem zuständigenKommissar gesprochen. Hier muss noch mehr erreichtwerden als bisher. Dann wird es gemeinsam gelingen,mit unseren Partnerstaaten und in unserer Vorreiterrollein Paris einen Abschluss zu erreichen. Es gibt in diesemJahr also große Herausforderungen. Wir müssen sie ge-meinsam angehen.Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Matthias Ilgen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Roth hat uns von der Koalition vorhinvorgeworfen, wir würden zu abstrakt und zu virtuell dis-kutieren. Deswegen dachte ich, ich mache es heute an ei-nem konkreten Beispiel fest.
Herr Dr. Müller hat das Thema vorhin über die Erd-zeitalter hergeleitet,
also über den Jura und die Kreidezeit, in denen die Dino-saurier unterwegs gewesen sind. Ich glaube, es reicht inWahrheit ein Blick in den Atlas, um deutlich zu machen,was wir im Bereich nachhaltiger Landwirtschaftspolitiktun müssen, um in der Post-2015-Agenda voranzukom-men.Sie alle kennen vielleicht noch aus dem Erdkundeun-terricht den Tschadsee. Wenn man auf einer großen, be-kannten Internetseite auf das Stichwort „Maps“ klicktund „Tschadsee“ eingibt, erhält man dieses Bild.
Wenn man dann auf der Seite dieser bekannten Suchma-schine im Internet zur Kategorie „Earth“ wechselt, dannsieht man, wie die Realität tatsächlich aussieht.
Die Oberfläche des Tschadsees ist seit 1962 um 90 Pro-zent zurückgegangen. Das heißt, der See ist wirklich nurnoch ein Bruchteil dessen, was er einmal gewesen ist, alsClaudia Roth noch Erdkundeunterricht hatte.
Wir müssen natürlich schauen: Wo liegen die Ursa-chen? Ministerin Hendricks hat zu Recht den Klimawan-del und die globale Erderwärmung angesprochen. DieZiele sind klar benannt worden. Aber wir müssen auchetwas bei der nachhaltigen Landwirtschaftspolitik tun.Denn die Fachleute sagen uns: Die Austrocknung diesesSees hängt zu 50 Prozent nicht mit dem Klimawandelzusammen, sondern mit der extensiven Bewässerungs-wirtschaft, die dort betrieben wird. Die vier Anrainer-staaten Tschad, Kamerun, Nigeria und Niger stehen ineinem harten ökonomischen Wettbewerb um die Bewirt-schaftung des Tschadsees. Das Auftreten von BokoHaram und anderen Erscheinungen – sie sind angespro-chen worden – hat natürlich auch damit zu tun, dass dieMenschen dort teilweise in bitterer Armut leben undLandwirtschaft für sie immer noch einer der zentralenWirtschaftsfaktoren ist. Nun sind immer noch etwa30 Millionen Menschen vom Wasser des Sees direktoder indirekt abhängig. Wir haben vorhin über die Han-delsabkommen gesprochen; CETA wurde angesprochen.Kanada hat ungefähr 30 Millionen Einwohner. Wir spre-chen hier also über eine ähnliche Größenordnung.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8299
Matthias Ilgen
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Wenn die Prognosen der FAO stimmen, wird dieserSee in etwa zehn Jahren ausgetrocknet sein. 30 Millio-nen Menschen werden ihre Lebensgrundlage verlieren.Das ist eine Entwicklung, die wir natürlich zügig be-kämpfen müssen; das können wir nicht aufschieben. WirSozialdemokraten jedenfalls kämpfen dafür, dass einenachhaltige Landwirtschaftspolitik in der Post-2015-Agenda eine Rolle spielt.
Nun wird das nicht von heute auf morgen gehen – daswissen wir auch –, denn im Konkreten liegt die Schwie-rigkeit, und wir müssen konkret werden. Man kann denMenschen natürlich nicht sagen: „Hört von heute aufmorgen auf, dort Bewässerungswirtschaft zu betrei-ben!“, denn dann entzieht man ihnen die Lebensgrund-lage. Wir müssen gemeinsam die Ziele einer nachhalti-gen, ökologischen Landwirtschaft verfolgen und aufdem Weg dorthin vorankommen.Wie unsere frühere Entwicklungsministerin HeidemarieWieczorek-Zeul immer betont hat, ist die Friedenspolitikdie Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts. Ich glaube,das muss sich nicht nur die Koalition, sondern müssensich alle Fraktionen in diesem Parlament auf die Fahnenschreiben. Nur wenn wir eine solche nachhaltige Ent-wicklungs- und Landwirtschaftspolitik betreiben, kön-nen wir diese Ziele erreichen und eine Welt schaffen, diezunehmend friedlicher wird.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Andreas Nick, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitden Millenniumszielen der Vereinten Nationen wurdeein wichtiger Impuls gesetzt, um das Thema der Armuts-bekämpfung und der menschlichen Entwicklung wiederweit nach oben auf die internationale Agenda zu brin-gen. Das war zweifellos ein Erfolg; denn obwohl dieseZiele bewusst hoch gesteckt waren, wurde vieles er-reicht. Der Anteil der Armen weltweit hat sich halbiert.Viele Indikatoren für Entwicklung weisen deutliche Ver-besserungen auf.Die Millennium-Agenda ist aber noch nicht erledigt,sondern sie muss erfolgreich zum Abschluss gebrachtwerden. Nicht zuletzt dank des historisch einmaligenAufstiegs der Schwellenländer wie China, Indien oderBrasilien gelang Hunderten Millionen von Menschen derAufstieg in die Mittelklasse. Gerade der Aufstieg derSchwellenländer zeigt jedoch vielfach auch, welche ne-gativen Auswirkungen ungezügeltes Wachstum auf dieUmwelt haben kann.Wenn über 100 Millionen Menschen jährlich zur glo-balen Mittelklasse hinzukommen, ist das zweifelsohneeine erfreuliche Entwicklung. Wenn die Übernahme ei-nes solchen Lebensstils aber auch künftig mit einem„ökologischen Fußabdruck“ pro Kopf wie in den bisherentwickelten Ländern einherginge, würde dies die ökolo-gische Tragfähigkeit dieses Planeten überfordern. Es istaber weder realistisch noch moralisch vertretbar, denMenschen in den Schwellen- und Entwicklungsländerndeshalb das Recht auf Teilhabe an Wohlstand und Ent-wicklung vorzuenthalten.Mit der Post-2015-Agenda für eine nachhaltige Ent-wicklung gehen wir deshalb einen wichtigen Schritt wei-ter. Gefordert ist nicht weniger als eine tiefgreifendeTransformation von Wirtschaft und Gesellschaft welt-weit, um zwei zentrale Ziele miteinander in Einklang zubringen: zum einen die endgültige Beseitigung extremerArmut in der Welt, zum anderen aber auch die Beach-tung der ökologischen Grenzen unseres Planeten. Des-halb – das ist neu – richten sich die UN-Nachhaltigkeits-ziele eben nicht nur an die Entwicklungsländer, sondernan uns alle weltweit.Der frühere Bundespräsident Horst Köhler, der imhochrangigen Beratergremium des UN-Generalsekre-tärs zur Post-2015-Agenda mitgewirkt hat, formulierteden „kategorischen Imperativ“ der Nachhaltigkeit so:„Lebe so, dass dein Lebensstil auch von allen anderen7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten übernom-men werden könnte.“ Es kann deshalb auch nicht nur umein „business as usual“, also um ein einfaches Weiter-soim Sinne der Fortsetzung traditioneller Konzepte derEntwicklungshilfe gehen, sondern es geht um eine uni-verselle Agenda, die sich an alle Ländergruppen welt-weit richtet und konkrete Anforderungen stellt.Für die entwickelten Länder geht es vorrangig darum,tragfähige Konzepte und moderne Technologien zu ent-wickeln, um wirtschaftliches Wachstum und Ressour-cenverzehr, Energieverbrauch und CO2-Emissionenmöglichst weitgehend zu entkoppeln. Die Schwellenlän-der wiederum sind gefordert, mehr internationale Ver-antwortung zu übernehmen und sich stärker als verant-wortungsvolle Mitglieder in das internationale Systemeinzubringen. Die Entwicklungsländer selbst müssen zu-künftig einen Schwerpunkt vor allem auf gute Regie-rungsführung, Bekämpfung von Korruption und Schaf-fung attraktiver wirtschaftlicher Rahmenbedingungenlegen; entgegen herkömmlich vorherrschender Auffas-sungen entscheiden auf Dauer nicht geografische Lage,klimatische Verhältnisse, die Ausstattung mit natürli-chen Ressourcen oder kulturelle Prägungen über denWohlstand eines Landes und den Entwicklungsstand ei-ner Gesellschaft. Wohlstand und Entwicklung hängenvielmehr in erster Linie davon ab, ob sich leistungsfä-hige, offene und rechenschaftspflichtige Institutionenherausbilden. Ein solch funktionierender institutionellerRahmen ist ausschlaggebend, um die in der Bevölkerungeines Landes gleichmäßig verteilten Talente und Poten-ziale voll auszuschöpfen und den Weg für Innovationenund fairen Wettbewerb um Lebenschancen freizuma-chen.
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8300 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Andreas Nick
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Darauf haben insbesondere zwei Gruppen einen be-sonderen Anspruch. Da sind zum einen die jungen Men-schen. Schon heute ist weltweit jeder Vierte zwischen10 und 24 Jahre alt. 2050 werden mehr als 9 MilliardenMenschen auf der Welt leben. Gerade in den Entwick-lungsländern nimmt die Zahl junger Menschen rasant zu.Junge Menschen bilden das Fundament für die zukünf-tige Entwicklung der Welt.Vor allem Mädchen und Frauen haben in vielen Ge-sellschaften nach wie vor nur eingeschränkten Zugangzu Bildung und Lebenschancen. Das muss sich ändern.Auch ihnen muss überall die volle Entwicklung ihrerPotenziale ermöglicht werden.
Zur Umsetzung all dieser Ziele brauchen wir auch einneues Handeln in globaler Partnerschaft. Dies erfordert– ich rede hier nicht zuletzt auch als Außenpolitiker mei-ner Fraktion – in weiten Teilen auch ein neues Para-digma für die internationale Politik. Dazu gehört zualler-erst ein weiterentwickeltes Verständnis von Gemeinwohlund nationaler Souveränität in einer globalisierten undimmer enger zusammenrückenden Welt. Gemeinwohllässt sich nicht länger begreifen in einem engen Ver-ständnis zu einem bestimmten Zeitpunkt und bezogenauf einen geografisch abgegrenzten Raum. Wenn wirNachhaltigkeit ernst nehmen, dann muss ein zeitgemä-ßes Verständnis von Gemeinwohl inzwischen sowohl dieWeltgemeinschaft wie auch die Verantwortung für nach-kommende Generationen miteinbeziehen.Nationale Souveränität kann nur noch im Sinne einerverantwortlichen Souveränität verstanden werden, dieauch die weltweiten Interdependenzen unseres Handelnsin Entscheidungen einbezieht.Tragfähige Rahmenbedingungen für nachhaltige Ent-wicklung lassen sich nämlich nur noch in multilateralenLösungen erarbeiten. Lassen Sie mich dazu drei zentraleBeispiele nennen: ein Finanzsystem, das weniger krisen-anfällig ist, aber auch neue Formen der Entwicklungs-finanzierung ermöglicht, ein faires und entwicklungs-freundliches Handelsabkommen, vor allem mit offenenMärkten für die Entwicklungsländer, und nicht zuletztbelastbare Regelungen zur Eindämmung der Gefahrendes Klimawandels. Dies sind im Übrigen alles Themen,die auch für die Agenda der Bundesregierung für dieG-7-Präsidentschaft 2015 eine zentrale Bedeutung ha-ben.Die formulierten Anforderungen an Good Gover-nance gelten aber auch im internationalen Maßstab. Nurfunktionsfähige und legitimierte globale Institutionenkönnen das Rückgrat einer stabilen internationalen Ord-nung sein. Das gilt auch und gerade für die Bewältigungder Post-2015-Agenda. Die Vereinten Nationen, aberauch die internationalen Finanzinstitutionen müssen des-halb die Realität der Welt von heute widerspiegeln, wennsie dauerhaft globale Wirksamkeit entfalten wollen. Dieswird nicht gelingen, solange der institutionelle Aufbauvorrangig die Machtverhältnisse des Jahres 1945 wider-spiegelt.Deshalb ist eine der dringlichsten Aufgaben sicher-lich weiterhin die Reform des UN-Sicherheitsrates. Ichverhehle nicht: Persönlich habe ich große Sympathienfür das von Kishore Mahbubani vorgeschlagene Modelleiner „Drei Mal sieben“-Lösung mit sieben ständigen,sieben semiständigen und sieben nichtständigen Mitglie-dern, durch das die entwickelten Länder, die Schwellen-länder und die Entwicklungsländer gleichermaßen andieser Struktur beteiligt werden. Gerade in den interna-tionalen Institutionen muss sich der Gedanke der „einenWelt“ glaubwürdig widerspiegeln, auch als überzeugen-des und attraktives Gegenmodell zu ethnisch motivier-tem Nationalismus, zu Großmachtdenken des 19. Jahr-hunderts und zu autoritären Staatsstrukturen, wie sie sichleider auch in vielen wirtschaftlich aufstrebenden Län-dern finden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Achtung deruniversellen Menschenrechte, gute Regierungsführung,Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind eben kein Luxusfür einige wenige, sondern grundlegende Voraussetzungfür eine breite Teilhabe an Wohlstand und Entwicklungweltweit.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge-
ordneten Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Die Vereinten Nationen und wir alle wol-len uns das Ziel setzen, Hunger und extreme Armut biszum Jahr 2030 endgültig zu beseitigen. Das ist dasoberste Ziel, das in der neuen Agenda beschlossen wer-den wird. Das ist gut so. Es soll auch dadurch erreichtwerden, dass Ungleichheit innerhalb von Staaten undzwischen Staaten verringert wird. Dies ist sowohl in denUN-Zielen als auch in unserem gemeinsamen Antragenthalten.Noch immer leben 1 Milliarde Menschen in Hungerund extremer Armut. Angesichts der Tatsache, dass eshier in den Industrieländern Reiche gibt, die in Geldschwimmen, aber auch in Ländern wie Indien, Chinaund Uganda Millionäre und Milliardäre zuschauen, wiedie Menschen in ihrem eigenen Land verhungern, ist dasein Skandal. Das müssen wir beenden, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren.
Ja, gute Regierungsführung innerhalb von Entwick-lungs- und Schwellenländern ist nötig. Wahr ist: Auchdie Reichen müssen Steuern zahlen. Gute Regierungs-führung heißt aber auch, dass wir als reiches Geberland,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8301
Dr. Sascha Raabe
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als eine der größten Exportnationen der Welt, die großeVerantwortung haben, gute Regierungsführung vorzule-ben. Dieser Verantwortung müssen wir nachkommen.Wenn wir wollen, dass sich die Ungleichheit zwi-schen Staaten verringert, dann müssen wir unser selbstgegebenes Versprechen, bis 2015 0,7 Prozent vom Brut-tonationaleinkommen für Entwicklungsarbeit zur Verfü-gung zu stellen – wozu sich die Europäische Unionschon vor zehn Jahren verpflichtet hat –, endlich erfül-len. Es kann nicht sein, dass im Jahr 2015 Länder wieGroßbritannien, Schweden und Norwegen über 0,7 Pro-zent des Bruttonationaleinkommens zur Verfügung stel-len, wir in Deutschland hingegen bei beschämenden0,38 Prozent liegen. Wenn wir gute Regierungsführungernst nehmen, dann müssen wir unseren Beitrag leisten.
Natürlich ist ODA-Geld nicht alles. Wir haben dasimmer als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden. Genausowichtig, vielleicht sogar noch wichtiger sind gerechteHandelsbedingungen; denn nur so kann auch das achteZiel, das sich die internationale Gemeinschaft gesetzthat, nämlich inklusives und nachhaltiges Wirtschafts-wachstum und menschenwürdige Arbeit, erreicht wer-den, was – Frau Kofler hat es gesagt – uns Sozial-demokraten sehr wichtig ist. Das wird auch in diesemAntrag der Koalitionsfraktionen deutlich. Wir haben imKoalitionsvertrag vereinbart, dass menschenrechtliche,ökologische und soziale Standards wie die ILO-Kern-arbeitsnormen, Herr Minister Müller, in allen Handels-verträgen der Europäischen Union verankert werdensollen. Wir streiten im Zusammenhang mit dem Abkom-men mit Kanada, CETA, und mit dem Abkommen mitden USA, TTIP, sehr hart darum, dass das auch umge-setzt wird.
– Danke für die Unterstützung. – Das ist nicht nur wich-tig in Bezug auf die Rechte der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in den USA und Kanada, denen wir helfenwollen. Wir wollen auch nicht, dass dadurch, dass wirdas nicht durchsetzen, Druck auf die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in Deutschland ausgelöst wird.Gleichzeitig verhandeln wir mit Ländern wie Vietnamund Indien, weil wir wollen, dass die Kernarbeitsnormenund die menschenrechtlichen, ökologischen und sozialenStandards auch dort gelten, weil sie die unabdingbareVoraussetzung für einen fairen Handel sind.Der Herr Minister unterstützt meine und unsere For-derung, dass wir sogenannte Fairhandelsabkommen undnicht Freihandelsabkommen brauchen. Herr Minister,wir unterstützen Ihren Ansatz, im Textilbereich dieUnternehmen im Rahmen eines Textilbündnisses in dieVerantwortung zu nehmen. Nur so können wir es ge-meinsam schaffen: Wir müssen über Handelsverträgeauch Regierungen, die oft mit den Eliten in den Entwick-lungsländern zusammenarbeiten, in die Pflicht nehmen;denn wir wissen zum Beispiel, dass die Hälfte der Mit-glieder des Parlaments in Bangladesch und auch Mitglie-der der Regierung selbst Textilfabrikbesitzer sind. Wirmüssen denen sagen: Wenn ihr weiter zollfrei in die EUimportieren wollt, dann müsst ihr die Menschenrechteund die Arbeitnehmerrechte einhalten.
Gleichzeitig sagen wir unseren Unternehmen: Ihrkönnt euch nicht zurückziehen und einfach sagen: Naja,was können wir dafür, wenn die Behörden vor Ort nichtdie Sicherheit der Fabrikgebäude überprüfen oder dieGewerkschafter ins Gefängnis sperren? – Nein, auch un-sere Unternehmen hier haben eine Verantwortung. Des-wegen halten wir das Textilbündnis für eine gute Sache.Wir freuen uns, Herr Minister, dass die ersten Unterneh-men sich zur Mitarbeit bereit erklärt haben. Das sindübrigens nicht nur die Hersteller hochpreisiger Textil-produkte, sondern auch ein Discounttextilanbieter, ob-wohl man immer sagt, dass Discounttextilanbieter dieschlechten sind. Wir sagen: Wir wollen den ehrbarenKaufmann stützen und schützen, aber wir wollen demAusbeuter und Menschenschinder das Handwerk legen.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir hier alsParlament parteiübergreifend sagen: Wenn wir wollen,dass in Deutschland der Mittelstand, dass diejenigen, dieanständige Löhne, jetzt auch den Mindestlohn zahlen,dass diejenigen, die sich wirklich um ihre Mitarbeiterkümmern, faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden,und zwar hier und auf der ganzen Welt, dann müssen wirdafür sorgen, dass der Arbeiter, gleich ob er in Afrika,Asien oder Deutschland arbeitet, von seiner HändeArbeit anständig leben kann. Menschenwürdige Arbeithier bei uns und in der Welt, das gehört zusammen. Indiesem Sinne hoffe ich, dass wir die Armut weltweit be-enden können, vielleicht nicht erst im Jahr 2030. Je frü-her, desto besser.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/4088, 18/3604 und 18/4091 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Erste Beratung des von den AbgeordnetenVolker Beck , Ulle Schauws, LuiseAmtsberg, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur abschließen-den Beendigung der verfassungswidrigenDiskriminierung eingetragener Lebenspart-nerschaftenDrucksache 18/3031
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8302 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Vizepräsident Peter Hintze
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteileich das Wort dem Abgeordneten Volker Beck, FraktionBündnis 90/Die Grünen.Ich bitte die Kollegen, die dieser Debatte folgen wol-len, die Plätze einzunehmen, und die anderen bitte ich,ihre Plätze so zu verlassen, dass die übrigen der Debattegut folgen können.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1989, vorüber 25 Jahren, begannen wir in der Lesben- und Schwu-lenbewegung die Debatte über die rechtliche Anerken-nung und Gleichberechtigung schwuler und lesbischerLebensgemeinschaften. Unsere Forderung war und istdas Eheschließungsrecht für gleichgeschlechtlichePaare.
1990 brachten die Grünen den ersten Antrag dazu inden Bundestag ein. Inspiriert hatte uns die Entscheidungdes dänischen Parlaments, eingetragene Lebenspartner-schaften mit gleichen Rechten und Pflichten wie in derEhe für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. 1992setzte der Lesben- und Schwulenverband dieses Themamit der Aktion Standesamt endgültig auf die politischeTageordnung dieser Republik. Das alles ist eine ganzeWeile her.Seit 2001 gibt es das Lebenspartnerschaftsgesetz inDeutschland. Lebenspartner haben seither die gleichenPflichten wie Ehegatten, aber eben nicht die gleichenRechte, weil dies die Union bis 2005 im Bundesrat undseit 2005 im Deutschen Bundestag immer verhindert hat.Seit 2009 hat das Bundesverfassungsgericht in sechsEntscheidungen zu unterschiedlichen Rechtsfragen im-mer wieder das Gleiche gesagt: Gleiche Pflichten, glei-che Rechte – nur das ist fair und verfassungskonform.
Im Koalitionsvertrag hat die Große Koalition ge-schrieben:Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtlicheLebensgemeinschaften schlechter stellen, werdenwir beseitigen.
Im September 2014 habe ich die Bundesregierung ge-fragt, wann denn etwas kommt und was da kommt. Auchim Januar 2015 habe ich sie gefragt. Es kam immerwieder die gleiche Antwort: Die Meinungsbildung derBundesregierung zur Umsetzung des Koalitionsvertra-ges hierzu ist nach wie vor nicht abgeschlossen. – LiebeLeute, nun wird es aber langsam Zeit!
Zum Regelungsgegenstand verweisen die Koalitionund das Bundesjustizministerium zu Recht auf den hiervorliegenden Gesetzentwurf. Lassen Sie uns Nägel mitKöpfen machen! Machen wir einen Knopf dran! Stim-men Sie diesem Gesetzentwurf hier und heute zu!
– Doch, verbal dürfen Sie zustimmen. Abstimmen wer-den wir zu einem anderen Zeitpunkt. Zu- und abstimmensind zwei verschiedene Begriffe, Herr Kollege.
Die Kanzlerin verspürt ein diffuses Unwohlsein. Inder Wahlarena sagte sie: „Ich tue mich damit schwer.“Das Problem, meine Damen und Herren von der konser-vativen Partei hier im Hause, ist: Anders als anderekonservative Parteien in Europa verteidigen Sie Schüt-zengraben für Schützengraben seit Jahrzehnten jedeeinzelne rechtliche Diskriminierung der Lebenspartner-schaft und halten das für konservative Politik. Das liegtdaran, dass die CDU und die CSU denkfaule program-matische Parteien sind.
Sie haben nämlich versäumt, im zu Bewahrenden dasBewahrenswerte zu identifizieren. Das wäre gute kon-servative Politik. Einfach nur gedankenlos den Statusquo zu verteidigen, ist schlichtweg reaktionär.
Was gibt es denn da zu prüfen? Wir haben es aufge-schrieben: In 54 Gesetzen gibt es über 100 Regelungen,die zwischen Lebenspartnerschaft und Ehe unterschei-den. Wollen Sie ernsthaft, dass das Bundesverfassungs-gericht in 100 Urteilen klar Schiff macht? Es geht dabeium das Adoptionsrecht, Auslandszuschläge, die Ent-schädigung bei Impfschäden und das Sprengstoffgesetz.In der Tat: All das, was in dem Gesetzentwurf steht, istkein Sprengstoff, sondern es geht einfach darum, diegleichen rechtlichen Regelungen, die für Ehegatten sinn-voll sind, überall auf Lebenspartnerschaften zu übertra-gen. Dafür ist es jetzt höchste Zeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8303
Volker Beck
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Beim Adoptionsrecht haben Sie das Bundesverfas-sungsgerichtsurteil noch nicht einmal umgesetzt. DasGericht hat Ihnen gesagt:Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le-benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal-tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigenkönnten, bestehen nicht …
Trotzdem bestehen sie im geltenden Recht leider weiter-hin. Aufgrund der durchgehenden Beschlusslage desBundesverfassungsgerichts ist klar, wie entsprechendeUrteile in der nächsten Zeit ausgehen werden.Wenn man als Volkspartei, als Regierungsparteihier steht und sich nicht bewegt, nicht gestaltet,sondern sich vom Verfassungsgericht über jedeskleine Stöckchen tragen lässt, dann ist das erbärm-lich.Das finden Sie doch auch, Herr Kahrs, nicht? Das warenIhre Worte aus der Bundestagsdebatte im Jahre 2013.
Meine Damen und Herren, das Problem sind einer-seits Ihre Sturheit und Ihre geistige Immobilität, anderer-seits das Unwohlsein der nicht anwesenden Kanzlerin.
Aber ein Problem ist auch die mangelnde Durchset-zungskraft der SPD. Liebe Kolleginnen und Kollegen,„100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“, das haben Sievor der Bundestagswahl versprochen. 0 Prozent habenSie bis zum heutigen Tage erreicht. Es ist Zeit, dass Siesich bewegen. Ich würde mich freuen, wenn wir heutevon Ihnen hören würden, wann Ihr Gesetzentwurfkommt oder dass Sie sich die Arbeit sparen und unseremGesetzentwurf zustimmen.
Das ginge am flottesten und wäre am konsequentesten.Ich bin auf die Debatte gespannt.
Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge-
ordneten Dr. Sabine Sütterlin-Waack, CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirberaten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen „zur abschließendenBeendigung der verfassungswidrigen Diskriminierungeingetragener Lebenspartnerschaften“.
54 Gesetze und Verordnungen – wir haben es eben ge-hört – sollen damit geändert werden. Viele Änderungensind lediglich redaktionelle Anpassungen im Zivil- undVerfahrensrecht, in denen Ehe und Lebenspartnerschaftunterschiedlich behandelt werden. Dem kann man si-cherlich zustimmen.
Wer kann schon etwas dagegen haben, wenn es in § 7Absatz 2 der Verordnung über die Laufbahn, Ausbildungund Prüfung für den gehobenen technischen Dienst beider Eisenbahn-Unfallkasse unter der Überschrift „Ein-stellung in den Vorbereitungsdienst“ künftig heißen soll:Vor der Einstellung haben die Bewerberinnen undBewerber Ausfertigungen der Personenstands-
§ 30 des Bundeszentralregistergesetzes zur unmit-telbaren Vorlage bei der Einstellungsbehörde sowieeine Erklärung über das Vorliegen geordneter wirt-schaftlicher Verhältnisse nachzureichen.So weit, so gut – zumal CDU/CSU und SPD im Koali-tionsvertrag vereinbart haben,… dass bestehende Diskriminierungen von gleich-geschlechtlichen Lebenspartnerschaften und vonMenschen auf Grund von ihrer sexuellen Identitätin allen gesellschaftlichen Bereichen beendet wer-den.
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtlicheLebenspartnerschaften schlechter stellen, werdenwir beseitigen.
Bevor Sie, werte Kollegen der Opposition, mir dieseSätze um die Ohren hauen, erlauben Sie mir bitte zweiAnmerkungen zu den Vereinbarungen im Koalitions-vertrag:Derzeit wird im BMJV ein Referentenentwurf erar-beitet, ein Artikelgesetz, in seiner Art vergleichbar mitdem Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelungen andie Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daswir im letzten Jahr verabschiedet haben.
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8304 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
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Wir arbeiten also an dem Thema. Der Referentenentwurfähnelt Ihrem Gesetzentwurf – den Titel einmal beiseite-lassend – in vielen Punkten,
aber in wesentlichen Punkten weicht er von ihm ab:Erstens. Über eine Änderung von § 9 Lebenspartner-schaftsgesetz haben wir – viele von Ihnen werden sicherinnern – schon im Rahmen der Regelung zur Sukzes-sivadoption im Frühjahr 2014 diskutiert. Schon damalswollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen,regeln, dass für die Annahme eines Kindes durch Le-benspartner die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetz-buches über die Annahme eines Kindes durch Ehegattenentsprechend anzuwenden sind. Schon damals, vor nichteinmal einem Jahr, hat die CDU/CSU-Fraktion IhrenAntrag abgelehnt. Das tun wir auch heute, und zwar mitdem Hinweis darauf, dass es für niemanden ein Rechtauf ein Kind gibt
und dass wir uns im Rahmen unserer staatlichen Wäch-terfunktion allein am Kindeswohl zu orientieren haben.
All das haben wir vor wenigen Monaten diskutiert unddeshalb die Simultanadoption abgelehnt.Fraglich ist, ob es wirklich eine verfassungsrechtlicheDiskriminierung von eingetragenen Lebenspartnerschaf-ten gibt. Die Grünen sehen das so und begründen ihreAnsicht mit der Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts zur Sukzessivadoption. In der CDU/CSU-Fraktionwird mehrheitlich die Meinung vertreten, dass dieserRechtsstandpunkt der Verfasser des heutigen Gesetz-entwurfes unzutreffend sei. Wir stützen uns dabei aufGutachten, die im Rahmen der Anhörung im Rechts-ausschuss erstellt worden sind, und auf die Kammerent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Ja-nuar 2014, in der es wörtlich heißt:… hat das Bundesverfassungsgericht in dieserEntscheidung offengelassen, ob der Ausschluss dergemeinschaftlichen Adoption durch zwei eingetra-gene Lebenspartner mit dem Grundgesetz vereinbarist, weil dies nicht Gegenstand des Verfahrens war…Entgegen der Ansicht der Grünen hat der Gesetzgeberalso hier Entscheidungsfreiheit.Bei dem Verbot der Simultanadoption geht es nicht– hier drehen wir uns ja im Kreis – um die Diskriminie-rung von Menschen, die in eingetragenen Lebenspart-nerschaften leben, sondern – ich weiß, liebe Kolleginnenund Kollegen aus der Opposition, Sie können es nichtmehr hören – es geht um das Kindeswohl.
Auch eine weitere wesentliche Änderung im Gesetz-entwurf – damit komme ich zum zweiten Punkt – trifftnicht auf unsere Zustimmung. Es soll nämlich Artikel17 b Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum BGB gestri-chen werden. Dort heißt es:Die Wirkungen einer im Ausland eingetragenen Le-benspartnerschaft gehen nicht weiter, als nach denVorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs und desLebenspartnerschaftsgesetzes vorgesehen.Diese sogenannte Kappungsregelung begrenzt die Wir-kungen einer im Ausland eingetragenen Lebenspartner-schaft generell auf den Standard des deutschen Rechts.
Als Begründung führt der Gesetzentwurf an, dass esfür die Regelung keinen Bedarf mehr gebe. Lebenspart-ner und Ehegatten würden nach den Plänen der Grünendurch den jetzt diskutierten Gesetzentwurf ja völliggleichgestellt.In der Begründung zum Entwurf heißt es weiter, dassausländisches Recht zukünftig nicht schrankenlos anzu-wenden sei, da auch künftig der allgemeine Ordre-pub-lic-Vorbehalt in Artikel 6 BGBEG sozusagen als Ret-tungsanker greifen würde. Danach ist ausländischesRecht nicht anwendbar, wenn seine Anwendung im Ein-zelfall mit wesentlichen Grundzügen des deutschenRechts offensichtlich unvereinbar wäre. Ob der Ordre-public-Vorbehalt hier allerdings wirklich greifen und dieDurchsetzung deutschen Rechts im Zweifelsfall garan-tieren würde, wie es in der Begründung der Grünensteht, ist in der juristischen Literatur umstritten. Darüberkann man sicher diskutieren.Möglicherweise könnte die Streichung von Artikel 17 bAbsatz 4 BGBEG auch als Signalwirkung für die Recht-sprechung angesehen werden, ausländische Ehen nichtmehr als eingetragene Lebenspartnerschaften zu qualifi-zieren, sondern als Ehen anzuerkennen. Dies trifft nichtauf die Zustimmung unserer Fraktion, da wir uns der De-finition des Bundesverfassungsgerichtes anschließen,wonach die Ehe die Verbindung zwischen Mann undFrau ist.Die namentliche Abstimmung zum Änderungsantragder Grünen zur Sukzessivadoption zeigt, dass die ganzgroße Mehrheit der Koalitionsfraktionen der Volladop-tion durch Lebenspartner kritisch gegenübersteht. Des-halb lehnen wir den Entwurf in der jetzigen Fassung fol-gerichtig ab.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8305
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte ist
eben ein Zwischenruf gefallen, den ich als unparlamen-
tarisch zurückweise und rüge. Ich finde es auch im Hin-
blick auf das kollegiale Verhältnis nicht in Ordnung,
dass einer Rednerin in einer derartigen Tonlage begegnet
wird.
Als nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Ulla
Jelpke, Fraktion Die Linke, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak-tion Die Linke sagt ganz klar: Kein Mensch darf auf-grund seiner sexuellen Orientierung in irgendeiner Rich-tung benachteiligt werden.
Ich möchte hinzufügen: Dies sollte eigentlich eineSelbstverständlichkeit sein. Zugleich sollte das auch einLackmustest für eine demokratische und offene Gesell-schaft sein. Ich sage in Richtung der CDU/CSU: Wer an-dere Staaten an diesem Punkt zu Recht kritisiert, mussmit gutem Beispiel vorangehen.
Die Realität ist leider – auch in Deutschland – eineandere. Es sind zwar zahlreiche Schritte unternommenworden, um die Diskriminierung von Lesben undSchwulen zu beenden – die Einführung des Lebenspart-nerschaftsgesetzes vor nunmehr 14 Jahren war ein ganzwesentlicher Schritt dahin –, aber es sind noch immergesellschaftliche Ressentiments und Defizite in der Ge-setzgebung vorhanden.Für die Linke ist ganz klar: Erst wenn Lesben undSchwule, Transsexuelle, Transgender und Intersexuellein allen Teilen Deutschlands – ob in der Stadt oder aufdem Land, ob im Norden oder im Süden – allenthalbennicht nur toleriert, sondern wirklich akzeptiert sind, istdie Gleichberechtigung endlich erreicht.
Wir wissen natürlich, dass das noch ein langer und stei-niger Weg sein wird, aber wir alle müssen daran arbeiten –hier und auch außerhalb des Parlaments.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Gesetzes-werken die Reste von Diskriminierung nehmen. Als Bei-spiel nenne ich hier das eben angesprochene Adoptions-recht. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, FrauKollegin, warum das Adoptionsrecht für Lesben undSchwule nicht endlich umgesetzt wird.
Zu dem Gesetzentwurf, den die Grünen heute vorge-legt haben, muss ich sagen: Ich lobe Sie ja selten, abermeines Erachtens ist das ein ausgezeichneter Gesetzent-wurf, dem wir auf jeden Fall zustimmen werden.
Die Gleichberechtigung engagierter Lebenspartner istfür uns Linke der erste Schritt, alle Lebensweisen ingleicher Weise anzuerkennen. Unser Ziel ist die Ab-schaffung des Eheprivilegs. Privilegien, zum BeispielSteuervorteile, sollten eben nicht an den Trauschein ge-bunden sein. Wer Verantwortung übernimmt, zum Bei-spiel für ein Kind oder für Kranke, sollte immer Unter-stützung und Förderung erhalten. Viele Menschenübernehmen heute ohne Trauschein Verantwortung. Dasist wichtig und richtig. Diese soziale Wirklichkeit mussauch auf der rechten Seite dieses Hauses anerkannt wer-den.
Aber ich sage auch: Wer heiraten will, soll heiratendürfen. Es ist ein Institut für alle, egal ob homo-, trans-,inter- oder heterosexuell. Deshalb hat die Linke zu Be-ginn dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zurÖffnung der Ehe eingebracht. Das Bundesverfassungs-gericht hat in ständiger Rechtsprechung die eingetrageneLebenspartnerschaft der Ehe gleichgestellt. Das ist fürden Gesetzgeber bindend.
Es ist eine Farce, dass auch nach langen Diskussionenimmer wieder verlangt und gefordert werden muss, dieseAngleichung endlich zu vollziehen, ohne dass Betrof-fene bis vor den höchsten Gerichten dafür klagen müs-sen.Ich möchte besonders an die SPD appellieren – wirhaben es eben schon gehört –: Sie haben übrigens nichtnur auf den CSDs, sondern auch als Wahlkampfparoleangekündigt: „100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“.
Also, bitte verstecken Sie sich dann nicht hinter derKoalitionsdisziplin, sondern stimmen Sie diesem Ge-setzentwurf zu.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ih-nen muss ich sagen, dass Ihr mittelalterliches Weltbildmit der Mann-Frau-Kinder-Familie nicht mehr in dieGegenwart passt.
Seien Sie einmal lernfähig, selbst auf die Gefahr hin,Ihre konservativen Wähler zu verschrecken. Geben Sie
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8306 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Ulla Jelpke
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wenigstens die Abstimmung in Ihrer Fraktion frei, damitdiese Gesetze endlich umgesetzt werden.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Von uns einen schönen,
sonnigen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, und den
Gästen auf der Tribüne.
Der nächste Redner ist der Illertisser Dr. Karl-Heinz
Brunner.
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Verehrte Damen und Herren auf den Tribü-nen! Wenn bei Wer wird Millionär? die Frage käme:„Was haben das Bundesvertriebenengesetz, die ZPO, dieInsolvenzordnung, die Höfeordnung, das Sprengstoffge-setz und das Heimarbeitsgesetz gemeinsam?“, wievielProzent des Publikums würde wohl auf die richtige Ant-wort: „Bereinigung des Rechts der Lebenspartner“ tip-pen? Nach den Ausführungen der Kollegin Sütterlin-Waack und des Kollegen Beck hätten das sicherlich et-was mehr gewusst. Aber ein Blick auf die Tribünenzeigt, dass die Mehrheit eher nicht richtig gelegen hätte.Das ist für sich genommen – das sage ich ganz offen –nicht schlimm und schon allein deshalb nicht verwerf-lich, weil die genannten Vorschriften bei vielen Men-schen im täglichen Leben überhaupt nicht vorkommen.Wer hat im Einzelnen schon oft mit dem Heimarbeitsge-setz, mit dem Sprengstoffgesetz oder der Höfeordnungzu tun?Schlimm ist aber, dass die Mehrheit der Menschenmeist überhaupt kein Gespür dafür hat, wie verletzend essein kann, nach Eingehen einer Lebenspartnerschaft im-mer und immer wieder aufs Neue begründen und über-zeugend belegen zu müssen, dass gleichgeschlechtlicheLebenspartnerinnen oder Lebenspartner nichts anderestun als verschiedengeschlechtliche Eheleute auch: Siestehen füreinander ein. Sie erziehen Kinder. Sie sichernden Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie leisten einenwertvollen Beitrag fürs Gemeinwesen mit all den Pflich-ten, die dazugehören. Sie gehen am Sonntagvormittag indie Kirche oder aber auch nicht, also wie alle anderenMenschen in diesem Lande auch. Dass die schwulen undlesbischen Ehepaare dann jedoch zu Recht nichts ande-res beanspruchen als ihr Pendant, nämlich alle Rechte,das ist doch wohl jedem klar; uns Sozialdemokratenschon lange.
Genau deshalb haben wir im Koalitionsvertrag unter derÜberschrift „Zusammenhalt der Gesellschaft“ die Been-digung der verfassungswidrigen Diskriminierung einge-tragener Lebenspartnerschaften aufgenommen. Dennwir wollen nicht, dass in einem Land wie Deutschlandaufrechte Menschen immer erst zum Bundesverfas-sungsgericht müssen, um ihr Menschenrecht einzukla-gen. Denn das ist beschämend.
Und wir wissen, dass unsere Gesellschaft ohne vollstän-dige Gleichstellung eben nicht funktioniert. Wir brau-chen ihn – wie ich immer sage –, den Kitt, der uns zu-sammenhält, der das Leben in Deutschland erstlebenswert macht.Deshalb bin ich Heiko Maas, unserem Minister derJustiz und für Verbraucherschutz, außerordentlich dank-bar dafür, dass er und sein Haus diese Aufgabe beherztaufnahmen und bereits, Kollege Beck, im Sommer 2014einen Referentenentwurf vorlegten, in dem mehr als150 Vorschriften enthalten sind, und zwar vollständiger,rechtssicherer, klarer und umfassender, als es der Ge-setzentwurf von Ihnen, den Grünen, vorschlägt.Meine Damen und Herren, hier könnte man sich– und das werden Sie – folgende Fragen stellen: Warumbefinden wir uns dann noch nicht im ordentlichen Ge-setzgebungsverfahren?
Wo ist er denn, der Gesetzentwurf? Wie steht es mit derRessortabstimmung und der Länderbeteiligung? Beiwem hakt es? – Im Kanzleramt, meine sehr verehrtenDamen und Herren.
Auch ich will ihn in den Händen halten, den Gesetz-entwurf, der die Lebenspartnerschaft der Ehe gleich-stellt, einen Entwurf, hinter dem wir uns nicht verste-cken müssen, einen Entwurf in die richtige Richtung.Dass wir hierzu erfreulicherweise Rückenwind ausKarlsruhe bekommen, ist schön. Dass wir hierzu mit un-serem koalitionären Lebensabschnittspartner noch nichtrichtig weiterkommen, dass sich manchmal der Eindruckaufdrängt, man würde das verschleppen, ist nicht beson-ders gut.
Dabei haben wir doch noch einiges miteinander vor.Und deshalb ist es schön, dass sich die Koalition amDienstagabend in der Koalitionsrunde darauf geeinigthat, diesen Referentenentwurf jetzt als Gesetz auf denWeg zu bringen. Auch das ist die Wahrheit in dem Ge-setzgebungsverfahren, und das ist gut so. Denn wir ha-ben noch einiges vor,
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sei es die längst fällige Rehabilitierung der nach § 175StGB in Westdeutschland verurteilten Männer – heuteim höchsten Alter –, die ein Recht darauf haben, Friedenmit ihrem Land, mit ihrer Heimat zu machen, oder seienes die immer noch ungeregelten Fragen der gemeinsa-men Adoption.Deshalb ein Appell an alle Anwesenden: Lassen Sieuns Volksvertreter nicht immer Nachzügler, sondernVorreiter sein – zumindest politische Vorreiter. Denn dieGesellschaft, die Menschen, um die es hier geht, sinddort schon längst angekommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist wahr:Die Arbeit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ih-rem eigenen Gesetzentwurf verdient durchaus Anerken-nung und Respekt.
Aber es ist ebenso wahr, dass dieser gute Ansatz, lie-ber Kollege Beck, gleich wieder eingerissen wird – nichtdurch uns, nicht durch die Kolleginnen und Kollegen derUnion, sondern durch Sie selbst. Denn wenn ich inQueer lesen muss, dass Sie dort den Sozialdemokratenöffentlich vorwerfen, aus ideologischen Gründen homo-sexuelle Paare weiter zu benachteiligen, ist das mehr alsbloß ein öffentlichkeitswirksamer Witz.
Es ist unrichtig und – noch viel schlimmer – es verletzt.Es dient nicht der Sache und noch weniger den schwulenund lesbischen Lebenspartnern in unserem Land.
Sie wissen ganz genau: Ginge es ganz allein nach uns,wäre das Thema gegessen. Doch Politik ist auch Über-zeugungsarbeit. Sie muss auch ein Stück weit mitneh-men. Und beim Mitnehmen, möchte ich sagen, ist nochetwas Luft nach oben.Zum Schluss möchte ich sagen: „Pacta sunt servanda“– Verträge sind einzuhalten –, auch Koalitionsverträge.Das hören wir sehr oft in diesen Tagen – ob es um dasHilfspaket für Griechenland geht, ob es um den Mindest-lohn oder die Pkw-Maut geht, aber auch bei der Gleich-stellung.Ich freue mich auf die Beratung in den Ausschüssen,in der Hoffnung, die den Politiker immer erst ganz zumSchluss verlässt – hoffentlich in diesem Fall nicht –, dasswir eine gute gemeinsame Lösung finden. Denn dieMenschen in diesem Lande haben Gleichstellung ver-dient. Es ist Zeit dafür.
Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. Nächster Redner
in der Debatte ist Dr. Volker Ullrich, Augsburg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Gesetzentwurf der Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen trägt den Titel: Entwurf eines Geset-zes zur Beendigung der verfassungsrechtlichen Diskri-minierung.
Das Wort „Diskriminierung“ beinhaltet die Abwesenheitvon Respekt und Toleranz. Da muss ich ganz ehrlichsagen, Kollege Beck und auch andere: Wenn Sie hierToleranz und Respekt einfordern, dann beweisen Sie mitIhrer Wortwahl das Gegenteil von Toleranz und Respekt.Das ist einfach erbärmlich und dieses Hohen Hausesnicht würdig.
Im Lebenspartnerschaftsgesetz ist in vielen rechtli-chen Bereichen
die Gleichstellung schon vollzogen.
Wir wollen in anderen Teilen unserer Rechtsordnung,dort, wo es klarstellend ist, aber auch dort, wo die recht-lichen Verhältnisse zweier Partner betroffen sind, dieGleichstellung juristisch auf eine saubere Grundlagestellen; das ist gar keine Frage. Für uns gilt: Wer seinerpersönlichen Bindung ein rechtliches Band gibt und derGesellschaft damit in einem besonderen Maße Solidari-tät und Zusammenhalt signalisiert, kann auch mit der be-sonderen Unterstützung des Staates rechnen. Das meintauch der Schutz von Ehe und Familie. Das ist der Kernvon Unionspolitik. Und da brauchen wir keine Belehrun-gen.
Der Gesetzentwurf trifft jedoch Wertentscheidungen,die über die rein rechtliche Gebotenheit hinausgehen. Esgeht wieder um die Frage, vor der wir schon vor einemJahr gestanden sind: Folgen wir dem Bundesverfas-sungsgericht im Bereich der Sukzessivadoption, odersetzen wir eine eigene gesetzgeberische Wertentschei-dung, nämlich die Volladoption zuzulassen? An den Ar-
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Dr. Volker Ullrich
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gumenten, die wir vor einem Jahr im Hohen Hause aus-getauscht haben, hat sich bis heute nichts geändert.
Bei der Sukzessivadoption gewinnt ein Kind ein Mehran Rechten, zum Beispiel was das Erbrecht und dasUnterhaltsrecht betrifft, auch ist ein rechtliches sowieemotionales Band zu einem Partner schon vorhanden,während bei der Volladoption zwei völlig neue rechtli-che Bänder entstehen
und eine emotionale Bindung noch nicht vorhanden ist,die dann erst geknüpft werden muss. Insofern gibt eshier einen tatsächlichen Unterschied zwischen der Voll-adoption und der Sukzessivadoption.
– Herr Kollege Beck, auch wenn Sie es nicht hören wol-len: Es ist diesem Gesetzgeber unbenommen, in Berei-chen, in denen Ansatzpunkte für eine gesetzgeberischeWertentscheidung vorhanden sind, diese auch auszufül-len. – Entscheidender Ansatzpunkt bei der Frage derAdoption ist für uns immer noch das Kindeswohl unddie Frage: Was ist für das Kind das Beste?
Im Übrigen sei auch angesprochen: Wenn Sie eine ge-sellschaftliche Wertentscheidung treffen wollen undwenn Sie für die Volladoption sind, dann wäre es redli-cher, diesbezüglich einen eigenen Gesetzentwurf einzu-bringen
– noch einmal einbringen –, statt das Ganze als Annexzu einer an sich vernünftigen rechtlichen Regelung ein-zubringen. Damit täuschen Sie auch das Parlament.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wawzyniak? – Bitte.
Herr Kollege Ullrich, könnten Sie mir kurz erklären,
worin im Hinblick auf das Kindeswohl der Unterschied
besteht, wenn Mann und Frau eine Adoption durchfüh-
ren oder wenn Mann und Mann oder Frau und Frau eine
Adoption durchführen?
Es geht hier im Grunde genommen um eine gesetzge-
berische Wertentscheidung, die die biologische Realität
widerspiegelt.
Wir sind nicht gegen die Sukzessivadoption, weil hier
ein Mehr an Rechten für Kinder begründet wird. Wir sa-
gen aber auch, dass die Frage der Neubegründung von
rechtlichen und emotionalen Beziehungen genau abge-
wogen werden muss.
Der Gesetzgeber ist nicht gezwungen, das zu tun.
Deswegen hat sich der Bundestag letztes Jahr auch mit
großer Mehrheit dagegen entschieden. Ich bitte Sie, das
nach parlamentarischem Gebrauch zu akzeptieren.
Erlauben Sie eine zweite Zwischenfrage vom Kolle-
gen Mutlu? – Bitte sehr.
Kollege Ullrich, eigentlich dachte ich, die Frage hätte
sich erledigt, weil die Kollegin das schon angesprochen
hat. Aber nachdem Sie jetzt das mit der „Biologie“ ge-
sagt haben: Können Sie mir einmal in Bezug auf das
Kindeswohl diesen Gedanken der „Biologie“ noch ein
bisschen ausführen? Ich habe das nicht verstanden.
Als Laie, der ich bin, würde ich das von Ihnen gern ein-
mal hören.
Herr Kollege, ich glaube, diese Debatte eignet sich
nicht, um anekdotische und auch ironische Bemerkun-
gen fallen zu lassen.
Das war nun wirklich eine Frage.
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Sie müssen auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
beispielsweise auch nicht verheiratete Paare kein Adop-
tionsrecht haben.
Der Gesetzgeber nimmt eben in diesem Bereich ver-
schiedene Wertungsentscheidungen vor, und diese Wer-
tungsentscheidungen hat dieser Bundestag im letzten
Jahr anerkannt. Daran wollen wir im Augenblick nicht
rütteln lassen.
Der zweite Punkt, warum dieser Gesetzentwurf unse-
ren Widerspruch erfährt, ist die Neuregelung des Arti-
kels 17 b Absatz 4 des Einführungsgesetzes zum Bürger-
lichen Gesetzbuch. Nach dieser Regelung dürfen die
rechtlichen Verhältnisse einer im Ausland geschlossenen
Lebenspartnerschaft nicht über die hinausgehen, die man
im Inland den Menschen zugesteht.
Sie können – ich sage es Ihnen ehrlich – Rechtssi-
cherheit nicht dadurch bekommen, dass Sie diese klare
Klausel durch eine vage Generalklausel des Ordre public
ersetzen und damit nicht zur Rechtsklarheit und Rechts-
wahrheit beitragen. Dass Sie eine klare Regelung durch
eine Generalklausel ersetzen, das trägt nicht zur Rechts-
sicherheit bei. Deswegen sind wir auch – im Übrigen ha-
ben das auch das Bundesministerium des Innern und das
Bundeskanzleramt zutreffend bemerkt – gegen diesen
Vorschlag.
Herr Ullrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung des Kollegen Beck?
– Darauf werde ich achten. Da brauche ich Ihre Hilfe
nicht.
Herr Kollege, könnten Sie denn bitte dem Hohen
Haus erläutern, wie wir das beim Eherecht regelten, dass
die ausländischen Regelungen hier greifen, oder be-
schränken wir auch die Ehe so, wie wir die Lebenspart-
nerschaft im Lebenspartnerschaftsgesetz in ihren
Rechtswirkungen beschränken, im internationalen Pri-
vatrecht und im deutschen Familienrecht in dieser Art
und Weise?
Kollege Beck, wir führen jetzt keine juristische De-
batte
über die Wirkung der Ehe, sondern es geht um Ihren
konkreten Vorschlag, eine Norm, die sich bewährt hat
und die einen klaren Rechtsgedanken zum Ausdruck
bringt, abzuschaffen.
Diese Norm wollen wir beibehalten. Darum geht die
Debatte. Wir haben gute Gründe, diese Norm beizu-
behalten, weil diese Norm – Artikel 17 b BGBEG – zur
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beiträgt.
Meine Damen und Herren, die Debatte zeigt, dass
hier viele Aufgeregtheiten im Spiel sind, die nicht not-
wendig sind.
Die Bundesregierung wird in den nächsten Wochen
und Monaten einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem alle
diese Punkte, bei denen es geboten ist, die Gleichstel-
lung endgültig durchzusetzen, geregelt sein werden.
Dort, wo eine gesetzgeberische Wertentscheidung über
diese Gebotenheit hinausgeht – bei der Frage Arti-
kel 17 b und bei der Frage der Volladoption –, wird die-
ser Gesetzentwurf die von Ihnen gewünschten Regelun-
gen nicht beinhalten.
Die parlamentarische Debatte und auch die Abstim-
mung am Ende des Verfahrens werden zeigen, welcher
von den Vorschlägen die Mehrheit bekommt. Aber ich
kann Ihnen versichern, dass wir überall dort, wo die
Gleichstellung notwendig ist und wo sie auch geboten
erscheint, beherzt und gern zustimmen. Aber dort, wo es
einen gesetzgeberischen Spielraum gibt, werden wir ihn
wahrnehmen, weil wir letztlich nur so unseren verfas-
sungsmäßigen Auftrag erfüllen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Ullrich. – Nächste Rednerin in
der Debatte: Caren Lay für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es gibt heute einen guten Anlass, aber es istgleichzeitig auch etwas traurig, dass wir 14 Jahre nachEinführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes immernoch über Lücken und bestehende Ungleichheiten zwi-schen Lebenspartnerschaften und Heteroehen diskutie-ren müssen.
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Caren Lay
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Der Grund dafür – das ist heute wieder sehr klar gewor-den – hat im Wesentlichen drei Buchstaben: CDU.
– Okay: CDU und CSU tragen aus meiner Sicht die Ver-antwortung. Denn sie sitzen es mit Rücksicht auf ihrevermeintlich konservative Wählerschaft einfach aus, dieBenachteiligung von Lebenspartnerschaften gegenüberder Ehe endlich abzuschaffen, und überlassen das geflis-sentlich dem Bundesverfassungsgericht. Aber, meineDamen und Herren, es ist doch unsere Aufgabe, für dieGleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehen zusorgen. Das darf die CDU nicht länger behindern.
Wir unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf.Das ist schon gesagt worden. Lebenspartnerschaften inallen gesetzlichen Regelungen der Ehe gleichzusetzen,muss doch selbstverständlich sein.
Auch der Koalitionsvertrag benennt dieses Ziel.Mit Verlaub, liebe Grüne: So richtig der Gesetzent-wurf ist, so banal ist er auch. So hätte er auch von derKoalition kommen können.
Ich finde, Sie können sich jetzt die Fleißarbeit in denAmtsstuben sparen und dem Gesetzentwurf einfach zu-stimmen.
Aus unserer Sicht wäre es viel einfacher und konse-quenter gewesen, unserem Vorschlag zu folgen, den wir– auch in dieser Legislaturperiode – mehrfach einge-bracht haben, nämlich die Ehe für Lesben und Schwulezu öffnen. Es mag vor 14 Jahren nicht anders durchsetz-bar gewesen sein, als ein Sondergesetz für Lesben undSchwule zu schaffen; heute ist das nicht mehr zeit-gemäß. Wir müssen die Ehe für Lesben und Schwuleöffnen. Das wäre das Einfachste.
Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nichtverstehen, warum CDU und CSU sich mit Händen undFüßen dagegen wehren. Vorhin wurde das Stichwort„Kindeswohl“ genannt. Ich bitte Sie: Entscheidend istnicht, ob die Eltern hetero- oder homosexuell sind. Ent-scheidend ist vielmehr, wie liebevoll und verantwor-tungsbewusst sie mit ihren Kindern umgehen. Daraufkommt es an.
Es könnte so einfach sein. Denn gleiche Rechte fürLesben und Schwule schaden niemandem. Fällt Ihnenein Zacken aus der Krone, wenn die Lesben und Schwu-len in Ihrer Nachbarschaft, in Ihrer Partei und vielleichtauch in Ihrer Fraktion genauso eine Ehe eingehen wieSie selbst? Welche Heteroehe oder welches Kind ist inGefahr, wenn Lesben und Schwule, seien es Kollegen anIhrem Arbeitsplatz oder jemand aus der Nachbarschaft,ebenfalls heiraten dürfen? Das könnte Ihnen doch völligegal sein. Ich finde, wir haben im Bundestag überhauptnicht zu bewerten, welcher Lebensentwurf der höher-wertige ist.
Es wird gerne – auch das ist bereits angeklungen –das Grundgesetz mit dem besonderen Schutz von Eheund Familie bemüht. Es steht aber nirgendwo geschrie-ben, dass das eine heterosexuelle Ehe oder eine heterose-xuelle Familie sein muss. In Artikel 3 Grundgesetz heißtes: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Ichfinde, es ist an der Zeit, das endlich umzusetzen.
Meine Damen und Herren, hätten Sie gedacht – die-sen Aspekt möchte ich noch erwähnen –, dass etwa imSprengstoffgesetz oder in der Approbationsordnung fürZahnärzte auf Eheleute Bezug genommen wird? Das istim Grünen-Gesetzentwurf en détail nachzulesen. Ichhätte damit allenfalls in der Verfahrensordnung für Höfe-sachen gerechnet.Abschließend möchte ich erwähnen, dass es immermehr Menschen, egal welcher sexueller Orientierung,gibt, die sich dafür entscheiden, nicht zu heiraten. Sieleben ohne Trauschein zusammen, als alleinerziehendeVäter oder Mütter, als selbstbewusste Singles oder inWGs. Sie leben, wie sie wollen, und eben nicht so, wiesie nach Auffassung der CDU/CSU möglicherweise le-ben sollen.Deswegen sage ich: Die Gleichstellung von Le-benspartnerschaft und Ehe oder – besser noch – die Öff-nung der Ehe für alle kann nur ein erster Schritt sein. DieGleichstellung aller Lebensweisen muss unser Ziel blei-ben.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Lay. – Wir haben uns im Präsi-dium gerade die Frage gestellt, was es eigentlich mitdem Sprengstoffgesetz auf sich hat. Vielleicht kann unsdas einer der folgenden Redner erklären. Wir hier obenwissen es auf jeden Fall nicht.
Vielleicht macht es Frau Dr. Katarina Barley. Sie ist dienächste Rednerin in dieser Debatte für die SPD.
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Zum Sprengstoffgesetz, meine sehr verehrte Frau Prä-sidentin, wollte ich jetzt eigentlich nicht ausführen. –Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Ge-sellschaft des 21. Jahrhunderts bei uns in Deutschland istbunt, ist vielfältig, und das ist auch gut so. Es gibt vieleunterschiedliche Formen des Zusammenlebens. Es gibtverheiratete Paare, unverheiratete Paare, Patchworkfa-milien, Regenbogenfamilien, gleichgeschlechtliche Le-benspartnerschaften. All das ist in der Realität längst ak-zeptiert. Ich selbst komme aus einem sehr katholischgeprägten Wahlkreis, aus einer kleinen Stadt. Bei unsexistieren all diese Lebensformen sehr friedlich und nor-mal nebeneinander.
– Genau, ganz ohne Sprengstoff. – Leider findet dieseNormalität noch keine vollständige Entsprechung in derGesetzgebung. Bei den Rechten und auch bei den Pflich-ten besteht noch immer Handlungsbedarf, diese gesell-schaftliche Realität auch rechtlich abzusichern.Bei den gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaf-ten haben wir schon viel erreicht. Aber von einer hun-dertprozentigen Gleichstellung sind wir noch immerentfernt, und das – das ist heute schon mehrfach ange-klungen –, obwohl das Bundesverfassungsgericht inKarlsruhe immer wieder entschieden hat, dass Ungleich-behandlungen von Ehen und eingetragenen Lebenspart-nerschaften verfassungswidrig sind. Wir alle hier imHause wissen das. Aber noch immer findet rechtlicheDiskriminierung aufgrund sexueller Orientierung statt.Noch immer werden gleichgeschlechtliche Paare in einerReihe von Rechtsbereichen gegenüber Ehepaaren be-nachteiligt, zum Beispiel bei der Namensgebung desKindes, bei der Übernahme von Mietverträgen sowie beiInsolvenz- oder Zwangsversteigerungsverfahren. Nochimmer werden in einigen Vorschriften, vor allen Dingenim Zivil- und Verfahrensrecht, Lebenspartnerschaftenunterschiedlich behandelt, ohne dass es dafür einenüberzeugenden Grund gäbe.Ich möchte nach dem bisherigen Debattenverlaufnoch einmal auf die Adoption eingehen. Das ist ein be-sonders wichtiges Thema, weil es dabei um das Kindes-wohl geht. Wir müssen uns ja vor Augen führen: Wir re-den hier nicht über Rechtsvorschriften, sondern über realexistierende Menschen. Schon heute leben viele Kinderin gleichgeschlechtlichen Familien, gleichgeschlechtli-chen Partnerschaften; manche von ihnen im Wege derSukzessivadoption rechtlich legalisiert als Familie, an-dere eben nicht. Herr Kollege Ullrich, Sie verwechselnda vielleicht die Sukzessivadoption mit der Stiefkind-adoption.
Auch bei der Sukzessivadoption muss das Kind nichtvon einem Ehepartner stammen.Wir müssen uns, glaube ich, schon darüber bewusstsein, welche Auswirkungen es hat, wenn wir sagen: Wirgewähren euch das Recht, eine normale Familie zu sein,eben nicht.
Auch hier geht es, Frau Sütterlin-Waack, um das Kindes-wohl. Wir dürfen den Kindern, die in einer gleichge-schlechtlichen Familie groß werden und nicht unter dieRegelungen einer Sukzessivadoption fallen, nicht denEindruck vermitteln, dass sie weniger wert sind und dassihre Familie in rechtlicher Hinsicht weniger eine Familieist als eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft,die in den Genuss der Vorteile einer Sukzessivadoptiongekommen ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch dasBundesverfassungsgericht das so sehen wird.
Auch da liegt ein bisschen das Problem. Ich finde es alsJuristin eher peinlich, wenn wir als Gesetzgeber unsereVerantwortung nicht wahrnehmen, sondern uns vomBundesverfassungsgericht immer wieder sagen lassenmüssen,
dass wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden.
Die vollständige Gleichstellung der eingetragenenLebenspartnerschaften ist uns ein Kernanliegen. Wir ha-ben damit im Wahlkampf Werbung gemacht; das istrichtig.
– Stimmt, das war auch gut so. – Wenn uns alle lesbi-schen und schwulen Paare gewählt hätten, dann hättenwir vielleicht etwas mehr Durchschlagskraft gehabt, umdas in der jetzigen Koalition durchsetzen zu können.
Das wäre vielleicht ein Appell für das nächste Mal.
Wir haben den klaren Auftrag aus dem Grundgesetzund auch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe,die Gleichstellung vollständig umzusetzen. Das steht inunserem Koalitionsvertrag, und wir lassen dieses Zielnicht aus den Augen.Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzgesetz-geber. Die Pflicht und das Recht zur Gestaltung liegenbeim Parlament. Alles andere wäre für uns ein Armuts-zeugnis. Wir werden weiterhin auf die Umsetzung desKoalitionsvertrags dringen. Der Justizminister hat einenReferentenentwurf vorgelegt; der Kollege Brunner hatdas schon ausführlich beleuchtet. Wir werden nicht
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Dr. Katarina Barley
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nachlassen, bis zum Ende der Legislaturperiode hiernoch Verbesserungen vorzunehmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich darf einmal ganz kurz Weiterbildung betreiben
– danke für die Information –: Laut Sprengstoffgesetz
gilt die Fortsetzung der Erlaubnis zum Umgang und Ver-
kehr mit explosionsgefährlichen Stoffen nach dem Tode
des Erlaubnisinhabers oder der Erlaubnisinhaberin für
Ehegatten, nicht für Lebenspartner bzw. Lebenspartne-
rinnen. – Das war eine Erläuterung, weil Sie alle so un-
wissend geschaut haben.
Nächste Rednerin: Ulle Schauws für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Vor knapp zwei Jahren hatmeine Fraktion schon einmal einen Gesetzentwurf zurabschließenden Beendigung der verfassungswidrigenDiskriminierung der eingetragenen Lebenspartnerschaf-ten in den Bundestag eingebracht. Die Debatte, die, da-mals noch unter der schwarz-gelben Regierung, in die-sem Haus geführt wurde, war weiß Gott keineGlanzleistung. Auch heute ist sie es nicht – dank CDU/CSU!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Siehaben gebetsmühlenartig wiederholt, man könne die Pri-vilegierung der Ehe nicht aufgeben. Einige weigertensich sogar, wegweisende Entscheidungen des Bundes-verfassungsgerichts anzuerkennen nach dem Motto:Gleiche Rechte für gleiche Pflichten nicht für Lesbenund Schwule, ganz egal, was Karlsruhe dazu sagt. – Esist aus dem, was wir heute hier schon gehört haben, sehrdeutlich geworden, dass sich Ihr Weltbild in diesemPunkt eigentlich nicht verändert hat.
