Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte Ihnen vor Eintritt in unsere Tages-
ordnung mitteilen, dass interfraktionell vereinbart
wurde, die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 1, also
Außenpolitik, Europa und Menschenrechte, im An-
schluss an die Regierungserklärung im Umfang von
60 Minuten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit den
Tagesordnungspunkten 2 und 3 zu verbinden. Damit
werden die Bundeswehreinsätze im Rahmen der Man-
date OAF und OAE gesondert nach dem Tagesordnungs-
punkt 1 beraten. Die Dauer der Debatte soll für diese
beiden Punkte jeweils 25 Minuten betragen.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, den
Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung aus
der 17. Legislaturperiode auf der Drucksache 17/13674
federführend dem Ausschuss für Tourismus und zur Mit-
beratung dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie,
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend, dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infra-
struktur, dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit sowie dem Ausschuss für Kultur
und Medien zu überweisen. Ich hätte auch vortragen
können, an wen er nicht überwiesen werden soll. Sind
Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung durch die Bundeskanz-
lerin
mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung
5 Stunden und 30 Minuten, morgen 10 Stunden und
17 Minuten – vergessen Sie die Stoppuhr nicht – sowie
am Freitag 3 Stunden und 36 Minuten vorgesehen. – Ich
sehe überall helle Begeisterung. Dann können wir so
verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts deraktuellen Ereignisse lassen Sie mich bitte zu Beginn ei-nige Worte zur Lage in der Ukraine sagen. Durch denDruck der Demonstrationen werden jetzt ganz offen-sichtlich ernsthafte Gespräche zwischen dem Präsiden-ten und der Opposition über notwendige politischeReformen möglich. Der Bundesaußenminister, dasKanzleramt und die deutsche Botschaft in Kiew unter-stützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung desKonflikts und die berechtigten Anliegen der Oppositionmit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir ste-hen dazu auch in engem Kontakt mit der Hohen Beauf-tragten Lady Ashton und werden unsere Bemühungen inden nächsten Stunden und Tagen fortsetzen.Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EU-Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November inVilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sienicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren.
Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein,die auch uns in der Europäischen Union leiten, und des-halb müssen sie Gehör finden.Unverändert gilt, dass die Tür für die Unterzeichnungdes EU-Assoziierungsabkommens durch die Ukraineweiter offen steht. Und unverändert gilt, dass die Gefahreines Entweder-oder im Hinblick auf das Verhältnis derLänder der Östlichen Partnerschaft zu Europa oder zuRussland überwunden werden muss und – davon bin ichüberzeugt – in geduldigen Verhandlungen auch über-wunden werden kann. Genau dies haben auch der EU-Ratspräsident Van Rompuy und EU-Kommissionspräsi-dent Barroso gestern beim EU-Russland-Gipfel gegen-über dem russischen Präsidenten Putin noch einmal zumAusdruck gebracht. Auch die Bundesregierung wird diesgegenüber Russland unvermindert zum Ausdruck brin-gen, zum Wohle aller in der Region.
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Meine Damen und Herren, bevor wir nun auf dienächsten Jahre schauen, sollten wir kurz zurückblicken:auf den Beginn dieses Jahrhunderts. Damals galtDeutschland als der kranke Mann Europas. Die sozialeMarktwirtschaft, die unser Land im 20. Jahrhundertnachhaltig geprägt hat, wurde national wie internationalfast schon als Auslaufmodell angesehen. Manche mein-ten, dass unsere Wirtschafts- und Sozialordnung zu behä-big, zu altmodisch für die Anforderungen der Globalisie-rung im 21. Jahrhundert geworden sei. Und heute, zehnJahre später? Heute können wir feststellen: Deutschlandgeht es so gut wie lange nicht. Die Wirtschaft wächst,
die Beschäftigung ist auf dem höchsten Niveau seit derWiedervereinigung, die Menschen schauen so optimis-tisch in die Zukunft wie seit dem Fall der Mauer nichtmehr,
und von der sozialen Marktwirtschaft als Auslaufmodellspricht keiner mehr, von Deutschland als krankem MannEuropas erst recht nicht.Im Gegenteil: Deutschland ist Wachstumsmotor inEuropa, Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Wirsind rascher und stärker aus der weltweiten Wirtschafts-und Finanzkrise herausgekommen als andere. Wir tragenmaßgeblich dazu bei, dass die europäische Staatsschul-denkrise überwunden werden kann. Für diese Erfolgsge-schichte ist das Zusammenspiel der Sozialpartner ganzentscheidend, das Zusammenspiel der Arbeitgeber undder Gewerkschaften, das unserem Land gemeinsam mitklugen politischen Entscheidungen die Stabilität undStärke gibt, die heute notwendig sind. Sie sind notwen-dig, wenn wir den Anspruch haben, nicht einfach irgend-wie die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit zumeistern, sondern so, dass sich die Werte und InteressenDeutschlands und Europas auch in Zukunft im hartenweltweiten Wettbewerb behaupten können. Ich habe die-sen Anspruch, die Regierung der Großen Koalition hatdiesen Anspruch.Wir haben den Anspruch, nicht einfach irgendwie ausden weltweiten und europäischen Finanz- und Schulden-krisen herauszukommen, sondern stärker, als wir in siehineingegangen sind. Wir haben den Anspruch, nichteinfach irgendwie mit den großen Herausforderungenunserer Zeit beim Schutz unseres Klimas, beim Zugangzu Energie oder beim Kampf gegen die asymmetrischenBedrohungen fertigzuwerden, sondern so, dass wir unse-ren Werten und unseren Interessen gerecht werden.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtigerdenn je. Längst hat die Globalisierung unsere Welt auchim Kleinen erfasst. Heute leben über 7 Milliarden Men-schen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstand teilha-ben. Als Exportnation sind wir auf vielfältige Weise mitanderen Nationen verflochten. Niemand kann sich mehrdarauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blickzu haben, und wenn er es doch tut, dann schadet er überkurz oder lang sich selbst.In den 50er-Jahren hatte nur 1 Prozent der Weltbevöl-kerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren. Heutewird über die Hälfte aller Menschen über 70 Jahre alt.Schon diese eine Zahl gibt uns eine Ahnung vom Aus-maß der demografischen Entwicklung, mit der ja auchgerade Deutschland umzugehen lernen muss.Die digitalen Möglichkeiten und das Internet verän-dern unser Leben rasant. Sie schaffen schier unendlicheKommunikations- und Informationsformen, haben aberauch eine kaum absehbare Wirkung auf den Schutz des-sen, was privat und persönlich sein und bleiben sollte.Es versteht sich von selbst: Mit der globalen und digi-talen Dynamik unserer Zeit müssen wir Schritt halten.Mehr noch: Ein Land wie Deutschland, größte undstärkste Volkswirtschaft Europas, muss an ihrer Spitzestehen und auch stehen wollen, und zwar nicht um unsihr zu unterwerfen, sondern um die Chancen erkennenund auch nutzen zu können, die ohne jeden Zweifel inihr stecken. Das gilt für unsere Forscher und Entwickler,das gilt für unser Bildungssystem, das gilt für unsere Un-ternehmen und Arbeitnehmer, und das gilt für unsere Artder Energieversorgung.Mit dieser Dynamik Schritt zu halten, an der Spitzeder Entwicklung zu stehen, das ist eine der großen politi-schen wie ethischen Gestaltungsaufgaben unserer Gene-ration. Sie kann nur mit einem Kompass gelingen. Die-ser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft,
weil sie immer mehr war als eine Wirtschaftsordnung,weil sie als Wirtschafts- und Sozialordnung wirtschaftli-che Kraft und sozialen Ausgleich miteinander verbindet.Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihrePrinzipien zeitlos gültig sind und sie doch mit der Zeitgehen und weiterentwickelt werden können, wie dies mitder ökologischen und der internationalen Dimension un-seres Lebens gelungen ist.Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weilsie wie keine zweite Wirtschafts- und Sozialordnung denMenschen in den Mittelpunkt stellt. Genau darum hat eszu gehen: um den Menschen im Mittelpunkt unseresHandelns.
Das leitet mich seit meinem Amtsantritt im November2005 in meinem Verständnis als Kanzlerin aller Deut-schen und aller in Deutschland lebenden Menschen,gleich welcher Herkunft, das leitet mich auch in Zu-kunft, und das leitet die Regierung der Großen Koalitionvon CDU, CSU und SPD.
Eine Politik, die nicht den Staat, nicht Verbände, nichtPartikularinteressen, sondern den Menschen in den Mit-telpunkt ihres Handelns stellt, eine solche Politik kanndie Grundlagen für ein gutes Leben in Deutschland undEuropa schaffen.
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Die Quellen des guten Lebens sind Freiheit, Rechts-staatlichkeit, politische Stabilität, wirtschaftliche Stärkeund Gerechtigkeit. Die Regierung der Großen Koalitionwill die Quellen des guten Lebens allen zugänglich ma-chen, das bedeutet, allen bestmögliche Chancen zu eröff-nen.
Im Zweifel handeln wir für den Menschen. Bei jeder Ab-wägung von großen und kleinen Interessen, bei jedemErmessen: Die Entscheidung fällt für den Menschen.
So dienen wir den Menschen und unserem Land. Wir ge-stalten Deutschlands Zukunft – um es mit dem ebensoeinfachen wie klaren Motto des Koalitionsvertrages vonCDU, CSU und SPD zu sagen.Dabei setzen wir erstens auf solide Finanzen, zwei-tens auf Investitionen in die Zukunft unseres Landes,
drittens auf die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zu-sammenhalts, viertens auf die Fähigkeit Deutschlands,Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen.Diese vier Punkte sind nicht hierarchisch gegliedert. Siestehen gleichrangig nebeneinander. Ohne solide Finan-zen könnten wir keine Zukunft gestalten. Ohne gezielteInvestitionen in die Zukunft unseres Landes bliebe Spa-ren Selbstzweck. Ohne die Stärkung unseres gesell-schaftlichen Zusammenhalts ginge unserem Land vielesvon seiner sozialen Stabilität verloren, die ja gerade einGarant unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist. Ohne die Fä-higkeit Deutschlands, Verantwortung in Europa und derWelt zu übernehmen, schadeten wir unseren Partnernwie uns selbst, unseren Werten und Interessen, wir scha-deten uns politisch und ökonomisch.Es ist doch gerade erst etwas mehr als fünf Jahre her,dass wir erlebt haben, wohin die verantwortungslosenExzesse der Märkte, Überschuldung und eine mangel-hafte Regulierung der internationalen Finanzmärkte füh-ren können. Wir haben erlebt, dass dies mit einemSchlag gravierende Auswirkungen auf alle Staaten die-ser Erde hatte, auch auf Deutschland. Wir mussten da-mals einen der schlimmsten Wirtschaftseinbrüche, denschlimmsten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland, verkraften. Es ist das blei-bende Verdienst der damaligen Koalition von CDU,CSU und SPD, Deutschland 2009 gemeinsam mit denSozialpartnern so rasch, so erfolgreich durch diese Krisegeführt zu haben.
Einen nachhaltigen Erfolg kann Deutschland abernicht alleine haben. Eine Politik, die den Menschen inden Mittelpunkt ihres Handelns stellt, setzt deshalb allesdaran, dass alle, dass die ganze Welt die Lektionen ausdieser damaligen Krise lernt. Eine davon ist und bleibt:Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und keinFinanzplatz darf ohne angemessene Regulierung blei-ben;
Finanzakteure müssen durch die Finanztransaktionsteuerzur Verantwortung gezogen werden.
Auch in der internationalen sozialen Marktwirtschaft istnämlich der Staat der Hüter der Ordnung. Deutschlandübernimmt Verantwortung in Europa und der Welt, da-mit sich genau diese Einsicht, dass der Staat Hüter derOrdnung ist, durchsetzen kann.
Dazu sind Fortschritte bei der Regulierung der Finanz-märkte unverzichtbar, und zwar Fortschritte, die diesenNamen auch wirklich verdienen, wenn wir das Verspre-chen einhalten wollen, das wir den Menschen gegebenhaben. Das ist das Versprechen, dass sich eine solch ver-heerende weltweite Finanzkrise nicht wiederholen darf.Das bedeutet, in einem Satz gesagt: Wer ein Risiko ein-geht, der haftet auch für die Verluste, und nicht mehr derSteuerzahler.
Manches ist erreicht. Vieles ist zu tun. Deshalb sind dieRegelungen für eine Bankenunion in Europa so wichtig;denn bei der Sanierung und Abwicklung von Banken hatfür uns die Einhaltung einer klaren Haftungskaskadeeine zentrale Bedeutung.Meine Damen und Herren, wir alle müssen verstehen,dass es mehr denn je nicht mehr ausreicht, nur auf die ei-gene Kraft und Stärke zu setzen. Konkret heißt das:Auch Deutschland ist auf Dauer nur stark, wenn auchEuropa stark ist; auch Deutschland geht es auf Dauer nurgut, wenn es auch Europa gut geht. Doch ich kann unsauch heute nicht ersparen, darauf hinzuweisen: Auchwenn die europäische Staatsschuldenkrise nicht mehrtäglich die Schlagzeilen bestimmt, müssen wir doch se-hen, dass sie allenfalls unter Kontrolle ist. Dauerhaft undnachhaltig überwunden ist sie damit noch nicht. Wir ha-ben zwar eine Wirtschafts- und Währungsunion, in dernationale Entscheidungen jeweils Auswirkungen auf alleanderen Mitgliedstaaten der Währungsunion haben, aberwir haben auch eine Währungsunion, deren wirtschafts-politische Koordinierung nach wie vor überaus mangel-haft gestaltet ist. Ohne entscheidende Fortschritte, ohneeinen Quantensprung hier werden wir die europäischeStaatsschuldenkrise nicht überwinden. Wir werden viel-leicht irgendwie mit ihr zu leben lernen, aber unserenPlatz an der Spitze der globalen Entwicklung werden wirso nicht halten können. So werden wir nicht stärker ausder Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangensind. Doch nur das kann Europas Anspruch sein: nach derKrise stärker zu sein als vor der Krise; und weil das so ist,dürfen wir der trügerischen Ruhe jetzt nicht trauen. Ja, esist wahr: Europa ist auf dem Weg zu Stabilität und Wachs-tum bereits ein gutes Stück vorangekommen. Wahr istaber auch, dass wir uns unvermindert anstrengen müssen,um Vorsorge für die Zukunft zu treffen.
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Dafür müssen wir die Wirtschafts- und Währungs-union vertiefen und damit das nachholen, was bei ihrerGründung versäumt wurde: der Währungsunion eineechte Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen.
Hierfür müssen wir auch die europäischen Institutionenstärken. In einer echten Wirtschaftsunion werden wir umein Mehr an Verbindlichkeit nicht herumkommen. Ichbin überzeugt: Dazu müssen auch die EU-Verträge wei-terentwickelt werden.Das Ziel ist ein Europa, das seine Kräfte bündelt unddas sich auf die großen Herausforderungen konzentriert.Alle europäischen Politiken, die Energie- und Klima-politik, die Gestaltung des Binnenmarktes, die Außen-handelsbeziehungen, müssen sich daran messen lassen,ob sie zur Stärkung der europäischen Wirtschaftskraftund damit auch zu Wohlstand und Beschäftigung beitra-gen oder nicht. Denn sie bilden zusammen mit den natio-nalen Reformanstrengungen die Grundlage, um neuesWachstum und dauerhafte Beschäftigung für die Bürge-rinnen und Bürger Europas zu schaffen.Auch die europäische Politik muss den Menschen inden Mittelpunkt des Handelns stellen. Sie soll den Alltagder Menschen einfacher machen und nicht schwerer. Siesoll die Rahmenbedingungen für Engagement, Eigenini-tiative und Unternehmertum verbessern und nicht beein-trächtigen. Deshalb muss gelten: Wer Europa will undwer will, dass es Europa gut geht, der muss bereit sein,Europa stabiler, bürgernäher, stärker, einiger und gerech-ter zu machen,
und der muss natürlich zu Hause seine Hausaufgabenmachen.Deutschland macht seine Hausaufgaben. Der Bundhat bereits seit 2012 – und damit früher als vorgesehen –die Vorgaben der Schuldenbremse eingehalten. Für 2014ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt vorgesehen.Ab 2015 wollen wir ganz ohne Nettoneuverschuldungauskommen. Solch ein Ende der Neuverschuldung nachJahrzehnten, in denen wir geradezu selbstverständlichJahr für Jahr immer neue Schulden gemacht haben, istnicht nur Ausdruck solider Finanzen, es ist vielmehr einzentrales Gebot der Gerechtigkeit und damit gelebte so-ziale Marktwirtschaft.
Das ist nur zu schaffen, wenn wir bei unseren Ausga-ben klare Prioritäten setzen und konsequent in die Zu-kunft investieren. Wir müssen uns dabei immer wiedervor Augen führen, dass die Bürgerinnen und Bürger un-seres Landes unser Gemeinwesen nur dann akzeptieren,wenn sie sich auch vor Ort auf funktionierende Struktu-ren verlassen können. Deshalb entlastet der Bund dieKommunen auch in Zukunft: in diesem Jahr, indem ernunmehr vollständig die Grundsicherung für ältere Men-schen übernimmt, und in den Folgejahren, indem er sichschrittweise an der Eingliederungshilfe bis zu einerHöhe von 5 Milliarden Euro beteiligt.
Die Gespräche mit den Ländern in den Koalitionsver-handlungen haben im Übrigen einmal mehr deutlich ge-macht, dass die Bund-Länder-Finanzbeziehungen ganzgrundsätzlich einer Neuordnung bedürfen, und zwar ver-bunden mit einer klaren Aufgabenzuordnung an Bund,Länder und Kommunen.
Die Bundesregierung wird bis zum Sommer einen Vor-schlag machen, wie die dazu notwendigen Gesprächegeführt werden können.Meine Damen und Herren, dass unsere Haushaltslageso gut ist, verdanken wir natürlich ganz entscheidendauch der guten wirtschaftlichen Entwicklung und denMillionen Beschäftigten, Selbstständigen und Unterneh-men, die zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung beige-tragen haben. Das hat zu einem neuen Rekord an Steuer-einnahmen geführt. Auch deshalb ist die Politik es denMenschen schuldig, zu zeigen, dass wir mit dem aus-kommen, was wir einnehmen, und dass wir keine Steu-ern erhöhen oder neue einführen.
Trotz aller Erfolge dürfen wir aber unsere Händenicht in den Schoß legen.
Denn unser Land braucht auch in Zukunft eine starkeWirtschaft und eine hohe Beschäftigungsrate. Dafürschafft die Regierung der Großen Koalition die notwen-digen Voraussetzungen, zum Beispiel indem wir dieStruktur der Bundesregierung an einer zentralen Stelleverändert haben: Wir haben die Kompetenzen von Wirt-schaft und Energie in einem Ministerium gebündelt. Wirhaben uns dazu entschieden, weil wir überzeugt sind,dass unser Wohlstand nur mit einem starken industriel-len Fundament aus großen und mittelständischen Unter-nehmen gesichert werden kann, dessen unabdingbareVoraussetzung eine umweltfreundliche, sichere und be-zahlbare Energieversorgung ist – für unsere Unterneh-men genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger.
Deutschland hat den Weg der Energiewende einge-schlagen. Deutschland hat sich entschieden, eine Abkehrvom jahrzehntelangen Energiemix – einem Energiemixaus vornehmlich fossilen Energieträgern und Kernener-gie – zu vollziehen. Es gibt kein weiteres vergleichbares
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Land auf dieser Welt, das eine solch radikale Verände-rung seiner Energieversorgung anpackt. Diese Entschei-dung wird von der überwältigenden Mehrheit der Deut-schen unterstützt.Doch machen wir uns nichts vor: Die Welt schaut miteiner Mischung aus Unverständnis und Neugier darauf,ob und wie uns diese Energiewende gelingen wird.Wenn sie uns gelingt, dann wird sie – davon bin ichüberzeugt – zu einem weiteren deutschen Exportschla-ger. Und auch davon bin ich überzeugt: Wenn dieseEnergiewende einem Land gelingen kann, dann ist dasDeutschland.Bis 2050 wollen wir 80 Prozent unseres Stroms auserneuerbaren Energien erzeugen. Schon heute haben dieerneuerbaren Energien an der Stromerzeugung einenAnteil von 25 Prozent, der bis 2025 auf 40 bis 45 Pro-zent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent ansteigen soll.Mit diesem Ausbaukorridor können wir ganz harmo-nisch das Ausbauziel von 80 Prozent erreichen – aller-dings nur, wenn gleichzeitig unsere Industrie im welt-weiten Wettbewerb bestehen kann und Strom für alleerschwinglich bleibt.
Mit einem Anteil von 25 Prozent an der Stromerzeu-gung haben die erneuerbaren Energien heute ihr Ni-schendasein verlassen. Bis dahin war es sinnvoll, siedurch die Umweltpolitik zu fördern. Jetzt aber müssensie als zunehmend tragende Säule der Stromerzeugungin den Gesamtenergiemarkt integriert werden. Maßstabfür den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen Plan-barkeit und Kosteneffizienz sein. Deshalb muss der Aus-baukorridor auch verbindlich festgeschrieben werden.Die einzelnen Formen der erneuerbaren Energien müs-sen so schnell wie möglich marktfähig werden; ihr Aus-bau und der Ausbau der Transportnetze müssen Hand inHand gehen.Wir sehen: Das ist eine Herkulesaufgabe; das bedarfeiner nationalen Kraftanstrengung. Gerade auch deshalbhabe ich davon gesprochen, dass die Große Koalitioneine Koalition für große Aufgaben ist. Und wenn es einepolitische Aufgabe gibt, bei der nicht Partikularinteres-sen im Mittelpunkt zu stehen haben, sondern derMensch, dann ist das die Energiewende.
Sie kann nur gelingen, wenn alle – Bund, Länder, Ge-meinden, Verbände, jeder Einzelne – über ihren Schattenspringen und nur eines im Blick haben: das Gemein-wohl. Aber dann – davon bin ich überzeugt – wird dieEnergiewende auch gelingen; dann wird sie ein weiteresBeispiel gelebter ökologischer und sozialer Marktwirt-schaft sein.Das Kabinett hat die dazu vom Bundeswirtschafts-minister vorgelegten Eckpunkte beschlossen. Sie sindGrundlage für den Gesetzentwurf zur Novelle des Er-neuerbare-Energien-Gesetzes, die am 9. April im Kabi-nett verabschiedet und bis zur Sommerpause auch inBundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.Zusammen mit dem Netzausbau und mit Entscheidun-gen über Kraftwerksreserven zur Sicherung der Energie-versorgung entsteht daraus der Rahmen zur Umsetzungder Energiewende.Die Bundesregierung wird sich in den anstehenden si-cherlich nicht einfachen Beratungen um eine breiteMehrheit bemühen; denn ich bin davon überzeugt: Jegrößer die Mehrheit, desto größer ist auch die Akzeptanzbei den Bürgerinnen und Bürgern. Zeit haben wir aller-dings nicht zu verlieren: Wir müssen parallel alles dafürtun, dass unsere Entscheidungen auch in Brüssel akzep-tiert werden. Gleichzeitig müssen wir die Energiewendein eine anspruchsvolle nationale und europäische Kli-mastrategie einbetten. Es ist gut, dass die Kommissionmit dem ambitionierten 40-Prozent-CO2-Reduktionszieldie Vorreiterrolle Europas im internationalen Klima-schutz noch einmal unmissverständlich unterstrichenhat.Deutschland wird sich auch mit ganzer Kraft für dieVerabschiedung einer international verbindlichen Klima-konvention einsetzen. Gemeinsam mit Frankreich arbeitenwir für einen Erfolg der internationalen KlimakonferenzEnde 2015 in Paris, damit am Ende eine verbindlicheRegelung für die weltweite Reduktion von Treibhausga-sen ab 2020 gefunden wird.Wir setzen uns auch für einen funktionierenden Emis-sionshandel in Europa ein, damit umweltfreundlicheKraftwerke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerkeendlich wieder eine faire Chance auf den Märkten erhal-ten.Um im Baubereich zu einer Gesamtstrategie zu kom-men, in die auch der Klimaschutz integriert ist, hat dieBundesregierung den Umweltschutz und den Baubereichin einem Ministerium gebündelt. So können wir unserenationalen Klimaziele auch in den Bereichen der Ener-gieeffizienz und der Gebäudesanierung erreichen. ImÜbrigen können unsere Wirtschaft und unser Handwerkdavon profitieren. Umweltschutz, die ökologische undsoziale Marktwirtschaft schafft Arbeitsplätze.Meine Damen und Herren, vor einem Jahrzehnt, als5 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos waren,hatten viele Zweifel, ob und inwieweit eine der jahr-zehntelangen großen Gewissheiten der sozialen Markt-wirtschaft auch in Zukunft noch ihre Berechtigunghaben würde, nämlich die Gewissheit, dass es den Ar-beitnehmern dann gut geht, wenn es dem eigenen Be-trieb auch gut geht. Die Auswirkungen der Globalisie-rung hatten dieses Grundvertrauen ins Wanken gebracht.Reformen, zuvor jahrelang verzögert oder vermieden,wurden unumgänglich. Es folgte die Agenda 2010 derRegierung Schröder, auf die dann weitere Reformen derGroßen Koalition von 2005 bis 2009 und der anschlie-ßend christlich-liberalen Bundesregierung fußten. DasErgebnis dieser Reformen: Heute hat unser Land mehrBeschäftigte als je zuvor.