Zwei Jahre später, so dachten wir zumindest, dürfteIhnen die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf von unsGrünen eigentlich leichter fallen, weil wir nur das um-setzen, was Sie im Koalitionsvertrag mit der SPD verab-redet haben. Wörtlich steht da:Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtlicheLebenspartnerschaften schlechter stellen, werdenwir beseitigen.Wir warten jetzt seit 2013 auf Ihre Vorschläge. Ichsage Ihnen eines: Den Beschluss im Koalitionsausschusszum Referentenentwurf in dieser Woche hätte es nichtgegeben, wenn wir Grüne nicht für heute diese Debatteangekündigt hätten.
Ich sage aber auch: Spätestens nach der heutigen De-batte und nach dem, was Sie, Herr Kollege Ullrich, hierausgeführt haben, ist klar: Sie haben es immer nochnicht verstanden. Wenn Sie einen Gesetzentwurf vorle-gen, der die gemeinschaftliche Adoption nicht vorsieht,haben Sie es immer noch nicht verstanden.
Darum wende ich mich jetzt noch einmal an die Kol-leginnen und Kollegen der SPD. Ich will nicht versäu-men, Sie an die Worte Ihres Fraktionsvorsitzenden ausder Plenardebatte vom Februar 2013 zu erinnern. Ich zi-tiere Thomas Oppermann:
Es ist an der Zeit, dass wir Lebenspartnerschaftenumfassend gleichstellen: im Sozialrecht, im Famili-enrecht, im Steuerrecht. „Gleiche Rechte für alle“heißt die Parole in Deutschland.
Die Kollegin Steffen, die ich eben hier gesehen habe,hat im März 2013 gesagt:Es ist lächerlich, immer noch dagegenzustimmen,nach dem, was das Bundesverfassungsgericht ent-schieden hat, nach dem, was die Mehrheit unsererBevölkerung sagt, und nachdem aktuelle Umfragenzeigen, dass selbst die Mehrheit der CDU-Anhän-ger … die Homo-Ehe befürwortet.Also, Herr Oppermann, Frau Steffen, liebe SPD: Wirnehmen Sie heute beim Wort.
Sie können das, was Sie vor zwei Jahren aus Überzeu-gung tun wollten, jetzt endlich tun und zustimmen.
Sie können dafür Sorge tragen, dass wir mit den Mehr-heiten in diesem Haus zwei verlorene Jahre aufholen undendlich die rechtliche Gleichstellung für Lesben undSchwule herstellen.Zur Union will ich auch noch etwas sagen: BeendenSie die Ausgrenzung von eingetragenen Lebenspartner-schaften und auch von Regenbogenfamilien. Ihre Argu-mente sind für viele Menschen ein Schlag in die Magen-grube, nicht nur für Lesben und Schwule. Da erhoffensich wirklich viele von Ihnen mehr Mut. Wenn Sie es inIhrer Fraktion nicht schaffen, die ewiggestrigen Ansich-ten zu revidieren, wird dies am Ende der Wahlperiodeein Teil Ihrer politischen Bankrotterklärung sein.Und noch etwas: Sie sollten sich in Zeiten, wo zu be-fürchten steht, dass Homophobie wieder salonfähig wer-den könnte, sehr gut überlegen, wie Sie Ihre Abgrenzung
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Ulle Schauws
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von rechten Kräften und der AfD ausgestalten wollen.Ich finde, das kann ein sehr schmaler Grat sein.Wir als Grüne stehen ganz klar für eine moderne,vielfältige Gesellschaftspolitik, die sich gegen jede Formder Diskriminierung stellt; und wir werden hier auchnicht nachlassen. Darum appelliere ich am Ende nocheinmal an alle hier in diesem Haus und fordere Sie auf:Unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf! Es gibt keinenGrund mehr, dies nicht zu tun! Überlassen Sie diese Ar-beit nicht länger dem Bundesverfassungsgericht!Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Schauws. – Nächste Rednerin
in der Debatte: Gudrun Zollner für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gemeinsam durchs Leben zu gehen, füreinan-der da zu sein, gegenseitig Verantwortung zu überneh-men, das sind Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen.Diese gelebten Werte finden wir besonders im Zusam-menleben von zwei Menschen, die sich entschließen, zuheiraten. Wenn ein Mann und eine Frau diesen Schritttun, nennen wir es klassische Ehe. Wenn zwei Frauenoder zwei Männer diesen Schritt tun, nennen wir es ein-getragene Lebenspartnerschaft. Die gelebten Werte fin-den wir aber hier wie dort.
Trotzdem: Wenn man bezogen auf die Gleichstellungvon Lebenspartnerschaft und Ehe, wie im Gesetzentwurfder Grünen angesprochen, von Verfassungswidrigkeitspricht, möchte ich darauf verweisen, dass die Privile-gierung der Ehe immer noch im Grundgesetz verankertist.
Im letzten Familienbericht der Bundesregierung wirdthematisiert, dass die Pluralisierung der Lebensformenzunimmt. Dazu gehören neben der klassischen Familieauch Singles, unverheiratete Paare, Alleinerziehendeund eben auch homosexuelle Paare, Mütter- und Väter-paare. Die Regenbogenfamilien erobern ihren eigenenPlatz in der Familienlandschaft. Deshalb setzt sich dieRegierungskoalition intensiv mit diesem Thema aus-einander. Auch interfraktionell wird in den einzelnen Ar-beitsgruppen sehr professionell diskutiert und miteinan-der umgegangen.
Das würde ich mir oft auch hier im Plenum wünschen.
Für das gute interfraktionelle Arbeiten möchte ich michganz herzlich bei den einzelnen Kolleginnen und Kolle-gen bedanken.
Seit Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzesim Jahre 2001 gibt es eine weitgehende Gleichbehand-lung von Lebenspartnern und Eheleuten. In vielen we-sentlichen Bereichen sind Lebenspartner mit Ehegattenmittlerweile gleichgestellt worden. Noch in der letztenLegislaturperiode wurde geregelt, dass das Ehegatten-splitting auch für Lebenspartner gilt, womit diese Be-nachteiligung rückwirkend zum Jahr 2001 behobenwurde. Damit profitieren auch Lebenspartner und nichtnur Ehegatten vom Splittingvorteil bei der Einkommen-steuer.Erst letztes Jahr wurden die Regelungen zur Sukzes-sivadoption vom Deutschen Bundestag umgesetzt. Hiermöchte ich etwas ganz Persönliches hinzufügen: Ich binalleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Es war nichteinfach, zwei Kinder ohne ihren Vater großzuziehen. DieFunktion des männlichen Vorbilds konnte ich als Fraunicht erfüllen; es fehlte. Das möchte ich zu diesemPunkt, Kindeswohl, einfach nur anführen.Mit dem bis letztes Jahr laufenden bundesweiten Mo-dellprojekt „Homosexualität und Familien“ unterstütztedas Bundesfamilienministerium Beratungsstellen, damitheterosexuelle Angehörige beim späten Coming-out ei-nes Partners oder Kindes kompetent begleitet werdenkonnten.Ansprechen möchte ich außerdem an dieser Stelle diehervorragende Arbeit der Bundesstiftung MagnusHirschfeld, die 2011 von der Bundesrepublik Deutsch-land errichtet worden ist.
In den vergangenen Jahren ist viel für Andersliebendegetan worden. Die Regierungsparteien möchten diesenWeg fortsetzen und haben deshalb die Anliegen der Ho-mosexuellen auf der Tagesordnung, insbesondere wasden Bereich Diskriminierung und Homophobie angeht.Erst gestern war die Auftaktkonferenz des Bundespro-gramms „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextre-mismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“. Eine derArbeitsgruppen hat sich mit dem Thema beschäftigt, wieman Akzeptanz für geschlechtliche und sexuelle Vielfaltherstellen kann. In diesem Zusammenhang soll es zumAbbau von Homophobie ein bundesweites Projekt undmehrere Modellvorhaben geben.
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8314 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Gudrun Zollner
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Eine tolerante Gesellschaft lässt sich aber nicht nurdurch Gesetze verordnen. Toleranz kann nur erreichtwerden, wenn wir Vorurteile abbauen, auch gegenüberder CSU, Frau Kollegin,
wenn wir aufeinander zugehen und wenn wir bereit sind,andere Lebensentwürfe zu akzeptieren und zu respektie-ren, und zwar von allen Seiten. Wie wichtig das ist, wirddeutlich, wenn wir über die Grenzen Deutschlands hin-ausblicken. So geht die Diskriminierung und Verfolgunghomosexueller Menschen in mehreren afrikanischenLändern ungebremst weiter; im asiatischen Raum wer-den sie zum Teil sogar mit dem Tod durch Steinigungbestraft. Weltweit ist Homosexualität noch in über70 Staaten strafbar. Dazu kommen Länder wie Russland,wo Homosexualität zwar legal ist, Schwule und Lesbenaber dennoch massiv unter Unterdrückung und Repres-salien leiden. Es gilt daher, Diskriminierung und Homo-phobie entschieden entgegenzuwirken und für Toleranzund Respekt einzutreten.
Es ist unstrittig, dass Lebenspartnerschaften heute zuunserer Gesellschaft gehören, dass Regenbogenfamilienalltäglich und doch anders sind. Wir werden deshalb„weiterhin bestehende Ungleichbehandlungen“, wie esim vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen heißt, durcheinen eigenen Entwurf, der aktuell in den Ressorts zurAbstimmung liegt, aufgreifen. Änderungen im Sozial-recht, der Zivilprozessordnung, der Insolvenzordnung,im BGB usw. werden gemäß dem Koalitionsvertrag um-gesetzt, sodass die entsprechenden Regelungen, diegleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter-stellen, zeitnah beseitigt werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Zollner. – Nächster Red-
ner in der Debatte: Johannes Kahrs für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Seit 1998 bin ich im Deutschen Bundestag.Seit 1998 diskutieren wir dieses Thema. Seit 1998 gibtes hier in diesem Hohen Hause von vielen Parteien großeBereitschaft, dieses Thema abzuräumen und ein für alleMal klar zu sagen, dass der, der die gleichen Pflichtenhat, auch die gleichen Rechte beanspruchen darf.
Wir sind uns hier in großen Teilen des Hauses einig.Das Tempo dieser Entwicklung hat sich allerdingsimmer an den Entwicklungsfortschritten in der Unionbemessen. Das hat gedauert.
Man sieht ja: Wir sind jetzt im Jahr 2015 und sind immernoch nicht da angekommen, wo wir hinwollen. Aber andem, was wir heute von der Kollegin Sütterlin-Waackund von der Kollegin Zollner gehört haben, sieht man,wie weit die Union sein kann. Das hätte ich 1998 oder2005 nie gedacht. Man muss anerkennen: Es geht weiter,und es gibt Fortschritt.
Trotzdem kann ich verstehen, dass es vielen Betroffe-nen in diesem Land nicht schnell genug geht. Für die,die 16, 20, 25 oder 30 Jahre alt sind, die sich selber fra-gen, ob sie sich outen möchten, die in diesem Land einenArbeitgeber haben, der das vielleicht anders sieht, wärees schon gut, wenn der Deutsche Bundestag die gesell-schaftliche Entwicklung vorantreibt und nicht hinterher-trödelt oder vom Verfassungsgericht geschoben oder ge-treten werden muss. Das wäre der Auftrag desDeutschen Bundestages. Daran, finde ich, müssen wiruns messen lassen.
Wenn wir uns diese Debatte angucken, stellen wirfest, dass es immer wieder einige Kolleginnen und Kol-legen gibt, bei denen die gesellschaftliche Realität späterankommt. Wir haben das Problem, dass viele die jetzigeRegelung, die jetzige Gesetzeslage, als Diskriminierungwahrnehmen – ich zum Beispiel.
In der Union wird das in Teilen anders gesehen. Jederhilft sich, wie er kann. Aber am Ende ist es so, dass wirals Gesetzgeber darauf hinwirken müssen, dass es glei-che Rechte und gleiche Pflichten gibt für jede Frau, fürjeden Mann.Wir müssen uns zum Beispiel der Frage stellen, dieauch eben schon diskutiert worden ist, wie es denn mitder Privilegierung der Ehe ist. Ich finde, man muss sichüberlegen, was man privilegiert, und sollte überall daprivilegieren, wo es Kinder gibt, wo Kinder aufgezogenwerden. Die bedürfen der Fürsorge des Staates. Da istdas gesellschaftliche Engagement notwendig. Ich per-sönlich sehe gar nicht ein, warum diejenigen, die in einerLebenspartnerschaft leben, und diejenigen, die in einerEhe leben, nicht gleichbehandelt werden.Zum Zwecke, diese Gleichbehandlung sicherzustel-len, legt Heiko Maas jetzt einen Gesetzentwurf vor, derdas umsetzt, was im Koalitionsvertrag steht, also was
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8315
Johannes Kahrs
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wir mit der CDU/CSU vereinbart haben. Dieser Gesetz-entwurf ist übrigens auch besser als der, den die Grünenvorgelegt haben. Deswegen freue ich mich, wenn wirdiesen Gesetzentwurf zügig bekommen.
Das heißt, wir werden rechtliche Regelungen, die gleich-geschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechterstel-len, beseitigen. Das ist gut so. Das werden wir tun. Ichglaube, dass es im wahren Leben auch etwas Selbstver-ständliches ist. Traurig ist, dass es bis zum Jahre 2015gedauert hat, das zu realisieren.
An dieser Stelle ist es allerdings so, dass unser Koali-tionsvertrag der Union hilft – ich sage einmal –, über dievielbefahrene Straße der modernen Gesellschaft zu kom-men. Ich lese ja, wie die Union sich bemüht – ich binHamburger und habe es gerade erlebt –, dass man übersie als eine moderne Großstadtpartei spricht. Liebe Kol-leginnen und Kollegen von der Union, ich glaube, dasThema Großstadtpartei hat sich für Sie so lange erledigt,wie die Zielgruppe der Lesben und Schwulen weiterhinglaubt, dass sie durch Ihre Politik täglich diskriminiertwird. Das mögen Sie anders sehen, aber es gilt in diesemFall der Empfängerhorizont. Es gelten in diesem Fall dieEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Es giltin jedem Fall – so sehe ich das – die Wahrheit, die Le-bensrealität, so wie sie bei den Menschen ankommt.Das heißt, wir im Deutschen Bundestag müssen unsdarum kümmern, dass dieses Thema bald abgeräumtwird. Wir im Deutschen Bundestag sind in der Pflicht,dafür zu sorgen, dass Lesben und Schwule gleichgestelltwerden, und zwar in allen Bereichen. Wenn man sagt,auf der einen Seite gibt es die Lebenspartnerschaft undauf der anderen Seite die Ehe, und beide sind rechtlichkomplett gleichgestellt, dann stelle ich mir als ganzschlichter Mensch, als Hamburger,
die Frage: Wie kann es sein, dass man etwas, was gleichist, nicht auch gleich nennen kann? Warum ist es, Gottverdammt noch mal, nicht möglich, dies auch Ehe zunennen?
Es muss doch möglich sein, dass wir uns in diesem Ho-hen Hause einmal tief ansehen und sagen, dass Men-schen, die füreinander einstehen, die Pflichten undRechte haben, auch in einer Ehe sind. Die Privilegierungder Ehe ist nicht gefährdet, wenn Lesben und Schwuleauch in einer Ehe sind; denn den anderen wird nicht et-was weggenommen, sondern es gibt dann eine Gleich-stellung.
Das ist das Ziel, das Sie in unserem Grundgesetz findenund das sogar im Koalitionsvertrag steht. Ich hoffe, dasswir es in dieser Legislaturperiode mit der Union schaf-fen, auch noch über diese Hürde zu kommen.Seit 1998 nehmen wir hier Hürden, mal mehr, malweniger, mal hilft uns das Verfassungsgericht. Am Endewerden wir alle in der gesellschaftlichen Realität ankom-men, auch die Kolleginnen und Kollegen der Union. DieFrage ist: Wie hoch soll der Preis noch sein, den Sie be-reit sind, dafür zu zahlen? Hat Ihnen Hamburg nicht ge-reicht? – Warten wir Bremen ab; dann können wir unsdie nächsten Landtagswahlen ansehen.Ich glaube, die gesellschaftliche Realität ist weiter. Esgilt weiterhin: 100 Prozent Gleichstellung nur mit derSPD.Vielen Dank.
Vielen Dank, Johannes Kahrs. – Der letzte Redner in
dieser Debatte: Armin Schuster für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Lieber Herr Kahrs, ich mag dieHanseaten, weil ich einmal lange in Lübeck gewohnthabe. Aber unterschätzen Sie bitte nicht die ländlichenRäume. Dort leben auch Schwule und Lesben, und zwarsehr gerne.
Das alles an Hamburg und Bremen auszumachen, würdemir nicht reichen.
Die CDU/CSU setzt sich für alle Regionen ein.
Deswegen, Frau Dr. Barley, haben wir auch diese tollenWahlergebnisse. Auch Sie müssen noch weiterhin ge-wählt werden. Eigentlich sind wir von der Union ganzzufrieden. Wir haben die Balance aus ländlichen Regio-nen und Großstädten. Sie können es sich anschauen.
– Knapp 42 Prozent ist ja nicht so schlecht, Herr Beck.Ihr Gesetzentwurf ist wirklich eine Fleißarbeit; dasmuss ich sagen. Ich hätte der Fraktion der Grünen vorge-schlagen, einen anderen Startredner zu schicken. Mankann einen sehr guten Antrag auch durch die Startredeschlechter machen.
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8316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Armin Schuster
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Sie, Herr Beck, sprachen von Schützengräben, reaktio-när-geistiger Immobilität, Denkfaulheit. Meine sehr ver-ehrten Kolleginnen und Kollegen der Grünen, deshalbhatten Sie bei der Bundestagswahl so ein miserables Er-gebnis:
Dieser Absolutismus, dass Ihre Meinung in ganzDeutschland gelten muss, hat zu diesem Ergebnis ge-führt.Gott sei Dank, Herr Beck, haben Sie uns noch als„konservativ“ bezeichnet; da fühlen wir uns ja geehrt.
Da möchte ich mal die Definition von Franz Josef Straußnehmen:Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fort-schritts marschieren.Das tun wir hier seit zehn Jahren. Wir sind ziemlich stolzdarauf, dass wir in den zehn Jahren auch beim ThemaGleichstellung eine Menge getan haben – Frau Zeulnerhat es schon angedeutet –: Wir haben Gleichstellungenbeim BAföG und im Jahressteuergesetz vorgenommen,wir haben das Besoldungs- und Versorgungsrecht fürBundesbeamte und Soldaten angepasst.
Wir haben den Familienzuschlag für verpartnerte Be-amte im öffentlichen Dienst eingeführt – nicht ab 2009,sondern schon ab 2001, von dem Moment an, ab demdas Lebenspartnerschaftsgesetz galt.
Die schwarz-rote Koalition hat allein in dieser Wahl-periode zwei entsprechende Gesetze auf den Weg ge-bracht.Frau Dr. Barley, im Prinzip gehe ich hinsichtlich IhrerBewertung des Bundesverfassungsgerichts mit Ihnen ei-nig. Aber eines muss ich Ihnen auch sagen: Es gehört fürmich zur politischen Pluralität, Richtern in Karlsruhepolitische Meinungssignale zu senden. Das möchten wir.Das sind nämlich auch nur Menschen. Man muss ja nichtin vorauseilendem Gehorsam permanent zu antizipierenversuchen, was wohl ein Karlsruher Richter denkt. Wirversuchen, eine politische Meinung zu formulieren, dieauf dem Meinungsbild der Bevölkerung basiert. Wir füh-len uns da sehr gut aufgehoben. Und dann gucken wirmal, was Karlsruhe daraus macht.
Aus diesem Grund haben wir bei der Sukzessivadop-tion dafür gesorgt, dass ein Kind, das bereits von einemLebenspartner adoptiert ist, auch durch den anderen ad-optiert werden kann. Wir haben beim Thema Adoptionallerdings eine ganz andere Meinung als Sie. Wir wollenkeine Gleichstellung um jeden Preis.
Das haben alle Vorredner meiner Fraktion bereits erklärt.Das Grundgesetz, meine Damen und Herren, stellt inArtikel 6 die Ehe und Familie als Gemeinschaft von El-tern mit ihren Kindern unter besonderen Schutz. FrauJelpke, die meisten Menschen in unserem Land, soglaube ich, leben in einer Familienkonstellation ausMann, Frau und Kind. Wenn Sie das als „mittelalterli-ches Familienbild“ bezeichnen,
dann empfehle ich allen Menschen in diesem Land, dassorgfältig zu beurteilen. Die Linken glauben, dass manmittelalterlich sei, wenn man in diesem Land in einerklassischen Familienkonstellation lebt. HerzlichenGlückwunsch! Ich hoffe, mit solch einem Meinungsbildgehen Ihre Umfragewerte noch ein paar Prozent herun-ter. Das ist ja irre!
Wir haben mit der SPD vereinbart, die rechtlichenBenachteiligungen von Lebenspartnerschaften zu besei-tigen. Diese Vereinbarung werden wir umsetzen. HerrDr. Brunner hat es richtig erklärt. Anhand der beidenSPD-Redner Brunner und Barley können die Grünen se-hen, wie wir das angehen wollen. Bei uns wird ausgewo-gen diskutiert
und nicht absolutistisch behauptet, so müsse es sein.Ich glaube, wir finden einen Weg, auch bei den kriti-schen Punkten.
Deswegen bin ich der Meinung, dass wir den Antrag derGrünen mit voller Überzeugung ablehnen können. Er istnämlich sehr schnell gemacht und in Teilen falsch.
Herr Kahrs, Sie selbst haben gesagt, seit 1998 gebe esin diesem Haus Mehrheiten für Ihre Form der Gleichstel-lungspolitik. Ja, verdammt noch mal, warum habt ihr esdenn von 1998 bis 2005 nicht gemacht? Da hättet ihrdoch die Möglichkeit gehabt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8317
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Ja, meine Damen und Herren, deshalb nicht, weil dieMehrheitsverhältnisse in Deutschland eben nicht so wa-ren. Sie haben es nämlich nicht hinbekommen, und dafürgab es auch Gründe.
Wir sind die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,die noch von entsprechender Balance und Ausgewogen-heit geprägt ist. Wir vertreten einen Großteil der Bevöl-kerung,
fühlen uns wohl damit und glauben trotzdem, dass wirSchwule und Lesben in diesem Land angemessen gleich-stellen.Herzlichen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Damit schließe ich diese emo-tionale Debatte.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 18/3031 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehekeine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 dsowie den Zusatzpunkt 2 auf:23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Beschluss des Rates vom 26. Mai 2014über das Eigenmittelsystem der Europäi-schen UnionDrucksache 18/4047Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion
Finanzausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Abkommen vom 19. September 2014zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund der Republik der Philippinen überSoziale SicherheitDrucksache 18/4048Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Sozialesc) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeufassung der Anhänge F und G zumÜbereinkommen vom 9. Mai 1980 über deninternationalen Eisenbahnverkehr
Drucksache 18/4049Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastrukturd) Beratung des Antrags der AbgeordnetenElisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Renate Künast, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENPflege-TÜV hat versagt – Jetzt echteTransparenz schaffen: Pflegenoten ausset-zen und Ergebnisqualität voranbringenDrucksache 18/3551Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen vom 11. April 2014 über dieBeteiligung der Republik Kroatien am Euro-päischen WirtschaftsraumDrucksache 18/4052Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
InnenausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf. Es handeltsich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenkeine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 24 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu dem Antrag der Fraktionender CDU/CSU und SPDRegionale Wirtschaftspolitik – Die richtigenWeichen für die Zukunft stellenDrucksachen 18/3404, 18/4100Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/4100, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3404anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist einstimmig von allen Fraktionen in die-sem Haus angenommen.
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8318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Vizepräsidentin Claudia Roth
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Tagesordnungspunkt 24 b:Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung desWahlprüfungsausschusseszu Einsprüchen gegen die Gültigkeit derWahl zum 8. Europäischen Parlament am25. Mai 2014Drucksache 18/4000
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist ebenfalls einstimmig, bei Zustimmung aller Fraktio-nen im Hause, angenommen.Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 24 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 149 zu PetitionenDrucksache 18/3929Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 149 ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 24 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 150 zu PetitionenDrucksache 18/3930Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 150 ist bei Zustimmung vonCDU/CSU und SPD und Gegenstimmen von Bünd-nis 90/Die Grünen und der Linken angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der Militärmissionder Europäischen Union als Beitrag zur Aus-
schen Regierung sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP und 2013/87/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 17. Januar2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbin-dung mit den Resolutionen 2071 , 2085
, 2100 (2013) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie 2164 vom25. Juni 2014Drucksachen 18/3836, 18/4109– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/4117Über die Beschlussempfehlung werden wir, wie Siewissen, später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre undsehe keinen Widerspruch. Dann ist das so besprochen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner in derDebatte gebe ich Josip Juratovic das Wort für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Heute beraten wir darüber, ob wir das Man-dat deutscher Soldatinnen und Soldaten für die Ausbil-dungsmission der Europäischen Union – EUTM – inMali verlängern. Ich höre bereits kritische Fragen: Wassoll eine Ausbildungsmission der EU bringen? Wie solldie malische Armee ohne adäquate Waffen, ohne pas-sende Strukturen und ohne Geld einen Konflikt lösen?Das soll heißen: Die Europäische Mission sei unnütz undrausgeschmissenes Geld.Diesen Kritikern halte ich entgegen: Wir müssen beijedem Konflikt, bei jeder Entscheidung über militärischeFragen die Opfer eines Konflikts im Blick haben undzum Maßstab für unsere Entscheidungen machen. In Maligibt es laut Internationaler Organisation für Migration ak-tuell allein 80 000 Binnenvertriebene. 143 000 Menschenmussten in Nachbarstaaten fliehen. Über 220 000 Men-schen sind also ihrer Lebensgrundlage, ihrer Heimat undihrer Perspektive beraubt. Viele weitere fürchten in Maliein ähnliches Schicksal. Diesen Menschen will ich nichtsagen: Wir tun nichts für euch.Um die Situation dieser Menschen zu verbessern,müssen wir verschiedene Wege beschreiten. Das ist zu-nächst der zivile Weg. Dazu zählt die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit. Wir unterstützen Mali in denBereichen Dezentralisierung, gute Regierungsführung,produktive Landwirtschaft und Wasserversorgung sowiebei der Professionalisierung des malischen StaatssendersORTM.Besonders wichtig finde ich aber, dass die Bundesre-gierung das malische Ministerium für Versöhnung durchAusstattung und Beratung unterstützt. Übrigens ist dasauch ein wichtiger Beitrag, wenn wir verhindern wollen,dass afrikanische Migranten im Mittelmeer ertrinken.Daneben braucht Mali dringend eine funktionierendePolizei. Deswegen ist es gut, dass Deutschland Trai-ningskurse für westafrikanische Polizeikräfte unter-stützt, Polizeiexperten und den Leiter der zivilen Mis-sion EUCAP Sahel Mali stellt und Know-how insGrenzprogramm der Afrikanischen Union einbringt.
Kolleginnen und Kollegen, aus der Erfahrung wissenwir: Ziviles und polizeiliches Engagement funktionierennicht ohne militärischen Schutz.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8319
Josip Juratovic
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Hierbei möchte ich betonen: Unser Engagement in Malierfolgt immer auf Grundlage von UNO-Entscheidungen.Militärisch gibt es in Mali die UNO-Mission MINUSMAund die Europäische Trainingsmission.Im Rahmen von EUTM Mali ist eine Begleitung dermalischen Streitkräfte in Kampfeinsätzen von deutscherSeite nicht vorgesehen. Unser Auftrag ist klar definiert:Wir arbeiten nachhaltig. Pionierausbildung und sanitäts-dienstliche Unterstützung sind unsere Schwerpunkte. Eswurden bereits 3 500 Soldatinnen und Soldaten ausge-bildet. Wir arbeiten europäisch. Damit wird die EU alsgeschlossener außenpolitischer Akteur wahrgenommen.Wir arbeiten auf allen Ebenen. Neben der Ausbildungeinfacher Soldaten beraten wir das malische Verteidi-gungsministerium.Im August 2015 übernimmt Deutschland die Führungvon EUTM Mali. Dafür ist es richtig, die Mandatsober-grenze von 250 auf 350 Soldaten anzuheben. Mit diesemEngagement verdienen wir uns auch den Respekt unse-rer europäischen Partner.Kolleginnen und Kollegen, insgesamt können sichunsere Erfolge in Mali sehen lassen. Ich finde unserenBeitrag zu EUTM Mali wichtig und richtig und möchtedeshalb für die Verlängerung des Mandats eintreten.
Trotzdem sage ich am Ende dieser Rede auch: Wir brau-chen politische und diplomatische Lösungen, um Malilangfristig zu befrieden. Nur mit militärischer Stärkekann Mali islamistischen Terror und den Aufstand vonTuareg-Rebellen nicht eindämmen. Die im Juli 2014 be-gonnenen Friedensverhandlungen müssen weitergeführtwerden, um den wieder wachsenden Einfluss radikalerIslamisten wirksam einzudämmen.In dieser fragilen Situation finde ich die Krisenprä-vention der Bundesregierung genau richtig. Wir bildendas malische Militär nachhaltig aus und gleichzeitig un-terstützt das Auswärtige Amt das malische Ministeriumfür Versöhnung, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu er-möglichen.
Hier sieht man, dass EUTM Teil eines guten Gesamt-konzepts ist, das wir mit der Verlängerung des Mandatsfortsetzen sollten.Kolleginnen und Kollegen, meinen Respekt undmeine Anerkennung möchte ich ausdrücklich jenenMännern und Frauen bekunden, die diesen mühevollenund teilweise gefährlichen Auftrag jeden Tag umsetzen.
Auch mit der EUTM Mali können wir leider keineGarantie für Frieden schaffen. Nichtsdestotrotz ist un-sere Vorgehensweise die richtige. Den Bedenkenträgernmöchte ich sagen: Wenn wir verhindern wollen, dassMenschen im Mittelmeer ertrinken, wenn wir glaubwür-dig sein wollen, dann müssen wir die Ursachen derFlucht bekämpfen. Mit Maßnahmen wie EUTM Malikönnen wir eine der Fluchtursachen eindämmen. Deswe-gen bitte ich um Ihre Zustimmung zum Antrag der Bun-desregierung.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Juratovic. – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Christine Buchholz für die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Juratovic, wir stimmen hier heute leider nichtüber alle möglichen sinnvollen Maßnahmen, die wir alsLinke unterstützen, ab, sondern wir stimmen über einenBundeswehreinsatz ab. Die Bundeswehr soll ihre Prä-senz im Rahmen der Mission EUTM Mali erhöhen. DieObergrenze soll von 250 auf 350 Soldatinnen und Solda-ten angehoben werden, und die Bundeswehr soll dieMissionsleitung übernehmen und neben Pionieren in Zu-kunft auch die malische Infanterie ausbilden.Diese Absicht reiht sich ein in die von Frau von derLeyen vorangetriebene neue Ausrichtung der Bundes-wehr. Letzte Woche sagte die Ministerin bei der Eröff-nung der Weißbuch-Konferenz, die deutschen Interessenhätten – ich zitiere – „keine unverrückbare Grenze, we-der geografisch noch qualitativ“. Ich glaube, dieser Kursist teuer, gefährlich und löst kein einziges Problem vorOrt.
Ich war im November in Mali und bin mit vielen,auch sehr vielfältigen Eindrücken wiedergekommen:Die Ausbildungsmission EUTM Mali ist Teil einer in-ternationalen Militärstrategie. Herr Juratovic, das müs-sen Sie zur Kenntnis nehmen. EUTM Mali ist zum einenverknüpft mit dem französischen Antiterroreinsatz Ope-ration Barkhane im Norden Malis und in angrenzendenLändern sowie der UN-Mission MINUSMA im Norden.
Über den Antiterroreinsatz Operation Barkhane wissenwir so gut wie nichts. Über MINUSMA wissen wirschon etwas: Die Truppe, an der sich auch Deutschlandbeteiligt, ist im letzten Monat selbst Konfliktpartei ge-worden. Aus einem Hubschrauber erschossen niederlän-dische Soldaten mindestens sieben Tuareg-Kämpfer, diesich mit regierungstreuen Milizen einen Konflikt um dieHandelsroute nördlich von Gao lieferten. Einige Tagespäter kam es in der Stadt Gao zu Protesten gegenMINUSMA, bei denen Soldaten mindestens drei Zivilis-ten erschossen. Ich sage Ihnen: Deutschland darf sichnicht an einem solchen Konflikt beteiligen.
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8320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Christine Buchholz
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Ich habe mir in Koulikoro das Ausbildungslager derEU, wo die Mehrzahl der deutschen Soldaten stationiertist, angeschaut und mit malischen Militärs und mit Bun-deswehrsoldaten gesprochen. Ich muss sagen: Auchnach diesen Gesprächen halte ich es für illusorisch undverantwortungslos, die ausgebildeten Gefechtsverbändeder malischen Armee nach einem zwölfwöchigen Lehr-gang in den Krieg zu schicken. Doch genau das wird ge-macht. Denn nach der Ausbildung gehen die malischenSoldaten für neun Monate in den Norden.
Armut und Arbeitslosigkeit im Norden Malis sind dieGründe dafür, dass sich junge Menschen den Dschiha-disten anschließen. Aminata Traoré, die ehemalige Kul-turministerin Malis, sagte auf einer zivilgesellschaftli-chen Konferenz über die Sicherheit in der Sahelzone, ander ich teilnehmen konnte: Wenn es keine Hoffnung aufreguläre Erwerbsquellen gibt, dann können 100 EuroSold durch eine Miliz einen Unterschied machen. DieDschihadisten kämpfen wie andere bewaffnete Gruppennicht um die Religion, sondern um Handels- undSchmuggelrouten durch die Sahara. Es gibt Familien, dakämpft ein Bruder aufseiten einer Tuareg-Miliz oder ei-ner dschihadistischen Gruppe, ein anderer bei der Ar-mee. – Ich sage Ihnen: Die Armut ist die Kernursachedes bewaffneten Konfliktes. Der europäische Militärein-satz ändert an diesem Konfliktpotenzial rein gar nichts.
Aber auch im Süden Malis ist die extreme Armut diegrößte Bedrohung für die Sicherheit der Menschen. Esgibt Menschen, die ihr Glück als Goldschürfer suchen.Doch das große Geschäft machen zehn internationaleKonzerne, die in Mali die Goldressourcen ausbeuten. ImHerbst 2014, so haben mir Bürgerrechtler erklärt, habenStreitkräfte der malischen Armee auf malische Goldsu-cher geschossen, die einem dieser Bergbauunternehmenim Weg waren. Das zeigt, dass das Problem der mali-schen Armee nicht in erster Linie die Ausbildung ist,sondern es sind die Interessen, zu deren Durchsetzungsie eingesetzt wird.
Mali wird von internationalen Konzernen ausgeplün-dert, und eine korrupte Minderheit macht mit. Mit derTrainingsmission unterstützen Sie diesen Zustand. Dabeigibt es beeindruckenden Widerstand gegen die korruptePolitik im Land und auch eine wachsende Ablehnungder internationalen Militäreinsätze. Nur um Ihnen eineIdee davon zu geben: Gewerkschafter erzählten mir, wiesie im August in einem zweitägigen Generalstreik dieAnhebung des Mindestlohns von 43 Euro auf 61 Euroerzwungen haben. Das ist Armutsbekämpfung. Hundert-tausende Binnenflüchtlinge aus dem Norden wurden inden letzten Jahren von Verwandten und Bekannten imSüden aufgenommen. Das steht im krassen Gegensatzzum Versagen der sogenannten internationalen Gemein-schaft in der Flüchtlingspolitik.
Schließlich traf ich Aktivisten, die sich um die zahl-losen Menschen kümmerten, die aus Europa oder ande-ren afrikanischen Ländern abgeschoben wurden. In Maliangekommen, stehen diese Abgeschobenen vor demNichts. Ich sage Ihnen: Diese Menschen, die sich gegenArmut und Unrecht wehren, geben mir Hoffnung aufFrieden und Gerechtigkeit in Mali, nicht ein Militärein-satz, für den die eigentliche Motivation deutsche und eu-ropäische Interessen sind, die „keine unverrückbareGrenze“ kennen.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Buchholz. – Nächster Redner
in der Debatte: Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir setzen, wenn wir heute diesen Beschlussfassen, eine Ausbildungsmission der Bundeswehr inMali fort. Frau Kollegin Buchholz, ich finde, wir sollten,wenn wir hier Behauptungen aufstellen, präzise sein.Wenn es einen Kampfeinsatz der Bundeswehr gibt, dannsprechen wir von einem Kampfeinsatz der Bundeswehr;
dafür brauchen wir dann ein entsprechend robustes Man-dat, und dann sagen wir das auch. Aber hier geht es umeine Ausbildungsmission, die eine Art Grundausbildungder Streitkräfte Malis ermöglicht – nicht mehr und nichtweniger. Das Verwischen und Vermengen mit anderenEinsätzen, zum Beispiel mit MINUSMA, halte ich fürunzulässig.
Das sollten wir nicht machen. Das ist nämlich unpräzise.Die Soldatinnen und Soldaten sollten klar wissen, wassie machen und wofür sie eingesetzt werden. In diesemFall ist es die Ausbildung.
Im Übrigen: Wenn Sie einen Teil Ihres Pazifismus-gefühls, das Sie hier mitschwingen lassen, und einen TeilIhres Engagements in die Ukraine-Debatte einbringenwürden, wäre den Menschen insgesamt sehr geholfen.
Das wäre auch ein bisschen aufrichtiger.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8321
Dr. Johann Wadephul
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Wie ist die Situation? Es gibt einen schwachen mali-schen Staat, der kurz davorstand, zu kollabieren. Es gabin diesem Staat schon vorher Probleme. Schon 2012 kames zu einem Militärputsch. Es war in der Mehrheit derBevölkerung eine fehlende Akzeptanz der politischenMachtelite festzustellen. Es gab Korruption, schwacheStaatlichkeit, schwache Sicherheitskräfte. Diese Ent-wicklung hat sich fortgesetzt, als der klassische malischeKonflikt zwischen den eher nomadisch lebendenTuareg-Völkern im Norden und den Völkern im Süden,die eher sesshaft sind – diesen Konflikt gibt es übrigensschon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten –, er-neut aufgebrochen ist.Niemand in diesem Hause sagt – das tut auch dieBundesregierung in ihrem Antrag nicht –, dass durchdiese Ausbildungsmission sämtliche Probleme Malis ge-löst würden. Der Kollege Juratovic hat dankenswerter-weise den umfassenden Ansatz, den wir innerhalb derEuropäischen Union verfolgen – der größte Anteil derMittel kommt übrigens aus der Bundesrepublik Deutsch-land –, beschrieben. Natürlich löst diese Ausbildungs-mission nicht das Hungerproblem in Afrika; das hat auchniemand behauptet. Dieses Hungerproblem ist drängend.Wir alle sind aufgefordert, hier mehr zu machen. Das istunstreitig.Aber man wird die Probleme in Mali nicht lösen,wenn man hinnimmt, dass es einen weiteren gescheiter-ten Staat in dieser Region gibt. Das ist die große Gefahrfür diese Region. Diese Ausbildungsmission ist ein Bei-trag dazu – nicht der entscheidende Beitrag, aber einwichtiger Beitrag –, die Staatlichkeit Malis zu erhalten.Dazu gehört auch, dafür zu sorgen, dass der Staat in derLage ist, in einem gewissen Umfang Sicherheitskräfteund militärische Kräfte einzusetzen. Dabei helfen wirdem malischen Staat. Ich glaube, an dieser Stelle ist un-sere Hilfe richtig, notwendig und angemessen.
Eine weitere Bemerkung dazu. Wir gehen in sehr en-gem Zusammenwirken mit unseren französischen Freun-den vor. Ich bedaure, dass die Linksfraktion in vielenDebatten immer wieder auf die Vergangenheit rekurriertund meint, dass wir im deutschen Parlament in irgendei-ner Weise oberlehrerhaft über die KolonialvergangenheitFrankreichs urteilen oder sie mit diesem Thema in einenKontext stellen sollten. Das Engagement Frankreichs hatseinen historischen Ursprung natürlich in der Kolonial-zeit; das ist unbestreitbar.
Dass die französische Kultur Nordafrika nach wie vornicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch darüberhinaus so sehr prägt, dass es gar nicht zu übersehen ist,ist doch vollkommen klar. Aber Präsident Hollande hatin einer sehr glaubwürdigen Art und Weise – ich fanddas schon bemerkenswert – von „Françafrique“ Ab-schied genommen und das auch deutlich gemacht. Ichfinde, wir sollten uns als Europäer freuen, dass wir hier,untergehakt an dieser Stelle, einmal mehr gemeinsammit Paris – die ehemaligen Erbfeinde Deutschland undFrankreich Seit’ an Seit’ – sicherheitspolitische unddarüber hinaus natürlich auch wirtschaftspolitische undentwicklungspolitische Verantwortung in Afrika über-nehmen. Es ist ein gutes Beispiel für die deutsch-franzö-sische Freundschaft, dass wir an dieser Stelle zusammenwirken. Das sollten wir aus dem Grund auch unterstüt-zen.
Letztlich braucht es natürlich eine Aussöhnung inner-halb Malis. Die werden wir nicht bewirken können; aberda spielt das Auswärtige Amt – Herr Außenminister, dagilt unser ausdrücklicher Dank Ihrem Hause und allendort tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – auch imEU-Rahmen eine wichtige Mittlerrolle, eine wichtigeUnterstützungsrolle. Natürlich werden wir die militäri-schen Konflikte, die Auseinandersetzungen innerhalbMalis nicht allein mit militärischen Mitteln bewältigenkönnen. Entscheidend ist, dass es zu einer Aussöhnunginnerhalb Malis kommt, dass man sich verständigt, obund in welchem Umfange Autonomie, Selbstbestim-mung für den Norden vorstellbar ist, ohne die territorialeIntegrität und die Souveränität des malischen Staatesgrundsätzlich infrage zu stellen. Das scheint mir dieKernfrage zu sein.Man ist in Mali auf einem guten Weg, und auf diesemguten Weg sollten wir Mali begleiten. Ich appellierenochmals an Sie, dass Sie alle zustimmen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin:
Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vielleicht zunächst noch mal ein Blick zu-rück, Herr Wadephul: Der Auslöser des Zusammen-bruchs des malischen Staates war nicht der sogenanntePutsch vom März 2012. Der Auslöser war vielmehr dieRückkehr von Gaddafis Söldnern nach dem gewalt-samen Umsturz in Libyen, die aus dem unerschöpflichenWaffenarsenal mitbrachten, was sie tragen konnten.Diese hochgerüsteten Kämpfer der Tuareg trafen bei ih-rer Heimkehr auf eine anstehende Hungerkatastrophe inden vernachlässigten Gebieten im Norden Malis. DieBevölkerung war enttäuscht von der Zentralregierung;entsprechenden Zulauf hatte die separatistische Bewe-gung. Die staatliche Armee wiederum war ein armseli-ger Haufen: barfuß oder mit Turnschuhen, quasi ohneAusrüstung. Im Januar 2012 wurden 100 malische Sol-daten in ihrer Kaserne brutal massakriert – bis heute istunklar, von wem –, und die anderen verweigerten letzt-
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Katja Keul
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lich den tödlichen Dienst und machten sich auf den Wegnach Bamako, wo die Regierung sich schon vorsorglichzurückzog.Bei meiner Reise im April 2013 erklärten mir die Ver-treter der Übergangsregierung, man habe immer ge-dacht, es sei gut, die Armee möglichst schwach zu hal-ten, damit von ihr keine Gefahr ausgehe. So aber konntedas Land von einer spontanen Allianz aus kriminellenKlans, radikalen Islamisten und separatistischen Tuaregeinfach überrannt werden. Nach dieser Erfahrung wollteman doch eine Armee aufbauen, die im Notfall auch dieSouveränität des Landes verteidigen kann. Dabei werdendie Malier heute auch von Bundeswehrsoldaten – imRahmen der EU-Mission EUTM Mali, auf der Grund-lage eines umfassenden UN-Mandates – unterstützt, unddas ist gut so.
Die Ausbildung von Streitkräften ersetzt keine politi-sche Lösung – das ist keine Frage –; ohne die Durchset-zung des staatlichen Gewaltmonopols wird aber aucheine noch so gelungene politische Lösung nicht langeBestand haben. Diese Mission ist daher ein kleiner, abernicht unerheblicher Baustein auf dem Weg zum Frieden.Frieden hört sich heutzutage, wo gerade ein Staatnach dem anderen in Krieg und Chaos versinkt, fastschon an wie eine Utopie. Aber nach wie vor gibt es fürMali tatsächlich ein wenig Hoffnung. Trotz der Gewaltund der Armut hat Mali auch einige positive Vorausset-zungen für Frieden: eine gewisse demokratische Tradi-tion und eine lebhafte, aktive Zivilbevölkerung.Am Freitag erst haben sich die verschiedenen bewaff-neten Gruppen im Rahmen der Friedensgespräche inAlgier immerhin auf einen Waffenstillstand und auf ei-nen Gefangenenaustausch einigen können. Algerien hatmit seinen Vermittlungsangeboten eine hilfreiche Rollegespielt; das darf man ruhig einmal anerkennen, auchwenn man deswegen nicht gleich den Export ganzerPanzerfabriken genehmigen sollte.
Aus grüner Sicht ist das Ausbildungsmandat für Malieine geeignete Maßnahme, den Friedensprozess zu un-terstützen. Eines ist auch klar: Eine quasi nicht existenteArmee bildet man nicht in sechs Monaten und auch nichtin zwei Jahren aus. Wir haben dem Mandat von Beginnan zugestimmt und werden auch der Verlängerung undder Aufstockung dieses Mandates zustimmen.Am besten wird das staatliche Gewaltmonopol in ei-ner Demokratie langfristig natürlich von ziviler Polizeiund nicht vom Militär durchgesetzt. Deswegen ist es er-freulich, dass die EU jetzt auch die zivile Polizeiausbil-dungsmission EUCAP Sahel Mali auf den Weg gebrachthat.Damit die Bundesregierung aber nicht ganz ohne Kri-tik davonkommt, muss ich noch einmal daran erinnern,dass man auch einmal Krisenprävention betreiben kann,bevor die Konflikte eskalieren.
In Mali hat die Bundesregierung ein ganzes Jahr ver-streichen lassen, bis man sich überhaupt für den Konfliktinteressiert hat. Die Terroristen standen da schon kurzvor Bamako.Schon 2011 haben wir Grüne davor gewarnt, dassman Libyen nach dem Krieg nicht einfach alleinlassendarf. Hier hätte die internationale Gemeinschaft schonaufgrund des umstrittenen NATO-Einsatzes eine ganzbesondere Verantwortung gehabt; denn auch mit vielGeld kann man sich keine demokratischen Strukturenkaufen, wenn man vorher noch nie welche gehabt hat.Jetzt bahnt sich eine Katastrophe im Niger an. Was istdenn mit unserer zivilen Krisenprävention und mit unse-rem Frühwarnsystem? Warum gucken wir immer ersthin, wenn Mord und Totschlag auf der Tagesordnungstehen?In der letzten Woche war ich in Algier. Dort habe ichin einem Gespräch mit dem Berater des Verteidigungs-ministers, General Mekri, gefragt, was die EU aus seinerSicht tun könne, um zu verhindern, dass im Niger dasGleiche passiert wie in Mali. Seine Antwort war: Ar-mutsbekämpfung! Es sei doch absurd, dass ein Land mitso vielen Bodenschätzen derartig verarmt sei. – Rechthat der General!Armee und Polizei auszubilden, ist das eine, an einergerechten Weltwirtschaft zu arbeiten, ist das andere.
Verlieren Sie also bitte nie die Ursachen aus den Augen,während Sie die Symptome bearbeiten.Vielen Dank.
Vielen Dank, Katja Keul. – Nächster Redner in der
Debatte: Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Notwendigkeit des Einsatzes in Mali istweitgehend unumstritten – auch hier in diesem Hause.Die rechtlichen Grundlagen der Mission sind klar: dieBeschlüsse des Rates der Europäischen Union vonFebruar 2013 und April 2014 sowie verschiedene Reso-lutionen des VN-Sicherheitsrates.Trotzdem ist es keine Routine, dieses Mandat zu ver-abschieden. Das Parlament macht es sich nie leicht,wenn es darum geht, deutsche Soldatinnen und Soldatenin Auslandseinsätze zu schicken. Das zeigt auch die heu-tige Debatte.In der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 2015wird berichtet, dass Frau Buchholz sagt, sie möchtegrundsätzlich keine Auslandseinsätze und sie wolle dieBundeswehr insgesamt abschaffen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8323
Florian Hahn
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Ich muss ganz ehrlich sagen: Die Argumente, die Sie mitBlick auf Mali vorgetragen haben, sind für Sie vermut-lich nicht wirklich interessant, sondern Ihnen geht es vorallem darum, diese dogmatischen Ziele durchzusetzen.Das muss man an dieser Stelle einmal sagen.Mali ist zum Teil sehr gefährlich. Die Lage imNorden ist weiter äußerst instabil. Dort treffen unteranderem Tuareg-Rebellen, arabische Aufständische, re-gierungsfreundliche Milizen, Dschihadisten, Regie-rungstruppen und Einheiten der ParallelmissionMINUSMA aufeinander. MINUSMA hat im Jahre 201430 Soldaten verloren und ist ständig Ziel von Angriffenmit Raketen und Sprengstofffallen.Aber auch der ruhigere Süden des Landes ist nichtohne Gefahren, und der Einsatz dort ist mit vielen alltäg-lichen Strapazen verbunden. So bestand für Mali einEbolarisiko, das inzwischen Gott sei Dank wieder besei-tigt werden konnte. Malaria, Skorpionstiche und häufiggroße Hitze bei hoher Luftfeuchtigkeit sind beschwerli-che Bedingungen, und die hohen Temperaturen und derStaub belasten nicht nur die Menschen, sondern auch dasMaterial.Trotz aller Strapazen berichten die meisten Soldatensehr positiv vom Mali-Einsatz, den sie als sinnvoll er-achten und bewerten. Die Soldatinnen und Soldaten leis-ten hier einmal mehr Beeindruckendes. Dafür möchteich auch an dieser Stelle ganz herzlich Danke schön sa-gen.
Unsere Bundeswehr ist in diesem Einsatz in einegroße internationale Gemeinschaft eingebunden. Insge-samt 26 Nationen sind bei EUTM Mali vertreten. Auchkleine Partner, wie Estland und Lettland, bringen hier ih-ren Beitrag ein – genauso wie Griechenland als Teil dereuropäischen Familie.Einsätze wie EUTM Mali sind für die Weiterentwick-lung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungs-politik in Europa sehr wertvoll. Hier erweist sich, wasschon funktioniert und was nicht. Ab August soll dannDeutschland die Missionsführung übernehmen. Die Er-höhung der Personalobergrenze auf 350 Soldatinnen undSoldaten ist gerade auch deshalb sinnvoll.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sinn des Einsatzesist die Ausbildung und Beratung der malischen Streit-kräfte und Ministerien, damit die Malier die territorialeIntegrität des Landes zukünftig eigenständig sichernkönnen. Ein geordneter Neuaufbau von Sicherheitskräf-ten und Verwaltungsapparat ist Grundlage für ein gefes-tigtes staatliches System. Die EU leistet damit klassischeHilfe zur Selbsthilfe.Uns allen ist klar, dass es in Mali keine kurzfristigenErfolge geben kann. Der Kollege Dr. Brandl hat in derersten Lesung die vielschichtigen Gründe für die Kon-flikte im Norden aufgezeigt. Aber er hat zu Recht auchauf die bestehenden vorsichtigen Hoffnungszeichen hin-gewiesen, genauso wie eben die Kollegin Keul. Ich binüberzeugt, die Mission EUTM Mali trägt zur Stabilisie-rung des Landes und der Region bei. Der deutsche Ein-satz ist ein wichtiges Element dieser EU-Ausbildungs-mission. Die europäischen und die malischen Partnerbrauchen die Bundeswehr dabei. Die Übernahme derFührungsverantwortung der Mission zeigt auch dasgroße Vertrauen, das unsere Partner inzwischen in unssetzen.Natürlich werden wir nicht nur militärisch tätig. DerEUTM-Einsatz – darauf haben die Vorredner schon hin-gewiesen – ist in ein umfassendes ganzheitliches Enga-gement Deutschlands für Mali eingebunden, bei demgerade auch das Engagement in der Entwicklungszu-sammenarbeit eine elementare Rolle spielt und in Zu-kunft noch viel stärker spielen sollte.Die Verlängerung des Einsatzes bis Ende Mai 2016 istdas richtige Signal an Mali und in unserem eigenen Si-cherheitsinteresse. Ich bitte daher um Zustimmung zudiesem Mandat.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Hahn. – Die nächste Rednerin
in der Debatte ist Gabi Weber für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Schon vor einem Jahr habe ich mich an dieserStelle zur Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Aus-bildungsmission in Mali geäußert. Wenn ich mir an-schaue, was in diesem Jahr erreicht wurde, stelle ich fest:Es ist nicht alles gut, aber die Situation in Mali hat sichwesentlich verbessert und beruhigt.Die Bundesregierung ist sich der Lage in Mali und ih-rer Verantwortung für die Menschen dort nach wie vorbewusst. Daher sind wir bereit, das deutsche Engage-ment im Rahmen von EUTM Mali ab August sichtbar zuerhöhen und die Führung der Mission zu übernehmen.Für die weitere Entwicklung Malis ist am Wochen-ende ein wichtiger Schritt getan worden: Die malischeRegierung hat sich mit mehreren bewaffneten aufständi-schen Gruppen des Nordens auf Friedensverhandlungengeeinigt. Besonders strittige Fragen sind dabei die De-zentralisierung bis hin zu einer möglichen regionalenAutonomie und damit einhergehende Institutionenbil-dung.Wenn in hoffentlich wenigen Wochen ein Friedens-vertrag unterzeichnet wird, kann ein wirklicher Versöh-nungsprozess im Land beginnen. Dieser Prozess mussaber langfristig gesichert werden, besonders im Norden.Dies klappt nicht ohne ausreichend ausgebildete Kräftesowohl bei der Polizei und Gendarmerie als auch beimMilitär. Aber die entscheidende Frage ist ja immer: Istdas alles richtig und gut und im Interesse der Menschen?
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Gabi Weber
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Aus meiner Sicht kann ich sagen: Ja, ich denke, das istes.Ich möchte das ein bisschen untermauern. Laut einerUmfrage, die die Friedrich-Ebert-Stiftung im vergange-nen Herbst durchgeführt hat, ist für 85 Prozent der Ma-lier – in den nördlichen Regionen Gao, Menaka und Ki-dal sogar für 94 Prozent – die schlechte Sicherheitslagedas allergrößte Problem im Land. Die Rebellen haben imNorden Städte erobert, staatliche Gewalt zurückgedrängtund das öffentliche Leben bestimmt.Hier möchte ich jetzt ganz besonders die jungen Men-schen auf den Tribünen ansprechen. Stellen Sie sich vor,es gibt keine Schule mehr, in der Bildung vermitteltwird, keine Lehrer, die man fragen kann, keine Ausbil-dung, keine Richter, keine Polizisten, an die man sichwenden kann, wenn man in Bedrängnis gerät. Um eineweitere nachhaltige Situationsverbesserung im NordenMalis zu erreichen, ist es notwendig, die Ausbildung dermalischen Sicherheitskräfte weiter zu stärken, damit derStaat wieder für ein sicheres Umfeld für seine Bürgerin-nen und Bürger sorgen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund der geradeskizzierten Umstände überrascht es auch nicht, dass diegenannte Umfrage feststellt, dass die malische Bevölke-rung insgesamt, Nord wie Süd, Arbeitslosigkeit – 80 Pro-zent –, Korruption und das schlechte Gesundheits- undBildungssystem – über 60 Prozent – sowie, insbesondereim Norden, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit als wei-tere große Probleme identifiziert. Diese lassen sich na-türlich nicht bloß durch mehr und besser ausgebildeteSoldaten und Polizisten lösen. Hier haben wir ein Pro-blem im Bereich „gute Regierungsführung“. Der Kon-flikt, der das Land in den vergangenen Monaten und Jah-ren zu zerreißen drohte, hat hier seinen Ursprung. Somitschließt sich auch da der Teufelskreis.Um also das Grundproblem zu lösen, bedarf das Landunserer umfangreichen Unterstützung im Bereich Ent-wicklungszusammenarbeit.
Es freut mich, dass die Bundesregierung mit einer Unter-stützung für Mali in Höhe von 131,5 Millionen Euro inden letzten beiden Jahren und zusätzlich 25 MillionenEuro an Übergangshilfe diese Entwicklungszusammen-arbeit wieder aufnehmen konnte. Natürlich kann manimmer noch mehr machen. Eben ist schon der schlaueSatz gefallen: Wir müssen mehr machen. – Entwick-lungszusammenarbeit ist immer auch vorausschauendeSicherheitspolitik. Dieses Geld ist an der Stelle gut undrichtig eingesetzt.
Geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Übernahmeder Missionsführung von EUTM Mali, die Beteiligungan MINUSMA im Stab und im Bereich Logistik, einehöhere Zahl von Ausbildern in der zivilen Ausbildungs-komponente EUCAP Sahel Mali sowie eine signifikanteUnterstützung im Entwicklungsbereich, in dem BMZund Auswärtiges Amt an einem Strang ziehen, verdeutli-chen den Willen der Bundesregierung, sich hier umfas-send zu engagieren und damit auch einen Beitrag für dieStabilisierung des gesamten Landstriches zu leisten. Andieser Stelle ist auch Libyen zu nennen. Wenn wir esschaffen, mit zur Stabilisierung in Mali beizutragen,strahlt das auch mehr in andere Bereiche im mittlerenund nördlichen Afrika aus.Aus diesem Grund bitte ich Sie sehr darum, diesenAntrag zu unterstützen.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Weber.
Bevor ich dem letzten Redner in dieser Debatte das
Wort gebe, nämlich Thorsten Frei für die CDU/CSU-
Fraktion, möchte ich die Kollegen inständig bitten, Platz
zu nehmen und ihm die ihm gebührende Aufmerksam-
keit zu geben.
Und damit meine ich wirklich alle Kolleginnen und
Kollegen. Es sind jetzt noch sechs Minuten einer sehr
wichtigen Debatte, an deren Ende Sie namentlich ab-
stimmen. Deswegen: Bitte setzen Sie sich hin, und hören
Sie dem Kollegen zu. Das kann nicht schaden. Ich weiß
zwar nicht, was er sagt, aber ich sage das jetzt einfach
mal so.
Der Kollege Thorsten Frei für die CDU/CSU-Frak-
tion zum Abschluss der Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsi-dentin, ich versuche, Sie nicht zu enttäuschen.Wenn wir den Blick auf Mali richten – wir haben dasschon in einigen Beiträgen gehört –, dann sehen wir sehrviel Schatten, aber doch auch ein wenig Licht. Viel Lichtist beispielsweise die Vereinbarung der vergangenenWoche, in der immerhin sechs Kriegsparteien einenWaffenstillstand vereinbart haben. Ich weiß, dass schonzwei solcher Waffenstillstände gebrochen worden sind;aber vielleicht ist das jetzt ein erster Schritt auf dem Wegzu einem umfassenden Friedensvertrag für die Region.Licht ist auch, dass viele internationale Partner imLand sind: die Vereinten Nationen, die EuropäischeUnion, aber beispielsweise auch regionale Akteure wieECOWAS. Und ich glaube, wichtig ist auch, dass im
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8325
Thorsten Frei
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Jahr 2013 Parlamentswahlen stattgefunden haben, dieimmerhin den Weg zurück zu einer verfassungsmäßigenOrdnung gezeichnet haben.Trotzdem, meine sehr verehrten Damen und Herren,ist Mali ein gescheiteter Staat. Das zeigen gerade auchdie jüngsten Ereignisse wie die Schüsse auf UN-Blau-helme im Januar, der Rücktritt der Regierung oder auchdie Scharmützel in Tabankort.Ich bin davon überzeugt, solange die Verhältnisse sosind, wie sie sind, solange islamistische Terroristen inder Region eine Basis haben – egal ob sie al-Qaida oderAnsar Dine heißen oder wie auch immer –, solange terri-toriale politische Konflikte nicht gelöst, Versöhnungs-prozesse nicht initiiert sind, aber auch die Nahrungsmit-telversorgung nicht gewährleistet ist, so lange wird dieLage prekär bleiben.Die Mischung aus diesen unterschiedlichen Proble-men, die Gemengelage aus schwacher Staatlichkeit aufder einen Seite und inneren ethnischen, sozialen undpolitischen Konflikten auf der anderen Seite, verbundenmit islamistischem Terrorismus, der das ausnutzt, führtzu einer Situation, die nicht nur ein Land, sondern aucheine ganze Region destabilisieren kann. Ich glaube, dasist der Grund, warum wir hier weitergehen müssen aufdem Weg, den wir in den vergangenen Jahren beschrittenhaben.
Auch wenn Mali nicht im Fokus des öffentlichen In-teresses ist: Mali und die Region bleiben der südwestli-che Ausläufer des Krisenbogens rund um Europa. Des-halb ist es, glaube ich, in unserem ureigenen Interesse,die dortige Situation, die geprägt ist durch Terrorismus,Kriminalität und Verarmung, zum Besseren zu wenden.Auch wenn die Flüchtlingsströme aus der Region nichtganz so zahlreich sind wie beispielsweise aus Irak undSyrien, auch wenn uns der islamistische Terrorismusdort nicht ganz so gefährlich zu sein scheint wie der dessogenannten „Islamischen Staates“: Durch diese Regionführt eine wesentliche Route, auf der Drogen aus Süd-amerika nach Europa gebracht werden, und sie ist Kreu-zungspunkt und Schnittstelle des internationalen Waf-fenhandels und -schmuggels. Diese Erkenntnis mussdazu führen, dass wir uns in diesem Bereich engagieren.Lassen Sie mich zwei weitere Gründe benennen:Es geht auch um Glaubwürdigkeit. Deutschland warbis 2012 nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates derVereinten Nationen. Wir haben dort die Resolutionen2071 und 2085 unterstützt und die internationalen Part-ner zu Hilfe und Unterstützung aufgerufen. Wie könntenwir jetzt aufhören an einer Stelle, an der die Rahmenbe-dingungen sich noch nicht grundlegend verändert ha-ben?
Schließlich geht es auch darum, dass wir Strategienformuliert haben. Zum Beispiel haben wir einen Ak-tionsplan zur zivilen Krisenprävention verabschiedet,die Bundesregierung eine Afrika-Strategie und zusam-men mit den europäischen Partnern eine Strategie für Si-cherheit und Entwicklung im Sahelraum. All das würdenwir letztlich konterkarieren. Ich glaube, uns muss klarsein: Hier bedarf es eines langen Atems. Mali ist keinSprint. Mali ist eher ein Marathonlauf. Dazu brauchenwir den umfassenden Ansatz, den wir hier gewählt ha-ben.
Umfassender Ansatz meint erstens EUTM Mali alsAusbildungsmission für die malischen Streit- und Si-cherheitskräfte, zweitens die EU Capacity Building Mis-sion, die unter deutscher Führung mit zehn Polizistenund zivilen Instruktoren stattfindet und die wichtig ist,um Staatlichkeit aufzubauen, und drittens – auch daraufist meine Vorrednerin eingegangen – einen umfassendenentwicklungspolitischen Ansatz. Wir reden heute überden ersten Punkt. Aber alle drei Punkte sind notwendig,um den Menschen Perspektiven zu geben, um etwas ge-gen die schleichende Entstaatlichung in diesem Bereichzu tun und vor allen Dingen auch Rahmenbedingungenfür einen Aussöhnungsprozess zu liefern. Das, was wirim Bereich der Entwicklungspolitik machen, hat etwadas sechsfache finanzielle Volumen von dem, wasEUTM Mali kostet. Ich glaube, das muss man deutlichmachen, damit wir dieses Engagement nicht auf einenmilitärischen Einsatz reduzieren und auch nicht dieserEindruck entsteht.
Ganz zum Schluss möchte ich noch einen Aspekt er-wähnen und den Blick zurückwerfen in die Jahre 2012und 2013. Damals, im Herbst 2012, hat der malischePräsident die internationale Gemeinschaft um Hilfe undUnterstützung gebeten. Europa war nicht in der Lage,eine Antwort zu geben. Es ist Frankreich zu verdanken,dass der Kollaps des Landes und eine humanitäre Kata-strophe verhindert werden konnten. Ich habe große Hoff-nung, was den Europäischen Rat im Juni des nächstenJahres anbelangt, dass es tatsächlich gelingt, das Instru-mentarium, das wir zur Verfügung haben, nämlich dieEU Battlegroups, auch entsprechend zum Einsatz zubringen. Es ist schlimm, dass wir es in all den Jahren niegeschafft haben, dass das eine Zukunft hat. Eine Ge-meinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungs-politik setzt auch voraus, dass wir durch Akzeptanz undFunktionsfähigkeit den Einsatz ermöglichen.Ich bitte Sie um Zustimmung zum Antrag der Bun-desregierung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Frei. Auch vielen Dank dafür,dass Sie trotz wachsender Lärmkulisse versucht haben,Ihre Positionen differenziert wiederzugeben.Ich möchte die Parlamentarischen Geschäftsführerund Geschäftsführerinnen mit Blick auf die politische
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Vizepräsidentin Claudia Roth
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Kultur hier im Haus wirklich bitten, in ihren Fraktionennoch einmal darauf hinzuweisen, was Respekt in einerDebatte meint, insbesondere wenn es um wichtige Fra-gen geht. Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsfüh-rer und Geschäftsführerinnen, in ihren Fraktionen ein-fach noch einmal zu erörtern, wie man in Debatten mitden Kollegen und Kolleginnen respektvoll umgeht.
Wir kommen nun zur Abstimmung. Mir liegen per-sönliche Erklärungen zur Abstimmung gemäß § 31 un-serer Geschäftsordnung vor.1)Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-sache 18/4109 zum Antrag der Bundesregierung zurFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der Militärmission der Europäischen Unionals Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte,EUTM Mali. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 18/3836anzunehmen.Wir stimmen, wie Sie wissen, nun über die Beschluss-empfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Wiesieht es im hinteren Feld aus? Oben links fehlt noch eineSchriftführerin oder ein Schriftführer – und rechts auch. –Bevor nicht alle Plätze an den Urnen eingenommen wor-den sind, kann ich nicht abstimmen lassen.Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? – Gut.Das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentliche Ab-stimmung über die Beschlussempfehlung.Darf ich die Kollegen auf der rechten Seite, die nochnicht abgestimmt haben, bitten, in der Mitte abzustim-men, auch wenn es Ihnen vielleicht schwerfällt?Gibt es noch Mitglieder des Hauses, die ihre Stimm-karte nicht abgegeben haben? – Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wirdIhnen später bekannt gegeben.2)Jetzt bitte ich die Kollegen – das meine ich wirklichsehr ernst –, entweder Platz zu nehmen oder den Raumzu verlassen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags des Bundesministeriumsder FinanzenPortugal: Vorzeitige teilweise Rückzahlungder IWF-Finanzhilfe;Einholung eines zustimmenden Beschlussesdes Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 2Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismus-gesetzesDrucksache 18/40301) Anlage 22) Ergebnis Seite 8328 CNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich sage es noch einmal: Bitte nehmen Sie Platz, oderverlassen Sie den Saal. Vorher eröffne ich nicht die De-batte. Das betrifft Herrn Strobl, Herrn Gienger und FrauBrantner. Herr Strobl, könnten Sie dahinten für Ruhesorgen? – Alles klar.Das Wort hat der Parlamentarische StaatssekretärSteffen Kampeter für die Bundesregierung.
S
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für diese Eisbre-cherfunktion zur Eröffnung einer Debatte, von der ichbehaupten möchte, dass sie zu den erfreulicheren Facet-ten der europäischen Stabilisierungspolitik in dieser Wo-che zählen dürfte. Wir reden über Portugal. Die Portu-giesen haben beantragt, einen Teil ihrer aus Solidaritätund im Ausgleich gegen wirtschaftspolitische Reformenerhaltenen Kredite vorzeitig zurückzuzahlen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weißnicht, wie Sie das sehen, aber im Deutschen Bundestagund, glaube ich, auch in der europäischen Zusammenar-beit gilt: Wer einen Kredit vorzeitig zurückzahlen kannund möchte, der scheint wirtschaftlich auf einem gutenKurs zu sein. Die Zusammenarbeit zwischen Portugal,der Troika und der Euro-Gruppe ist offenkundig ein Er-folg.
Das geht nicht nur aus dem Antrag, sondern auch ausden Daten zu Portugal hervor. Portugal wächst wieder,im Übrigen stärker als der Durchschnitt der Euro-Zone.Die Arbeitslosigkeit sinkt. Sie ist immer noch zu hoch,aber die Richtung stimmt. Die Beschäftigung nimmt zu,und die Arbeitslosigkeit sinkt.Die Wettbewerbsfähigkeit der portugiesischen Volks-wirtschaft gemessen an den Lohnstückkosten verbessertsich. Infolgedessen ist das enorme Leistungsbilanzdefi-zit, das vor einigen Jahren noch ein Indikator für diemangelnde wirtschaftspolitische und wirtschaftliche Per-formance der Portugiesen war, nahezu ausgeglichen.Das Vertrauen der Märkte, also der Geldgeber, diePortugal anstelle der europäischen Steuerzahler Geld lei-hen mögen, ist zurückgekehrt. Das ermöglicht diese ent-sprechende Entwicklung.Portugal unterscheidet sich von anderen Ländern,über die wir in diesen Tagen diskutieren, auch dadurch,dass die portugiesische Finanzministerin, MariaAlbuquerque, bei ihrem Besuch in Deutschland in dervergangenen Woche ein klares Bekenntnis geleistet hat.Nicht nur, dass sie alles zurückzahlen möchte, was wirauf europäischer Ebene den Portugiesen zur Verfügunggestellt haben, sondern sie hat auch ein klares Bekennt-nis geliefert, dass sie die wirtschaftspolitischen Refor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8327
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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men, die auch für Portugal schmerzhaft waren und Opfergefordert haben, fortsetzt, weil sie gut für Portugal undgut für Europa sind. Das ist eine gute Botschaft.
Wenn Portugal nun einen Teil seines IWF-Kredits –es geht hier immerhin um rund 14 Milliarden Euro – we-gen aktuell günstiger Finanzierungsbedingungen zurück-zahlen will, sollten wir uns diesem Anliegen positiv nä-hern, und zwar in dem Sinne, wie es die charmantePräsidentin gesagt hat, nämlich indem wir gemäß § 3Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusge-setzes die Zustimmung des Deutschen Bundestages füreine entsprechende Vereinbarung mit den Portugiesenherbeiführen. Diese Zustimmung ist vor allen Dingendeswegen notwendig, weil Portugal von der sogenanntenParallelitätsklausel für die vorzeitige Tilgung von Darle-hen der EFSF abweichen will. Diese Abweichung be-deutet – das will ich in aller Klarheit sagen –, dass Portu-gal seine IWF-Kredite teilweise vorzeitig tilgen kann,ohne dass die EFSF eine vorzeitige Rückzahlung ihrerKredite verlangt.Wenn ich sehe, dass der Teil der Kredite, den wir vonder Parallelitätsklausel ausnehmen, teilweise doppelt sohoch verzinst wird wie unter derzeitigen finanzmarkt-wirtschaftlichen Bedingungen, kann ich den Antrag Por-tugals unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten völlignachvollziehen. Damit erhöht sich die Schuldentragfä-higkeit Portugals und steigt die Wahrscheinlichkeit, dassauch die anderen Kredite ordnungsgemäß und vollstän-dig im Rahmen des Zeitplans bedient werden.Vor diesem Hintergrund bittet die Bundesregierungdurch den Bundesfinanzminister um Ihre unmittelbareZustimmung zu dieser Änderung der Vereinbarung mitPortugal. Wenn Sie zustimmen, signalisieren Sie Res-pekt vor dem erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kursder portugiesischen Regierung, die aus einer schwä-chelnden wieder eine wachsende Volkswirtschaftgemacht hat. Sie erleichtern die weitere finanz- und wirt-schaftspolitische Erholung Portugals, wenn Sie gestat-ten, dass die teuren Teile der Kredite ausgegliedert wer-den. Mit Ihrer Zustimmung geben Sie ein Signal, dasnicht nur in Portugal vernommen wird: Anstrengungenund Reformen lohnen sich. – Wachstum und wirtschaft-liche Leistungsfähigkeit sind Indikatoren, die Europa zu-sammenhalten. Sie unterstützen eine Regierung, die ih-ren Reformkurs fortsetzen möchte und zu ihrenVerpflichtungen steht. Die portugiesische Regierungsagt Ja zu Reformen und Ja zu Europa.
Vielen Dank, Steffen Kampeter. – Nächster Redner in
der Debatte ist Richard Pitterle für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Die Finanzkrise hat Portugalschwer getroffen. Das Land musste sich vor vier Jahrenunter das Diktat der Troika begeben und hat 78 Milliar-den Euro als Kredit aufgenommen, jeweils zu einemDrittel beim Internationalen Währungsfonds, IWF, undden beiden europäischen Institutionen EFSF und EFSM.Inzwischen konnte sich das Land wegen der niedrigenZinsen am Kapitalmarkt günstig refinanzieren. Daherwill Portugal einen Teil der aufgenommenen Kreditevorzeitig tilgen, und zwar nur die vom IWF, weil das ammeisten Zinsen spart. Laut Vereinbarung zu den Finanz-hilfen darf Portugal die Kredite aller Gläubiger aber nurgleichzeitig anteilig tilgen und stellt deshalb den Antragauf Ausnahme von dieser Regel. Ich kann Ihnen gleichsagen: Die Fraktion Die Linke wird hier zustimmen, da-mit Portugal wenigstens etwas mehr finanziellen Spiel-raum erhält.Feierlaune ist dennoch völlig fehl am Platz; denn vonden angeblich positiven Wirtschaftsdaten hat die großeMehrheit der Portugiesinnen und Portugiesen nichts. ImGegenteil: Es ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen inPortugal, wenn nun im Hinblick auf Griechenland vomBundesfinanzminister behauptet wird, am Beispiel Por-tugals zeige sich der Erfolg des maßgeblich von derBundesregierung vorgegebenen Radikalsparkurses inEuropa. Meine Damen und Herren von der Regierungs-koalition, empfinden Sie es als Erfolg, dass sich die Le-bensbedingungen für die Menschen in Portugal drastischverschlechtert haben? Empfinden Sie es als Erfolg, dassüber 2 Millionen Portugiesinnen und Portugiesen, fastein Viertel der Bevölkerung, in Armut oder knapp an derGrenze dazu leben? Empfinden Sie es als Erfolg, dass inPortugal eine Jugendarbeitslosigkeit von über 34 Prozentherrscht und somit jeder dritte junge Mensch keinen Jobhat? Empfinden Sie es als Erfolg, dass über 300 000 Por-tugiesinnen und Portugiesen auf der Suche nach Arbeitund einer Lebensperspektive das eigene Land verlassenmussten? Wer angesichts dieser Zahlen noch von Erfolgspricht, sollte sich in Grund und Boden schämen.
Was haben die portugiesischen Regierungen nicht al-les gemacht, um dem Spardiktat nachzukommen? Ge-hälter im öffentlichen Dienst und Renten wurdengekürzt, Sozialleistungen wurden gestrichen, auf Ar-beitslosen- und Krankengeld wurden Steuern erhoben.Einige dieser Maßnahmen waren sogar so drastisch, dasssie vom portugiesischen Verfassungsgericht kassiertwurden. Begründung: Die Belastungen der Krise warenungleich verteilt.Jetzt dürfen Sie raten: Wen haben all diese Maßnah-men vor allem getroffen? Richtig, die mittleren und un-teren Einkommensschichten. Es ist und bleibt einfacheine Schande, dass sich Lehrerinnen oder Handwerkerinzwischen bei der Armenküche anstellen müssen, wäh-rend die Reichen und Vermögenden wieder einmal unge-schoren davongekommen sind.
Seit dem letzten November sitzt ein Erfüllungsgehilfeder Troika-Politik, der frühere sozialdemokratischeMinisterpräsident Sócrates, im Knast. Die Ermittlungenwerden wegen Steuerhinterziehung, Geldwäsche und
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8328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Richard Pitterle
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Korruption geführt. Das Gleiche gilt für den Chef der in-solventen Bank Espírito Santo. Die herrschenden ElitenPortugals haben das Land, wie auch die Eliten in Grie-chenland, unter Aufsicht der Troika ausgeplündert. VielePortugiesinnen und Portugiesen fühlen sich deshalb be-trogen – und das völlig zu Recht.Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Re-gierungskoalition: Wieso lassen Sie zu, dass so vieleMenschen ihrer Lebensperspektiven beraubt werden?Warum werden die Vermögenden, die, die es sich leistenkönnten, nicht stärker zur Kasse gebeten?
Wenn die Kredite an die Krisenländer schon an Aufla-gen geknüpft sind, warum nicht an die Auflage, die Rei-chen und Superreichen angemessen an den Krisenkostenzu beteiligen?
Im Herbst wird in Portugal gewählt. Da kann man fürPortugal nur „mais CDU“ hoffen, übersetzt: mehr CDU.Aber bevor Sie auf der rechten Bank frohlocken: CDUist das Wahlbündnis der portugiesischen Kommunistin-nen und Kommunisten und der portugiesischen Grünen,dem ich als führende Kraft gegen die Austeritätspolitik,also gegen die Politik des Sparzwangs und der Verar-mung, mehr Einfluss in Portugal wünsche,
damit sich endlich auch für die breite Masse der Bevöl-kerung, für die Krankenschwester oder den Angestelltenim öffentlichen Dienst etwas zum Guten ändert.Vielen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen jetztdas von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit-telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung be-kannt: abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben 516 Kol-leginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 61, und dreiKolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Die Be-schlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davonja: 516nein: 61enthalten: 3JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. André BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachDr. Bernd FabritiusHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufJosef GöppelReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichUda HellerJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannThorsten Hoffmann
Karl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesAnette HübingerHubert HüppeSylvia JörrißenAndreas JungDr. Franz Josef JungXaver JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberKordula KovacGunther KrichbaumRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Silke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas Lenz
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Philipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinJulia ObermeierWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferEckhard PolsKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Ronja Schmitt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblKarin StrenzThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Hans-Peter UhlDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenKai WegnerAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtWaldemar WestermayerKai WhittakerAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannTobias ZechHeinrich ZertikEmmi ZeulnerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertDr. Karl-Heinz BrunnerMarco BülowMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Daniela De RidderDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannSiegmund EhrmannMichaela EngelmeierDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeUlrich FreeseDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterAngelika GlöcknerKerstin GrieseMichael GroßUli GrötschWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannDirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzJosip JuratovicThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastHilde MattheisDr. Matthias MierschKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerDetlef Müller
Michelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild Rawert
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Gerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne SchiederDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Dagmar Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerChristian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerNicole MaischIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Elisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerBeate Walter-RosenheimerDr. Valerie WilmsNeinSPDKlaus BarthelDr. Ute Finckh-KrämerCansel KiziltepeWaltraud Wolff
DIE LINKEDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatNorbert Müller
Dr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauRichard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPeter MeiwaldCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenCDU/CSUDr. Matthias ZimmerSPDPetra Hinz
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMonika LazarWir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kol-legin Bettina Hagedorn für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Es war gerade so viel von Diktat und von Zwangdie Rede. Ich will wieder auf den eigentlichen Ge-sprächsgegenstand zurückkommen. Es handelt sich hierum einen Antrag, einen selbstbestimmten Antrag, vonPortugal, und wir müssen dem Antrag zustimmen, weilwir die parlamentarische Beteiligung in Europa sehrernst nehmen und unsere Regierung dem Antrag nur zu-stimmen kann, wenn wir zugestimmt haben.Portugal hat beantragt, die Hälfte des IWF-Kreditsvorzeitig zurückzahlen zu können. Das haben die Irenmit unserer Zustimmung im Herbst 2014 genauso ge-macht. Dadurch könnte Portugal in den nächsten Jahren490 Millionen Euro Zinsen sparen. Die Tragfähigkeitder öffentlichen Finanzen ist schon von anderen attes-tiert worden, was für uns eine wichtige Botschaft ist.Ich will das nur einleitend sagen, weil das der eigent-liche Gegenstand ist, wobei ich, soweit ich das erkennen
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Bettina Hagedorn
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kann, sagen darf, dass die Zustimmung zu dem Antragweitestgehend unumstritten ist. Das gibt mir aber Gele-genheit, auf etwas anderes aufmerksam zu machen. Da-durch finden Sie, Herr Kollege von den Linken, viel-leicht eine Lektüre, um sich objektiv über die Sachlagezu informieren.Ich spreche von dem Bericht über die Reise einer De-legation des Haushaltsausschusses vom 16. bis 21. Sep-tember 2012 nach Spanien und Portugal. Zwei Jahre vor-her gab es, übrigens mit den gleichen Programmpunkten,eine Reise nach Athen. Auf beiden Reisen haben Ge-spräche der Haushaltsausschussmitglieder unter denAspekten „Auflagen als Reaktion auf die Finanz- undWirtschaftskrise“, „Reformanstrengungen“, „Auswir-kungen auf die Menschen vor Ort“ und „Belastbarkeitder Prognosen“ stattgefunden.Ich möchte hier darauf hinweisen, dass alle im Haus-haltsausschuss vertretenen Fraktionen die Gelegenheithatten, daran teilzunehmen; ich war in beiden Fällen dieDelegationsleiterin. Die Linken haben weder an derReise nach Athen noch an der Reise nach Madrid undLissabon teilgenommen.
Eigentlich schade; denn sonst hätten sie vielleicht dieGelegenheit genutzt, eine andere Rede zu halten.
Im Hinblick auf die Reise nach Portugal und Spanien– darum geht es in diesem Bericht – ist mir eins wichtig:Unsere Delegation – sie war hochrangig besetzt; die da-malige Haushaltsausschussvorsitzende, Frau Merkel,war dabei ebenso wie der Rechnungsprüfungsausschuss-vorsitzende, Herr Luther von der CDU/CSU, aber auchPriska Hinz, die damalige haushaltspolitische Sprecherinder Grünen, nahm teil – zog als Fazit dieser Reise – wirhaben es miteinander abgestimmt und haben es alle ge-meinsam getragen; ich lese einige Sätze daraus vor –:Die Delegation ist insgesamt besorgt, dass die na-tionalen Regierungen in beiden Ländern bei Abge-ordneten, Sozialpartnern wie Bevölkerung den Ein-druck erwecken, dass alle Reformen en détail vonEuropa/der Troika vorgeschrieben seien und damitEuropa – und nicht sie selbst – für eventuelle so-ziale Unausgewogenheiten verantwortlich seien.
Die Delegation machte gemeinsam deutlich, dassdie verabredeten Konsolidierungsziele im Umfangzwar verbindlich seien, der eingeschlagene Wegdorthin aber stets Ausdruck einer souveränen Na-tionalregierung sei und keinesfalls ein Diktat ausEuropa darstelle. Europa dürfe bei den Menschennicht als „Sündenbock“ für notwendige Reformpro-zesse diskreditiert werden – sonst laufe man Ge-fahr, dass Europamüdigkeit und Nationalismus beiden frustrierten Bürgern verstärkt würden.
Das ist aber noch nicht alles, was ich hier vortragenwill. Denn die Reise nach Madrid und Lissabon hat un-sere Delegation veranlasst, zu sagen: Unterschiedlicherkönnen sich zwei Regierungen diesen Herausforderun-gen eigentlich kaum stellen. Wir waren eindeutig sehrbegeistert davon, wie die portugiesische Regierung mitden Herausforderungen umgegangen ist. Ein Beispiel:Als wir dort ankamen, erlebte sie gerade große Demon-strationen. Man muss wissen: Die Portugiesen gehennicht so leicht auf die Straße; sie demonstrieren eher sel-ten. Bei diesen Demonstrationen ging es darum, dass dieRegierung, nachdem das Verfassungsgericht bestimmteMaßnahmen unmöglich gemacht hatte, neue Vorschlägezulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer undder Rentner vorgeschlagen hatte. Das hat diese De-monstrationen provoziert.
– Hören Sie doch einfach einmal zu.Jetzt zitiere ich wieder etwas:Bei dem Vergleich beider Länder war die Delega-tion von der Konsensorientierung und ernsthaftenBereitschaft zur Mitverantwortung auch für un-populäre Maßnahmen bei Sozialpartnern ebensowie bei der großen Oppositionspartei in Portugalpositiv überrascht. PM Passos Coelho hat diesenpositiven Eindruck nach Rückkehr der Delegationnach Deutschland dadurch bestätigt, dass er – be-eindruckt von den anhaltenden Demonstrationen –seine neuen Sparvorschläge teilweise zurückge-nommen und durch Steuererhöhungen ersetzt hat,die offenbar der Konsensfindung und Aufrechter-haltung des Sozialen Dialoges dienen sollen.Ein Ergebnis unserer Reise war: Der Soziale Dialogist in Ländern wie Spanien ein traditionell vorhandenesInstrument. In den damit verbundenen Prozess werdenArbeitnehmer, Arbeitgeber, aber auch Oppositionspar-teien eingebunden. Dergleichen gibt es auch in Portugalbis heute. Das hat eine im Hinblick auf Konsensorientie-rung wichtige Rolle gespielt. Dieses Instrument habendie Spanier unter dem jetzigen Ministerpräsidentenabgeschafft. Angesichts der in Spanien sehr wohl zubeobachtenden Radikalisierung können wir hier gemein-sam das Fazit ziehen: Das Ziel ist, die Konsolidierungs-vorgaben zu erreichen. Alle angesprochenen Länder sindda durchaus auf einem beachtlichen und guten Weg. WasPortugal ganz offensichtlich auszeichnet, ist, dass es da-bei wichtige gesellschaftliche Partner mitgenommen hat.Darum will ich hier von ganzem Herzen sagen: Wirals SPD sagen Ja zu dem Antrag Portugals, und wir drü-cken den Portugiesen die Daumen, dass sie auf diesemWeg weitergehen und bei diesen Reformanstrengungenauch den sozialen Frieden in ihrem Land wahren kön-nen.Vielen Dank.
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8332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
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Das Wort hat der Kollege Sven-Christian Kindler fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich zu sa-gen: Dieser Antrag ist richtig. Wir Grüne werden ihmheute hier im Plenum zustimmen. Wir haben das im letz-ten Oktober auch mit Irland so gemacht: vorzeitigeRückzahlung der IWF-Kredite, dafür eine bessereMarktfinanzierung von Irland. So soll das jetzt auch imFall Portugals geschehen mit dem Ziel, Zinszahlungenzu sparen und die Schuldentragfähigkeit zu verbessern.Das ist richtig. Das macht ökonomisch Sinn. Das machthaushalterisch Sinn. Dadurch gibt es Spielräume imHaushalt, auch um Zukunftsinvestitionen zu finanzieren.Aber klar ist: Erstens. Natürlich ist dieser Spielraumbegrenzt und reicht nicht. Zweitens. Das ist für die wirt-schaftliche Erholung in Portugal zu wenig, aber auchinsgesamt für Europa zu wenig. Für uns als Grüne ist ei-gentlich klar: Wir brauchen mehr Investitionen; wirbrauchen jetzt nicht nur für Portugal, sondern für ganzEuropa eine soziale, eine ökologische Investitionsstrate-gie.
Konkret noch einmal zu Portugal. Es ist richtig: Esgab ökonomische Verbesserungen. Das zeigt jetzt derRückzahlungsantrag von Portugal. Die Marktfinanzie-rung ist besser, wobei das viel mit der Politik der EZB zutun hat; das muss man wissen. Es gibt eine leichte Ver-besserung der wirtschaftlichen Lage in Portugal, obwohlsie sehr fragil ist. Es gab 2013 und 2014 einen leichtenPrimärüberschuss im Haushalt. Portugal hat das Anpas-sungsprogramm verlassen. Das alles sollte man anerken-nen; das machen wir auch.Herr Staatssekretär Kampeter, Sie haben gerade voneinem Erfolgskurs geredet. Ich finde, es gibt hier keinenGrund zum Jubeln, auch keinen Grund, die Lage jetztschönzureden. Die Armut in Portugal ist immer nochsehr groß. Die Armenküchen in Lissabon und Porto ha-ben riesigen Zulauf, werden überrannt. Ich finde, dasdarf man nicht verschweigen. Man darf die Lage, diegroße Armut in Portugal, nicht schönreden.
Es ist richtig: Die Arbeitslosigkeit sinkt nach offiziel-len Zahlen in Portugal. Aber der Gewerkschaftsverbandin Portugal geht davon aus, dass die reale Arbeitslosig-keit inzwischen eigentlich bei 25 Prozent liegt, weil esviele Scheinselbstständige gibt, weil sich viele Men-schen gar nicht mehr arbeitslos melden, weil sie dieHoffnung verloren haben, weil es zum Teil sinnloseFortbildungskurse gibt, in denen Menschen geparkt wer-den, und auch weil es eine hohe Auswanderung gibt. Je-des Jahr verlassen 100 000 Portugiesen das Land. Ge-rade viele junge Menschen wandern aus, weil sie keinePerspektive, keine Chancen in Portugal sehen. Manspricht dort schon von einer verlorenen Generation. DenAusdruck „verlorene Generation“ kennen wir nicht nuraus Portugal, sondern auch aus Irland, aus Italien, ausSpanien, aus Griechenland. Man muss sagen: Es ist lei-der ein Armutszeugnis für Europa, dass wir so viele per-spektivlose junge Menschen haben. Das muss sich drin-gend ändern. Wir dürfen in Europa keine verloreneGeneration zulassen.
Ich finde, man darf jetzt nicht nur über Portugal re-den. Große Armut, große Arbeitslosigkeit, hohe Schul-denquoten durch die Banken- und Euro-Krisen inEuropa – das ist nicht nur ein spezifisches Problem vonPortugal; das gibt es in mehreren Ländern.Wenn man das einmal mit der Entwicklung in denUSA seit der Krise vergleicht, dann sieht man, dass inden USA die Arbeitslosigkeit halb so hoch ist, dass mandort bessere Wachstumszahlen und geringere Schulden-quoten hat – bei einer lockeren Geldpolitik und einerlockeren Fiskalpolitik. Ich finde, das zeigt, dass die Aus-teritätspolitik, die die deutsche Bundesregierung maß-geblich vorangetrieben hat, eigentlich im Kern geschei-tert ist und wir jetzt einen Kurswechsel für mehrGerechtigkeit in Europa und für mehr Investitionen inEuropa brauchen.
Mehr Investitionen in Europa, gerade in Zukunftsbe-reichen, in die Energieeffizienz, in erneuerbare Ener-gien, in den Klimaschutz, aber auch in Bildung, in jungeMenschen, muss man nicht unbedingt dadurch finanzie-ren, dass man neue Schulden macht; man kann sie auchdadurch finanzieren, dass man zum Beispiel an umwelt-schädliche Subventionen in Deutschland und Europarangeht oder dass man die Einnahmeseite verbessert. DieEuropäische Kommission schätzt, dass jedes Jahr 1 Bil-lion Euro, also 1 000 Milliarden Euro, an Steuern hinter-zogen werden, häufig auch vermieden werden, meist le-gal. Deswegen, finde ich, muss klar sein, dass zumBeispiel die Skandale, die es um Steuerhinterziehunggibt, jetzt in Luxemburg, bei der Commerzbank, vollund rücksichtslos aufgeklärt werden müssen.
Gleichzeitig ist klar: Dieses Geld brauchen wir drin-gend für Zukunftsinvestitionen in Europa. Wir brauchenendlich einen europäischen Steuerpakt, der Steuerhinter-ziehung konkret angeht; denn das ist ein Angriff auf dasGemeinwohl. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.
Das Überschuldungsproblem, das wir in Europahaben, müssen wir im gesamteuropäischen Kontext dis-kutieren. Da kann man nicht immer nur über einzelne
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8333
Sven-Christian Kindler
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Länder diskutieren. Wir brauchen große Lösungen. Wirhaben in der Währungsunion gemeinsame Regeln zurHaushaltspolitik. Wir müssen uns auch darüber unterhal-ten, warum wir keine gemeinsamen Regeln bei denSchulden haben und wie wir mit Schulden, konkret mitdem Zins und der Finanzierung, umgehen. Wir braucheneinen Altschuldentilgungsfonds, wie ihn der Sachver-ständigenrat vorgeschlagen hat. Dort legt man gemein-same Regeln für einen Abbaupfad fest, aber auch für diegemeinsame Finanzierung von Schulden. Zugegeben:Momentan sind die Zinsen in Europa wegen der EZB-Politik sehr niedrig. Mittelfristig wird das hoffentlichnicht so bleiben, weil sich die Lage wieder stabilisiertund erholt. Dann brauchen wir gemeinsame Regeln. DerAltschuldentilgungsfonds ist dafür ein vernünftiger Vor-schlag.
Kollege Kindler, auch wenn vor Ihnen aufleuchtet,
dass der Präsident etwas von Ihnen möchte, so macht Sie
die Präsidentin jetzt darauf aufmerksam, dass Sie zum
Schluss kommen müssen und einen Punkt setzen müs-
sen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Wenn
man über Schulden redet, muss man auch über Vermö-
genskrisen und Schuldenkrisen reden. Das heißt man
muss einen Altschuldentilgungsfonds vernünftig finan-
zieren. IWF und Bundesbank schlagen zum Beispiel
Vermögensabgaben vor. Das ist ein richtiger Vorschlag,
um das Überschuldungsproblem in Europa anzugehen;
denn auch hier brauchen wir Gerechtigkeit bei der Fi-
nanzierung.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Volkmar
Klein das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dass wir diese Debatte führen und eine Ent-scheidung zu treffen haben, illustriert vor allen Dingennoch einmal die weitgehenden Rechte, die wir uns alsDeutscher Bundestag vorbehalten haben. Das Stabilisie-rungsmechanismusgesetz macht dieses nötig, weil es umeine Veränderung der Regeln geht, völlig unabhängigdavon, dass es in diesem Fall zu einer Verbesserung füralle kommt. Für uns besteht die Verbesserung darin, dassunser Risiko sinkt, die spürbarsten Verbesserungen erle-ben aber die Menschen in Portugal. Spielräume, die sichdie Menschen in Portugal unter Führung einer guten Re-gierung hart erarbeitet haben, können hier identifiziertund genutzt werden. „Das lohnt sich“ ist eine der wichti-gen Botschaften.
Deshalb sind die Zinseinsparungen in Höhe von490 Millionen Euro, über die wir jetzt reden, wirklichder Ausweis eines großen Erfolges: zum einen fürPortugal, zum anderen aber auch für unsere Euro-Politik.Natürlich ist das auch mit schweren Entscheidungen, diein Portugal zu treffen waren, verbunden gewesen. Aberlasst uns doch einmal zurückschauen. Ohne das Pro-gramm, das wir 2011 beschlossen haben, wäre Portugaldoch nach Jahren sozialistischer Misswirtschaft insol-vent und am Ende gewesen.
Genau in diesem Fall wären die Folgen erst recht die-jenigen gewesen, die wir eben an die Wand gemalt be-kommen haben: Renten ausgefallen, Löhne reduziert.Vor allen Dingen wäre Portugal – insofern war es auchunser Interesse –, aber möglicherweise auch der RestEuropas, in eine schwere Krise der Realwirtschaft gefal-len. Das hatten wir kurz vorher noch beim Fall LehmanBrothers erlebt. Dort war es weniger wahrscheinlich alsbeim Ausfall eines Landes. Deswegen war es im Inte-resse der Menschen in Portugal, aber auch, um Krisenfür uns zu vermeiden, richtig, dass dieses Programm2011 in Höhe von 79,5 Milliarden Euro beschlossenwurde, an dem sich mit 27,5 Milliarden Euro – umge-rechnet nach heutigen Werten – der IWF beteiligt hat.2014 wurde dieses Programm abgeschlossen. Portu-gal hat sich stabilisiert, hat sich besser entwickelt, hat2014 sowohl bei der Beschäftigung als auch beimBruttoinlandsprodukt deutlich zugelegt. Das Vertrauenist zurückgekehrt. Das wird durch die Zinsentwicklungan den Märkten gespiegelt. Genau das ermöglicht esjetzt, die IWF-Gelder früher als geplant zurückzuzahlen;denn der IWF verlangt über 4 Prozent Zinsen für dieoberste Kreditmarge. Stattdessen kann sich Portugalheute am Markt sehr viel günstiger finanzieren. Dasführt zu einer Einsparmöglichkeit von möglicherweise490 Millionen Euro, und zwar deswegen, weil es dieNominalwerte verteilt über die künftigen Jahre sind.Man könnte es vielleicht diskontieren. Das wäre dannein etwas niedrigerer Betrag.Auf der anderen Seite wird in diesem Antrag miteinem neuen, quasi an den Märkten zu realisierendenRefinanzierungszins in Höhe von 2,64 Prozent kalku-liert. Die tatsächliche Rendite für zehnjährige portugiesi-sche Staatsanleihen liegt aber heute bei rund 2,0 Prozent.Das heißt, eventuell ist die Einsparung für Portugal so-gar noch deutlich höher. Das schafft zusätzliche Spiel-räume gegenüber den bisherigen Plänen.Wir müssen dem zustimmen, weil es ein Absehen vonder Parallelitätsklausel ist, von der wir eben schon ge-hört haben. Diese Klausel war damals, 2011, wirklichwichtig, weil sichergestellt werden sollte, dass – erstens –alle an Bord bleiben und sich – zweitens – nicht dasRisiko für die Zurückbleibenden erhöht.
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8334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Volkmar Klein
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Erstens. Dass alle an Bord bleiben, ist sichergestellt.Die Hälfte der IWF-Kredite wird zwar getilgt; aber derIWF bleibt automatisch an Bord, solange die Kredite fürein Land mehr als 200 Prozent der eigenen Beitrags-quote betragen. Das heißt, der IWF bleibt dabei.Zweitens. Das Risiko für die Verbliebenen wird nichtgrößer. Im Gegenteil: Die jetzt nicht mehr zu leistendenZinszahlungen sorgen natürlich dafür, dass die Schul-dentragfähigkeit Portugals steigt und damit unser Risikosinkt.Daher ist die Entscheidung klar: Wir stimmen diesemAntrag zu. Nach einer ähnlichen Entscheidung zu Irlandim vergangenen Jahr, meine Damen und Herren, ist dasein weiterer Meilenstein erfolgreicher Euro-Politik.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ewald Schurer für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Entscheidendist, dass Portugal in der Tat in der Lage ist, sich wiederam Kapitalmarkt zu vernünftigen, bezahlbaren Bedin-gungen zu refinanzieren; darauf hat StaatssekretärKampeter richtigerweise hingewiesen. Portugal kann essich jetzt im Prinzip leisten, mit leichten wirtschaftlichenGewinnen den teuersten der drei Kredite, nämlich dendes IWF, vorzeitig über 30 Monate hinweg zu tilgen.Das ist ein gutes Zeichen. – Das war der erste Punkt.Zweiter Punkt. Wir diskutieren manchmal ein biss-chen im luftleeren Raum. Man darf eine Analogie nichtvergessen. Wir reden morgen über Griechenland. Dortgab es von 1967 bis 1974 angesichts der schweren Aus-wirkungen des Zweiten Weltkrieges – das ist auch un-sere Verantwortung – ein Obristenregime. Portugal hattebis 1974 ein faschistoides Regime. Darin liegt die Ana-logie. Wir wissen aus der Wirtschaftswissenschaft undaus der Praxis, dass Länder, in denen lange Zeit keinezivilen Kräfte regieren, bei den Investitionen im öffentli-chen Sektor wie auch im privaten Sektor schlecht daste-hen. Dies hat die beiden Länder sicherlich schwer ge-troffen. Da haben sich die Potenziale einer sozialenMarktwirtschaft nicht wirklich entwickeln können.Der nächste Punkt. Die Weltwirtschaftskrise von2008 – erst einmal die Finanzkrise, in der Folge dieWirtschaftskrise – hat den Ländern, die eh schon riesigestrukturelle Defizite hatten, auf brutale Weise – in einerArt Reality Check – gezeigt, wo sie stehen. Sie sinddann besonders hart getroffen worden. Insofern sind dieKritiken, zum Beispiel die Einlassungen des KollegenKindler, ein Stück weit richtig. Da wurde dann so hartgespart – in Portugal hat es zu einer Korrektur durch dasdortige Verfassungsgericht geführt –, dass man schonsagen muss: Man sollte mit einer gewissen Nachdenk-lichkeit über dieses Thema diskutieren. Insofern werdenkritische Sequenzen von mir durchaus anerkannt.Jetzt geht es darum: Portugal hat sich jetzt ein Stückweit erholt; ich würde das gern auch über Griechenlandsagen können. Wenn man die Makroökonomie Portugalsbetrachtet, dann erkennt man, dass es bisher vor allenDingen Zuwächse in der Binnenwirtschaft gibt, weil dieKaufkraft im Lande gestiegen ist.Im Übrigen ist Folgendes interessant: Weil Portugalimmer noch Probleme bei der Wettbewerbsfähigkeitinnerhalb der EU hat, hat das Land versucht, die altenKolonialstrukturen zu restrukturieren und zum Beispielmit Brasilien mehr Handel zu betreiben. Portugal hatversucht, darüber kleine Vorteile zu akquirieren. Das istdem Land in bedingtem Maße gelungen; das ist interes-sant. Es hängt also mit der Binnenkonjunktur und mitden alten Strukturen der Kolonialwelt zusammen, die– wie alle kolonialen Strukturen – nicht sehr schiedlich-friedlich und demokratisch waren.Noch immer – lieber Steffen Kampeter, das wissenwir – leidet Portugal darunter, dass seine Konkurrenz-fähigkeit innerhalb der EU nicht optimal ist. Um es ganzvorsichtig zu sagen: Portugal hat, was Produktivität an-geht, viel aufzuholen.Wenn junge Leute mit einer Ausbildung – was wirnicht wollen – das Land verlassen, ist das für dieZukunftsfähigkeit dieses Landes nicht gut. Deswegensind diese Zeichen, die jetzt im Hinblick darauf gesetztwerden, dass man sich wieder selbst entschulden kann,verdammt wichtig für die Psychologie und – wie es derHerr Staatssekretär gesagt hat – das Vertrauen. Insofernist es auch wichtig für die Fähigkeit, im Land zu inves-tieren.Im Rahmen des 300 Milliarden-Euro-Plus-Programms,das in Brüssel mit unserer Hilfe konstruiert und gezeich-net wird – das müssen sowohl die Bundesregierung alsauch Union und SPD beachten –, muss ganz gezielt –auch das hat der Kollege Kindler angesprochen – inves-tiert werden. Es muss in neue Projekte und Wertschöp-fungen investiert werden, um Chancen gerade für diejunge Generation zu eröffnen, damit deren Angehörigewieder im Lande bleiben können.Was Bildung und Ausbildung anbelangt, wäre unserdualer Weg, bei dem sich die Sozialpartner, die Gewerk-schaften und die Arbeitgeber auf belastungsfähige Kon-strukte einigen, von größter Wichtigkeit. Wir solltennicht nur klagen, sondern sagen: Junge Menschen brau-chen eine profunde Berufsausbildung, damit sie imLande investieren können. – Das sind für mich die ganzgroßen Projekte, um die es an der Stelle geht.
– Herzlichen Dank! – Meine letzte Aussage lautet: Es istein guter Deal, dass EFSF und EFSM der Konstruktionzustimmen, sodass innerhalb von 30 Monaten im Rah-men der einzelnen Teilschritte der Tilgung eine halbeMilliarde Euro gespart werden kann. Wenn diese halbeMilliarde Euro in wirtschaftliches Leistungsvermögen
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Ewald Schurer
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investiert werden würde, wären wir schon wieder aufdem richtigen Weg.Insgesamt kann und muss man sagen: Portugal hatjetzt wirklich das Schlimmste hinter sich. Es ist in derLage, sich wieder ein Stück weit frei zu refinanzieren. Esgibt die Hoffnung, dass die Europäische Union und wirmit unserer großen Verantwortung als Partner Portugalauf einen guten Weg in die Zukunft führen, indem wirdas Land massiv unterstützen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Alois Karl das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damenund Herren! Ich lag gestern noch ohne Stimme im Bettund konnte kein Wort hervorbringen. Ich bitte – für denFall, dass es mir jetzt die Stimme verschlägt –, gleichzum Ergebnis kommen zu dürfen. Die CDU/CSU, meineFraktion, und auch ich werden natürlich dem Antrag desFinanzministeriums bezüglich der vorzeitigen Rück-zahlung des Kredits durch Portugal sowie auch des Ver-zichts auf die Parallelitätsklausel zustimmen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, HerrPitterle, im Strafrecht gibt es den Begriff des Wieder-holungstäters. Wenn sich jemand eine erste milde Strafenicht besonders zu Herzen gehen lässt und schon baldwieder beim Strafrichter mit ähnlichen Vergehen auf-taucht, wird er viel härter angefasst. Bei uns ist das et-was anders. Wir befassen uns in periodischen Abständenfast immer mit ähnlichen Themenstellungen, Tatbestän-den und Sachverhalten. So geschah es auch vor vierMonaten, als wir uns mit Irland befassten. Irland befandsich zu der Zeit ebenfalls in der Situation, vorzeitig Kre-dite zurückzahlen zu wollen. Auch da haben wir auf dieParallelitätsklausel verzichtet.Anstelle von Wiederholungstätern sind wir also Wie-derholungswohltäter, weil wir es zum wiederholten Maleeinem Partner in Europa erlauben, sich auf bessere Beinezu stellen. Durch unser Zutun ermöglichen wir es, dassein europäischer Partner – nämlich Portugal – wieder aufgute und sichere finanzielle Beine kommen kann, nach-dem er sich in den letzten Monaten und Jahren außeror-dentlich angestrengt und gute Arbeit geleistet hat. Wirstehen mit großem Respekt vor dieser Arbeit, welche dieportugiesische Regierung in den letzten Monaten undJahren geleistet hat. Sie verdient unsere Sympathie undSolidarität. Wir wollen sie mit den heutigen Beschlüssenin der Tat auch honorieren, meine sehr geehrten Damenund Herren.
Es ist gut, dass wir als Bundestag gefragt sind. Ohneunser Zutun könnte der Bundesfinanzminister im Kreiseseiner Kollegen nicht zustimmen. Das Stabilisierungs-mechanismusgesetz erlaubt es uns, uns abschließendeine Meinung über den Sachverhalt zu bilden. Wir gebenhiermit dem Bundesfinanzminister die Order mit auf denWeg, seine Zustimmung zu geben.Die Situation in Irland habe ich erwähnt. Dort warender Bauboom und die damit verbundene Immobilien-blase Ursache für die Krise. In Portugal hingegen gab esganz andere Gründe für die Krise. Dort haben sich dieLohnstückkosten über Jahre hinweg deutlich schnellernach oben entwickelt als die Arbeitsproduktivität. DieWirtschaft blieb rückständig. Auch die öffentliche Ver-schuldung hatte zugenommen. Die Regierung versuchte,gegenzusteuern. Aber das Leistungsbilanzdefizit konntenicht gesenkt werden, sondern es hat sich weiter erhöht.Die Ratingagenturen haben Portugal schlechter einge-stuft. Portugiesische Staatsanleihen wurden nur noch miteinem Risikoaufschlag von 10 Prozent verkauft. DieseSituation konnten die Portugiesen natürlich nicht langedurchhalten. Aus diesem Grunde haben sie 2011 die So-lidargemeinschaft um Hilfe gebeten. Das war kein Dik-tat, Herr Pitterle, wie Sie das behauptet haben, sonderndas war ein freiwilliges und auch richtiges Unterfangen,dem sich die portugiesische Regierung notgedrungen ge-stellt hat.Niemand wäre auf die Idee gekommen, den Portugie-sen schnell mal 78 Milliarden Euro hinüberzuschieben,weil wir erkannt hätten, dass sie sich in einer Notlage be-finden. Nein, es lag in ihrem richtig verstandenen Inte-resse, hier gegenzusteuern. Sie haben Verantwortung fürihr Land übernommen, und wir haben gerne geholfen.Wir sind gemeinsam mit der portugiesischen Regierungdabei, Portugal wieder auf einen guten Weg zu führen.Wir reichen unsere helfende Hand. Wir haben viel Posi-tives erreicht, in erster Linie in Portugal selbst, aber auchdurch unser Zutun hier. Das haben wir gut und richtiggemacht.
Es verdient großen Respekt, was in Portugal geleistetworden ist. In der Tat, es wurden Auflagen gemacht. Somussten beispielsweise die Mehrwertsteuer und auch dieKapitalertragsteuer erhöht werden.
Es ist noch anderes hinzugekommen. Die Portugiesensind auch pfiffig gewesen. Ich habe in einem Zeitungsar-tikel gelesen, dass Portugiesen, die Quittungen mit denSteuernummern des Verkäufers und des Käufers einrei-chen, an einer monatlichen Auslosung teilnehmen undeinen A4 gewinnen können, und das bloß, weil sie nach-weisen, dass sie eine Rechnung geschrieben bzw. ord-nungsgemäß bezahlt haben. Lieber StaatssekretärKampeter, wenn man das hier umsetzen würde, dannkönnte man die Dienstwagenflotte der Bundesregierungdeutlich reduzieren.
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Kollege Karl, diese weiter gehenden Vorschläge müs-
sen wir an anderer Stelle debattieren.
Okay. – Bevor meine Stimme versagt, weise ich da-
rauf hin, dass wir dem vorliegenden Antrag mit großem
Respekt zustimmen. Er schadet niemandem, und er nutzt
den Portugiesen. Was kann man unter Freunden Besseres
machen, als die Zustimmung – wie ich gehört habe, so-
gar einhellig – zu erteilen.
Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des
Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache 18/4030
mit dem Titel „Portugal: Vorzeitige teilweise Rückzah-
lung der IWF-Finanzhilfe; Einholung eines zustimmen-
den Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3
Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusge-
setzes“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Kassner, Susanna Karawanskij, Caren Lay, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommu-
nen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen
und Verordnungen sowie im Gesetzgebungs-
verfahren
Drucksache 18/3413
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Kerstin Kassner für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bleibe bei meiner These: Wenn es in die-sem Hohen Hause mehr praktizierende Kommunalpoliti-ker gäbe, als es in der Tat sind, dann würden wir nichtnur über die Belange der Kommunen reden, sondernwirkungsvoll und schnell etwas zur Verbesserung der Si-tuation tun.
Der Verbesserung der Situation dient unser Antrag.Die Kollegen in der ersten bis fünften Legislaturperiodehatten einen Kommunalausschuss, in dem sie alle Be-lange, die die Kommunen betrafen, erörtert und gemein-sam nach Wegen und Lösungen gesucht haben. Ich findedas gut. Ich sage es ganz deutlich: Ich bin mit der jetztpraktizierten Lösung eines Unterausschusses Kommuna-les nicht so glücklich. Ich würde mir wünschen, wir hät-ten einen eigenständigen Ausschuss, der ein Selbstbefas-sungsrecht hätte und sich wirklich den Dingen, die dieKommunen betreffen, stellen könnte.
Das wäre mein allerwichtigster Wunsch für dieses HoheHaus.Dass 2007 im Rahmen der Föderalismusreform dasAufgabenübertragungsverbot in der Verfassung veran-kert wurde, ändert an der Notwendigkeit der Einrichtungeines solchen Ausschusses nichts, weil das keine wirkli-che Hilfe ist; denn viele Dinge konnten gar nicht bis insLetzte erörtert werden. Dass in der letzten Legislatur-periode den kommunalen Spitzenverbänden in unsererGeschäftsordnung die Möglichkeit zur Stellungnahmeeingeräumt wurde, ändert ebenfalls nichts an dieser Not-wendigkeit. Das reicht nicht; denn es ist eine Ausle-gungsfrage, ob ihnen diese Möglichkeit eingeräumtwird. Wir wissen auch gar nicht, in welcher Form undmit welcher Konsequenz diese Stellungnahme berück-sichtigt wird. Das ist zu wenig.
Ich habe 2005 gespürt, was es bedeutet, wenn derBundestag Gesetze erlässt. Damals war ich Landrätinauf der schönen Insel Rügen, als das SGB II, sprich:Hartz IV, eingeführt wurde. Vorher, bis zum Ende desJahres 2004, betrugen die Ausgaben für Sozialhilfe indiesem Landkreis etwa 5 Millionen Euro jährlich. Da-nach waren wir verantwortlich für die Übernahme derKosten der Unterkunft. Die Ausgaben sind von einemJahr auf das andere auf das Dreifache explodiert. Mit ei-nem Mal mussten von uns 15 Millionen Euro aufge-bracht werden. Man kann sich vorstellen, was für eineriesige Herausforderung das war. Das bedeutete in derKonsequenz, dass über Jahre weniger Ausgaben getätigtwerden konnten und den Gemeinden, die zu unseremLandkreis gehörten, über die Kreisumlage kräftig in dieTasche gegriffen werden musste. Das hieß dort wiede-rum weniger Gestaltungsspielraum, so er überhauptnoch vorhanden war. Daher lautet meine Forderung:Lassen Sie die Kommunen richtig mitreden! Das würdean vielen Stellen eine wirkliche Hilfe bedeuten.
Das würde im Übrigen auch bei der Frage nach denMietzuschüssen, die jetzt heiß diskutiert wird, helfen;denn die kommunalen Spitzenverbände steuern schonjetzt kräftig dagegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,das haben wir doch einfach nicht nötig. Wir müssen jetztim Nachhinein anpassen und korrigieren. Wenn wir vor-her mit den Betroffenen, mit denen, die diese Gesetze
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Kerstin Kassner
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umsetzen müssen, reden, dann können wir Erkenntnissegewinnen, sodass uns solche Irritationen erspart bleiben.Ich denke, das wäre der Würde unseres Amtes und desHohen Hauses angemessen.
Ich glaube, alle Kommunalpolitiker hatten in dieserWoche Besuch vom Aktionsbündnis „Für die Würde un-serer Städte“. Die Kolleginnen und Kollegen haben unsihre Situation nahegebracht. Die ist, glauben Sie mir, be-denklich. Wenn der Oberbürgermeister einer Stadt äu-ßert – ich sage jetzt nicht, welcher Stadt; es war keineostdeutsche –, dass die Ausgaben für soziale Lasten inseiner Stadt höher sind als die Einnahmen, dann ist dochetwas faul.
Das geht nicht. Es muss die Möglichkeit gegebenwerden, dass noch ein Spielraum bleibt, dass das Gestal-ten von Politik in der Kommune tatsächlich Spaß macht,dass man, wie gesagt, Spielräume hat und dadurch natür-lich auch etwas gegen die allgemeine Politikverdrossen-heit tun kann, und zwar durch aktives Mittun, durchwirkliches Gestalten auf kommunaler Ebene. Das wün-sche ich mir.
Ich würde mir, um es ganz deutlich zu machen, wün-schen, dass es tatsächlich einen Schuldenschnitt gibt. Ichhabe mir einmal angesehen, wie es in Stralsund, derStadt, in der ich gerade um das Amt des Oberbürger-meisters kämpfe, aussieht. Dort haben sich im Laufe derJahre Schulden in Höhe von 100 Millionen Euro ange-sammelt. Das bedeutet, auf absehbare Zeit gibt es kei-nerlei Gestaltungsspielraum mehr. Das macht das Lebenin so einer Stadt außerordentlich schwierig. Das trägt na-türlich, wie ich vorhin erwähnte, auch zur Politikver-drossenheit bei. Also: Wir müssen für alle Kommunen,die so gebeutelt sind, einen Schuldenschnitt erreichen,und wir müssen neue Strategien fahren. Das heißt zual-lererst, dass wir uns mit denjenigen, die dort die Verant-wortung tragen und wissen, wie es geht, an einen Tischsetzen und versuchen müssen, die richtigen Lösungen zufinden. Dafür werbe ich. Bitte unterstützen Sie unserenAntrag.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Tim Ostermann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein Blick in die Plenarprotokolle zeigt, dass dieser An-trag zum Evergreen-Repertoire der Linksfraktion gehört.
In jeder Wahlperiode wird dieser Antrag aufs Neue aus-gemottet und auf die Tagesordnung gesetzt. Quantitätspricht allerdings nicht immer für Qualität, auch in die-sem Fall nicht.
Zunächst einmal möchte ich Ihnen in Erinnerung ru-fen, dass die Kommunen keine dritte staatliche Ebenedarstellen. Unser Bundesstaat ist zweistufig aufgebaut.Das heißt, dass die Kommunen, wie auch das Bundes-verfassungsgericht mehrfach bestätigt hat, verfassungs-rechtlich Teil der Länder sind. Daraus folgt, dass diekommunale Ebene nicht mitentscheidend in das Gesetz-gebungsverfahren des Bundes einbezogen werden kann.Dies geht aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht.Denn eine solche Mitentscheidungsbefugnis wäre mitdem zweistufigen Staatsaufbau des Grundgesetzes nichtvereinbar. Gleichwohl hat der Bund den Kommunen ver-schiedene Möglichkeiten eingeräumt, damit sich diese indas Gesetzgebungsverfahren einbringen können – wohl-gemerkt ergänzend zum Unterausschuss Kommunales.
Bereits im Jahr 2012 hat der Bundestag unter derchristlich-liberalen Koalition eine Verbesserung derkommunalen Mitspracherechte in den §§ 69 und 70 derGeschäftsordnung des Bundestages vorgenommen.
Seitdem muss den kommunalen Spitzenverbänden eineMöglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt werden, so-fern ein Ausschuss ein Gesetz berät, das wesentliche Be-lange der Kommunen berührt. Das ist gut und richtig.
Trotz des von mir beschriebenen verfassungsrechtlichenRahmens sollte der externe Sachverstand aus den kom-munalen Verbänden in den Gesetzgebungsprozess miteinfließen. Das erhöht die Akzeptanz eines Gesetzes underleichtert die spätere Umsetzbarkeit in der Praxis.Des Weiteren hat die letzte Große Koalition im Zugeder Föderalismusreform im Grundgesetz ein Aufgaben-übertragungsverbot normiert. Damit wurde die Übertra-gung von Aufgaben durch den Bund an die Kommunenunterbunden. Stattdessen sind nun die Länder Adressa-ten dieser Aufgabenzuweisungen. Gleichzeitig – dies istein überaus wichtiger und in der Praxis problematischerPunkt – müssen sie den Kommunen eine für diese Auf-gaben adäquate Finanzausstattung zukommen lassen.
– Wohlgemerkt, die Länder müssen den Kommunen eineadäquate Finanzausstattung mitliefern; das nur zur Klar-stellung. – Die Mitsprachemöglichkeit und das Übertra-gungsverbot sind deutliche Signale. Der Bund schöpftdamit die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten im
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Dr. Tim Ostermann
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Sinne der kommunalen Ebene vollständig aus. Er machtdas, was ihm rechtlich möglich ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund agiertaber auch in der Praxis überaus kommunalfreundlich.
Hier nur einige wenige Beispiele dafür, was die Kommu-nen erhielten und erhalten: für die Grundsicherung imZeitraum 2012 bis 2017 etwa 30 Milliarden Euro, zu-sätzlich für die Kosten der Unterkunft von 2011 bis 2017nochmals etwa 5,4 Milliarden Euro, für Investitions- undBetriebskosten bei der Kinderbetreuung bis 2013 4 Mil-liarden Euro und ab diesem Jahr 845 Millionen Euro perannum. Hinzu kommen weitere finanzielle Leistungen inMilliardenhöhe:
Dazu zählen die finanzielle Entlastung der Kommunenvon 2015 bis 2017 um jährlich 1 Milliarde Euro sowieweitere Entlastungen: bei der Eingliederungshilfe – hierreden wir über 5 Milliarden Euro –, beim weiteren Aus-bau der Kinderbetreuung und bei Aufnahme, Unterbrin-gung und Versorgung von Asylbewerbern; das sind, wiegesagt, nur einige wenige Beispiele.
Diese Unterstützung des Bundes für die Kommunenkommt nicht von ungefähr: Viele Bundestagskollegenkommen aus der Kommunalpolitik, und vielfach sind siezusätzlich zu ihrer Tätigkeit hier im Parlament auchnoch auf kommunaler Ebene tätig. Für mich selbst giltdies auch. Ich kann Ihnen sagen, Frau Kollegin Kassner,dass beispielsweise der AG Kommunalpolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion 179 Abgeordnete und damit57 Prozent der Fraktionsmitglieder angehören.
Das heißt, wir gehen da mit sehr gutem Beispiel voran.
Ich animiere Sie, es uns gleichzutun. Liebe Kolleginnenund Kollegen, diese Verwurzelung in der Kommunal-politik ist die beste Gewähr für die Berücksichtigung derkommunalen Belange; da kann keine gesetzliche Vor-schrift mithalten.Ich darf daher zusammenfassen: Ihr Vorschlag ist ver-fassungsrechtlich bedenklich. Es bestehen derzeit schongenügend Regelungen, die eine Mitwirkung der Kom-munen gewährleisten. Und vor allem – das ist für dieKommunen der wichtigste Punkt –: Der Bund hilft denKommunen darüber hinaus bei der Finanzierung ihrerAufgaben und tut dabei erheblich mehr, als er eigentlichtun müsste. Darum wird es Sie nicht verwundern, wennwir auch in diesem Jahr und in dieser LegislaturperiodeIhren Antrag ablehnen werden.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-
legin Katja Keul das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Antrag der Linken greift erneut ein zen-trales Problem auf, über das wir nicht erst seit der Föde-ralismusreform 2006 intensiv diskutieren und das bisheute nicht befriedigend gelöst ist.
Herr Ostermann, Sie haben gerade selber deutlich ge-macht, warum das Aufgabenübertragungsverbot imGrundgesetz nicht reicht: Wenn der Bund den Kommu-nen eine Aufgabe nicht übertragen kann, der Bund sie je-doch den Ländern und diese sie dann den Kommunenübertragen können – ohne dass Letztere an der Einnah-menschraube drehen können –, dann hilft uns das Ganzenatürlich nicht weiter.
Bund und Länder können Steuerrechts- oder Sozial-rechtsänderungen beschließen, ohne dass hinreichendeInformationen über die finanziellen Auswirkungen aufdie Kommunen vorliegen. Gerade im Bereich der sozia-len Pflichtaufgaben hat dies zu einer erheblichen Belas-tung geführt, die vor allem Kommunen in struktur-schwachen Regionen immer mehr ins Abseits befördert.Gesetzesinitiativen wie das berühmte Wachstumsbe-schleunigungsgesetz inklusive der berühmten Möven-pick-Steuer senken die kommunalen Steuereinnahmenjährlich um 1,3 Milliarden Euro und schwächen die fi-nanzielle Basis der Kommunen nachhaltig.
Ohne eine entsprechende finanzielle Grundlage wird dasSelbstverwaltungsrecht der Kommunen aus Artikel 28Absatz 2 Grundgesetz aber zunehmend ausgehöhlt.
Es ist deshalb wichtig und richtig, sich dafür einzuset-zen, dass die Kommunen stärker in die Gesetzgebungvon Bund und Ländern einbezogen werden. Wir Grünehaben uns im Rahmen der Gemeindefinanzreform fürverbriefte Anhörungsrechte der Kommunen starkge-macht, mussten allerdings feststellen, dass sowohl dieBundesregierung als auch die Länder keine Bereitschaftzeigten, sich für entsprechende Initiativen starkzuma-chen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8339
Katja Keul
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Am Ende ist leider nur die Änderung der Geschäfts-ordnung des Bundestages umgesetzt worden. Aber eineGelegenheit zur Stellungnahme im Ausschussverfahrenreicht nicht. Die kommunalen Spitzenverbände werdenauf diesem Wege wie jeder beliebige andere Verband be-handelt. Hier wären dringend weitere Verbesserungenerforderlich.
Im Antrag der Linken bleibt allerdings offen, was siemit dem verbindlichen Mitwirkungsrecht konkret meint.
Sollen nur die Anhörungsrechte verbessert werden, odersoll den Kommunen ein einklagbares Mitwirkungsrechteingeräumt werden? Neben verbesserten Anhörungs-rechten kommt es aus unserer Sicht besonders auf einesan: Wir brauchen eine verbesserte Gesetzesfolgenab-schätzung, bei der auch der Erfüllungsaufwand von Ge-setzen für die Kommunen frühzeitig ermittelt wird, da-mit dieser auch berücksichtigt werden kann.
Bei der Erstellung von Gesetzen, die die Kommunen be-treffen, muss ein Kommunencheck obligatorisch wer-den. Dafür müssen die Länder als übergeordnete Instan-zen ins Boot geholt werden. Sowohl für die verbessertenAnhörungsrechte als auch für den notwendigen Kommu-nencheck in der Gesetzesfolgenabschätzung müssenBund, Länder und Kommunen gemeinsam eine Lösungfinden.
Ein konkreter Punkt, den die Linke fordert, ist dieEinsetzung eines selbstständigen Ausschusses für Kom-munen anstelle des bisherigen Unterausschusses, der nurein Anhängsel des Innenausschusses ist. Die Kritik derLinken an der Stelle ist richtig.
Die Lösung ist aus unserer Sicht aber nicht ein neuerAusschuss mit Querschnittsaufgaben, sondern die rich-tige thematische Zuordnung des Unterausschusses. Wirfinden, dass der Unterausschuss dem Finanzausschusszugeordnet werden muss.
Letztlich teilen wir also das Anliegen, die Rechte derKommunen zu verbessern. Nach den Debatten und Än-derungen in der letzten Legislaturperiode hätten wir esjetzt aber gerne schon etwas konkreter als nur „verbind-liche Mitwirkungsrechte“. Vielleicht kann es ja noch ge-lingen, gemeinsame Verfahrensvorschläge zu entwi-ckeln.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Özdemir das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist ein gutes Signal dieser Wahlperiode,dass im Plenum des Deutschen Bundestages so oft überunsere 11 200 Städte und Gemeinden und die 295 Land-kreise gesprochen wird. Im Hinblick auf den Besuch von42 Oberbürgermeistern und Stadtkämmerern als Vertre-ter des Kommunalen Aktionsbündnisses „Für die Würdeunserer Städte“ in dieser Woche betone ich aber, dassnicht nur über die Kommunen gesprochen wird, sondernvor allem mit den kommunalen Vertretern.
Damit ermuntern wir die Kommunen, mit uns als Bun-destagsabgeordneten, aber auch in den zuständigenLandtagen zielgerichtete Gespräche für eine bessere Fi-nanzausstattung zu führen.Vorwegschicken möchte ich aber auch – hier rede ichganz im Sinne des Antrages –, dass es viele Gesetzge-bungsbereiche gibt, die unsere Kommunen treffen undderen Auswirkungen teilweise selbst die Fachpolitikernicht erkennen, bevor sie nicht tatsächlich eintreten. Ichverweise beispielsweise auf die Gesetzgebungsprozessebei der Energiewende oder beim Vergaberecht, die mit-unter stark europarechtlich geprägt sind und die Kom-munen vor allem personell, aber auch wegen der Kom-plexität von Landes- und Bundesbestimmungen treffen.Der Antrag greift also ein durchaus diskussionswürdi-ges Thema auf, nämlich die verbindliche Mitwirkungder Kommunen auf Bundesebene im weitesten Sinne,um sich dann aber sogleich zwischen der Rüge über un-zureichende gesetzliche Mittel und der Kritik am Grund-gesetz zu verlieren. Der letztgenannten Kritik – dazukomme ich später – könnte man in der Konsequenz nurdurch eine entsprechende Verfassungsänderung begeg-nen.Bereits jetzt haben wir mit dem Deutschen Städtetag,dem Deutschen Städte- und Gemeindebund und demDeutschen Landkreistag freiwillige ständige Vertretun-gen der Kommunen. Diese werden durch eine notwen-dige Anzahl von Aktionsbündnissen ergänzt. Die kom-munalen Spitzenverbände haben bereits jetzt gemäߧ 69 Absatz 5 der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages – das ist eine Ist-Vorschrift – die Gelegen-heit zur Stellungnahme, wenn Aufgaben ganz oder teil-weise von Kommunen auszuführen oder zu finanzierensind bzw. in die grundgesetzlich garantierte Organisa-tionshoheit eingreifen. Dasselbe gilt im Übrigen auch fürAnhörungen.Diese Regelung einfach als unzureichend zu verwer-fen, zeigt ein unbegreifliches Politik- und Selbstver-ständnis. Freilich kann man nach Verbesserungen und
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8340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Mahmut Özdemir
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Veränderungen streben, wenn es um die kommunaleMitwirkung auf Bundesebene geht, man darf sich dannaber auch den bestehenden Möglichkeiten zunächst nichtverschließen.