Die Arbeitslosigkeit liegt unter 3 Millionen; die Jugend-arbeitslosigkeit ist die geringste in Europa.
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Aber es gibt auch Schattenseiten. Aus der unverzicht-baren Flexibilisierung des Arbeitsrechts sind neue Mög-lichkeiten des Missbrauchs entstanden. Schon die christ-lich-liberale Bundesregierung hat einige davon beseitigt,aber die Große Koalition wird weitere Korrekturen vor-nehmen müssen.
Konkret geschieht das in der Leiharbeit, deren Dauerauf maximal 18 Monate beschränkt wird. Die gleicheBezahlung eines Leiharbeiters wie die eines Beschäftig-ten der Stammbelegschaft hat jetzt nach spätestens9 Monaten zu erfolgen, und beim Abschluss von Werk-verträgen ist in Zukunft der Betriebsrat zu informieren.
Es ist die gemeinsame Überzeugung von CDU, CSUund SPD, dass derjenige, der voll arbeitet, mehr habenmuss, als wenn er nicht arbeitet.
Niemand, der ein Herz hat, ist deshalb schnell bei derHand damit, das Instrument eines Mindestlohns rund-weg abzulehnen. Doch jeder, der ein Herz hat, muss abergenauso sicherstellen,
dass der so nachvollziehbare Wunsch nach würdiger Be-zahlung nicht Menschen, die heute Arbeit haben, in dieArbeitslosigkeit führt.
Die Koalitionsverhandlungen um einen gesetzlichenMindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 haben alleFacetten dieses Dilemmas behandelt. Das Ergebnis istein Kompromiss, bei dem – das sage ich aus voller Über-zeugung – die Vorteile die Nachteile überwiegen.
Der Mindestlohn von 8,50 Euro wird ab Anfang 2015gelten. Allerdings haben wir vereinbart, dass Tarifver-träge, die mit einer Lohnuntergrenze von weniger als8,50 Euro vereinbart wurden, bis Ende 2016 weitergel-ten können. Im Laufe dieses Jahres können solche Tarif-verträge noch abgeschlossen werden. Ich sage ganz aus-drücklich: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben damitalle Freiheit und Möglichkeit, genau davon dort Ge-brauch zu machen, wo immer dies zum Erhalt von Ar-beitsplätzen notwendig ist.Derartige Tarifverträge können in Zukunft in einemvereinfachten Verfahren für allgemeinverbindlich erklärtwerden, da sie im öffentlichen Interesse sind. Dadurchwird im Übrigen auch die Tarifpartnerschaft, ein We-sensmerkmal der sozialen Marktwirtschaft, wieder ge-stärkt, und sie muss in einigen Bereichen gestärkt wer-den.
Eine starke soziale Marktwirtschaft braucht interna-tional wettbewerbsfähige Unternehmen. Wir wissen ausunseren Erfahrungen, dass das besonders gut funktio-niert, wenn Frauen und Männer gleiche Chancen haben.
Deshalb werden wir für Aufsichtsräte von voll mitbe-stimmungspflichtigen und börsennotierten Unterneh-men, die ab 2016 neu besetzt werden, eine Quote vonmindestens 30 Prozent Frauen einführen. Jahrelangesgutes Zureden hat nicht geholfen. Deshalb müssen wirdiesen Schritt jetzt gehen.
– Nein, große Vorfreude.
Meine Damen und Herren, unsere sozialen Siche-rungssysteme gehören zu den besten der Welt. Damitdies auch in Zukunft so bleibt, müssen sie sowohl denErwartungen der heutigen Generation als auch den An-forderungen zukünftiger Generationen entsprechen. Siemüssen also der demografischen Entwicklung unseresLandes standhalten. Diesem Ziel dient die schrittweiseEinführung der Rente mit 67 bis zum Jahr 2029. Heutehaben bereits deutlich mehr Menschen im Alter zwi-schen 55 und 65 Jahren eine Chance auf dem Arbeits-markt als noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklungmuss fortgesetzt werden.
Dennoch – das sollten wir nicht vergessen – habenwir bei der Einführung der Rente mit 67 bereits diejeni-gen vom Anstieg der Lebensarbeitszeit ausgenommen,die 45 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung ge-zahlt haben. Diese Regelung werden wir jetzt modifizie-ren. Wir werden für Menschen mit 45 Beitragsjahreninklusive des Bezugs von Arbeitslosengeld I eine ab-schlagsfreie Rente mit 63 Jahren, aufwachsend dann bisAnfang der 30er-Jahre auf 65 Jahre, einführen. Ich fügehinzu: In der Zwischenzeit müssen wir dafür Sorge tra-gen, dass sich auch die Beschäftigungschancen langjäh-rig Beschäftigter weiter deutlich verbessern.
Wir wollen im Übrigen nicht länger die Augen davorverschließen, dass viele Frauen eine gerechte Anerken-nung der Leistungen für die Erziehung der Kinder an-mahnen. Wie ist die Lage heute? Heute werden für die
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nach 1992 geborenen Kinder drei Jahre im Rentenrechtanerkannt, für die davor geborenen Kinder nur ein Jahr.Das ist in den Augen vieler nicht gerecht.
Eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt ih-res Handelns stellt, muss und will das verändern. Wir ha-ben in den letzten Jahren große Anstrengungen für dieVereinbarkeit von Familie und Beruf unternommen: denAusbau der Kitaplätze, verbesserte Möglichkeiten fürflexible Arbeitszeiten, die Einführung des Elterngeldsmit Vätermonaten. In dieser Legislaturperiode werdenwir die Teilzeitarbeit der Eltern durch das ElterngeldPluserleichtern und den Ausbau der Kitaplätze fortsetzen.Mütter, die vor 1992 ihre Kinder geboren haben, hattennicht annähernd so gute Bedingungen für die Vereinbar-keit von Beruf und Familie. Deshalb wollen wir diesenMüttern, über 9 Millionen Frauen, im Rentenrecht we-nigstens ein Jahr mehr für die Anerkennung ihrer Erzie-hungsleistung anrechnen lassen.
Wegen der guten Beschäftigungssituation kann dieRentenversicherung diese Aufgabe zurzeit erfüllen. Wirwissen aber: Mittelfristig werden wir einen Teil durchweitere Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt ergän-zen.
Außerdem werden wir die Renten im Falle von Er-werbsunfähigkeit verbessern. Das ist unerlässlich. DennErwerbsunfähigkeit ist heute eine der Hauptursachen fürAltersarmut. Sie wissen: Wir haben heute genau diesesGesetzespaket auf den Weg gebracht und zur parlamen-tarischen Beratung überwiesen.
Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich vorallem an ihrem Umgang mit Schwachen.
Sie zeigt sich in den Situationen, in denen Menschen aufSchutz und Hilfe angewiesen sind: wenn sie alt sind undwenn sie krank sind. Der medizinische Fortschritt er-möglicht immer neue Heilungs- und Behandlungsmög-lichkeiten. Unsere Lebenserwartung steigt stetig an, undgleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Pflege an-gewiesen. Jeder muss die medizinische Versorgung be-kommen, die er braucht, und jeder Mensch muss inWürde sterben können. Das sind die zentralen Aufgabender Politik für unser Gesundheits- und Pflegesystem.Die Bundesregierung will dafür Sorge tragen, dass diemedizinische Versorgung verbessert wird, insbesonderebei der Versorgung mit Fachärzten. Jeder muss schnellund gut behandelt werden. Die hohe Qualität unserermedizinischen Versorgung muss auch in Zukunft geradeim ländlichen Raum gesichert werden. Dabei spielt dieEntwicklung der Telemedizin im Übrigen eine zentraleRolle.Für die Pflege werden wir die Leistungen in dennächsten vier Jahren um insgesamt 25 Prozent gegen-über heute steigern. Die zusätzlichen Mittel werden wirinsbesondere erstens für die Verbesserung der pflegeri-schen Leistungen einsetzen – dabei werden wir gleich-zeitig die Bürokratie mindern –, zweitens für eine bes-sere Ausbildung und Bezahlung der Pflegekräfte nutzen,um den vielerorts herrschenden Pflegenotstand abzu-bauen,
und drittens für den Aufbau einer demografischen Re-serve verwenden, um zukünftige Generationen vor zuhohen Belastungen zu schützen.
Auch werden wir Hospize und die Palliativmedizin stär-ken.Doch bei allem dürfen wir zu keiner Zeit vergessen:Immer noch leisten Familienangehörige die meiste Pfle-gearbeit. Sie gehen dabei oft bis an die Grenzen ihrerKräfte, nicht selten darüber hinaus. Sie sind die stillenHelden unserer Gesellschaft.
Das zeigt einmal mehr: Die Familien sind das Herzstückunserer Gesellschaft. Deshalb arbeiten wir für verlässli-che und gute Rahmenbedingungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Ver-änderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft garan-tieren auf Dauer nur Investitionen in Forschung und Bil-dung die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unseresLandes im globalen Wettbewerb. Wir müssen in vielenBereichen zu den Besten der Welt gehören. Deshalb in-vestieren wir 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts inForschung und Entwicklung und gehören damit inEuropa, allerdings nicht unbedingt immer weltweit, zuden führenden Ländern.Unsere Hightech-Strategie setzt Maßstäbe für dieSpitzenforschung. Der Bund will seinen Anteil von3 Prozent für die Forschung auch in den nächsten Jahrenhalten. Der Bund wird aber zusätzlich auch die Länderentlasten, indem wir den Aufwuchs bei den Mitteln fürdie außeruniversitäre Forschung voll übernehmen, alsoauch den Länderanteil, und uns erstmalig auch an derGrundfinanzierung der Universitäten beteiligen werden,um den Abstand zwischen außeruniversitärer Forschungund universitärer Bildung und Forschung nicht zu großwerden zu lassen.
In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die ein Hoch-schulstudium aufnehmen, auf über 50 Prozent gestiegen.Das ist erfreulich. Aber die Bundesregierung wird in die-ser Legislaturperiode gerade auch der anderen Säule un-seres Bildungssystems, der dualen Berufsausbildung, be-
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sonderes Augenmerk zukommen lassen. Sie ist einMarkenzeichen unserer sozialen Marktwirtschaft.
Wir wollen den Ausbildungspakt zu einem Pakt fürAus- und Weiterbildung fortentwickeln, an dem sich ne-ben den Arbeitgebern in Zukunft auch die Gewerkschaf-ten wieder beteiligen sollen. Ohne hervorragend ausge-bildete Menschen ist Deutschland kein wirtschaftlichstarkes Land.In den nächsten Jahren werden immer weniger jungeMenschen in Deutschland ins Berufsleben eintreten. Dasheißt, wir müssen jedem jungen Menschen die Chanceauf eine gute Bildung sichern. Das beginnt beim Ausbauder Kindertagesstätten, an dem der Bund sich weiter be-teiligen wird. Das setzt sich fort mit unserer Initiative„Chance Beruf“, die der Bund zu einem flächendecken-den Angebot ausweiten will. Wir führen den Hochschul-pakt fort. Studienabbrecher bekommen in Zukunft dieChance, auch eine duale Berufsausbildung zu machen.Junge Menschen über 25, die noch keine abgeschlosseneBerufsausbildung haben, sollen eine zweite Chance be-kommen.
Dies ist auch eine zentrale Aufgabe unserer Integra-tionspolitik. Auf dem Integrationsgipfel in diesem Jahr– so haben wir es besprochen – werden wir uns schwer-punktmäßig mit der Ausbildung von Migrantinnen undMigranten befassen. Auch werden wir jungen Menschenmit Migrationshintergrund unser Willkommen in Deutsch-land dadurch verdeutlichen, dass wir bei der Staatsbür-gerschaft die Optionspflicht für in Deutschland geboreneund aufgewachsene Jugendliche abschaffen.
Es ist im Übrigen ein Gebot unserer sozialen Markt-wirtschaft, dass gerade die Jüngeren der ja immer nochfast 3 Millionen Arbeitslosen eine berufliche Perspek-tive bekommen; denn wenn sie das in jungen Jahrennicht bekommen, wird es über Jahrzehnte schwierig fürsie. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass esmir schon Sorge bereitet, dass die Zahl der Langzeitar-beitslosen wieder steigt. Dem müssen wir zusammen mitder Bundesagentur für Arbeit entgegenwirken. Der Bundverwendet jährlich mehr als 30 Milliarden Euro für dieBekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder hiernicht benötigte Euro kann für Zukunftsprojekte verwen-det werden.Zusätzlich müssen wir natürlich weiter offen fürFachkräfte aus dem Ausland sein. Deutschland wird dieMöglichkeiten nutzen und nutzen müssen, die die Frei-zügigkeit in Europa bietet.
– Deutschland wird die Möglichkeiten nutzen, die dieFreizügigkeit in Europa bietet.
Dennoch – auch das gehört hierher – dürfen wir die Au-gen vor ihrem möglichen Missbrauch nicht verschließen.
Es bedarf einer Klärung, wer aus dem europäischen Aus-land unter welchen Bedingungen Anspruch auf Sozial-leistungen hat. Angesichts völlig unterschiedlicher So-zialsysteme in den Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion darf es durch das Prinzip der Freizügigkeit nichtzu einer faktischen Einwanderung in die Sozialsystemekommen.
Ob sich hier aus der Rechtsprechung des EuropäischenGerichtshofs nationaler oder europäischer Handlungsbe-darf ergibt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Dies istaber auch nicht auszuschließen, weil deutsche GerichteVorlagen in dieser Sache an den Europäischen Gerichts-hof gegeben haben. Deshalb hat die Bundesregierung ei-nen Staatssekretärsausschuss unter Federführung desInnen- und des Sozialministeriums gebildet, der die offe-nen Fragen klären wird und mit heute schon besondersbetroffenen Kommunen Hilfsmöglichkeiten des Bundesbespricht.
Als Land in der Mitte Europas ist Deutschland aufeine funktionierende Infrastruktur zwingend angewie-sen. Wir haben entschieden, das Verkehrsministerium zueinem Infrastrukturministerium auszubauen. Wir werdenin die klassischen Verkehrsstrukturen allein aus Bundes-mitteln bis 2017 5 Milliarden Euro mehr investieren.Wir werden die streckenbezogene Nutzungsgebühr fürLkw ausweiten. Für ausländische Pkw werden wir eineGebühr auf Autobahnen einführen, ohne dass der deut-sche Fahrzeughalter stärker als heute belastet wird.
– Warten Sie es doch einfach mal ab!
Bis dahin gibt es doch auch noch eine Menge andererSachen zu tun. Also wirklich!
– Einfach noch mal zuhören.Erweitert werden die Zuständigkeiten des Verkehrs-ministeriums um die Aufgaben der digitalen Infrastruk-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 569
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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tur. 2018 soll jeder Deutsche Zugang zum schnellenInternet haben. Hier geht es nicht einfach um ein techni-sches Ziel, hier geht es gerade für Menschen im ländli-chen Raum um gleichwertige Chancen zur Teilhabe anBildung, medizinischer Versorgung und wirtschaftlicherTätigkeit.
Dazu werden wir alle Kräfte zum Netzausbau in einerNetzallianz bündeln. Die europäischen und internationa-len Investitionsbedingungen müssen verbessert werden.Dies ist unerlässlich, wenn wir uns klarmachen, welchtechnologischer Unterschied schon heute in vielen Be-reichen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika,asiatischen Ländern und Europa besteht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir spüren immermehr, welch tiefgreifendem Wandel unsere Gesellschaftdurch die Digitalisierung ausgesetzt ist. Bildung, Ausbil-dung, der Arbeitsalltag, die industrielle Produktion ver-ändern sich. Informationen aus der ganzen Welt sind inSekunden verfügbar. Die Kommunikation der Menschenist schier grenzenlos. Daten über jeden Einzelnen kön-nen in beliebigem Umfang gespeichert werden. Wir wol-len, dass das Internet eine Verheißung bleibt; deshalbwollen wir es schützen.
– Ja, wir wollen, dass es für die Menschen, so wie esheute viele erleben, eine Verheißung bleibt.Allerdings heißt das: Wir wollen es schützen vor Zer-störung von innen durch kriminellen Missbrauch unddurch intransparente, allumfassende Kontrolle von au-ßen.
Der bisherige rechtliche Rahmen für eine vernünftigeBalance von Freiheit und Sicherheit – das ist offensicht-lich geworden – reicht nicht mehr aus. Einen internatio-nalen Rechtsrahmen gibt es noch nicht. Das heißt, wirbetreten Neuland.
Jeder Einzelne von uns ist davon betroffen.Deshalb wird die Bundesregierung in diesem Jahr un-ter der gemeinsamen Federführung des Innen-, des Wirt-schafts- und des Infrastrukturministeriums eine digitaleAgenda erstellen und im Laufe der Legislaturperiodeumsetzen. Wir arbeiten an einer europäischen Daten-schutzgrundverordnung mit Hochdruck. Aber wir achtendabei sehr darauf, dass der deutsche Datenschutz durchdie Vereinheitlichung des europäischen Datenschutzesnicht unverhältnismäßig geschwächt wird.
Mit großer Wucht sind wir vor einem halben Jahrdurch Informationen von Edward Snowden über die Ar-beitsweise der amerikanischen Nachrichtendienste mitFragen der Datensicherheit konfrontiert worden. Nie-mand, der politische Verantwortung trägt, kann ernsthaftbestreiten, dass die Arbeit der Nachrichtendienste fürunsere Sicherheit, für den Schutz unserer Bürgerinnenund Bürger unverzichtbar ist. Niemand, der politischeVerantwortung trägt, kann ernsthaft bestreiten, dass dieArbeit der Nachrichtendienste im Zeitalter asymmetri-scher Bedrohung, für die der 11. September exempla-risch steht, noch wichtiger als ohnehin schon gewordenist. Gerade um diese Gefahren bannen zu können, istnicht nur die Arbeit unserer eigenen Dienste von großerBedeutung für uns, sondern ebenso die Zusammenarbeitmit Nachrichtendiensten unserer Verbündeten und Part-ner.Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass wirgerade unseren amerikanischen Partnern wertvolle Infor-mationen verdanken. Umgekehrt leisten innerhalb dieserinternationalen Kooperation auch unsere eigenenDienste wertvolle Beiträge. Das Parlamentarische Kon-trollgremium wird jeweils darüber unterrichtet. Aberniemand, der politische Verantwortung trägt, kann auchernsthaft bestreiten, dass das, was wir seit einem halbenJahr über die Arbeit insbesondere der amerikanischenNachrichtendienste zur Kenntnis nehmen müssen, ganzgrundsätzliche Fragen aufwirft.Es geht um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Esgeht darum, in welchem Verhältnis zur Gefahr die Mittelstehen, die wir dann wählen, um dieser Gefahr zu begeg-nen. Die Bundesregierung trägt Verantwortung für denSchutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Anschlägenund Kriminalität, und sie trägt Verantwortung für denSchutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Angriffenauf ihre Privatsphäre. Sie trägt Verantwortung für unsereFreiheit und Sicherheit. Seit jeher stehen Freiheit und Si-cherheit in einem gewissen Konflikt zueinander. Siemüssen durch Recht und Gesetz immer wieder in der Ba-lance gehalten werden.Wir kennen das in Deutschland ja zu gut aus unserenlangen Diskussionen um Wohnraumüberwachung undVorratsdatenspeicherung. Kann es also richtig sein, dassunsere engsten Partner wie die Vereinigten Staaten vonAmerika oder Großbritannien sich Zugang zu allendenkbaren Daten mit der Begründung verschaffen, diesdiene der eigenen Sicherheit und der Sicherheit der Part-ner? Wir hätten also auch etwas davon. Kann es richtigsein, dass man auch deshalb so handele, weil andere aufder Welt es genauso machten? Kann es richtig sein,wenn es zum Schluss gar nicht mehr allein um die Ab-wehr terroristischer Gefahren geht, sondern darum, sichauch gegenüber Verbündeten, zum Beispiel für Verhand-lungen bei G-20-Gipfeln oder UN-Sitzungen, Vorteile zuverschaffen – Vorteile, die nach meiner jahrelangen Er-fahrung sowieso völlig zu vernachlässigen sind?
Unsere Antwort kann nur lauten: Nein, das kann nichtrichtig sein.
Denn es berührt den Kern dessen, was die Zusammen-arbeit befreundeter und verbündeter Staaten ausmacht:Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für Frieden undFreundschaft zwischen den Völkern. Vertrauen ist erst
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570 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeterStaaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittelheiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auchgemacht wird, verletzt Vertrauen; es sät Misstrauen. AmEnde gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.
Darüber reden wir mit den Vereinigten Staaten vonAmerika. Ich bin überzeugt, dass Freunde und Verbün-dete in der Lage und willens sein müssen, Grundsätze ih-rer Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Abwehrvon Bedrohungen zu vereinbaren, und zwar in ihrem je-weils eigenen Interesse.Die Vorstellungen sind heute weit auseinander. Vielesagen, die Versuche für eine solche Vereinbarung seienvon vornherein zum Scheitern verurteilt, ein unrealisti-sches Unterfangen. Mag sein. Mit Sicherheit wird dasProblem nicht schon durch eine Reise von mir gelöstund abgeschlossen sein.
Mit Sicherheit wäre auch der Abbruch von Gesprächenin anderen Bereichen, wie etwa denen über ein transat-lantisches Freihandelsabkommen, nicht wirklich hilf-reich. Auch andere sogenannte Hebel, wie es in diesenTagen so oft heißt, die Amerika zum Umdenken zwin-gen könnten, gibt es nach meiner Auffassung nicht.Trotzhaltungen haben im Übrigen noch nie zum Erfolggeführt.
Ich führe – und das mit allem Nachdruck – diese Gesprä-che mit der Kraft unserer Argumente, nicht mehr undnicht weniger. Aber ich glaube, wir haben davon gute.
Der Weg ist lang; aber lohnend ist er allemal. Denndie Möglichkeiten der digitalen Rundumerfassung derMenschen berühren unser Leben im Kern. Es handeltsich deshalb um eine ethische Aufgabe, die weit über diesicherheitspolitische Komponente hinausweist. Milliar-den Menschen, die in undemokratischen Staaten leben,schauen heute sehr genau, wie die demokratische Weltauf Bedrohungen ihrer Sicherheit reagiert, ob sie in sou-veräner Selbstsicherheit umsichtig handelt oder ob sie anjenem Ast sägt, der sie in den Augen genau dieser Mil-liarden Menschen so attraktiv macht – an der Freiheitund der Würde des einzelnen Menschen.
Doch bei allen Konflikten, bei allen Enttäuschungen,bei allen Interessenunterschieden werde ich wieder undwieder deutlich machen: Deutschland kann sich keinenbesseren Partner wünschen als die Vereinigten Staatenvon Amerika. Die deutsch-amerikanische und die trans-atlantische Partnerschaft sind und bleiben für uns vonüberragender Bedeutung.