Das wäre so, als wenn ein Fußballer das Abseits für eineunzureichende Regelung halten würde und deshalb nichtmehr mitspielen möchte. Mit der inhaltsleeren Forde-rung nur nach Formalien ist uns an dieser Stelle auchnicht geholfen.Was also sind unsere Spielräume? Hier ist die beste-hende Geschäftsordnungsregelung zu beachten, die esuns nicht nur ermöglicht, sondern uns sogar dazu ver-pflichtet, bei jeder kommunalpolitisch relevanten Geset-zesberatung durch den federführenden Ausschuss dieSpitzenverbände zu beteiligen. Aufgrund dieser Befug-nis können wir über Fraktionen hinweg schon jetzt etwasbewegen. Für mich persönlich als überzeugtes Mitgliedim Unterausschuss Kommunales des Deutschen Bundes-tages hat der Antrag in dieser Hinsicht durchaus einengroßen Mehrwert erbracht, auch wenn wir ihn in ersterLinie wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken ab-lehnen werden.Genug des Lobes! Liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Linken, ich werde es Ihnen nicht ersparen kön-nen, wiederholt darauf hinzuweisen, was ohne eine wieauch immer geartete kommunale Mitwirkung und ohneentsprechende Bemühungen in Bezug auf die Geschäfts-ordnung von dieser Regierungskoalition – nicht immereinvernehmlich – bundesseitig für die Kommunen be-reits getan worden ist. Ich nenne die Eingliederungshilfefür Arbeitsuchende – 1,4 Milliarden Euro wurden etati-siert und sind geflossen – und die Grundsicherung imAlter mit vollständiger Übernahme der Kosten im Haus-haltsjahr, wofür 5,9 Milliarden Euro voll dynamisiertveranschlagt wurden. Außerdem stellen wir als Bundden Ländern knapp 1 Milliarde Euro für Schulsozialar-beit und Kitas zur Verfügung, und der Etat für das Pro-gramm „Soziale Stadt“ wurde mit 150 Millionen Euroauf das ursprüngliche Niveau angehoben und verstetigt.Städte, die vom Zuzug aus Südeuropa stark betroffensind, wurden mit knapp 100 Millionen Euro für dringendnotwendige ordnungspolitische Maßnahmen bedacht.Für die besonderen Herausforderungen rund um dieFlüchtlingspolitik – als Duisburger weiß ich, wovon ichrede – können wir die 1 Milliarde Euro in 2015 und 2016gut gebrauchen.Bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behin-derung bin ich mir sicher, dass wir mit dem notwendigenparlamentarischen Druck zügig einen Gesetzentwurf aufden Tisch legen werden, um die im Koalitionsvertragavisierten 5 Milliarden Euro an die Kommunen durchzu-reichen.
Bei diesen Entlastungen darf noch lange nicht Schlusssein; das füge ich hinzu.Übrigens darf es nicht nur um parlamentarische Be-teiligung gehen. So zeigt sich überdeutlich, dass die zu-vor genannten kommunalen Spitzenverbände vomBMAS beim Bundesteilhabegesetz bereits von Beginnan beteiligt worden sind, und zwar noch bevor der ersteBuchstabe in den Referentenentwurf gekommen ist.Jetzt könnte man diese Millionen und Milliarden ausden Hilfen addieren und feststellen, dass all diese, bisauf die letzte Maßnahme, innerhalb von etwas mehr alseinem Jahr beschlossen worden sind und sich aktuell inUmsetzung befinden. Genauso gut könnte man aberauch feststellen, dass bei all diesen Verfahren eine kom-munale Mitwirkung auf Augenhöhe bestanden hat: imErgebnis nicht immer zur vollen Zufriedenheit der Kom-munen – das gebe ich gerne zu –, wohl aber als gangba-rer Mittelweg, den wir gemeinsam weiter beschreitenkönnen.Gerade deshalb stünde es uns bei unseren Beratungengut zu Gesicht, bestehende Instrumente auszureizen.Nicht immer garantieren mehr Vorschriften eine bessereQualität. Auch die beste Verfahrensvorschrift, die Betei-ligungsrechte sichern soll, garantiert nicht, dass dieseauch in den Ausschussberatungen wirksam zum Tragenkommen. Ich bin der Meinung, dass die Regelungen, dieuns in der Geschäftsordnung des Bundestages zur Verfü-gung stehen, genügen.Fakt ist jedoch über alle Fraktionen hinweg, dass wirhiervon stärkeren Gebrauch machen könnten und sogarmüssten. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dasswir überhaupt kein Problem damit hätten, mehr kommu-nale Mitwirkungsrechte bei Beratungen des DeutschenBundestages zu beschließen. Immerhin waren es dieAbgeordneten der SPD-Bundestagsfraktion, die einefraktionsübergreifende Initiative zu der heutigen Formu-lierung der §§ 69 Absatz 5 und 70 Absatz 2 der Ge-schäftsordnung ergriffen hatten.Gleichzeitig rufe ich Ihnen zu: Statt uns ewig in For-malien dahin gehend übertreffen zu wollen, wer der bes-sere Anwalt der Kommunen sei, sollten wir uns als Ab-geordnete in unseren jeweiligen Ressorts bei jederBerichterstattung in der gesetzgeberischen Praxis dieseAufgabe, nämlich Anwalt der Kommunen zu sein, zu ei-gen machen.
Deshalb macht die Wiederauflage dieses Antrags aus der17. Wahlperiode in der aktuellen Wahlperiode schlicht-weg keinen Sinn. Das möchte ich Ihnen aber auch an-hand von verfassungsrechtlichen Gründen gerne erläu-tern.Hier gibt es zwei Ebenen, die im Antrag betroffensein könnten: einerseits die verfahrensrechtliche Ebeneim Bundestagsbetrieb und andererseits die verfassungs-rechtliche Verortung der Kommunen im Staatsorganisa-tionsrecht. Vermengt man aufgrund von politischen Ziel-vorstellungen beide Ebenen und fordert eine Artkommunales Mitwirkungsgesetz, so hilft man dem Fun-dament unserer bundesstaatlichen Verwaltung überhauptnicht weiter.Die Forderung nach einem kommunalen Mitwir-kungsgesetz wäre, systematisch korrekt, die Weiterent-
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Mahmut Özdemir
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wicklung im Rahmen der Geschäftsordnung des Bundes-tages. Eine materiell-gesetzliche Initiative im Hinblickauf ein von Ihnen gefordertes Gesetz würde zugleich densiebten Abschnitt des Grundgesetzes und mithin die Ge-setzgebung zwischen Bund und Ländern und die Rolleder Kommunen an sich betreffen und käme daher einerGrundgesetzänderung gleich.Die Kommunen besitzen aufgrund des zweigliedrigenBundesstaatssystems zwar verfassungsrechtlich garan-tierte Hoheiten, aber eben keine Gesetzgebungshoheit.Damit würde der Antrag implizit einen Drei-Ebenen-Fö-deralismus fordern. Das heißt, der Bund, 16 Länder unddie Vertretungen von Tausenden Gemeinden und Hun-derten Landkreisen müssten demnächst eine Einigungfinden. Das ging uns in der 17. Wahlperiode zu weit, unddas geht uns auch heute noch zu weit.
Die Kommunen sind gemäß Artikel 28 GrundgesetzGliederungen der Länder, und dies wollen wir auch bei-behalten. Deshalb muss der Bund, aber müssen auch dieLänder, bevor Gesetze zur Ausführung übertragen wer-den, die Belastbarkeit der Kommunen überprüfen. DasMinisterium für Inneres und Kommunales in Nordrhein-Westfalen hat hierzu auf eine Kleine Anfrage eine sehrdezidierte Übersicht aller kommunal erbrachten Aufga-ben vorgelegt, in der deutlich wird, dass nahezu alle bun-des- und landesgesetzlichen Aufgaben durch Kosten-übernahme und/oder Gebühren aufgefangen werden.Jedoch besteht in den Sozialhaushalten aufgrund derdynamisch wachsenden Kosten erheblicher Regelungs-bedarf. Diesen unter anderem punktuellen Regelungsbe-darf hingegen darf man nicht als großes Systemproblemhinstellen und dabei die kleinen Hausaufgaben verges-sen. Zusätzliche Gelder, etwa in Form eines nationalenInvestitionspaktes für Kommunen in zweistelliger Mil-liardenhöhe, wie Vizekanzler Gabriel ihn vorschlägt,werden weder durch solche Anträge noch durch irgend-welche Mitwirkungsrechte geschaffen. Denn untermStrich braucht man politische Mehrheiten in diesemHaus, um so hohe Beträge für unsere Kommunen bewe-gen zu können. Ich sage: Das lohnt sich. Es lohnt sich,sich dafür einzusetzen und nicht immer auf Landesregie-rungen zu schimpfen, bei denen das Geld angeblich fürHaushaltssanierungen verwendet wird. Diejenigen, diegemeint sind, mögen sich jetzt bitte höflichst angespro-chen fühlen.Die bestehenden Regelungen in Verbindung mit derArbeit des Unterausschusses Kommunales sind ausrei-chend. Ihnen zur Wirksamkeit zu verhelfen, ist eine par-lamentarische Pflicht. Im Unterausschuss Kommunales,der beim Innenausschuss angesiedelt ist, ist es im Übri-gen Praxis, dass die kommunalen Spitzenverbände stetsvon der Vorsitzenden eingeladen werden. Die Forderungnach einem eigenständigen Kommunalausschuss aufBundesebene klingt für mich persönlich sehr sympa-thisch. Aber manchmal muss man mit dem leben, was ei-nem zur Verfügung steht.Zusammenfassend: Alle Abgeordneten haben eineVerantwortung für das gesamte Bundesgebiet, aber auchfür den eigenen Wahlkreis im Einzelnen. Wenn wir die-ser Verantwortung als Bundestag gemeinsam nachkom-men, werden wir sicherlich über solche Anträge – unab-hängig davon, aus welcher Fraktion sie kommen –demnächst nur noch müde lächeln, weil wir materiell, inder Sache gemeinsam bessere Arbeit leisten, als es unsmanche formale Geschäftsordnung gestatten würde.Hinsichtlich des Antrages möchte ich mit einem Zitatvon Bertolt Brecht schließen:Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großesLicht! / Und mach dann noch nen zweiten Plan, /Gehn tun sie beide nicht.Aus den dargelegten verfassungsrechtlichen und politi-schen Gründen, und nicht aus mangelnder grundsätzli-cher Sympathie, werden wir den Antrag ablehnen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein herzli-ches Glückauf!
Der Kollege Helmut Brandt hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr verehrte Damen und Herren Zuschauerinnen undZuschauer! Angesichts der zentralen Bedeutung derKommunen gibt es durchaus gute Gründe, Frau Kassner,sich mit ihrer Lage auseinanderzusetzen – heute undauch künftig. Insofern stimme ich mit Ihnen durchausüberein. Die Kommunen sind tatsächlich in einer nichtganz einfachen Lage. Immer wieder sehen sie sich Ent-scheidungen des Bundes, aber auch der Länder gegen-über, die ihnen Aufgaben aufbürden, insbesondere imBereich der kommunalen Daseinsvorsorge, die sich na-türlich auch auf die Steuereinnahmen der Kommunenauswirken.Ich verstehe, dass sich mancher Kommunalpolitikergelegentlich mehr Einflussmöglichkeiten bei Entschei-dungen von Bund und Ländern wünscht. Das war wäh-rend meiner Zeit als Kommunalpolitiker nicht anders.Wir haben in den letzten Jahren – das ist hier mehrfachgesagt worden – finanziell sehr viel für die Kommunengetan und deutlich gemacht, dass eine Beteiligung derkommunalen Spitzenverbände an politischen Entschei-dungen, die die Kommunen betreffen, notwendig, abereben auch gewollt ist.So haben wir im Zuge der Föderalismusreform dieForderung der kommunalen Spitzenverbände, dass denKommunen künftig keine Bundesaufgabe mehr direktübertragen wird, eins zu eins umgesetzt. Der Weg neuerAufgabenübertragungen auf Städte und Gemeinden führtseitdem nur über die Länder, und es wäre schön, wenndie Länder bei dieser Debatte hier stärker vertreten wä-ren. Aufgrund der in den jeweiligen Landesverfassungenverankerten Konnexitätsregelungen ist die Übertragung
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Helmut Brandt
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von Aufgaben auf die Kommunen ohne eine entspre-chende Finanzierung dem Grunde nach ausgeschlossen.Wir haben die Vorschläge der Gemeindefinanzkom-mission, der selbstverständlich auch Vertreter der kom-munalen Spitzenverbände angehörten, umgesetzt. Auchdiese Vorschriften wurden bereits benannt. Die Sollvor-schrift in § 69 Absatz 5 Satz 1 der Geschäftsordnung desBundestages wurde in eine Istvorschrift umgewandelt,sodass die kommunalen Spitzenverbände seitdem einRecht auf Stellungnahme im federführenden Ausschusshaben, und zwar immer dann, wenn wesentliche Belangeder Kommunen berührt werden. Das wird auch so ge-handhabt. Der Kollege hat ein gutes Beispiel dafür schonim vorbereitenden Gesetzgebungsverfahren aufgezeigt.Daneben wurde in § 70 Absatz 4 der Geschäftsord-nung geregelt, dass den kommunalen SpitzenverbändenGelegenheit zur Teilnahme an einer öffentlichen Anhö-rung zu entsprechenden Gesetzentwürfen zu geben ist.Damit weiß jeder, dass die Einbindung der kommunalenEbene in unsere Entscheidungen auf Bundesebene ge-währleistet ist.Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion DieLinke, was soll noch mehr an Verbindlichkeit hergestelltwerden? Ich habe Ihrer Rede, Frau Kassner, offen ge-sagt, nicht genau entnehmen können, worauf Ihr Antragabzielt. Geht es lediglich um die Einführung einesselbstständigen Ausschusses oder auch um darüber hi-nausgehende Modelle? Das ist weder in Ihrer Antrags-schrift noch in Ihren Ausführungen klar geworden.Deshalb vermisse ich konkrete Vorstellungen Ihrerseits,was eigentlich geändert werden soll.Wir müssen zur Kenntnis nehmen – auch Sie; das hatder Kollege Özdemir zu Recht sehr schön ausgeführt –,dass die Kommunen gemäß unserer Verfassung nun ein-mal keine eigenständige staatliche Ebene darstellen.Vielmehr haben wir nach der Wertung des Grundgeset-zes einen zweigliedrigen Bundesstaat. Ich denke, dassdas gut ist, und zwar aus folgendem Grund: Wir habenauf der einen Seite – das ist erwähnt worden – denUnterausschuss Kommunales, also einen Ausschuss, dersich durchaus mit kommunalen Belangen beschäftigt.
– Bisher ist noch kein einziger Antrag, den Ausschussanzurufen, abgelehnt worden, Herr Kollege. Lassen Siesich das im Innenausschuss einmal bestätigen. – Ande-rerseits belegt die Einrichtung dieses Unterausschusses,dass wir – das ist wirklich so – uns im Innenausschussjedes Mal sehr dafür einsetzen, dass bei kommunaler Be-troffenheit auch die kommunale Ebene in das Entschei-dungsverfahren einbezogen wird. Aber neben Bundestagund Bundesrat noch eine dritte Kammer einzuführen,würde im Grunde genommen – da muss ich dem Kolle-gen Özdemir uneingeschränkt recht geben; er hat dassehr gut dargestellt – das Aus für unser Gesetzgebungs-verfahren bedeuten. Man stelle sich einmal vor, dass andem ohnehin komplexen Verfahren neben Bundestagund Bundesrat, zudem noch unter Berücksichtigungvon EU-Einflüssen, auch die Kommunen mit über11 000 Städten und Gemeinden, Kreistagen und Kreis-räten beteiligt sind. Wie soll das funktionieren? Wirbrächten kein Gesetz mehr zustande. Das wäre die Kon-sequenz. Deshalb lehnen wir das ab.Niemand hier bestreitet, dass die finanzielle Situationder Kommunen in bestimmten Bereichen und Landes-teilen immer noch besonders schwierig ist. Eine ausrei-chende und zuverlässige Finanzausstattung ist die ent-scheidende Voraussetzung für eine funktionierendekommunale Selbstverwaltung. Dies sicherzustellen, istdas Anliegen der CDU/CSU in den vergangenen Jahrengewesen und wird es auch in Zukunft sein. Ich bedauresehr – das hat gerade die in dieser Woche stattfindendeVersammlung der Oberbürgermeister gezeigt, die, sofernich das beurteilen konnte, überwiegend aus Nordrhein-Westfalen kamen –, dass die Mittel, die wir von derBundesebene auf die Ebene der Kommunen leiten wol-len, oft nicht zu 100 Prozent bei den Kommunen ankom-men. Mit diesem Sachverhalt müssten sich die Landtage,aber auch die Städte und Gemeinden vor Ort einmal et-was intensiver beschäftigen.Letzte Bemerkung: Wir kennen die Spitzenverbändeder kreisfreien Kommunen, der Kommunen und derKreise und wissen, dass selbst dort oft sehr unterschied-liche Auffassungen bei Gesetzesvorhaben bestehen. Alldies zeigt, wie schwierig die Umsetzung Ihres Vorha-bens ist. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Zum Abschluss dieser Debatte hat der Kollege
Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vom ehemaligen Bundespräsidenten TheodorHeuss stammt der Satz: Ohne Städte ist kein Staat zumachen. – Dieser Satz umschreibt sehr plastisch nichtnur die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung inunserem Grundgesetz, sondern auch die Verpflichtungaller staatlichen Ebenen, bei ihren Gesetzgebungsvorha-ben und der politischen Beurteilung vor allem die Ebeneim Blick zu haben, bei der diese gesetzgeberischen Maß-nahmen ankommen und von der sie konkret vollzogenwerden müssen; das ist gar keine Frage. Die Union isteine Partei, die in den vergangenen Jahrzehnten dieFrage der kommunalen Selbstverwaltung und die We-sensgehaltsgarantie dieser Vorschrift zu ihrem Marken-kern gemacht hat. Trotzdem sei angemerkt, dass es beider Frage einer möglichen Mitwirkung der Kommunenauf Bundesebene auch um unser Grundgesetz und dieverfassungsgemäße Ordnung geht. Angemahnt sei, dasswir eine gewisse Sorgsamkeit gegenüber dem Gesetzge-bungsprozess haben. Der Gesetzgebungsprozess inDeutschland ist sehr wohl austariert zwischen dem Bundund den Ländern – mit klaren Mitwirkungsrechten dort,
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Dr. Volker Ullrich
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wo die Länder tangiert sind, und der Möglichkeit desEinspruches dort, wo ausschließlich der Bund die Kom-petenz hat. Ich warne davor, dieses im Grunde genom-men konsensuale und gut funktionierende System ohneNot aufzubrechen und die Kommunen in den Gesetzge-bungsprozess einzubeziehen, ohne konkret zu sagen, wiees denn funktionieren soll? Wie sollen sich die Kommu-nen im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses intern eini-gen, wenn sich Hunderte von Landkreisen, kreisfreienStädten und Bezirken auf eine Meinung festlegen müs-sen? Deswegen ist der viel bessere Ansatz, dass dieKommunen bei der Gesetzgebung auf Landesebene be-teiligt werden. In einigen Bundesländern sind die ent-sprechenden Vorschriften so weit fortgeschritten, dassdort ohne Kommunen tatsächlich kein Staat zu machenist.Ein weiterer entscheidender Punkt ist die finanzielleAusstattung der Kommunen. Das scheint mir für dieFunktionsfähigkeit der Städte und Gemeinden entschei-dend zu sein. Es sind hier diejenigen Länder angespro-chen, etwas mehr für die Kommunen zu leisten, beidenen das noch nicht ausreichend der Fall ist, wo bei-spielsweise die Leistungen für Asylbewerber und Flücht-linge nicht spitz abgerechnet werden, sondern die Kom-munen nur pauschal Anteile bekommen und damit aufeinem Teil ihrer Kosten sitzen bleiben. Der Bund hat inden letzten Jahren in diesem Bereich die Hausaufgabengemacht. Mit den Entlastungen bei der Grundsicherung,bei den Betriebskosten für die Kinderbetreuungseinrich-tungen, aber auch im Bereich der Wiedereingliederungs-hilfe ist so viel für die Kommunen getan worden, dassdie Kommunen insgesamt zufrieden sein können.
Meine Damen und Herren, es gibt aber auch einenBereich, der rechtlich gar nicht abschließend geregeltwerden kann. Bei der Frage von gesetzgeberischen Wert-entscheidungen geht es auch um Respekt und Verständ-nis. Wir alle sind aufgerufen, im Bereich unserer Gesetz-gebung Respekt und Verständnis für die Aufgaben derKommunen zu haben, sich in sie hineinzuversetzen undzu hinterfragen, wie die Norm auf kommunaler Ebeneankommt. Deswegen ist es gut, dass viele Kolleginnenund Kollegen hier im Bundestag aus der kommunalenSchule stammen, und es ist auch richtig und zielführend,wenn sich – wie in der Union – über die Hälfte der Ab-geordneten ganz konkret zu kommunalpolitischen Zielenbekennen.Respekt und Verständnis für die Aufgaben derKommunen lassen sich nicht allein durch rechtliche Re-gelungen verordnen, sondern muss man im Sinne einesfunktionierenden Gemeinwesens im Herzen tragen. Des-wegen heißt unser Leitspruch: Suchet der Stadt Bestes!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3413 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Steigerung der Attraktivität des
Drucksache 18/3697
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses
Drucksache 18/4119
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/4120
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen worden.
Wenn alle zuständigen Kolleginnen und Kollegen aus
den Fraktionen eingetroffen sind und einen Platz gefun-
den haben, kann ich die Aussprache eröffnen. – Ich er-
öffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Henning
Otte für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundeswehr ist der Garant für die Sicherheit undFreiheit unseres Landes. Dabei ändern sich die Heraus-forderungen für die Sicherheit. Daher gilt es, neben denGrundsatzentscheidungen einen stetigen Anpassungs-prozess durchzuführen, um für jede Situation eine rich-tige Antwort zu finden.Es gibt drei Säulen, die für uns von besonderer Be-deutung sind: Erstens. Wir brauchen den richtigen si-cherheitspolitischen Kurs. Dafür erarbeiten wir einWeißbuch. Zweitens. Wir brauchen modernes Material.Dafür befinden wir uns in einem Prozess der Beschaf-fung. Drittens. Vor allem brauchen wir die richtigenMenschen. Weil dieser Bereich, Human Resources, einganz wesentlicher, wenn nicht sogar der entscheidendePunkt ist, haben wir den Gesetzentwurf zur Steigerungder Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr vorge-legt. Mit diesem Gesetz machen wir einen riesigenSprung, um auch zukünftig die richtigen Menschen für
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Henning Otte
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den Dienst für unser Land und in der Bundeswehr zu be-geistern.
Streitkräfte können immer nur so gut sein wie ihr ei-genes Personal. Die Herausforderungen sind groß: DieGeburtenjahrgänge sind nicht mehr so stark wie früher,und die Bundeswehr muss mit anderen Arbeitgebernkonkurrieren. Die Wehrpflicht gibt es richtigerweisenicht mehr; sie hat uns aber zugegebenermaßen früher inder Nachwuchswerbung einen Vorsprung gewährt.Hinzu kommt: Der Dienst in der Bundeswehr ist for-dernder geworden. Auslandseinsätze sind heute ein nor-maler Bestandteil des Soldatenlebens, und das bringtzweifelsohne erhebliche Belastungen auch für die Ange-hörigen und Familien mit sich. Die Soldatinnen und Sol-daten sind bereit, im Einsatz Leib und Leben einzubrin-gen. Deswegen heißt es zu Recht: Der Beruf desSoldaten ist kein Beruf wie jeder andere.
Es war daher der richtige Zeitpunkt, dass unsere Vertei-digungsministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen, dazueine Attraktivitätsoffensive ins Leben gerufen hat. Eswar gut, dass diese Initiative auch im parlamentarischenBereich beherzt unterstützt worden ist. Die Bundeswehrwird damit noch besser und einsatzbereiter.Der Gesetzentwurf beinhaltet insgesamt 22 Einzel-maßnahmen, mit denen wir die Attraktivität der Bundes-wehr steigern werden. Dort, wo es möglich ist, orientie-ren wir uns am zivilen Arbeitsmarkt. Insgesamt sollenfür diese Maßnahmen allein 2015 120 Millionen Eurozur Verfügung gestellt werden. Ich nenne einige davonexemplarisch: Wir steigern die Vereinbarkeit von Dienstund Familie mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von41 Stunden pro Woche außerhalb der Einsätze. Wir er-weitern die Möglichkeit der Teilzeitarbeit und schaffenRegelungen für die Elternzeit. Wir erhöhen die Vergü-tung mit einer Reihe von Verbesserungen bei den Stel-lenzulagen ebenso wie beim Wehrsold. Wir verbesserndie soziale Absicherung. Bei Soldaten auf Zeit erhöhenwir bei der Nachversicherung in der gesetzlichen Ren-tenversicherung die Beitragsbemessungsgrundlage. Beider Nachversicherung haben wir im parlamentarischenVerfahren noch gemeinsam eine Verbesserung erzielt,indem wir eine Erhöhung von ursprünglich 15 auf20 Prozentpunkte vorgenommen haben.Wir haben eine Expertenanhörung durchgeführt, beider dieser Gesetzentwurf als weiter Sprung sehr gelobtworden ist. Allen voran danken wir dem Bundeswehr-Verband, der uns mit Rat und Tat unterstützt hat.
Herzlichen Dank für die Hinweise aus der Praxis für diePraxis!In einigen Bereichen hätten wir uns weiter gehendeVerbesserungen vorstellen können. Diese wurden nichtumgesetzt, und trotzdem bleiben sie richtig. So werdenwir beispielsweise eine Kommission einsetzen, um einebessere Orientierung bei den Zulagen zu bekommen.Wir wollen die Hinzuverdienstgrenzen noch einmal be-leuchten, um nach Möglichkeit einen kompletten Weg-fall zu erreichen; denn Soldatinnen und Soldaten, die dieBundeswehr verlassen, sind willkommene Fachkräfteauf dem Arbeitsmarkt. Das wollen wir honorieren. Auchdas ist ein Beitrag für unser Land.
Mit dem Gesetz gelingt uns ein wesentlicher Wurf hinzu einer Bundeswehr, die auf gesellschaftspolitische undsicherheitspolitische Herausforderungen noch besser re-agieren kann. Attraktiv ist aber auch, wer modern ausge-stattet ist. Aktuell sehen wir, wie sich die Bedrohungs-lage wandelt. Es war ein Trugschluss, zu glauben, dassdie konventionelle Bedrohung nicht mehr auf der Tages-ordnung steht. Die offensive Außenpolitik Russlandsstellt auf beunruhigende Art und Weise eine Herausfor-derung für uns dar. Dieser werden wir begegnen. Dazumuss der Sicherheitsdeich an den osteuropäischenNATO-Grenzen angepasst werden. Vor allem brauchenwir in der Bundeswehr weiterhin ein breites Fähigkeits-spektrum. Wir müssen zu einer Vollausstattung derTruppe kommen. Moderne Armee bedeutet auch mo-derne Technik. Deswegen ist die sogenannte MINT-Ini-tiative bei der Bundeswehr längst angekommen.Wir brauchen den richtigen sicherheitspolitischenKurs und modernes Material. Vor allem brauchen wirmotivierte, begeisterte und von ihrem Dienst überzeugteSoldatinnen und Soldaten, die ihren Auftrag souveränerfüllen können. Die Union steht ein für die Sicherheitunseres Landes. Dazu gehört in allererster Linie dieWertschätzung gegenüber unseren Soldatinnen und Sol-daten. Das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetzist ein Ausdruck dieser Wertschätzung. Daher bitten wirherzlich um Unterstützung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Frauvon der Leyen in der letzten Woche den Prozess für dieErstellung eines neuen Weißbuches eröffnete, stand eineAusweitung der Militäreinsätze im Zentrum; denn deut-sche Interessen kennen – so die Ministerin – „keine un-verrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ“.Kaum wahrgenommen wurde der Satz am Ende derRede, dass das Gesagte für die Bundeswehr eine „zeitge-mäße Personalpolitik“ bedeuten würde. DemografischeProbleme hat Frau von der Leyen dabei angeführt. HerrOtte wurde eben deutlicher. Human Resource, jungeMänner und Frauen sind gefragt. Im Klartext heißt das:
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Christine Buchholz
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Die Bundeswehr braucht im Jahr 60 000 neue Bewerbe-rinnen und Bewerber, um ihr Soll zu erfüllen. Es gehtum Rekrutierung, also darum, den Dienst bei der Bun-deswehr jungen Männern und Frauen schmackhaft zumachen. Wir sind der Auffassung, dass neben demogra-fischen Faktoren gerade die Auslandseinsätze der Bun-deswehr der eigentliche Grund für die Rekrutierungspro-bleme sind.
Wir sagen an dieser Stelle ganz deutlich: Wir wollennicht, dass junge Männer und Frauen für eine Armee imEinsatz rekrutiert werden. Das heißt, wir teilen das über-geordnete Ziel von Frau von der Leyens Attraktivitätsof-fensive nicht.
Uns liegt nun ein Gesetz vor, das einige Aspekte ausFrau von der Leyens Attraktivitätsprogramm regeln soll.Dabei geht es um Arbeitsbedingungen, Vergütung undsoziale Absicherung von Soldatinnen und Soldaten. Eswird Sie vielleicht überraschen, aber es gibt einige As-pekte in diesem sogenannten Artikelgesetz, denen wirdurchaus zustimmen können; denn sie betreffen eine An-gleichung an allgemeine Standards bzw. überfällige so-ziale Verbesserungen für Soldatinnen und Soldaten. Zubegrüßen sind unserer Meinung nach zum Beispiel Teiledes Artikels 2, der das Bundesbesoldungsgesetz ändert.So stellt die Mehrarbeitsvergütung für Soldaten eineüberfällige Angleichung an Standards dar, die für alleBeschäftigten gelten.
Ebenso zu begrüßen sind Teile des Artikels 5, der dieÄnderung des Soldatengesetzes vorsieht. Darin ist unteranderem geregelt, dass die regelmäßige Arbeitszeit derSoldaten im Grundbetrieb auf wöchentlich 41 Stundenreduziert wird. Auch das begrüßen wir selbstverständ-lich. Wir bedauern aber, dass das nicht für alle Bereicheder Bundeswehr gelten soll.
Würde über die betreffenden Artikel und ihre Bestand-teile einzeln abgestimmt werden, würden wir uns demnicht in den Weg stellen und an dieser Stelle durchauszustimmen.Aber über das Artikelgesetz wird als Ganzes abge-stimmt. Es gibt andere Aspekte, die wir für falsch haltenund die Grund für unsere Ablehnung sind. So drückt sichdie Einsatzorientierung unter anderem in den Zulagenaus. Wir sehen nicht ein, dass es Lockprämien und Zula-gen für Sondereinsatzsoldaten wie Soldaten des KSK inHöhe von 900 Euro monatlich gibt. Das lehnen wir ab.
Ja, wir sind für eine gute Rente für alle, aber gegendie Besserbehandlung von gut verdienenden Zeitsolda-ten in der Nachversicherung; denn das widerspricht demPrinzip einer solidarischen Rentenversicherung und istungerecht.
Die Nachversicherung führt in bestimmten Fällen dazu,dass die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichenRentenversicherung durchbrochen wird. Ungerecht istdas, weil diese Ausnahme zum Beispiel beim Zusam-mentreffen der Mütterrente mit der Erwerbstätigkeitkünftig nicht gemacht wird. Hier wird also der Anspruchauf die Mütterrente gnadenlos an der Beitragsbemes-sungsgrenze gekappt. Wir sagen: Die Beitragsbemes-sungsgrenze soll für alle angehoben werden. Das wäregut für die Soldatinnen und Soldaten und für alle ande-ren Beschäftigten auch.
Dieses Artikelgesetz betrifft vor allem die Soldatin-nen und Soldaten der Bundeswehr und nur zu 2 Prozentdie Beamten der Bundeswehr und überhaupt nicht dieangestellten zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.Das sind 72 000 Menschen, die nicht erfasst werden,trotz teilweise gleicher oder ähnlicher Belastungen.Unter dem Strich sind wir für die soziale Verbesse-rung für Soldatinnen und Soldaten und auch andere Be-schäftigte der Bundeswehr. Aber wir sind dagegen, dassdie Bundeswehr als Einsatzarmee zu einem attraktivenArbeitgeber gemacht wird, wie es sich letztendlich indiesem Artikelgesetz ausdrückt. Deswegen werden wirheute hier mit Nein stimmen.
Der Kollege Dr. Fritz Felgentreu hat für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-gin Buchholz, was die Linke hier als Kritik an dem Ge-setz vorträgt, kann nicht überzeugen.
Dieses Gesetz regelt lauter Dinge, für die sich die Linkean anderer Stelle, in anderen Ausschüssen vehement indie Bresche wirft. Wir kämpfen hier für bessere Rege-lungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst, fürsoziale Standards für Soldatinnen und Soldaten, für ver-besserte Teilzeitregelungen, für all die Dinge, die denLinken sonst wichtig sind.
An dieser Stelle lehnen Sie sie ab. Verehrte KolleginBuchholz, das kann nur daran liegen, dass der wahreGrund für Ihre Ablehnung ist, dass Sie keine attraktiveBundeswehr wollen.
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8346 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Fritz Felgentreu
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Wer keine attraktive Bundeswehr will, der will gar keineBundeswehr.
Bei Ihnen ist das Bekenntnis zur Landesverteidigung nurein Lippenbekenntnis, nicht mehr. Sie können ohne eineArmee das Land nicht verteidigen. Wenn Sie behaupten,Sie wollten das dennoch tun, dann muss das falsch sein.Letztlich geht es Ihnen darum, das Land ohne eine Bun-deswehr bündnisunfähig und wehrlos zu machen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wirmit unserer Debatte heute auf der Zielgeraden sind. Wirwerden in wenigen Minuten ein Gesetz beschließen, dases für junge Menschen deutlich attraktiver machen wird,sich für den Soldatenberuf zu entscheiden als bisher. Dasist zunächst einmal und vor allen Dingen ein Grund zurFreude. Dazu haben viele beigetragen. Die Grundlagedafür ist ein guter, solide durchdachter Gesetzentwurfaus dem Bundesverteidigungsministerium.Aber wie das so ist: Obwohl es sich um einen gutenGesetzentwurf handelt, hat es sich die Koalitionsmehr-heit auch in diesem Fall nicht nehmen lassen, für diezweite Lesung noch die eine oder andere Verbesserungvorzunehmen. Zur Begründung will ich an dieser Stellenicht auf kleinere Details eingehen, sondern zwei Punkteansprechen, die im Zentrum unserer gesetzgeberischenZiele stehen.Ein Hauptthema des Attraktivitätssteigerungsgesetzesist die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. In der par-lamentarischen Beratung haben wir in diesem Zusam-menhang festgestellt, dass der Gesetzentwurf die letztenVerbesserungen bei der Planung der Elternzeit nochnicht nachvollzieht, die der Bundestag im vergangenenJahr zusammen mit der Einführung des ElterngeldPlusbeschlossen hat. Ab dem 1. Juli werden nämlich Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer 24 Monate der Eltern-zeit auch zwischen dem dritten und dem achten Lebens-jahr ihres Kindes nehmen können, zum Beispiel um dasKind in den ersten beiden Schuljahren auf dem Weg indie Schule ein bisschen enger zu betreuen und zu beglei-ten. Das gleiche Recht müssen Soldatinnen und Soldatennatürlich auch haben. Deshalb fügen wir in den Gesetz-entwurf einen zusätzlichen Artikel ein und regeln beidieser Gelegenheit gleich mit, wie wir damit umgehen,dass eine Soldatin während ihrer Elternzeit erneutschwanger wird. Es ist logisch, dass die Elternzeit unter-brochen werden muss, wenn der Mutterschutz einsetzt.Das andere große Thema ist die soziale Absicherungder Bundeswehrangehörigen. Schon bei der ersten Le-sung hat die SPD-Fraktion gefordert, die Basis für dieNachversicherung der Zeitsoldaten nach ihrem Aus-scheiden um mehr als die im Gesetzentwurf vorgesehe-nen 15 Prozent anzuheben. Die Experten haben in derAnhörung unsere Einschätzung einhellig bestätigt. Des-halb sind wir besonders froh darüber, dass es uns gelun-gen ist, die Kolleginnen und Kollegen, die im Haushalts-ausschuss mit Argusaugen über die schwarze Nullwachen, davon zu überzeugen, dass der Bund hier in derPflicht ist.
Mit unserem Änderungsantrag erhöhen wir die vorgese-hene Steigerung der Berechnungsgrundlage von 15 Pro-zent um ein Drittel auf 20 Prozent. Damit kommen wirbei der Altersvorsorge für Soldatinnen und Soldaten aufZeit einen großen Schritt weiter.Meine Damen und Herren, die Fachleute für Sicher-heit und Verteidigung in der Koalition hätten sich auchbeim Versorgungsausgleich und bei den Hinzuverdienst-grenzen für pensionierte Angehörige der Bundeswehrnoch mehr vorstellen können als die Gleichstellung mitden Beamten der Bundespolizei.
Die Anhörung am Montag hat jedoch gezeigt: WeitereVerbesserungen werfen Fragen auf, die den öffentlichenDienst auch außerhalb der Bundeswehr betreffen. DieseFragen können deshalb nur in einem Gesamtkonzept undim Einklang mit der Innenpolitik gelöst werden. Die Ko-alition hat sich vorgenommen, in der zweiten Hälfte derLegislaturperiode auch dazu Vorschläge zu machen. Fürdie Soldatinnen und Soldaten bringt das heute beschlos-sene Gesetz gegenüber dem bisherigen Zustand schonjetzt große Verbesserungen und wird deshalb einenwichtigen Beitrag zu mehr Arbeitszufriedenheit und ei-ner positiven Stimmung in der ganzen Truppe leisten.Ein Wort zu den Änderungsanträgen der Grünen, dieviele gute Anregungen enthalten, mit denen sich der Ver-teidigungsausschuss sicherlich intensiver befassen wird.Ich möchte heute als Beispiel nur die Freiheit der Wahlzwischen Trennungsgeld und der Vergütung der Um-zugskosten herausgreifen. In diesem Punkt ist die Koali-tion derselben Auffassung wie die Grünen. Wir habendie Einführung der Wahlfreiheit deshalb auch im Koali-tionsvertrag beschlossen. Die SPD wird ihr Augenmerkdarauf richten, dass wir hier in den nächsten Monaten zuErgebnissen kommen. Die notwendige Überzeugungsar-beit, zum Beispiel beim Bundesministerium des Innern,braucht aber noch ein wenig Zeit. Eine Regierungsmehr-heit muss ja über Fraktions- und Ressortgrenzen hinweggeschlossen und einig handeln und bei Gesetzentwürfenauch auf die nötige Genauigkeit achten.
Deshalb greifen wir gerne auf, was die Grünen mit ihremÄnderungsantrag erreichen wollen. Dem Antrag selbstkönnen wir uns heute aber nicht anschließen.Meine Damen und Herren, das Attraktivitätssteige-rungsgesetz bringt uns ein großes Stück weiter. Wir soll-ten aber nicht dem Missverständnis erliegen, alle Pro-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8347
Dr. Fritz Felgentreu
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bleme seien damit gelöst. Damit die Bundeswehrwirklich die attraktivste Arbeitgeberin im Lande wird,bleibt viel zu tun. Wir müssen Kasernen sanieren. Wirmüssen die Bedingungen für die Ausbildung und denÜbergang in zivile Berufe weiter verbessern, und wirmüssen vor allen Dingen die Ausrüstung auf einen Standbringen, der der Bundeswehr unnötige Ausgaben undauch peinliche Berichterstattungen dauerhaft erspart.Unsere Armee bleibt vorerst eine spröde Schönheit. DieFreude darüber, dass wir ihrer Attraktivität heute be-trächtlich aufhelfen können, wollen wir uns davon abernicht verderben lassen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchtedem Kollegen Felgentreu danken, dass er sich mit derLinken auseinandergesetzt hat; dann muss ich das nichtmehr tun, und kann mich zum vorliegenden Gesetzent-wurf äußern.
Ich habe schon vieles über den Gesetzentwurf gehört:Von einem großen Sprung war die Rede. Man könnteauch sagen, wir haben es mit einem Wortungetüm, wiees im parlamentarischen Betrieb üblich ist, zu tun: „Bun-deswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz“. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich möchte in den kommendenMinuten vor allem herausarbeiten, warum aus Sicht mei-ner Fraktion vieles von dem, was in dem Gesetzentwurfsteht, schlichtweg notwendige Schritte sind, die wir hierheute gehen; denn die Wehrpflicht wurde ausgesetzt. Ichhoffe, dass sie abgeschafft ist – aus Sicht meiner Frak-tion: zu Recht und endlich. Wenn wir das Bild desStaatsbürgers in Uniform erhalten wollen, wenn wir si-cherstellen wollen, dass sich nach wie vor junge Frauenund Männer, die motiviert, staatsbürgerlich aufgeklärtund persönlich geeignet sind, für den Dienst in der Bun-deswehr entscheiden, dann ist es unsere Verpflichtung,die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen.Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf – ich würdees anders sagen als der Kollege Otte – nicht unbedingtein großer Sprung, aber in weiten Teilen durchaus einrichtiger und notwendiger Schritt in die richtige Rich-tung.
Sie setzen in diesem Gesetzentwurf in vielen Fällenauf finanzielle Anreize, wenn es um Vergütung geht,wenn es um Versorgung geht. Gestatten Sie mir eine Be-merkung, zumindest im Namen vieler Kolleginnen undKollegen hier im Hohen Hause: Wir entsenden als Parla-mentarier oft genug Soldaten der Bundeswehr in Aus-landseinsätze.
Damit laden wir eine hohe Verantwortung auf uns, liebeKolleginnen und Kollegen. Wir sollten den Soldatinnenund Soldaten dann auch versichern, dass wir als Deut-scher Bundestag gewillt sind, alles zu tun und unsere So-lidarität zu zeigen, wenn Soldaten unverschuldet in Notgeraten.
Deswegen ist es richtig, dass der Stichtag für die Ent-schädigung für Einsatzunfälle noch weiter zurückdatiertwurde. Ich will aus Sicht meiner Fraktion sagen: Wirhätten ihn gern ganz gestrichen gewusst.
Finanzielle Anreize, meine sehr geehrten Damen undHerren, sind aber nicht alles. Ich würde keiner Frau undkeinem Mann, die oder der sich für den Dienst in derBundeswehr entscheidet, unterstellen, dass sie oder ernur aus finanziellen Gründen zur Bundeswehr geht. Esgeht vielfach um die Frage: Welche berufliche Laufbahnkann ich beim Arbeitgeber Bundeswehr haben? Aber– ich finde, da müssen wir noch mehr tun; da müssenSie, Frau von der Leyen, noch mehr tun – es wird auchdarum gehen, dass wir Bewerberinnen und Bewerbernsagen, was sie denn im Berufsleben nach ihrer Zeit beider Bundeswehr tun können. Wir müssen den Dienstbei der Bundeswehr noch stärker unter dem Aspekt be-trachten: „Wie kann man erworbene Qualifikationenzertifizieren, dokumentieren, und wo kann man Berufs-ausbildungen anschließen oder während des Dienstesableisten?“, damit der Dienst bei der Bundeswehr wirk-lich in neue Erwerbsbiografien hineinpasst.
Es kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu, wennich sage, das ist heute hier nicht unbedingt der großeSprung, aber ein notwendiger Schritt in die richtigeRichtung. Attraktivität macht sich noch an viel mehrfest. Sie macht sich an der Frage des Materials und desGeräts fest. Da möchte ich Ihnen, Herr Kollege Otte,durchaus widersprechen. Es geht nicht in erster Linie da-rum, ob es modernes Material ist, ob es das modernsteMaterial ist oder ob wir jetzt wieder deutsche „Gold-randlösungen“ bestellen. Die Soldatinnen und Soldatensind vor allem darauf angewiesen, dass sie funktionie-rendes Material in ihren Händen halten, dass wir ihnenfunktionierendes Material anvertrauen. Da passt es nicht,dass diese Koalition vor allem auf neue Rüstungsgroß-vorhaben setzt und den Materialerhalt bei bestehendenSystemen vernachlässigt.
Der zweite Punkt. Es passt auch nicht zu mehr Attrak-tivität, wenn die Ministerin verspricht, dass für Unter-kunftsgebäude und andere Gebäude der Bundeswehrmehr getan wird, aber noch im Herbst bei den Haushalts-
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8348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Tobias Lindner
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beratungen Mittel ab dem Jahr 2016 umgeschichtet wur-den.Gestatten Sie mir, zuletzt einen dritten Punkt zu nen-nen. Es passt auch nicht, wenn wir über mehr Attraktivi-tät reden, dass wir über Monate über Probleme bei derBundeswehr Bekleidungsgesellschaft hinweggesehenhaben und nun mit teurem Steuergeld diese Gesellschaftretten müssen, damit die Einkleidung im April gesichertist.
Wenn Sie es mit der Attraktivität der Bundeswehrernst meinen, dann müssen Sie auch an diesen Punktenliefern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, in diesem Gesetz sind viele Maß-nahmen enthalten. Einige sehen wir Grüne nicht unkri-tisch; das haben unsere Änderungsanträge im Ausschussgezeigt, und das zeigt auch unser Entschließungsantrag.Manches wären wir anders angegangen. Bei anderenPunkten gehen Sie uns nicht weit genug. Aber wir möch-ten an den Punkten, die uns notwendig erscheinen, dieuns wichtig erscheinen, Dinge nicht blockieren. Manmuss das Gesetz nicht in den Himmel loben, wie Sie esgetan haben, Herr Otte; man muss die Dinge, die richtigsind, aber auch nicht in Bausch und Bogen verdammen.Das wird nachher Richtschnur für unser Abstimmungs-verhalten sein.Ich danke Ihnen.
Der Kollege Robert Hochbaum hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute ist ein guter und wichtiger Tag für dieBundeswehr. Heute ist ein guter und wichtiger Tag füralle Soldatinnen und Soldaten, die bei der Bundeswehrihren Dienst tun und zukünftig tun werden. Heute istaber auch ein wichtiger Tag für fast alle hier im Parla-ment; denn das vorliegende Gesetz ist im Rahmen derNeuausrichtung der Bundeswehr die logische und konse-quente Fortführung dessen, wofür wir in den zurücklie-genden Jahren den Grundstein gelegt haben, zum Bei-spiel mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetzund mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz.Der heute hier vorliegende Gesetzentwurf ist – so dieWorte des Vorsitzenden des BundeswehrVerbandes,Oberleutnant André Wüstner, den ich auf der Tribünesehr herzlich begrüßen darf – einer der „größten Würfein der Geschichte der Bundeswehr“. Wir setzen damit ei-nen zentralen Meilenstein für eine leistungsfähige undeffiziente Bundeswehr der Zukunft.Ich möchte es in diesem Zusammenhang nicht ver-säumen, allen Beteiligten, vor allen Ihnen, liebe FrauMinisterin, und dir, lieber Henning Otte, aber auch allenanderen Kolleginnen und Kollegen aus dem BereichVerteidigung, für ihren hohen persönlichen Einsatz zudanken.
„Wir. Dienen. Deutschland“. Diese drei Worte brin-gen das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldatender Bundeswehr treffend zum Ausdruck. Meine Damenund Herren, fast alle wissen nur zu gut: Der Beruf desSoldaten ist kein Beruf wie jeder andere. Das möchte ichhier, gerade auch weil dies doch scheinbar noch nichtalle so sehen, einmal ganz besonders unterstreichen. Essind unsere Soldatinnen und Soldaten, die über vieleMonate hinweg oft fern der Heimat die Last der Einsätzetragen, die in heftigen Gefechten standen und stehen,von denen manche an Leib und Seele verwundet in dieHeimat zurückkamen und zurückkommen. Einige vonihnen sind sogar gefallen. Es gibt meines Erachtens kei-nen Berufszweig, der damit vergleichbar wäre. Niemandmuss bei jeder Fahrt, ob in Berlin, in Hamburg, in Mün-chen oder anderswo, mit der ständigen Angst leben, je-derzeit auf eine Mine oder einen Sprengsatz zu fahren.Aber unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz warenund sind diesen ständigen Bedrohungen ausgesetzt undleisten trotzdem eine ausgezeichnete Arbeit. Dafürmöchte ich ihnen gerade von dieser Stelle aus noch ein-mal ausdrücklich danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist also keineleichte Entscheidung, sich als junger Mensch für dieBundeswehr zu entscheiden. Sie ist eben kein Arbeitge-ber wie jeder andere, und diese Entscheidung ist eineEntscheidung für ein Lebensmodell, das sich von vielenanderen unterscheidet, eine Entscheidung, die das Le-ben, nicht zuletzt das Familienleben, nachhaltig beein-flusst – heute übrigens mehr denn je zuvor; denn dieBundeswehr ist eine Freiwilligenarmee, und sie ist eineArmee im Wandel. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfschaffen wir darum einerseits eine immense Verbesse-rung der Rahmenbedingungen für den Dienst in der Bun-deswehr und andererseits sorgen wir für ein Stück mehrAnerkennung und Gerechtigkeit für die Soldatinnen undSoldaten.Wie viele von Ihnen wissen, habe ich mich dabeischon seit einigen Jahren besonders für zwei Punkte ein-gesetzt. Ich freue mich natürlich darüber, dass sie mitdem vorliegenden Gesetzentwurf und den ergänzendenAnträgen fast vollkommen abgearbeitet sind. Das istzum einen die Frage der gerechten Nachversicherung fürZeitsoldaten und zum anderen die Frage der Hinzuver-dienstgrenze für ausgeschiedene Soldatinnen und Solda-ten – im letzteren Fall natürlich besonders die Regelungfür die ehemaligen NVA-Angehörigen, die nach derWende von der Bundeswehr übernommen worden sind.Für diese Ergebnisse noch einmal meinen recht herzli-chen Dank an alle Beteiligten. Ich bin mir sicher, dass
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Robert Hochbaum
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wir demnächst eine abschließende Regelung dazu nochfinden werden.Meine Damen und Herren, seien Sie versichert: Wirwerden nicht müde, die Stimme für unsere Soldatinnenund Soldaten zu erheben und uns weiterhin nach bestenKräften für ihr Wohl einzusetzen. Wir alle leben hier un-ter anderem nur deshalb in Frieden und Sicherheit, weilunsere Soldatinnen und Soldaten täglich ihren Diensttun.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Heidtrud Henn hat für die SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bera-
ten heute abschließend über das Gesetz zur Steigerung
der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr. Ich
möchte zuerst allen Danke sagen, die mitgeholfen haben,
dieses Gesetz für unsere Bundeswehrangehörigen auf
den Weg zu bringen. Insbesondere danke ich unserer
Kollegin Michaela Noll und unserem Kollegen Fritz
Felgentreu, die als Berichterstatter für dieses Gesetz zu-
ständig sind.
„Der Mensch steht im Mittelpunkt“, dies war Ihre
Aussage, sehr geehrte Frau Ministerin, als Sie Ihr Amt
angetreten haben. Angesichts des Gesetzes, das wir auf
den Weg bringen, weiß ich, dass Ihnen die Menschen
wirklich am Herzen liegen.
„Der Mensch steht im Mittelpunkt.“ Die Bundeswehr
wird in diesem Jahre 60 Jahre alt. Es ist an der Zeit,
diese besondere Arbeitgeberin für die jetzigen und
künftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fit zu
machen. Eine geregelte Arbeitszeit finde ich gut. Die
Arbeitszeit muss sich dennoch flexibler gestalten. Es
geht bei dem Gesetz auch darum, Kinderbetreuung,
Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Hier ein
Beispiel aus der Praxis: Dienstbeginn 7.15 Uhr, Dienst-
ende 16.30 Uhr. Die meisten Kitas sind von 7.00 bis
17.00 Uhr geöffnet. Die Zeitspanne von 7.00 Uhr bis
7.15 Uhr langt nicht, um den Dienst pünktlich anzutre-
ten. Wegen zehn Minuten muss man Teilzeit beantragen.
Würde der Dienst um 7.30 Uhr beginnen, würde man
vielen Soldatinnen und Soldaten den Druck nehmen.
Überstunden können nicht vermieden werden. Aber
wir müssen Sorge dafür tragen, dass beispielsweise im
Sanitätsdienst genügend Personal da ist, um Vakanzen
auszugleichen. Wer einen hohen Einsatz zeigt, muss
auch Gelegenheit haben, sich auszuruhen.
Attraktivität bedeutet auch, einen angemessenen
Wohnraum zu schaffen. Ich will zwei Anmerkungen
dazu machen: Erstens sollten die Unterkünfte größer
sein als eine Abstellkammer. Zweitens sollte man
darüber nachdenken, dass Soldatinnen und Soldaten
auch nach ihrem 24. Lebensjahr die Unterkünfte in der
Kaserne nutzen können. Die Kosten für eine Zweitwoh-
nung sind häufig nicht mit dem Trennungsgeld abge-
deckt.
Damit die Attraktivität nicht nachlässt, werden wir
uns in Zukunft Gedanken über die Regelungen des
Bundesmeldegesetzes machen müssen. Unverheiratete
Soldatinnen und Soldaten müssen ihren Erstwohnsitz am
Standort, an dem sie ihren Dienst leisten, anmelden. Die
meisten Soldatinnen und Soldaten haben ihren Lebens-
mittelpunkt aber in ihrem Heimatort. Viele haben dort,
wo sie zu Hause sind, Kinder, eine Partnerin oder einen
Partner. Dort würden sie gerne wählen und ihrem ehren-
amtlichen Engagement nachgehen. Die jetzige Regelung
trennt Menschen von ihren Wurzeln.
Das Gesetz ist auf den Weg gebracht. Nun geht die
Arbeit für uns Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker wei-
ter. Ich werde weiter unterwegs sein, um mir direkt an
den Standorten ein Bild zu machen. Es ist wichtig, das
Ohr an der Basis zu haben.
Liebe Soldatinnen und Soldaten, ich freue mich, Sie
auf der Besuchertribüne zu sehen. Sie sind mit Ihren
Uniformen gleich zu erkennen. Es geht uns aber um alle
Angehörigen der Bundeswehr. Wir wollen auch im Inte-
resse der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür
Sorge tragen, dass das sozialdemokratische Bild von
„guter Arbeit“ für die Bundeswehr gilt.
Es kommt nicht oft vor, dass ein Gesetzentwurf das
Wort „Attraktivität“ im Titel führt. Ich bin ganz sicher:
Mit dem Gesetz zur Steigerung der Attraktivität des
Dienstes in der Bundeswehr machen wir die Bundes-
wehr attraktiver: für die Menschen, die bereits ihren
Dienst für uns leisten, für die Neuen und die Neugieri-
gen, die ihren beruflichen Weg mit der Bundeswehr und
für uns alle gehen wollen.
Meine Damen und Herren, nun gilt es, die Worte in
Taten umzusetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche Ihnen Gottes Segen.
Die Kollegin Julia Obermeier hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Weltweit bedrohen zahlreiche KrisenherdeFreiheit und Sicherheit. Der Frieden muss verteidigt, inmanchen Fällen gezwungenermaßen auch erkämpftwerden. Mit der deutschen Sicherheitspolitik setzen wiruns aktiv für eine bessere und sichere Welt ein. Hierzu
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8350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Julia Obermeier
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nutzen wir die gesamte Bandbreite der politischenInstrumente: Neben der Diplomatie und der Entwick-lungszusammenarbeit stellen unsere Streitkräfte einesdieser Instrumente dar. Sie sind dabei unentbehrlicherBestandteil des vernetzten Ansatzes.Die Bundeswehr muss, wenn alle anderen politischenMittel versagen, in der Lage sein, der Politik ein breitesHandlungsspektrum zu eröffnen. Unsere Frauen undMänner in Uniform setzen sich für eine bessere, eine ge-rechtere, eine freie und sichere Welt ein. Die militäri-schen wie auch die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter leisten eine gute, ja eine hervorragende Arbeit. Esist ein Dienst am Frieden, der als solcher mehr als ehren-voll ist.Unsere Soldatinnen und Soldaten sind das Beste, wasunser Land zu bieten hat, um die sicherheitspolitischenHerausforderungen unserer Zeit zu bestehen.
Wir sind angewiesen auf das Engagement der Soldatin-nen und Soldaten und auch auf ihre Bereitschaft, in denEinsatz zu gehen. Eine moderne Armee im Einsatz stelltihre ganz besonderen Herausforderungen. Entsprechendhat sich auch der Soldatenberuf gewandelt. Diesen Ver-änderungen trägt das Gesetz Rechnung, das wir heutebeschließen wollen.Damit der Soldatenberuf attraktiv bleibt, müssen wirunsere Streitkräfte stärken. Mit den 22 Maßnahmen, diewir heute beschließen wollen, gehen wir einen großenSchritt in diese Richtung. Das Gesetz umfasst drei Teil-bereiche: bessere Arbeitsbedingungen und Dienstgestal-tung, eine attraktive Vergütung sowie eine bessere so-ziale Absicherung der Bundeswehrangehörigen. Es freutmich sehr, dass wir in der parlamentarischen Beratungnoch weitere Verbesserungen erreicht haben, etwa beider Nachversicherung der Soldatinnen und Soldaten aufZeit in der gesetzlichen Rentenversicherung. Diesehaben wir von 15 auf 20 Prozent aufgestockt. Zudemhaben wir den Stichtag für die Entschädigung vonEinsatzunfällen auf den 1. November 1991 rückdatiert,sodass auch der Einsatz in Kambodscha abgedeckt ist.Darüber hinaus können Soldatinnen und Soldatenkünftig die Weiterbildungsmöglichkeiten des Berufsför-derungsdienstes auch nach dem Ende ihrer Dienstzeitnutzen.Wir haben mit dem Gesetz viele Verbesserungen fürunsere Soldatinnen und Soldaten erreicht. Ich danke andieser Stelle dem BundeswehrVerband für seine wichti-gen Anregungen aus der Praxis.
Aber, meine Damen und Herren, Sie können versichertsein: Weitere Schritte werden folgen. So werden wir dasgesamte Zulagenwesen noch in dieser Legislaturperiodeunter die Lupe nehmen. Auch wollen wir im Bereich derAusrüstung noch weitere Anstrengungen stemmen. Un-sere Bundeswehr bedarf besten Geräts und modernerTechnologien. Um diesen Bedarf zu decken, brauchenwir auch eine Erhöhung des Wehretats.
Die Attraktivität der Bundeswehr hängt aber nicht nuran den Arbeitsbedingungen und an der Ausrüstung. Sieist auch eng mit dem Rückhalt in der Gesellschaft ver-knüpft. In § 1 des Soldatengesetzes heißt es: „Staat undSoldaten sind durch gegenseitige Treue miteinander ver-bunden.“ Dies ist eine klare Aufforderung an den Staat,an die Gesellschaft und auch an uns Parlamentarier. Fürmeine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, und für michpersönlich ist klar: Wir stehen an der Seite der Truppe.Der vorliegende Gesetzentwurf ist auch Ausdruckunserer Verbundenheit mit der Bundeswehr und ihrenAngehörigen. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in derBundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4119,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache18/3697 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktionund der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/4121. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FraktionDie Linke abgelehnt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Corinna Rüffer, ElisabethScharfenberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie gesundheitliche Versorgung von Men-schen mit Behinderung menschenrechtskon-form gestaltenDrucksache 18/3155
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in denFraktionen zügig vorzunehmen und Platz zu nehmen undgegebenenfalls notwendige Gespräche vor den Plenar-saal zu verlagern.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Klein-Schmeink für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen hier im Bundestag! Wir bringen heute einenAntrag zur Verbesserung der gesundheitlichen Versor-gung von Menschen mit Behinderung ein. Wir habendiesen Antrag genannt: „Die gesundheitliche Versorgungvon Menschen mit Behinderung menschenrechtskon-form gestalten“.Das allein besagt, worum es geht: Sechs Jahre nachInkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention müs-sen wir uns auch den Bereich der gesundheitlichen Ver-sorgung vornehmen. Immerhin können Menschen mitBehinderung gemäß Artikel 25 der UN-Behinderten-rechtskonvention an unsere Gesellschaft sowohl den An-spruch auf einen diskriminierungs- und barrierefreienZugang zur allgemeinen gesundheitlichen Versorgungstellen als auch den Anspruch auf Angebote, die ganzgenau auf ihre spezifischen Gesundheitsbedarfe und kör-perlichen und geistigen Beeinträchtigungen ausgerichtetsind. Beides ist ein großer Anspruch, und beides wirdtrotz unseres sehr ausgefeilten und sehr umfangreichenGesundheitswesens in der Praxis nicht eingehalten. Des-halb sind wir als Gesellschaft und wir als Parlament ge-fordert, hier etwas zu verändern. Wir sind wirklich in derPflicht, diese Versorgung tatsächlich zu verbessern.
Wir sind nicht nur gefordert, weil dies seit sechs Jah-ren geltendes Recht ist, sondern auch, weil zurzeit einGesetzgebungsverfahren läuft, mit dem wir uns der Ver-sorgungsstärkung annehmen wollen. Das wird in dernächsten Plenarwoche Thema sein. Kann es einen bes-seren Rahmen geben, um über eine menschenrechts-konforme Ausgestaltung des Gesundheitswesens nach-zudenken, als diesen Kontext? Wenn es um Versor-gungsstärkung gehen soll, dann muss es auch um dieStärkung der Versorgung derjenigen gehen, die in beson-derem Maße auf unser Gesundheitswesen angewiesensind. Immerhin 17 Millionen Menschen haben eine kör-perliche oder andere Beeinträchtigung oder eine chroni-sche Erkrankung. Wir sind aufgefordert, genau hinzu-schauen und eine Ausgestaltung hinzubekommen, diediesen Menschen gerecht wird.
Es geht nicht darum, zu sagen: „Unser Gesundheits-wesen ist schlecht“, oder: „Unser Gesundheitswesenwird den Menschen mit Behinderung in Gänze nicht ge-recht.“ Darum geht es nicht. Aber wir wissen, dass wirzahlreiche Versorgungslücken haben, dass wir hohe Bar-rieren haben, dass wir Hürden haben, die gerade diejeni-gen, die eine besondere Beeinträchtigung haben, nichtnehmen können, was zum Teil zu einer eklatanten Fehl-und Unterversorgung führt. Das können wir nicht weiterzulassen.
Ich will eine kleine Palette von Themen aufzeigen.Zum Beispiel ist nur ein ganz kleiner Teil der Praxen vonniedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder anderenGesundheitserbringern wirklich barrierefrei. Ich sprechedabei noch gar nicht von technischen Barrieren, die et-was mit Verständigungs- bzw. Kommunikationsproble-men zu tun haben, zum Beispiel von Hörhilfen. DieÜberwindung all dieser Barrieren ist in der Regel heutenicht gewährleistet. In ganz wenigen Praxen und Kran-kenhäusern haben wir Personal, das über kommunika-tive Kompetenzen im Umgang mit beispielsweise hörge-schädigten Menschen verfügt. Auch in Bezug aufsehbeeinträchtigte Menschen mangelt es an vielem. Zu-sätzlich fehlen barrierefreie Informationen zu allen Ge-sundheitsleistungen, die es gibt. Auch diesbezüglichherrscht Fehlanzeige. Wir haben einen großen Mangelim Bereich der Fort- und Ausbildung in Bezug auf dieBedarfe von besonderen Personengruppen; diesbezüg-lich haben wir große Mängel. Auch die erwachsenenMenschen mit geistiger und mehrfacher Behinderungfinden bei ihren komplexen Bedarfslagen wenig ad-äquate Versorgungsangebote. Es fehlen medizinischeVersorgungszentren, die sich auf genau diese Gruppeeingerichtet haben.
Die Liste könnte unendlich fortgeführt werden. Wir se-hen: Es gibt einiges zu tun.Herr Kollege Hüppe hat in der letzten Wahlperiodeumfangreiche Anhörungen von Verbänden, auch Patien-tenverbänden, durchgeführt. Er hat die Daten erhobenund weiß genau, wo die Defizite sind. Angesichts des-sen müssen wir uns heute fragen: Wo hat das eigentlichseinen Niederschlag gefunden? Jedenfalls nicht in demjetzt geplanten Versorgungsstärkungsgesetz. Von den155 Änderungen, die in diesem Gesetzentwurf vorgese-hen sind – wir haben sie gezählt –, beziehen sich geradeeinmal fünf materielle Änderungen speziell auf Men-schen mit Behinderung. Wir sagen: Das ist zu wenig.
Wir legen Ihnen heute einen sehr umfangreichen An-trag vor. Sie können damit in der Beratung machen, wasSie wollen. Sie könnten im Versorgungsstärkungsgesetzein neues, eigenständiges Kapitel für die Menschen mitBehinderung einfügen.
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Maria Klein-Schmeink
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Das wäre ein Weg; da sind wir offen. Wir könnten auchsagen: Wir bringen ein eigenständiges Versorgungsstär-kungsgesetz für die Menschen mit Behinderung auf denWeg. – Das wäre ebenfalls ein Weg; auch da sind wir of-fen. Aber wir wünschen uns, dass Sie sich unsere Vor-schläge, die schon sehr umfangreich sind, anschauen unddazu einladen, dass die Verbände einbezogen werden,damit wir wirklich dem Anspruch „Nicht ohne uns überuns“ gerecht werden. Auch das fehlt in dem jetzigenVerfahren. Da sollten wir hinkommen. Wir meinen, dassdas aller Mühe wert wäre. Wir wären sehr froh, wenn Siesich dieses Themas wirklich annehmen und nicht so ver-fahren würden wie in der letzten Wahlperiode, als dannmal eben alles vom Tisch gewischt worden ist. Das wirddem Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, nichtgerecht. Wir wünschen uns eine wirklich detaillierte Be-fassung mit unseren Vorschlägen.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, nicht jedem Menschen ist es vergönnt, vom Anfangseines Lebens bis zu seinem Ende – vielleicht mit einbisschen Grippe zwischendurch – gesund durch das Le-ben zu kommen. Das ist ein großes Geschenk, an demman selbst arbeitet und an dem viele Leistungserbringerarbeiten. Leider gibt es in unserem Land zunehmendmehr Menschen, die nicht gesund zur Welt gekommensind, die das Unglück eines Unfalls erleben musstenoder die an einer Krankheit leiden. Uns um diese Men-schen zu kümmern, ist unser aller Anliegen. Das eint unszunächst einmal; das will ich sagen. Aber so zu tun, alshätten wir seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechts-konvention in Deutschland nichts getan, ist schlichtwegfalsch. Sie wissen ganz genau, dass wir in einem mühe-vollen, breit angelegten Prozess einen nationalen Ak-tionsplan für Deutschland verabschiedet haben, der im-mer noch gilt und der sukzessive, Punkt für Punkt,umgesetzt werden kann.Die neue Qualität dieser Sache liegt darin, dass wirdieses Thema nicht separat denken – Sie, liebe Kollegin,haben ja gerade vorgeschlagen, vielleicht sogar ein sepa-rates Gesetz zur besseren medizinischen Versorgung vonMenschen mit Behinderung auf den Weg zu bringen –,sondern dass wir es immer im Ganzen denken.
Wenn wir flächendeckend eine gute Versorgung in derMedizin haben – bei der Ärzteschaft, in Krankenhäu-sern, in Apotheken, bei Physiotherapeuten und in sonsti-gen fachübergreifenden Zentren –, dann kommt das al-len zugute, Menschen mit Behinderung genauso wieMenschen ohne Behinderung. Das muss doch unser An-liegen sein.
Natürlich braucht man spezielle Kenntnisse, vielleichtauch eine besondere Sensibilität im Umgang. Aber esmuss in unserer Gesellschaft eigentlich zum Allgemein-gut werden, dass jeder hilfsbereit ist. Ganz konkret ge-sagt: Es gibt nur wenige Zwischenfälle, bei denen Be-schwerden geführt werden müssen, weil Menschen mitBehinderung nicht richtig behandelt worden sind.Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Debatte extradie Zusammenfassung unserer Aktivitäten der letztenLegislaturperiode zur Hand genommen. Allein im Be-reich Gesundheit haben wir sieben Gesetzentwürfe ver-abschiedet, in denen ganz konkrete Dinge im Hinblickauf die gesundheitliche Versorgung von Menschen mitBehinderung geregelt sind. Ich will gleich ein paar As-pekte nennen, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.Was ich an Ihrem Antrag grundsätzlich kritisiere, ist,dass Sie mit Ihren 21 Forderungen den Eindruck erwe-cken, als sei bisher nichts gemacht worden.
Allein der Titel Ihres Antrags suggeriert, dass inDeutschland derzeit eine nicht menschenrechtskonformeVersorgung stattfindet. Das kann doch niemand ernsthaftglauben.
Trotz aller Probleme, die hier und da noch zu lösen sind– wir bräuchten ja keine Gesetze zu machen, wenn allesin Ordnung wäre und wir nicht den Anspruch hätten, esnoch besser zu machen –, muss man doch anerkennen,dass wir ein hochmodernes, breit aufgestelltes, innovati-ves, für jedermann zugängliches, solidarisches Gesund-heitssystem haben.
Deshalb widerspreche ich Ihnen, wenn Sie behaupten,dass Menschen mit Behinderung schlecht versorgt wür-den.
Sie haben angesprochen, dass nicht jede Arztpraxisbarrierefrei ist. Das ist tatsächlich ein Punkt.
Aber schauen Sie sich vielleicht noch mal an, was dasProjekt „Barrierefreie Praxis“ leistet, bei dem, im Ehren-amt übrigens, Leistungserbringer selbst für jedermann
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Maria Michalk
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zugänglich eine Übersicht führen – und diese ständig ak-tuell ergänzen –, in welchen Praxen etwas verbessertwurde, welche barrierefrei sind und wo bei einem Neu-bau von vornherein an die Barrierefreiheit gedacht wird.
Wir sind uns einig, dass in Altbauten, im Bestand, die Si-tuation schwieriger ist. Es gibt in Sachen Barrierefreiheitaber nicht nur baurechtliche Verbesserungen: Firmenlassen die Beipackzettel für ihre Arzneimittel in leichterSprache erstellen oder berücksichtigen überhaupt dieBarrierefreiheit. Diese Fortschritte kann man doch nichteinfach ignorieren, nur weil sie, sage ich mal, auf dasEngagement von Einzelnen zurückzuführen sind.Wir als Gesetzgeber haben die Aufgabe, die Rahmen-bedingungen zu setzen. Die sind nicht schlecht. Ichwerde noch zwei Punkte ansprechen, wo wir vielleichtnoch etwas verbessern können. Aber wichtiger ist esdoch, die Rahmenbedingungen so zu nutzen, dass auf diespeziellen Konstellationen vor Ort eingegangen werdenkann und eingegangen wird. Wie sonst im Leben auch istgerade bei Menschen mit Behinderung eine besondereKomplexität zu beachten – im Umgang, in der Sprache,in der Behandlung –, und das alles interdisziplinär.
Sie wissen, dass wir in unserem Land gut funktionie-rende Zentren mit speziellen Angeboten gerade für Kin-der haben. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht,beklagen allerdings auch, dass es dann einen gewissenBruch gibt, wenn die Kinder 18 Jahre werden; Menschenmit Behinderung werden heutzutage ja dank guter medi-zinischer Versorgung älter als früher. Wir wollen die gu-ten Angebote für Kinder jetzt auch um Angebote für Er-wachsene erweitern; das, zum Beispiel, ist ein ganzkonkreter Punkt aus dem GKV-Versorgungsstärkungsge-setz.
Ich will auch darauf hinweisen, dass wir zum Beispielin der Heilmittelversorgung Verbesserungen durchge-setzt haben: Wir haben ganz konkret gesagt, dass beilangwierigen Behandlungen und auch bei entsprechen-den Heilmitteln eine längerfristige Verordnung stattfin-den kann, damit die Menschen nicht so oft zum Arzt ge-hen müssen.
Sie wissen, dass die Anträge innerhalb von vier Wochenbeschieden werden müssen; andernfalls gelten sie als be-willigt. Auch das ist eine Verbesserung.Wir haben im Assistenzpflegegesetz unter anderemgeregelt, dass Menschen mit Behinderung, die nach demArbeitgebermodell ihre täglichen Dinge ordnen, die As-sistenz ins Krankenhaus oder in Rehabilitierungseinrich-tungen mitnehmen können. Die Grünen wollen das mitihrem Antrag jetzt auf alle ausdehnen. Zu diesem Themahatten wir eine umfangreiche Anhörung. Da empfehleich Ihnen: Bitte lesen Sie sich die Argumente, die dortvorgebracht wurden, noch einmal durch!
Es ist wichtig, sie noch einmal zur Kenntnis zu nehmen.Ich erinnere auch daran, dass wir zum Beispiel in derZahnheilkunde den Ansatz der aufsuchenden Medizineingeführt haben und für die zusätzlichen Wege, dieZahnärzten durch die Versorgung von Menschen mit Be-hinderung entstehen können, zusätzliche Mittel zur Ver-fügung stellen. Da ist eine Verbesserung erfolgt. Wirwollen jetzt in der Zahnmedizin für Menschen mit Be-hinderung stärker noch, als das bisher der Fall war, denpräventiven Gedanken einführen, weil wir wissen, dassim Grunde die gesamte körperliche Fitness sehr davonabhängt, wie die Mundhygiene funktioniert. Wenn sichda Geschwüre entwickeln, können die den ganzenKörper außer Kraft setzen, und das ist tragisch, wennman schon multifunktionale Störungen ertragen muss.Auch für seltene Erkrankungen erhält man bei unseine medizinische Versorgung. Wir haben in die Arznei-mittelversorgung mit dem AMNOG ein Prinzip einge-führt, das seinesgleichen sucht und gelobt wird, damitgenau diesen Patienten die notwendigen neuen Medika-mente ziemlich unkompliziert, für jedermann zugäng-lich, zur Verfügung stehen und genutzt werden können.So kann ich die Reihe fortführen. Ich würde Ihnenwirklich vorschlagen, dass wir uns lieber darum bemü-hen – auch bei dem jetzt anstehenden Gesetz –, nicht nurdie einzelnen Dinge im Blick zu haben, sondern vor al-lem an die Gesamtheit zu denken; daran kann jeder vonuns hier im Raum in seinem Wahlkreis, in seinem Wir-kungsumfeld mitarbeiten.Frau Präsidentin, das darf ich mit Ihrer Genehmigungsagen: Sie haben sich dafür eingesetzt, dass in unsererParlamentszeitung immer wieder Artikel in LeichterSprache publiziert werden. Das war nicht einfach, undmancher versteht auch die Leichte Sprache nicht, weilsie zu leicht ist. Jeder sollte einmal für seinen Bereichüberlegen, wo man außerhalb der gesetzlichen Regelun-gen Dinge des täglichen Lebens für die Menschen mitBehinderung erleichtern kann. Das gilt erst recht in Be-zug auf die medizinische Versorgung und die Regelun-gen im Pflegebereich.Zum Schluss möchte ich versöhnlich werden: Ichhoffe, dass wir es schaffen, genau dies im Blick zu habenund ein menschenwürdiges Dasein für jedermann zu ge-stalten. Wir sollten aber nicht so tun, als ob wir inDeutschland quasi noch in der Urzeit sind. Das ist näm-lich nicht der Fall.
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8354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Maria Michalk
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Wir können uns sehr freuen, dass wir eine MengeLeistungserbringer haben, die sich weit über ihre tägli-che Arbeit hinaus engagieren und Erleichterungen fürdie betroffenen Menschen organisieren und auch verord-nen. In diesem Sinne möchte ich mich gerade bei diesenMenschen herzlich bedanken.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Frau Kollegin, es ist immer gut, wenn
möglichst viele darauf hinweisen, dass viele unserer De-
batten und auch vieles von dem, was wir publizieren,
auch in Leichter Sprache veröffentlicht wird; denn es
gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die nicht die
komplizierten Texte lesen, aber trotzdem am gesamten
Leben teilhaben wollen. Deswegen – da können Sie sich
sicher sein – dürfen Sie das hier mit meiner Erlaubnis
immer ansprechen.
Die nächste Rednerin ist Birgit Wöllert, Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Zuschauerinnen und Zuhörerinnen auf den Tribü-nen, einige von Ihnen haben vielleicht schon einmal imRollstuhl vor einer Praxis gestanden und sind nicht al-leine hineingekommen, was in Deutschland leider im-mer noch nicht selten vorkommt. Gerade deshalb sindwir Ihnen recht dankbar, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen, dass Sie diesen Antrag zu diesem Zeit-punkt eingereicht haben.Ich denke, das hat gar nichts mit Schwarzmalerei unddamit zu tun, dass noch nichts getan wurde. Wenn mansich die Zahlen des Teilhabeberichts anschaut und sieht,was seit 2011 nach dem Beschluss des Nationalen Ak-tionsplanes erreicht wurde, dann erkennt man: Es gehtzu langsam, und wir müssen einfach einen Zahn zulegen.
Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zurUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention von2011, der hier in Deutschland gültig ist, steht:Alle Menschen mit Behinderungen sollen einen un-eingeschränkten … Zugang zu allen Gesundheits-diensten und Gesundheitsdienstleistungen haben.Dabei sind die unterschiedlichen Voraussetzungenvon Frauen und Männern mit Behinderungen undderen spezifischer Bedarf – sowohl in Bezug aufErkrankungen, Medikamente und therapeutischeVersorgung als auch in Bezug auf Umgang, Assis-tenz und Kommunikation – zu berücksichtigen.Daher wird die Bundesregierung gemeinsam mitden Ländern und der Ärzteschaft in 2012 ein Ge-samtkonzept entwickeln, das dazu beiträgt, einenbarrierefreien Zugang oder die barrierefreie Aus-stattung von Praxen und Kliniken zu gewährleisten.Ich habe 2014 nachgefragt, wie es mit dem Konzeptaussieht, das 2012 erstellt werden sollte. Die Antwort,die ich bekommen habe, lautete:Vorgesehen ist, dass die Bundesregierung gemein-sam mit der Ärzteschaft hierfür ein Gesamtkonzeptvorlegt.– Zwei Jahre später! –Derzeit prüft die Bundesregierung, welche Anreizegesetzt werden können, um die Anzahl barriere-freier Einrichtungen zu erhöhen. Die … Fachres-sorts befinden sich hierzu im Dialog. Die Beratun-gen sind noch nicht abgeschlossen.Ihr Antrag hätte eigentlich schon viel eher behandeltwerden müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Nach dem Teilhabebericht der Bundesregierung von2013, den wir im Fachausschuss behandelt haben, sindnach Selbstauskunft von 44 380 allgemeinmedizinischenPraxen lediglich 22 Prozent mit einem rollstuhlgerech-ten Zugang zu den Praxisräumen ausgestattet, 2 Prozenthaben eine barrierefreie Toilette, und 2 Prozent verfügenüber flexible Untersuchungsmöbel. Auch bei anderenArztgruppen unterscheiden sich diese Zahlen nicht we-sentlich. Für andere Zugänge zu Gesundheitsberatungen,Sexualberatung, Logopädie oder Ergotherapie, liegenerst gar keine Zahlen vor.Ohne Zahlen kann man natürlich kein Gesamtkonzepterstellen. Diese Zahlen – das hat die Bundesregierungselbst gesagt – hat sie nicht. Das Bundesministerium fürGesundheit will sie im Unterschied zum Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales auch künftig gar nicht erhe-ben. Das beißt sich doch, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, wenn man es mit dem, was man plant, wirklichernst meint.
Der vorliegende Antrag dagegen greift die Problemezur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventionwirklich auf. Das betrifft die technische Barrierefreiheitfür behinderte Menschen, aber auch barrierefreie Infor-mation. Denn Informationen müssen allen zugänglichsein.Nach Auffassung der Linken haben wir darüber hi-naus Handlungsbedarf:Erstens. Das Recht auf freie Arztwahl muss für jedenund jede gelten, auch für Menschen mit Behinderung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8355
Birgit Wöllert
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Zweitens. Für einen behinderungsspezifischen Be-handlungsbedarf sind Behandlungszentren ein Weg. Hiergibt es bisher keine seriösen Forschungen. Deshalb be-steht auch hier unbedingt Forschungsbedarf. Auch dasist eine Forderung der Linken.Nach Auffassung der Linken besteht auch Handlungs-bedarf in Finanzierungsfragen. Die aus der Spezifik derBehinderung auftretenden zusätzlichen Behandlungs-bedarfe müssen sich in der ambulanten wie in der statio-nären Versorgung widerspiegeln.Leider habe ich jetzt nicht mehr genug Redezeit, nochandere Vorschläge zu unterbreiten. Aber ich denke, dieseZeit haben wir dann in der Diskussion. Wir werden die-sem Antrag bei der Überweisung unsere Stimme selbst-verständlich nicht verweigern. Ich freue mich auf vielegute Ideen und auf hoffentlich schnelle Ergebnisse.Danke.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin
Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist einwichtiges Anliegen, über das wir hier heute beraten.Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten set-zen wir uns nachdrücklich dafür ein, die gesundheitlicheVersorgung von Menschen mit Behinderung weiter zuverbessern. Darum haben wir bereits im Herbst 2011 ei-nen umfassenden Antrag mit konkreten Vorschlägen un-ter einer ähnlichen Überschrift auf den Weg gebracht:„UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eineinklusive Gesellschaft nutzen“. Einige wesentliche Vor-schläge daraus haben wir im Rahmen der Koalitionsver-handlungen als konkrete Gesetzesvorhaben vereinbart.Jetzt setzen wir diese Vorhaben Schritt für Schritt um.So ist ein modernes Bundesteilhabegesetz in Vorbe-reitung. Ein Referentenentwurf für das Präventionsge-setz liegt dem Parlament bereits vor. Weitere zentralePunkte des heute vorgelegten Antrags werden in einemzweiten GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, das bereitsin der parlamentarischen Beratung ist, tatsächlich direktangegangen.
Insofern freuen wir uns durchaus darüber, dass Sie unsals Grünenfraktion in diesem Vorhaben mit Ihrem heuti-gen Antrag unterstützen, den Sie am Ende der letztenLegislaturperiode fast wortgleich schon einmal gestellthaben.In den Artikeln 25 und 26 der UN-Behindertenrechts-konvention werden volle Teilhabe und Selbstbestim-mung für Menschen mit Behinderung in unseremGesundheitssystem gefordert. Sie fordern einen diskri-minierungsfreien Zugang zu allen Leistungen sowie an-gepasste Beratungs-, Hilfs- und Betreuungsstrukturen.Das ist tatsächlich noch immer eine große Herausfor-derung und Aufgabe vor allem für alle handelndenAkteure im Gesundheitswesen – und eben nicht nur,Frau Wöllert, für die Politik –, für Ärzte und Kranken-häuser, für Leistungserbringer, aber eben auch für dieKranken- und Pflegekassen. Da haben Sie als Grüne mitIhrem Antrag durchaus den Finger in die richtige Wundegelegt.Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderungbrauchen Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachdis-ziplinen, die erfahren sind im Umgang mit deren speziel-len Bedarfen und den jeweils individuellen Anforderun-gen auch in der Kommunikation.Für Kinder und Jugendliche gibt es ein solches Ange-bot der koordinierten und integrierten Versorgung mitden etablierten sozialpädiatrischen Zentren. KomplexeBedarfslagen enden jedoch nicht mit der Volljährigkeit,sondern erfordern weiterhin ein spezialisiertes Versor-gungsangebot.Aus dieser Erkenntnis heraus werden wir im Versor-gungsstärkungsgesetz die gesetzliche Grundlage dafürschaffen, dass auch erwachsene Menschen mit geistigerBehinderung oder schwerer Mehrfachbehinderungzukünftig in sogenannten medizinischen Behandlungs-zentren ein auf sie abgestimmtes Versorgungsangebot er-halten.
Entsprechend qualifizierte multiprofessionelle Teamskönnen in solchen medizinischen Behandlungszentrenindividuell auf jeden einzelnen Menschen in seinerspeziellen Situation eingehen. Gleichzeitig sollen dieFachkräfte dort aber auch eine Lotsenfunktion überneh-men, damit Menschen mit geistiger Behinderung – woimmer möglich – die in der Region vorhandenen fach-ärztlichen und psychotherapeutischen Regelangeboteadäquat nutzen können.Auch das Entlassmanagement in Krankenhäusern unddamit der Übergang in die ambulante Versorgung wirdmit dem Versorgungsstärkungsgesetz verbessert.Ich möchte dazu ein kurzes ermutigendes Beispiel ausder Praxis aus Stuttgart erzählen. Dort ist eine Koopera-tion zwischen Krankenhäusern und Fachleuten der Be-hindertenhilfe auf den Weg gebracht worden. So habendas Diakonieklinikum Stuttgart und das Behindertenzen-trum Stuttgart aktuell eine Vereinbarung zur besserenVersorgung von Menschen mit Behinderung miteinandergeschlossen. Zukünftig wird es am dortigen Klinikumeinen Beauftragten für die Belange der Patienten mitBehinderung sowie einen regelmäßigen Austausch derMitarbeiter beider Einrichtungen und vor allem auchFortbildungen für Ärzte und Pflegekräfte geben.
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8356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Heike Baehrens
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Diese beiden Partner leisten diesen Mehraufwand zu-nächst auf eigene Kosten, weil sie zeigen wollen, wie esgehen kann. Ich finde, das ist ein gutes Vorbild, das unsDenkanstöße für strukturelle Lösungen liefern kann.Bisher noch nicht im Versorgungsstärkungsgesetz,aber doch in unserem Bewusstsein verankert, ist die Not-wendigkeit der besseren Versorgung im Rahmen derhäuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V. So ist zwarheute bereits geregelt, dass Versicherte in ihrem Haus-halt, ihrer Familie oder an sonst einem geeigneten Ort,insbesondere in betreuten Wohngruppen, in Schulen undKindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf Be-handlungspflege als Leistung der Krankenkasse erhal-ten.Außen vor aber sind jene Menschen mit Behinderung,die ihren Lebensmittelpunkt in einer stationären Einrich-tung haben. Hier wird die Übernahme der Kosten für diehäusliche Krankenpflege von den Krankenkassen in derRegel abgelehnt und auf die Leistungen der Eingliede-rungshilfe verwiesen, die ja auch Pflege umfasst. Abermedizinische Behandlungspflege ist keine Leistung derEingliederungshilfe und wird deshalb auch nicht durchdie Vergütungen der Eingliederungshilfe finanziert. Hierbraucht es, wie Sie zu Recht in Ihrem Antrag angespro-chen haben, dringend eine gesetzliche Klarstellung. Mitdiesen Schnittstellenproblemen werden wir uns weiterbeschäftigen und einen Lösungsvorschlag erarbeiten.
Zuversichtlich bin ich zudem, dass wir weitereSchritte zur Umsetzung der Ziele der UN-Behinderten-rechtskonvention im Rahmen der zweiten Stufe desPflegestärkungsgesetzes gehen können. Denn mit derEinführung des teilhabeorientierten Pflegebedürftig-keitsbegriffs werden die Barrieren zwischen den Sozial-gesetzbüchern zumindest ein Stückchen kleiner. Damitwerden die Chancen größer, unser Hilfesystem durchläs-siger zu machen. Ich denke, es wird vielleicht auch einwenig der Boden gelockert, auf dem das noch zartePflänzchen eines modernen Teilhabegesetzes in mög-lichst naher Zukunft seinen Wurzelgrund finden kann.Insofern danke für den Antrag. Wir hoffen auf Ihrekonstruktiv-kritische Begleitung der anstehenden Ge-setze und auf Ihre Zustimmung zu diesen Maßnahmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens. – Nächster
Redner ist Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Klein-Schmeink, Sie haben ja dann das Ganze zum Schlussnoch ein bisschen relativiert. Aber als ich Ihren Antraggelesen habe, da dachte ich: Wir leben hier in einemLand, in dem gerade in dem Bereich, der Menschen mitBehinderungen betrifft, nur menschenunwürdige Zu-stände herrschen.
Sie haben es ja zumindest am Schluss noch ein bisschenrelativiert. Ich fand die Überschrift bereits absolut de-platziert, weil Sie damit wieder ein Zerrbild entworfenhaben, das absolut nicht der Realität entspricht.
Sie wissen ja auch, dass wir gerade unter CDU-ge-führten Bundesregierungen seit 2005 kontinuierlichLeistungen verbessert und zusätzliche Regelungen ein-geführt haben, die gerade in diesem Bereich Verbesse-rungen herbeiführen sollen und auch schon herbeige-führt haben.
Die Initialzündung 2008 im Zusammenhang mit derUN-Behindertenrechtskonvention ist ja schon angespro-chen worden. Sie wurde von allen Fraktionen unter-stützt. Infolgedessen gab es ja den Nationalen Aktions-plan, den die damalige Arbeitsministerin Ursula von derLeyen auf den Weg gebracht hat. Sie wissen ja auch: DieLaufzeit von zehn Jahren bis 2021 muss man erst einmalwirken lassen. Bei allem Engagement, bei allen Anträ-gen, die Sie ja gern schreiben, haben Sie vielleicht über-sehen, dass diese Maßnahmen auch Zeit brauchen, umzu wirken.
Das bedeutet für uns als Regierungskoalition natürlich,dass wir geeignete Maßnahmen umsetzen, damit Men-schen mit Behinderung Zugang zu Gesundheitsdiensteneinschließlich Rehabilitation haben, dass Gesundheits-leistungen angeboten werden, die speziell auf Menschenmit Behinderung zugeschnitten sind, und dass wir dafürsorgen, dass diese Gesundheitsleistungen eben auchwohnortnah erreichbar sind.Das alles sind Themenbereiche, die wir alle hier ken-nen, und zwar nicht deswegen, weil darüber nicht ge-sprochen wird, sondern deswegen, weil die Bundesregie-rung von Anfang an hier tätig geworden ist und sichintensiv damit beschäftigt hat. Die Verbesserungen, diein diesen Bereichen erfolgt sind, hätten Sie ja auch ein-mal ansprechen können. Aber Sie haben hier wieder ar-gumentiert nach dem Motto „Das Glas ist halb leer undnicht halb voll“. Sie haben nicht gesagt, was Sie wollen;Sie haben nur gesagt: Man sollte mal, man müsste mal,man könnte mal. – Konkretes haben Sie aber dazu nichtgesagt.
Teile Ihrer Forderungen, insbesondere hinsichtlichortsnaher Versorgung, stehen ja schon im Versorgungs-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8357
Tino Sorge
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stärkungsgesetz. Das hätten Sie doch einmal sagen kön-nen. Das haben Sie aber nicht gemacht. Das Beispiel dermedizinischen Versorgungszentren haben Sie dann in ei-nem Halbsatz angesprochen. All das sind doch Dinge,die bereits im Koalitionsvertrag vereinbart worden sind.Also können Sie doch hier nicht das Bild zeichnen, alswürde überhaupt nichts getan.
Sie haben dann auch die Barrierefreiheit angespro-chen: Natürlich ist es so, dass diesbezüglich viel Nach-holbedarf besteht. Aber schauen Sie sich doch einmaldie Zahlen an. Allein der Etat 2015 im Gesundheitsbe-reich
weist – das wissen Sie doch auch – einen Anstieg um9 Prozent auf 12 Milliarden Euro auf; in der Pflege sinddas konkret 82 Millionen Euro mehr. Private Pflegever-sicherung, Verbesserung der Leistungen der Pflegeversi-cherung, Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Tages- undNachtpflege, Ausbau der Wohnraumzuschüsse, Anschub-finanzierung für ambulant betreute Wohnformen sinddoch Aspekte, die Sie nicht einfach negieren können. Dakönnen Sie doch auch einmal sagen, dass das Verbesse-rungen sind, die allen zugutekommen, aber eben auchden Menschen mit Behinderung.In diesem Zusammenhang will ich nur drei der21 Punkte ansprechen, die Sie explizit in Ihrem Antragformuliert haben.Eine Forderung lautet, in § 43 a SGB XI eine Rege-lung hinsichtlich der Feststellung des Wohnortes imrechtlichen Kontext der Behindertenhilfe vorzulegen.Sie wissen: Wir werden das überprüfen. Wir werdenschauen, dass Benachteiligungen, die eventuell existie-ren, abgebaut werden und dass der Zugang zu Leistun-gen der häuslichen Pflege erleichtert wird.Ein weiterer Schwerpunkt, den Sie angesprochen ha-ben, betrifft die Mitarbeiter in Gesundheitsberufen, dasheißt Studentinnen und Studenten an Hochschulen undall diejenigen, die sich tagtäglich um Menschen mit Be-hinderungen kümmern. Ich wäre froh, wenn wir dahingehend Konsens erzielen könnten, dass wir diesen Men-schen gar nicht genügend Respekt, Dankbarkeit und ge-sellschaftliche Wertschätzung entgegenbringen können.
– Nein, ich rede ja nicht nur von Ihnen. Aber Sie sitzenda wie so ein Orgelpfeifengebirge und tun so, als seiüberhaupt nichts passiert.
Sie müssen doch in dem Kontext auch einmal anerken-nen, dass da viel passiert ist. Wir diskutieren ja hier auchüber die gesellschaftliche Wertschätzung. Sie wissendoch selbst, dass wir aktuell Regelungen im Rahmen derNeuordnung der Pflegeberufe diskutieren. Bei der Re-form des Medizinstudiums sind wir doch auf einem gu-ten Weg.
Also, dann können Sie hier doch nicht immer behaupten,dass nichts passiert. Deshalb ist Ihr Antrag in der Formabsolut nicht zielführend und nicht wirklich hilfreich.Dann noch zu dem Thema der Situation in den Arzt-praxen. Frau Wöllert, Sie haben das angesprochen. Siehaben gesagt, dass natürlich gerade im Bereich der Bar-rierefreiheit mehr gemacht werden könnte.
– Ja, ja, können, müssen, sollen. Okay. – Aber Sie könn-ten doch auch einmal sagen: Fast ein Viertel der Praxenist barrierefrei.
Die Ärztinnen und Ärzte sind nicht dumm.
Die wissen doch auch, dass das ein Wettbewerbsvorteilist. Die werden sich darum kümmern.
Da jetzt immer so zu tun, als müsse man alles regulieren,das ist doch nicht zielführend.Zur Wertschätzung gehört auch dazu, dass Sie nichtimmer unterschwellig suggerieren, dass diejenigen, diein dem Bereich tätig sind, zu dumm seien, mit Menschenmit Behinderung zu sprechen,
mit den Leuten, die sich darum kümmern, auch entspre-chend umzugehen.Dass bei der Krankenhausfinanzierung – die Bund-Länder-Arbeitsgruppe kennen Sie ja – viel passierensoll, wissen Sie ja auch.Zu den Arztpraxen nur noch ein konkretes Beispiel:In der Bedarfsrichtlinie des G-BA ist, wie Sie wissen,seit 2014 ausdrücklich das Kriterium der Barrierefreiheitals wichtiges Zulassungskriterium geregelt.
Kollege Sorge, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Kurth?
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8358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
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Ja natürlich, wenn er sich so schön meldet.
Bitte schön, Herr Kollege Kurth.
Herr Sorge, Sie haben gerade gesagt, es sei für die
Ärzte ein Wettbewerbsvorteil, wenn sie ihre Praxen bar-
rierefrei gestalten. Erkennen Sie an, dass die Wirklich-
keit in den Arztpraxen ganz anders ist, dass nämlich
Ärztinnen und Ärzte Probleme kriegen, wenn sie viele
Menschen mit Behinderung behandeln, da diese einen
erhöhten Zeitaufwand benötigen, aber in der Vergütung
nicht mehr bringen? Erkennen Sie auch an, dass es im
Gegenteil im Moment in unserem System leider eher ei-
nen Anreiz gibt, ab einer bestimmten Zahl von Men-
schen mit Behinderung, die in Behandlung sind, die
dann noch kommenden Patientinnen und Patienten abzu-
wimmeln?
Sehen Sie nicht, dass die Ärzte – wie kann man denen
Dummheit unterstellen? – in der Aus- und Fortbildung
nicht über adäquate Angebote verfügen, wie man zum
Beispiel mit Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen
kommuniziert? Sehen Sie also nicht, dass faktisch diese
Hürden, wie wir sie in unserem Antrag ansprechen, im
System bestehen?
Also, die eine Frage ist ja, dass man sie anspricht, und
die andere Frage ist, welche konkreten Lösungsmöglich-
keiten man entwickelt.
Das, was Sie ganz konkret gemacht haben, ist ja, einfach
zu behaupten, dass sie dazu nicht in der Lage seien. Die
Darstellung der Probleme ist ja etwas anderes, als zu sa-
gen, das ist so und es werde sich daran nichts ändern.
Aber gerade bei Neubauten wird doch darauf hingewie-
sen, dass Barrierefreiheit ein wichtiges Thema ist.
Insofern ist das Beispiel, das Sie jetzt wieder konstruie-
ren – ich will das nicht weiter kommentieren –, dass sich
ein Arzt ganz bewusst in der ersten Etage Praxisräume
sucht, damit bestimmte Patienten nicht zu ihm kommen,
absolut neben der Sache. Das sind doch Zerrbilder, die
Sie entwickeln.
Herr Kollege Sorge, Sie hätten jetzt noch einmal die
Gelegenheit, auf eine Frage oder Zwischenbemerkung
der Kollegin Wöllert zu antworten, sofern Sie ihr dies
gestatten würden.
Ich schätze sie sehr, und natürlich darf sie das ma-
chen.
Bitte schön, Frau Kollegin Wöllert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Danke, Herr Sorge,
dass ich Sie jetzt etwas fragen darf. Aber vielleicht gab
es hier ein Missverständnis. Ich glaube, da spreche ich
auch für Frau Klein-Schmeink. Keiner von uns hat die
Arbeit der Menschen, die im Gesundheitswesen tätig
sind, schlechtgeredet – an keiner Stelle. Da sollten Sie
noch einmal das Protokoll lesen.
Ich unterstelle einmal: Sie haben da irgendetwas falsch
verstanden, sodass da ein großes Missverständnis vor-
liegt.
Meine Nachfrage zielt ganz konkret auf Fragen des
Wettbewerbs ab. Ich war gestern Abend beim Parlamen-
tarischen Abend der ACHSE. Das ist ein Dachverband
von Organisationen für Menschen mit sehr seltenen Er-
krankungen. Kollege Hüppe war ebenfalls dort. Da ka-
men gerade solche Fragen, die wir hier heute erörtern,
zur Sprache. Da kam zur Sprache, dass bei speziellen
Behandlungen der große Aufwand nicht finanziert wer-
den kann – so viel zum Wettbewerb – oder jetzt nicht fi-
nanziert wird.
Was halten Sie – damit komme ich zu meiner Frage –
von folgendem Vorschlag: Wir könnten uns vorstellen,
neben dem Kriterium der Barrierefreiheit für die Zulas-
sung von gesundheitlichen Einrichtungen auch zusätzli-
che Vergütungen einzuführen. Das heißt also, es könnte
Zuschläge für Barrierefreiheit geben, indem die Men-
schen, die Menschen mit Behinderungen behandeln, zu-
sätzliche Vergütungen erhalten, um einen Ausgleich für
die aufgewandte Zeit zu schaffen, zum Beispiel wenn sie
Türen öffnen, um jemanden weiterzuleiten. All das kos-
tet Zeit. Könnten Sie sich vorstellen, dass wir gemein-
sam versuchen, hier etwas auf den Weg zu bringen?
Liebe Frau Kollegin Wöllert, ich finde es immerschön, wenn wir gemeinsam Ideen entwickeln, und ichfinde es vor allen Dingen schön, wenn mein Beitrag beiIhnen zur mentalen Erhellung beigetragen hat. Zumin-dest habe ich das so empfunden.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8359
Tino Sorge
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Aber statt an weitere Reglementierungen, die Sie jetztwieder vorschlagen, zu denken, wäre es schön, wenn Siesich vielleicht dem Gedanken annähern könnten, auf diefreie Entscheidung freiberuflicher Ärzte zu vertrauen.
– Anreize schaffen hat nicht nur etwas mit Reglementie-rung zu tun. – Entwickeln Sie doch auch einmal ein biss-chen Vertrauen in die Betreiber der 130 000 Arztpraxen,statt ihnen alles vorschreiben zu wollen, von der Ge-schäftsausstattung bis zur Infrastruktur, und am bestendanach noch zu fordern, dass der Bund all das finanziert.Insofern ist es, glaube ich, gut, wenn wir gemeinsaman Lösungsvorschlägen arbeiten. Ich würde mich beson-ders freuen, wenn Sie dabei eine gewisse Konstruktivitätan den Tag legen würden.
Herr Kollege Sorge, Sie haben so viel Begeisterung
im Publikum ausgelöst, dass die Kollegin Schulz-Asche
auch noch gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage
oder Zwischenbemerkung hätte. Aber ich mache darauf
aufmerksam: Wenn Sie dazu Ja sagen, dann wäre das die
letzte, die ich in diesem Redebeitrag zulassen würde.
Ich glaube, das wäre der Frau Kollegin Schulz-Asche
gegenüber ein bisschen unfair, ihre Zwischenfrage nicht
zuzulassen.
Aber dann sollte sich keiner mehr melden. – Danke.
Ich weiß nicht, wie viel Redezeit ich jetzt noch zu-
sätzlich habe.
Solange Sie antworten, wird Ihre Redezeit gestoppt.
Deswegen haben Sie die Gelegenheit gehabt, Ihre Rede-
zeit ungefähr fünf bis sechs Minuten zu verlängern; und
das reicht dann.
Danke, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Sorge, Sie können sich sicherlich vor-
stellen, dass gerade wir Grünen in der Vorbereitung ei-
nes solchen Antrags sehr viele Gespräche auch mit Men-
schen mit Behinderung führen, weil sie Experten in
eigener Sache sind. Viele der Forderungen, die von die-
sen Menschen erhoben werden, sind auch in unseren An-
trag eingeflossen. Glauben Sie, dass Sie mit der Arro-
ganz, mit der Sie in dieser Diskussion auf die Themen
eingegangen sind,
den Menschen mit Behinderung in unserem Land einen
Gefallen tun?
Frau Kollegin Schulz-Asche, was Sie hier wieder un-
terschwellig suggerieren, entspricht absolut nicht den
Tatsachen. Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass
gerade den Menschen mit Behinderung viel mehr ge-
dient wäre, wenn Sie sagen würden, was Sie sich konkret
vorstellen, statt immer nur Kataloge zu entwerfen, was
man tun sollte, müsste oder könnte, ohne dabei auch die
Realitäten im Blick zu behalten.
Sehr interessant ist auch – ich habe mir das einmal an-
geschaut – im Zusammenhang mit dem Thema Barriere-
freiheit: Sie haben in NRW eine Gesundheitsministerin,
Frau Steffens. Wenn sie das so gut findet, dann hätte sie
das alles machen können. Aber sie ist seit 2010 im Amt,
und ich habe nicht vernehmen können, dass sie eine wie
auch immer geartete Zwangsbarrierefreiheitsverord-
nung oder irgendwas in der Richtung geschaffen hätte.
Deshalb fände ich es ehrlicher – Frau Klein-
Schmeink, ich nehme Sie ausdrücklich davon aus –, in
den Diskussionen auch zu sagen: Da ist schon etwas pas-
siert. Weiterhin gibt es Dinge, die wir lösen müssen. –
Aber dann machen Sie bitte auch einen konkreten Lö-
sungsvorschlag, statt immer nur zu kritisieren und dann,
wenn die Sprache auf Dinge kommt, die teilweise schon
in Gesetzentwürfen enthalten sind, so zu tun, als gäbe es
sie nicht.
So, das war die Antwort auf die dritte Zwischenfrage.
Jetzt beginnen Ihre letzten zwei Minuten zu laufen.
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8360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
(C)
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Die letzten zwei Minuten meiner Redezeit? – Gut.
Das Thema Versorgungsforschung ist auch angespro-
chen worden. In dem grünen Potpourri Ihres Antrags
– ich weiß, Sie mögen die Bezeichnung nicht – haben
Sie gefordert, auch da müsse mehr getan werden. Ich
weiß nicht, ob die Regelungen im Innovationsfonds völ-
lig an Ihnen vorbeigegangen sind. Von den jährlich zur
Verfügung stehenden 300 Millionen Euro sind 75 Millio-
nen Euro für Versorgungsforschung eingeplant.
Wenn Sie sich konkreter damit befasst hätten – ich
unterstelle einmal, dass Sie das nicht getan haben –,
dann hätte Ihnen auffallen müssen, dass das Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung schon einen Ak-
tionsplan zur Versorgungsforschung vorgelegt hat. Es
gibt also ein konkretes Maßnahmenpaket mit punktge-
nauen Forderungen zum Wohle der Patienten sowohl mit
Behinderung als auch ohne. Da fließen zwischen 2015
und 2018 50 Millionen Euro. Das ist, glaube ich, keine
kleine Summe.
Meine Damen und Herren, meine Kollegin Maria
Michalk hat bereits konstatiert, dass sie zum Schluss
wieder versöhnlicher wurde. Ich hoffe, dass ich nicht un-
versöhnlich gewirkt habe.
Natürlich möchte auch ich versöhnlich wirken. So
möchte ich Ihnen von den Grünen zum Schluss wirklich
ein ganz großes Kompliment machen.
Denn Sie bleiben sich zumindest treu: Sie fordern in Ih-
rem Antrag bzw. auf Ihrem Wunschzettel erneut die Ein-
führung der Bürgerversicherung und stellen sie als All-
heilmittel dar. Sie sollten eigentlich wissen, dass die
Bürgerversicherung kein Allheilmittel ist, weder für
Menschen mit Behinderung noch für Pflegebedürftige
und auch nicht für andere Versicherte. Ich glaube, dass
diese Strukturdiskussion vollkommen fehl am Platz ist.
Ich würde es begrüßen, wenn wir die Dinge konstruk-
tiv auf den Weg bringen würden und wenn Sie abwarten
würden, welche Wirkung der Nationale Aktionsplan im
Realisierungszeitraum von zehn Jahren entfaltet. Inso-
fern: Hören Sie doch bitte auf, pessimistisch schwarz-
bzw. grünzumalen!
Lassen Sie uns gemeinsam Lösungen erarbeiten! Ihr An-
trag, den Sie heute gestellt haben, stellt jedenfalls kein
passendes Mittel dar, um den Menschen mit Behinde-
rung in unserer Gesellschaft zu helfen.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist die Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Es sindjetzt so viele Reizwörter gefallen, dass es schwerfällt, ei-nen Einstieg zu finden. Das ist also nicht so einfach.
Herr Kollege Sorge, wir sind ja Partner in der Koali-tion und deshalb jetzt auch Freunde.
Trotzdem muss ich sagen, dass in Nordrhein-Westfalenunter dem Gesichtspunkt Teilhabe bzw. Barrierefreiheitsehr viel passiert, zum Teil umgesetzt von den Land-schaftsverbänden. Ich habe aber in meinen knapp fünfMinuten Redezeit nicht ausreichend Zeit, das alles zuvertiefen.Kollegin Wöllert, ich unterstütze Ihren Beitrag. DieKollegin Kühn-Mengel war übrigens gestern Abendauch anwesend; das nur nebenbei.
Die Gesetzgebung für Menschen mit Behinderung hateinen Vorlauf, an den ich noch einmal erinnern möchte,nämlich das WHO-Konzept der Gesundheitsförderung,das 1986 formuliert und bis heute immer weiterentwi-ckelt wurde. Diese sogenannte Ottawa-Charta hat ja ei-nen ganz neuen Blick auf Gesundheit und Gesundheits-versorgung gerichtet. Krankheit ist danach eben nichtnur das Fehlen von Gesundheit und umgekehrt.
Vielmehr hat Gesundheit mit vielen Faktoren zu tun, bei-spielsweise mit seelischen, ökonomischen und ökologi-schen, aber auch – damit bin ich beim Thema – mit Par-tizipation und der Stärkung von Gesundheitskompetenz.Das hat uns in der Folgezeit bei Gesetzgebungsschrittenimmer wieder geleitet, zumal es in der damaligen Chartaum einen weiteren wichtigen Begriff ging, nämlich dasVerringern der sozialen und der gesundheitlichen Un-gleichheit. Auch das interessiert uns ja in diesem Zusam-menhang. Ganz sicher ist noch nicht genug mit Blick aufdie Menschen mit Behinderung geschehen. Aber – daskann man schon sagen – es wurde doch eine Menge be-wegt.Ich darf daran erinnern, dass nach 1998 parteiüber-greifend viele Gesetze beschlossen wurden, etwa dasGleichstellungsgesetz
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Helga Kühn-Mengel
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oder das SGB XI – Rehabilitation und Teilhabe behin-derter Menschen –, dem ein wirklich emanzipatorischerAnsatz zugrunde liegt. Das alles muss weiterentwickeltwerden.
Manches ist allerdings in der Umsetzung noch nicht soweit. Aber all das hat Bewusstsein verändert, vor allemder Gedanke, dass es nicht um mehr staatliche Fürsorge,sondern um mehr Selbstbestimmung geht, und dass derBlick nicht immer nur auf die Defizite der Menschen ge-richtet werden darf, sondern auf deren Potenziale undRessourcen gerichtet werden muss.
Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet nocheinmal einen anderen Anspruch, den wir auch in derFortschreibung der Gesetze aufgreifen.Wir müssen aber auch kritisch sagen, dass Partizipa-tion und Potenziale manchmal – jetzt werde ich einmaltrivial – an den fünf Stufen vor dem Aufzug zur Arzt-praxis enden oder an Untersuchungsgeräten, die nichtbarrierefrei sind, oder an mangelhaftem Wissen überKrankheitsbilder und Behinderungsbilder sowie überAlltagssituationen von Menschen. Aber nicht alles kanndie Politik regeln,
manches muss auch die Selbstverwaltung regeln undmanches auch andere Gruppen.
Wir stellen eben fest, dass auch Menschen mit Behin-derung all das erleben, was die anderen Nutzer und Nut-zerinnen im System erleben, nämlich ungenügende Zu-sammenarbeit der verschiedenen Sektoren, die nichtimmer optimale Kommunikation und zusätzliche Barrie-ren, architektonische, aber auch die in den Köpfen, wiewir immer sagen.Vor allem aber – den Eindruck habe ich aus Gesprä-chen, und den haben wir auch auf der Basis der kargenDaten, die es gibt – haben wir einen speziellen Hand-lungsdruck etwa in der zahnärztlichen Versorgung vonMenschen mit Behinderung – da wird auch etwas verän-dert werden – und in der Gynäkologie. Es gibt ganzefünf Praxen in der Bundesrepublik, die so spezialisiertsind, dass sie den Kinderwunsch von Frauen mit Behin-derung aufzugreifen in der Lage sind. Wir sehen hin-sichtlich der Belange psychisch kranker Menschen undauch bei den Menschen mit seltenen Erkrankungen Ver-änderungsbedarf. Das haben wir gestern Abend ja ge-hört.Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass das GKV-Ver-sorgungsstärkungsgesetz viele innovative Versorgungs-formen aufgreift und stärkt und endlich auch Behand-lungszentren schafft. Die Kollegin Baehrens hat dasbereits erwähnt. Hier konzentriert und bündelt sich Wis-sen, und das verändert die Lebenswelt der Menschen.Außerdem gibt das Präventionsgesetz – nur ganz kurz,Frau Präsidentin, ich sehe Ihr Signal – die Möglichkeit,sehr stark in den Lebenswelten der Menschen etwas zuverändern. Ist denn nicht eine Werkstatt, ist denn nichtauch ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung einSetting, in dem wir betriebliche Gesundheitsförderungstattfinden lassen können?
Da müssen die Werkstätten mitmachen.Wir können in der Kommune gemeinsam mit denMenschen und mit den Selbsthilfeorganisationen barrie-refreie Räume schaffen. Wir können vieles umsetzen,was wir politisch wollen, und das werden wir auch.Der Antrag – das wurde schon gesagt – hat viel miteinem Antrag der SPD vor einigen Jahren zu tun. Dasleitet uns bei der Politik und hat uns auch schon geleitet.Diesen Weg werden wir fortsetzen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Frau Kollegin Kühn-Mengel, es istschön, dass Sie das Signal sehen, aber in der Regel sollteman dann auch zum Ende kommen. Auch die anderen,die das Signal sehen, möchte ich noch einmal darauf hin-weisen.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3155 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatz-punkt 3 auf:11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünf-ten Gesetzes zur Änderung des Vierten Bu-ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
Drucksache 18/3699Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/4114ZP 3 Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Kordula Schulz-Asche, Ulle Schauws,Elisabeth Scharfenberg, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ent-lassung der Pille danach aus der Verschrei-bungspflicht und zur Ermöglichung der kos-
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8362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Drucksache 18/3834Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
Drucksache 18/4116Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat GabrieleHiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Vielleicht können die notwendigen Gespräche außer-halb des Saales geführt werden, damit die KolleginHiller-Ohm Ihre ganze Aufmerksamkeit hat.Bitte schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wirheute gemeinsam ein ganz besonderes Gesetz auf denWeg bringen werden. Im Kern geht es um die Vereinfa-chung und Verbesserung der Meldeverfahren in der so-zialen Sicherung. Keine große Sache, könnte man mei-nen. Das Ausmaß wird jedoch deutlich, wenn man sichvor Augen hält, welch riesige Mengen an Formularenzwischen Arbeitgeberinnen, Arbeitgebern, Bürgerinnenund Bürgern, den Krankenkassen, den Pflegekassen, derRentenversicherung, den Unfallkassen und der Arbeits-losenversicherung hin- und hergeschickt werden.400 Millionen Meldevorgänge kommen so in nur einemeinzigen Jahr zustande.Stellen Sie sich einmal vor, jede dieser Meldungenwürde nur ein einziges DIN-A4-Blatt umfassen. Eswürde eine 120 000 Kilometer lange Papierschlange ent-stehen, die man dreimal um die Erde wickeln könnte.Christo würde sich vielleicht freuen. Wir kündigen die-sen Papier- und Datenmengen jedoch mit geballter parla-mentarischer Kraft den Kampf an.
Wie ernst es uns damit ist, meine Damen und Herren, er-kennen Sie schon daran, dass wir bis zur letzten Minuteum weitere Verbesserungen gerungen und sie in den Ge-setzentwurf aufgenommen haben.
16 engbeschriebene Seiten mit zusätzlichen guten Vor-schlägen sind seit der Expertenanhörung Anfang Februarnoch als Änderungsantrag hinzugekommen.Zum Beispiel machen wir das Leben der vielen Klein-unternehmerinnen und Kleinunternehmer leichter. Siemüssen jetzt nicht mehr täglich in ihren Computerschauen, ob Meldungen von den Sozialversicherungenfür sie vorliegen. Einmal die Woche ist genug.
Endlich ist auch Schluss mit veralteten Papierformu-laren beim Nachweis von Löhnen für die Unfallversiche-rung. Das funktioniert demnächst per Mausklick.Unsere Kraftanstrengung zahlt sich in barer Münzeaus. Fast 200 Millionen Euro und Berge an Bürokratiewerden mit dem vorliegenden Gesetz Jahr für Jahr ein-gespart.
Solche Entlastungsgesetze, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, sollten wir wirklich viel öfter machen.
Nun ist es aber nicht so, dass wir uns mit der Entrüm-pelung und Modernisierung der Meldeverfahren zufrie-dengegeben hätten. Nein, uns hat dieser Gesetzentwurfgeradezu beflügelt, auch in anderen Bereichen nach Ver-besserungen zu suchen und sie gleich mit umzusetzen.So sorgen wir jetzt für Rechtssicherheit beim Unfall-versicherungsschutz, zum Beispiel für die vielen deut-schen Ebolahelferinnen und -helfer.
Das, meine Damen und Herren, ist ein kleines Danke-schön von uns an diese tollen Heldinnen und Helden.
Im Rentenrecht verbessern wir die Situation für un-sere Bürgerinnen und Bürger, die im Ausland wertvolleEntwicklungsarbeit leisten.Sehr wichtig ist mir, dass wir den rezeptfreien Zugangzur sogenannten Pille danach durchgesetzt haben.
Heute regeln wir, dass junge Frauen unter 20 Jahren diePille danach auch zukünftig kostenlos erhalten können.
Die Grünen haben genau zu diesem Thema einen ei-genen Gesetzentwurf vorgelegt. Liebe Kolleginnen undKollegen, ziehen Sie ihn zurück! Wir haben das bereitserledigt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8363
Gabriele Hiller-Ohm
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Wer nun meint, liebe Frau Präsidentin, das war’s mitunserer Schaffenskraft, der irrt gewaltig. Wir haben auchan unsere Jugendlichen gedacht. Mein Kollege MichaelGerdes wird gleich noch darauf eingehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin begeistertvon diesem gewaltigen Kraftakt, den wir heute unter Be-weis stellen.
Ich bedanke mich bei den vielen Müttern und Väterndieses Gesetzes und hoffe, dass uns auch zukünftig ver-gleichbar Gutes gelingen wird.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege
Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Selten waren von einem Gesetzentwurf so vieleunterschiedliche Menschen betroffen wie von diesem.Ursprünglich ging es um einfachere, computergestützteMeldeverfahren zwischen den Unternehmen und den So-zialversicherungsträgern; Kollegin Hiller-Ohm hat da-rüber eben gesprochen. Aber jetzt sind zum Beispielauch betroffen: die volljährige Waise, das junge Paar, beidem es einen Verhütungsunfall gab, der Schulabgängerohne Hauptschulabschluss, der jetzt eine berufliche Aus-bildung anstrebt, und die langzeitarbeitslose Verkäufe-rin, die vom Jobcenter in das Programm „Soziale Teil-habe“ aufgenommen werden wird. Diese Liste derBetroffenen ließe sich übrigens beliebig verlängern.Aber all diese Menschen haben überhaupt gar keineChance, die parlamentarischen Beratungen auch nur imAnsatz nachzuvollziehen. Warum? Weil die Bundesregie-rung ohne erkennbaren Grund sachlich völlig unzusam-menhängende Gesetzesänderungen in ein sogenanntesOmnibusgesetz gepackt hat. Transparenz, Bürgernäheund gute Debattenkultur, meine Damen und Herren vonder Koalition, kriegen Sie mit einem Sammelsuriumge-setz wie diesem nicht hin. Darum, meine Damen undHerren, lehnen wir Linken ein solches Omnibusverfah-ren grundsätzlich ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU undSPD, schauen wir uns dennoch einmal Ihren buntenStrauß an Gesetzesänderungen an!
Zuerst die guten Punkte:
Erstens. Sie verbessern den Unfallversicherungs-schutz für die Ebolahelferinnen und Ebolahelfer. Das istgut.
Zweitens. Es ist gut, dass Sie Waisen, die in einerAusbildung sind, die Waisenrente künftig nicht mehrkürzen wollen, auch wenn ihr Einkommen oberhalb von500 Euro liegt. Gut!
Drittens. Sie strukturieren die assistierte Ausbildungfür höchstens 10 000 sozial- und bildungsbenachteiligteJugendliche neu. Das ist zwar ein richtiger Schritt,
aber er ist viel zu klein angesichts von 260 000 Jugendli-chen, die in Übergangsmaßnahmen stecken statt in einerordentlichen Ausbildung. Und: Dieses befristete Pro-gramm wird von der Bundesagentur für Arbeit und vonden Jobcentern finanziert. Die Arbeitgeber müssen kei-nen Cent dazubezahlen, und das, meine Damen und Her-ren, ist ungerecht.
Aber wenn es den Jobcentern und den Arbeitsagenturenwirklich gelingen sollte, 10 000 Jugendliche in eine or-dentliche Ausbildung zu bekommen, dann wäre das rich-tig und gut.Meine Damen und Herren, kommen wir zur Pille da-nach. Zehn Jahre hat der peinliche Eiertanz um die Pilledanach gedauert,
zehn Jahre auf dem Rücken von jungen Frauen, die nacheinem Verhütungsunfall Angst vor einer ungewolltenSchwangerschaft haben. Nun ist er zu Ende, und die Ver-schreibungspflicht für die Pille danach wird endlich ab-geschafft. Das findet die Linke gut.
Aber warum ist der Eiertanz zu Ende? Zu Ihrem Ver-gnügen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,zitiere ich die FAZ von gestern:Die „Pille danach“ ohne ärztliche Beratung würdeer– gemeint ist Gesundheitsminister Hermann Gröhe –gern verhindern, kann es aber gegen das Votum derEU nicht.Stimmt! Deshalb sollten die Bundesregierung und dieKoalition sich bei diesem Thema auch nicht vor Stolzauf die Brust klopfen; denn dafür gibt es keinen Grund.
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8364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Matthias W. Birkwald
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Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem beson-ders kritischen Punkt kommen. Frau StaatssekretärinLösekrug-Möller, Langzeiterwerbslose, die demnächstüber das neue Programm „Soziale Teilhabe“ einen Joberhalten, sollen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld Ierwerben dürfen. Das heißt auf Deutsch: Wenn die Teil-nehmenden nach der Maßnahme keinen regulären Jobauf dem ersten Arbeitsmarkt ergattern, dann schickenSie sie sofort wieder zurück in Hartz IV. Diesen Drehtür-effekt in Hartz IV lehnen wir Linken ab.
Ja, wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigungs-verhältnisse. Aber sie müssen gleichwertig und voll so-zialversicherungspflichtig sein.Meine Damen und Herren, unter dem Strich findensich in Ihrem bunten Strauß von Gesetzesänderungen ei-nige wenige rote Rosen,
manche Nachtschattengewächse, viele Zwiebelblütenund eine Distel. Deswegen enthalten wir uns bei IhremGesetzentwurf.Danke schön.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt die Kollegin Gabriele Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau, Rechts-klarheit, Rechtssicherheit und vor allem Entlastung fürdie Arbeitgeber – das ist nicht wenig, was wir mit demSGB-IV-Änderungsgesetz vorhaben.Das Formular- und Meldewesen durchdringt die tägli-che Arbeit aller Unternehmen bis zur kleinsten Firma.Das ist kein Wunder bei den schon geschilderten400 Millionen Meldevorgängen jährlich im Bereich dersozialen Sicherung. Die Informationspflichten sind da,müssen auch weitestgehend sein. Aber durch optimierteund vereinfachte Meldeverfahren wollen und werden wirdie Arbeitgeber entlasten. Das steht in diesem Gesetzund den Änderungsanträgen.Die Verbesserung technischer und organisatorischerAbläufe in den elektronischen Meldeverfahren zwischenSozialversicherungsträgern und Arbeitgebern wird dieBürokratiekosten im dreistelligen Millionenbereich sen-ken.
Der vorliegende Gesetzentwurf fußt auf den Ergebnissender gemeinsamen Projektarbeit OMS, an der sich allebeteiligten Praktiker und Anwender eingebracht haben.Welche konkreten Änderungen und Verbesserungengibt es, die von der CDU/CSU-Fraktion und dem Koali-tionspartner angestoßen worden sind? Den täglichen Da-tenabgleich, der von meinem Kollegen Strengmann-Kuhn in der ersten Lesung kritisiert worden ist, habenwir in eine wöchentliche Abruffrist umgewandelt.
Die kleinen Arbeitgeber werden dadurch sinnvoll entlas-tet. Die wöchentliche Abruffrist führt auch nicht zu einerVerschlechterung des Meldewesens.
Überaus wichtig und richtig sind die Änderungen imRentenrecht, zum Beispiel die Angleichung des Waisen-rentenrechts an das Steuer- und Kindergeldrecht, HerrSchiewerling. Der Wegfall der Einkommensanrechnungführt bei volljährigen Waisen definitiv zur Verwaltungs-vereinfachung. Ich erinnere mich gut: Wie KolleginHiller-Ohm habe auch ich zwei Waisenkinder, die alsStudenten gearbeitet haben, was einen ziemlichen Pa-pierkrieg zwischen dem Schwarzwald und der BerlinerRentenzentrale ausgelöst hat.Weitere Änderungen gibt es beim elektronischenLohnnachweis. Anstatt einer anlassbezogenen Sozial-versicherungsmeldung erstellt der Unternehmer einenjährlichen Lohnnachweis und übermittelt die Daten di-rekt an den Unfallversicherungsträger. Ob das mit einemeinfachen Mausklick getan ist, wage ich zu bezweifeln.Es wird aber auf jeden Fall ein vereinfachtes Verfahrensein. Diese Methode beugt natürlich Fehlern vor und re-duziert den zeitlichen und damit finanziellen Aufwandfür die Arbeitgeber ganz erheblich.Beim Omnibusgesetz – unabhängig davon, ob das be-liebt ist oder nicht – habe ich noch weitere Änderungenzu kommentieren. Ein aktuelles Thema, das die ganzeWelt in Atem hält, ist die Ebolafieberepidemie in West-afrika, bei der es bereits über 9 000 Tote gegeben hat.Hier haben sich viele freiwillige Helfer aus Deutschlandbereitgefunden, ehrenamtlich helfend einzugreifen. Fürdiese stillen Helden wollen wir den gesetzlichen Unfall-versicherungsschutz ausweiten, bis zur geplanten Schaf-fung einer UVB-eigenen Auslandsversicherung.
Die Pille danach ist auch schon erwähnt worden. Sieist aufgrund einer Entscheidung der EU-Kommissionnicht mehr verschreibungspflichtig. Es soll aber die Kos-tenübernahme durch die Krankenkassen für jungeFrauen im Alter bis zu 20 Jahren fortgeführt werden. EinWerbeverbot soll eingeführt werden. Das halte ich fürvollkommen richtig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8365
Gabriele Schmidt
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Auch der Deutsche Apothekerverband und der GKV-Spitzenverband haben bei einer Anhörung im Februardie Sinnhaftigkeit dieses Werbeverbots bestätigt. Wirwollen der Gefahr einer unsachgemäßen Selbstmedika-tion entgegenwirken. Das Selbstbestimmungsrecht vonjungen Frauen wird nicht tangiert. Das respektieren wir,aber es geht um die Gesundheit von jungen Frauen. DiePille danach ist eine Notfallverhütung und soll es auchbleiben.
Die letzte wichtige Änderung ist die Einführung desInstruments der assistierten Ausbildung. Im Koalitions-vertrag wurde vereinbart, Chancen der assistierten Aus-bildung zu nutzen. Sie ist ein wichtiger Baustein nebenden sogenannten ausbildungsbegleitenden Hilfen. Mitdem neuen, befristeten Instrument der assistierten Aus-bildung sollen lernbeeinträchtigte und sozial benachtei-ligte junge Menschen eine individuelle und kontinuierli-che Unterstützung erhalten und zum erfolgreichenAbschluss einer betrieblichen Berufsausbildung im dua-len System geführt werden.Ja, das ist ein Instrument, das für die Ausbildung imdualen System in Betrieben eingerichtet wird, wo dieweit überwiegende Zahl der Berufsausbildungen stattfin-det. Selbst auf eine Ausbildung in einer Vollzeitschule,etwa bei Erzieherinnen und Erziehern, bei Altenpflege-rinnen und Altenpflegern, folgt – jedenfalls in meinemBundesland Baden-Württemberg – zwingend eine Aner-kennungszeit in einer entsprechenden Einrichtung. DieseAusbildungen sind also auch dual.Das Instrument soll in besonderer Weise den Arbeit-gebern dienlich sein. Wir wollen auch den ArbeitgebernUnterstützung zur Seite stellen, nicht nur den jungenMenschen. Damit werden die Erfolgschancen für beideSeiten verbessert. Die Betriebe sind wichtig für den Er-folg; das dürfen wir nicht vergessen. Wir wollen auchneue Betriebe ermuntern, ihrer Verantwortung und ihremAusbildungsauftrag gerecht zu werden. Daher haben wiruns auf die duale Ausbildung konzentriert.Der Paritätische Gesamtverband sammelt seit JahrenPraxiserfahrungen mit der assistierten Ausbildung inmeinem Bundesland Baden-Württemberg, von 2004 bis2008 im Rahmen des Projekts „diana“, seit 2008 im da-rauffolgenden, umfassenderen Projekt „carpo“. BeideProjekte wurden von CDU-geführten Landesregierungeninitiiert. Bei der bundesweiten gesetzlichen Verankerungkönnen wir jetzt von dieser langjährigen Praxiserfahrungprofitieren.Noch eine Stimme aus der Praxis: Norbert Sedlmair,der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur fürArbeit in Lörrach, die für einen Teil meines Wahlkreiseszuständig ist, hat mir bestätigt, dass assistierte Ausbil-dung eine sinnvolle Ergänzung des bereits vorhandenenInstrumentariums ist, und das in einem Bezirk, der seitJahren die zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganzDeutschland hat.Dank der Bemühungen und des Einsatzes der Arbeits-gruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestags-fraktion wird der Personenkreis nun erweitert, was wirfür sehr sinnvoll erachten.
Der Wunsch nach einer Erweiterung der Zielgruppewurde übrigens in der schon erwähnten Anhörung auchvom DGB geäußert.