Zusammen sind wir in Afghanistan im Einsatz.Deutschland ist bereit, sich auch nach 2014 an der Aus-bildung der Sicherheitskräfte und am wirtschaftlichenAufbau des Landes zu beteiligen. Voraussetzung ist, dassPräsident Karzai – das sage ich allerdings mit allemNachdruck; ich habe es neulich auch persönlich demPräsidenten gesagt – das Sicherheitsabkommen mit denUSA und der NATO unterzeichnet.Deutschland beteiligt sich an Einsätzen im Kosovo,vor den Küsten Somalias und des Libanon oder in Mali.Das Mandat in Mali zur Ausbildung malischer Sicher-heitskräfte wollen wir nicht nur fortsetzen, sondern auchverstärken.Hinzu kommt die Frage, wie Deutschland seinen Ver-bündeten Frankreich gegebenenfalls bei der europäischenÜberbrückungsmission in der Zentralafrikanischen Repu-blik unterstützen kann; ich sage: gegebenenfalls. Hierbeigeht es nicht um einen deutschen Kampfeinsatz, sondernallenfalls um unsere Fähigkeit zur Rettung und Behand-lung Verwundeter.Immer gilt: Kein Konflikt kann allein militärisch ge-löst werden. Das leitet die Bundesregierung. DeutscheAußen- und Sicherheitspolitik setzt auf die Vernetzungmilitärischer und ziviler Mittel, und darin sehen wir unsin den letzten Jahren noch mehr bestärkt.2015 übernimmt Deutschland die G-8-Präsidentschaft.In dem Jahr werden die Vereinten Nationen neue Ent-wicklungsziele festlegen. Unsere Präsidentschaft wirddeshalb auch im Zeichen dieser Neuausrichtung der Ent-wicklungsziele stehen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, nicht Parti-kularinteressen stehen im Mittelpunkt unseres Handelns,sondern der Mensch steht im Mittelpunkt.
Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft. Damitsetzen wir auf solide Finanzen, Investitionen in die Zu-kunft, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammen-halts und Deutschlands Fähigkeit, Verantwortung inEuropa und der Welt zu übernehmen – für unsere Werteund für unsere Interessen und in dem Bewusstsein, dasssie sich weltweit stets aufs Neue behaupten müssen.Es ist in diesem Jahr 100 Jahre her, dass der ErsteWeltkrieg ausbrach. Er war die erste große Katastrophedes 20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte:der Zivilisationsbruch der Schoah und der Beginn desZweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.Die anschließend folgende europäische Einigung, dieuns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, er-scheint aus dieser Perspektive wie ein Wunder. Wir le-ben heute in einer politischen Ordnung, in der nicht wievor 100 Jahren wenige in geheimer Diplomatie die Ge-schicke Europas bestimmen, sondern in der alle 28 Mit-gliedstaaten gleichberechtigt und im Zusammenwirkenmit den europäischen Institutionen die Dinge zum Wohl
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 571
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der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam gestalten. DasEuropäische Parlament, das gut 375 Millionen Men-schen im Mai neu wählen werden, und die nationalenParlamente sorgen für die notwendige demokratischeLegitimität und Öffentlichkeit.Vor 65 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschlandgegründet. Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Vor 10 Jahrenerlebten wir den Beginn der EU-Osterweiterung. WeitereGrenzen in Europa konnten abgebaut werden. Wir Deut-schen und wir Europäer, wir sind heute zu unseremGlück vereint.
Die neue Bundesregierung will dazu beitragen, diesesGlück zu schützen und zu wahren, indem wir die Quel-len guten Lebens allen zugänglich machen: Freiheit,politische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicheStärke, Gerechtigkeit. Das ist unser Auftrag, und dafürbitte ich Sie um Ihre Unterstützung.Herzlichen Dank.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, bevor ich die
Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen – sicher im Na-
men aller Mitglieder des Hauses – eine baldige und voll-
ständige Genesung von Ihrer Verletzung wünschen.
Da das sicher alle nachfolgenden Redner gleich als Ein-
stieg hatten vortragen wollen, spart es diesen bei ihrer
knapp bemessenen Redezeit einige wichtige Sekunden,
beispielsweise dem Vorsitzenden der Fraktion Die
Linke, dem ich in der nun eröffneten Aussprache als Ers-
tem das Wort erteile.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,dass ich außerhalb meiner Redezeit doch noch einenSatz dazu sagen darf.
Frau Kanzlerin, ich hatte im letzten Jahr auch einen Ski-unfall. Wir müssen einfach beide lernen, altersgerechtSport zu treiben.
– Wir werden das hinbekommen.Aber nun zum Ernst der Lage und damit zu Ihrer Re-gierungserklärung: Sie haben eine Erklärung abgegeben,die in weiten Teilen mit der Realität nichts, aber auch garnichts zu tun hatte.
Sie haben allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dasswir in diesem Jahr den 100. Jahrestag des Beginns desErsten Weltkrieges, den 75. Jahrestag des Beginns desZweiten Weltkrieges begehen. Deshalb begreife ichnicht, weshalb auch diese Regierung derart militärischdenkt und handelt. Frau von der Leyen hat gesagt: Es ge-schähen ja Mord und Vergewaltigung; darum müsse dieBundeswehr nach Afrika marschieren. – Ich bitte Sie:Wenn das das Ziel ist, dann müssten wir die Bundeswehrja weltweit einsetzen.
Aber nicht nur darum geht es. Es geht um etwas ganzanderes. Wenn es Ihnen wirklich um die Bekämpfungvon Not geht, sollten Sie sich eine Zahl vor Augen füh-ren: Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Men-schen, davon 18 Millionen an Hunger und den Folgenvon Hunger. Da sterben Millionen Kinder, MillionenFrauen. Ich habe noch nie von Ihnen, Frau Bundeskanz-lerin, oder von Ihnen, Frau von der Leyen, oder von Ih-nen, Herr Gabriel, gehört, dass Sie sagen: Das ist dieNot, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen sofort dahin und etwas unternehmen.
Nur wenn geschossen wird, dann soll die Bundeswehrmitschießen. Das ist doch wirklich überhaupt kein Argu-ment. Ich kann es wirklich nicht verstehen.Die Hilfe, die wir weltweit gegen Hunger leisten, ge-rade auch in Afrika, ist sehr, sehr gering, viel zu gering.Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen – ichmuss es Ihnen sagen – töten zum Teil, und sie werdenzum Teil auch getötet; das ist schlimm genug. Wenn siedann zurückkommen, kommen sie zum Teil auch krankzurück. Ein Drittel aller Soldatinnen und Soldaten sindpsychisch gestört. Das militärische Vorgehen, der Krieg,ist der falsche Weg. Die Probleme der Menschheit müs-sen wir gänzlich anders lösen.
Sie haben über NSA gesprochen. Nun wissen wir jadank Snowden, dass 80 Prozent aller Übermittlungen perInternet, Handy, SMS, über soziale Netzwerke wie Face-book und Twitter abgehört und kontrolliert werden. Sie,Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt, Sie arbeiteten mitder Kraft der Argumente. Ich sage Ihnen: Das ist deut-lich zu wenig! – Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegen-über den USA nicht aufgeben, gibt es keine Partner-schaft und keine Freundschaft. Diese erzeugt vielmehrgenau das Gegenteil davon.
Im Grundgesetz ist doch der Schutz der Privatsphäregeregelt. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung. Sie haben einen Eid geleistet, die Bevölke-
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rung zu schützen. Wo bleibt denn hier der Schutz? Indemman nur mit der US-Regierung redet, geht es nicht weiter.Warum weisen Sie nicht Leute, die aus den Botschaftenheraus Spionage betreiben, aus unserem Land aus?
Warum werden von der Bundesanwaltschaft keine Er-mittlungsverfahren eingeleitet, obwohl Straftaten began-gen worden sind? Wieso gilt hier zweierlei Recht? Auchdas ist nicht hinnehmbar.
Nun kommt noch eines hinzu. Präsident Obama hat jaerklärt, dass die Staats- und Regierungschefs befreunde-ter Staaten nicht mehr abgehört werden. Das ist einSchutz für Herrn Gauck und für Frau Merkel. Was istaber mit den 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-nern dieses Landes? Für diese tragen Sie eine Verant-wortung!
Jetzt kommt etwas Neues. Herr Snowden hat erklärt –das haben wir übrigens von Anfang an gesagt –, dass na-türlich auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Dazuhaben Sie, Frau Bundeskanzlerin, kein Wort gesagt. VonAnfang an haben wir gesagt, dass auch Wirtschaftsspio-nage betrieben wird. Jetzt ist es die Linke, die allein dieUnternehmen schützen muss. So weit ist es inzwischenin dieser Gesellschaft gekommen.
– Ja, machen Sie denn etwas dagegen, dass die Unter-nehmen ausspioniert werden? Nein, die Einzigen, diesich wirklich dagegen wenden, sind wir.Sie haben über Europa gesprochen. Europa und dieEuropäische Union sind wichtig. Der Frieden zwischenden Mitgliedsländern ist etwas, was erst jetzt zur Realitätgeworden ist. Frühere Jahrhunderte waren völlig andersgeprägt. Aber wenn wir die Europäische Union wollen,dann müssen wir erreichen, dass die Menschen sie alsHort des Friedens, der Demokratie und des sozialenWohlstands wahrnehmen können. Was macht die EUstattdessen? Sie fasst Aufrüstungs- und Militärbeschlüsse.Zwei Banker werden ohne Volkswahlen einfach zu Mi-nisterpräsidenten gemacht, so in Griechenland und inItalien. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. In Grie-chenland haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von über60 Prozent, in Spanien von über 50 Prozent. Und das al-les auch auf Druck der vorherigen Bundesregierung!Herr Steinmeier, als Sie noch in der Opposition wa-ren, haben Sie an diesem Pult die Sparpolitik im Hin-blick auf Griechenland kritisiert. Jetzt fahren Sie als Au-ßenminister nach Griechenland und sagen, sie müsstenso weitermachen wie bisher. Das heißt, es soll bei die-sem Sozialabbau bleiben. Das ist antieuropäisch, aber esist nicht antieuropäisch, wenn man soziale Gerechtigkeitfür Europa fordert.
Ich will auch folgenden Zusammenhang erwähnen:Wir stellen in Deutschland doppelt so viel her, wie wirbenötigen. Also sind wir auf den Export angewiesen.Aber das bedeutet, dass andere Länder weniger herstel-len müssen, als sie benötigen. Um unsere Waren zu kau-fen, brauchen diese Länder Geld. Dafür machen sieSchulden. Nun werfen wir ihnen die Schulden vor, nach-dem wir an unseren Waren so viel verdient haben.SPD und Grüne sind damals mit der Agenda 2010 ei-nen bestimmten Weg gegangen. Man hat einen Niedrig-lohnsektor eingeführt, übrigens der größte in Europa.Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganzEuropa. Sie haben die prekäre Beschäftigung eingeführt.Wir hatten sinkende Reallöhne und Realrenten. Dadurchwurde alles billiger, und dadurch hat der Export zuge-nommen. Wann begreifen wir denn endlich, dass wir ei-nen umgekehrten Weg gehen müssen? Wir müssen einenAusgleich im Außenhandel herstellen. So etwas gelingtnur, wenn wir höhere Renten, höhere Löhne, höhere So-zialleistungen haben und wenn wir endlich die Binnen-wirtschaft durch höhere Kaufkraft stärken. Das ist derWeg, den wir gehen müssen.
Jetzt treiben Sie den Sozialabbau im Süden Europasvoran. Eines Tages kann es passieren, dass unser Exportstark beeinträchtigt wird, weil der Süden Europas unsereWaren nicht mehr bezahlen kann. Die Steuereinnahmensind dort ebenfalls rückläufig. Was machen Sie dann?Fordern Sie dann eine neue Agenda 2010? Wollen Sie,um noch etwas verkaufen zu können, dass die Sozialleis-tungen weiter gesenkt werden? Es wäre verheerend. Wirmüssen heraus aus diesem Kreislauf.Das Ungerechteste in der Euro-Zone ist folgende Tat-sache: Alle Millionäre der Euro-Zone besitzen ein Geld-vermögen – ich rede nicht von Immobilien und Unter-nehmen, sondern nur vom Geldvermögen –, das größerist als die Staatsschulden der Euro-Staaten. Das ist dieeigentliche Ursache. Aber Sie trauen sich nicht an diegeringste Umverteilung heran. Das wird das Problemdieser Bundesregierung werden.
Herr Gabriel, Sie haben gesagt, die Linke sei europa-feindlich. Sie schauen in die ganz falsche Richtung.Schauen Sie einmal in Richtung Regierungsbank. Dortsitzt die CSU. Sie warnt vor Rumäninnen und Rumänen,vor Bulgarinnen und Bulgaren, vor Armutsmigration etc.Das ist europafeindlich, und nicht die Linke, die mehrsoziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Frie-den fordert.
Zur Umverteilung, zu Armut und Reichtum. Es gibteine neue Statistik von Oxfam. Da hat sich Folgendesherausgestellt: Die reichsten 85 Menschen der Erde be-sitzen genauso viel wie die finanziell untere Hälfte derMenschheit. Das heißt, 85 Menschen haben das gleicheVermögen wie 3,5 Milliarden Menschen. Daran, FrauMerkel, wollen Sie nichts ändern? Sie haben es noch niekritisiert. Das machen Sie und auch die SPD einfach
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Dr. Gregor Gysi
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mit? Wir haben weltweit eine große Verteilungsunge-rechtigkeit. Ich sage Ihnen, dass eine so extreme Vertei-lungsungerechtigkeit zu Verteilungskriegen führt, diewir zum Teil schon erleben.Wie sieht es in Deutschland aus? In unserem Landsieht es nicht viel besser aus. Die finanziell untere Hälfteunserer Bevölkerung – also 40 Millionen – besitzen 1 Pro-zent des Vermögens – 1 Prozent! 0,65 Prozent besitzen20 Prozent des Vermögens, nämlich 2 Billionen Euro.Das ist eine so große Ungerechtigkeit. Und da wollenSie noch nicht einmal eine ganz geringe Steuererhöhung,kein bisschen Steuergerechtigkeit? Es soll dabei bleiben,dass die Mitte der Gesellschaft alles bezahlt? Das sinddie Facharbeiterinnen und Facharbeiter, das sind die An-gestellten, das sind auch die Handwerkerinnen undHandwerker, die Mittelständler und die Selbstständigen.Sie alle sollen für die Gesellschaft zahlen, nur weil Siesich nicht heranwagen an das Vermögen, an die Bestver-dienenden und an die Leute, die wirklich viel zu vielGeld haben.Im Übrigen weiß ich, was Banker zum Teil verdienen;es ist – selbst wenn sie fleißig sind – völlig überzogen.Auch deren Tag hat nur 24 Stunden, und 8 Stunden müs-sen sie noch schlafen. – Damit wir uns nicht missverste-hen: Ich will keinen gleichen Lohn für alle. Ich möchteschon, dass es Unterschiede gibt, aber sie müssen nach-vollziehbar sein. Es ist maßlos geworden, und Sie gehenan dieses Problem nicht heran.
Sie wollen endlich den Mindestlohn einführen, wasich sehr begrüße. Es wird auch höchste Zeit. Jahrelanghaben wir dafür gekämpft. Aber jetzt geht es um Aus-nahmen. Nun hat sich herausgestellt: Wenn man dieAusnahmen macht, die die CSU will, dann bedeutet das,dass die Hälfte derjenigen, die heute unter ihrem gesetz-lichen Mindestlohn verdienen, weiterhin unter demgesetzlichen Mindestlohn verdienen. Wenn es einen ge-setzlichen Mindestlohn geben soll, dann muss er flä-chendeckend sein und keine Ausnahmen regeln.
Außerdem kommt er zu spät, und er ist zu niedrig.Dann haben Sie geregelt – die Kanzlerin hat es auchwieder betont –, dass bestehende Tarifverträge, die einengeringeren Mindestlohn vorsehen, noch bis 2017 weiter-gelten können. Die Regierung, auch die SPD, die Ge-werkschaften und Herr Jörges vom Stern unterliegen hiereinem Irrtum. Sie glauben nämlich, das sei ein genialerTrick: Dadurch werde man gezwungen, Tarifverträge ab-zuschließen, und dann hätten wir sehr viel mehr Tarif-verträge in Deutschland und der Tariflohn spiele danneine größere Rolle. Ich sage Ihnen: Das ist eine Illusion.Die meisten Unternehmen machen dies nicht für diezwei Jahre, weil sie wissen, dass sie dann auf lange Zeitgebunden sind. Es ist immer schlau gedacht, aber eskommt nichts dabei heraus, außer dass die Leute einengeringeren Lohn beziehen, als sie es in jeder Hinsichtverdient haben.Wenn ich mir Ihre Änderungen hinsichtlich der prekä-ren Beschäftigung ansehe: Mein Gott, Frau Merkel undFrau Nahles! Sie sagen: Nach neun Monaten soll es ei-nen Anspruch auf gleichen Lohn geben. Damit sagen Sieden Unternehmen: Nach neun Monaten müsst ihr wech-seln. Das ist alles, was Sie damit sagen.
Dann sagen Sie: Nach 18 Monaten muss man sogareinen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnishaben. Das heißt, nach spätestens 18 Monaten müssendie Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gewechselt wer-den. Ich sage Ihnen: Die Unternehmer, die anständigsind, machen es sowieso. Für diese brauchen wir esnicht. Die anderen, die es nicht machen, werden es auchdann nicht machen, sondern sie werden die Frist entspre-chend beachten.Was machen Sie gegen den Missbrauch der Werkver-träge und gegen Dumpinglöhne? Sie sagen: Personal-und Betriebsräte sind zu informieren, aber sie dürfennicht entscheiden. – Ich sage: Wir brauchen hier ein Mit-bestimmungsrecht, damit sie das Ganze unterbindenkönnen.
Nun zur Rente. Sie ändern nichts an der Senkung desRentenniveaus, nichts an der Rente erst ab 67. Das wirdmassiv zu Altersarmut führen. Das wissen Sie alle. Nunhaben Sie drei Änderungen geplant. Die eine sieht diesogenannte Rente ab 63 abschlagsfrei vor, wenn man45 Beitragsjahre hat. Erstens ist der Name „Rente ab 63“falsch, weil Sie ja generell den Eintritt der Rente bis auf67 verschieben und die Änderung nachher tatsächlichbedeutet, dass man mit 65 Rente bekommt und nicht mit63. Also streichen Sie die 63 und sagen, dass es Ihnenum zwei Jahre geht.Es wird zweitens so getan, als ob das eine grundle-gende Änderung ist. Schon jetzt können Menschen mit65 in Rente gehen, obwohl andere erst später in Rentegehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre haben. Dasheißt, Sie helfen nur einem Teil der Bevölkerung undauch nur vorübergehend. Dieser Teil ist übrigens sehrmännlich. Dies erreichen kaum Frauen. Das muss manauch erwähnen. Dann machen Sie Folgendes: Sie sagen,Zeiten mit ALG-I-Bezug sollen mit angerechnet werden,weil auch Beiträge gezahlt werden. Aber wenn dann tat-sächlich das Renteneintrittsalter 67 gilt und die Men-schen dann 45 Beitragsjahre haben und mit 65 in Rentegehen dürfen, dann gilt die heutige Regelung, bei derZeiten mit ALG-I-Bezug nicht mit einbezogen werden.Auch das muss korrigiert werden. Aber diese Absichthaben Sie nicht.
Übrigens: In besseren Zeiten sind während desALG-II-Bezugs auch Beiträge bezahlt worden. Auch dassoll nicht anerkannt werden.
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574 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Dr. Gregor Gysi
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Dann komme ich zur Mütterrente – auch ein blöderName. Frau Merkel, Sie müssen mir eines erklären:Wieso war es vor 1992 so viel leichter, Kinder aufzuzie-hen, als nach 1992? Wenn es nicht so war, dann müssenSie mir mit Blick auf das Grundgesetz erklären, warumdiese Kinder weniger wert sind.
Sie verbessern die Stellung, aber Sie stellen nicht gleich.Man bekommt jetzt für ein nach 1992 geborenes Kind3 Rentenpunkte und für ein vor 1992 geborenes Kind1 Rentenpunkt. Das wollen Sie auf 2 Rentenpunkte erhö-hen. Mit anderen Worten: Sie lassen einen Unterschied.Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Diese Rentenent-geltpunkte unterscheiden sich nach Ost und West. Dasheißt, Frau Merkel, dass man im Osten für ein Kind ei-nen geringeren Rentenzuschlag bekommt als im Westen.
– Ja, eben.
Es ist jetzt schon ein Skandal, Herr Kauder. Und dass Siedas im 24. Jahr der deutschen Einheit beibehalten und esfür die Zukunft so regeln, dass Kinder aus dem Ostenweniger wert sind als Kinder aus dem Westen, ist indis-kutabel und grundgesetzwidrig.
Das, Frau Merkel, können Sie dem Osten nicht erklären.Dann planen Sie eine völlig falsche Finanzierung.Also, ich bitte Sie! Sie wollen das Ganze über die Bei-träge finanzieren; aber Kinder haben doch mit den Bei-trägen nichts zu tun. Kinder sind doch eine Leistung fürdie gesamte Gesellschaft. Und was kommt dabei heraus?Die Verkäuferin im Bäckerladen, die Lidl-Kassiererinund der Bäckermeister – also auch die Unternehmen –bezahlen die sogenannte Mütterrente, und wir Bundes-tagsabgeordnete beteiligen uns nicht mit einem halbenEuro daran, weil wir ja keine Beiträge in die gesetzlicheRentenversicherung einzahlen. Indiskutabel! Es ist ausSteuern zu bezahlen, damit es die gesamte Gesellschaftbezahlt und nicht, wie Sie es gegenwärtig planen, dieBeitragszahlerinnen und -zahler und die Unternehmenalleine.
Zur Lebensleistungsrente nach 40 Beitragsjahren. Esliegt noch kein Gesetzentwurf vor, aber Sie haben ge-sagt, dass sie 30 Rentenentgeltpunkte betragen soll. Dasbedeutet, sie beträgt für Menschen aus den alten Bundes-ländern etwa 850 Euro, für Menschen aus den neuenBundesländern rund 760 Euro, weil der Wert der Ren-tenentgeltpunkte im Osten niedriger ist als im Westen.Beide Beträge sind zu niedrig – das sage ich ganz deut-lich –; das löst das Problem der Altersarmt nicht. Aberim 24. Jahr der deutschen Einheit dem Osten wiederumeine geringere Rente zuzubilligen als dem Westen – das,Frau Bundeskanzlerin, darf man dieser Regierung nichtdurchgehen lassen.
Nehmen Sie einen einheitlichen Betrag, regeln Sie dasgleich!Zur Energiewende. Herr Gabriel, Sie wollen die ge-setzlich zugesicherte Förderung reduzieren, und zwargerade bei der Windenergie. Und wen trifft’s? Die klei-nen und mittelständischen Unternehmen. Denn im Off-shorebereich kürzen Sie natürlich nicht – da geht es umdie berühmten Windenergieanlagen im Meer, die vonden vier großen Konzernen betrieben werden. Oh Gott,oh Gott, es wäre ja so mutig gewesen, denen einen hal-ben Euro wegzunehmen, aber das trauen Sie sich nicht.
Nein, Sie treffen damit wiederum die kleinen und mittle-ren Unternehmen und damit natürlich auch die Beschäf-tigten dieser Unternehmen. Und wer schützt wieder diekleinen und mittleren Unternehmen? Ich sage es: dieLinke.
Ich habe es Ihnen vorhin schon bei der Wirtschaftsspio-nage gesagt; hier ist es genauso.
Insofern sage ich: So kriegen Sie die Preise nicht so-zial gestaltet. Wenn wir wirklich den Strom preiswertmachen wollen, sodass sich jede und jeder ihn leistenkann, brauchen wir ganz andere Schritte:Wir müssen die Strompreisaufsicht wieder einführen.Ich sage Ihnen auch einen Grund: Der Strompreis an derEnergiebörse ist extrem niedrig, aber er wird nicht an dieKundinnen und Kunden weitergereicht. Genau dafürmuss eine staatliche Strompreisaufsicht sorgen.Wenn die EEG-Umlage erhöht wird, müssen Sie dieStromsteuer senken oder vielleicht sogar ganz abschaf-fen; sie hat keine ökologische Wirkung.Die Ausnahmen für die Industrie müssen auf ein Mi-nimum reduziert werden. Es geht doch nicht, dass dieMieterin das alles bezahlt, aber die großen Industrie-unternehmen nichts bezahlen müssen. Auch das ist nichtgerechtfertigt.