– Und die SPD findet es auch gut. Sehr gut, wir sind unseinig.Unser erstes Ziel ist die Erweiterung der Zielgruppeum junge Menschen mit einem Abschluss und ältere Ju-gendliche mit Vermittlungshemmnissen und sogenanntergeringer Affinität zur Berufsausbildung. Dies betrifftjunge Menschen, bei denen vielleicht ein Elternteil ge-storben ist, eine Beziehung in die Brüche gegangen istoder es einen Drogenabsturz gab; selbst alleinerziehendeFrauen und Männer sind davon betroffen. Vielleichtmuss eine zweite Ausbildung gemacht werden. All die-jenigen werden jetzt von diesem Programm erfasst. Siekönnen eine betriebliche Ausbildung beginnen, fortset-zen oder erfolgreich zu Ende bringen, sofern Landeskon-zeptionen existieren und Dritte sich mindestens mit50 Prozent an der Förderung beteiligen; ich kommegleich darauf zu sprechen.Unser zweites Ziel ist die Schaffung eines angemesse-nen und offen gestaltbaren konzeptionellen Rahmens,um auf individuelle Lebenslagen, Unterstützungsbedarfeund Vermittlungshemmnisse eingehen und mit jeweilsadäquaten Angeboten flexibel reagieren zu können.Auch dieses Ziel wird erreicht.Das dritte Ziel ist die Öffnung der Gestaltungs- undFinanzierungsoptionen für Dritte. Ich meine, die Länderund Kommunen haben genauso wie wir ein vitales Inte-resse daran, dass kein Jugendlicher verloren geht. DieWirtschaft wird sich ebenfalls an der assistierten Ausbil-dung beteiligen – sie sucht doch händeringend nachFachkräften. Einige IHKs und Handwerkskammern ha-ben hier bereits entsprechende Signale gesetzt. Das soll-ten bitte auch Sie zur Kenntnis nehmen, Herr KollegeBirkwald.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stellen die as-sistierte Ausbildung auf solide Füße; das wollen wir mitdiesem Gesetz erreichen. Der Start erfolgt bereits zumnächsten Lehrjahr 2015/16.Mein letzter Punkt. Eine weitere Änderung – darüberfreue ich mich besonders; ich möchte es hervorheben –ist die Aufnahme der assistierten Ausbildung in denLeistungskatalog des § 115 SGB III. Dort geht es um dieFörderung der Berufsausbildung und damit Teilhabe jun-ger Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben. Die as-sistierte Ausbildung stellt eine weitere wichtige Mög-lichkeit zur Förderung inklusiver Berufsausbildung imBetrieb für Menschen mit Behinderung dar. Sie ist damiteine Alternative zu einer außerbetrieblichen Ausbildung
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8366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Gabriele Schmidt
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oder zur beruflichen Bildung in Werkstätten für Men-schen mit Behinderung. Damit greifen wir ein ganzwichtiges Ziel des Nationalen Aktionsplans der Bundes-regierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention auf.Alles in allem ist das ein gelungener Abschluss einesGesetzgebungsverfahrens. Ich bitte Sie alle um Ihre Zu-stimmung.Vielen Dank.
Vielen Dank. Das war eine punktgenaue Landung. –
Nächste Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrBirkwald hat recht: Dieses Omnibusgesetz enthält einganzes Konglomerat von unterschiedlichen Regelun-gen. Ich will hier zu zwei Punkten etwas sagen: erstenszur assistierten Ausbildung und zweitens zur Pille da-nach.Frau Schmidt, wir halten die assistierte Ausbildungfür ein sinnvolles Instrument. Deswegen werden wir die-sem Gesetzentwurf auch zustimmen. Ich will hier aberbetonen: Angesichts von 1,5 Millionen Menschen unter35 Jahren ohne berufsqualifizierenden Abschluss ist dieassistierte Ausbildung in dem angestrebten Umfang na-türlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein und kannnicht ausreichen.
Angesichts der Tatsache, dass wir in den Betrieben einehistorisch niedrige Ausbildungsquote haben, ist es dasMinimum, was Sie tun müssen. Aber es ist ein Schritt indie richtige Richtung.Sie haben jetzt – nicht auf Ihre eigene Initiative hin,Frau Schmidt, sondern nach einer massiven Kritik derSachverständigen bei der Anhörung – jedenfalls formaleine Ausweitung der Zielgruppe vorgenommen. Das fin-den wir richtig. Ich finde es richtig, dass jetzt nicht nursozial benachteiligte oder lernbehinderte Jugendliche da-von profitieren, sondern dass es eine Ausweitung auf dieGruppe gibt, deren Angehörige aufgrund besonderer Le-benslagen, wie Sie es nennen, Schwierigkeiten haben,eine Ausbildung durchzuhalten oder zu beginnen.Warum aber setzen Sie dann die Hürden so verdammthoch? Die Voraussetzungen für die Angehörigen dieserGruppe, dass sie von diesem Instrument profitieren,sind: Erstens. Sie müssen in einem Bundesland leben,das ein eigenes Landeskonzept hat, welches diese beson-deren Lebenslagen konkretisiert. Zweitens. Es muss eineeigene Landeskonzeption für diese assistierte Ausbil-dung geben. Drittens. Es muss einen Dritten geben, dermindestens 50 Prozent gegenfinanziert. Meine Damenund Herren, jetzt seien Sie doch einmal ehrlich: Das isteher ein Verhinderungsprogramm, als dass es tatsächlichmehr Jugendliche in die Ausbildung bringt.
Was ich – auch nach Ihrem Beitrag, Frau Schmidt –überhaupt nicht verstehe: Warum sollen Jugendliche, dieeine vollzeitschulische Ausbildung machen, davon nichtprofitieren? Das ist ein Drittel aller Auszubildenden.Glauben Sie wirklich, dass es in dieser Gruppe keine so-zial Benachteiligten, keine Lernbehinderten oder keineJugendlichen gibt, die sich in besonders schwierigen Le-benslagen befinden? Also, es macht wirklich keinenSinn, so hohe Hürden zu setzen und diese Gruppe auszu-schließen. Das kritisiere ich noch einmal ausdrücklich.
Ich habe es schon in der Ausschussberatung gesagt:Bitte legen Sie an dieses Instrument nicht die Ausschrei-bungsregelung der BA an. Wenn Sie das tatsächlich ma-chen, werden Sie in der assistierten Ausbildung wederQualität noch Kontinuität sicherstellen. Damit machenSie ein sinnvolles Instrument kaputt.Jetzt noch ein paar Sätze zu der Pille danach. LiebeKolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – HerrBirkwald hat es schon gesagt –: Zehn Jahre lang habenSie aus rein ideologischer Verbohrtheit verhindert, dassFrauen auch in Deutschland – wie in anderen europäi-schen Ländern – nach einer Verhütungspanne oder – vielschlimmer noch – nach einer Gewaltanwendung einenschnellen und unkomplizierten Zugang zu der Pille da-nach bekommen. Sie haben damit das Selbstbestim-mungsrecht der Frau behindert.
Frau Hiller-Ohm, Sie brauchen es sich überhauptnicht an die Brust zu heften, dass sich das jetzt ändert.Das haben die Frauen nicht etwa einem Sinneswandelder Großen Koalition zu verdanken – da hat die CDU/CSU nämlich eine interessensgeleitete Einsichtsbarriere –,
sondern das haben Sie ausschließlich der EuropäischenKommission zu verdanken.
Ich sage Ihnen: Wie gut, dass Deutschland ein Teil Euro-pas ist; denn wenn sich die Frauen auf Sie verlassenmüssten, dann wären sie verlassen.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8367
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Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion erhält jetzt
Michael Gerdes das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
drei Minuten, in denen ich auch auf die assistierte Aus-
bildung eingehen will. Frau Pothmer, Sie behaupten, die
Sache mit der Pille danach ist nur auf Ihrem Mist ge-
wachsen – wenn ich das so formulieren darf –, aber das
ist falsch. Auch die SPD hat einiges dafür getan.
Ich kann mich an viele Diskussionen erinnern, die wir
geführt haben, und auch an viele Probleme, die an uns
herangetragen wurden. Von daher war das auch unser
Verdienst.
In der Politik sind wir gut, wenn wir Chancen eröff-
nen und Wege ebnen. Das tun wir mit dem vorliegenden
Gesetzesentwurf. Er beinhaltet nämlich unter anderem
das Instrument der assistierten Ausbildung. Dahinter
verbergen sich umfangreiche Hilfen für benachteiligte
junge Menschen. Von daher würde ich das nicht ganz so
negativ sehen, Herr Birkwald. Es geht um verstärkte Be-
rufsorientierung, Hilfe bei der Suche nach einem Ausbil-
dungsplatz, Hilfe beim Lernen und auch um sozialpäda-
gogische Begleitung. Das sind aus meiner Sicht sehr
sinnvolle Hilfestellungen. Schließlich wissen wir alle:
Ausbildung ist ein Schlüssel zum Erfolg. Junge Men-
schen müssen von Anbeginn an alle Chancen auf Bil-
dung erhalten, damit sie gar nicht erst von Arbeitslosig-
keit betroffen sind.
Deswegen sage ich: Wenn wir heute gut ausbilden, si-
chern wir die Fachkräftebasis von morgen. Wir sprechen
also auch über Arbeitsförderung und über Fachkräfte-
sicherung.
– Ja, 10 000 Plätze mögen zu wenig sein, aber es ist ein
erster Schritt.
Erste Erfahrungen mit der assistierten Ausbildung ha-
ben wir zum Beispiel in Baden-Württemberg gemacht;
übrigens ESF-finanziert, das möchte ich dazusagen. Sie
machen uns Mut. Sozialförderungsbedürftige junge
Menschen haben es leichter, in eine betriebliche Ausbil-
dung zu kommen, wenn sie kontinuierlich und gezielt
begleitet werden, und das tun wir.
Ich will übrigens nicht die außerbetriebliche Ausbil-
dung diskreditieren, aber unsere Stärke ist gerade das
duale Ausbildungssystem. Das Lernen im laufenden Be-
trieb, praxisorientiert, macht viel aus, und dabei sollte es
bleiben.
Im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens habe ich
etwas Wichtiges gelernt: Ein Und kann auch ein Oder
sein,
und in diesem Fall lege ich Wert auf das Oder. Damit er-
weitern wir die Zielgruppe für die assistierte Ausbildung
für diejenigen, die dafür infrage kommen. Wir können
damit also recht vielen ausbildungswilligen Jugendli-
chen eine Brücke bauen. Lernbeeinträchtigte junge Men-
schen sollen ebenso wie sozial benachteiligte junge
Menschen unterstützt werden. Das Angebot der assis-
tierten Ausbildung gilt zunächst – das haben wir gerade
schon gehört – von 2015 bis 2018. Das entspricht dem
Zeitraum, den wir für die Allianz für Aus- und Weiter-
bildung vereinbart haben.
Für die praktische Arbeit vor Ort brauchen die Mitar-
beiter in den Agenturen, die Lehrer und Sozialpädago-
gen an den Schulen, die Betriebe und selbstverständlich
auch die Jugendlichen selbst klare Konzepte. Es muss
schlüssig und transparent werden, wer wann was und
wen fördert. Langfristig ist ein vergleichbares, gleich gu-
tes Angebot für alle, die sich am Übergang von der
Schule zur Ausbildung befinden, wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
ein Omnibusgesetz, in dem eine Menge drinsteckt. Lei-
der steckt nicht drin die Modernisierung der Sozialwah-
len. Wir hätten gerne den Weg dafür freigemacht. Leider
ist dieser Omnibus ohne die Selbstverwalter abgefahren.
Ich hoffe, dass – auch wenn es aktuell nicht absehbar
ist – das Ziel einer starken Selbstverwaltung erreicht
wird. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.
Herzlichen Dank und Glückauf!
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und andererGesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache18/4114, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 18/3699 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke in dritter Beratung angenommen.
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8368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Zusatzpunkt 3. Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entlassung derPille danach aus der Verschreibungspflicht und zur Er-möglichung der kostenlosen Abgabe an junge Frauen.Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 18/4116, den Ge-setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/3834 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-men der Fraktionen von CDU/CSU und SPD gegen dieStimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Dr. André Hahn, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEAufhebung des Betätigungsverbots für dieArbeiterpartei Kurdistans PKK und Strei-chung der PKK von der EU-TerrorlisteDrucksache 18/3575Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeGäste vom Kurdischen Nationalkongress auf der Besu-chertribüne!
Die heutige Debatte über das PKK-Verbot ist längstüberfällig. Es ist nach über 20 Jahren an der Zeit, Bilanzzu ziehen und den Weg des Dialogs zu gehen. Zu denFolgen des Verbots gehören Tausende Strafverfahren,Razzien, Vereins- und Versammlungsverbote. Allein inden letzten zehn Jahren gab es bundesweit 4 500 Strafta-ten mit PKK-Bezug.
Dabei handelt es sich in der Masse eben nicht um Ge-waltdelikte, Herr Kollege. Es geht um Spenden, um ver-botene Symbole und Parolen.
Auslöser von Polizeieinsätzen bei Demonstrationen sindoft PKK-Fahnen oder Bilder von Öcalan. In der Türkeiwerden diese übrigens längst gezeigt. Das ist doch wirk-lich absurd.
Ein Großteil der fast 1 Million Kurden in Deutschlandsieht sich infolge des PKK-Verbots von Grundrechtsein-schränkungen und Kriminalisierung, von Diskriminie-rung, Ausgrenzung und Misstrauen betroffen. Durch dasPKK-Verbot wurde in der hiesigen Gesellschaft ein Ne-gativbild von Kurden erzeugt, mit gravierenden Folgenim Alltagsleben. Tausenden Flüchtlingen wurde dasAsyl wieder aberkannt. Tausende hier aufgewachseneJugendliche werden nicht eingebürgert, weil sie sich fürdie Rechte der Kurden einsetzen.Ein Beispiel ist die junge Kurdin Sultan Karayigit,besser bekannt als Leyla. Zu ihrem 18. Geburtstag be-kam sie, die seit acht Jahren bei ihrer Familie in Nürn-berg lebte, einen Ausweisungsbescheid. Sie sei – ich zi-tiere – „eine abstrakte Gefahr“. Straftaten hat diese jungeFrau nie begangen. Aber als Jugendliche beteiligte siesich an kurdischen Demonstrationen und war in einemKurdenverein aktiv. Aufgrund von Aufenthaltsbeschrän-kungen verlor Leyla zwei Ausbildungsstellen. Siemusste in Deutschland Asyl beantragen. Nach vier Jah-ren wurde Leyla schließlich als Flüchtling anerkannt – inDeutschland, wo sie seit ihrer Kindheit lebt. Das zeigt,dass das PKK-Verbot auch ein Hindernis bei der Integra-tion ist.
Die Entstehung der PKK war eine Reaktion auf diejahrzehntelange blutige Unterdrückung der Kurden inder Türkei und auf das Verbot ihrer Sprache und Kultur.Das PKK-Verbot in Deutschland wurde wiederum mitRücksicht auf den NATO-Partner Türkei begründet.Doch heute verhandelt die Türkei mit dem PKK-ChefÖcalan über eine politische Lösung. Die Waffen schwei-gen seit zwei Jahren weitgehend.
Die Aufhebung des PKK-Verbots wäre ein wichtigesSignal an Ankara, den Friedensprozess weiterzuent-wickeln.
Meine Damen und Herren, im Nahen Osten kämpftdie PKK heute gemeinsam mit Peschmerga und syri-schen Kurden gegen die Massenmörder des sogenannten„Islamischen Staates“. Die PKK und ihre Verbündetenhaben dadurch Hunderttausenden das Leben gerettet, un-ter anderem vielen Jesiden.
Selbst Herr Kauder dachte laut darüber nach, derPKK Waffen zu liefern. Doch in Deutschland wird jedeSympathiekundgebung für die PKK weiterhin strafrecht-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8369
Ulla Jelpke
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lich verfolgt. Außerdem steht die PKK auf der EU-Terrorliste. Mit dieser Doppelmoral muss endlichSchluss sein!
Wer die Kurden im Nahen Osten als Partner umwirbt,sollte ihnen auch in Deutschland die Hand zum Dialogreichen. Deswegen muss das PKK-Verbot endlich aufge-hoben werden.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege
Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die PKK wurde 1993 durch den Bundesminister
des Innern verboten. Vorausgegangen war eine ganze
Reihe schwerer Straftaten, Autobahnblockaden und Ge-
waltaktionen, bei denen viele Polizeibeamte verletzt
wurden; das weiß ich deshalb so genau, weil ich als jun-
ger Polizeibeamter bei solchen Einsätzen selber dabei
war. Das Verbot wurde in den Folgejahren bestätigt,
auch 2004 beim Verbot einer Teilorganisation. Allein
seit 2004 gab es – Sie haben es selber gesagt, Frau
Jelpke – mehr als 4 500 Strafverfahren gegen Anhänger
der PKK.
Angesichts dieser Menge und angesichts des Verbotes
noch im Jahr 2004 halte ich Ihre Forderungen, das PKK-
Verbot aufzuheben, die PKK von der EU-Terrorliste zu
streichen und eine Amnestie für alle in der Vergangen-
heit ermittelten Straftäter zu erwirken, für wirklich nicht
realistisch. Das ist rundherum abzulehnen.
Ich habe Ihren Antrag genau gelesen. Sie sind in Ihrer
Rede aber gar nicht so sehr auf Ihren Antrag eingegan-
gen. In Ihrer Rede haben Sie sich mehr auf Einzelfälle
konzentriert. Ich werde mich mit Ihrem Antrag aus-
einandersetzen. Entscheidend ist doch, ob die PKK auf
dieser Wegstrecke irgendwann von ihrer Agenda, die
sich gegen die Völkerverständigung richtet, abgerückt
ist. Dazu gibt es ein Urteil des Bundesverwaltungs-
gerichts aus dem Jahr 2012 – das ist also noch nicht so
lange her –, in dem festgestellt wurde, dass sich die PKK
von ihrer Ideologie und ihrer Agenda her unverändert
gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet.
Deshalb kann es nicht in Betracht kommen, dass wir das
Verbot aufheben.
Ein weiterer Punkt ist: Sie heben stark auf die außen-
politischen Argumente ab. Es ist wahr, dass sich die
Ereignisse in Syrien überlagern; aber das allein kann
keine Rechtfertigung sein.
Herr Kollege Binninger, gestatten Sie eine Zwischen-
frage oder -bemerkung der Kollegin Jelpke?
Ja, gestatte ich.
Bitte schön.
Danke, Herr Kollege. – Wenn Sie sagen, die PKK
verstoße gegen den Gedanken der Völkerverständigung,
bzw. das Gerichtsurteil zitieren, würde ich Sie bitten,
doch einmal zu konkretisieren: Was sind die konkreten
Fakten Ihrer Meinung nach, die dazu geführt haben, dass
dieses Urteil so gefallen ist?
Weil im Prinzip nicht erkennbar ist, dass die PKK von
ihrer bisherigen Ausrichtung glaubhaft und dauerhaft ab-
rückt.
Das war wohl die Grundlage auch für dieses Urteil. Ich
kenne es im Detail nicht; aber entscheidend ist, dass es
ein Urteil gibt, das aus jüngster Zeit stammt und das wir
nicht übergehen können.
Der Punkt ist: Wir können doch nicht so tun, als ob sich
alles geändert hätte, wenn ein höchstes deutsches Ge-
richt dies anders bewertet. Man muss das doch zumin-
dest einbringen.
So, jetzt möchte noch die Kollegin Dağdelen eine
Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die auch?
Ja, ich gestatte alle Zwischenfragen.
Vielen Dank. Mein Kollege Birkwald sagt: netterKollege. – Das kann ich nur bestätigen aus der Arbeit imInnenausschuss.
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Man kann trotzdem unterschiedlicher Meinung sein.
Ja, das kann man, Herr Binninger. – Ich möchte Sie
trotzdem fragen, was Sie unter Völkerverständigung ver-
stehen. Nehmen Sie vielleicht zur Kenntnis, dass es die
PKK war, die sich sehr erfolgreich gegen den barbari-
schen „Islamischen Staat“ gestellt hat, Jesiden gerettet
hat, Christen gerettet hat, Aramäer gerettet hat, andere
Minderheiten in der Region gerettet hat? Wenn das nicht
konkrete Völkerverständigung ist, was, bitte, verstehen
Sie dann unter Völkerverständigung?
Ich wäre sowieso noch darauf eingegangen. Jetzt
müsst ihr euch ein bisschen verständigen: Wenn ich je-
dem eine Frage gestatte, dauert das. Ich mache das
– kein Problem –; aber es dauert dann halt.
Ich bin darauf eingegangen, und ich wäre auch in der
Folge noch darauf eingegangen: Natürlich kann man die
aktuelle Entwicklung und die Überlagerung der Ereig-
nisse in Syrien nicht ausblenden; das wäre unredlich. Es
ist dort unten ein schreckliches Kriegsgebiet, wo eine
Terrorarmee – des IS – Schrecken verbreitet und Verbre-
chen begeht, die wirklich unfassbar sind. Wenn dort Par-
teien sich gegen diese Terrorarmee stellen, wer wollte
dagegen jetzt etwas sagen! Aber ich frage Sie ernsthaft:
Kann man aus dieser Völkerverständigung, die in dem
Fall ja eher Waffenhilfe bedeutet,
ableiten – das ist doch der Punkt –, dass die PKK ihre
Ideologie, ihre Agenda komplett geändert hätte?
Das halte ich für nicht zulässig, und das ist, glaube ich,
auch nicht ausreichend.
Jetzt würde ich gern fortfahren; vielleicht erklärt sich
manches.
Wieso bleiben Sie stehen, Frau Kollegin Dağdelen? –
Herr Binninger, Sie waren fertig?
Ich war fertig und in Erwartung der nächsten Frage.
Okay, dann hat jetzt die Kollegin Leidig noch die
Chance, etwas zu sagen, und dann geben wir dem Kolle-
gen Binninger bitte die Chance, seine Rede zu Ende zu
führen.
So lange können 2 Minuten 31 Sekunden dauern.
Ich habe mich jetzt nur gemeldet, weil Sie gesagt ha-
ben, Sie sind offen dafür. Ich möchte jetzt weniger eine
Frage stellen, sondern eigentlich eine Kurzintervention
machen. Und zwar finde ich es bedeutsam, dass spätes-
tens seit Mai 2013, als Öcalan aus dem Gefängnis heraus
eine sehr bedeutsame Friedensbotschaft gesendet hat,
sich die Situation in der Türkei selber grundlegend ver-
ändert hat. Die Friedensgespräche zwischen Öcalan und
Erdogan finden statt. Wenn Sie sich das Modell der de-
mokratischen Autonomie in der Region Rojava, aber
auch in den kurdisch verwalteten Kommunen auf der
türkischen Seite anschauen, dann sehen Sie, dass dort in
der PKK, in den befreundeten Organisationen, ein wirk-
lich fundamentaler – auch was die Theorie angeht – Ver-
änderungsprozess stattgefunden hat. Ich finde es ausge-
sprochen wichtig, sich auch mit diesem – ich nenne es
einmal so – demokratietheoretischen Ansatz zu beschäf-
tigen.
Öcalan, ein Mann, der seit über einem Jahrzehnt in
Einzelhaft sitzt und einen großen Einfluss ausübt, hat
diese Veränderungen sehr massiv vorangetrieben. Ich
möchte einfach sagen: Die Position von Öcalan und der
PKK hat sich fundamental verändert. Sie ist ganz stark
auf Kooperation, Völkerverständigung und Friedens-
prozess ausgerichtet.
Frau Kollegin, wir sind damit bei der Bewertung der
Gespräche. Ich wäre jetzt ohnehin auf diese Gespräche
zwischen der Türkei und der PKK zu sprechen gekom-
men. – Da es eine Zwischenbemerkung war, dürfen Sie
sich von mir aus gerne setzen.
Ich verstehe Sie jetzt so, dass Sie Ihre Rede fortset-
zen; das ist jetzt keine Antwort mehr. Dann muss ich die
Zeit laufen lassen.
Irgendwann läuft die Zeit; das ist so. Das dürfen Sie.
Es kommt nachher also keine Beschwerde.
Nach unserer Bewertung dieser Gespräche ist manweit davon entfernt, dass man wirklich sagen könnte: Es
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gibt substanziell Bewegung in der Sache und bei der in-haltlichen Ausrichtung der Agenda. Deshalb sagen wiran dieser Stelle: Das ist nicht ausreichend. Man kanndiese Argumente nicht heranziehen.Ein weiterer Punkt: Es wird immer unterschwelligsuggeriert, wir würden Waffen in diese Region liefern.Dies sei doppelzüngig und scheinheilig.
– Jetzt kommt der auch noch.
Wir liefern keine Waffen an die PKK, sondern nur an diekurdische Regionalregierung, die uns zugesagt hat, sieeben nicht an die PKK weiterzugeben.
Das ist ein kolossaler Unterschied.
Durfte ich Ihrer Bemerkung entnehmen, dass Sie dem
Kollegen Ströbele auch die Gelegenheit zu einer Zwi-
schenfrage oder Bemerkung geben?
Ich habe ihm in 13 Jahren noch nie eine Zwischen-
frage verweigert. Damit werde ich jetzt auch nicht an-
fangen.
Das ist sehr nett, Herr Kollege. Ich konnte erst etwas
später in den Plenarsaal kommen, weil ich noch im Un-
tersuchungsauschuss war.
Ich habe gedacht, ich sei vorher fertig.
Ich habe hierzu auch einen Vorhalt zu machen: Sie
sind Polizeibeamter von Beruf. Haben Sie als Polizeibe-
amter nicht ein Problem damit, dass man in Deutschland
wegen einer Tätigkeit strafrechtlich verfolgt wird – es
erfolgen Festnahmen, bei denen den Betroffenen manch-
mal alles mögliche Übel zugefügt wird, sie kommen ins
Gefängnis, und es wird ermittelt –, die eigentlich nichts
Böses ist? Ich denke beispielsweise an das Sammeln von
Geld. Dieses Sammeln von Geld soll nur böse sein, weil
das Geld für die PKK bestimmt ist.
Die Justiz und der Staat gehen also gegen Personen
vor, die eigentlich etwas viel weniger Böses als die Bun-
desregierung tun, die nämlich Waffen liefert. Das ist ja
schlimmer, als Geld für dieselbe Organisation zu sam-
meln. Sie können auch nicht sagen, dass Sie sie gar nicht
dorthin liefern wollen. Wenn man abends vor dem
Fernseher sitzt, kann man beispielsweise Berichte aus
Wohnungen im Irak sehen. Dort sitzen PKK-Kämpfer
mit den Peschmerga zusammen. Sie haben deutsche
Waffen und rühmen sich damit, dass sie den ISIS damit
in die Flucht geschlagen haben.
Das muss doch für jeden Bürger und jede Bürgerin in
diesem Land – auch für Sie als Polizeibeamten – ein
unerträglicher Zustand sein, weil der ganze Strafgrund
dadurch infrage gestellt wird. Unsere Rechtsordnung
wird damit grundsätzlich angegriffen. Man muss doch
konsequent sein: Entweder ist die Unterstützung einer
solchen Organisation etwas Böses und Strafbares oder
nicht. Eine Unterstützung muss dann aber auch für dieje-
nigen strafbar sein, die Waffen liefern. Oder es ist umge-
kehrt und so, wie wir sagen: Auch das Geldsammeln
darf nicht strafbar sein, weil das im Vergleich zu Waffen-
lieferungen ja als wesentlich milder anzusehen ist.
Herr Kollege Ströbele, bleiben Sie bitte stehen. Der
Kollege Binninger darf jetzt antworten.
Ich glaube, so einfach, wie Sie manchmal die Dingesehen, ist das Leben nicht, und so romantisch, wie Siemanches sehen, ist es eben auch nicht. Ich habe keinenGrund, an der Rechtmäßigkeit dieser Strafverfahren zuzweifeln, die hier in Deutschland laufen.Ich sage es noch einmal: Wir liefern keine Waffen andie PKK. Deshalb ist dieser Vergleich, den Sie geradegebracht haben, nicht zulässig.
Wir liefern Waffen an die kurdische Regionalregierung,die uns wiederum zusagt, sie nicht weiterzugeben. IhreVerknüpfung ist deshalb so nicht zulässig.
Frau Kollegin Jelpke, Sie sagen – das haben Sie in Ih-rem Antrag beschrieben –, dadurch würde die Mei-nungsfreiheit der hier lebenden Kurden eingeschränkt
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Clemens Binninger
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und sie könnten ihre Grundrechte hier nicht in Anspruchnehmen.
– Einzelfälle können wir hier schlecht bewerten. InDeutschland leben rund 800 000 Kurden. Davon habenbestimmt 95 Prozent keine Beziehung zur PKK. DieseMenschen sind in ihren Rechten und in ihrer Meinungs-freiheit überhaupt nicht eingeschränkt. So eine Behaup-tung aufzustellen, führt deshalb völlig in die Irre.Wer in Deutschland unsere Verfassung respektiert,wer keine Gewalt anwendet und wer für die Völkerver-ständigung ist, der hat in unserem Land alle Rechte, egalwoher er kommt, egal welche Nationalität er hat.
Wer aber diese Dinge nicht respektiert, wer nicht glaub-haft der Gewalt abschwört und ein Problem mit der Völ-kerverständigung hat, bleibt verboten.Danke schön.
Vielen Dank. – Das Wort hat Irene Mihalic, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Selbstverständlich ist ein Vereinsverbot in ei-nem Rechtsstaat nicht in Stein gemeißelt; denn Situatio-nen und Menschen können sich natürlich ändern. Aberauch nach Ihrer Rede, liebe Kollegin Jelpke, finde ich,dass Sie es sich mit Ihrem Antrag doch ein ganz kleinwenig zu einfach machen.
Sie wollen das PKK-Verbot hier in Deutschland auf-heben, begründen das aber in Ihrem Antrag und auch inweiten Teilen Ihrer Rede fast ausschließlich mit den Ver-hältnissen im Ausland. Eine Bewertung der Aktivitätender PKK im Inland bleibt dabei aber außen vor. Dasfinde ich schon erstaunlich, weil wir hier über ein inner-staatliches Verbot sprechen.Die Bundesregierung verhält sich hier leider nichtminder widersprüchlich; mein Kollege Ströbele hat dasvorhin an einem schönen Beispiel illustriert. Es ist zwarrichtig, Herr Binninger, dass die Waffen an die kurdischeRegionalregierung geliefert werden. Aber Sie nehmendoch dabei billigend in Kauf, dass die Waffen auch in dieHände der PKK gelangen. Das muss man einfach einmalso festhalten.
Auf der anderen Seite werden Menschen kriminali-siert, die in einer Fußgängerzone in Deutschland Geldfür die PKK sammeln. Mit diesem Widerspruch müssenwir irgendwie klarkommen. Darüber müssen wir reden.Aber sind das jetzt auch gute Gründe dafür, das PKK-Verbot aufzuheben? Das ist doch die entscheidendeFrage. Ich persönlich habe da erst einmal einige Fragen;denn allein der Kampf der PKK gegen den gemeinsamenFeind „Islamischer Staat“ reicht dafür meines Erachtensnicht aus.
Wir müssen uns natürlich auch den Friedensprozessin der Türkei anschauen. Ich finde aber, dass dieser Frie-densprozess äußerst fragil ist. Gerade Erdogan spielt indiesem Zusammenhang keine rühmliche Rolle undagiert immer wieder als Brandstifter. Auch setzt er wich-tige Schritte im Friedensprozess praktisch nicht um. Wirkönnen also nicht davon ausgehen, dass dieser Konfliktin der Türkei bald beigelegt ist.Auch für einen Gewaltverzicht der PKK gibt es mei-ner Ansicht nach keine überzeugenden Anhaltspunkte.In offiziellen Äußerungen setzt die PKK die Türkei mitdem „Islamischen Staat“ gleich und sagt, dass beide be-kämpft werden müssen.
Wäre es in dieser Situation tatsächlich richtig, das PKK-Verbot hier in Deutschland aufzuheben? Ich stelle dieseFrage ganz bewusst. Ich habe darauf keine Antwort.Aber ich finde, mit dieser Frage müssen wir uns beschäf-tigen.
Für den gewaltbereiten Teil der PKK ist der Kampfgegen das türkische Militär existenziell. Um noch ein-mal auf die Situation im Nahen Osten einzugehen, dieauch Sie vorhin schon angesprochen haben: Es gibtsogar Berichte über Zwangsrekrutierungen von Minder-jährigen und Frauen und über massive Menschenrechts-verletzungen in diesem Kampf in Syrien. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich finde, diese Dinge können wirbei einer Neubewertung des PKK-Verbots nicht ignorie-ren.
Wir können auch nicht ignorieren, wie sich die PKKhier in Deutschland verhält. Mal propagiert sie, auf Ge-walt zu verzichten, dann wieder – zum Beispiel im Sep-tember 2014; das ist also noch nicht so lange her – wirdzu aktiven Aktionen mobilisiert unter der Prämisse: DerProtest reicht nicht aus, es muss Widerstand geleistetwerden.Wir haben die zahlreichen Demonstrationen erlebt,zum Teil verbunden mit schwersten Ausschreitungen. Eswurden Flughäfen, Bahnhöfe, Parteibüros, zeitweise so-gar Rundfunksender besetzt. PKK-Anhänger haben so-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8373
Irene Mihalic
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gar versucht, gewaltsam in den Sicherheitsbereich desFrankfurter Flughafens einzudringen.
Da muss man sich schon mal die Frage stellen, wie ernstes die PKK mit dem Gewaltverzicht hier im Inlandmeint.
– Bevor Sie sich jetzt weiter aufregen, Herr Kollege:Trotzdem ist es natürlich richtig, die Situation neu zu be-werten
und diese Fragen, die ich vorhin aufgeworfen habe, zuklären. Ich finde, hier muss die Bundesregierung präzisebeantworten, wie die jüngsten Ereignisse in der Türkei,im Nahen Osten und in Deutschland einzuschätzen sind,wie groß die Gefahren für die innere Sicherheit hier imLand tatsächlich sind und welche positiven wie auch ne-gativen Auswirkungen das PKK-Verbot tatsächlich hat.Die PKK muss dabei natürlich auch die Chance ha-ben, zu zeigen, dass sie sich tatsächlich gewandelt hatund auf Gewalt verzichtet. Das muss sie aber auchglaubhaft tun. Das ist mir sehr wichtig. Natürlich darfdie PKK von uns Offenheit für Veränderungen erwarten.Aber ich finde, wir dürfen von der PKK auch echte Be-mühungen und tatsächlichen Gewaltverzicht verlangen.
Vielen Dank. – Der nächste Redner ist Uli Grötsch,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kanngut verstehen, dass der heute diskutierte Antrag zur Auf-hebung des Betätigungsverbotes für die ArbeiterparteiKurdistans und die Streichung der PKK von der EU-Ter-rorliste für viele Bürgerinnen und Bürger in unseremLand ein sensibles und höchst emotionales Thema ist.Ja, den Kurden ist über Jahrzehnte viel Unrecht ange-tan worden, und sie genießen gerade in der Türkei bisheute nicht die politische und kulturelle Freiheit, die ih-nen meiner Meinung nach vielleicht zusteht. Das hat dieSPD offen und klar gesagt, und es ist mir auch wichtig,das gleich am Anfang zu betonen.
Andererseits – und ich glaube, dass man diese Per-spektive nicht außen vor lassen darf – sind in den Kämp-fen mit der PKK auch viele Menschen ums Leben kom-men, sodass, aus der anderen Perspektive betrachtet,Situationen und Gefühle entstanden sind, die für michnichts mit Frieden zu tun haben. Auch das und auchdiese Menschen sollten wir nicht vergessen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Und weil mir diese Differenzierung, die auch vonmeinen Vorrednern gemacht worden ist, so enorm wich-tig ist, will ich hier ganz deutlich sagen: Es geht hier undheute nicht um die Situation der mehr als 800 000 Kur-den in Deutschland.
Und es geht auch nicht um die Situation der Kurden inder Türkei. Es geht heute nicht um Kultur, um Brauch-tum oder um Akzeptanz oder Integration, sondern esgeht einzig und allein um die Frage, wie die PKK heutezu Gewalt als Mittel des politischen Kampfes steht, –
also um eine spezifische innenpolitische Frage.Ich zähle bei der Bewertung dieser Fragestellung– das wurde heute noch gar nicht gesagt – durchaus auchsehr auf die Einschätzung der dafür zuständigen Sicher-heitsbehörden in Deutschland. Ich gehe mal davon aus,dass die Behörden, die ständig einen professionellenBlick auf die PKK in Deutschland richten, auch zu einereinwandfreien Beurteilung gelangen. Es geht also auchum die Frage, ob die für eine Einschätzung zuständigenBehörden des deutschen Sicherheitsapparats der PKKeine grundlegende friedliche Neuausrichtung bescheini-gen können oder nicht.Und diese Einschätzung fällt denkbar deutlich aus.Die Einschätzung der Sicherheitsbehörden hat sich hin-sichtlich des Agierens der PKK in Deutschland in denletzten Jahren im Kern auch nicht verändert.
Ich darf einmal kurz aus dem letzten Bericht des Bun-desamtes für Verfassungsschutz zitieren, wo es dazuheißt:Die weiterhin in hohem Maße mobilisierungsfähigePKK … hat ihre Anhänger in Deutschland auf eineAbkehr von militanten Aktionen eingeschworen:eine Tendenz, die mit einem Scheitern der Friedens-verhandlungen wieder Makulatur sein könnte. Ge-walt bleibt für die PKK gleichwohl ein strategi-sches Element, über das sie je nach politischerSituation entscheidet.Das Bundesministerium des Innern teilt in seinem Be-richt zu gegenwärtigen Erkenntnissen zur Fortführungdes Vereinsverbots der PKK
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8374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Uli Grötsch
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vom 16. Oktober 2014 übrigens diese Auffassung. Auchdaraus möchte ich kurz zitieren:
… die PKK kalkuliert unbeschadet aller „Friedens-bekundungen“ den Einsatz von Gewalt und Mili-tanz auch in Europa taktisch, abhängig allein vonden Gegebenheiten in ihren nahöstlichen Her-kunftsgebieten.Ich komme gerade von einem Gespräch mit einer Po-litikwissenschaftsprofessorin,
die in ganz Deutschland – hören Sie mir nur gut zu – alsExpertin für die Frage der Kurden angesehen ist und dieganz bestimmt nicht im Verdacht steht, dahin gehendgrundsätzlich negativ eingestellt zu sein. Sie hat, weilich sie danach gefragt habe, vor etwa einer Stunde sinn-gemäß gesagt, dass sie es so einschätzt: Wenn es untenhochkocht, dann ploppt das auch bei uns wieder hoch. –Der Kollege Berghegger saß neben mir und hat das ge-nauso gehört, sodass man also sagen kann, dass nicht nurder Sicherheitsapparat, sondern auch Wissenschaftlerdieser Meinung sind, im Übrigen auch solche, die so wiewir alle – das unterstelle ich einmal – den Kurden, derkurdischen Bevölkerung gegenüber grundsätzlich posi-tiv eingestellt sind.
Wie gesagt, wir reden hier nicht über die mehr als800 000 Kurden, sondern wir reden hier über die PKKund ihr Verhältnis zur Gewalt.
Können wir also tatsächlich ausschließen, dass diePKK und ihre Unterorganisationen keine Gefahr mehrfür die innere Sicherheit in Deutschland sind? Könnenwir mit Gewissheit sagen, dass sich die Einstellung derPKK zu Gewaltanwendung und militantem Verhaltennachhaltig geändert hat? Mit Blick auf die Fakten- undNachrichtenlage meine ich: Nein, das können wir zumjetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Jüngste Vorkommnissezeigen uns auch, dass Gewaltanwendung und Gewalt-aufforderungen vonseiten der PKK weiterhin auf der Ta-gesordnung stehen.Ich nenne Ihnen kurz drei Beispiele:Im September des letzten Jahres erschien in der tür-kischsprachigen PKK-Nachrichtenagentur ein Artikel, indem die kurdische Jugend in Europa zu aktiven Aktio-nen aufgerufen wurde.
Daraufhin kam es zu Besetzungen von Flughäfen, Bahn-höfen, Parteibüros, Rundfunk- und Fernsehsendern.Anfang Oktober 2014 kam es an mehreren Tagen zugewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Kurdenund Salafisten in Celle und Hamburg. Thorsten Voß,Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Ham-burg, sagt, dass die Gewalt aus wechselseitigen Provoka-tionen heraus entstand und beide Gruppen bewaffnet wa-ren.Außerdem hat das BMI Erkenntnisse darüber, dassdie PKK bislang Personen im mittleren zweistelligenBereich rekrutiert hat, um in Syrien und im Irak gegenden IS zu kämpfen. Dazu möchte ich sagen: Auch wennwir damit sozusagen einen gemeinsamen Feind haben,ist für mich der Feind meines Feindes nicht automatischmein Freund.
Meiner Meinung nach reichen diese Beispiele aus, umdeutlich zu machen, dass die PKK nicht als harmlos zubewerten ist – nach wie vor nicht.Ich sage zum Schluss noch: Ich glaube auch nicht,dass wir die innenpolitische Situation in der Türkei vomPlenarsaal des Deutschen Bundestages und von Deutsch-land aus so beeinflussen können, dass es in Deutschlandunmittelbar und sofort spürbar ist. Aus all diesen Grün-den ergibt sich für mich ganz klar, dass wir dem Antragder Fraktion Die Linke nicht zustimmen können. Ausden gleichen Gründen lehnen wir es ab, die PKK von derEU-Terrorliste zu streichen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Laut Verfassungsschutz ist die PKK eine von ih-rem Ursprung her marxistisch-leninistische Kaderpartei.Die PKK wollte 1978 eine Volksdiktatur mit sozialisti-scher Prägung errichten. Jetzt verstehe ich auch, warumdie SED-Nachfolgepartei ein Ende des Verbots der PKKfordert. Vielleicht wollen Sie ja in der Türkei oder inDeutschland eine zweite DDR mitbegründen.
– Richtig.Der Antrag der Linken mit dem Ziel, das Vereinsver-bot der PKK in Deutschland aufzuheben, stellt auf diepolitischen Veränderungen in der Türkei und der Regionab:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8375
Marian Wendt
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Mit ihrem Einsatz gegen den „Islamischen Staat“ undder Verkündung eines Friedensprozesses hätten sichauch die PKK und ihre Nachfolgeorganisation geändert.Jedoch selbst dann, wenn ich das gelten ließe – wirhaben hierüber bereits breit diskutiert –, haben sich an-dere Faktoren gerade nicht geändert. Da wäre zum Bei-spiel die Bereitschaft der PKK zu Bürgerkrieg undTerrorismus in der Türkei. Der vorgebliche Friedenspro-zess, mit dem die PKK in Europa wirbt, ist Makulatur.
In den kurdischen Siedlungsgebieten ist die PKK näm-lich weiterhin militärisch organisiert und als Guerilla tä-tig. Regelmäßig wird mit einem neuen Bürgerkrieg inder Türkei gedroht. Die PKK verstößt hiermit explizitgegen den Gedanken der Völkerverständigung, den wirin Artikel 9 Absatz 2 unseres Grundgesetzes fixiert ha-ben. Dies ist ein ausdrücklicher Verstoß gegen die frei-heitlich-demokratische Grundordnung und führt inDeutschland zu einem Vereinsverbot.
Weiterhin wäre zu nennen, dass die PKK in Deutsch-land für den Einsatz in ihren Terroreinheiten wirbt, unddas ist nicht nur auf Deutschland beschränkt.Laut Angaben des Bundesverfassungsschutzes rekru-tiert die PKK aktiv junge Menschen aus Europa für denKampf im Nahen Osten. Außerdem gibt es in Deutsch-land seit 2004 circa 4 500 Ermittlungsverfahren mitPKK-Bezug. Das sind keine Kleinigkeiten: Erpressungvon Spendengeldern, Körperverletzung und Landfrie-densbruch.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Gern.
Danke, Herr Kollege. Mir drängt sich eine Frage auf.
Sie sagen, die PKK rekrutiere Kämpfer für den Kampf
im Nahen Osten. Das ist ja nicht irgendein Kampf, son-
dern da geht es um den Kampf gegen den mörderischen
IS und den ISIS in Syrien und im Irak.
Das wird auch in Deutschland nicht nur geduldet, son-
dern sogar gefördert. Sie konnten im Fernsehen den Be-
richt verfolgen, dass eine ganze Familie – ich glaube, aus
Solingen – zum Kampf mit den Peschmerga für ihr Volk
gegen den IS in den Irak gezogen ist. Diese Menschen
werden gefeiert, und zwar nicht nur dort, sondern auch
hier. Sie kommen auch wieder hierher und rühmen sich:
Wir haben wenigstens etwas für die Freiheit getan. Wir
haben etwas dafür getan, dass unsere Frauen nicht verge-
waltigt werden. Wir haben etwas dafür getan, dass der IS
gestoppt wird.
Genauso war es auch mit den Unruhen, die es hier in
Deutschland gegeben hat. Nicht die PKK hat ihre Auf-
fassung geändert, sondern es ging darum, dass in
Kobane Menschen hingeschlachtet wurden, als der ISIS
dort vorgedrungen ist, die Stadt fast erobert hat und die
Menschen in völliger Verzweiflung zum Teil in die Tür-
kei geflohen sind, zum Teil versucht haben, Kobane zu
verteidigen – wie wir wissen, Gott sei Dank erfolgreich.
Dass sie erfolgreich waren, finden wir alle ganz gut;
aber wenn sie jetzt junge Männer für den Abwehrkampf
gegen ISIS und IS anwerben, ist das ein Grund für Sie,
weiter am Verbot festzuhalten. Das ist doch irgendwie
widersprüchlich. Sie können doch nicht einfach sagen:
Sie rekrutieren hier. – Sie müssen dann auch sagen, wo-
für sie rekrutieren. Sie rekrutieren für eine Sache, die
wahrscheinlich auch Sie grundsätzlich für richtig halten.
Ich war letztes Jahr selber in der Region: Ich war fünfTage lang in Arbil und Umgebung. Schade, dass wir imBundestag keine große Landkarte haben. Sonst könnteich Ihnen verdeutlichen, wie die Situation ist.Es gibt zurzeit vier kurdische Siedlungsgebiete in die-ser Region. Wir verhandeln und arbeiten eng zusammenmit einer staatlichen Organisation der kurdischen Regio-nalregierung im Nordirak. Das rechtfertigt nicht die Lie-ferung von Waffen an eine frei organisierte militante Or-ganisation. Unser Kampf gegen den IS kommt in dieserZusammenarbeit zum Ausdruck. Wir dürfen nicht denFehler machen – das haben die Kollegen auch schon be-tont – und sagen: Der Feind unseres Feindes ist unserFreund. – Das macht es nämlich nicht besser. Das führtzu Selbstjustiz.Es ist jeder herzlich eingeladen, sich Gedanken da-rüber zu machen, wie wir diesen Terror stoppen können.Dabei sind die demokratisch legitimierten Strukturen zubeachten. Die kurdische Regionalregierung ist durchWahlen legitimiert. Die Bundesregierung ist durch Wah-len legitimiert. Wir im Bundestag, die durch Wahlen le-gitimiert sind, haben die Waffenlieferung dorthin be-schlossen. Das ist doch der richtige Ansatz. Man kanndoch ein undemokratisches System nicht mit undemo-kratischen Mitteln bekämpfen. Das ist der völlig falscheWeg. Wir dürfen, wie gesagt, auch nicht den Fehler ma-chen, die PKK mit allen kurdischen Menschen gleichzu-setzen.
– In Kobane gab es die Unterstützung durch die Pesch-merga. Die Peschmerga ist die Armee des kurdischenStaates im Nordirak, die dort Unterstützung geleistet hat.
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Marian Wendt
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In Kobane wäre es sicherlich auch die Aufgabe gewe-sen, mit der Türkei entsprechend zusammenzuarbeiten.
Aber wir können diese Debatte nicht unabhängig vonstaatlichen und völkerrechtlichen Strukturen führen.Kommen wir vielleicht noch einmal zurück auf dieFrage – darauf sollten wir uns beschränken –, wie diePKK in Deutschland reagiert und agiert. Wir begründenein Vereinsverbot mit ihren Aktivitäten in Deutschland.In diesem Zusammenhang bleibt für mich festzuhalten:Erpressung von Spendengeldern, Körperverletzung,Landfriedensbruch, Drogen- und Menschenhandel.Es handelt sich also bei der PKK um eine kriminelleVereinigung mit dem Ziel, in Deutschland Straftaten zubegehen. Dennoch versucht die PKK seit längerem, alslegitime Vertretung der Kurden zu erscheinen. Sie ver-sucht über zahlreiche Tarnorganisationen, die öffentlicheMeinung dahin gehend zu beeinflussen, sie als solcheVertretung anzuerkennen. Wie ich bereits erwähnte, istder Kampf gegen den IS zwar ein starkes Mittel, aber erist keine Legitimation.Abschließend ist es, glaube ich, auch für die Debattewichtig, dass wir uns klar werden, um welchen Friedens-prozess es in der Türkei und bei der PKK geht. Werernsthafte Friedensverhandlungen in der Türkei führenwill, der darf nicht mit Bürgerkrieg drohen. Die Gefahrbesteht aktuell. Damit stehen der Prozess und der ent-sprechende Wille auf tönernen Füßen. Die PKK, egal obin Deutschland oder der Türkei, ist nach wie vor keinedemokratische Organisation und widerspricht in Wortund Tat unserer freiheitlich-demokratischen Grundord-nung. Nur diese ist Maßstab für ein Vereinsverbot. Weildie freiheitlich-demokratische Grundordnung unserMaßstab ist, müssen wir dafür sorgen, dass die PKK ersterlaubt wird, wenn sie die Bedenken glaubhaft undwahrhaftig ausräumt.
Der Feind meines Feindes ist nicht mein Freund: Dasist für uns sehr wichtig. Denn eine Logik nach demMotto „Der Zweck heiligt die Mittel“ widerspricht unse-ren rechtsstaatlichen Prinzipien. Aber mit Unrechtsstaa-ten kennt sich die Linke aus.
Aus diesem Grunde kann ich der Aufhebung desPKK-Verbotes keinesfalls zustimmen. Sie sagen, dasVerbot sei ein Anachronismus; es ist jedoch ein Spiegelder aktuellen Lage und die einzig richtige Entscheidungeiner wehrhaften Demokratie gegenüber einer terroristi-schen Organisation.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3575 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zu dem Abkommen vom 5. Dezember
2014 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Republik Polen zum Export be-
sonderer Leistungen für berechtigte Perso-
nen, die im Hoheitsgebiet der Republik Polen
wohnhaft sind
Drucksachen 18/3787, 18/4051
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/4108
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich ganz
herzlich Herrn Bucior, den Staatssekretär im polni-
schen Arbeits- und Sozialministerium, mit seiner
Delegation begrüßen. Herzlich willkommen!
Wir freuen uns, dass Sie heute in Berlin sind und an un-
serer Beratung teilnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus-
sprache und erteile Kerstin Griese von der SPD-Fraktion
als erster Rednerin das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Staatssekretär Bucior, der Sie extraaus Polen heute zu dieser Debatte zu uns gekommensind! Im Juni letzten Jahres konnte ich an dieser Stelleschon zur zweiten und dritten Lesung des Ghettoren-tenänderungsgesetzes sprechen. Damals haben wir ein-stimmig die längst überfällige Änderung des Ghettoren-tengesetzes von 2002 beschlossen, mit der dieAuszahlung der Renten an diejenigen, die in Ghettosarbeiten mussten, rückwirkend ab 1997 ermöglichtwurde. Das war nötig. Zwar hatte der Bundestag 2002das Ghettorentengesetz beschlossen. In den Folgejahrenzeigte sich aber, dass in der Anerkennungspraxis 90 Pro-zent der Anträge abgelehnt wurden. Erst mit einem Ur-teil des Bundessozialgerichtes von 2009 hat sich die Ab-lehnungsrate erheblich reduziert. Danach wurdeimmerhin die Hälfte aller bislang abgelehnten Anträgerückwirkend bewilligt. Aber diese bewilligten Renten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8377
Kerstin Griese
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wurden nur vier Jahre rückwirkend ausgezahlt. Das isteiner Eigenart unseres Sozialrechts geschuldet. Das ha-ben die Betroffenen zu Recht als unfair empfunden. Mitdem Ghettorentenänderungsgesetz haben wir es dann imletzten Sommer geschafft, dass alle, die berechtigt sind,Ghettorenten zu bekommen, wählen können. Sie könnenbei einem Ausgleich durch Zuschläge bleiben oder sichdie Ghettorente von Beginn an, ab 1997 rückwirkend,auszahlen lassen.
Diese Verbesserung hat bei Betroffenen auf der gan-zen Welt zu positiven Reaktionen und Erleichterung ge-führt. Alle Antragsteller sind seitdem über die geänder-ten Möglichkeiten in ihrer Heimatsprache schriftlichinformiert worden, und diese Anträge werden schnellbearbeitet. Dafür ein herzliches Dankeschön an dieDeutsche Rentenversicherung.
Insgesamt sind bislang 55 600 Anträge auf Ghettorentenbewilligt worden. Über 2 600 neue Anträge muss nochentschieden werden. In 13 600 Fällen sind auf Wunschder Betroffenen bzw. der Hinterbliebenen automatischNeufeststellungen zum früheren Rentenbeginn durchge-führt worden.Nun komme ich zu unserem heutigen Gesetz, demdeutsch-polnischen Abkommen. Leider konnten vondieser Gesetzesänderung im letzten Sommer nicht auto-matisch auch die in Polen lebenden Ghettorentenberech-tigten profitieren; denn das deutsch-polnische Sozialab-kommen von 1975 regelt, dass der Wohnsitzstaat eineRente auch aus den Zeiten zahlen muss, die in einem an-deren Staat verbracht wurden. Zeiten, die in den von denNazis errichteten Ghettos, wo die Menschen arbeitenmussten, verbracht wurden, galten als in Deutschlandzurückgelegt. Deshalb konnten bislang in Polen lebendeehemalige Ghettoarbeiter keine Rente nach dem Ghetto-rentengesetz beantragen.Diese Ausnahme fanden wir, sowohl die Bundesre-gierung als auch das Parlament, unbefriedigend; wir ha-ben darüber intensiv im Arbeits- und Sozialausschussdiskutiert. Das wollten wir so nicht stehen lassen. Des-halb sind wir froh, dass das zuständige Arbeits- und So-zialministerium bereits im letzten Sommer in Verhand-lungen mit dem polnischen Partner eingetreten ist und inmehreren Treffen unter Hochdruck eine Lösung für dieBetroffenen erarbeitet hat. Im Dezember letzten Jahreswurde dann ein Abkommen zwischen Deutschland undPolen beschlossen, das es endlich auch den in Polen le-benden ehemaligen Ghettobeschäftigten ermöglicht, An-träge auf Ghettorente zu stellen. Ich möchte mich an die-ser Stelle ausdrücklich bei Ministerin Andrea Nahlesund der Parlamentarischen Staatssekretärin GabrieleLösekrug-Möller sowie ihren Mitarbeitern für diese in-tensive, schnelle und wichtige Arbeit bedanken.
Auch Ihnen, Herr Staatssekretär Bucior, und Ihren Mit-arbeitern herzlichen Dank dafür, dass Sie den Weg dafürso schnell freigemacht haben und das Abkommen schonim Dezember letzten Jahres ermöglicht haben.
Weil noch Opfer des NS-Staates und ihre Nachkom-men unter uns leben, stehen wir in der Pflicht, erlittenesUnrecht anzuerkennen und zumindest eine kleine Unter-stützung – von Wiedergutmachung mag ich bei diesemThema gar nicht sprechen – zu leisten. Angesichts desUnrechts, das in den Ghettos stattfand, in denen Men-schen unter schlimmsten Bedingungen leben und arbei-ten mussten – die meisten waren Juden –, ist es schlimm,dass es so lange gedauert hat, bis die Ghettorenten aus-gezahlt werden. Aber deshalb ist das deutsch-polnischeAbkommen, das jetzt auch in Polen lebenden Ghetto-überlebenden eine Ghettorente ermöglicht, ein folgerich-tiger, ein notwendiger und ein überfälliger Schritt.
Für viele Menschen gerade in Osteuropa und in Israelbedeutet die Zahlung der Ghettorenten außerdem – auchwenn die Renten nicht hoch ausfallen – eine echte kleineErleichterung ihrer Lebensbedingungen. Deshalb be-danke ich mich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, dass wir den Gesetzentwurf hier im Parlament vo-raussichtlich einstimmig beschließen können. Damitsetzen wir ein weiteres kleines Zeichen für alle Betroffe-nen, dass wir ihr in den Ghettos erlebtes Leid und ihreRechte aus der Arbeit in den Ghettos, für die sie perfi-derweise Rentenversicherungsbeiträge zahlen mussten,anerkennen. Dem fühlt sich der Deutsche Bundestagverpflichtet. Ich bitte Sie, lieber Herr StaatssekretärBucior, das als Botschaft nach Polen mitzunehmen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Tank von der
Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr StaatssekretärMarek Bucior! Meine Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Das deutsch-polnische Abkom-men vom 5. Dezember 2014 war längst überfällig. Esbeendet die Diskriminierung von Juden und Roma mitWohnsitz in Polen, die bislang vom Bezug von Ghetto-renten ausgeschlossen waren.In enger Zusammenarbeit mit den Betroffenen ist esuns nun gelungen, das neue Gesetz auf den Weg zu brin-gen – in nur acht Monaten und fraktionsübergreifend.Ich danke deshalb dem anwesenden polnischen Staatsse-kretär Marek Bucior und der Staatssekretärin FrauGabriele Lösekrug-Möller für ihren persönlichen Ein-satz.
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Azize Tank
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Aber auf diesem Erfolg können wir uns nicht ausru-hen. Damit sind nicht alle Ungerechtigkeiten ausge-räumt. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. StellenSie sich vor: Sie haben in einem deutschen Ghetto gear-beitet, Sie haben die Schoah überlebt, Sie sind heute90 Jahre alt und leben in einem Seniorenheim in Israel.Vermutlich haben Sie Anspruch auf eine Ghettorente,doch wissen Sie als Überlebende nicht einmal davon.Das ist leider eine reale Situation bei der Bearbeitung derAnträge auf Ghettorenten.Über die systematische benachteiligende Behandlungder Antragsteller durch die deutsche Bürokratie liegenbereits wissenschaftliche Abhandlungen vor. Die Unter-suchung von Kristin Platt vom Bochumer Institut fürDiaspora- und Genozidforschung ist hier beispielhaft.Zahlreiche Anträge ehemaliger Ghettobeschäftigter wur-den wegen angeblich mangelnder Mitwirkung nie ab-schließend beschieden. Neben den polnischen Betroffe-nen geht es hier immer noch um etwa 15 000 bis 25 000überlebende Ghettobeschäftigte. Auch sie sind von denGhettorenten ausgeschlossen.Schätzungsweise sind davon etwa 45 Prozent Ghetto-überlebende in Israel, 45 Prozent in den USA und10 Prozent in Deutschland und den EU-Nachbarländernbetroffen. Diese Zahlen hat die Bundesregierung in deramtlichen Begründung des Änderungsgesetzes zumZRBG selbst bestätigt. Darin heißt es: Von den rund70 000 Anträgen wurde nur rund die Hälfte positiv be-schieden. – Diese Personen haben offenbar noch nichteinmal einen formellen Ablehnungsbescheid bekom-men. Deshalb tauchen diese Fälle in der Statistik nichtauf.Viele ehemalige Ghettobeschäftigte wissen also nichteinmal, dass sie einen Anspruch auf Ghettorente haben,obwohl ihr Anspruch bei der Rentenversicherung be-kannt ist. Solche Ungerechtigkeiten müssen beseitigtwerden.
Dafür bedarf es keiner weiteren Gesetzesänderung.Hierzu muss der Verwaltungsvollzug des vom Bundes-tag einstimmig verabschiedeten ZRBG überprüft wer-den.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die positive Ent-wicklung bei der Auszahlung der Ghettorenten gehtnicht zuletzt auf die progressive Rechtsprechung einesengagierten Richters zurück. Jan-Robert von Renessehat sich dafür stark gemacht, die Wahrheit zu erforschenund den Holocaustüberlebenden trotz aller Widrigkeitenzu ihrem Recht zu verhelfen.
Stellvertretend für alle anderen Unterstützerinnen undUnterstützer möchte ich mich bei Richter von Renesseausdrücklich bedanken.
Er steht für richterliche Unabhängigkeit und kriti-sches Denken, auch angesichts von Widerständen in derVerwaltung und der Justiz. Offensichtlich deswegen undweil er 2012 eine Petition an den Bundestag gerichtethat, wurde er mit einem Disziplinarverfahren überzogen.Das halte ich für einen Skandal. So etwas darf es in ei-nem Rechtsstaat nicht geben.
Erst wenn alle Ghettobeschäftigten endlich Gewiss-heit über ihren Antrag auf Ghettorente haben, kann we-nigstens dieser Teil deutscher Geschichte als aufgearbei-tet gelten. Das vorliegende Abkommen mit Polen sollteeinen ehrlichen Neuanfang beim Thema Ghettorente imUmgang mit Ghettobeschäftigten befördern.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat der Kollege Peter Weiß das
Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Uri Chanoch vom Center of Organizations of Holo-caust Survivors in Israel hat bei der von uns durchge-führten Anhörung zum Ghettorentengesetz vorgetragen:Für mich und für jeden Ghettoüberlebenden bedeutet dieAnerkennung der Arbeitsleistung im Ghetto, dass endlichauch dieser Teil der Geschichte zur Kenntnis genommenund entschädigungsrechtlich bzw. sozialrechtlich berück-sichtigt wird. Aus meiner Sicht ist die Umsetzung desGhettorentengesetzes ein wesentlicher Schritt in Rich-tung Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbre-chen. – Er hat damit recht.Ich will feststellen: Mit dem Sozialversicherungsab-kommen mit Polen, das wir heute schließen, erfüllen wirdiesen Anspruch voll und ganz durch die Reformen, diewir im Ghettorentenrecht vorgenommen haben.
Gerade die letzte, von Kollegin Griese bereits darge-stellte Reform des Ghettorentenrechts, mit der wir dieWahlmöglichkeit geschaffen haben, vier Jahre rückwir-kend mit einem höheren Zahlbetrag oder rückwirkend ab1997 mit einem niedrigeren Zahlbetrag Ghettorenten zubeantragen, haben wir in einem intensiven Dialog mitder israelischen Botschaft hier in Berlin, mit dem israeli-schen Seniorenministerium, dessen Staatssekretär mehr-mals zu Gesprächen hier war, vorbereitet. Zuletzt wardiese Reform auch ein Topthema der deutsch-israeli-schen Regierungskonsultationen unter Vorsitz von FrauBundeskanzlerin Angela Merkel.Frau Kollegin, Sie können davon ausgehen, dass inIsrael alles getan wird, dass jeder Berechtigte über sei-nen Anspruch informiert wird, dass ihm auch Unterstüt-zung durch die israelische Regierung und die dortigeSozialversicherung dabei gewährleistet wird, einen ent-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8379
Peter Weiß
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sprechenden Antrag zu stellen. Ich glaube, das haben wirdamals mit den Israelis wirklich gut und solide vorberei-tet, und es wird auch entsprechend umgesetzt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Tat,für einen in Polen Berechtigten war es bislang nichtmöglich, einen Antrag zu stellen. Das war jetzt keineGemeinheit gegenüber Polen. Gott sei Dank haben wirseit 1975 mit Polen ein ausgezeichnetes, funktionieren-des Sozialversicherungsabkommen. Dieses Abkommenfolgt einem mustergültigen Prinzip, nämlich dem soge-nannten Eingliederungsprinzip, sprich: Eine in Deutsch-land wohnende Person muss ihre Rentenansprüche andie deutschen Behörden stellen und bekommt sie aucherfüllt, jemand, der in Polen lebt, muss seine Rentenan-sprüche an die polnischen Behörden stellen und be-kommt sie dort erfüllt. Das ist eigentlich ein mustergülti-ges Abkommen; das möchte ich noch einmal betonen.Auch deshalb will ich hier sagen: Es war richtig, dasswir das Sozialversicherungsabkommen mit Polen von1975 vollumfänglich aufrechterhalten.Richtig ist auch, dass hier schon früher über die Fragediskutiert worden ist: Was macht man denn nun mit An-spruchsberechtigten in Polen? Ehrlich gesagt, hatte dazuangesichts des geltenden Sozialversicherungsabkom-mens niemand eine durchführbare Idee. Es ist diese Bun-desregierung, die mit Ihnen, Herr Staatssekretär Bucior,eine Lösung gefunden hat, die vorher überhaupt nichtdiskutiert worden ist, ausdrücklich und nur allein für dieFrage des Zugangs zur Ghettorente ein eigenes, geson-dertes Sozialversicherungsabkommen zu schließen. Dazumöchte ich den erfinderischen und klugen Beamtinnenund Beamten sowohl im deutschen Arbeitsministeriumwie im polnischen Arbeitsministerium herzlich gratulie-ren.