Dann brauchen wir endlich eine Abwrackprämie fürdie Verschrottung stromfressender Haushaltsgeräte,wenn energiesparende angeschafft werden. Bei Autoskonnten wir das doch machen. Warum können wir dasnicht endlich mal bei Haushaltsgeräten machen? Geradedie ärmeren Haushalte wären sehr darauf angewiesen.Außerdem brauchen wir einen gebührenfreien So-ckeltarif; auch das müssen wir haben. Dann wären wirdiese Sorgen los und könnten wirklich sagen: Ja, die
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Dr. Gregor Gysi
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Energiewende gelingt, und zwar vernünftig, und bleibtfür die Leute bezahlbar. Ich warne Sie: Wenn wir den är-meren Teil der Bevölkerung nicht mitnehmen und ihnmit überhöhten Strompreisen verschrecken, werden wireine antiökologische Einstellung verursachen, die wiralle uns nicht leisten können.Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Ihr Leitfaden ist diesoziale Marktwirtschaft. Ich bitte Sie! Fragen Sie dieLeiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fragen Sie dieALG-II-Bezieherinnen und ALG-II-Bezieher, fragen Siedie Leute, die befristet beschäftigt werden! Übrigens:Mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen sind befris-tete Beschäftigungen. Dagegen haben Sie nichts unter-nommen. Da soll sich gesetzlich auch nichts ändern. Diewerden Ihnen erzählen, dass sie diese Marktwirtschaftals höchst unsozial empfinden. Sie wecken hier einfachIllusionen. Ich sage Ihnen eines – das fällt mir schwer –:Unter Kohl war die Marktwirtschaft sozialer als heute.Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken, FrauMerkel.
Ich glaube, dass die Große Koalition zunächst hek-tisch das eine oder andere beschließen wird, aber viel zuwenig verändern wird. Die Politik von Schwarz-Gelbwird im Kern fortgesetzt. Wir werden später Stillstandund dann Herumwurstelei erleben. Man soll ja nicht wet-ten, aber ich könnte mit Ihnen wetten, dass die Bevölke-rung nach der Regierungszeit der Großen Koalition tiefenttäuscht sein wird.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regierungserklärungdeutlich gemacht, wie unsere gemeinsame Regierungmit den Fraktionen von CDU, CSU und SPD in dennächsten vier Jahren die Zukunft unseres Landes gestal-ten will.Dies war in der Geschichte der BundesrepublikDeutschland die erste Regierungsbildung, die vom Aus-gang eines Mitgliederentscheides abhängig war, unddiese Hürde haben wir souverän gemeistert.
256 000 SPD-Mitglieder haben sich für diese Regierungentschieden. Sie wollen, dass dieser Koalitionsvertragumgesetzt wird und dass dadurch das Leben der Men-schen in Deutschland besser und gerechter wird. Siewollen, dass diese Regierung Erfolg hat. Das wollen wirauch. Deshalb freue ich mich auf die gemeinsame Ar-beit. Packen wir es an!
Herr Gysi, Sie sind erstmals Vorsitzender der größtenOppositionsfraktion.
Sie antworten deshalb unmittelbar auf die Kanzlerin. Siesind jetzt sozusagen Oppositionsführer. HerzlichenGlückwunsch!
Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann strebenSie gar nicht an, der größte Oppositionsführer in der Ge-schichte des Deutschen Bundestages zu werden, sondernIhr Wunsch ist es, die Linke in die Regierung zu führen.Wenn das wirklich Ihr Wunsch ist, Herr Gysi, genügt esallerdings nicht, so über Europa zu reden, wie Sie eseben getan haben. Vielmehr müssen Sie dafür sorgen,dass Ihre Fraktion und Ihre Partei anders über Europadenken und sprechen.
Welchen Wert Europa für uns hat, wird uns in diesemJahr besonders bewusst, wenn wir uns an den Beginn desErsten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnern. Damals tau-melte Europa verblendet vom Nationalismus in einenfurchtbaren Krieg. Der Erste Weltkrieg war der ersteKrieg, in dem moderne Massenvernichtungswaffen ein-gesetzt wurden. Das Versagen der Diplomatie in Europaforderte 17 Millionen Tote, und trotz dieser Erfahrungenzettelte Deutschland kurze Zeit später einen noch vielfurchtbareren Krieg an. Ich finde, jeder, der sich vor Au-gen führt, welch schreckliche Dinge ihren Ausgangs-punkt im nationalistischen Deutschland genommen ha-ben, der muss doch erkennen, wie unschätzbar wertvolldie europäische Integration vor allem für uns Deutscheist.
Die Entscheidung für Europa war die beste Antwort so-wohl auf den Ersten Weltkrieg als auch auf den ZweitenWeltkrieg. Sie war die beste Antwort auf die nationalso-zialistische Gewaltherrschaft,
und sie ist der beste Weg, den Frieden auch in Zukunftzu sichern.
Aber Europa steht nicht nur für Frieden, sondern Eu-ropa steht auch für unser gemeinsames Wertesystem: un-sere Freiheit, unsere Demokratie und unser europäischesSozialstaatsmodell, das Menschen, die in Not geraten,nicht fallen lässt, sondern sie absichert und ihnen wiederneue Chancen gibt.
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576 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Thomas Oppermann
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In unserer globalisierten Welt wäre jedes einzelne Landzu klein und zu schwach, um diese Werte allein zu ver-teidigen. Das schaffen wir nur gemeinsam. Deshalb darfes keine Rückkehr zum nationalstaatlichen Denken ge-ben. Gerade im Jahr der Europawahl sage ich ausdrück-lich: Wir dürfen Europa nicht den nationalen Populistenüberlassen, egal ob sie von links oder von rechts kom-men.
Lieber Herr Gysi, Ihr Parteivorstand nennt die EU inder Präambel eines Leitantrages zur Europawahl eine„militaristische und weithin undemokratische Macht“.
Das ist nicht etwa ein Zitat von Rosa Luxemburg, mitdem sie die Zustände des deutschen Kaiserreiches vor100 Jahren beschreibt, sondern das ist Ihre Beschreibungfür Europa im Jahr 2014, für eine der größten zivilisato-rischen Errungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg.Ich finde das unglaublich.
Das ist so abenteuerlich, dass Sie sich davon distanzie-ren mussten. Ich füge hinzu: Ich glaube Ihnen, dass Siesich davon ehrlich distanziert haben, dass das Ihre auf-richtige Meinung ist. Aber ich bezweifle, dass diese Dis-tanzierung von Ihrer Partei und Ihrer Fraktion mitgetra-gen wird.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie in diesem Hause Part-ner finden wollen, müssen Sie Ihr Verhältnis zu Europaund zum Euro klären. Klären Sie Ihr Verhältnis zur inter-nationalen Verantwortung Deutschlands. Damit habenSie in den nächsten vier Jahren genug zu tun.
Das Bekenntnis zu Europa als Macht des Friedensund Hüterin unserer Werte allein reicht nicht. Die EU-Kommission und die europäische Politik müssen klarbesser werden, wenn dem Populismus das Wasser abge-graben werden soll. Der Präsident des Europäischen Par-laments, Martin Schulz, benutzte kürzlich ein sehr tref-fendes Bild, als er von den zwei Denkschulen sprach, diesich in der Europäischen Kommission sozusagen gegen-seitig im Wege stehen: Die einen geben nicht eher Ruhe,bis auch der letzte kommunale Friedhof in Europa priva-tisiert ist. Und die anderen hören nicht auf, bevor nichteine einheitliche Friedhofsordnung für ganz Europa ent-standen ist. „Das macht die Leute verrückt“, sagt MartinSchulz. Und ich sage: Der Mann hat recht.
Europa muss nicht alles machen, vor allem nicht das,was die Mitgliedstaaten selber können.Deshalb sage ich: Die Europäische Kommission musssich in den nächsten Jahren stärker um das kümmern,was Europa eint, was uns stark macht und was die Ein-zelnen alleine nicht schaffen. Dazu gehört die weitereBändigung der Finanzmärkte. Dazu gehört die Bekämp-fung von Steueroasen und Steuerschlupflöchern, die un-sere Steuerzahler hier in Deutschland Milliarden kosten.Dazu gehört die Verringerung des Wohlstandsgefällesinnerhalb der Europäischen Union. Und dazu gehörtganz gewiss nicht zuletzt die Bekämpfung der horrendenArbeitslosigkeit von jungen Menschen in vielen LändernEuropas.
Auf diese Dinge muss sich die EU konzentrieren, damitdie Menschen erkennen können, warum Europa so wich-tig für uns alle ist.Viele fragen sich, wie wir in den harten Verhandlun-gen zwischen CDU, CSU und SPD zueinandergefundenhaben. In der Tat, bei so schwierigen Themen wie Min-destlohn, Rente, Leiharbeit, Pflege oder Frauenquotewar es überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir unsam Ende verständigen. Das lag natürlich auch an der aufbeiden Seiten vorhandenen Kompromissbereitschaft.Aber ich glaube, das lag in erster Linie daran, dass es inDeutschland einen gesellschaftlichen Grundkonsensgibt, einen Grundkonsens über die soziale Marktwirt-schaft – darüber hat auch die Bundeskanzlerin gespro-chen; und ich stimme ihr zu –: 90 Prozent der Menschenfinden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft rich-tig für unser Land, und sie wollen, dass sie gesichert undgestärkt werden.
Die Arbeitnehmer wissen doch ganz genau, dassWohlstand für alle ohne eine starke Wirtschaft nichtmöglich ist. In der sozialen Marktwirtschaft muss derStaat Rahmenbedingungen setzen, die es Unternehmenermöglichen, Gewinne zu machen. Unternehmer, diekeine Gewinne machen, gefährden am Ende Arbeits-plätze. Deshalb brauchen wir Produktivitätsfortschritt,deshalb brauchen wir Wachstum und Wettbewerbsfähig-keit auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite brau-chen wir auch faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt, faireLöhne, Arbeitnehmerrechte, Kündigungsschutz und Mit-bestimmung. Das sind keine Problemfaktoren, sonderndas sind positive Standortfaktoren in einer erfolgreichenWirtschaft.
Das eine darf nicht auf Kosten des anderen durchgesetztwerden. Wir brauchen beides: Wettbewerb und faire Re-geln. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir die so-ziale Marktwirtschaft in Deutschland in eine stabile Ba-lance bringen können. Das wollen wir umsetzen. Das istunser Programm.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 577
Thomas Oppermann
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Damit fangen wir gleich an. Noch in diesem Jahrwird die Koalition den gesetzlichen Mindestlohn von8,50 Euro beschließen. Für viele Menschen, die 4, 5 oder6 Euro in der Stunde verdienen, wird das die kräftigsteLohnerhöhung in ihrem Leben. Das wird das Alltagsle-ben von Millionen Menschen in diesem Land positivverändern.
Dieser Mindestlohn generiert milliardenschwereKaufkraft. Das ist ein gewaltiges Konjunkturprogramm,das die Binnennachfrage stärken und für zusätzlichesWachstum sorgen wird. Das ist gut für unsere Wirt-schaft. Der Mindestlohn ist nicht nur sozial gerecht, weiler der Arbeit wieder Wert und Würde gibt, sondern er istauch ordnungspolitisch richtig, weil er Wettbewerbsver-zerrungen durch Lohndumping beseitigt.
Wenn wir den Mindestlohn haben, wenn wir die Leih-arbeit regulieren, wenn wir die missbräuchliche Nutzungvon Werkverträgen beenden und dafür sorgen, dass inden Betrieben gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahltwird, dann werden sich Arbeit und Anstrengungen fürMillionen Menschen in Deutschland wieder lohnen. Ge-nau das wollen wir: eine Politik für die fleißigen Leuteund für die verantwortungsvollen Unternehmer.
Das gilt natürlich auch für die Rentner. Wer ein Lebenlang hart gearbeitet und Kinder großgezogen hat, hatAnspruch auf ein sicheres Auskommen im Alter. Wennjetzt bezüglich des Gesetzentwurfs, den Andrea Nahlesheute in das Kabinett eingebracht hat, von Unterneh-mern die Sorge geäußert wird, das könnte zu Frühver-rentungen führen, dann sage ich: Diese Arbeitgeberkönnen zuerst selber verhindern, dass es zu Frühverren-tungen kommt,
indem sie 61-Jährige nicht mehr in die Arbeitslosigkeitschicken.
Wenn es zu einem Missbrauch kommen sollte, dann wer-den wir diesen Missbrauch mit geeigneten Maßnahmensofort wieder abstellen. Denn dafür haben wir die Rentenach 45 Berufsjahren nicht eingeführt.Die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente nach45 Beschäftigungsjahren haben eine Debatte über Gene-rationengerechtigkeit ausgelöst, und wir werden unsdieser Debatte stellen. Bei der Rente geht es übrigensimmer um Generationengerechtigkeit, aber in beideRichtungen und nicht nur in eine Richtung.
Frau Göring-Eckardt, Sie haben den Begriff der Ge-nerationenkumpanei in diese Debatte eingeführt.
Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich inE-Mails und Briefen an uns darüber empören, dass mitdiesem Begriff ihre Lebensleistung abgewertet wird.
Das ist unfair gegenüber den Müttern und denjenigen,die 45 Jahre hart gearbeitet haben. Das sind doch dieje-nigen, die mit ihrer harten Arbeit ein umlagefinanziertesstabiles Rentensystem überhaupt erst ermöglichen, FrauGöring-Eckardt.
Wir sollten uns davor hüten, die Generationen gegen-einander auszuspielen. Die Zukunftschancen der jungenGeneration hängen doch nicht in erster Linie von derRentenpolitik ab, sondern sie hängen davon ab, was wirbildungs- und wirtschaftspolitisch in diesem Lande ma-chen.
Die Perspektiven hängen davon ab, ob wir in 20 oder30 Jahren in Deutschland noch eine starke Wirtschaft ha-ben und ein starkes Industrieland sind. Sie hängen davonab, ob wir jungen Menschen attraktive Jobs anbietenkönnen und ob dort hohe Löhne verdient werden kön-nen. Das sind doch die Fragen. Ich sage: Diese Regie-rung wird die Grundlagen dafür legen. Ich freue mich,dass diese Regierung mit Sigmar Gabriel als Wirt-schaftsminister endlich wieder eine aktive Industriepoli-tik für Deutschland macht.
Da ist natürlich die ganze Regierung gefordert; denneine starke Wirtschaft wird es in Zukunft nur geben,wenn wir eine moderne Infrastruktur haben. Wir müssenden Investitionsstau abarbeiten, und wir brauchen gutausgebildete Fachkräfte. Wir haben 9 Milliarden Eurofür Investitionen in Kitas, Forschung und Entwicklungbereitgestellt. Wir brauchen ein hohes Niveau an For-schung und Entwicklung und nicht zuletzt ein Energie-system, das Versorgungssicherheit, Preisstabilität undKlimaschutz miteinander verbindet. Deswegen ist es gut,dass das Kabinett schnell Eckpunkte für die Energie-wende vorgelegt hat, mit denen der weitere Preisanstiegder erneuerbaren Energien gebremst wird; denn einfunktionierendes Energiesystem ist das Herz-Kreislauf-System der Wirtschaft; ohne ein solches System kann
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578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Thomas Oppermann
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unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Alles hängt davonab, dass Energie bezahlbar bleibt. Ich finde es richtig,dass wir die Nutzung der erneuerbaren Energien weiterausbauen; aber wir müssen sie so ausbauen, dass Energiefür die Menschen und für die Wirtschaft auch bezahlbarbleibt.
Da muss uns die Europäische Union auch die Mög-lichkeit lassen, energieintensive, tatsächlich im interna-tionalen Wettbewerb stehende Unternehmen von derEEG-Umlage zu befreien. Das sind doch keine wettbe-werbsverzerrenden Entlastungen – entsprechende Belas-tungen in anderen Ländern gibt es doch gar nicht.
Wenn übrigens an anderer Stelle argumentiert wird,dass wir auf die energieintensiven Unternehmen inDeutschland im Interesse einer besseren Ökobilanz viel-leicht ganz verzichten könnten, dann halte ich das für ab-solut verantwortungslos. Die Stärke unserer Wirtschaft,das sind doch nicht einzelne industrielle Leuchttürme.Stark sind wir doch deshalb in Deutschland, weil wirüber die ganze Wertschöpfungskette verfügen: von derGrundstoffindustrie bis zu den Hightechunternehmenund den hochwertigen Dienstleistungen.
Diese Wertschöpfungskette darf nicht zerstört werden,meine Damen und Herren.Ich finde, Energieminister Gabriel hat in dieser De-batte einen ganz wichtigen Satz gesagt, der übrigensauch etwas über die Art und Weise, wie Politik gemachtwerden sollte, aussagt: Die Summe der jetzt geltend ge-machten Interessen ist nicht identisch mit dem Gemein-wohl. – Da hat er recht.
Natürlich müssen alle Interessen und Argumente gehört,diskutiert und gewichtet werden; aber am Ende muss eseine Entscheidung für eine Energiepolitik im Interessedes Allgemeinwohls geben.
Dafür hat der Bundeswirtschaftsminister die volle Unter-stützung der Koalition.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrengrundlegend verändert. Wie vielfältig wir gewordensind, spiegelt übrigens auch der Deutsche Bundestag wi-der: Spitzenreiter bleibt zwar der Nachname „Schmidt“,auf den sechs Kollegen und Kolleginnen hören, aber„Özdemir“ kommt inzwischen genauso häufig vor wie„Mayer/Meier“: zwei Mal.
Ich freue mich, dass wir vielfältiger geworden sind – ge-nauso wie unser Land.
Auch wenn die Koalition nicht in allen Fragen derdoppelten Staatsangehörigkeit wirklich einer Meinungist, finde ich es doch gut, dass wir es geschafft haben,uns darauf zu verständigen, dass wir junge Menschen,die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind,nicht mehr in die Zwangslage bringen wollen, sich, umDeutsche bleiben zu können, vor Vollendung des 23. Le-bensjahres gegen die Staatsangehörigkeit ihrer Elternund Großeltern zu entscheiden. Das wollen wir diesenMenschen ersparen, indem wir ihnen die doppelteStaatsangehörigkeit ermöglichen.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor allemwegen seines starken Arbeitsmarktes ein attraktives Ein-wanderungsland geworden. Angesichts der demografi-schen Veränderungen und des Fachkräftemangels giltEinwanderung heute nicht mehr als Belastung, sondernals Chance. 2012 kamen 370 000 Menschen, im letztenJahr 400 000 Menschen mehr nach Deutschland, alsweggegangen sind. Das sind ganz überwiegend gut Aus-gebildete und hoch Qualifizierte. Sie sind ein Riesenge-winn für unsere Wirtschaft. Deutschland profitiert wiekein anderes Land in der Europäischen Union von derArbeitnehmerfreizügigkeit.
Deshalb sage ich: Wir freuen uns über jeden und überjede, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten, Geld zuverdienen und ihr Glück zu machen.
Natürlich bleibt es eine große Herausforderung, un-sere Einwanderungsgesellschaft so zu organisieren, dassalle Menschen gut zusammenleben können. Aber da, wodurch Zuwanderung Probleme entstehen – wie in Duis-burg, Dortmund, Mannheim oder Berlin –, helfen keinelautstarken Debatten und Parolen, sondern da ist tatkräf-tiges Handeln gefragt.
Deshalb begrüße ich es, dass die Regierung schnell ei-nen Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat und wir als-bald mit geeigneten Maßnahmen beginnen können, umvor allem den betroffenen Kommunen zu helfen. Wirdürfen diese Kommunen mit ihren Problemen nicht al-leinlassen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 579
Thomas Oppermann
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Auch wenn das jetzt vielleicht überraschen mag,möchte ich unserem Koalitionspartner CSU in diesemZusammenhang ein Kompliment machen.
Jetzt aber langsam zum Mitschreiben.
Die Idee von Horst Seehofer,
einem Minister aus seinem Kabinett die Zuständigkeitfür die Heimat zu übertragen, musste ja viel Spott ertra-gen, aber ich finde sie überhaupt nicht abwegig.
Heimat ist die emotionale Verbindung der Menschenmit einer ihnen vertrauten Umgebung. Für ganz vieleMenschen in der heutigen Welt ist Heimat alles andereals selbstverständlich. Ob sie aus Syrien fliehen, um ihrLeben zu retten, oder ob sie innerhalb Europas nachneuen Chancen suchen: Viele Menschen sehen sich ge-zwungen, ihre Heimat zu verlassen. Deshalb muss esdoch die Aufgabe der Politik sein, denen, die einen Neu-anfang in Deutschland machen wollen, hier in Deutsch-land auch eine Heimat zu geben, in der sie sich wohlfüh-len und von wo sie nicht gleich wieder weggehenwollen, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse än-dern.
Dazu können wir alle und kann dann auch ein Heimatmi-nister beitragen.
Die Große Koalition hat im Deutschen Bundestageine Mehrheit von 504 Abgeordneten. Natürlich werdenwir unsere politischen Ziele mit dieser Mehrheit umset-zen. Diese große Mehrheit darf uns aber nicht zu Arro-ganz verleiten. Deshalb wollen wir die Arbeit des Parla-mentes mit Augenmaß gestalten.Ich bin mir sicher, dass wir uns über die Minderhei-ten- und Oppositionsrechte noch einigen werden. In denVorschlägen, die der Bundestagspräsident gemacht hat,sehe ich eine gute Grundlage. Hinsichtlich der Redezeitbitte ich um Verständnis, dass auch die Abgeordnetender Koalition frei gewählte Abgeordnete sind und dasssie zu Wort kommen müssen und hier nicht zu Statistendegradiert werden können.
Die Kontrolle der Regierung ist zwar zuerst die Auf-gabe der Opposition, aber nicht allein Aufgabe der Op-position, sondern des gesamten Parlamentes.
Deshalb, liebe Britta Haßelmann und lieber Herr Gysi,werden wir die Kontrolle der Regierung nicht allein denOppositionsfraktionen überlassen.
Wie wichtig diese Arbeit des Parlamentes ist, hat inder letzten Wahlperiode die fraktionsübergreifende Ar-beit des NSU-Untersuchungsausschusses gezeigt. DerAusschuss hat die eklatanten Versäumnisse der Sicher-heitsbehörden aufgedeckt und eine Reihe von Maßnah-men vorgeschlagen, um das gestörte Vertrauen in die Fä-higkeit des Staates wiederherzustellen, allen Menschen,unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ih-rer Religion, in Deutschland Sicherheit und Schutz zubieten.
Die Koalition hat sich darauf verständigt, all dieseEmpfehlungen umzusetzen. Daran können Sie sehen,wie wichtig eine fraktionsübergreifende Kontrolle derRegierung durch das Parlament ist.
Wir bieten Ihnen deshalb auch an, beim NSA-Unter-suchungsausschuss zusammenzuarbeiten. Dass Millio-nen Bürger abgehört werden und dass das Mobiltelefonder Bundeskanzlerin abgehört wird, ist eine Angelegen-heit, die das ganze Parlament etwas angeht.
Die Regierungsbildung war nicht einfach. Wir habenhart gerungen und uns Zeit genommen – auch, um dieaußergewöhnliche Beteiligung unserer Partei zu ermög-lichen. Jetzt erwarten die Menschen, dass unsere Vorha-ben umgesetzt werden und wir Ergebnisse liefern.Menschen, die nach langer Arbeit auf eine Rente inWürde hoffen, warten auf die Möglichkeit, nach 45 Be-rufsjahren in Rente zu gehen. Arbeitnehmer, die trotzVollzeitjob nicht genug zum Leben verdienen, hoffen aufden Mindestlohn. Pflegebedürftige und ihre Pfleger er-warten, dass die Politik den Pflegenotstand beseitigt.
Frauen, die im Beruf Nachteile erfahren, warten auf eineneue Gleichstellungspolitik.
Unternehmen, die viel Energie zum Produzieren brau-chen, erwarten eine neue Verlässlichkeit in der Energie-politik.
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580 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Thomas Oppermann
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Wir werden Antworten auf diese Erwartungen geben.Mit diesen Antworten werden wir Deutschland Stück fürStück ein bisschen besser und gerechter machen.
Das ist der Anspruch. Daran sollten wir in vier Jahrengemessen werden.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Anton Hofreiter fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lassen Sie mich aufgrund der aktuellen Ereig-nisse ganz kurz etwas zur Ukraine sagen. Nach den Er-gebnissen der letzten Tage ist die Hoffnung größer ge-worden, dass es eine friedliche Lösung gibt. Aber wirerwarten von Europa, wir erwarten insbesondere auchvon der Bundesregierung, dass sie sich stark dafür einset-zen, dass es eine friedliche und demokratische Lösunggibt und dass die demokratische und proeuropäische Op-position nicht alleingelassen wird. Diese Erwartung ha-ben wir an Sie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzle-rin, Sie haben über die Regierungspolitik in den kom-menden vier Jahren gesprochen. Sie haben die Unterstüt-zung von 80 Prozent der Abgeordneten hier. Das sindviele; das bezweifeln wir nicht. Aber Masse macht nochnicht automatisch Klasse. Ihre Mehrheit ist groß, der Ko-alitionsvertrag ist dick. Aber Ihr Regierungsprogrammist zukunftsvergessen, perspektivlos, eine Verwaltungdes Stillstandes.
Die Große Koalition denkt nicht an morgen. Sie stelltnicht das Klima, sondern die Kohle unter Schutz. Sie in-vestiert nicht in die Zukunft. Und die rechte Hand derKoalition zündelt am gemeinsamen Haus Europa. Dasist ein arg kleiner Plan für so viel Masse, Frau Merkel.
Vor kurzem stand in der Zeitung: Angela Merkel istauf dem Zenit ihrer Macht und am Tiefpunkt ihrer in-haltlichen Ansprüche angekommen. – Eine treffende Be-merkung! Dazu fällt mir ein altes Bild ein. Sie habensich einmal als Klimakanzlerin inszeniert – erinnern Siesich noch? Das schöne Bild von Ihnen mit der roten Ja-cke vor den fotogenen Eisbergen in Grönland. Was istdavon übrig geblieben? Ich kann nichts erkennen. FrauMerkel, Herr Gabriel, verspielen Sie die Chance nicht,die Ihnen die Menschen gegeben haben. Gehen Sie diegroßen Herausforderungen unserer Zeit an.
Was ist eigentlich Ihre Idee für die kommenden vierJahre, Frau Merkel? Ich habe Ihnen gut zugehört, auchwenn es manchmal nicht einfach war, aber ich habenichts gefunden. Sie setzen auf den kleinsten gemeinsa-men Nenner, anstatt etwas Großes zu wagen. Je größerdie Mehrheit, desto kleiner der Anspruch, so scheint eszu sein. Das ist wohl die Realität dieser Großen Koali-tion.„Deutschlands Zukunft gestalten“ steht auf dem Titel-blatt des Koalitionsvertrages. „Den Status quo verwal-ten“ wäre die treffendere Bezeichnung gewesen. Überallda, wo neue Wege dringend erforderlich sind, hat dieDagegen-Partei CDU blockiert: gegen den Ausbau derInfrastruktur, gegen eine faire Verteilung der Steuerlast,gegen Klimaschutz, gegen Datenschutz, gegen Verbrau-cherrechte, gegen Gleichberechtigung und Gleichstel-lung. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
Jetzt sitzen Sie, Frau Merkel, zum dritten Mal als neugewählte Kanzlerin hier. Ich gratuliere Ihnen ehrlich undwünsche Ihnen wirklich gute Besserung. Sie falten dieHände zur Raute und sagen schöne Worte. Sie wollendie Banken und Finanzmärkte regulieren.
Wäre das Ihre erste Regierungszeit, würde ich sagen:Richtig! Aber Sie regieren seit acht Jahren, und passiertist fast nichts.
Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnet solch ein Verhal-tensmuster als verbal aufgeschlossen bei weitgehenderVerhaltensstarre.
Alles soll so bleiben, wie es ist. Aber ohne Verände-rung gibt es keine gute Zukunft in Deutschland und Eu-ropa, ob beim Klimawandel, der Erhaltung unseresWohlstandes oder beim Zusammenhalt unserer Gesell-schaft. Gestalten statt verwalten: Darum muss es gehen.Aber dazu scheinen Ihnen der Mut, die Ideen oder viel-leicht sogar beides zu fehlen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,kommt es Ihnen, wenn Sie morgens in Richtung Parla-ment laufen, nicht manchmal seltsam vor, dass Sie jetztmit der Union die Politik machen, die Sie noch vor einpaar Monaten ach so sehr bekämpft haben? Wie sehr ha-ben Sie die ungleiche Verteilung von Vermögen und Ein-kommen beklagt. Was wollten Sie in der Steuerpolitiknicht alles anders machen. Und was haben Sie davondurchgesetzt?In Deutschland leben über 2,5 Millionen Kinder unterder Armutsgrenze. Was aber unternehmen Sie, um daszu ändern? Wie viel mehr haben Sie dafür übrig? LautIhrem Koalitionsvertrag nicht 1 Cent mehr. Ist das wirk-lich Ihr Ernst, Herr Gabriel?
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 581
Dr. Anton Hofreiter
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Auch wenn es schön ist, dass Frau Schwesig nach-träglich Vorschläge macht, gilt auch hier: Für eineMinisterin ist reden allein zu wenig. Im Wahlkampfwollten Sie von der SPD die Steuern erhöhen, um inSchulen und Kitas zu investieren. Aber jetzt tragen Sieeine Politik mit, die diese Probleme ignoriert.Wie sehr haben Sie für einen radikalen Kurswechselin der Europapolitik gekämpft. Jetzt tragen Sie die Poli-tik der Kanzlerin einfach mit, als ob nie etwas gewesenwäre. Sie waren gegen eine Politik für Banken und, wieSie schrieben, Finanzjongleure. Jetzt müssen Sie diesePolitik mittragen.Sie wollten für ein gemeinsames Haus Europa eintre-ten. Nun sitzen Sie am Kabinettstisch, mit Ihren neuenFreunden von der CSU, die auf das gemeinsame HausEuropa eintreten. Diesen ekelhaften Populismus derCSU gegen Rumänen und Bulgaren konnten Sie in Ihrereigenen Koalition nicht unterbinden.
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,Ihr Wahlprogramm hieß „Das WIR entscheidet.“ Sie ha-ben es vielleicht schon gemerkt: Es ist meist die Kanzle-rin, die entscheidet, wenn in dieser Koalition überhauptetwas entschieden wird.Immerhin will auch Frau Merkel jetzt den Mindest-lohn: teilweise, mit Ausnahmen, später, aber immerhin.Bei der Mietpreisbremse oder der zaghaften Frauenquotegehen Sie immerhin in die richtige Richtung. Ich gratu-liere Ihnen zu diesen Schritten.Aber was ignoriert diese Regierung nicht alles? Vordem Überwachungswahn der US-amerikanischen Regie-rung haben Sie kapituliert. Frau Merkel, Sie freuen sichüber das Versprechen, dass Ihr Handy nicht mehr ausge-späht wird. Aber Sie sind nicht Kanzlerin, um nur Ihrepersönlichen Grundrechte zu schützen. Als Kanzlerinsind Sie verpflichtet, für den Schutz der Grundrechte al-ler Menschen in Deutschland zu sorgen.
Diese Menschen haben ebenfalls ein Recht darauf, dassihre Daten geschützt werden. Auch dafür wurden Sie ge-wählt, wobei sich die Frage stellt, wer in diesem Kabi-nett eigentlich dafür zuständig ist.Anstatt die Kompetenzen zu bündeln, sind die Zu-ständigkeiten über acht Ministerien verstreut, bis hin zueinem neuen Minister für Ausländermaut und Breitband-kabel. Mit diesem Kompetenzwirrwarr gibt es bestimmtkeine Verbesserung beim Datenschutz, selbst wenn Siedies wollten, was allerdings angesichts Ihrer Position zurVorratsdatenspeicherung leider mehr als fraglich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne habenbekanntlich nichts dagegen, Lasten gerecht zu verteilen.Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Dasist solidarisch und gerecht. Die Altersarmut ist ein mas-sives Problem. Reicht das Geld im Alter? Diese Fragebereitet vielen Sorgen. Sie wollen 160 Milliarden Euroan zusätzlichen Ausgaben für die Rente beschließen.Man könnte doch meinen, mit so einer Summe sollte dasProblem sich lösen lassen. Aber Sie verschütten dasviele Geld wie mit der Gießkanne, ohne das Problem derAltersarmut von heute oder von morgen zu lindern.Die armen Rentnerinnen und Rentner in der Grund-sicherung fallen durchs schwarz-rote Raster. EineRentnerin in der Grundsicherung, die Anspruch auf dieMütterrente hätte, bekommt diese wieder komplett abge-zogen und behält nicht einen Cent. Damit nutzt Ihre Re-form ausgerechnet den ärmsten Rentnerinnen nichts. Istdas gerecht?
Genauso ergeht es Menschen, die lange arbeitslos wa-ren: Von der Rente mit 63 haben sie nichts. Das ist unge-recht und auch noch ungerecht finanziert. Die zukünfti-gen Generationen, die das finanzieren müssen, müssensogar noch mehr um ihre Rente bangen. Das ist einetraurige Form von Sozialpolitik. Es ist keine Politik füreine gute Zukunft.
Ich habe erwähnt, dass Sie die vielen Herausforderun-gen, die vor uns liegen, nicht anpacken, sondern denStillstand verwalten. Ich will auf zwei Herausforderun-gen besonders eingehen. Erstens: Wie können wir dieEnergiewende klug und gemeinsam gelingen lassen, da-mit Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen gesichertsind? Zweitens: Wie können wir Europa wieder zu ei-nem positiven Projekt machen, das uns auch morgenFrieden und Demokratie garantiert?Wofür machen wir die Energiewende eigentlich? Wirmachen sie doch nicht, weil wir Windräder schön findenoder weil Solaranlagen wunderbar blau funkeln auf denDächern. Wir machen sie, um aus der Atomkraft und derKohlenutzung auszusteigen. Wir machen sie, damit nichtnoch mehr klimaschädliches Kohlendioxid in die Luftgeblasen wird. Der internationale Klimarat stellt fest:Gelingt nicht bald eine radikale Verminderung dieserKlimakiller, dann wird das Weltklima völlig aus den Fu-gen geraten. – Die Klimakatastrophe ist für viele Men-schen jetzt schon real. Extreme Wetterereignisse häufensich, und der steigende Meeresspiegel vertreibt bereitsjetzt Menschen aus ihrer Heimat. Der Klimawandel ge-fährdet die Lebensgrundlagen von uns allen auf diesemPlaneten. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Liebe Kolle-ginnen und Kollegen von der Großen Koalition, nutzenSie doch Ihre 80-Prozent-Mehrheit! Nehmen Sie denKampf gegen den Klimawandel auf.
Aber was ist die Antwort von Ihnen, Herr Gabriel?Der Klimakiller Kohle bleibt der liebste Genosse der So-zialdemokratie. 2013 hat Deutschland so viel Braun-kohle zu Strom verbrannt wie seit 1990 nicht mehr. Dieklimafreundlichen Erneuerbaren bremsen Sie aus. Dasist doch das Gegenteil von verantwortlicher Politik.
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582 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Dr. Anton Hofreiter
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Das ist nicht nur schlecht für das Klima. Es ist auchschlecht für die deutsche und die europäische Wirtschaft,wie sogar die EU-Kommission, die nicht gerade für be-sonderen Ehrgeiz beim Klimaschutz bekannt ist, zuge-ben muss. 1,25 Millionen neuer Jobs könnten entstehen,wenn die Energiewende klug angepackt werden würde.Das wären viele Jobs in den südlichen Krisenländern.Aber auch in Deutschland, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, hängen Tausende Jobs von der Energiewendeab. Es stehen alleine dort Investitionen von 1 MilliardeEuro auf dem Spiel. Die Zukunft Deutschlands findenSie nicht in Ihren Braunkohlegruben! Die ZukunftDeutschlands entsteht im Sektor der erneuerbaren Ener-gien. Sie entsteht durch die Nutzung von Sonne undWind.
Wir Grüne wollen, dass die Energiewende gelingt.
Wir wollen mit Ihnen zusammenarbeiten, weil wir unsunserer Verantwortung im Bundestag, in den Landtagenund als Partei bewusst sind
und die Energiewende nur in einem gesellschaftlichenKonsens gelingen kann. Wir strecken die Hand zumKonsens aus, Ihren Fehlstart zu korrigieren. Hören Sieauf, ausgerechnet die kostengünstigste Form der Erneu-erbaren, die Windenergie, auszubremsen! Lassen Sie dieEnergiewende in den Händen der Bürger!
Machen Sie Deutschland wieder zum Vorreiter des Kli-maschutzes! Dann können wir gemeinsam dieses histori-sche Projekt voranbringen.Sehr geehrte Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Redevon einem starken Deutschland in einem starken Europagesprochen. Wer würde sich das nicht wünschen? Ich be-fürchte nur, dass wir nicht das Gleiche darunter verste-hen. Ich wünsche mir ein Deutschland, das solidarischist mit seinen Partnern, dessen Regierung eine Wirt-schaftspolitik betreibt, die zu Stabilität und Wachstumbeiträgt, mit einer Regierung, die beim Klimaschutz vor-angeht, die mehr Flüchtlinge aufnimmt und nicht zu-sieht, wie Menschen – Männer, Frauen und Kinder – imMittelmeer ertrinken. Stattdessen bauen Sie weiter mitan der Festung Europa, einem Europa der Ausgrenzung,der Abschottung. Ich wünsche mir ein Europa, das starkist, weil es die Freiheit der Menschen nicht nur achtet,sondern auch garantiert.
Die offenen Grenzen innerhalb Europas sind eine rie-sige Errungenschaft. Sie geben uns die Freiheit, dort zuleben und zu arbeiten, wo wir wollen. Diese Freiheit istin Gefahr durch die Rechtspopulisten von Wilders bis LePen. Aber auch das unverantwortliche Geschwätz vonIhrem Koalitionspartner CSU vergiftet das gesellschaft-liche Klima in Deutschland.
Die Populisten von der CSU gaukeln vor, die Sorgen derMenschen ernst zu nehmen.
Das tun sie nicht. Sie vergiften die Debatte, machen Vor-urteile hoffähig und erschweren damit genau die Lösungvon Problemen.
Frau Merkel, wir erwarten von einer verantwortungsvol-len Kanzlerin, dass sie diesen Unsinn beendet. StellenSie sich klar auf die Seite der Offenheit und Freiheit inEuropa und gegen die kleingeistigen Brandstifter, dienicht erkennen, dass Deutschland nur in einem starkenund einigen Europa eine gute Zukunft hat.
Europa als Verheißung, als Ort der Solidarität und desFortschritts, Europa als Ort der Freiheit und als eine Ideeim Dienst der Menschen – so soll unser Europa sein. Essoll keines der Schlagbäume und Grenzen sein, kein Eu-ropa des Freihandelsabkommens auf Kosten des Ver-braucherschutzes und keines nur für die Interessen ein-zelner Lobbys.Frau Merkel, Sie tragen schon acht Jahre lang großeVerantwortung für Europa.
In der Vergangenheit haben Sie Ihre Macht für lascheRegeln für die Automobilindustrie und die DeutscheBank eingesetzt. Damit gewinnt man weder das Herznoch den Verstand der Menschen für unser Europa. Nut-zen Sie Ihre dritte Amtszeit richtig, damit Europa zu ei-nem Erfolg für alle wird, mit einer Politik, die die Fi-nanzmärkte endlich an den Krisenkosten beteiligt, diedie Banken endlich in ihre Schranken weist und nichtnur hier davon redet, die den sozialen Fortschritt überdie Interessen einzelner Lobbyisten stellt, mit einerPolitik, die gegen Massenarbeitslosigkeit in den Kri-senstaaten vorgeht, mit einer Politik, die gegen den Kli-mawandel kämpft und den Verfolgten einen sicheren Zu-fluchtsort bietet,
mit einer Politik, die Zukunft nicht verwaltet, sondernklug und weitsichtig im Interesse aller gestaltet.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 583
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Nun erhält Volker Kauder das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,Thomas Oppermann hat es in seinem Beitrag angespro-chen: Wir, die CDU/CSU und die SPD, haben währenddes ganzen Bundestagswahlkampfes nicht daran ge-dacht, dass wir zum Start in die neue Legislaturperiodedes Deutschen Bundestages in einer Koalition landenwürden.
Wenn man dies weiß, ist auch verständlich, dass esuns nicht leichtgefallen ist, bei dem, was Schwerpunktund Ziel dieser Großen Koalition sein soll, zusammen-zukommen. Ich finde, dass es eine gute Grundlage fürdiese Koalition ist, dass wir dies auch nicht verborgenhaben, sondern dass wir in den Koalitionsverhandlungenernsthaft gerungen haben und dass wir die Themen offenauf den Tisch gelegt haben. Aber es war uns auch klar,dass wir nicht um unseretwillen in den Deutschen Bun-destag gewählt worden sind, sondern dass wir für diesesLand in einer schwierigen Situation eine stabile undhandlungsfähige Regierung stellen müssen.
Es hat auch andere gegeben, die dieses nicht so gese-hen haben. Deswegen kam es zur Großen Koalition. Ichbin dankbar, dass dies jetzt gelungen ist. Wenn man denKoalitionsvertrag anschaut und das, was die Bundes-kanzlerin vorhin für die Bundesregierung gesagt hat, an-hört, dann kann man doch erkennen, dass dies eine gute,gemeinsame Ausgangslage darstellt, um dieses Land tat-sächlich in eine gute Zukunft zu führen.
Ja, Thomas Oppermann, ich teile die Auffassung: Wirmüssen uns daran messen lassen, dass es den Menschenund dem Land nach diesen vier Jahren Großer Koalitionbesser geht als vorher.
Dafür gibt es eine ganze Reihe von wichtigen Punk-ten. Das zentrale Thema, auf das es ankommt, ist auch inden nächsten Jahren dieser Großen Koalition Europa.Wenn wir in Europa Fehler machen, schwere Fehler ma-chen, können wir sie mit keiner nationalen Gesetzge-bung mehr korrigieren. Deswegen ist Europa so ent-scheidend.In Europa gibt es politische Leitlinien, die zu beach-ten sind. Da ist die wirtschaftliche, die finanzielle Situa-tion. Ich finde es gut, dass wir uns trotz unterschiedlicherAusgangslage in dieser Koalition darauf verständigt ha-ben, wie wir die Europapolitik in den nächsten Jahrengestalten wollen. Wir waren uns einig: Ja, wir Deutschesind solidarisch in Europa; aber wir verlangen auch dienotwendigen Veränderungen. Solidarität ja, aber auchdie notwendigen Reformen. Keine Leistung ohne Ge-genleistung.
Das ist unsere Position. Man sieht ja, dass dieser Kursdurchaus erfolgreich ist.
Jetzt muss man natürlich eines auch sagen: Meine Ge-neration weiß, dass es, gerade wenn man an Europadenkt, einige Zeit dauern kann, bis man Ziele erreicht.Wir alle sind in einer so ungeduldigen Hektik: heute Be-schluss, morgen Erfolg. Wir müssen uns alle ein wenigZeit geben, die Entwicklung hinzubekommen. GroßeWerke gelingen natürlich nur mit einem entsprechendenStartschuss. Aber dann bedürfen sie auch einer geduldi-gen Betreuung und Pflege, damit die Dinge vorankom-men.Da sind wir, wie ich finde, auf einem guten Weg. Na-türlich ist ein zentrales Thema, dass wir die Jugendarbeits-losigkeit in Europa bekämpfen. Von jungen Menschen,die erleben, dass sie keinen Einstieg in die Berufsweltund in ein selbstständiges Leben bekommen, kann mankaum Begeisterung für dieses Europa erwarten.
Deshalb ist es richtig, dass diese Bundesregierungentsprechende Initiativen ergreift, um in Europa jungeMenschen voranzubringen. Daher ist es richtig, dass wirin Deutschland jungen Menschen aus Europa die Mög-lichkeit geben, hier zu arbeiten, Erfahrungen zu sam-meln und dann auch wieder in ihre Heimat zu gehen.Das ist alles in Ordnung. Und es ist auch richtig, dasswir unser anerkanntes System der dualen Berufsausbil-dung in die anderen europäischen Länder tragen, wennsie dies wünschen.
Dies heißt aber auch, dass wir selber diese duale Be-rufsausbildung in unserem Land ernst nehmen und dasswir sagen: Jawohl, ein exzellent ausgebildeter Meisterist uns so wichtig wie ein Diplom-Ingenieur.
Wir brauchen beides. Wir sehen ja beispielsweise in Spa-nien, wohin es geführt hat, wenn man glaubt, nur akade-mische Ausbildung führe zum Erfolg. Das heißt, auchwir in Deutschland müssen unsere duale Berufsausbil-dung weiter auf Kurs halten.Es ist natürlich richtig, dass wir in Europa all dieDinge bekämpfen und korrigieren, die zu diesen Ergeb-nissen geführt haben. Es ist natürlich richtig, dass wireine europäische Bankenaufsicht schaffen und dass da-raus entsprechende Konsequenzen folgen, dass dieseBankenaufsicht also bestimmte Auflagen erteilen kann.
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584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Volker Kauder
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Wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahre, dass inmanchem europäischen Staat die nationale Bankenauf-sicht nicht so hingeschaut hat, wie es notwendig gewe-sen wäre, um zu dem entsprechenden Ergebnis zu kom-men. Ich finde es richtig, dass die Aufsicht in einerbesonderen Abteilung der EZB angesiedelt wird. LiebeKolleginnen und Kollegen, eine Bankenaufsicht, die ei-ner politischen Kontrolle unterstellt wäre, würde nie die-selben Ergebnisse bringen wie eine unabhängige Ban-kenaufsicht. Deswegen ist die Ansiedlung, die jetztgemacht wird, völlig richtig, und wir unterstützen sieauch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wirdieses Europa anschauen, müssen wir sagen: Europa hatauch deshalb immer wieder Probleme gehabt, weil mansich nicht an das gehalten hat, was man miteinander ver-einbart hat. Dabei ist der Satz „Europa hat deshalb Pro-bleme bekommen“ sogar noch falsch. Nicht Europa trägtdafür Verantwortung, sondern es sind noch immer dieNationalstaaten, die dieses Europa bilden und die Ver-antwortung tragen.
Deswegen kann ich nur sagen: Deutschland muss da-für sorgen, dass die einmal getroffenen Vereinbarungeneingehalten werden. Das gilt sowohl bei den finanziellenFragen als auch bei anderen. Es macht keinen guten Ein-druck, wenn wir beispielsweise nicht energisch sagen:Die Stabilitätskriterien müssen eingehalten werden. –Jede Ausnahme gilt nämlich nicht nur für einen, sondernfür das ganze System, und so kam das System ins Rut-schen. Wir haben Vereinbarungen, die wir getroffen ha-ben, selber nicht eingehalten, und das kann so nicht wei-tergehen.
Das gilt aber auch in allen anderen Bereichen. Damitwill ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der in derpolitischen Diskussion der letzten Wochen durch dieKlausurtagung der CSU-Landesgruppe eine gewisseRolle gespielt hat. Zunächst einmal rate ich immer dazu,sich genau anzuhören, was gesagt worden ist. Dann rateich dazu, in den Koalitionsvertrag zu schauen und zu le-sen, was zu dem Thema dort vereinbart wurde. Und dannwird in den allermeisten Fällen ein gutes Ergebnis he-rauskommen.
Auch das hat mit Europa zu tun. In Europa haben wiruns selbst das große Geschenk der Freizügigkeit ge-macht, und daran will auch überhaupt niemand rütteln.
– Daran will niemand rütteln. – Aber wir haben in denRegelungen zur Personenfreizügigkeit in der EU klarund deutlich gesagt, dass in Europa Zuwanderung in Ar-beit richtig ist, aber Zuwanderung in soziale Sicherungs-systeme nicht erwünscht ist. Wenn man sieht, dass sichdas in dem einen oder anderen Fall anders verhält, mussman dies auch ansprechen. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, im Koalitionsvertrag steht ausdrücklich, dass wiruns solche Fehlentwicklungen anschauen wollen.
Wir sind für die Freizügigkeit und die Zuwanderung.Aber wir werden mehr Verständnis der Bürgerinnen undBürger für Europa und für die Politik nur dann bekom-men, wenn wir die eine Botschaft klar sagen – und unsnicht von Populisten von links oder rechts beeindruckenlassen –, wenn wir aber auch den Mut haben, in allerNüchternheit und Klarheit Fehlentwicklungen anzuspre-chen und dafür zu sorgen, dass sie abgestellt werden.
Das ist das gemeinsame Thema, und da brauchen wirBelehrungen von links oder von ganz rechts außen nicht.Wenn wir das so machen, dann kommen wir auch gutvoran; das findet sich im Koalitionsvertrag wieder.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Europa mussauch mehr sein als ein Europa von Euro und Cent. Ichbin Thomas Oppermann dankbar, dass er angesprochenhat, dass wir eine Wertegemeinschaft sind. Es geht na-türlich auch darum, dass wir diese Werte umsetzen. Dahaben wir – auch das muss man sagen – in unserem eige-nen europäischen Haus an der einen oder anderen Stellenoch miteinander zu tun. Wir sind mit der Situation vonRechtsstaatlichkeit, von Unabhängigkeit der Justiz indem einen oder anderen europäischen Land nicht zufrie-den. Das müssen wir klar und deutlich sagen. Wir kön-nen auch nicht zufrieden sein, wenn ein europäischesLand – ich nenne einmal den Namen, nämlich Rumänien –sich nicht noch mehr anstrengt, Roma im eigenen Landbesser zu integrieren.