Deshalb können wir heute als Deutscher Bundestagdieses Abkommen, dieses gesonderte Abkommen fürPolen, ratifizieren.Ich will das so zusammenfassen: Nach den zwei Re-formen des Ghettorentengesetzes und mit dem zusätzli-chen neuen Sozialversicherungsabkommen mit Polenkommt dieser, wie ich finde, wichtige Bereich, nämlichdass man für die Leistungen, die man im Ghetto erbrachthat, auch einen Rentenanspruch hat, zu einem wirklichguten Abschluss. Ich freue mich, wenn heute der ge-samte Deutsche Bundestag diesem Sozialversicherungs-abkommen zustimmt.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Volker Beck von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär Bucior! MeineDamen und Herren! Es ist heute ein guter Tag, weil wireinstimmig im Bundestag endlich zu Ende bringen, waswir 2002 mit dem Gesetz über die Zahlbarmachung vonGhettorenten begonnen haben. Dass es 13 Jahre gedauerthat, ist bitter, aber wir hoffen, dass wir noch viele vondenen erreichen, die nach unserem Willen einen An-spruch auf eine Rente für ihre Zwangsarbeit im Ghettohaben.
Ich erinnere an das Ghettorentengesetz und an dieVorgänge, die dahin geführt haben – Sie haben die Ver-dienste von Richter von Renesse hier mit angespro-chen –, an den Kampf darum, den gesetzgeberischenWillen durchzusetzen. Es ging darum, anzuerkennen,dass im Ghetto natürlich nicht normale Arbeitsbedingun-gen mit Arbeitsvertrag, Lohn und Gehalt sowie Renten-versicherungsbeiträgen gegeben waren. Wir sprechenhier von einer Notsituation, in der die Menschen, die imGhetto gelebt haben, ihre Arbeitskraft verkaufen muss-ten, damit sie eine Scheibe Brot mehr bekamen oder da-mit der Judenrat im Ghetto mehr Geld bekam, um damitzu versuchen, die Menschen irgendwie über die Rundenzu bringen.Dass da deutsche Sozialgerichte immer wieder gegenden Willen des Gesetzgebers griffelspitzerisch versuchthaben, den Menschen Hürden auf den Weg zur Erfüllungihres Anspruchs zu legen, gehört auch zu den bitterenWahrheiten dieses Tages.
Dass das Bundessozialgericht gesagt hat: „Vier Jahrerückwirkend bekommen die Leute ihr Geld“, obwohl dieRechtsprechung damals korrigiert wurde, war auch einbitterer Umstand.Ich bin froh, dass diese Bundesregierung durch denEinsatz der Sozialdemokratie es geschafft hat – andersals die Vorgängerregierung –, diese Unwuchten aus demGesetz herauszubringen. Dass wir das heute mit der Öff-nung des Leistungsbezugs auch für die polnischen Ghet-torentner, also für die Menschen, die heute noch in Polenleben und davon betroffen sind, endlich abschließen, istein gutes Signal.
Es ist auch eine gute Erfahrung für das Haus, dass wirdas heute gemeinsam, alle vier Fraktionen, beschließenkönnen.
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8380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Volker Beck
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Hervorzuheben ist, das wir alle anerkennen, dass wiralle gemeinsam in der Vergangenheit Fehler gemacht ha-ben: bei der Entschädigung, bei der Anerkennung vonNS-Unrecht. Es war über die Jahrzehnte hinweg in derbundesdeutschen Geschichte und erst recht in der Ge-schichte der DDR ein schwieriger Prozess, sich demAusmaß des Unrechts, das von Deutschen ausgegangenist, wirklich zu stellen, es anzuerkennen und zu versu-chen, den Opfern wenigstens einen Ausgleich zu geben.Ich möchte an so einem Tag sagen, dass wir da nocheine weitere offene Frage vor uns haben. Ich würde mirwünschen, dass wir dazu zwischen den Fraktionen insGespräch kommen. Dabei geht es um die sowjetischenKriegsgefangenen. 3 Millionen von ihnen wurden in Rus-senlagern umgebracht. Keiner der sowjetischen Kriegsge-fangenen hat je einen Cent von Deutschland gesehen. Esgeht um eine Geste. Ich will gar nicht von Entschädi-gung und von den Fragen des Reparationsrechts reden.Es geht um eine Geste der Anerkennung, dass wir sagen:Das war nationalsozialistisches Unrecht. – Ich glaube,gerade im 70. Jahr nach dem Ende des Zweiten Welt-kriegs wäre es hohe Zeit, diese Frage endlich, und zwargemeinsam, zu klären.Lassen Sie uns hier einen Versuch machen. Es gehtnicht um das Geld – es leben kaum noch Menschen, diedas erhalten könnten –, es geht um die Geste und in die-sem schwierigen Jahr mit der Auseinandersetzung umdie Ukraine und um die Krim vielleicht auch darum,dass wir bei allen Differenzen, die wir mit der russischenRegierung haben, gemeinsam zu unserer historischenVerantwortung gegenüber allen Völkern Osteuropas, ge-genüber den Völkern der ehemaligen Sowjetunion ste-hen. Es wäre schön, wenn wir mit dem „spirit“ des heuti-gen Tages weiterkommen.
Jetzt möchte ich die Sozialpolitiker explizit anspre-chen – das vorher genannte Thema ist vielleicht etwasfür die Außenpolitiker und die Innenpolitiker –: Es gibtein spezifisch rentenrechtliches Problem, das auch mitunserer Geschichte zusammenhängt. Wir haben uns1990 entschlossen, durch eine besondere Regelung Ju-den aus der ehemaligen Sowjetunion wegen des dortigenAntisemitismus in Deutschland aufzunehmen. DieseMenschen, die mitten in ihrem Arbeitsleben nachDeutschland kamen, fangen mit ihrer Rentenbiografie inDeutschland bei null an: manche mit 60, mit 65 Jahrenandere mit 20 Jahren; bei denen ist es kein Problem. FürAussiedler haben wir im sogenannten Fremdrentenge-setz die Regelung, dass wir die Arbeits- und Rentenbio-grafie dieser Menschen so anerkennen, als ob sie Zeit ih-res Lebens in Deutschland gearbeitet hätten.Ich bitte alle Fraktionen, ob wir ein Treffen der So-zialrechtler, vielleicht auch der Innenpolitiker machenkönnen, bei dem wir uns der Frage annehmen, ob wir diejüdischen Kontingentflüchtlinge nicht in die Regelungdes Fremdrentengesetzes einbeziehen können und sagen:Wir behandeln sie wie Spätaussiedler. – Der historischeZusammenhang ist ähnlich, das Schicksal ist ähnlich. Siekommen aus Ländern, die ähnlich sind. Sie haben als jü-disches Volk das Deutsche Reich vor Jahrhunderten ver-lassen, wie die Russlanddeutschen auch. Sie haben esaus anderen Gründen verlassen; sie sind geflohen. Dieanderen sind übergesiedelt. Aber es gibt viele Parallelen.Das ist Grund genug, sich dieser Frage interfraktionellzu stellen.
Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Frau Lösekrug-Möller das Wort.
G
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor allen Dingen: Verehrte Gäste! Ich freue mich, dassneben unseren Ehrengästen auch so viele Besucher aufder Tribüne sind – ganz junge und einige lebenserfah-rene –, dass sie an dieser Debatte teilhaben, die für die-ses Haus ziemlich ungewöhnlich ist.In den letzten Monaten ist der Platz, an dem ich hierstehe, ein guter Ort für viele gewesen, die vielleichtschon ihre Hoffnungen aufgegeben haben – Hoffnungauf eine Anerkennung ihrer Arbeit in einem Ghetto, Ar-beit unter für uns unvorstellbaren Bedingungen; Hoff-nung darauf, dass bei der rentenrechtlichen Handhabungkein Unterschied besteht, in welchem Land der Empfän-ger lebt.Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz zur Zahl-barmachung von Renten aus Beschäftigungen in einemGhetto wurden 2002 Rentenzahlungen für Beschäftigun-gen in einem Ghetto ermöglicht. Dazu haben meine Vor-redner und Vorrednerinnen schon sehr viel ausgeführt.Wir haben am 5. Dezember 2014 in Warschau am his-torischen Ort das Abkommen unterzeichnet, das heute,denke ich, mit großer Mehrheit und vielleicht sogar ein-mütig im Haus akzeptiert wird. Wir schließen damit eineLücke, die eigentlich gar nicht hätte entstehen sollen.
Nun wird es möglich, dass auch in Polen lebende Be-rechtigte einen sozialversicherungsrechtlichen Aus-gleich für ihre Arbeit im Ghetto erhalten. Uns ist klar:Diese Menschen haben unvorstellbares Leid erlitten. Siesind hochbetagt. Sie verdienen unseren Respekt und un-sere Anerkennung.
Ich freue mich sehr, dass der vorliegende Gesetzent-wurf die Unterstützung des ganzen Hauses erfährt. Ichbin allen Fraktionen des Hauses sehr dankbar. Ichglaube, das ist ein sehr kräftiges Signal, mit dem wir zei-gen, wie ernst wir es mit diesem Abschnitt unserer Ge-schichte meinen. Ich bedanke mich sehr bei Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8381
Parl. Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller
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Ich möchte allerdings Ihnen, Frau Kollegin Tank, sa-gen: Das BMAS hat am Mittwoch in der Sitzung desAusschusses für Arbeit und Soziales sehr ausführlichvorgetragen, wie mannigfaltig unsere Aktivitäten sind,damit auch wirklich jeder und jede möglicherweise An-spruchsberechtigte die Gelegenheit hat, den Rechtsan-spruch wieder aufleben zu lassen. Da ist unser Haus, dasind ganz viele sehr intensiv unterwegs. Und ich sage Ih-nen: Das ist auch gut so.
Die wenige Redezeit, die ich noch habe, will ich jetztdarauf verwenden, noch einmal die gute Nachbarschaftund den guten Geist zu betonen, in dem wir die Verhand-lungen über das Abkommen führen konnten. Ich findedas nicht selbstverständlich. Für mich ist das gute Nach-barschaft, die auch ein gutes Fundament für die Zukunftist. Insofern freue ich mich sehr, Herr Kollege Bucior,dass Sie heute da sind. Ich will Ihnen nur sagen: Eswurde Zeit, dass wir heute zu dieser Abstimmung kom-men. Ich glaube, es ist das richtige Signal; es ist ein gu-tes Signal. Es ist einfach gut für uns alle, dass wir einenkleinen Punkt hinter eine offene Frage machen können,bei der wir über viele Jahre versucht haben, es richtig zumachen. Ich glaube, heute haben wir es dann auch gutgemacht.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Dr. Freudenstein von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr StaatssekretärBucior! Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren!Nach vielen parlamentarischen Beratungen und wech-selnden Regierungskoalitionen können wir heute sagen:Wir machen gemeinsam einen Punkt hinter das KapitelGhettorente. Nun endlich können auch die in Polen le-benden ehemaligen Ghettobeschäftigten diese Rente be-ziehen. Wir hoffen jetzt auf eine rasche Umsetzung nachder Ratifizierung; Frau Staatssekretärin hat uns das jaschon zugesichert. Dafür herzlichen Dank!
Bis heute gab und gibt es Kritik daran, dass es viel zulange gedauert habe, bis alle Berechtigten die Ghetto-rente beziehen können. In der Tat: Es hat lange gedauert.Es gab auch immer wieder den mehr oder weniger offe-nen Vorwurf, dass es vielleicht sogar von staatlicherSeite die Absicht gegeben haben könnte, dass gar nichtso viele Menschen die Ghettorente bekommen. Ichglaube, es ist deshalb wichtig, hier noch einmal festzu-halten: Als alle Parteien dieses Hauses im Jahre 2002 dasGesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäfti-gungen in einem Ghetto beschlossen, hatten sie ganz si-cher nicht die Motivation und das Ziel, dass es möglichstwenige sein mögen, die diese Ghettorente bekommen.Gerade die „Zahlbarmachung“ war ja der Hauptgrundfür das Gesetz.Auch die Reformen in den folgenden Jahren, die indie Änderungen des Gesetzes im vergangenen Jahr mün-deten, gingen in diese Richtung: So haben wir beispiels-weise die ansonsten im Sozialrecht geltende Vierjahres-frist bei den Ghettorenten ausgesetzt. Diese Regelungwar zu Recht von den heute hochbetagten ehemaligenGhettobeschäftigten als Unrecht empfunden worden.Auch die für einen Rentenbeginn im Jahr 1997 einzuhal-tende Antragsfrist bis 2003 wurde gestrichen.Ebenfalls können die Betroffenen nun entscheiden, obsie die neu festgestellte Rente mit Rentennachzahlungbeziehen wollen oder ob sie die bisherige Regelung mitZuschlag beibehalten wollen. Die berechtigten Interes-sen der ehemaligen Ghettobeschäftigten haben wir alsoberücksichtigt und mehr Wahlmöglichkeiten eingeräumt.Der Prozess, der bis heute andauerte, war vieles: Erwar in der Tat lang. Fast 18 Jahre sind seit dem Urteildes Bundessozialgerichts vergangen. Dieser Prozess warvon Umdenken geprägt – von einer juristisch sehr stren-gen und engen zu einer weiteren Auslegung des Geset-zes. Er war natürlich auch tragisch, weil viele Berech-tigte in der Zwischenzeit gestorben sind. Doch eines wardieser Prozess sicher nicht: Er war nicht einfach, er warnicht eindimensional. Es gab nämlich sehr viele ver-schiedene Akteure, von den Antragstellern über Anwälteund Staaten bis hin zu den Sozialversicherungen, und esgab die Gesetze verschiedener Länder. Es gab nicht zu-letzt eine Zeitspanne von 70 Jahren, die das Erlebte vondem Heute trennt.Mit diesen Rahmenbedingungen steht das Verfahrenstellvertretend für viele Verfahren im Rahmen der Wieder-gutmachung und Entschädigung. Erlebtes und Erlittenesmusste mit objektiv begründbaren Gesetzen in Einklanggebracht werden. Gerade im Bereich der Sozialversiche-rungen stellte sich das als schwierig dar. Hier prallteneben juristische und alltagsweltliche Sprache und Be-deutung aufeinander.Was bedeutete zum Beispiel das Wort „freiwillig“ imSozialrecht? Für die Ghettoarbeiter war die Gesamtsitua-tion, in der sie ihre Arbeit verrichteten, selbstverständ-lich nicht freiwillig. Das Erzählen aus der eigenen Le-benswirklichkeit hatte deshalb für viele Menschen zurFolge, dass sie keine Ghettorente bekamen; denn dieGhettorente setzte eine Freiwilligkeit der Arbeit voraus.Begrifflichkeiten wie „Zwangsarbeit“ waren ein zentra-ler Ablehnungsgrund. Erst die Schilderungen von Histo-rikern bewogen das Sozialgericht, die strenge Auslegungzu beenden. Das alles hinterlässt bei uns heute kein gutesGefühl. Ich meine aber, dass Schuldzuweisungen ange-sichts der Komplexität des Verfahrens nicht angebrachtsind.
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8382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Astrid Freudenstein
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Für die in Polen lebenden ehemaligen Ghettobeschäf-tigten war es zuletzt aber gar kein Problem der Semantikmehr, das ihnen die Rente nicht ermöglichte, sondern ein– es wurde schon erwähnt – 40 Jahre altes Sozialversi-cherungsabkommen. Das Abkommen selbst hat seineBedeutung und seinen Sinn. Für die Ghettobeschäftigtenaber war es ein Hindernis. Diesen Missstand behebenwir heute, und das ist auch gut so.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, da-
mit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur
Abstimmung über den von der Bundesregierung einge-
brachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Re-
publik Polen zum Export besonderer Leistungen für be-
rechtigte Personen, die im Hoheitsgebiet der Republik
Polen wohnhaft sind; in Kurzform: Ghettorentengesetz.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4108,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 18/3787 und 18/4051 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gibt es jemanden, der dagegen
stimmt? – Gibt es jemanden, der sich enthält? – Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig
angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gibt es jemanden, der dagegen stimmt? – Gibt es jeman-
den, der sich enthält? – Das ist auch nicht der Fall. Dann
ist der Gesetzentwurf auch in der dritten Lesung einstim-
mig angenommen worden.
Das ist nicht nur ein ganz wichtiges Signal für dieje-
nigen, die diese für sie sehr schwierige und für uns im-
mer noch unfassbare Zeit im Ghetto erlebt haben. Es ist
auch ein wichtiges Signal für die Zusammenarbeit mit
Polen. Ich sage noch einmal ganz herzlichen Dank, dass
Sie, Herr Staatssekretär, an den Beratungen teilgenom-
men haben. Das unterstreicht die gute Zusammenarbeit,
aber auch die Bedeutung dieses Abkommens für unsere
beiden Länder. Vielen Dank, dass Sie da waren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Irene Mihalic, Dr. Konstantin von Notz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Private Sicherheitsfirmen umfassend regulie-
ren und zertifizieren
Drucksache 18/3555
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen jetzt die Plätze
gewechselt bzw. eingenommen haben, werde ich die
Aussprache eröffnen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Frage der Regulierung privater Sicher-heitsfirmen betrifft einen Kernaspekt demokratischerRechtsstaatlichkeit. Es geht um nichts Geringeres als umdie Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Ja,ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Der Verlust desstaatlichen Gewaltmonopols ist heute das größte Sicher-heitsrisiko weltweit. Deswegen müssen gerade wir alsdemokratischer Rechtsstaat besondere Verantwortung anden Tag legen und mit gutem Beispiel vorangehen, so-wohl, wenn wir im Ausland weltweit um die 140 Sicher-heitsfirmen unter Vertrag nehmen, um deutsche Liegen-schaften zu schützen, als auch, wenn es darum geht,welche Anforderungen wir an die Zulassung privater Si-cherheitsdienste im Inland erheben.Aktuell sieht die Gewerbeordnung lediglich eine80-stündige rechtliche Unterrichtung und den einma-ligen Nachweis der Zuverlässigkeit vor, um ein Bewa-chungsgewerbe anzumelden. Eine Prüfung ist nicht er-forderlich. Damit gehört Deutschland zu denSchlusslichtern in Europa, was die Zugangsvorausset-zungen von privaten Sicherheitsfirmen angeht. Oder ver-einfacht gesagt: Es ist in Deutschland leichter, ein Si-cherheitsgewerbe anzumelden, als eine Pommesbude zueröffnen.Private Sicherheitsdienste sind in den letzten Jahrenverstärkt in die Lücken vorgestoßen, die die Sparpolitikdes Bundes und der Länder gerissen hat, auch in denEtats der Innenministerien. Die Innenministerkonferenzbetrachtet die Sicherheitsbranche inzwischen als festenBestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur. Geradein den letzten Monaten haben aber unter anderem Vor-fälle in Asylbewerberunterkünften an deutschen Flughä-fen gezeigt, dass die Gesetzgebung nicht mehr den ak-tuellen Verhältnissen gerecht wird. Es reicht eben nicht,dass die persönliche Zuverlässigkeit und Geeignetheiteinmalig bei Aufnahme der Tätigkeit im beauftragtenUnternehmen überprüft wurden. Viele dieser Angestell-ten versehen ihren Dienst immerhin bewaffnet, mitSchusswaffen oder Schlagwaffen. Hier besteht akuterRegelungsbedarf, und daher legen wir Ihnen heute die-sen Antrag vor.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8383
Katja Keul
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Wir hatten bereits in der letzten Legislaturperiode aufdas Problem hingewiesen. Damals forderten die deut-schen Reeder die Lizenzierung von Bewachungsunter-nehmen an Bord von deutschen Handelsschiffen. Aberstatt die Qualitätsstandards für die ganze Branche hoch-zusetzen – wie wir es in unserem Antrag schon geforderthatten –, haben Sie sich damals mit den Schiffen be-gnügt. Für unseren weitergehenden Antrag hatten undhaben wir übrigens auch die Unterstützung des Bran-chenverbandes der privaten Sicherheitswirtschaft. Es hatleider vor allem die FDP nie verstanden, dass es durch-aus auch im Interesse der Wirtschaft liegt, sich durchstaatliche Regulierung die Konkurrenz zwielichtiger Ro-ckerbanden vom Hals zu halten, die mal eben ein Ge-werbe anmelden, um dann ganz offiziell das Rotlichtmi-lieu zu kontrollieren.
Auch die von den Innenministern eingesetzte Kommis-sion hat ein eigenes Gesetz für den Bereich der privatenSicherheitsdienste befürwortet. Liebe Kolleginnen undKollegen von der CDU/CSU, es sind auch Ihre Innen-minister, die Handlungsbedarf anmelden. Nutzen Siejetzt die Chance, dass Sie die FDP abgeschüttelt haben!Wenn wir schon dabei sind: Lassen Sie uns nicht denBlick über den Tellerrand vergessen. Wir müssen darandenken, auch den Export von privaten Sicherheitsleis-tungen ins Ausland zu kontrollieren. Die Genehmi-gungsvoraussetzungen für Rüstungsexporte sollten nichtnur für die Waffe selbst Anwendung finden, sondernauch für die Hand, die die Waffe führt. Liebe Genossin-nen und Genossen von der SPD, das habt ihr in der letz-ten Legislaturperiode doch auch schon beschlossen.Exzesse privater Sicherheitsfirmen, wie wir sie imIrak oder in Afghanistan erleben mussten, können wirnaturgemäß nur im internationalen Rahmen verhindern.Deutschland muss sich deswegen stärker in den UN füreine internationale vertragliche Regulierung engagieren.Da hilft es auch bei der eigenen Glaubwürdigkeit, wennman erst mal bei sich zu Hause seiner Verpflichtungnachkommt.
Wir wollen Sie mit diesem Antrag motivieren. WennSie uns nicht zustimmen wollen, dann können Sie gerneselber etwas vorlegen. So wie bisher kann es jedenfallsnicht weitergehen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin spricht Dr. Kristina Schröder
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Gewaltmonopol des Staates ist eineGrundvoraussetzung für das Funktionieren unseres frei-heitlich-demokratischen Rechtsstaats. Der Bürger ver-zichtet darauf, Gewalt auszuüben, um seine Rechtedurchzusetzen, und unser Grundgesetz legt fest, dassdies allein Justiz- und Exekutivorganen vorbehalten ist.Wir sind uns einig, dass dieses Prinzip essenziell für un-sere freiheitlich-demokratische Grundordnung ist. Juris-tisch ist das Gewaltmonopol durch den Antrag der Grü-nen zur Regulierung privater Sicherheitsfirmen auchnicht tangiert. Schließlich verfügen die Angestellten die-ser Firmen nur über die sogenannten Jedermannsrechte;das will hier, glaube ich, auch niemand ändern.De facto sprechen wir heute aber sehr wohl über As-pekte des Gewaltmonopols, und zwar aus zwei Gründen.Erstens. Wenn immer mehr Menschen für unterschiedli-che Zwecke private Sicherheitsfirmen beauftragen, dannscheinen sie der Auffassung zu sein, der Staat kommeseinen Pflichten, die aus dem Gewaltmonopol resultie-ren, nur ungenügend nach.Ich finde, das muss uns nachdenklich stimmen.Schließlich kann niemandem daran gelegen sein, dass inunserem Land Zustände wie beispielsweise in Südafrikaeinreißen. Dort ist die Lage so, dass diejenigen, die sichdas leisten können, einen privaten Sicherheitsdienst en-gagieren, um ihr Leben und ihr Eigentum zu schützen,weil der Staat das nicht in ausreichendem Maße gewähr-leistet. Ganze Wohnsiedlungen sind umzäunt und privatbewacht. Von solchen Zuständen sind wir in Deutsch-land glücklicherweise noch meilenweit entfernt. Ichmöchte nicht, dass es auch bei uns eine Frage des Konto-stands wird, wie sicher man ist oder wie sicher man sichfühlt.
Insofern frage ich mich, liebe Grüne, wie Sie es zu-sammenbekommen wollen, dass Sie – so steht es in Ih-rem Antrag – eine Erosion des Gewaltmonopols be-fürchten, aber an anderer Stelle immer mal wieder gerneMisstrauen gegen unsere Sicherheitsbehörden schüren
und mit dafür verantwortlich sind, wenn zum Beispiel inSchleswig-Holstein die rot-grüne Landesregierung ge-rade 120 Polizeistellen abgebaut hat.
Der zweite Grund, warum die heutige Debatte auchdas Gewaltmonopol betrifft, ist folgender: Es reicht dochschon aus, wenn privates Sicherheitspersonal subjektivals Vertretung des Staates empfunden wird. Die meistenFlüchtlinge, die in eine Asylbewerberunterkunft kom-men, gehen mit Sicherheit davon aus, dass Menschen inUniform, die ihnen auch Anweisungen geben, Vertreterdes Staates mit hoheitlichen Rechten sind.
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8384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Kristina Schröder
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Daher sollten wir uns nach der umfassenden Rege-lung der Bewachung von Seeschiffen in internationalenGewässern in der letzten Legislaturperiode sehr genauüberlegen, welche Anforderungen wir an private Sicher-heitsfirmen stellen, die im Inland tätig sind. Deshalb ha-ben wir uns in unserem Koalitionsvertrag dieses Themavorgenommen.
Ob und in welcher Form wir gesetzgeberisch eingrei-fen und wie weit wir bei der Regelungstiefe gehen wol-len, darüber muss jetzt diskutiert werden. Aber fest stehterst einmal: Sowohl das Bundeswirtschaftsministeriumals auch das Bundesinnenministerium sehen Handlungs-bedarf und haben sich intensiv, wenn auch noch nichtabschließend mit dem Thema befasst.
Die Innenministerkonferenz hat im Dezember 2013 Vor-schläge zur Überarbeitung des Bewachungsrechts be-schlossen. Bundesinnenminister de Maizière hat sichdaraufhin mit der Bitte um Unterstützung an Bundes-minister Gabriel gewandt, der zuständig ist, weil dasGanze eine gewerberechtliche Frage ist. Das ist auch derGrund, weswegen wir hier eine Federführung der Wirt-schaftspolitik haben.
Im November 2014 wurde dann eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich unter Vorsitz des Bun-deswirtschaftsministeriums der Überarbeitung des Be-wachungsrechts annimmt. Die erste Sitzung fand im Ja-nuar 2015 statt. Die Arbeitsgruppe war sich einig, dassinsbesondere der Bereich „Zuverlässigkeitsüberprüfungund Sachkundenachweis“ neu geregelt werden sollte.Das unterstütze ich. Ich kann mir darüber hinaus weiteresinnvolle Maßnahmen vorstellen.Die Vorfälle im letzten Jahr im nordrhein-westfäli-schen Burbach haben uns alle schockiert. Dort soll pri-vates Wachpersonal Asylbewerber misshandelt und diesauf Fotos und Videos festgehalten haben. Wenn eine mo-derate Anhebung der Mindeststandards dazu beitragenkann, weitere solcher Fälle zu vermeiden, dann solltenwir das in Angriff nehmen.
Es ist doch schon bemerkenswert, dass unsere Gewerbe-ordnung derzeit strengere Regelungen für die Bewa-chung von Diskotheken vorschreibt als für diejenigen,die in Asylbewerberunterkünften mit schwer traumati-sierten Menschen umgehen.Aber auch die Länder tragen bei diesem Thema politi-sche Verantwortung. Sie haben es nämlich selbst in derHand, in ihren Ausschreibungen zur Überwachung vonAsylbewerberunterkünften bei den Anforderungen andie Sicherheitsfirmen über die Mindestanforderungender Gewerbeordnung hinauszugehen.Das Land Hessen ist hier ein positives Beispiel. Esfordert von den Sicherheitsfirmen, die es unter Vertragnimmt, für das gesamte Personal das erweiterte Füh-rungszeugnis vorzulegen, das Einverständnis zu einerSicherheitsüberprüfung durch die Polizei, und es fordert,dass das Personal regelmäßig Deeskalationstrainings zuabsolvieren und interkulturelle Kompetenzen nachzu-weisen hat. Außerdem vergibt Hessen Aufträge an Si-cherheitsunternehmen ausschließlich selbst und über-lässt dies nicht den Subunternehmen. Im nordrhein-westfälischen Burbach war genau dies der Fall: Dort warder Sicherheitsdienst ein Subunternehmen der Betreiber-firma der Asylbewerberunterkunft. Es ist also auch einepolitische Frage, wie weit ein Land bereit ist, sich in die-sem sensiblen Bereich zu engagieren, selbst Verantwor-tung zu übernehmen und bei der Ausschreibung nichtnur auf die Kosten zu schauen, sondern auch auf Quali-tätskriterien.
Aus wirtschaftspolitischer Blickrichtung ist natürlicheines klar: Jede Verschärfung der Mindeststandards fürSicherheitsfirmen ist auch ein Eingriff in die Gewerbe-freiheit. Es liegt zunächst in der Freiheit und der Verant-wortung des Einzelnen, für die Bewachung seines Ei-gentums oder die Sicherung der eigenen Veranstaltungdenjenigen einzustellen, den er für diese Zwecke für ge-eignet hält. Jeder kann, wenn es um eine schwierige Auf-gabe geht, die Anforderungen an die beauftragte Personhochschrauben, oder er kann sagen: Meinen Schrottplatzzu bewachen, ist nicht so furchtbar anspruchsvoll; da rei-chen mir die Mindestanforderungen der Gewerbeord-nung.Insofern plädiere ich für eine Neuregelung mit Au-genmaß, die innenpolitische und wirtschaftspolitischeErwägungen berücksichtigt und nur dort regulierend ein-greift, wo wir uns begründet einen Mehrwert verspre-chen können. Bis Ende des Jahres wird die Bund-Län-der-Arbeitsgruppe ein Eckpunktepapier mit Vorschlägenzur Novellierung des Gewerberechts erarbeiten. In die-sem Sinne freue ich mich auf interessante Diskussionenzu diesem Thema.
Als nächster Redner hat Thomas Lutze von der Lin-
ken das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bündnis 90/Die Grü-nen beantragen heute unter anderem, dass private Sicher-heitsunternehmen stringenter zertifiziert werden müssen.In der Bundesrepublik gibt es rund 170 000 Menschen,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8385
Thomas Lutze
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die bei privaten Sicherheitsunternehmen arbeiten. Diemeisten von ihnen, und zwar die allermeisten, macheneinen sehr verantwortungsvollen Job. Sie stehen rundum die Uhr bei Wind und Wetter vor Gebäuden und aufPlätzen. Sie sorgen für die Sicherheit bei Konzertveran-staltungen oder Fußballspielen. Sie gehen dazwischen,wenn Angetrunkene in Streit geraten, und riskieren da-bei oftmals Kopf und Kragen. Sie gehen nach acht biszehn Stunden nach Hause und erhalten für ihre Tätigkeitin der Regel nicht mehr als den Mindestlohn. Dieses Ge-schäft mit der Sicherheit ist ein knallharter Wettbewerb.Unternehmen sehen sich oft gezwungen, die Personal-ausgaben zu drücken, um einen Auftrag zu bekommen.Das sind Wildwestmethoden. Mit sozialer Marktwirt-schaft hat dieser Wettbewerb nichts zu tun.
Deshalb ist es gut, dass die grüne Fraktion diesesThema heute auf die Tagesordnung gesetzt hat. DiesesAnliegen unterstützen wir. Wir unterstützen die Forde-rung, dass es für private Sicherheitsunternehmen eineeinheitliche und transparente Zertifizierung geben muss.Ich sage es ganz deutlich, auch wenn es in diesem Hausvielleicht nicht so populär klingt: Dieser Markt mussmehr reguliert werden. Wir brauchen europaweit einheit-liche Standards.
Eine Kommune, die ein Unternehmen beauftragt,muss quasi auf den ersten Blick erkennen können, wel-che Leistung sie geboten bekommt. Es muss anhand vonZertifikaten und Logos sofort zu sehen sein, welcheAusbildung die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben.Es muss klar erkennbar sein, dass alle Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter im Hinblick auf die gesetzlichen Grund-lagen geschult und diese ihnen präsent sind. Datenschutzoder Persönlichkeitsrechte zum Beispiel sind hier keineNebensächlichkeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Auch das ist mir wichtig: Einige Unternehmen desprivaten Sicherheitssektors – es sind schon Beispiele ge-nannt worden – sind in die Schlagzeigen geraten, weilihre Mitarbeiter der rechtsextremen Szene angehören.Oft ist das kein Zufall; denn in der Regel gehört ein der-artiges zwielichtiges Unternehmen Leuten, die selbst inder rechtsextremen Szene verankert sind. Es ist grotesk,wenn zum Beispiel ehemalige Straftäter aus dem rechts-extremen Milieu Fußballspiele der Regionalliga absi-chern und bei Bedarf dazwischengehen, wenn gleich ge-sinnte zwielichtige Gestalten aufeinander losgehen.Bei der Polizei von Bund und Ländern werden bei derPersonalauswahl vollkommen zu Recht sehr hohe An-forderungen gestellt. Im privaten Sicherheitsgewerbe– so mein Eindruck – gibt es öffentliche Aufmerksamkeitimmer erst dann, wenn dicke Schlagzeilen in den Zeitun-gen stehen. Das kann man mit strengeren Gesetzen undRichtlinien als Gesetzgeber durchaus vermeiden. Ichmöchte mich dafür einsetzen, dass die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter von privaten Sicherheitsunternehmen ei-nen sicheren Arbeitsplatz haben. Ich sage aber ganzdeutlich, dass es mir lieber wäre, wenn hoheitliche Auf-gaben ausschließlich von staatlichen Sicherheitskräftenausgeführt würden.
Es fehlt jedoch vielerorts an Polizeikräften; im ländli-chen Raum schließt ein Polizeirevier nach dem anderen.Diese Entwicklung sehen wir als Linke sehr kritisch.Das muss sich ändern – vielleicht auch dadurch, dassman Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem privatenBereich in den öffentlichen überführt.Herzlichen Dank. Glückauf!
Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt Marcus
Held von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Thema, mit dem wir uns heute zu befas-sen haben, ist ein gesamtgesellschaftliches Thema; denndie Situation und Ausgangslage bei der Überwachungvon Gebäuden, von Straßen, von Plätzen, von Veranstal-tungen haben sich in den zurückliegenden Jahren starkgewandelt. Das hat Auswirkungen auf das tägliche Le-ben unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, auf ihrSicherheitsempfinden und damit auf die Lebensqualität.Es geht ganz zentral um das Gewaltmonopol desStaates, um die Frage, ob unsere heutigen Regularienhierfür überhaupt noch anwendbar sind. War es bis voreinigen Jahren völlig klar, dass vom Gewaltmonopol desStaates auszugehen ist und im Bereich der Bewachungund der Sicherheit und Ordnung keine Privatisierungerfolgt, so leisten heute in ganz Deutschland über185 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Si-cherheitsdienste einen großen Beitrag zur Gefahrenab-wehr und sind damit innerhalb unserer Sicherheitsarchi-tektur nicht wegzudenken. Ob wir als Gesetzgeber dierechtlichen Rahmenbedingungen diesen Veränderungenbereits angepasst haben, das ist leider mehr als fraglich.
Wir müssen sehen, dass sich hier zwei Interessen ge-genüberstehen. Zum einen ist da die althergebrachte undin unserer Rechtsordnung tief verwurzelte Auffassung,dass das Gewaltmonopol grundsätzlich beim Staat liegt.Nach dieser Auffassung bestehen Eingriffsrechte nurdurch Organe des Staates: durch die Polizei, ihre Hilfs-behörden sowie kommunale Ordnungsämter in abgestuf-ter Weise. Dieser seit Jahrzehnten in unserer Rechts-ordnung verbriefte Grundsatz ist nicht zuletzt vor demHintergrund unserer Geschichte durchaus nachvollzieh-bar und begründet. Auf der anderen Seite müssen wir,wenn 185 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in priva-ten Sicherheitsdiensten heute vergleichbare Aufgaben inunserer Gesellschaft verrichten, prüfen, welche Rechtediesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zukommensollen und ob diese Rechte dann nicht mehr bei der Poli-
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8386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Marcus Held
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zei und damit bei dem Gewaltmonopol des Staates lie-gen müssen.Voraussetzung für eine solche Übertragung und Ver-änderung des Rechtssystems ist allerdings, dass privateSicherheitsfirmen in der öffentlichen Wahrnehmung un-umstritten sind, breites Ansehen und Anerkennung ge-nießen, wie dies beispielsweise bei der Polizei der Fallist.
Diese Anerkennung kann nur erreicht werden, wenn dieQualität der privaten Sicherheitsdienste stimmt undwenn vor allem die qualitative Auswahl des Personals si-chergestellt ist. Deshalb haben wir im Koalitionsvertragfestgeschrieben, dass wir verbindliche Anforderungenan Seriosität und Zuverlässigkeit privater Dienstleisterund ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen wol-len.Eine Arbeitsgruppe zur Überprüfung und Überarbei-tung des Bewachungsrechts ist unter dem Vorsitz desBMWi eingerichtet worden. Sie soll noch in diesem Jahrentsprechende Lösungsvorschläge erarbeiten und vorle-gen. Wir wollen die Ergebnisse der Kommission abwar-ten und dann gemeinsam Verbesserungen umsetzen.Derzeit ist das Bewachungsgewerbe in § 34 a der Ge-werbeordnung und in der Bewachungsverordnung gere-gelt. Die Erteilungsvoraussetzungen sind sehr nieder-schwellig. Das Gleiche gilt leider auch für Personen, diein Bewachungsunternehmen beschäftigt sind. Was kannund soll sich ändern?Wir haben uns heute mit dem Antrag der Kolleginnenund Kollegen der Grünen zu befassen und sind im Ge-gensatz zu dem, was Sie in Ihrem Antrag schreiben,nicht der Auffassung, dass wir § 31 der Gewerbeord-nung ausdehnen sollten; denn § 31 der Gewerbeordnungbeschäftigt sich mit Bewachungsunternehmen, die aufSeeschiffen tätig sind und zur Bekämpfung von Piraten-angriffen eingesetzt werden. Diese Aufgabe ist mit ei-nem durchschnittlichen Bewachungsgewerbe nicht ver-gleichbar. Das Zulassungsverfahren wäre zu aufwendigund kostenintensiv. Außerdem würde es die Gefahr mitsich bringen, dass kleine Bewachungsunternehmen vomMarkt verdrängt würden. In der Praxis liegen die Pro-bleme zudem nicht bei den Unternehmen, sondern beimeingesetzten Bewachungspersonal. Hier müssen wir an-setzen. Eine gute Ausbildung, ein gutes Auftreten undvor allem Fingerspitzengefühl in brenzligen Situationsind beim Bewachungspersonal wichtig.
Genau in diese Richtung ist die Arbeitsgruppe in ihrerersten Sitzung im Januar gegangen. Es werden die Erhö-hung der Sachkundeanforderungen für die Bewacherin-nen und Bewacher, die Einführung regelmäßiger Zuver-lässigkeitsüberprüfungen und anderes vorgeschlagen.Weitere Ansätze für Qualitätsverbesserungen könnensich durch die Weiterentwicklung der Norm DIN 77200ergeben, die sich mit genau diesen Anforderungen be-fasst. Wir haben uns in diesem Jahr aber auch noch mitdem Vergaberecht zu beschäftigen. Gerade durch Ver-besserungen im Vergaberecht können wir für das Bewa-chungsgewerbe einiges auf den Weg bringen; denn wennes um Menschen geht, kann nicht immer nur der Preisentscheiden. Hier muss vor allem die Qualität stimmen.Deshalb ist als wichtiges Auswahlkriterium der Nach-weis qualitätssichernder Standards einzuführen.
Qualität hat ihren Preis, und das ist auch gut so für dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem privatenSektor.
Wir wollen keine Regelung auf EU-Ebene – auch dassage ich deutlich –, da dies nur zu EU-Minimalstandardsund damit zu einer Absenkung des Niveaus in Deutsch-land führen würde.Zum Schluss möchte ich zusammenfassen: Wir wol-len die Anforderungen an Seriosität und Zuverlässigkeitprivater Sicherheitsfirmen erhöhen, indem wir Änderun-gen im Gewerberecht vornehmen. Qualifizierte privateSicherheitsdienste können zur wirksamen Entlastung derPolizei in unserem Land beitragen und die Sicherheit derBürgerinnen und Bürger in Deutschland verbessern.Dazu muss aber sichergestellt werden, dass solche Priva-ten zum Zuge kommen, die genau die Qualifikationen,die ich genannt habe, nachweisen.Wir müssen in dieser Debatte aber auch die grundsätz-liche Frage beantworten, ob wir bereit sind, gesetzlichverankerte Befugnisse des staatlichen GewaltmonopolsPolizei auf private Sicherheitsdienstleister zu übertra-gen, wie zum Beispiel die Überprüfung von Personalienoder die Aussprache von Platzverweisen. Viele TausendMitarbeiterinnen und Mitarbeiter privater Sicherheitsfir-men unterstützen schon heute die Ordnungsämter unse-rer Städte bei der täglichen Arbeit. Auch hier werden wirzu entscheiden haben, wie wir dazu stehen. Am Endebleibt die Kernfrage: Rütteln wir am staatlichen Gewalt-monopol aus Artikel 33 des Grundgesetzes oder nicht?Die heutige Diskussion über das Bewachungsrecht istnur ein Einstieg.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ichdie Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3555 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPDwünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaftund Energie; die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenwünscht Federführung beim Innenausschuss.Darüber müssen wir jetzt abstimmen. Ich lasse zuerstüber den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bünd-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8387
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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nis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beimInnenausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koalition.Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Überwei-sungsvorschlag abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen, alsoFederführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Ener-gie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Das ist die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo-sition. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall.Dann ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmender Koalition angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund SPDBildung in Deutschland gemeinsam voran-bringen, Lehren aus dem nationalen Bil-dungsbericht 2014 ziehen, Chancen derInklusion nutzen– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, SabineZimmermann , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEBildungsverantwortung gemeinsam wahr-nehmen – Konsequenzen aus dem Bil-dungsbericht ziehen– zu dem Antrag der Abgeordneten ÖzcanMutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBildung schafft Teilhabe und Chancen-gleichheit – Empfehlungen des NationalenBildungsberichts 2014 zügig umsetzenDrucksachen 18/3546, 18/3728, 18/3412, 18/4086Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Red-ner in dieser Debatte hat der Kollege Xaver Jung von derCDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der fünfte Nationale Bildungsbericht bestätigterneut eine Verbesserung der Bildung in Deutschland.Unser Dank gilt allen am Bildungssystem Beteiligten,zuallererst den Lehrerinnen und Lehrern in allen Bil-dungsbereichen.Meine Damen und Herren, der Bericht hat dasSchwerpunktthema Inklusion. Ich möchte gerne die Ge-legenheit nutzen, hier verstärkt auf die Herausforderun-gen für unser Bildungssystem einzugehen. Inzwischengibt es an vielen Schulen tolle, lobenswerte Beispiele ge-lungener Integration und Inklusion. Die Kultusminister-konferenz arbeitet an einer umfassenden Umsetzung zurInklusion. Aber auch wir, der Bund, wollen dabei denLändern mit Forschungsaufträgen gerne beratend zurSeite stehen. Viele Bundesländer haben sich zu weitrei-chenden Zielen hinsichtlich der Inklusion verpflichtet.Wie diese Ziele verwirklicht werden sollen, ist leider invielen Fällen noch völlig offen. Hier wird inzwischenhektisch an vielen Rädern gedreht. Wir müssen aufpas-sen, dass unsere Kinder in der Eile dabei nicht unter dieRäder geraten.Gute Inklusion ist ein langfristiger Prozess, und dieUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention kannnicht von heute auf morgen gelingen. Inhaltliche Quali-tät braucht Vorrang gegenüber einer übereilten Umset-zung.
Wir brauchen ein allgemeines pädagogisches Gesamtkon-zept, um individuell und zielgerichtet helfen zu können.Dazu müssen die Länder die bestmöglichen personellen,räumlichen und sächlichen Ressourcen bereitstellen.Ebenso gehört vor allem ein wohnortnahes, differenzier-tes Schulangebot dazu. Wir dürfen unser differenziertesFördersystem nicht leichtfertig aufgeben. Dazu gehörteine zieldifferenzierte Förderung, mit der sichergestelltwird, dass alle Schülerinnen und Schüler die für sie best-mögliche Bildung und den bestmöglichen Bildungsab-schluss bekommen.
– Herr Mutlu, Sie haben doch in der letzten Diskussiondazu dem Schulsystem die Schulnote Sechs gegeben.
Jetzt führe ich die Defizite auf, die Sie so bemängelt ha-ben. Hören Sie doch zu! Dann können wir das ändern.Individuelle Förderung kann der Besuch einer Förder-schule, einer Außenklasse oder ein inklusives Modellsein. Wahlfreiheit und unabhängige Beratung für die El-tern sind die Voraussetzungen für eine gelingende Inklu-sion.
Es müssen auch alle Lernorte mit einbezogen werden:von den Kitas über Grundschulen zu den weiterführen-den Schulen, auch die berufsbildenden Schulen bis hinzu den Hochschulen. Sie alle müssen ein stringentesinklusives Konzept bekommen, wobei besondere Zu-gangsvoraussetzungen, zum Beispiel für das Gymna-sium, auch für Kinder mit Behinderungen gelten müs-
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8388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Xaver Jung
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sen. Um die Schüler besser und praxisnah auf einselbstbestimmtes Leben und einen gelingenden Über-gang in die Arbeitswelt vorzubereiten, müssen wir auchdie an Förderschulen erworbenen Abschlüsse bundes-weit anerkennen.Meine Damen und Herren, wichtig sind darüber hi-naus gut durchdachte pädagogische Konzepte für alleRegelschulen, die sich für Kinder und Jugendliche mitbesonderen Ansprüchen öffnen. Diese Zusatzleistungkann und darf nicht auf den Schultern der Lehrer ausge-tragen werden.Wir brauchen mehr Lehrpersonal und vor allem auchmehr Sonderpädagogen und Sozialpädagogen, die denKlassen und ihren Lehrern fachlich kompetent zur Seitestehen. Wir dürfen unsere Lehrerinnen und Lehrer hierim wahrsten Sinne des Wortes nicht alleinelassen.
Die Lehrerausbildung muss zwar auf die Anforderungender heterogenen Beschulung vorbereiten. Wir brauchenaber keine Förderschullehrer mit einer Ausbildung light,sondern hochqualifiziertes Personal.Eine besondere Aktualität und Herausforderung liegtzurzeit auch in der Beschulung von Flüchtlings- undAsylkindern. Wir brauchen ganzheitliche Konzepte, dieunter anderem die Vermittlung von Grundkompetenzenwie die deutsche Sprache in den Fokus nehmen. Mit ei-nem gut funktionierenden inklusiven Schulsystem kannauch Platz für diese Kinder geschaffen werden. MitSprache als Schlüsselkompetenz können wir diese Kin-der mehr in die Gesellschaft integrieren und ihnen soWege zu erfolgreichen Schulabschlüssen und gegebe-nenfalls auch zum Arbeitsmarkt eröffnen. Hierbei müs-sen sich die Bundesländer auf ihre Kommunen zubewe-gen und ihnen unterstützend zur Seite stehen. Auch derBund wird seiner Verantwortung gerecht: Er hat sich hierbereits 2015 mit einer halben Milliarde Euro für dieKommunen beteiligt. Für das kommende Jahr ist nocheinmal eine halbe Milliarde Euro in Aussicht gestellt.Wir haben in unserem Antrag jede Menge Vorschlägeund Anregungen für Bund und Länder formuliert. DieZeit reicht nicht, das alles aufzuzählen. Ich bitte Sie,dem Antrag der Koalition zuzustimmen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Dr. Hein von der Fraktion
Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bildungsberichte helfen in der Bildungswirklichkeit nur,wenn man die Botschaften darin auch ernst nimmt unddie entsprechenden Schlussfolgerungen zieht.
Das aber haben wir bei den Koalitionen der vergangenenzehn Jahre durch die Bank weg vermisst. Wir versuchendeshalb mit unserem Antrag, etwas Nachhilfe zu geben.Wir haben nicht alles Wünschenswerte dort hineinge-schrieben, sondern uns auf grundsätzliche Forderungenbeschränkt, deren Umsetzung wir für ein Umsteuern fürnötig halten. Und die kann jetzt vom Bund in Angriff ge-nommen werden.Von der Politik wird nämlich erwartet, dass sie in derBildung Grundsätzliches ändert. Dabei darf man dannnicht nur auf die Zuständigkeiten der anderen schauen,sondern muss als Bund auch selbst etwas Grundsätzli-ches tun.
Sie aber haben zusammen mit den Ländern im vergange-nen Jahr die Chance verstreichen lassen, grundsätzlicheBildungsfragen auch grundsätzlich besser zu lösen. Mitder Grundgesetzänderung, die für den Hochschulbereichbeschlossen worden ist, soll ja nicht einmal mehr Geld indie Kassen gespült werden, sondern nur Bürokratie ab-gebaut und etwas mehr Verlässlichkeit geschaffen wer-den. Das ist sicherlich sinnvoll, aber reicht bei weitemnicht aus. Die dauerhafte Unterfinanzierung aller Bil-dungsbereiche gehen Sie nicht an. Darum will ich michheute vor allem noch einmal mit dem Geld beschäftigen.Schon 2007, also vor dem Bildungsgipfel, kommt dieGewerkschaft Verdi auf einen jährlichen Mehrbedarfvon rund 43 Milliarden Euro. Die Vereinigung der Bay-rischen Wirtschaft hat bereits 2004 notwendige Mehr-ausgaben von 34 Milliarden Euro festgestellt, und die istnicht verdächtig, links zu sein. In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2008 listet Roman Jaich, den wirübrigens auch schon im Ausschuss als Experten gehörthaben, einen jährlichen Mehrbedarf von knapp 30 Mil-liarden Euro auf, und eine GEW-Studie aus dem Jahre2011 stellt einen jährlichen Mehrbedarf von – nicht er-schrecken – 56 Milliarden Euro für die Umsetzung not-wendiger Verbesserungen in der Bildung fest, und zwarVerbesserungen, für die es eine deutliche Mehrheit in derGesellschaft und wo es auch eine Erwartungshaltung sei-tens der Gesellschaft gibt. Schließlich liest man noch imWahlprogramm der SPD als Forderung des Bürgerkon-vents von 2013 die Summe von immerhin 20 MilliardenEuro, die jedes Jahr mehr für Bildung ausgegeben wer-den sollen.Natürlich müssen diese Summen nicht allein im Bun-deshaushalt untergebracht werden. Bund, Länder undKommunen können sie gemeinsam tragen. Eine Ge-meinschaftsaufgabe Bildung, wie die Linke sie fordert,wäre da doch wohl angemessen.
Ich glaube, das würde helfen; denn bessere Bildung kos-tet eben auch mehr Geld.Nehmen wir einmal die 1,2 Milliarden Euro, die inden letzten Monaten immer als tolles Geschenk an dieLänder verkauft worden sind,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8389
Dr. Rosemarie Hein
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und schauen wir uns an, was für ein Streit darüber ent-brannt ist. Die Ministerin hat noch im Sommer des ver-gangenen Jahres gesagt, damit könne man gut Schul-sozialarbeit finanzieren. Die Koalition, vor allen Dingendie CDU/CSU, will, dass dieses Geld möglichst voll-ständig in die Hochschulfinanzierung fließt. Die Länderwollen es aber auch für die bessere Bezahlung und dieEinstellung von Lehrkräften ausgeben sowie für Inklu-sion, immerhin ein Schwerpunkt dieses Bildungsberich-tes. – Das alles haben Sie ziemlich beargwöhnt. So weitgeht bei Ihnen der Föderalismus dann wohl doch wiedernicht. Aber man braucht außerdem noch Geld, um diemaroden Schulgebäude zu sanieren. Sie haben eben ge-sagt: Wir wollen Ganztagsschulen. Wir wollen bessereLernbedingungen für Kinder mit Handicaps. – Die Kom-munen können die Sanierungsaufgaben schon seit lan-gem nicht mehr stemmen. Wir brauchen bessere, andersausgebaute Schulen, und wir brauchen mehr und besse-res Personal. Allein der gute Wille wird bei der Inklusionnicht helfen.
Wenn der Bund für jede dieser fünf Aufgaben, alsoSchulsozialarbeit, Hochschulfinanzierung, Einstellungvon Lehrkräften, Inklusion und Schulsanierung, jeweils1,2 Milliarden Euro jährlich bereitgestellt hätte, dannkönnte man mit gutem Gewissen sagen: Das ist ein viel-versprechender Anfang. So aber wird es hinten undvorne nicht reichen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns ist völlig be-wusst: Sie werden unseren Antrag heute ablehnen. Aberich verspreche Ihnen: Wir werden hartnäckig bleibenund diese Forderungen immer wieder stellen, bis derGroschen gefallen ist.
Danke schön.
Als nächster Redner hat Dr. Rossmann von der SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist nun, glaube ich, schon das dritte oder vierte Mal,dass wir über den Nationalen Bildungsbericht im Ple-num und im Ausschuss mit ziemlich gleichen Worten re-den. Deshalb bleibe ich bei der Linie, die der KollegeJung schon angesprochen hat. Wir wollen uns auf denSchwerpunkt Inklusion, auf das Praktische, auf das Kon-krete einlassen. Die große Finanzdebatte führen wirgerne ein andermal.
Ich will an die Geschichte der Nationalen Bildungs-berichte anknüpfen. 2006 wurde der erste Nationale Bil-dungsbericht mit den Schwerpunkten Integration, Mi-gration und Bildung vorgelegt; der aktuelle Bericht hatden Schwerpunkt Inklusion, und der nächste Bericht sollwieder die Schwerpunkte Migration und Bildung haben.Was ist eigentlich die Klammer zwischen Inklusion undIntegration? Ich glaube, es ist das Grundverständnis– diese Erkenntnis hat sich mittlerweile in Deutschlandbreit durchgesetzt; das ist ein großes Glück –, dass alleMenschen trotz ihrer Verschiedenheit jedes Recht aufBildungschancen haben müssen.
Dass diese Bildungschancen nicht immer gleich weitführen, ist etwas, was wir von Inklusion bis Integrationdiskutieren können. Aber jedenfalls sollen alle Men-schen Bildungschancen haben.In Bezug auf das Konkrete, was Inklusion angeht, ha-ben wir versucht, diesen Schwerpunkt in einem sehrkonkreten Handlungsprogramm seitens der Regierungs-fraktionen abzubilden. Die Oppositionsfraktionen wer-den uns treiben, wenn das nicht alles umgesetzt wird.Wir lassen uns dann auch treiben.Aber begeisterter ist man ja, wenn man hört, dass inder Praxis schon etwas passiert. Die Initiative für Assis-tierte Ausbildung hat auch etwas mit dem Aufnehmendes Inklusions- und Integrationsgedankens zu tun.
Die Assistierte Ausbildung ist jetzt gesetzlich verankertworden und wird mit Geld unterlegt – und das mit nichtzu wenig. Das ist ein gesamtstaatlicher Beitrag. Aber wirkönnen auch schauen, was in den Ländern in Sachen In-klusion passiert. Rheinland-Pfalz hat – ich nenne zuerstdie kleinere Zahl – ein spezielles Unterstützungspro-gramm für die Kommunen aufgelegt mit zusätzlichen10 Millionen Euro für Inklusion an Schulen.
Im größeren Nordrhein-Westfalen sollen 150 MillionenEuro an die Kommunen gehen, damit Inklusion umge-setzt werden kann. Diesen Geist brauchen wir, wenn esum die schrittweise Umsetzung unseres Anspruchs geht,in Verschiedenheit allen Kindern und allen JugendlichenChancen zu geben.
Weil ich finde, dass dieser Nationale Bildungsberichtnicht dadurch ertragreicher wird, dass man ihn drei- oderviermal verbal reflektiert, möchte ich die verbleibendenvier Minuten nutzen, um auf ein anderes Thema vonnationalem Interesse hinzuweisen: die Situation vonFlüchtlingskindern. Auch wenn das Thema in diesemNationalen Bildungsbericht noch nicht erwähnt ist, ist eseines, das aufgrund der gemeinschaftlichen Philosophie,die wir in Deutschland haben, Kommunen, Länder undBund berühren muss; denn wir wissen, dass unter den
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8390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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300 000 geflüchteten Menschen viele Kinder und Ju-gendliche sind, die dramatische Entwicklungen nehmenkönnen – im Negativen, aber hoffentlich auch im Positi-ven.In diesem Zusammenhang hat es über verschiedeneStationen einen gemeinsamen Geist gegeben, den mannicht nach Parteifarben sortieren kann. Es war sehr gut,dass Frau Böhmer in ihrer Zeit als Beauftragte der Bun-desregierung verkünden konnte, dass wir den Zugang zuKindertagesstätten nicht mehr daran binden, dass dieKinder Papiere mitbringen. Das ist ein ganz wichtigerPunkt.
Denn was können die Kinder dafür, dass sie Papiere ha-ben müssen, wenn sie in eine Kindertagesstätte gehenwollen? Wir haben auch erreicht, dass Kinder, die in dieSchule gehen, Leistungen des Bildungs- und Teilhabepa-kets in Anspruch nehmen können; denn wir wollen zwi-schen Flüchtlingskindern und anderen Kindern keinenUnterschied machen, wenn es um den Zugang zum Mit-tagessen geht. Das ist etwas, was wir erreicht haben undzeigt, dass wir uns um diese Kinder mit kümmern.Ich bleibe beim Bereich Schule. Es ist vielleicht in an-deren Bundesländern genauso; aber Schleswig-Holsteinhat mit den 15 Millionen Euro, die aus den zweimal500 Millionen Euro an die Länder zur Unterstützung ih-rer Integrationsleistungen gegangen sind, 240 zusätzli-che Lehrerstellen bewilligt, die dann Deutsch als Zweit-sprache in Schulen und anderswo unterrichten können.Das ist eine Maßnahme, die aus den 500 Millionen Euroim Land umgesetzt worden ist.Im Bereich der beruflichen Bildung ist es doch einebemerkenswerte Initiative, dass Herr Bouffier, HerrKretschmann und Frau Dreyer darauf dringen, dass jungeFlüchtlinge, die eine Ausbildung in einem Handwerks-oder Industriebetrieb anfangen wollen, die Garantie ha-ben, dass sie nicht gezwungen sind, ihre Ausbildung ab-zubrechen, weil ihr Aufenthaltstitel dies erfordert. Siekönnen die Ausbildung bis zum Ende fortsetzen. Das istetwas, was diese Koalition mit auf den Weg bringen will.
Beim BAföG will ich darauf hinweisen, dass man frü-her vier Jahre warten musste, bis man Zugang zur Förde-rung hatte; jetzt sind es nur 15 Monate. Das ist vielleichtauch recht und billig. Aber an der Veränderung von vierJahren zu 15 Monaten ist ein Umdenken in Bezug aufdie Förderangebote, die wir geflüchteten jungen Men-schen machen wollen, ablesbar.Ich will noch einen letzten Punkt ansprechen. Es wäreauch überaus wünschenswert – gerade in der Philosophiedieses Nationalen Bildungsberichtes, der ja von der früh-kindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung reicht –,dass wir auch das elementare Menschenrecht auf Sprach-erwerb nicht daran binden, dass man einen Aufent-haltstitel in Deutschland hat. Wir haben in unserem Ko-alitionsvertrag vereinbart, dass wir Flüchtlingen undGeduldeten in Zusammenarbeit mit den Ländern einenZugang zur Sprache verschaffen wollen. Noch ist dieKoalition nicht so weit; aber wir sollten das zusammenangehen. Wir, Bund und Länder, müssen die 240 Millio-nen Euro für Integrationssprachkurse einsetzen, damitMenschen, die nach einer relativ kurzen Zeit arbeitendürfen, vorher die Sprache erlernen können. Das Erler-nen der Sprache ist doch in beiden Richtungen wichtig:Sie ist wichtig für die Menschen und ihre Familien undgibt Selbstbewusstsein. Sie ist aber auch eine Versiche-rung für die, in Zukunft würden wir sagen: Altdeutschen,die erwarten, dass man mit ihnen deutsch sprechen kann.Diese Biografie müssen wir aufmachen, wenn wir inZukunft Inklusion und Integration, Migration und Bil-dung so zusammenbringen wollen, dass das, was Minis-terin Wanka kürzlich auf der Didacta gesagt hat, von die-ser Koalition umgesetzt wird: Bildung ist auch für alle,die zu uns kommen, Perspektive und Chance. Es istschon so etwas wie ein Credo, das sich an dem gemein-samen Brückenschlag zwischen Inklusion und Integra-tion festmacht: Bildung als Perspektive und Chance.Wenn uns der nächste Nationale Bildungsbericht inzwei Jahren nicht nur als Zwischenergebnis aufzeigt,dass das PISA-Niveau in Deutschland durch die Kinderund Jugendlichen mit Migrationshintergrund gestiegenist – man muss ja einmal darüber nachdenken, welchesPotenzial nach Deutschland gekommen ist –, sondernauch feststellt, dass wir allen, unabhängig von ihremrechtlichen Status, die gleichen Bildungschancen geben,dann wäre das ein guter gemeinsamer Impuls. Dafür willich werben. Das ist ein Anliegen der SPD. Aber wir wis-sen: Es ist auch ein Anliegen des ganzen Parlaments.Danke.
Als nächster Redner hat Özcan Mutlu vom Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der GroKo, da Sie sich hier und im Fachausschussgegenseitig auf die Schulter geklopft haben, möchte ichgerne an meine Rede im Januar und die Ziele Ihres Bil-dungsgipfels erinnern.
Etliche der Ziele, die Sie 2008 in Dresden proklamierthaben, haben Sie nicht erreicht. Sie haben diese Zieledeutlich verfehlt: Nach wie vor gibt es zu viele Schüle-rinnen und Schüler ohne Abschluss, zu viele junge Er-wachsene ohne Berufsabschluss, eine soziale Schieflagebei der Weiterbildungsbeteiligung etc.Auch der Nationale Bildungsbericht 2014 stellt Ihnenleider kein gutes Zeugnis aus:
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8391
Özcan Mutlu
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eine weiterhin bestehende soziale Ungleichheit bei derBildungsbeteiligung, hohe Abbrecherquoten und prekäreAusbildungsperspektiven für benachteiligte Jugendliche.Das wird auch Ihre Allianz nicht so schnell ändern.Summa summarum gibt es immer noch viel zu vielesogenannte Risikoschüler, die in einer Risikolage auf-wachsen. Ich betone noch einmal: Aufstieg durch Bil-dung ist unter Ihrer Regierung nicht ohne Weiteres mög-lich.
Egal welche Bildungsstudie oder welchen Bildungs-bericht wir diskutieren, die Botschaft ist immer dieselbe:Bildungsgerechtigkeit war, ist und bleibt die Achilles-ferse des deutschen Bildungssystems und der deutschenBildungspolitik. Daran ändert auch Ihr Antrag nichts,Kollege Rossmann. Es ist zwar schön und gut, dass Sieimmer wieder sagen: Wir müssen gleiche und gute Bil-dungschancen ermöglichen. – Aber irgendwann müssenSie anfangen, diesen Anspruch zu erfüllen und ihn in dieTat umzusetzen. Leere Worte alleine reichen nicht.
Ihr Antrag, liebe GroKo, reicht auch nicht aus, um diezahlreichen bildungspolitischen Herausforderungen wieden Abbau von sozialen Disparitäten, Ausbau der Ganz-tagsbetreuung, Inklusion oder digitale Bildung – mankann die Aufzählung noch fortsetzen – zu lösen. DassSie nun – so haben Sie es jedenfalls im Ausschuss ge-macht – die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ zumzentralen Instrument der Förderung von Inklusion erklä-ren, ist ein starkes Stück. Schön wäre es, aber die Reali-tät sieht anders aus. Erstens. Wir kennen die Projektskiz-zen, mit denen sich die Universitäten für dieQualitätsoffensive beworben haben, nicht. Es sei denn,Sie wissen etwas, das wir nicht wissen. Zweitens. Inklu-sion ist nicht das alleinige Mittel, sondern nur eines un-ter vielen möglichen Projekten in puncto „Qualitätsof-fensive Lehrerbildung“.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es richtigund wichtig, über schulische Inklusion zu reden. SechsJahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention ist dasauch notwendig. Aber nicht auf diese Art und Weise: Sieprüfen und regen an, Sie regen an und prüfen. Bei Ihnenwird immer wieder geprüft und angeregt, bis einem da-bei richtig schwindelig wird. Das reicht uns nicht. Siesollen nicht prüfen, sie sollen umsetzen.
Inklusion im Sinne einer unteilbaren Teilhabe von al-len Kindern und Jugendlichen ist eine gesamtgesell-schaftliche und gesamtstaatliche Aufgabe. Deshalb sa-gen wir immer wieder – das werden wir auch so langewiederholen, bis das Kooperationsgebot endlich abge-schafft ist –: Aus der Bildungspolitik darf sich der Bundnicht heraushalten und verabschieden.
Der vorliegende Nationale Bildungsbericht macht dieAbsurdität des Kooperationsverbotes noch einmal deut-lich, und wenn Sie das nicht erkennen, dann tun Sie mirrichtig leid. Wir brauchen ein Kooperationsgebot zwi-schen Bund, Ländern und Kommunen.