Das muss angemahnt werden. Dafür hat die EuropäischeUnion Geld zur Verfügung gestellt. Es gehört also beideszusammen: Wir sind eine Wertegemeinschaft und müs-sen diese Werte auch umsetzen.Dann sage ich auch: Die Erfahrung der letzten Jahrehat gezeigt, dass wir bei Verhandlungen mit Ländern, diezur Europäischen Union gehören wollen, nicht nur ein-seitig auf die wirtschaftliche Situation schauen dürfen– das sowieso –, sondern auch dafür sorgen müssen, dassder Rechtsstaat und auch die Freiheits- und Bürgerrechteumgesetzt werden. Wir dürfen uns nicht darin täuschen,dass sie erst dann umgesetzt werden, wenn ein Land inEuropa ist. Vielmehr muss dies vorher geschehen. Des-wegen bitte ich die Bundesregierung ausdrücklich, beiden Verhandlungen mit der Türkei das Thema Rechts-staatlichkeit, Religionsfreiheit nicht bis zu den Verhand-lungen über das letzte Kapitel zu verschieben, sonderndeutlich zu machen, dass dieses Thema ein Wesensele-ment der Wertegemeinschaft Europa ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 585
Volker Kauder
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es denMenschen nach vier Jahren dieser Großen Koalition bes-sergeht, wird darüber hinaus ganz entscheidend – auchdies ist von Thomas Oppermann gesagt worden – vonder wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Deswegenmuss es das erste Ziel sein, alles dafür zu tun, dass diedeutsche Wirtschaft sich entwickeln und wachsen kann.Unser Mittelstand steht in einer unglaublichen Wettbe-werbssituation, in Asien, aber auch in Europa. Es sindenorme Investitionen notwendig, um die neuen Heraus-forderungen annehmen zu können. Deswegen war esrichtig, das Geld dort zu lassen, wo es gebraucht wird,um die Wirtschaft wachsen zu lassen, statt es durch Steu-ererhöhungen in den Staatshaushalt hineinzuspülen. Da-mit haben wir eine richtige Entscheidung getroffen. Ichbin dankbar dafür, dass diese Entscheidung in der Gro-ßen Koalition möglich war. Ich will es nur noch einmalsagen – wir brauchen es nicht weiter zu vertiefen –: Beider Entscheidung „keine Steuererhöhungen“ bleibt es indieser Koalition in den nächsten vier Jahren.
Ich bin der Auffassung, auch wenn unterschiedlichePositionen in unseren Gesprächen bei der einen oder an-deren Frage zum Vorschein gekommen sind, dass das,was wir jetzt im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ver-antwortet werden kann, sowohl das Rentenpaket alsauch die Maßnahmen, die wir im Umfeld des Arbeits-marktes vereinbart haben. Aber wir sollten uns immerauch darüber im Klaren sein: Verantwortet werden kannes – und wir stehen dazu – nur dann, wenn die wirt-schaftliche Entwicklung stabil verläuft. 100 000 Arbeits-lose mehr bedeuten 2,2 Milliarden Euro Mehrausgabenbei der Bundesanstalt für Arbeit. Es soll uns immer lei-ten, alles, was wir machen, daraufhin genau anzuschauen,ob es dazu dient, mehr Arbeit zu schaffen, mehr Men-schen in Arbeit zu bringen und nicht weniger. Das mussdie Hauptaufgabe bei all diesen Dingen bleiben, diesenKontrollmechanismus müssen wir genau im Auge behal-ten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nurdie innenpolitischen Themen sind entscheidend für unserwirtschaftliches Wachstum. Die Energiepolitik – sie istschon angesprochen worden – ist ein zentrales Thema.Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich kann es an die-ser Stelle nur noch einmal sagen: Diese große Aufgabe,die Energiewende voranzubringen und zum Erfolg zuführen, diese Aufgabe, die Sie nun in der Regierung undwir in der gesamten Koalition haben, betrachten wirnicht als die Aufgabe eines SPD-Bundesministers; viel-mehr ist es die gemeinsame Aufgabe von uns allen, liebeKolleginnen und Kollegen.
Sie können sicher sein, dass wir Sie bei dieser Aufgabebegleiten, vielleicht zuverlässiger als mancher aus Ihreneigenen Reihen, den Sie jetzt gerade hören.
Damit wende ich mich an die Bundesländer – dieBundeskanzlerin hat es schon angesprochen –: Es gehtnicht um Partikularinteressen. Wir müssen klar und deut-lich formulieren: Wir machen Energiepolitik für Deutsch-land. Dafür trägt auch der Bundesrat eine Verantwortung.Natürlich schauen wir auf das eine oder andere Anliegender Länder. Aber wir machen Energiepolitik, damitDeutschlands Wirtschaft wachsen kann und die Men-schen nicht übermäßig zahlen müssen. Auf diesem Weghaben Sie uns an Ihrer Seite.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für diedeutsche Wirtschaft ist nicht nur entscheidend, was wirin diesem Land machen. Wir sind eine Exportnation.Deswegen sind wir natürlich auch auf die europäischenMärkte angewiesen. Aber wir sind nicht nur in Europa,sondern weltweit unterwegs. Das muss auch in Zukunftso bleiben. Wir müssen uns daher darum bemühen, dasses in einigen Krisenherden in der Welt wieder mehr Sta-bilität gibt, und wir müssen uns stattgefundene Verände-rungen anschauen. Wir werden deshalb in dieser Koali-tion für drei Bereiche eine neue Situationsbeschreibungmachen müssen.Erstens. Die Veränderungen in Asien waren drama-tisch. Wir sehen, dass es neben Veränderungen im wirt-schaftlichen Bereich auch Unsicherheiten gibt. DenkenSie nur an die Situation auf der koreanischen Halbinseloder die Beziehungen zwischen China und Japan. Wirbrauchen deshalb eine neue Asien-Strategie. Wir müssenuns fragen: Wie gehen wir mit der neuen Situation um?Zweitens. In diesen Tagen sehen wir ja, was in Afrikalos ist. Niemand glaube, dass wir nach dem Motto „Was inAfrika passiert, das geht uns nichts an!“ leben können.Wir brauchen daher eine neue Afrika-Strategie. Da müs-sen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie das Verhältnisvon politischen Aktivitäten, also dem Vorhererkennen vonKrisen und Präventionsmaßnahmen, zu militärischenNotwendigkeiten aussieht. Ich halte das für völlig rich-tig, was in der Bundesregierung gesagt worden ist, näm-lich dass wir auch in Afrika unseren Beitrag leisten.Aber ich bin schon der Meinung, dass wir uns noch ein-mal darüber unterhalten sollten, was wir konkret machenwollen.Ich kann beim allerbesten Willen nicht erkennen – ichhalte unsere damalige Entscheidung für richtig –, dassder militärische Einsatz in Libyen tatsächlich ein Erfolgwar. Die Waffen, die dort waren, sind in andere StaatenAfrikas gelangt. Deswegen ist es völlig richtig, wenn wiruns politische und diplomatische Maßnahmen sowie dieNotwendigkeit für militärische Aktionen ganz genau an-schauen und auf ihre Erfolgsmöglichkeiten hin überprü-fen.Drittens. Wir brauchen eine neue Lateinamerika-Stra-tegie. In Lateinamerika wird zu Recht immer wieder be-klagt, dass wir uns zu wenig um diese Länder kümmern.Zum Schluss. All das, was wir jetzt beispielsweise inAfrika sehen, hat auch etwas mit unserer eigenen Sicher-heit zu tun. Wir sehen eine neue Entwicklung in der
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586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Volker Kauder
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Welt. Jeder weiß, dass ich mich mit dem Thema Reli-gionsfreiheit in besonderer Weise befasse. Früher hattenwir immer das Problem, dass Staaten Religionsfreiheiteingeschränkt haben und dass dort Gläubige verfolgtwurden. Zunehmend stellen wir fest, dass die Risikenvon Unfreiheit, von Bekämpfung von Glaubensbekennt-nissen in sogenannten gefallenen Staaten, in denen eskeine staatliche Autorität mehr gibt, steigen. Entlang vonethnischen Grenzen und Glaubensüberzeugungen wirdeine Auseinandersetzung geführt. Wo es keine staatlicheGewalt mehr gibt, entstehen islamistische Terrorgrup-pen, die auch zum Leidwesen der einheimischen musli-mischen Bevölkerung ihr Unwesen treiben. Deshalb istdie Frage, mit welcher Strategie wir an diese Fragen he-rangehen, ein zentrales Thema der Menschenrechte, aberauch der wirtschaftlichen Entwicklung.
Ich finde, Herr Hofreiter, dass diese Koalition diewirklich großen Fragen in ihrem Koalitionsvertrag ange-sprochen hat; die Bundeskanzlerin hat diese genannt.Viele Punkte, die in der Koalitionsvereinbarung stehen,sind für Gruppen, aber auch für einzelne Menschenwichtig. Ich kann nur sagen: In Europa dafür zu sorgen,dass es wieder vorangeht, wirtschaftliches Wachstumund Frieden und Stabilität in dieser Welt zu fördern,das sind die großen Herausforderungen, denen wir unsstellen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kauder. – Das Wort hat Gerda
Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Eines können wir zu Beginn dieser Legislaturpe-riode eindeutig feststellen: Das Feld ist sehr gut bestellt.Die Konjunktur hat wieder an Schwung gewonnen; dieSteuereinnahmen haben einen Höchststand erreicht. Essind wieder mehr Menschen in Beschäftigung als in frü-heren Jahren, und sie verdienen im Durchschnitt mehrals die Menschen in der Europäischen Union. Diesmacht deutlich: Deutschland ist das Chancenland inEuropa. Das ist die Ausgangsposition.
Das hängt damit zusammen, dass die Menschen fleißigsind, dass wir tüchtige Unternehmer haben, dass die Ta-rifpartnerschaft funktioniert. Aber es hängt auch damitzusammen, dass in den vergangenen acht Jahren unterder Führung von Angela Merkel eine gute Politik für dieMenschen im Land gemacht wurde. Der Vertrauens-beweis, den sie und diese Regierungskoalition, insbeson-dere die Unionsfraktion, bekommen haben, macht deut-lich: Die Menschen wollen keinen Politikwechsel. Siewollen, dass der politische Stabilitätskurs der vergange-nen Jahre fortgesetzt wird.
Vor genau dieser Ausgangsposition standen wir zuBeginn der Koalitionsverhandlungen. Es ist bereits vonVolker Kauder und Thomas Oppermann deutlich ge-macht worden, dass es wahrlich nicht selbstverständlichwar, sich auf ein so starkes Programm für die Menschenim Land, für eine weitere gute Entwicklung zu verstän-digen. Aber uns war klar: Es ist keine Zeit, um sichzurückzulehnen, schon gar keine Zeit, um von der Sub-stanz zu leben. Der Auftrag, den wir alle haben, ist, die-ses Land und die Menschen gut zu regieren und die He-rausforderungen, die vor uns stehen, mutig anzugehen.Das haben wir gemacht.
Als Erstes geht es um die zentrale Frage: Wie kannder Kurs in Richtung Vollbeschäftigung gehalten wer-den? Eines der wichtigsten Themen dabei war – daswurde gerade von Volker Kauder angesprochen – dasNein zu jeder Art von Steuererhöhungen. Wir hatten dazunächst unterschiedliche Positionen. Aber weil wir wis-sen, dass Steuererhöhungen Gift für die Wirtschaft, Giftfür eine weiterhin gute Beschäftigungssituation wären,haben wir uns gemeinsam darauf verständigt, dass eskeine Steuererhöhungen gibt. Dabei muss und wird esauch bleiben.
Wir haben uns auf ein Zweites verständigt, das für dieweitere Beschäftigungsentwicklung von entscheidenderBedeutung ist: den Vorrang von Bildung, Forschung undInnovation. Auch dabei geht es um die Fortführung desKurses der letzten Legislaturperiode. Damals wurdenvonseiten des Bundes zusätzliche Gelder gerade für For-schung ausgegeben, und auch diesen Kurs setzen wirfort. Das, was wir in unsere Kinder und Jugendlichen, indie Köpfe der Menschen investieren, das kann ihnen nie-mand mehr nehmen. Es ist das Kapital unseres Landes,für eine weitere erfolgreiche Entwicklung der Menschenselbst, aber auch unserer gesamten Volkswirtschaft. Des-halb ist dies so wichtig.
Wir haben einen dritten Schwerpunkt gesetzt, auchdies in Fortführung dessen, was in der letzten Legislatur-periode begonnen wurde, und zwar auf die Verbesserungder Infrastruktur. Wir alle wissen, dass ohne eine ausrei-chende Verkehrsinfrastruktur wirtschaftliche Prosperitätnicht stattfinden kann. Wir haben hier Nachholbedarfaus früheren Jahren. Deshalb brauchen wir zusätzlicheMittel für die Verkehrsinfrastruktur und auch eine Betei-ligung derjenigen, die sich bisher nicht beteiligen, näm-lich der Ausländer, die auf unseren deutschen Autobah-nen fahren. Das wollen und werden wir auch realisieren.
Zu einer guten Infrastruktur gehört auch die Versor-gung mit einem modernen Breitbandnetz. Deshalb ist es
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 587
Gerda Hasselfeldt
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richtig, die Kompetenzen für die Infrastruktur, die Ver-kehrskompetenz und die Breitbandkompetenz, in einemMinisterium zu bündeln. Wir können es nicht zulassen,dass nur in den Ballungsgebieten, dort, wo es sich markt-wirtschaftlich rechnet, eine schnelle Internetverbindungzur Verfügung steht. Jeder Unternehmer, jeder Student,jeder Schüler, jede Privatperson, auch im ländlichenRaum, hat einen Anspruch auf eine schnelle Internet-verbindung. Deshalb begrüße ich es besonders, dieKommunen hier finanziell besser zu unterstützen. Ichbegrüße auch die Anstrengungen einiger Länder; Bayerntut dies in vorzüglicher Weise.
Ein Viertes ist für die Beschäftigungssituation und dieweitere wirtschaftliche Entwicklung von elementarerBedeutung: die Bewältigung der Energiewende. Das istvorhin schon mehrfach angesprochen worden. Was ma-chen wir in diesem Bereich? Wir nehmen im Endeffekteine Reparatur dessen vor, was insbesondere von denGrünen forciert wurde. Sie haben sich nämlich damalsüberhaupt nicht um den Netzausbau und den Speicher-ausbau gekümmert.
Sie haben sich auch nicht um die Preisentwicklung ge-kümmert, sondern einen unkoordinierten und unge-bremsten Ausbau der erneuerbaren Energien betrieben.
Wir haben jetzt das zu reparieren, was Sie durch IhreFehler und Defizite hinterlassen haben. Das ist die Aus-gangsposition. Nun geht es darum, die Energiewendeweiter zu begleiten und dabei eben nicht nur darauf zuschauen, dass sich der Anteil der erneuerbaren Energienerhöht, sondern auch darauf, dass die Versorgung gesi-chert ist, und zwar auch dann, wenn die Sonne nichtscheint und der Wind nicht weht, und dass die Preisenicht davonlaufen, damit sie jeder private Verbraucher,jede Rentnerin und jeder Rentner, jeder Arbeitnehmerund jedes Unternehmen, das Arbeitsplätze zur Verfü-gung stellt, auch zahlen kann. Darum geht es, meineDamen und Herren; das haben wir in gemeinsamer Ver-antwortung zu bewerkstelligen.
Der Bundesminister hat dazu Eckpunkte vorgelegt;
das sind richtige Weichenstellungen. Er wird auf Grund-lage dieser Eckpunkte einen konkreten Gesetzentwurfvorlegen. Wir werden bei dieser komplizierten Materienatürlich alles diskutieren; das ist auch unsere Verant-wortung. Aber eines muss klar sein: Wir müssen diesesProjekt gemeinsam begleiten. Wir alle wissen um diesehr unterschiedlichen regionalen Interessen, um dieunterschiedlichen Interessen der Verbände und der be-troffenen Wirtschaftszweige. Unser Augenmerk mussimmer darauf gerichtet sein, die Aspekte Umweltver-träglichkeit, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit undAkzeptanz in der Bevölkerung unter einen Hut zu brin-gen. Das ist eine schwierige Aufgabe – wenn es leichtwäre, hätten wir das längst erledigt –, die wir gemeinsambewerkstelligen müssen. Sie haben unsere Unterstützungbei der Bewältigung der Energiewende.
All dies ist die Grundvoraussetzung dafür, dass allenotwendigen Anpassungen im sozialpolitischen Bereichzufriedenstellend gelöst werden können. Bevor ich aberdarauf zu sprechen komme, möchte ich einen weiterenKomplex ansprechen, der für die Zukunft unseresLandes von ganz entscheidender Bedeutung ist. Es gehtum die Frage: Wie gehen wir mit unseren öffentlichenFinanzen um? Wie halten wir es mit unseren Haushal-ten? Das ist nicht nur theoretisch zu entscheiden. Es gehtauch nicht darum, dass etwas auf dem Papier steht. Hiergeht es vielmehr um unser Selbstverständnis, zumindestum mein Selbstverständnis, von politischer Arbeit; dennwir machen nicht nur für die heutige Generation Politik,sondern immer auch mit Blick auf diejenigen, die nachuns kommen, auf unsere Kinder und Enkelkinder. Wennwir unsere Verantwortung, für solide öffentliche Finan-zen zu sorgen, nicht ernst nehmen, dann versündigen wiruns an den nachfolgenden Generationen, an unserenKindern und Enkeln.
Ein gutes Beispiel ist Bayern. Seit fast zehn Jahrenhaben wir einen ausgeglichenen Haushalt; mittlerweilesind wir bei der Tilgung der Altschulden. Auch aufBundesebene sind wir auf einem sehr guten Weg. In die-sem Jahr werden wir einen strukturell ausgeglichenenHaushalt haben und für das nächste Jahr einen ausgegli-chenen Haushalt vorlegen. Das ist das Ergebnis unsererharten Arbeit in den vergangenen Jahren. Wir dürfenjetzt aber nicht stehen bleiben. Deswegen bin ich sehrdankbar, dass wir uns in den Koalitionsverhandlungenbei zunächst unterschiedlicher Ausgangsposition aufdiesen Weg der Stabilität verständigt haben.Das Gleiche gilt für Europa. Auch hier haben wir– die Bundeskanzlerin hat es vorhin angesprochen – inden vergangenen Jahren durch unseren Stabilitätskursund durch die Hartnäckigkeit der Bundeskanzlerin vielerreicht. Die Situation in den Problemländern hat sichdeutlich verbessert. Aber auch hier gilt es, Kurs zuhalten; wir sind noch nicht über den Berg. Wir müssenimmer wieder deutlich machen: Eine zu hohe Staats-verschuldung ist die Basis für eine weiter schlechte wirt-schaftliche Entwicklung auf Jahrzehnte. Wir wollen eineStabilitätsunion in Europa, statt den Weg in eine Schul-denunion zu gehen.
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588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Gerda Hasselfeldt
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Das Thema Europa ist mehrfach angesprochen wor-den. Ich will dazu nur einige Bemerkungen machen.Trotz all der schwierigen Entscheidungen, die wir inletzter Zeit zu treffen hatten, konnten wir uns die Vor-teile Europas bewusst machen und durften erkennen,welch großartiges Geschenk es ist, in der jetzigen Zeit,auch nach schwierigen Phasen in Europa, in Deutsch-land leben und dieses Europa weiter gestalten zukönnen. Die Erfahrungen aus der Geschichte haben ge-zeigt, dass wir ein starkes Europa brauchen, wenn es umAußen- und Sicherheitspolitik geht, wenn es um Wirt-schaftskoordinierung und um Währungsfragen geht oderauch um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit inden europäischen Ländern. Aber wir brauchen einschlankes Europa, wenn es darum geht, den Alltag derBürger zu gestalten. Europa muss sich nicht in jede Klei-nigkeit einmischen – vom Trinkwasser bis zu denDuschköpfen –, sondern sollte sich auf die wesentlichenAufgaben beschränken. Ich bin froh, dass dieser Ge-danke der Subsidiarität, der früher im Wesentlichen einGedanke der Union war, gelegentlich sogar nur mit derCSU verbunden wurde, in Europa mittlerweile auch inanderen Parteien Platz gegriffen hat. Das begrüße ichsehr.
Ich begrüße auch – wenn ich das sagen darf – dasgroße Verständnis für die CSU-Position zur Freizügig-keit in Europa, das heute mehrere Redner zum Ausdruckgebracht haben. Ich betone es hier noch einmal: Ichstehe mit meiner Partei voll zur Freizügigkeit in Europa.Niemand in meiner Partei stellt das infrage, niemand.
Aber wir wollen keinen Missbrauch der Freizügigkeit,und wir müssen eine Antwort geben auf die Klagen derKommunen und Städte über die Situation vor Ort. Ichbin sehr dankbar dafür, dass sich der Staatssekretärsaus-schuss dieser Probleme annimmt und eine Lösung sucht.
Das ist eine notwendige und richtige Konsequenz. Wennwir vorhandene Probleme nicht ansprechen, dann brau-chen wir uns nicht darüber zu wundern, dass sich amrechten und am linken Rand unserer Gesellschaft Kräftetummeln, die wir alle miteinander nicht haben wollen.
Ich will noch einen Komplex ansprechen. Unser Landlebt ganz wesentlich vom gesellschaftlichen Zusammen-halt, vom Zusammenhalt der Generationen, vom Zusam-menhalt der unterschiedlichen sozialen Gruppierungen.Deshalb ist es uns wichtig, den Stellenwert der Familieund den Stellenwert der Erziehung immer wieder deut-lich herauszustellen. Wir haben dafür gekämpft, dassdas, was in der letzten Legislaturperiode erreicht wurde,nicht reduziert wird. Das haben wir geschafft. Außerdemhaben wir dafür gekämpft, dass bei der Rentenversiche-rung die Erziehungszeiten derjenigen, die vor 1992 Kin-der geboren haben, besser anerkannt werden, als das frü-her der Fall war.
Das sind wir den Müttern dieser Generation schuldig,die unter viel schwierigeren Bedingungen als heute ihreKinder großgezogen haben, die häufig gezwungen wa-ren, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und deshalbniedrigere Renten haben.Wir vergessen ferner weder diejenigen, die pflegebe-dürftig sind, noch diejenigen, die die Pflegebedürftigenpflegen, egal ob in den Familien oder hauptberuflich,stationär oder ambulant. Deshalb wird uns das großeWerk der Reform der Pflegeversicherung stark in An-spruch nehmen.Wir vergessen auch die Menschen mit Behinderungennicht. In diesem Zusammenhang denken wir auch an dieKommunen; denn wir wissen sehr wohl, dass die Leis-tung für behinderte Menschen, die Eingliederungshilfe,nicht eine kommunalpolitische Leistung ist, sonderneine Leistung, die in den Verantwortungsbereich allerEbenen fällt, des Bundes, der Länder und der Kommu-nen. Deshalb werden wir mit dem Bundesleistungsge-setz auch hier ein Zeichen setzen.