Lesen Sie unseren Antrag sorgfältig, wenn Sie wissenwollen, wie es geht und wie man es besser machen kann,nämlich durch einen flächendeckenden Ausbau desGanztagsschulangebotes und ein verbindliches Betreu-ungsangebot für alle Kinder und Jugendlichen bis zumzwölften Lebensjahr,
den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung in allen Bil-dungsstufen und die Reform des Bildungs- und Teilha-bepaketes, damit allen Kindern und Jugendlichen eineechte soziokulturelle Existenzsicherung garantiert undmehr Bildungsgerechtigkeit ermöglicht wird.
Dieses Angebot machen wir Ihnen mit unserem Antrag.Springen Sie über Ihren Schatten! Stimmen Sie unseremAntrag zu! Denn er geht nicht nur in die richtige Rich-tung, sondern enthält auch die Antworten, die diese Re-publik von Ihnen erwartet.Ich danke Ihnen.
Als letzter Rednerin in dieser Debatte hat Uda Heller
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrter Herr Mutlu, ich muss wiederauf die Schultern der Großen Koalition und auf dieSchulter der Ministerin klopfen; denn unser Antrag istgut.
330 Seiten umfasst der fünfte Nationale Bildungsbericht,welcher uns die Chance gibt, unser Bildungssystem inDeutschland genauer unter die Lupe zu nehmen undsachlich Bilanz aus den Fakten zu ziehen. Im Handels-blatt heißt es: „Der Trend zu besserer Bildung inDeutschland ist unverkennbar.“
Doch unabhängig von den Erfolgen ist es nun ange-bracht, die Handlungsempfehlungen des Bildungsbe-richtes ernst zu nehmen und umzusetzen. Das ist unserAnliegen, und das werden wir auch tun.
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8392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Uda Heller
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Unser erstes Ziel ist die Verbesserung der Bildungs-gerechtigkeit in Deutschland. Jeder soll die gleichenChancen auf individuell ausgerichtete berufliche Bil-dung und Zukunft haben, unabhängig von Geschlecht,familiärem Hintergrund, Einkommen der Eltern, Migra-tionsgeschichte, Religion oder Behinderung. Ein ganzwichtiger Faktor für ein Mehr an Bildungsgerechtigkeitist die Sprache. Sprache ist der Schlüssel zu Bildung undIntegration. Aus diesem Grund habe ich insbesondere inden Kindertagesstätten das Programm „Sprache & Inte-gration“ begrüßt und habe im Mai in meinem Wahlkreissechs Kitas besucht und mir ein Bild von der praktischenAusgestaltung gemacht. Ich kann bestätigen: Bis aufeine Ausnahme war die Umsetzung ganz hervorragend.Kinderbetreuung und frühkindliche Förderung gehö-ren zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Deutsch-land.
Traditionell ist dies in Sachsen-Anhalt ein großesThema. Erst am vergangenen Samstag konnte ich in derPresse vom Kitakönig MP Reiner Haseloff lesen. In kei-nem anderen Bundesland erhalten mehr Kleinkinder un-ter drei Jahre einen Betreuungsplatz. Mit einer Betreu-ungsquote – hören Sie gut zu! – von 58,3 Prozent istSachsen-Anhalt bundesweit absolut Spitzenreiter.
Natürlich ist bei dieser umfassenden Kinderbetreuungder Betreuungsschlüssel – bitte hören Sie auch hier zu! –noch zu hoch. Wichtig ist daher, die Qualität der Betreu-ung weiter auszubauen und hier Verbesserungen vorzu-nehmen.Wie wir alle wissen, ist Bildung eine Lebensaufgabe.In der frühkindlichen Bildung werden die Grundlagensowohl für die schulische Bildung als auch für die spä-tere berufliche Aus- und Weiterbildung gelegt, ganzgleich, ob eine duale oder eine akademische Karriere an-gestrebt wird. Ich freue mich sehr, dass wir es endlichgeschafft haben, hier ein Umdenken anzustoßen. Eineakademische Bildung ist nicht immer der Königsweg.
Nein, auch ein Gymnasiast kann eine erfolgreiche Karri-ere über eine berufliche Ausbildung erreichen.
Um den passenden Beruf zu finden, ist eine frühe undpraxisnahe Berufsorientierung an allen allgemeinbilden-den Schulen und damit auch an den Gymnasien ganzentscheidend. Auch hier liegt noch einiges vor uns.Durch Bildungsketten, Berufsorientierung und Ein-stiegsbegleitung wollen wir jedem einen erfolgreichenÜbergang von der Schule in eine individuelle, passendeberufliche Laufbahn ermöglichen. Gerade beim Über-gang von der Schule in den Beruf wünsche ich mir einenoch engere Vernetzung. Großes Potenzial sehe ich in ei-ner vertraglichen Zusammenarbeit zwischen den Berufs-agenturen, den Jobcentern, den Kommunen und den Ju-gendämtern in Form einer Jugendberufsagentur.Unser gemeinsames Ziel ist es, durch die individuelleUnterstützung jeden Einzelnen mitzunehmen. Maßgeb-lich soll mit der assistierten Ausbildung und der Aus-bildungsgarantie ein erfolgreicher Berufsabschluss fürjeden erreicht werden. Hier denke ich neben förderungs-bedürftigen und lernbeeinträchtigten Jugendlichen auchan die wichtige Gruppe der Migranten und Flüchtlinge.
Die konstruktive Zusammenarbeit aller Partner ist diegrundlegende Voraussetzung für ein niedrigschwelligesund durchlässiges Bildungssystem. Ich erwarte hierwertvolle Lösungsansätze aus der Allianz für Aus- undWeiterbildung.
Wenn wir dann noch eine enge und verlässliche Zu-sammenarbeit zwischen Bund und Ländern erreichenund die zusätzlichen Mittel vom Bund sachgerecht ein-gesetzt werden, sind wir auf einem guten Weg.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung auf der Drucksache 18/4086.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksache18/3546 mit dem Titel „Bildung in Deutschland gemein-sam voranbringen, Lehren aus dem nationalen Bildungs-bericht 2014 ziehen, Chancen der Inklusion nutzen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-probe! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussemp-fehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim-men der Opposition angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 18/3728 mit dem Titel „Bildungsverantwortunggemeinsam wahrnehmen – Konsequenzen aus dem Bil-dungsbericht ziehen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenprobe! – Wer enthält sich? – Damitist auch diese Beschlussempfehlung mit den Stimmender Koalition gegen die Stimmen der Fraktion Die Linkebei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an-genommen worden.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache18/3412 mit dem Titel „Bildung schafft Teilhabe undChancengleichheit – Empfehlungen des Nationalen Bil-dungsberichts 2014 zügig umsetzen“. Wer stimmt für
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8393
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Damit ist auch diese Beschlussempfehlungmit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen vonBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen worden.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten AndrejHunko, Azize Tank, Katja Kipping, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKE50 Jahre Europäische Sozialcharta – Deutsch-lands Verpflichtungen einhalten und die So-zialcharta weiterentwickelnDrucksache 18/4092Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazukeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in die-ser Debatte hat Andrej Hunko von der Linken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
26. Februar 1965 trat die Europäische Sozialcharta in
Kraft, nachdem Deutschland als fünftes Mitgliedsland
die Sozialcharta ratifiziert hatte. Ich glaube, das ist schon
ein Anlass, das zu feiern, zu würdigen und daran zu erin-
nern. Die Europäische Sozialcharta ist das erste völker-
rechtliche Dokument, das nicht nur politische Rechte,
sondern auch soziale Rechte verankert. Deutschland hat
sich verpflichtet, diese sozialen Rechte zu respektieren.
Wir fordern, dass das auch umgesetzt wird.
Es geht dabei unter anderem um das Recht auf Arbeit,
das Recht auf Koalitionsfreiheit, das Recht auf Kollek-
tivverhandlungen und das Recht auf soziale Sicherheit.
Aber wir müssen auch sagen: 50 Jahre nach Inkrafttreten
der Sozialcharta sind auch in Deutschland viele soziale
Rechte nicht gewährleistet.
Der Europäische Ausschuss für Soziale Rechte ist da-
für verantwortlich, die Umsetzung der Europäischen So-
zialcharta zu überprüfen. Dieser Ausschuss wird vom
Ministerkomitee für sechs Jahre gewählt. In seinen jähr-
lichen Berichten wird zum Beispiel – ich zitiere daraus,
weil Sie bestimmte Dinge ja infrage stellen – das einge-
schränkte Streikrecht in Deutschland kritisiert. Es wird
kritisiert, dass eine faire Bezahlung nicht immer gewähr-
leistet ist. Es wird kritisiert, dass Selbstständige viel zu
wenig abgesichert sind,
dass junge Auszubildende im dritten Ausbildungsjahr
keine Vergütung in Höhe von zwei Dritteln dessen be-
kommen, was ein Berufsanfänger erhält. Das sind einige
Beispiele für das, was der Europäische Ausschuss für
Soziale Rechte an Deutschland kritisiert. Wir fordern die
Bundesregierung auf, diese Kritikpunkte anzugehen. Sie
hat sich zur Einhaltung der Europäischen Sozialcharta
verpflichtet.
Im Jahre 2007 hat die Bundesregierung – auch damals
eine schwarz-rote, eine Große Koalition – die revidierte
Europäische Sozialcharta, die etwas weitergeht – sie
beinhaltet auch das Recht auf eine Wohnung und den
besonderen Schutz älterer Menschen –, unterzeichnet.
Aber jetzt, acht Jahre später, hat sie die revidierte Euro-
päische Sozialcharta immer noch nicht ratifiziert. 33 eu-
ropäische Länder haben sie ratifiziert. Wir fordern die
Bundesregierung auf, die revidierte Europäische Sozial-
charta endlich zu ratifizieren.
Um den Schutz sozialer Rechte wirklich zu gewähr-
leisten, hat der Europarat auch ein Zusatzprotokoll zur
Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden
unterzeichnet. Das ermöglicht zum Beispiel Gewerk-
schaften oder auch international anerkannten NGOs, so-
ziale Rechte beim Europäischen Ausschuss für Soziale
Rechte direkt einzuklagen. Auch dieses Zusatzprotokoll
ist von etlichen Staaten unterzeichnet und ratifiziert wor-
den. Auch hier steht die Ratifizierung in Deutschland
aus. Wir fordern, dass dieses Zusatzprotokoll endlich ra-
tifiziert wird.
Ich glaube, dass es auch in der gegenwärtigen Situa-
tion – Euro-Krise usw. – wichtig ist, an die besondere
Bedeutung des europäischen Sozialmodells zu erinnern.
Die Europäische Sozialcharta ist ein elementarer Be-
standteil dieses Sozialmodells. Wir wissen, es wird ge-
rade in der Krise infrage gestellt, zum Beispiel von der
ehemaligen Troika. Es ist wichtig, dass wir diese Sozial-
charta wieder auf die Agenda setzen und voranbringen.
Ich verweise auf den augenblicklich stattfindenden soge-
nannten Turin-Prozess. In Turin wurde die Europäische
Sozialcharta seinerzeit unterzeichnet. Der Generalsekre-
tär des Europarats fordert die Mitgliedstaaten auf, diesen
Prozess zu unterstützen. Auch ich fordere die Bundes-
regierung auf, daran teilzuhaben. Ich freue mich auf die
Debatte in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
Als nächster Redner spricht Dr. Pätzold von derCDU/CSU-Fraktion.
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8394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir debattieren heute 50 Jahre Europäische
Sozialcharta in der Bundesrepublik Deutschland. 1961
wurde dieses vom Europarat initiierte Abkommen be-
schlossen; 1965 wurde die Europäische Sozialcharta in
der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Es ist gut,
dass die Oppositionsfraktion Die Linke diesen Antrag
stellt; so können wir über dieses wichtige Thema hier de-
battieren.
Die Europäische Sozialcharta war bei ihrem Inkraft-
treten ein historischer Meilenstein, und sie hat noch
heute eine besondere Bedeutung. Das wird auch darin
deutlich, dass sich in dieser Charta die Grundsätze der
sozialen Marktwirtschaft und damit auch der katholi-
schen Soziallehre wiederfinden. Für uns war immer
wichtig, dass sich die Subsidiarität, die zu stärkende Ei-
genverantwortung, die Solidarität, der verantwortliche
Umgang miteinander sowie die Personalität, die Men-
schenwürde in ihr widerspiegeln.
Insgesamt gibt es 19 Grundrechte, die in der Europäi-
schen Sozialcharta fixiert sind; sieben davon sind bin-
dend. Ich möchte drei dieser Grundrechte kurz erwäh-
nen: das Recht auf Arbeit, das Koalitionsrecht und das
Fürsorgerecht. Das alles sind Punkte, die eine besondere
Bedeutung haben. Sie haben es schon angesprochen:
1996 startete ein erster Prozess, diese Sozialcharta wei-
terzuentwickeln. Unter anderem wurden folgende drei
Punkte diskutiert: Schutz vor Obdachlosigkeit, Schutz
vor Armut, kostenlose Sekundar- und Primarbildung.
2007 hat die Bundesregierung die revidierte Fassung der
Europäischen Sozialcharta zwar unterzeichnet, aber bis
heute liegt keine Ratifizierung vor. Das ist auch der
Grund für Ihren Antrag, der Grund dafür, dass wir da-
rüber diskutieren.
Sie haben beschrieben, dass es 47 Mitgliedstaaten im
Europarat gibt, von denen 33 die revidierte Fassung be-
reits ratifiziert haben. Da muss man natürlich unterschei-
den zwischen „auf dem Papier ratifiziert“ und der Frage,
wie es in der Praxis gelebt wird.
Wir erleben, dass Staaten wie Russland, wie die Tür-
kei, auch wie Aserbaidschan zu den 33 Staaten gehören,
die diese neue Charta ratifiziert haben, auch nur mit den
neuen Bestimmungen, aber die Bundesrepublik
Deutschland noch nicht. Nach Auskunft des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales, nach Auskunft
von Staatssekretär Asmussen, ist eine Ratifizierung noch
in dieser Wahlperiode geplant, und es ist geplant, die
Verbände, die davon betroffen sind, einzubeziehen und
einen Diskussionsprozess zu führen. Deswegen sehe ich
Ihren Antrag quasi als Anstoß dazu, dass sich die
Bundesregierung und auch wir Fraktionen uns damit
auseinandersetzen mit dem Ziel, dass es in dieser Wahl-
periode gelingt. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Ver-
bände, die davon betroffen sind, auch beteiligt werden.
An dieser Stelle geht es darum, eher gründlich als beson-
ders schnell zu sein. Es geht auch darum, die offenen
Punkte, die aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland
sehr kritisch angemerkt werden, miteinander zu diskutie-
ren und zu besprechen.
Es sind zwei Punkte, die wir als kritisch ansehen und
über die wir, glaube ich, noch einmal diskutieren müs-
sen. Das ist einerseits der sehr weite Diskriminierungs-
begriff, und das ist andererseits die Frage: Wie gehen wir
damit um, dass auch Beamte ein Streikrecht bekommen
sollen? Das könnte man aus dieser Sozialcharta ableiten.
Das sehen wir durchaus kritisch, weil wir in Deutschland
eine besondere Rolle der Beamten definiert haben. Be-
amte haben besondere Rechte, aber auch Pflichten. Dazu
gehört, dass sie nicht streiken dürfen. Daher brauchen
wir noch etwas Zeit, um das gemeinsam zu diskutieren.
Die Punkte, die Sie aufgegriffen haben, sind nach
meiner Auffassung nachvollziehbar. Es ist wichtig, sie
zu diskutieren. Das Einzige, was ich nicht nachvollzie-
hen konnte, ist das Thema Griechenland und die Verbin-
dung zur Europäischen Sozialcharta. Dazu wird gleich
meine Kollegin Katrin Albsteiger etwas sagen.
Ich finde es wichtig, dass wir den Diskussionsprozess
gemeinsam fortsetzen. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion wird sich weiterhin für die Europäische Sozialcharta
einsetzen.
Als nächster Redner hat Dr. Strengmann-Kuhn dasWort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kollege Pätzold, Sie haben deutlichgemacht, was für eine Bedeutung die Europäische So-zialcharta hat. Mir ist aber nicht ganz klar geworden, wa-rum die revidierte Sozialcharta, obwohl Deutschland sieunterschrieben hat, immer noch nicht zur Ratifizierungvorgelegt worden ist. Die beiden Punkte, die Sie genannthaben, müssen auch damals schon diskutiert wordensein. Warum es jetzt noch eine lange Diskussion mit Ver-bänden geben soll, aber nicht mit dem Bundestag zumBeispiel, leuchtet mir überhaupt nicht ein. Ich denke, dassollte schneller gehen. Legen Sie das endlich vor, damitdas hier tatsächlich ratifiziert werden kann!
Es ist nicht das einzige Beispiel, bei dem die Bundes-regierung bremst, wenn es um die Ratifizierung von in-ternationalen Abkommen geht. Wir haben das Beispieldes Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt, bei dem esähnliche Verzögerungen gibt. Insofern finde ich, dassDeutschland seiner internationalen Verantwortung stär-ker gerecht werden muss und nicht warten kann, bis33 andere Länder die Sozialcharta ratifiziert haben.
Außerdem ist es natürlich wichtig, dass auch die Be-richte des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechteernst genommen werden, wenn wir die Sozialchartaunterschrieben haben. Das hat der Kollege Hunko schon
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8395
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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erwähnt. Da gibt es in den verschiedenen Berichtendiverse Kritik an der Politik der BundesrepublikDeutschland, von den Sanktionen bei Hartz IV angefan-gen bis hin zur Diskriminierung von Frauen beim Ein-kommen. Ich glaube, dass das Punkte sind, die man ein-mal deutlicher öffentlich diskutieren sollte und zu denendie Bundesregierung und der Bundestag auch Stellungnehmen sollten.
Es ist gesagt worden: 47 Mitgliedstaaten. Es ist viel-leicht wichtig, noch einmal zu betonen: Es geht hiernicht um die Europäische Union, sondern um den Euro-parat. Es ist vielleicht gerade in diesen Zeiten nocheinmal zu betonen, dass Europa weitaus mehr ist als dieEuropäische Union. Aber auch innerhalb der Europäi-schen Union wird diese Regierung ihrer Verantwortungnicht gerecht. Das ist beim EU-2020-Prozess der Fall,wo es auf europäischer Ebene das Ziel der Armutsreduk-tion gibt. Wir finden gut, dass es ein quantifiziertes Zielgibt. Die letzte Bundesregierung hat gesagt: Wir akzep-tieren das Kriterium nicht. Wir denken uns ein neuesKriterium aus. – Die jetzige Bundesregierung bleibt da-bei. Das ist keine Art und Weise, miteinander vernünftigin der Europäischen Union umzugehen. Wenn man ge-meinsame Ziele und gemeinsame Kriterien hatte, sollteman sich auch an diese gemeinsamen Kriterien halten.
Auch bei der EU-Krisenpolitik ist die deutsche Bun-desregierung ihrer sozialen Verantwortung nicht gerechtgeworden. Die Krisenpolitik hatte eine klare sozialeSchieflage. Dies ist besonders deutlich in Griechenlandzu erkennen, aber nicht nur dort. Es ist nicht gelungen,die Reformen so auszugestalten, dass sie Armut be-kämpfen, dass sie sozial ausgewogen sind. In Griechen-land gibt es mit der neuen Regierung vielleicht eineChance, dass sich das etwas ändert. Die Liste der Maß-nahmen, die vorgelegt worden ist, ist für uns ermuti-gend. Ob sie umgesetzt wird, ist natürlich die Frage.Aber als Ziel steht dort, dass eine nationale Grundsiche-rung eingeführt werden soll, dass die Reicheren mehrSteuern zahlen sollen, dass eine Verwaltung aufgebautwerden soll, um die Vermögen zu erfassen. Hier gibt estatsächlich eine Chance. Es ist auch gut, dass es von derEuro-Gruppe und den drei Institutionen tatsächlich auchgewürdigt worden ist. Nichtsdestotrotz tut diese Bundes-regierung immer noch zu wenig für ein soziales Europa.Ich könnte noch viele Beispiele nennen: die Vertiefungder sozialen Dimension der Wirtschafts- und Währungs-union, der fehlende Einsatz für eine Mindesteinkom-mensrichtlinie.Insgesamt appelliere ich an die Bundesregierung:Nehmen Sie Ihre Verantwortung endlich wahr, sorgenSie dafür, dass die genannten Abkommen und Protokolleendlich ratifiziert werden, und leisten Sie einen stärkerenBeitrag für ein soziales Europa, denn das ist notwendigerdenn je!Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat Angelika Glöckner von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Auf Antrag der Grünen reden wir heute überdie Europäische Sozialcharta. Es gibt sie bereits seit54 Jahren. Sie ergänzt die Europäische Menschenrechts-konvention im Bereich der sozialen Grundrechte undumfasst neben dem Recht auf Arbeit, ordentliche Ar-beitsbedingungen und Arbeitsschutz auch Themen wieberufliche Ausbildung, gewerkschaftliche Vereinigungund die soziale Sicherheit im Allgemeinen, um nur ei-nige zu nennen.Die europäischen Staaten gelten als die Ursprungslän-der des Wohlfahrtsstaates. Deshalb ist es wenig verwun-derlich, dass die Menschen Europas und natürlich auchwir Deutsche einer umfassenden sozialen Sicherheit eineganz herausragende Bedeutung beimessen. Durch dieEuropäische Sozialcharta wurden erstmals sozialeRechte in einem völkerrechtlich verbindlichen Abkom-men beschlossen. Auch wenn die Europäische Sozial-charta in der öffentlichen Wahrnehmung meist hinter derEuropäischen Menschenrechtskonvention zurücksteht,belegt die Tatsache, dass 43 der 47 Mitgliedstaaten desEuroparates die Europäische Sozialcharta mittlerweileunterzeichnet haben, wovon wiederum 33 Mitgliedstaa-ten sie ratifiziert haben, die immense Bedeutung dieserKonvention. Sie ist die Grundlage dafür, dass sich dieSozialpolitiken und die sozialen Rechte in den StaatenEuropas angleichen, und dies auf hohem Niveau.Wie hoch die Bedeutung sozialer Rechte gerade auchfür die Zukunft Europas ist, zeigt sich ganz besonders imVerlauf der europäischen Wirtschaftskrise. In einer Zeit,in der sich die Arbeitslosigkeit in großen Teilen Europas– auch über den EU-Raum hinaus – auf lange unge-sehenen Rekordhöhen bewegt und hauptsächlich jungeMenschen davon betroffen sind, kommt sozialen Rech-ten eine ganz besondere Bedeutung zu. Nur wenn esgelingt, den Menschen ein soziales Auffangnetz zuspannen, damit sie nicht ins Bodenlose fallen, und esgleichzeitig gelingt, ihnen Perspektiven für ihre Zukunftaufzuzeigen, damit sie wieder Licht am Ende des Tun-nels sehen können, nur dann werden sie bereit sein, so-ziale Einschnitte bis auf das Nötigste zur Konsolidierungihrer Staatshaushalte und Volkswirtschaften hinzuneh-men. Dazu ist die Europäische Sozialcharta ein wichti-ger Beitrag. Sie hält die europäischen Staaten an, ihreSozialpolitiken auf hohem Niveau anzugleichen, geradeweil die Staaten Europas ihre Sozialpolitiken eigenstän-dig regeln. Hierbei kann und muss die Europäische So-zialcharta meines Erachtens als Maßstab dienen.Dieser Maßstab ist übrigens auch für Deutschland an-zulegen; denn die Charta wurde von Deutschland – daswurde schon gesagt – bereits 1961 unterzeichnet und1965 ratifiziert. Auch ich bin der Meinung, dass dienachgebesserte Fassung von 1996 mittelfristig durch dieBundesrepublik Deutschland ratifiziert werden sollte.
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8396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Angelika Glöckner
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Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung in der letztenGroßen Koalition im Jahr 2007 die Europäische Sozial-charta unterzeichnet. Auch wenn man wie Sie, verehrteDamen und Herren von der Linken, beklagt, dass derBundestag noch immer nicht darüber abgestimmt hat,darf man aber nicht vergessen, dass die Bundesrepublikdurchaus viele positive Beispiele setzt und im europäi-schen Vergleich sozialpolitisch als gutes Vorbild gilt. Zu-gang zu Bildung und Fortbildung, Kündigungsschutz,Mutterschutz, Elternzeitregelungen, Tarifautonomie, Mit-bestimmungsrechte für Betriebs- und Personalräte unddas Diskriminierungsverbot nach dem AGG sind in un-serem Land gute und gelebte Praxis.Als Gewerkschafterin bin ich davon überzeugt, dasssich das System der Sozialpartnerschaft in vielfältigerWeise bewährt hat, ja sogar einen Grundpfeiler der Sta-bilität unseres Landes darstellt. Hier gibt es natürlich im-mer auch Raum für Verbesserungen. Einer der zentralenKritikpunkte – es wurde darauf hingewiesen – war derfehlende Mindestlohn. Mit der Einführung des Mindest-lohns haben wir aber im Laufe dieser bisher nur kurzenLegislaturperiode einen Meilenstein erreicht und dazubeigetragen, dass 4 Millionen Menschen in unseremLand davon profitieren können.
Mit dem Elterngeld Plus ermöglichen wir Eltern einebessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Ren-tenpaket, das 2014 verabschiedet wurde, verbessert dieSituation von älteren Menschen, insbesondere von Frauen,die in ihrer Arbeitsbiografie wegen Mutterschaft und Erzie-hungszeiten öfter Unterbrechungen haben. Mit der Ein-führung der Mietpreisbremse werden wir für vieleMenschen in unserem Land sicheren und bezahlbarenWohnraum schaffen. Das alles ist gute Sozialpolitik,meine Damen und Herren.
All diese Entscheidungen werden sich unmittelbar posi-tiv auf das Leben vieler Menschen in unserem Land aus-wirken und ihre sozialen Rechte stärken.Was die Umsetzung sozialer Rechte angeht, kommenDeutschland und auch diese Koalition ihren Verpflich-tungen nach. Das soll aber nicht heißen, dass wir auf ei-nen Rahmen, wie ihn die Europäische Sozialcharta vor-gibt, nicht angewiesen sind. Es ist aber auch richtig, dassdas Bundesministerium für Arbeit und Soziales einge-hend prüft – das ist meiner Meinung nach zu begrüßen –,ob bereits beschlossene und bewährte Grundsätze undRegelungen, die soziale Rechte in Deutschland garantie-ren, durch eine Ratifikation der revidierten Fassung derEuropäischen Sozialcharta beeinflusst würden. Das istinsbesondere aufgrund des Querschnittcharakters vielerRegelungen der revidierten Fassung der EuropäischenSozialcharta geboten. Diese wirken sich grundlegend aufalle Schutzrechte der Europäischen Sozialcharta in derFassung von 1961 aus. Diese Prüfung muss meines Er-achtens eingehend und umfassend erfolgen und nimmtdaher auch ein geraumes Maß an Zeit in Anspruch.Diese Zeit möchte ich der Regierung und vor allem auchdem Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterFührung meiner Kollegin Andrea Nahles zugestehen.Am Ende dieser Prüfung muss aber noch in dieser Legis-laturperiode ein Ergebnis stehen.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Katrin
Albsteiger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Sozialpolitik gehört zu den Feldern, die weitgehendnationale Angelegenheit sind. Auch die EuropäischeUnion hat hier kaum Zuständigkeiten. Dadurch entstehtso eine Art Dilemma, und zwar deshalb, weil eine An-gleichung der Sozialsysteme, der Lebensstandards inEuropa durchaus wünschenswert ist und es dennoch ausguten Gründen keine gemeinsame Sozialpolitik der Eu-ropäischen Union gibt.
Die Sozialcharta des Europarats schafft hier eine ArtAbhilfe. Denn durch dieses Abkommen nähern sich dieEinzelstaaten trotz der Trennung der Sozialsysteme et-was mehr an. Die Europäische Sozialcharta hat durchihre Normen auch schon in der Vergangenheit durchausdeutliche Spuren hinterlassen, und genau das ist auch gutso.Die Europäische Sozialcharta trat, wie wir wissen,heute vor 50 Jahren in Kraft. Mit schöner Regelmäßig-keit – immer wenn ein neuer Jahrestag kommt, sei es derJahrestag der Unterzeichnung, der Ratifizierung oder desInkrafttretens – werden wir wieder mit solch einem An-trag konfrontiert und dürfen hier darüber debattieren.
Heute bemängeln Sie – trotz der Tatsache, dass wirdarauf hinarbeiten –, dass es immer noch keine Ratifizie-rung gibt bzw. dass sie noch nicht in der weitergehendenFassung vollzogen ist. Das ist so weit korrekt. Ichmöchte aber an dieser Stelle vorwegschicken: Man kannwirklich nicht behaupten, dass diese Große Koalition ge-rade in den sozialpolitischen Bereichen untätig gewesenist.
Wir haben auch in dieser Legislaturperiode schon eini-ges gemacht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8397
Katrin Albsteiger
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Wenn man sich das genauer anschaut, sieht man: Dasbetrifft den Mindestlohn,
die Rente mit 63, die weitere Unterstützung des Kita-ausbaus für die Kommunen,
die sinkenden Rentenbeiträge sowie Maßnahmen zumAbbau der Langzeitarbeitslosigkeit. All das sind schließ-lich konkrete Maßnahmen, die wir auch angegangensind. Man mag im Einzelnen durchaus unterschiedlicherMeinung sein, ob sie gut oder schlecht sind. Wir warenaber durchaus sozialpolitisch tätig.
Die Beschäftigung in Deutschland ist auf einemHöchststand. Dadurch kommt auch solch ein Ergebniszustande: 66 Prozent aller Deutschen schätzen ihre Si-tuation als eher zuversichtlich ein bzw. schauen eher mitgrößerer Zuversicht auf ihre Zukunft. Selbst gegenüberdem Jahr 2013 hat sich das noch positiv verbessert.Sie drängen jetzt auf eine Ratifizierung der revidier-ten Fassung der Europäischen Sozialcharta. Ich glaubeaber, dass wir uns an dieser Stelle nicht unbedingt immerso sehr unter Druck setzen lassen und beeilen müssen.Wir können es uns in unserer derzeitigen Lage durchausleisten, die Dinge mit aller Gründlichkeit anzugehen. Eswird streng genommen nichts passieren, egal ob wir da-für jetzt noch ein paar Wochen länger brauchen oder obwir diese Ratifizierung morgen vornehmen. Es gibt nuneinmal beispielsweise beim Thema Diskriminierungs-verbot noch Unstimmigkeiten. Da muss unsere Devisesein: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit, und das be-deutet, keine Schnellschüsse zu machen.Gründlichkeit bedeutet auch, dass wir die Sozialpart-ner einbinden. Das wünschen wir, ehrlich gesagt, stän-dig. Wir wünschen, dass wir mit den Verbänden und mitden betroffenen Interessenvertretern in die Diskussionkommen. Schließlich diskutieren wir auch heute darüber.Es kann also nicht die Rede davon sein, dass der Bun-destag niemals die Chance hätte, sich dazu zu äußern.Sie führen in Ihrem Antrag auch noch Griechenlandan. Dabei vermengen Sie die Situation in Bezug auf dieRatifizierung der Europäischen Sozialcharta des Europa-rats auf der einen Seite mit der Sparpolitik in Griechen-land. Daraus stricken Sie eine Verantwortung Deutsch-lands für die Verschlechterung der sozialen Standards inGriechenland. Mit anderen Worten: Die Bundesregie-rung – das sagen Sie bei jeder Debatte über Griechen-land – sei schuld daran, dass es den Griechen jetzt so vielschlechter geht als vorher.Wieder kann ich Ihnen an dieser Stelle sagen, dass ichda anderer Meinung bin. Mit mir ist natürlich auchmeine Fraktion anderer Meinung. Ich denke, es mussnoch einmal klar gesagt werden: Gerade der Sparkurs,den Griechenland durchlaufen muss, ist Voraussetzungdafür, dass es dort überhaupt noch soziale Mindeststan-dards geben kann. Wenn wir letzten Endes diesen Kursnicht verordnet hätten, wäre Griechenland längst pleite.Was das für die soziale Absicherung der Menschen indiesem Land bedeutet hätte, möchte sich sicherlich nie-mand ausmalen.
Es wurde an dieser Stelle auch schon gesagt: Deutsch-land ist ein Vorzeigeland, wenn es um hohe Sozialstan-dards geht. Der deutsche Sozialstaat ist, international ge-sehen, ein Synonym für ein gutes soziales Klima. WennSie sich Beschreibungen aus dem Ausland bzw. ausÜbersee anhören, wissen Sie ganz genau, dass wir fürviele andere Länder eine Wunschvorstellung bzw. einIdealmodell sind. Die Bundesregierung wird auch weiterdafür sorgen, dass wir das bleiben, dass wir weiterhin so-zialpolitisch das attraktivste Flächenland in Europa blei-ben. – Den Ratifizierungsprozess treiben wir noch inner-halb dieser Legislaturperiode voran.Vielen Dank.
Vielen Dank. Damit schließe ich die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/4092 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Feder-
führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union liegen soll. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
dann auch so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesfernstraßenmautgeset-
zes
Drucksache 18/3923
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze ein-
genommen haben, kann ich auch die Aussprache eröff-
nen. – Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Parlamentarische Staatssekretärin Dorothee Bär für
die Bundesregierung das Wort.
D
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem Thema Mautbegann unser Tag, und mit dem Thema Maut beschlie-ßen wir unseren Tag, also vom ersten Tagesordnungs-punkt bis zum letzten Tagesordnungspunkt, Alpha und
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8398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Parl. Staatssekretärin Dorothee Bär
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Omega – wenn das kein positives Vorzeichen ist, dannweiß ich auch nicht.
– Beides ist sehr gut. Ich hoffe, dass der KollegeHartmann zu mir etwas freundlicher ist als zum Ministerheute Morgen. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt aufseine Rede heute.Wir sprechen heute über die Stärkung der Verkehrsin-frastrukturfinanzierung durch die Ausweitung und Ver-tiefung der Lkw-Maut, über das sogenannte Dritte Ge-setz zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes.Das ist ein ganz wesentlicher Teil unseres Finanzie-rungshochlaufs. Wir haben verschiedene Parameter:5 Milliarden Euro Haushaltsmittel, die Einführung derInfrastrukturabgabe – die wir heute Morgen schon sehrausführlich diskutiert haben –, die sogenannten ÖPP-Modelle und die Erweiterung und Vertiefung der Lkw-Maut.Schaut man sich die Lkw-Mautdaten an, die derzeiterhoben werden, dann stellt man fest, dass die Lkw-Maut auf circa 12 800 Kilometern Bundesautobahnenund auf circa 1 200 Kilometern Bundesstraßen – derKollege Fischer darf auch zuhören, er kann auch nochetwas lernen –
und für Fahrzeuge ab einem zulässigen Gesamtgewichtvon 12 Tonnen erhoben wird.Ein aktuelles Wegekostengutachten, das vorliegt, hatuns quasi zu einer Reduktion der Mautsätze zum 1. Ja-nuar 2015 und zu einer Anlastung externer Luftver-schmutzungskosten gezwungen. Die abgesenkten Maut-sätze führen zu verringerten Einnahmen – von 2015 bis2017 wären das circa 460 Millionen Euro –, die uns fürdie Finanzierung der Infrastruktur fehlen. – Ich muss sa-gen: Meine Fraktion ist am unaufmerksamsten; ich weißauch nicht, warum.
Vielleicht wissen die schon alles. Vielleicht wurde meineRede vorher geleakt. Die anderen drei Fraktionen habenDisziplin. Vielleicht wollen sie mehr lernen; ich weiß esnicht. – Ich versuche es einfach noch mal: Um diesenEinnahmeausfall in Höhe von 460 Millionen Euro zukompensieren, müssen wir weitere Straßen und Fahr-zeuge in die Nutzerfinanzierung einbeziehen.In einem ersten Schritt wollen wir die Ausdehnungder Mautpflicht auf weitere 1 100 Kilometer der vier-streifigen Bundesstraßen vornehmen, und zwar schonzum 1. Juli 2015. Das würde einen Zuwachs des maut-pflichtigen Streckennetzes von ungefähr 8 Prozent, alsovon 14 000 Kilometern auf 15 100 Kilometer, bedeuten.Die Einnahmeerwartung von 2015 bis 2017 beträgt circa200 Millionen Euro.In einem zweiten Schritt wollen wir zum 1. Oktober2015 die Absenkung der Mautpflichtgrenze auf 7,5 Ton-nen zulässiges Gesamtgewicht vornehmen. Die Einnah-meerwartung von 2015 bis 2017 beträgt hier insgesamt675 Millionen Euro.Wir gehen insgesamt von etwa 170 000 Lkw – In-und Ausland – aus, die zusätzlich Maut zahlen. Es gibtweitere gesetzliche Neuerungen. Wir diskutieren derzeitüber eine Erweiterung der Achsklasseneinteilung vonbisher zwei Achsklassen auf zukünftig vier Achsklassen,weil aufgrund der Absenkung der Mautpflichtgrenze auf7,5 Tonnen die gewichtsmäßige Bandbreite mautpflich-tiger Fahrzeuge ansteigt. Die größere Bandbreite istdurch die bisherige Abstufung von nur zwei Achsklassen– auf der einen Seite bis drei Achsen, auf der anderenSeite vier und mehr Achsen – nicht mehr adäquat abzubil-den. Durch die Einführung von vier Achsklassen – zweiAchsen, drei Achsen, vier Achsen, fünf und mehr Ach-sen – wird die verursachungsgerechte Anlastung der We-gekosten besser gewährleistet.
Das ist auch aus gebührenrechtlichen Gründen ange-bracht, weil das dem sogenannten Äquivalenzprinzip desGebührenrechts entspricht. – Herr Krischer, auch Siedürfen aufpassen. Da Sie heute früh bei der Pkw-Mautnicht so gut aufgepasst haben, lohnt es sich vielleicht,jetzt bei der Lkw-Maut aufzupassen.
– Jetzt klatschen Sie; denn vorher habe ich Ihnen jakeine Gelegenheit dazu gegeben.
Den Anschiss dafür bekomme ich später. Aber dasmacht nichts. Dies ist ja der letzte Tagesordnungspunkt.Seitens des Bundesrates gibt es die Befürchtung, dasseine neue Achsklasseneinteilung Fehlanreize auslösenkönnte. Wir teilen diese Bedenken nicht. Wir sind derMeinung, dass Personal- und Kraftstoffkosten mit über50 Prozent einen gewichtigeren Anteil an den Gesamt-kosten haben, und gehen davon aus, dass die Unterneh-men bei wirtschaftlichen Entscheidungen alle Faktorenberücksichtigen.Eine große Rolle spielen die unterschiedlichen Nutz-lasten. Wir als Bundesregierung wollen ganz genau be-obachten, ob sich infolge der Mautänderung die Fahr-zeugflotten ändern. Das wird in den nächsten Monatensehr engmaschig kontrolliert werden. Die Ergebnisse,die abzuwarten sind, werden gegebenenfalls in ein neuesWegekostengutachten einfließen, weil wir alles daranset-zen wollen, Fehlanreize zu minimieren. Ich denke, da-rüber sind wir uns alle einig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8399
Parl. Staatssekretärin Dorothee Bär
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Insofern hoffe ich, dass wir bei der Lkw-Maut auf ei-nem guten Weg sind, und freue mich auf die weiterenBeratungen nach dieser ersten Lesung.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Herbert Behrens von der Lin-
ken das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir re-den heute das zweite Mal über die Maut, aber die Debat-tenzeiten stehen in einem ausgesprochenen Missverhält-nis. Heute Morgen haben wir 90 Minuten über eineSumme von möglicherweise 500 Millionen Euro – oderauch nicht – geredet, und heute Abend reden wir überzusätzliche Einnahmen von 350 Millionen Euro. Ichdenke, dies ist die angemessenere Debatte.Was die Gerechtigkeit betrifft, die heute Morgen inder Rede von Herrn Dobrindt eine Rolle spielte, müssenwir heute Abend nacharbeiten. Ich glaube, Gerechtigkeitwird dadurch hergestellt, dass wir eine Schlechterstel-lung verhindern. Bei der Pkw-Maut geht es um dieSchlechterstellung von Autos anderer europäischer Staa-ten, die wir verhindern müssen.Wir müssen uns auch fragen, wie wir mit den entspre-chenden Notwendigkeiten umgehen. Wir haben heuteMorgen über die Begriffe „Nutzerfinanzierung“ und„Verursacherprinzip“ gesprochen. Ich habe angemerkt,dass wir mit diesen Begriffen falsch umgegangen sind.Nutzerfinanzierung heißt: Jeder hat zu zahlen, wenn ereine bestimmte Leistung in Anspruch nimmt oder einebestimmte Straße nutzt. Das sagt aber noch nichts da-rüber aus, ob das System gerecht ist. Ja, das Verursacher-prinzip ist das gerechtere System, weil die Kosten dem-jenigen angelastet werden, der sie verursacht. Das heißt,wenn ich eine bestimmte Struktur in Anspruch nehme,dann zahle ich dafür, sei es direkt über die Maut, sei esüber Steuern.Das Verursacherprinzip bedeutet, dass diejenigen zah-len, die für Schäden an der Infrastruktur und an der Um-welt verantwortlich gemacht werden können. Der Anteilder Pkw-Fahrerinnen und -Fahrer an diesen Schäden istweit geringer als der Anteil der Lkw-Fahrer im Straßen-güterverkehr.Die Linke will das Verursacherprinzip stärken. Dazustehen wir.
Wir wollen auch erreichen, dass der Güterverkehr aufweniger umwelt- und infrastrukturzerstörende Verkehrs-träger wie Schiff und Bahn verteilt wird. Und wir begrü-ßen es, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, überden wir hier diskutieren, der Einstieg in die Ausweitungder Lkw-Maut vorgenommen wird.
Dieser Gesetzentwurf hat in seiner jetzigen Form al-lerdings Macken. Bislang gibt es zwei unterschiedlicheGebühren: für Lkws mit bis zu drei Achsen und fürLkws mit mehr als drei Achsen. Mit der Neueinteilungder Achsklassen in vier Gruppen kann bei den Spediteu-ren der Anreiz entstehen, beispielsweise zu überlegen,ob es nicht günstiger ist, mit einem Vierachser unter-wegs zu sein als mit einem Fünfachser, weil die Tonnagedann mit 2 Cent weniger pro Kilometer transportiertwerden kann. Der Bundesrat hat die Bundesregierungdeshalb aufgefordert, dies noch einmal genau zu prüfen.Die Bundesregierung sagt, dass sie im Weiteren die An-regung des Bundesrates prüfen wird; so heißt es in ihrerStellungnahme. Ich würde schon gern wissen, wann undwie denn geprüft werden soll, Frau Staatssekretärin. Ineinem Monat soll der Gesetzentwurf bereits verabschie-det werden. Es ist notwendig, glaube ich, dass wir so-wohl in der Anhörung als auch im Ausschuss die Ergeb-nisse dieser Überprüfung erfahren.Aber ich meine, die eigentliche Musik, Kolleginnenund Kollegen, spielt bei der Ausweitung der Maut aufalle Bundesstraßen, nicht bei der Ausländermaut. Dashier vorliegende dritte Lkw-Maut-Gesetz bringt – so dieBerechnung des Verkehrsministers – pro Jahr knapp350 Millionen Euro ein. Die Ausländermaut soll angeb-lich 500 Millionen Euro bringen. Wahrscheinlich kommtdabei aber gerade einmal eine schwarze Null heraus. DieMaut auf allen Bundesstraßen hingegen bringt 2 Milliar-den Euro jährlich mehr. Darum ist diesem Gesetz vielgrößere Aufmerksamkeit und viel größere Sorgfalt zuwidmen als dem anderen.
Der Verkehrsminister aber setzt diese Einnahmen aufsSpiel. Er will Toll Collect die Vorbereitungen für dieseAusweitung der Maut direkt zuschanzen. Das ist recht-lich hochproblematisch. Wenn Konkurrenten gegendiese Entscheidung klagen, dann wird es wesentlich spä-ter als Mitte 2018. Jeder Monat ohne Maut wird richtigteuer.Letzter Satz. Günstiger und besser wäre es gewesen,die sogenannte Call-Option zu ziehen, das heißt, denMautbetreiber Toll Collect in staatliche Hand zu über-nehmen. An dieser Bundesstraßenmaut wird sich derVerkehrsminister messen lassen müssen. Scheitert dieAusweitung auf alle Bundesstraßen oder verzögert siesich, dann ist auch der Minister gescheitert.
Dann hat er einen Milliardenschaden hinterlassen. Dasist nicht gut für die Infrastruktur. Darum ist es notwen-dig, mehr Sorgfalt, mehr Zeit und mehr Gewissenhaftig-keit auf diesen Punkt zu verwenden.Danke.
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8400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
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Als nächster Redner hat Sebastian Hartmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit derInfrastrukturabgabe beginnt es, mit der Lkw-Maut wirdes noch lange nicht enden. Deswegen: Vielen Dank fürdie Ausführungen an die Bundesregierung, Frau Staats-sekretärin, auf die ich mich sehr gerne beziehen möchte.Wir werden als Große Koalition deutlich mehr in denErhalt und die Sanierung der deutschen Infrastruktur in-vestieren. Wir werden das auf mehreren Wegen tun. Sowerden wir die Investitionen deutlich ausweiten. Wir er-höhen die Investitionen; das ist das erklärte Ziel der Gro-ßen Koalition. Wir tun das, indem wir die zwei Säulender Infrastrukturfinanzierung systematisch stärken. Dereine Teil kommt aus dem Haushalt, der andere aus derStärkung der Nutzerfinanzierung, also der Säule derLkw-Maut. Die Kolleginnen und Kollegen haben dasschon ausgeführt. Doch so einfach ist der Weg ebennicht. Wir gehen diesen Weg langsam, wir gehen ihn or-dentlich, und wir gehen ihn so genau, dass er rechts-sicher wird. Es ist das Risiko angesprochen worden, dassKonkurrentinnen und Konkurrenten klagen. Deswegengeht die Koalition den Weg, die Lkw-Maut in zweiSchritten auszuweiten.Am 1. Juli dieses Jahres werden wir weitere 1 100 Ki-lometer vierstreifige Bundesstraßen in die Lkw-Bemau-tung aufnehmen. Am 1. Oktober dieses Jahres werdenwir dann das Gesamtgewicht auf 7,5 Tonnen ablasten,sodass wir deutlich mehr Fahrzeuge in die Lkw-Mautaufnehmen. Doch das alles ist nur ein Zwischenschritt.Das erklärte Ziel ist es, alle Bundesstraßen in die Be-mautung hineinzunehmen. Darum müssen wir diesenSchritt jetzt gehen. Wir werden ihn so gehen, dass nichtdas Risiko einer Konkurrentenklage droht.
Erlauben Sie mir, weil das alles nicht so einfach ist,wie es möglicherweise erscheint, ein, zwei Anmerkun-gen zu diesem Punkt. Selbstverständlich ist es die Sachedes Ministers, über die Zukunft von Toll Collect zu ent-scheiden. Diese Entscheidung ist getroffen. Wir wissennun – Stichwort: Call-Option –, wie in den nächstenzwei, drei Jahren mit dem Unternehmen Toll Collectumgegangen wird. Es ist wichtig, dass wir hier Rechtssi-cherheit und Rechtsklarheit haben, um zu der Auswei-tung der Bemautung auf alle Bundesstraßen zu kommen;denn sie wird richtig viel Geld in die Kassen spülen. Dasist kein Geld, das man jemandem wegnimmt, sondernGeld, das vollumfänglich in den Finanzierungskreislaufder Straße reinvestiert wird, um unsere Straßen zu erhal-ten und zu sanieren und dem Gewerbe eine leistungsfä-hige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Das ist dasZiel der Großen Koalition, meine Damen und Herren.
Aber das Gewerbe hat auch Anspruch auf Verlässlich-keit. Wir haben an anderer Stelle vernommen, dass dieLkw-Maut nun ohne Not abgesenkt wird. Das stimmtnicht. Die Lkw-Maut orientiert sich an einer sehr ge-nauen Wegekostenrechnung. Diese Wegekostenrech-nung basiert auf einem europäischen Rechtsrahmen, unddiesen europäischen Rechtsrahmen schöpfen wir voll-umfänglich aus.
– Herr Krischer, Sie müssen sich an den Fakten orientie-ren! Wir sind hier nicht bei „Wünsch Dir was“, sondernbei „So isses“.
Auch wenn Sie hier regelmäßig erzählen, dass wir dieLkw-Maut ohne Not absenken, es stimmt nicht.
Das Gewerbe hat einen Anspruch darauf, dass wir dieWegekostenrechnung beachten. Wenn die Kapitalverzin-sung Grundlage der Anlagen in unserem Infrastruktur-vermögen ist und die Zinssätze in Europa sinken – waswir an der Stelle bedauern, weil das auch an allen ande-ren Ecken und Kanten ein Problem ist –, dann müssenwir im Sinne der Rechtssicherheit diesem UmstandRechnung tragen.
Die Kürzungen fielen viel dramatischer aus, wenn wirdie anderen Möglichkeiten der europäischen Rahmen-richtlinie – die Anlastung von Luftschadstoffen undLärm – nicht ausschöpfen würden. Das genau tun wir,um die Investitionslücke zu verkürzen und diesen Zwi-schenschritt zu gehen, bevor wir zur Ausweitung kom-men. Die Systematik der Wegekostenrechnung ist durch-zuhalten. Wir können die Kosten nicht beliebig anlasten;das geht nicht.Wir nehmen die Hinweise des Speditionsgewerbesernst. Wir achten darauf, was der Bundesrat in seinerStellungnahme aufgenommen hat. Und wir nehmen dasLob des Kollegen Behrens gerne an; vielen Dank fürIhre Unterstützung an dieser Stelle!
Ich glaube, dass nach einem hochemotionalen Start inden Tag heute Abend doch versöhnliche Töne angezeigtsind und wir uns gemeinsam auf den Weg der Stärkungder Säule der Nutzerfinanzierung machen können. DieEntscheidung, die wir hier treffen, ist nicht zu unter-schätzen. Wir wollen keine negative Lenkungswirkungerreichen, indem wir zum Beispiel durch eine unter-schiedliche Anlastung der Achsklassen vielleicht auslö-sen, dass im Gewerbe von Fünfachsern auf Vierachser
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8401
Sebastian Hartmann
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umgeswitcht wird und wir auf diese Art und Weise viel-leicht sogar mehr Belastung auf die Straße bekommen.Das müssen wir im Verfahren klären. Wir werden aucheine Anhörung bekommen. Wir werden uns mit den Hin-weisen und den Vorschlägen in aller Ruhe und aller Ord-nung auseinandersetzen. Es kann nicht darum gehen, zuriskieren, dass die Infrastruktur stärker verschleißt, son-dern darum, bei Verlässlichkeit für das Gewerbe rechts-sicher genügend Geld für den Erhalt und die Sanierungder Infrastruktur zu erlösen. Das wird unser Ziel sein,und das werden wir auch gemeinsam erreichen.
Ich habe schon ausgeführt, dass wir diesen Schrittjetzt als Zwischenschritt gehen. Dass wir Luftschad-stoffe und Lärm entsprechend anlasten, bedeutet, dasswir die Reduktion der Investitionslinie nicht so stark hin-nehmen, wie man es hätte tun können. Das ist auch,glaube ich, etwas, was wir im europäischen Vergleichnicht unterschätzen sollten. Jetzt bitte ich auch die Bun-desregierung um Aufmerksamkeit – ich darf das mal zu-rückgeben –; denn wir setzen auf Ihre tatkräftige Mit-hilfe. Sie müssen ja die europäische Rahmenrichtlinieverhandeln, wenn wir die externen Kosten vernünftiganlasten wollen. Dazu muss der europäische Rechtsrah-men jetzt erweitert werden, dass wir nicht nur 2018 alleBundesstraßen erfassen, sondern diese externen Kostentatsächlich eins zu eins abgebildet werden. – Ich glaube,was die Aufmerksamkeitskurve angeht, steht es jetztspätestens 1 : 1, Frau Kollegin Bär.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt noch ei-niges zu tun. Es wird auf das gute Zusammenspiel derParlamentarierinnen und Parlamentarier ankommen. Wirwerden das in gutem Einvernehmen mit der Bundesre-gierung tun. Ich danke für die Aufmerksamkeit undfreue mich auf die weiteren Beratungen.Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Wilms von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herzlichen Dank an die neu hinzugekommenen Zu-schauer, dass Sie noch dieser Debatte hier folgen wollen!Leider haben Sie das Beste verpasst: Heute Morgen hat-ten wir einen richtig schönen Schlagabtausch mit demMinister. Frau Bär, wo haben Sie den gelassen? Hat ersich nicht mehr hereingetraut heute Abend?
Wir kommen heute Abend zu dem entscheidendenPunkt; denn hier können wir wirklich ernsthaft Einnah-men generieren. Es geht um diejenigen, die uns die Stra-ßen kaputtklopfen: die Lkws. Wir Grüne fordern schonlange, dass wir uns endlich mit diesem System beschäfti-gen, statt mit Ihrer Ausländermaut, die wir heute Morgenbehandelt haben.Ihr Vorgehen in dieser Sache will sich mir aber nichterschließen. Sie wollen nur die Fahrzeuge ab 7,5 Tonnenbelasten. Damit bleibt eine Mautlücke zwischen3,5 Tonnen – die Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen wollen Sie jamit der Ausländer-Pkw-Maut erfassen – und 7,5 Tonnen.Die Sprinter lassen Sie also vom Mauthaken, bei denPkws wollen Sie abkassieren. Das ist irre und völlig kon-zeptionslos.
Außerdem nehmen Sie mit dem jetzt vorliegendenGesetzentwurf nur einen kleinen Teil der Bundesstraßenin den Blick: 1 100 Kilometer. Wir haben aber ein Bun-desstraßennetz von etwa 32 000 Kilometern. Stimmtdoch, Kollege Behrens, oder? Damit berücksichtigen Siehier weniger als 4 Prozent der Bundesstraßen. Das isteine echte Lachnummer, mit der wir uns heute hier be-schäftigen. Ich sage: Hier ist deutlich mehr drin, wennder Minister der Verkehrsruinen, den wir heute Morgenhier gesehen haben, und die Koalition es nur wirklichwollen.
Aber es geht ja noch weiter: Die jährlichen Mehrein-nahmen, die Sie durch den vorliegenden Gesetzentwurferwarten, Kollegin Bär – anscheinend ist Twitter interes-santer –, wurden bereits durch Ihre Mautsenkung imSommer 2014 zunichtegemacht. Jetzt haben wir einNullsummenspiel, anstatt mehr Mittel für den Erhalt ein-zunehmen; dabei brauchen wir dringend mehr Mittel fürunsere mittlerweile vorhandenen – das muss ich sagen –Verkehrsruinen.Wann nutzen Sie endlich das Potenzial Ihres Ministe-riums besser, um unsere Verkehrsinfrastruktur wirksamzu erhalten? Dann könnten Sie nämlich auf das Ver-scherbeln des Vermögens verzichten. Denn das wollenSie ja: Straßen, die einst mit Steuermitteln gebautwurden, wollen Sie durch Ihre teuren ÖPP-Projekte anprivate Investoren verscherbeln.
Mit der sinnvollen und dringend notwendigen Aus-weitung der Lkw-Maut auf Fahrzeuge ab 3,5 TonnenGewicht und auf alle Bundesstraßen würden Sie die der-zeitigen Mauteinnahmen beinahe verdoppeln. Das wäreendlich einmal eine echte verursachergerechte Finanzie-rung.
Die Straßen werden nämlich in aller Regel durch dieLkws und nicht durch die Pkws zerstört.
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8402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015
Dr. Valerie Wilms
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Oder fahren Sie alle mittlerweile kleine Lkws, werteKollegen?Sie von der Koalition verzichten aber lieber auf bis zu2,3 Milliarden Euro an zusätzlichen Nutzereinnahmenbei Ausweitung der Maut auf alle Bundesstraßen undschieben alle wichtigen Vorhaben zur Rettung unsererInfrastruktur auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Das ganzeMinisterium beschäftigt sich ein Jahr lang nur mit
– mit Twitter – diesem Unfug, dieser Pkw- bzw. Auslän-dermaut. Das ist typisch CSU: Sie besetzen ein Themamit bayerischem Lokalkolorit, wollen aber keine Verant-wortung für das Gesamtsystem Verkehr übernehmen.
Sie wollen das erst 2018 angehen. Dann läuft aber ge-rade der ohne Not von Ihnen verlängerte Vertrag mitdem heutigen Mautbetreiber Toll Collect aus. Schauenwir einmal, wie es dann läuft und ob wir dann wirklichnoch Mauteinnahmen haben; denn es kann ja durchausauch voll danebengehen, sodass wir nachher gar keineEinnahmen haben. Alle Experten haben Ihnen empfoh-len, schon jetzt Toll Collect zu übernehmen, also dieCalloption zu ziehen. Bei Ihnen geht aber Ideologie be-dauerlicherweise vor Verantwortung.
Es wird eine Rechnung mit vielen Unbekannten geben.Sie wissen nicht, wer nach 2018 die Lkw-Maut eintreibt.Sie wissen nicht, ob der neue Betreiber ab 2018 auch da-rauf vorbereitet ist, die Maut auf allen Bundesstraßeneinzutreiben. Die Probleme beim Start von Toll Collectdürften Ihnen doch nicht unbekannt sein. Da laufen im-mer noch Schiedsverfahren.So verspielen Sie die Zukunft für die Menschen undvor allem für die Wirtschaft. Beide brauchen funktions-fähige Verkehrswege und keine Ruinen. ÜbernehmenSie endlich Verantwortung für eine nachhaltige Ver-kehrspolitik! Werte Kollegin Staatssekretärin Bär, teilenSie das bitte auch Ihrem Minister mit.
– Vielleicht schon per Twitter; denn möglicherweise ister ja online dabei.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Oliver Wittke
von der CDU/CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wie schon heute Morgen, so haben auch heuteAbend die Vertreterinnen und Vertreter der Oppositionwieder versucht, der Koalition zu unterstellen, sie stellesich nicht den Herausforderungen für eine aktive Ver-kehrsinfrastrukturpolitik in unserem Land.
Der heutige Tag, lieber Herr Krischer und liebe Vertretervon den Linken, hat Sie Lügen gestraft.
Der heutige Plenartag, den wir mit einem ersten Tages-ordnungspunkt zur Infrastrukturabgabe für Pkws begon-nen haben und mit einem letzten Tagesordnungspunktzur Ausweitung der Lkw-Maut beenden, zeigt: So vielaktive Verkehrsinfrastrukturpolitik gab es in diesemParlament selten an einem Tag. Das ist Verdienst dieserKoalition.
Ich will Ihnen auch sagen, warum es eine glücklicheFügung ist, dass heute beide Themen an einem Plenartaggemeinsam beraten worden sind.Erstens. Wir wollen mehr Geld in die Verkehrsinfra-struktur investieren. Wir sagen sogar anders als Sie, HerrKrischer, woher das Geld kommen soll. Sie führen im-mer nur im Munde, dass Sie mehr Geld ausgeben wol-len, aber sagen nicht, wie das Geld in die Kasse kommensoll.
Zweitens. Wir wollen, dass die Nutzerfinanzierungauf der Straße weiter Gestalt annimmt, nicht nur bei denLkws, die ganz maßgeblich unsere Verkehrsinfrastrukturverbrauchen. Ich will nicht sagen, dass sie sie beschädi-gen; denn es handelt sich um einen normalen Verbrauch,einen normalen Verschleiß, wenn Straßen, die genau zudem Zweck, Verkehre aufzunehmen, gebaut wordensind, entsprechend genutzt werden.Wir werden in dieser Legislaturperiode die Ausgabenim Verkehrsbereich von 10 Milliarden Euro auf13,4 Milliarden Euro steigern. Das ist die höchste Stei-gerung, die wir jemals im Verkehrsbereich in der Bun-desrepublik Deutschland hatten. Bei der Straße werdenwir unsere Anstrengungen in dieser Legislaturperiodevon 5 Milliarden Euro auf 8,2 Milliarden Euro steigern.
Auch da wird es 3,2 Milliarden Euro mehr Geld geben.Das ist ein Rekord. Damit bringen wir die Verkehrsinfra-struktur wieder in Ordnung, die auch zu Zeiten grünerRegierungsbeteiligung arg vernachlässigt wurde. DieLeverkusener Rheinbrücke bröckelt ja nicht erst, seit-dem Alexander Dobrindt Bundesminister ist,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Februar 2015 8403
Oliver Wittke
(C)
(B)
sondern da haben grüne Verkehrsminister Schuld aufsich geladen. Da hätten Sie viel eher tätig werden kön-nen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, da sich sowohldie Kollegin Wilms als auch der Kollege Behrens heuteAbend wieder als Kassandra betätigt haben, will ich andieser Stelle eines feststellen: Auch wenn es bei der Ein-führung der Maut große Probleme gab und auch wenndas Schiedsgerichtsverfahren bis zum heutigen Tagenoch nicht beendet worden ist, können wir trotzdem fest-halten, dass die Maut in den letzten Jahren eine echte Er-folgsgeschichte war. Diese Erfolgsgeschichte werdenwir weiter fortsetzen.Über 40 Milliarden Euro Einnahmen haben wir gene-riert, seitdem die Lkw-Maut 2005 eingeführt wurde.Über 800 000 On-Board-Units sind eingebaut worden.Das zeigt, wie groß das Vertrauen der Nutzer in dieseTechnologie ist. Die Beanstandungsquote, das heißt dieAnzahl der Mautpreller und der Falschzahler, liegt unter1 Prozent. Wir haben nicht zuletzt einen wesentlichenBeitrag zur Schadstoffreduzierung geleistet; denn85 Prozent der Fahrleistung werden mittlerweile vonFahrzeugen mit der Euro-Norm 5 und 6 erbracht. Das istein Riesenerfolg. Auch das muss an dieser Stelle deut-lich gesagt werden.
Wir werden weiter voranschreiten, indem wir als Ers-tes weitere 1 100 Kilometer Bundesstraßen in die Mauteinbeziehen, um dann 2018 das gesamte Bundesstraßen-netz zu bemauten. Die Vorhaltungen, die Sie uns hiermachen, sind unseriös. Sie wissen nämlich ganz genau,dass es allein technisch zum 1. Juli dieses Jahres nichtmöglich ist,
egal mit welchem Anbieter und egal mit welcher Tech-nik, eine flächendeckende Maut auf deutschen Bundes-straßen einzuführen. Darum ist das, was Sie hier vorge-tragen haben, unseriös.
Es ist gut, dass wir auch die Lkw ab 7,5 Tonnen in dieMaut einbeziehen. Auch das ist ein weiterer Beitragdazu, dass sich die Nutzer unserer VerkehrsinfrastrukturStück für Stück an den Kosten beteiligen. Das wird biszum Ende dieser Legislaturperiode im Jahre 2017875 Millionen Euro Mehreinnahmen bringen, 875 Mil-lionen Euro, auf die wir nicht verzichten wollen und diewir dringend brauchen, um sie in unsere Verkehrsinfra-struktur investieren zu können.Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will noch eineletzte Bemerkung zum Thema Achsklassen machen. Wirtun uns nicht ganz so leicht darin, dem zu folgen, wasvon der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist. Wirhaben da noch Gesprächsbedarf, Frau Staatssekretärin.Das sage ich ganz offen. Wir stehen da ja auch in Ge-sprächen. Dabei haben für uns zwei Dinge absolutenVorrang:Erstens. Wir werden nicht auf Einnahmen verzichten.Zweitens. Wir brauchen eine rechtssichere, eine ge-richtsfeste Lösung. Wir wollen keine Fehlanreize schaf-fen. Ja, wir nehmen die Bedenken des Bundesrates ernst.Auch ich glaube, dass es zu Fehlanreizen kommen kann,wenn ein Vierachser niedriger bemautet wird als einFünfachser. Aber wir brauchen trotzdem eine Lösung,die am Ende tragfähig ist, also die nicht nur hier durchsParlament geht, sondern auch einer gerichtlichen Über-prüfung standhält.Darum werden wir uns im weiteren Verfahren küm-mern. Das ist ein ganz normaler Vorgang; da gibt es auchüberhaupt keinen Dissens zwischen den Koalitionsfrak-tionen und der Bundesregierung. Da müssen wir nurnoch ein Stück weit nacharbeiten. Damit werden wir unsauseinandersetzen. Auf diese Debatten und diesen Aus-tausch freue ich mich ganz besonders.Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeitund wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend. Ichwollte immer schon mal als Letzter in diesem HohenHause sprechen. Das ist mir heute gelungen.Vielen Dank.
Ganz ist Ihnen das nicht vergönnt, weil die Präsiden-
tin das letzte Wort hat.
Erstens wird die Debatte geschlossen.
Zweitens wird interfraktionell die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/3923 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 27. Februar 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen
schönen Abend.