Wir haben bei all diesen Themen eine gemeinsameVerantwortung in diesem Land. Gemeinsame Verant-wortung bedeutet aber nicht, dass man über unterschied-liche Positionen nicht kontrovers diskutieren darf. Zu ei-ner Demokratie gehört Meinungsvielfalt, auch einmalStreit im guten Sinne des Wortes. Man darf auch einmalinnerhalb einer Partei oder einer Koalition streiten; dassind wir den Menschen schuldig. Das geschieht aber im-mer unter dem Gesichtspunkt, dass wir alle miteinander,egal welcher Partei, den Auftrag haben, den Menschenzu dienen und dafür zu sorgen, dass es ihnen noch bessergeht als heute schon. Das sind Auftrag und Verpflich-tung dieser Koalition.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hasselfeldt. – Ich gebe
nun das Wort der Beauftragten für Kultur und Medien,
der Staatsministerin Professor Monika Grütters.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vondem wunderbaren, gelegentlich ein wenig satirisch da-herkommenden Mark Twain stammt der Satz: Kultur istdas, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar ausgegebenist. – Hier ist er einmal ganz nüchtern gewesen. In derTat, Mark Twain hat recht: Kultur ist eben mehr als allesandere, Kultur ist ein Wert an sich. Geld ist nicht alles;
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 589
Staatsministerin Monika Grütters
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das wissen wir hier besser als alle anderen. Ohne Dollarsund Euros geht es halt nicht. Zum Glück haben Bundes-tag und Bundesregierung in der vergangenen Legislatur-periode den Etat des Staatsministers für Kultur immerwieder ein wenig aufwachsen lassen. Es wäre schön,wenn es dabei bliebe.Gerade in Zeiten ökonomischer Krisen, wie wir sienicht nur in Europa, sondern weltweit seit Jahren erle-ben, wird die Wertegemeinschaft, wird das, was wir dasKulturprojekt Europa nennen, immer wichtiger. Wo,wenn nicht in der Kultur, können Antworten gesuchtwerden auf die Frage, was uns zusammenhält? Die Fragestellt sich einmal mehr in einem so intensiven Gedenk-jahr wie 2014. Welche Werte erkennen wir eigentlich alsgemeinsames Fundament an? Eine Kulturnation wieDeutschland, die in ihren Traditionen so reich, aber in ih-ren Brüchen auch so radikal ist – mehr als alle anderen –,muss sich mehr denn je nach ihrer Rolle im heutigen undim zukünftigen Europa fragen. Ich glaube, Antwortenauf diese Fragen sind wir schuldig, und zwar vorDeutschland, vor Europa und auch vor den Augen derWelt.
Ein Blick auf unsere ja so sperrige Geschichte machtdeutlich, dass die Kultur in den vergangenen Jahrhun-derten in Deutschland immer eine besondere Rolle ge-spielt hat. Sie war und ist bis heute das geistige Band,das uns auch über manche föderalen Schwierigkeitenhinweg zusammenhält. Deutschland war zuerst eineKultur- und dann eine politische Nation. Nationale Iden-tität wächst eben auch zuallererst aus dem Kulturlebeneines Landes. Aus den Zusammenbrüchen unserer Ge-schichte mit zwei Diktaturen in einem Jahrhundert habenwir eine Lehre gezogen. Bereits in Art. 5 Abs. 3 unseresGrundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, For-schung und Lehre sind frei“. Das ist der oberste Grund-satz jeder verantwortlichen Kulturpolitik.
Frei sein können Kunst und Wissenschaft nur, wennder Staat ihre Freiheiten schützt. Diese staatliche Für-sorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mutzum Experiment natürlich auch das Risiko des Schei-terns einschließt, hat immer wieder weltweit beachteteLeistungen hervorgebracht. Dieses hartnäckige Engage-ment für die Künste, die ja nicht immer leicht zu ertra-gen sind, hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wie-der hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Einesolche Kultur ist eben nicht das Ergebnis des Wirt-schaftswachstums; sie ist vielmehr dessen Vorausset-zung. Kulturelle Existenz in Deutschland ist keine Aus-stattung, die sich unsere Nation leistet, sondern eineVorleistung. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass sieallen zugutekommt.Eine so verstandene Kultur ist auch kein dekorativerLuxus, sondern Ausdruck eines menschlichen Grundbe-dürfnisses. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondernauch Ausdruck von Humanität. Deshalb ist es mir beson-ders wichtig, neben der Fürsorge für unser kulturellesErbe, also für die Institutionen, ganz besonders auch dieKünstler in den Blick zu nehmen, die Kreativen, undSorge für die Rahmenbedingungen zu tragen, unter de-nen sie leben.
– Danke, ich habe auch Sie persönlich gemeint.
Denn es sind ja die Künstler, die uns immer wieder mitihren herausragenden Leistungen beglücken. Ich finde,das, was von den Kreativen kommt, darf auch mal weh-tun, darf auch unbequem sein. Sie sind das kritische Kor-rektiv, das wir brauchen und von dem eine vitale Gesell-schaft lebt. Sie dürfen uns zum Nachdenken und auchzur Kritik herausfordern. Ich bin Ihnen ausdrücklichdankbar dafür, dass das immer wieder und so hartnäckigpassiert.
Bei einem solchen Verständnis von Kultur verbietensich eine allzu kleinliche Steuerung und ein staatlichesKriterienkorsett. Künstler brauchen keine autoritativenVorgaben; was sie brauchen, sind Inspiration, Anstößeund unseren gemeinsamen Diskurs.Lassen Sie mich an dieser Stelle als Münsteranerin inBerlin und als Berlinerin in diesem Amt ein Wort zuBerlin sagen.
Mein Berliner Kollege Swen Schulz, meine KolleginHögl, mir wird immer unterstellt, ich würde jetzt nurnoch Berlin sehen.
Aber Berlin ist eben die Hauptstadt, und das, was in die-ser Hauptstadt kulturell gelingt, wird in den Augen derWelt dem ganzen Land gutgeschrieben.
Andererseits wird – jedenfalls in den Augen der Öffent-lichkeit – für das, was hier schiefgeht, auch das ganzeLand verantwortlich gemacht. Kulturpolitik in Berlin istalso, ob man das will oder nicht, immer auch Bundes-politik,
und die Bundeskulturpolitik in und für Berlin ist Aus-druck der Anerkennung der besonderen Rolle der Haupt-stadt für die Nation.Gleich wird es Ihnen nicht so gefallen. – In der Kul-turpolitik muss den Ländern klargemacht werden, dassBerlin kein konkurrierendes Bundesland, kein Bundes-land wie jedes andere ist, sondern unser aller Mittel-punkt. Berlin selbst muss dem Bund aber auch klarma-
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590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Staatsministerin Monika Grütters
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chen, dass er als Erster von einer kulturell blühendenHauptstadt profitiert. Ich würde mich schon freuen – dakönnen Sie mir alle helfen –, wenn Berlin auch einmalDanke sagen würde oder einfach nur erkennen ließe,dass Hauptstadt sein auch eine dienende Funktion ist.
Um also allen Mutmaßungen entgegenzutreten: Ichverstehe mich als Kulturstaatsministerin für ganz Deutsch-land, nicht nur, aber ganz besonders auch für Berlin, un-sere Hauptstadt. Deshalb hat mich meine erste Dienst-reise nach Frankfurt geführt und dort nicht in einenTempel der Hochkultur, sondern ins Jüdische Museum.
Dort wird nämlich gerade sehr eindrucksvoll in einerkleinen Kammerausstellung gezeigt, dass es den Nazis1938 nicht nur und nicht in erster Linie darum ging, dieKunst der Moderne als entartet zu diffamieren, sonderndass das Hauptziel war, auch im Kunstbetrieb jüdischeMitbürger und Akteure zu eliminieren. Deshalb bleibenProvenienzrecherche und Restitution, also die Rückgabegeraubter Güter, für uns ein ganz wichtiges Anliegen.
Es gehört zu unseren großen Verantwortungen, unsunserer Geschichte und ihren Folgen immer wieder undauch auf diesem bitteren Feld zu stellen, damit das ge-schehene Unrecht nicht auch noch latent fortdauert. Ichfinde es schlicht unerträglich, dass sich immer nochNaziraubkunst in deutschen Museen befindet.
Allerdings ist in puncto Provenienzrecherche in den ver-gangenen Jahren sehr viel geschehen. Die Arbeitsstellefür Provenienzforschung hat 2008 ihre Arbeit aufgenom-men; finanziert wird sie übrigens vom Bund und von denLändern. Seitdem sind 14,5 Millionen Euro in die Her-kunftssuche geflossen. Was häufig nicht gesehen wird:90 000 Objekte in 67 Museen und mehr als 520 000 Bü-cher und Drucke in 20 Bibliotheken wurden mittlerweileüberprüft. Nach unseren Erkenntnissen wurden bis Sep-tember letzten Jahres mehr als 12 200 Objekte – meistdiskret – zurückgegeben.Die Koordinierungsstelle Magdeburg, die Arbeits-stelle für Provenienzforschung und die Limbach-Kom-mission leisten eine hervorragende Arbeit, die übrigensim Ausland sehr wohl anerkannt wird. Aber es fehlt einerkennbarer Ansprechpartner. Darum sollen die Aktivi-täten von Bund, Ländern und Kommunen in den Berei-chen Provenienzforschung und Restitution, also tatsäch-liche Rückgabe, künftig gebündelt und nachhaltig – ichspreche von einer Verdopplung der Bundesleistungen –gestärkt werden. Ich habe dazu viele Gespräche mit Län-derkollegen geführt und nur positive Rückmeldung be-kommen.Es geht uns um mehr als um Kunstobjekte. Es gehtum das große Unrecht, um geraubte Identität, um denVerlust von Erinnerungen, die ja mit diesen Stücken ver-bunden waren, an geliebte Menschen. Ich finde, hier darfsich keine öffentliche Institution wegducken. Bei derRestitution geht es nicht in erster Linie um materielleWerte. Den Anspruchstellern ist besonders wichtig, dasssie, die Opfer, auch als Opfer anerkannt werden. Siemöchten, dass wir alle ihre zerstörten Lebensläufe ken-nen und dass durch die Anerkennung das Unglück unddas Leid, das sie erlitten haben, wenigstens nachträglichsichtbar werden. Ich finde, es ist unsere moralischePflicht, genau das zu leisten.
Deshalb ist auch klar, dass die Museen künftig nichtnur, wie bisher, an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspoli-tik, sondern auch daran gemessen werden, wie sie mit ih-rer Geschichte und mit der Geschichte ihrer Sammlungumgehen. Weil das nur gemeinsam gelingt, habe ich einzweites wichtiges Thema auf meiner Agenda: Wirmöchten enger mit den Ländern zusammenarbeiten.Ich habe mit den 16 Länderministern inzwischen ver-abredet, dass wir uns, wenn es irgendwie geht, zweimalim Jahr treffen. Das erste Treffen soll auf meine Einla-dung hin stattfinden. Dazu möchte ich dann auch diekommunalen Spitzenverbände einladen, weil immerhin44 Prozent der Kulturleistungen in Deutschland von denwackeren Kommunen erbracht werden.
Der zweite Besuch – ich respektiere ja mit großer Be-geisterung die Kulturhoheit der Länder – soll dann vonder KMK selber ausgehen. Wir wollen gemeinsam Stra-tegien dafür entwickeln, wie wir unsere kulturelle Infra-struktur retten können; denn sie wird sich ja vor demHintergrund der Demografie und der ethnischen Durch-mischung verändern.Dazu gehört eben auch die Stabilisierung der Künst-lersozialversicherung; denn der Erfolg der Kreativwirt-schaft, die in Deutschland hinter der Automobilindustriemittlerweile immerhin an zweiter Stelle rangiert, darfnicht darüber hinwegtäuschen, dass die allerwenigstenKünstler und Kreativen Großverdiener sind. Die Einfüh-rung der Künstlersozialversicherung vor 31 Jahren warein sozial- und kulturpolitischer Meilenstein.
Die Künstlersozialkasse garantiert bis heute ganz we-sentlich die soziale Absicherung der freiberuflich tätigenKünstler und Publizisten, und ich finde, wir dürfen beialler immer wieder laut werdenden Kritik aus einschlägi-gen Kreisen nicht zusehen, wie diese Errungenschaftjetzt beschädigt wird.
Das hat nämlich auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.Wer künstlerische Leistungen in Anspruch nimmt, dermuss eben auch ein bisschen dafür Sorge tragen, dassKünstler von ihrer Arbeit leben und nicht nur knappüberleben können, also angemessen bezahlt werden.
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Andererseits sollen die, die regelmäßig Abgaben ent-richten, eben nicht zu Zahlmeistern werden, weil sich dieanderen drücken. Deshalb ist eine stärkere, intensiverePrüfung notwendig. Im vergangenen Sommer waren wirkurz davor, das durchzusetzen. Ich bin meiner KolleginNahles sehr dankbar, dass auch sie das Thema Künstler-sozialkasse ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Viel-leicht schaffen wir es jetzt.
– Ja, ich finde, das ist einen Applaus wert.Die Absicherung ist das eine, noch wichtiger ist esaber, dass Künstler von ihrer kreativen Arbeit überhauptleben können – auch im digitalen Zeitalter. In der kom-menden Legislaturperiode wird es deshalb darum gehen,das Urheberrecht weiter an das digitale Umfeld anzupas-sen.
Es gilt vor allem, den Wert geistigen Eigentums besserzu vermitteln. Künstlerische Leistungen sind im Internetja frei verfügbar; das ist unbestritten. Umsonst dürfen sieaber nicht sein.
Urheberrechtsverletzungen im Netz verursachen gra-vierende Schäden, nicht nur volkswirtschaftlich. Des-halb müssen wir in der Rechtsdurchsetzung konsequen-ter sein, und die Rechteinhaber stehen für mich dabei imMittelpunkt. Wir wollen die Verbraucher nicht sanktio-nieren, sondern sensibilisieren und aufklären.Mit den digitalen Techniken sind nicht nur Risikenverbunden, sondern sie eröffnen auch einen ganz ande-ren Zugang zu Kultur und Bildung. Deshalb ist es unsein wichtiges Anliegen, das kulturelle Erbe zu digitali-sieren. Ich möchte hier aber nicht verschweigen, dassdas vor allen Dingen sehr teuer ist. Trotzdem ist es bitter,dass wir hier im Vergleich zu anderen Ländern, wieFrankreich, weit hinterherhinken. Das betrifft vor allenDingen unser nationales Filmerbe, das nicht nur digitali-siert, sondern auch viel besser aufbewahrt werden muss.Als Kulturpolitikerin ist es mir in diesem Kontext wich-tig, dass wir auch hier nach den gesellschaftlichen Ver-änderungen und den Werten fragen, die nicht im Rauschdes technisch Machbaren untergehen dürfen.Erlauben Sie mir zum Schluss bitte noch ein Wort zumeinem Herzensanliegen, zum größten KulturprojektEuropas; denn das entsteht in Berlins Mitte auf dem zen-tralen Platz der Republik: Es ist das Humboldt-Forum.Das ist schon lange kein Luftschloss mehr. Sie sehen,dass der Keller gedeckt ist und dass es auf starken Fun-damenten steht. Ich traue der Stiftung auch zu, dass amJahresende der Rohbau zu sehen sein wird.Ich möchte versuchen, anhand von zehn einfachenPunkten zu sagen, warum ich eine so leidenschaftlicheVerfechterin bin.Erstens. Deutschland hat als einzige Nation der Weltdie historische Chance, den zentralen Platz der Republikam Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu definieren. Wirmachen kein Parkhaus, kein Hotel und auch kein CentralPark East, sondern wir laden die Kunst ein.Zweitens. In einer einzigartigen Verbindung werdendie Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Universitätund die Bibliothek die Mitte der Hauptstadt bespielen.Drittens. Hier sollen sich vor allen Dingen die außer-europäischen Künste selbstbewusst darstellen.Viertens. Das Ganze geschieht im direkten Dialog mitunserer eigenen Kunstgeschichte, gegenüber auf derMuseumsinsel.Fünftens. Es soll um die Betrachtung der großenMenschheitsthemen gehen, wie die Grenzen des Lebens,Geburt, Tod, Gott, die Bedeutung der Religion, Identitätund Migration. Hier erfahren wir das, was wir alle überunser Leben wissen wollen.Sechstens. Wir alle erleben immer wieder, was esheißt, als Minderheit in einer Diaspora zu leben, zumBeispiel ich als Katholikin in Marzahn oder die Schwa-ben in Prenzlauer Berg.
Kosmopolitische Städte wie Berlin sind unsere Zukunft.In Museen gilt dieser Unterschied nicht; da sind alleMenschen gleich. Die Unterschiede sind kleiner als dieGemeinsamkeiten.Siebentens. Ich finde, es muss eine Vision für Berlin,die Hauptstadt, her, für Deutschland, eine der bedeu-tendsten Kulturnationen der Welt. Ich glaube, das kannan diesem Platz in aufregenden Kunstpräsentationen sei-nen Ausdruck finden.Achtens. Wir wollen die Diskussion interdisziplinärund auf hohem Niveau führen.Neuntens. Berlin ist der Sehnsuchtsort für viele jungeMenschen, die Deutschland attraktiv finden. Wir ladendie Jugend ein, denn dort sprechen wir eine neue, jungeSprache.Zehntens und last, but not least. Das Humboldt-Fo-rum ist mit einer einzigartigen Idee verbunden. Es gehtdabei ja nicht um ein besseres Völkerkundemuseum oderum die pragmatische Unterbringung unserer Sammlung.Es geht um neuartige Kunst- und Kulturerfahrung undum das Wissen über gleichberechtigte Weltkulturen undneue Kompetenzen im Weltverständnis. Damit das ge-lingt, müssen wir nicht nur das bauliche Entstehen be-gleiten, sondern wir müssen sehr schnell die Inhaltedurch eine Intendanz profilieren, um die ich mich sehrzügig kümmern möchte.Letzter Satz. Der Name „Humboldt-Forum“ steht fürdie Tradition der Aufklärung, für die weltoffene undselbstbewusste Annäherung der Völker und für das Idealeines friedlichen Dialogs. Für diese Ideen müssen wirwerben. Sie sind von grundlegender Bedeutung für unsin der Gegenwart und in der Zukunft; denn Kultur ist einModus für das Zusammenleben.Kultur darf, ja, sie muss zuweilen Zumutung sein.Wenn sie darüber hinaus noch unterhält, umso besser.
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Staatsministerin Monika Grütters
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Wenn wir für all das Sorge tragen, dann bleibt sie uns,selbst wenn Mark Twains letzter Dollar ausgegeben ist.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Monika Grütters. – Das Wort hat Sigrid
Hupach für die Linksfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich komme aus Thüringen, einem Land, in
dem Goethe, Schiller, Bach und das Bauhaus wirkten.
Kunst
und Kultur brauchen größtmögliche Freiheit, um sich
entfalten zu können. – Da kann ich Ihnen nur zustim-
men.
Die entscheidenden Fragen für mich sind aber: Was
bedeutet das für die Kulturpolitik, für Kulturfinanzie-
rung und -förderung? Wie viel Marktfreiheit braucht
Kultur, und wie viel Staat und Regulierung verträgt sie?
Damit sich Kunst und Kultur entfalten können, brauchen
Künstlerinnen und Kreative Rahmenbedingungen, die
ihnen Freiräume verschaffen. Aber sie brauchen auch
Rahmenbedingungen, die ihnen eine soziale Absiche-
rung garantieren.
Dazu gehört die Künstlersozialkasse genauso wie
steuerliche Vergünstigungen. Viel zu viele Kulturschaf-
fende und Kreative sind nicht nur keine Schwerverdie-
ner, sondern sie leben und arbeiten in prekären Verhält-
nissen. Als freischaffende Architektin weiß ich, wovon
ich rede.
Welche Gefahren in einer rein marktorientierten
Wahrnehmung von Kultur liegen, zeigen aktuell die
Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen
der EU mit den USA. Es war allein Frankreich, welches
sich in den Verhandlungen zum Mandatstext für eine
kulturelle Ausnahme starkgemacht hat. Deutschland un-
terstützte es nicht. Aber ein Freihandelsabkommen ohne
kulturelle Ausnahme bedroht Errungenschaften wie die
Buchpreisbindung, den reduzierten Mehrwertsteuersatz
oder die Filmförderung; das sind Mittel der Kulturförde-
rung, deren Wegfall Kultur und Künstlerinnen existen-
ziell gefährden würden. Da machen wir nicht mit.
Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Bundesregie-
rung zu dem besonderen Schutzbedürfnis von Kultur
und Medien. Dieses müsse bei den Verhandlungen über
ein Freihandelsabkommen durch Ausnahmeregelungen
berücksichtigt und gesichert werden. Wir erwarten, dass
dem nun Taten folgen.
Statt Geheimverhandlungen brauchen wir Transparenz
und eine Staatsministerin, die sich für die kulturelle Aus-
nahme einsetzt.
Die Linke hat im Wahlkampf ein Bundeskulturminis-
terium gefordert. Als Ministerin mit Kabinettsrang hätte
Frau Grütters in dieser Debatte jetzt auf der europäi-
schen Ebene einen viel besseren Stand. Dies ist aber
nicht die einzige vertane Chance im Koalitionsvertrag.
Seit Jahren fordert die Linke ein Kooperationsgebot
für Bildung und Kultur. Zwar bekennt sich die Bundes-
regierung zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern,
aber hierfür fehlen entscheidende Voraussetzungen. Wie
will die Koalition ohne ein Staatsziel Kultur, eine Ge-
meinschaftsaufgabe, ein Kooperationsgebot und eine
Verbesserung der Finanzsituation der Länder und Kom-
munen die Probleme anpacken?
Herr Bundestagspräsident Lammert sagte kürzlich in
einer Rede, mit Klauen und Zähnen müssten die Deut-
schen die traditionell gewachsene reiche Kunst- und
Kulturlandschaft verteidigen. Da bin ich ganz bei Ihnen,
Herr Lammert.
Der Koalitionsvertrag aber gleicht in seinen allgemeinen
Formulierungen eher einem zahnlosen Tiger.
Danke.
Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen
Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede und
wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer neuen Funktion.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Unser Koalitionsvertrag wie auch die Regierungser-klärung der Bundeskanzlerin und diese Debatte, die wirschon eine ganze Zeit führen, zeigen eines ganz deutlich:Wir haben vier Jahre engagierter Politik vor uns. Darauffreue ich mich richtig doll.Diese Große Koalition wird viele sehr konkrete Ver-besserungen für viele Menschen in Deutschland, in Eu-ropa und darüber hinaus bringen. Wir wissen – das ge-hört zur Wahrheit dazu; das muss ich erwähnen –, dassviele Themen vier Jahre lang liegen geblieben sind. Wirmit dieser Koalition beenden jetzt Stillstand und Blo-ckade. Wir verlieren keine Zeit mit unsinnigem Streitüber Kleinigkeiten, sondern wir haben das Wesentlicheim Blick.
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Dr. Eva Högl
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Wir werden die große Mehrheit in diesem Hause da-für nutzen, zu gestalten. Wir fangen direkt damit an. Wirlegen tatkräftig los. Lieber Herr Hofreiter – er ist nichtmehr anwesend, aber er verfolgt bestimmt die Debatte –,wir haben sowohl Mut als auch Ideen, um genau das zutun, was wir uns vorgenommen haben, nämlich zu ge-stalten.
Unser Koalitionsvertrag ist voller guter Ideen, undzwar mit konkreten Vorschlägen und klaren Vereinba-rungen. Es gibt nicht nur Absichtserklärungen und Prüf-aufträge, sondern konkrete Verbesserungen für die Bür-gerinnen und Bürger, und wir leisten mit diesem Beitragauch ganz konkret etwas Entscheidendes für die Moder-nisierung unserer Gesellschaft.Meine Damen und Herren, damit spreche ich ein paarThemen an, die zwar nicht in den Kulturteil dieser Aus-sprache gehören, aber viel mit der Kultur unseres Zu-sammenlebens zu tun haben. Die Reihenfolge der Redenist immer etwas unterschiedlich. Zur Kultur wird gleichmein Kollege Martin Dörmann noch ausführlich Stel-lung nehmen. Es gibt ein paar andere Themen, die vielmit unserem Zusammenleben zu tun haben und demMotto folgen, das wir, wie gesagt, in den nächsten vierJahren verwirklichen wollen: einerseits Verbesserungenfür die Bürgerinnen und Bürger und andererseits die Mo-dernisierung unserer Gesellschaft.Als allererstes Beispiel nenne ich ein Thema, dasnicht nur in Berlin, sondern weit darüber hinaus ganzwichtig ist und das wir gleich am Anfang angehen wer-den: Wir werden die Stellung der Mieterinnen und Mie-ter verbessern. Das ist dringend erforderlich.
Wir werden eine klar definierte Obergrenze für Miet-steigerungen bei der Wiedervermietung von Wohnungeneinführen. Wir werden damit direkt zu Beginn der Legis-laturperiode ein Wahlversprechen umsetzen. Wir helfendamit vielen Menschen in den Ballungszentren undGroßstädten, eine bezahlbare Wohnung zu finden und inihren angestammten Kiezen wohnen bleiben zu können.
Das verhindert die massenweise Verdrängung an dieStadtränder, und es hilft vor allen Dingen den Kommu-nen und den Bundesländern. Sie werden mitspielen,liebe Frau Wawzyniak, eine zielgerichtete Wohnraum-politik zu machen. Wir werden das Ganze flankieren– ich bin sehr stolz darauf, dass wir das im Koalitions-vertrag vereinbart haben – mit einer Aufstockung derMittel für das Programm „Soziale Stadt“. Damit könnenwir eine klar akzentuierte Politik für viele Bürgerinnenund Bürger machen.
Ich spreche noch ein Thema an, das heute schon oftangesprochen wurde, und zwar zu Recht, weil es sowichtig ist. Wir werden im Staatsbürgerschaftsrecht dieOptionspflicht abschaffen. Damit werden wir für vieleMenschen in unserem Land konkrete Verbesserungen er-reichen, nämlich für all diejenigen, die sich bisher mit23 Jahren für einen von zwei Pässen entscheiden muss-ten. Wir sagen Ja zu jungen Menschen mit türkischerFamiliengeschichte, die hier geboren sind. Denn wirwissen: Deutschland ist ihr Heimatland – ThomasOppermann hat zum Thema Heimat etwas sehr Wichti-ges gesagt –, und gleichzeitig sind diese Menschen inder Kultur ihrer Vorfahren verwurzelt. Deswegen ist essehr wichtig, dass eine unserer ersten Maßnahmen dazudient, sie nicht mehr vor eine quälende Entscheidung zustellen, sondern ihnen beide Perspektiven zu eröffnen,also beide Pässe behalten zu dürfen.
Damit sagen wir auch ganz klar Ja zu Deutschland alsEinwanderungsgesellschaft. Das ist unser Beitrag zu ei-ner Modernisierung unserer Gesellschaft.Ich möchte noch ein drittes Thema ansprechen. Auchhier beenden wir Stillstand und vor allen Dingen einenjahrelangen ideologisch völlig überhöhten Streit, näm-lich den Streit um die Frauenquote. Es ist ein großer Er-folg der SPD – das sage ich so deutlich; denn auf IhrerSeite, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,gab es viele, die das nicht wollten –, dass wir endlicheine Frauenquote in Aufsichtsräten einführen. Ich habemich heute über die deutlichen Worte der Bundeskanzle-rin hierzu sehr gefreut.
Das ist nicht nur ein Schritt zur Beseitigung bestehenderDiskriminierung von Frauen – wir haben hier im Bun-destag einen Handlungsauftrag –, sondern wir helfen vorallen Dingen – das ist mir besonders wichtig – all denexzellent ausgebildeten und hervorragend qualifiziertenFrauen, die wir in Deutschland haben, endlich auf diePlätze zu kommen, die ihnen immer vorenthalten wur-den: in Vorständen, in Aufsichtsräten und im mittlerenund höheren Management. Wir machen Schluss mit dergläsernen Decke. Auch das ist ein ganz wichtiger Bei-trag zur Unterstützung von Frauen, aber auch zur Mo-dernisierung unserer Gesellschaft.
Lassen Sie mich noch etwas zu einem Thema sagen,bei dem es mich ganz besonders geärgert hat, dass dieletzte Bundesregierung und die sie tragende Koalitionhier vier wertvolle Jahre verschenkt haben. Das ist dasThema Menschenhandel. In unserem Land leben Men-schen, die Opfer von Zwangsprostitution werden und de-ren Arbeitskraft widerlich ausgebeutet wird; das ist einganz wichtiges Thema. Diese Menschen brauchen unse-ren Schutz und unsere Hilfe. Hier besteht Handlungsbe-darf, und zwar nicht nur weil es eine gute EU-Richtliniegibt, sondern weil wir diese Menschen schützen und ih-nen helfen müssen. Wir wollen die Opfer besser schüt-
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Dr. Eva Högl
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zen und die Täter wirksam bestrafen. Deswegen habenwir im Koalitionsvertrag vereinbart, das Thema Men-schenhandel engagiert anzugehen und endlich zu kon-kreten Vorschlägen zu kommen. Ich möchte eine Ergän-zung machen, weil das in diesem Kontext immererwähnt wird: Diese Koalition hat sich ganz klar dazubekannt, Prostitution – im Gegensatz zu Frankreich –nicht zu verbieten. Wir werden die Stellung von Prostitu-ierten stärken, ihre Beschäftigungsbedingungen verbes-sern und ganz sorgfältig trennen zwischen Menschenhan-del, der bekämpft werden muss, und legaler Prostitution.
Zum Schluss möchte ich ein Thema ansprechen, beidem nicht die Regierung gefragt ist, sondern wir hier imDeutschen Bundestag. Es geht hier nicht darum, unserePositionen entlang der Fraktionsgrenzen bzw. nachMehrheiten festzulegen. Vielmehr versuchen wir, einegute Debatte in Gang zu bringen, um dann hoffentlichein hervorragendes Ergebnis bei einem ganz schwierigenThema zu erzielen – das ist unsere Aufgabe in dieser Le-gislaturperiode –, nämlich dem Thema Sterbehilfe. Wirwerden diese Debatte mit Sorgfalt, ausreichender Zeitund Sensibilität führen. Wir werden hoffentlich einekluge und sehr wertschätzende Debatte führen.Auch diese Debatte führen wir anders als in der letz-ten Legislaturperiode, in der ein Gesetz vorgelegt, dannaber doch nicht verabschiedet wurde, weil gar nicht genü-gend Zeit zur Beratung war. Das Anliegen der Koalition,soweit wir uns bisher vereinbart haben, ist vielmehr, einenintensiven und ausführlichen Diskussionsprozess nichtnur hier im Parlament – ich lade alle ein, mitzuma-chen –, sondern in der gesamten Gesellschaft zu initiie-ren.Es geht bei dem Thema Sterbehilfe sowohl um denUmgang mit unheilbaren und sehr schweren Erkrankun-gen, mit dem Ende des Lebens, um Fragen der Selbstbe-stimmung, als auch um die Würde des Menschen, und esgeht natürlich auch um Nächstenliebe und unser Men-schenbild. Es geht nicht darum, die Bundesregierungaufzufordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, und esgeht auch nicht darum, die Debatte auf einzelne Begriffeim Zusammenhang mit Sterbehilfe zu reduzieren, son-dern es geht um viel mehr, um unser Verständnis vonBeistand und Unterstützung und letztendlich um Sterbe-begleitung.Deswegen begrüße ich, dass wir uns hier im Parla-ment bereits auf zwei Dinge verständigt haben: erstens,dass wir diese Debatte sorgfältig führen, dass wir unsZeit für diese Debatte nehmen, und zweitens – da sindwir jetzt alle gefordert –, dass wir das zu einer Gewis-sensentscheidung machen.
Wir sortieren uns nicht entlang der Fraktionsgrenzen,sondern entlang unserer individuellen Auffassungen. Ichhabe das Thema extra hier in dieser Generaldebatte an-gesprochen, weil es – Sie merken das –, ein wichtigesThema ist, weil ich mich mit vielen Kolleginnen undKollegen engagieren möchte und weil ich Sie alle einla-den möchte – da spreche ich insbesondere die Kollegin-nen und Kollegen der Opposition an –, mit uns gemein-sam diesen Prozess zu gestalten, zu guten Debatten imBundestag zu kommen und dann eine gute Regelung fürdieses schwierige Thema zu finden.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Eva Högl. – Ich gebe das Wort an Ulle
Schauws für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen!Kultur ist keine Subvention, sondern eine Investi-tion in unsere Zukunft.Diese Aussage findet sich in Ihrem Koalitionsvertrag,und sie ist absolut zutreffend; aber sie geht nicht weit ge-nug. Kultur ist mehr als ein Wirtschaftsgut, Kultur istnotwendiger Teil der Daseinsvorsorge.
Der kulturelle Reichtum allein in unserem Land sollteuns wirklich beglücken. Er fordert uns auf, alle Möglich-keiten zu nutzen, jede Art von Kunst und Kultur und alleTalente zu fördern. Gerade deshalb engen Förderregelnwie das Kooperationsverbot in der Kulturförderung oderkonventionelle Definitionen von Kultur, wie sie sich imKoalitionsvertrag andeuten, das, was kreative Vielfaltausmacht, ein.
Was wir brauchen, ist der Wille, Kultur für alle erlebbarzu machen. Dazu gehört der Mut, finanzielle Mittel auchvielen kleinen Initiativen in aller Bandbreite zur Verfü-gung zu stellen.
Aber ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen:Welche Zukunftsperspektive bietet die Bundesregierungdenjenigen Menschen in unserem Land, die Kultur ge-stalten? Im Koalitionsvertrag lassen Sie diese dringendeFrage leider offen. Sie begnügen sich mit der vagen Aus-sage, man müsse zuerst einmal die „Lücken in der sozia-len Absicherung von Künstlern … identifizieren …“ Dasist entschieden zu wenig;
denn die soziale Lage der Kulturschaffenden ist längstbekannt. Sie leben mehrheitlich in prekären Verhältnis-sen. Sozialversicherungspflichtige werden in die Schein-selbstständigkeit gedrängt, verdienen durchschnittlichunter 1 000 Euro monatlich. Darunter sind vor allem
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Ulle Schauws
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viele Frauen. Im Schnitt liegt der Rentenanspruch bei420 Euro.Angesichts eines wachsenden Marktes der Kultur-und Kreativwirtschaft um jährlich gut 3 Prozent frageich mich, warum von dieser Wachstumsdividende nichtsbei den Kulturschaffenden selbst ankommt. Währendmeiner Zeit als Filmschaffende war diese Frage für michexistenziell. Daher sage ich: Mir fehlt Ihr klares Be-kenntnis zu sozialen Mindeststandards.
Mir fehlen Ihre Lösungsvorschläge für die vorprogram-mierte Altersarmut vieler Kreativer. Gerade deshalb wä-ren weitere Einschränkungen beim Zugang zur Künstler-sozialkasse absolut kontraproduktiv.
Wir Grüne wollen seit langem die circa 1 MillionKulturschaffenden – das sind deutlich mehr Beschäftigteals etwa in der gesamten Automobilindustrie; ich habeda andere Zahlen, Frau Staatsministerin; es handelt sichhierbei um knapp 0,75 Millionen Beschäftigte – fest indas soziale Netz und in die Sozialversicherungssystemeeinbinden. Das heißt, wir wollen auch Mindestlöhne undHonoraruntergrenzen im Kulturbereich verankern undselbstverständlich auch Frauen im Kulturbetrieb gleich-stellen. Außerdem wollen wir ein deutlich verbessertesUrhebervertragsrecht; denn die Profite müssen stärkerbei den Urheberinnen und Urhebern selbst ankommenund dürfen nicht nur bei den Verlagen und Providernhängen bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf 2014,dem europäischen Erinnerungsjahr mit zahlreichen Jah-restagen, wird es um die Frage gehen, wie wir angemes-sen gedenken. Hier warten wir immer noch auf Ihre kon-kreten Vorschläge. In diesem Kontext ist aber auch dieaktuelle Debatte um die Beute- und Raubkunst von Be-deutung. Wir Grüne stehen hier für eine rückhaltlose undkoordinierte Aufklärung, und das nicht nur im FalleGurlitt.
Bundeskulturpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen,darf sich auch nicht auf die Förderung prestigelastigerSchaufenster- und Großprojekte in Berlin, wie zum Bei-spiel des Stadtschlosses oder einer Staatsoper, derenUmbaukosten gerade explodieren, konzentrieren.
Ein Blick in die Provinz täte ganz gut. Wenn wir derVielfalt der Kultur von morgen eine Chance geben wol-len, brauchen wir jetzt politische Weitsicht, nachvoll-ziehbare und sozial gerechte Förderkriterien und mehrTransparenz.Da setzen wir ganz besonders auch auf Sie, FrauStaatsministerin; denn Sie haben in den vielen Jahren alsVorsitzende des Kulturausschusses auch mit meinerFraktion sehr gut und kooperativ zusammengearbeitet.Wenn es Ihnen um eine Kulturpolitik für alle Bürgerin-nen und Bürger und eine starke kulturelle Infrastrukturund Bildung in diesem Land geht, dann stehen wir gernezur Verfügung.
Kultur ist nämlich keine Subvention, sondern eine Inves-tition in unsere Zukunft und Daseinsvorsorge für alle.Lassen Sie uns diesen Grundsatz gemeinsam umsetzen.Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.Vielen Dank.
Vielen Dank, liebe Kollegin Ulle Schauws. – Auch
Ihnen gratuliert das ganze Haus zu Ihrer ersten Rede im
Bundestag.
Wir wünschen Ihnen alles Gute als Abgeordnete mit
dem Arbeitsschwerpunkt Kultur.
Als Nächster hat das Wort Michael Kretschmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir leben in einer einzigartigen Zeit von Chan-cen und Möglichkeiten. Die Regierungserklärung derBundeskanzlerin und die Diskussion darüber haben ge-zeigt, wie stark unser Land im internationalen Wettbe-werb dasteht und wie gut deswegen auch die Chancenfür Kunst- und Kulturförderung in unserem Land sind.Für CDU, CSU und SPD ist klar, dass die Freiheit vonKunst und Kultur ein unumstößliches Prinzip ist, wobeifür uns Kunst und Kultur und die Freiheit dazu immerauch die Freiheit des Andersdenkenden ist, also dessen,der eine andere Meinung hat. Das zu verteidigen undFreiräume für künstlerische Tätigkeit zu garantieren, dasist das Prinzip der Bundesrepublik Deutschland, das inden vergangenen Jahren, seitdem es einen Kulturstaats-minister gibt, immer Arbeitsauftrag und Verpflichtungwar.Die Koalitionsverhandlungen über den Bereich Kul-tur haben in einer beeindruckenden Harmonie stattge-funden, getragen von dem Willen, gemeinsam etwas fürdie Kunst und die Kultur, für die Künstlerinnen undKünstler in unserem Land zu erreichen. Ich denke, dasErgebnis dieses Koalitionsvertrages kann sich sehen las-sen, gerade im Bereich der Kulturpolitik.
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596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Michael Kretschmer
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Wichtig ist uns, dass die Künstlersozialversicherungauch in Zukunft eine Sonderstellung für die Kulturschaf-fenden in Deutschland hat. Sie soll soziale Sicherheitschaffen. Die besonderen Herausforderungen, vor denendie Künstlerinnen und Künstler stehen, müssen ebenauch in der Ausgestaltung der Künstlersozialversiche-rung ihren Niederschlag finden. Dazu ist es notwendig,dass die Abgabepflicht und die Prüftätigkeit wirklich ge-regelt werden. Das muss in den nächsten Wochen undMonaten dringend auf den Weg gebracht werden.
Meine Damen und Herren, für uns ist klar, dass beidem Freihandelsabkommen zwischen der EuropäischenUnion und den USA keine Zugeständnisse im Bereichkultureller und audiovisueller Dienstleistungen gemachtwerden können. Hier ist der Kern unserer kulturellenIdentität getroffen. Hier können wir keine Kompromissemachen.
Bernd Neumann hat die beeindruckende Bilanz derverschiedenen Staatsministerinnen und -minister fürKultur zu einer Größe gebracht, wie viele sie nicht fürmöglich gehalten haben. Als das Amt eingeführt wurde,haben die Länder parteiunabhängig geschimpft und Be-denken vorgebracht. Kritisiert, dass der Bund sich in die-sem Bereich engagiert. Heute ist man froh darüber, dassder Bund sich in der Kultur so stark engagiert und dassMonika Grütters unsere neue Kulturstaatsministerin ist,meine Damen und Herren.
Wir wollen den Haushalt von 1,2 Milliarden Euroauch in Zukunft stetig anwachsen lassen. Wir wollen dieidentitätsstiftende Kraft von Kunst und Kultur gerade ineiner Zeit mit hoher Migration nach Deutschland för-dern. Wir haben heute auch dazu etwas gehört. VieleMenschen werden zu uns kommen. Der Begriff „Hei-mat“ ist gefallen und positiv besetzt worden, auch vonunseren Freunden von der Sozialdemokratie. Wir wollenalso gerade in diesen Zeiten Kunst und Kultur als identi-tätsstiftende Kraft fördern. Deswegen werden wir in die-sen Bereich weiter investieren.Für uns ist wichtig, dass die kulturelle Bildung ge-stärkt wird. Das geht nur in Zusammenarbeit mit denKulturverbänden, in einer großen Harmonie mit denLändern und mit den Kommunen. Aber es ist wichtig, zubegreifen, dass Bildung mehr ist als nur Mathematik undGeschichte; es geht darum, Persönlichkeitsentwicklungzu betreiben, soziale Kompetenzen aufzubauen, gesell-schaftliche und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.Dazu müssen wir stärker als bisher in die kulturelle Bil-dung investieren.
Meine Damen und Herren, die beeindruckende Feier-stunde am Montag dieser Woche mit unserem Gast ausRussland hat vielen von uns und auch mir gezeigt, wieschnell man in der Deutung von Geschichte auf Abwegegeführt werden kann. Ich gebe zu, dass für mich auf-grund der Prägung durch die DDR-Bildung die Belage-rung von Leningrad als großer Kampf in Erinnerung ge-blieben ist, bei dem großer Widerstand geleistet wurde.Wie die Schattenseiten aussahen, wie die neutrale, unab-hängige Bewertung ist, wie wir sie hier gehört haben,das hatte sich mir über lange Zeit nicht eingeprägt.Deswegen müssen wir, was die Erinnerung und dieAufarbeitung der Geschichte unseres Landes und der eu-ropäischen Geschichte angeht, weiter investieren. Wirdürfen nicht nachlassen. Wir müssen dafür sorgen, dassGedenktage wie der 25. Jahrestag des Mauerfalls oderim kommenden Jahr der 25. Jahrestag der Wiederherstel-lung der deutschen Einheit nicht in Vergessenheit gera-ten, und dafür, dass die Täter von damals nicht die Ge-schichtslehrer von heute werden. Deswegen müssen wirdiese Daten bewusst besetzen und sie zum Anlass neh-men, breite Diskussionen anzustoßen.
Das gilt für auch die anderen Jahrestage, für den100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, fürden Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, und fürdie positiven Gedenktage unserer Geschichte, beispiels-weise das Reformationsjubiläum.Meine Damen und Herren, eine große Herausforde-rung in den kommenden Jahren ist die Digitalisierunggerade auch im Kulturbereich. Wir haben hier großeErfolge vorzuweisen. Wir haben eine Digitalisierungs-offensive gestartet, die fortgeführt werden muss. DieDeutsche Digitale Bibliothek zielt schon heute auf30 000 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen ab, diesich hier vernetzen sollen. Es ist klar, dass in Zukunftnur das, was digital verfügbar ist, aufgefunden werdenkann. Deswegen muss hier investiert werden. Das giltauch und gerade bei der Digitalisierung unseres Film-erbes und der digitalen Nutzung verwaister und vergrif-fener Werke. Hier haben wir in den vergangenen Jahrenviel bewegt, und hier werden wir in den nächsten Jahrennoch viel mehr bewegen.
Der fortschreitende demografische Wandel stellt somanche Region in Deutschland vor die Frage, wie es mitdem Angebot von Kultureinrichtungen und kulturellenInitiativen weitergehen kann. Deswegen bin ich froh da-rüber, dass wir uns in unserem Koalitionsvertrag ver-ständigt haben, hier neue Akzente zu setzen. Wir wollenim demografischen Wandel mit neuen Kooperationsmo-dellen auf kommunaler Ebene lebendige Kulturräumeerhalten. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Ansatzist.Meine Damen und Herren, Kulturpolitik hat in denvergangenen Jahren in diesem Parlament immer einegroße Rolle gespielt. Wir haben hierfür Ressourcen be-reitgestellt, während in anderen Politikbereichen gekürzt
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 597
Michael Kretschmer
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wurde. Das ist richtig. Das muss auch weiter so gehen.Das ist der Wille von CDU/CSU und SPD.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. Eigentlich hätten Sie
noch ein bisschen weiterreden können.
– Nein, man muss nicht, aber man darf, Herr Strobl. –
Also, vielen Dank, Herr Kollege. Das passiert ja nicht so
oft.
Der letzte Redner in der Aussprache zur Regierungs-
erklärung ist Martin Dörmann für die SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich übernehme gerne die zwei Minuten des koalitionärenKollegen,
ich hoffe aber, dass ich auch so auskomme.Lassen Sie mich zu den verabredeten Projekten derGroßen Koalition im Bereich Kultur und Medien mit ei-nigen außerparlamentarischen Stimmen beginnen. Sosagt die ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski:Noch nie hat es eine so ausführliche und detailrei-che kulturpolitische Festschreibung irgendwann ineinem Koalitionsvertrag gegeben.Der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Ver-bandes, DJV, Michael Konken, bewertet den Koalitions-vertrag als „in einigen Punkten interessant für die Anlie-gen der Journalistinnen und Journalisten“. Und der stetsaufmerksam-kritische Geschäftsführer des DeutschenKulturrates, Olaf Zimmermann, meint: „Es ist wirklichein guter Koalitionsvertrag für die Kultur.“ – Genau soist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich,dass auch außen wahrgenommen wird, dass wir uns vielvorgenommen haben.Der Koalitionsvertrag beschreibt für den Bereich Kul-tur und Medien ein kooperatives Grundverständnis imZusammenwirken von Bund und Ländern, selbstver-ständlich unter Wahrung der primären Kompetenzen aufder Länderebene. Mit der Schaffung des Amtes des Be-auftragten für Kultur und Medien unter Rot-Grün ist eineKultur- und Medienpolitik des Bundes entstanden, diedie Aktivitäten der Länder unterstützt, gleichzeitig aberauch eigene Akzente setzt. Eine starke Kultur- und Me-dienpolitik des Bundes wirkt sich so verstanden ebenauch positiv und befruchtend auf die Länder aus. Es warkein Zufall, dass die Länder bei den jüngsten Koalitions-verhandlungen in besonderer Weise beteiligt waren.Die Große Koalition hat konkrete Vorhaben verein-bart, die wir nun schnellstmöglich anpacken wollen. Zuden drängendsten Themen gehören aus meiner Sicht ins-besondere vier Punkte:Erstens die bereits erwähnte Absicherung der Künst-lersozialversicherung.
Schwarz-Gelb hat in der letzten Legislaturperiode nichtvermocht, die notwendigen Regelungen zu treffen, umalle Unternehmen regelmäßig und gleichmäßig zu über-prüfen, damit sie ihrer gesetzlichen Pflicht zur Zahlungder Künstlersozialabgabe auch wirklich nachkommen.So gerät das wichtige Sicherungssystem der Künstlerso-zialkasse zunehmend unter Druck; der Abgabesatz steigt.Sehr zügig wollen wir dies nun angehen und eine Lö-sung erreichen.Ich bin sehr froh, dass unsere BundesarbeitsministerinAndrea Nahles angekündigt hat, gerade auch diesenPunkt in ihre Vorhabenplanung für dieses Jahr mit aufzu-nehmen. Das ist ihr ein Herzensanliegen. Wir sehen jaschon am Rentenpaket, wie schnell sie gearbeitet hat.Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir da auch in die-sem Jahr zu einer gesetzlichen Lösung kommen werden.Ich will auch daran erinnern, dass es damals der SPD-Fraktionskollege Dieter Lattmann gewesen ist, der amEnde der sozialliberalen Koalition das Ganze auf denWeg gebracht hat.
Zweiter Punkt ist die einzusetzende Expertenkommis-sion zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Auch hiersind wichtige Aufgaben noch unerledigt. Wir erinnernuns: Am 15. Januar 1990, also vor gut 24 Jahren, er-stürmten mutige Bürgerinnen und Bürger der damaligenDDR die verhasste Stasizentrale in Berlin-Lichtenbergund stellten kilometerweise Akten sicher, die unter men-schenunwürdigen Umständen entstanden sind. Das warein bis heute einzigartiger Vorgang, der zeigt, wie ent-schlossen die Menschen waren, ihr Schicksal nun selbstin die Hand zu nehmen.Die Stasiunterlagenbehörde mit der Aufgabe, Zugangzu diesen Akten zu gewähren, war nie auf Dauer ange-legt. Damit die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscherGeschichte eine Zukunft hat, muss nun geklärt werden,wie und in welcher Form die Aufgaben der Behörde fort-geführt werden können.Dritter Punkt: eine konsequente Provenienzforschungund gegebenenfalls Restitution, also Rückgabe geraubterKulturgüter. Der Fund von 1 280 Kunstwerken vonteilweise ungeklärter Herkunft im Privatbesitz vonCornelius Gurlitt hat dieses Thema auf die Tagesord-nung der Politik gesetzt und offenbart, dass wir vor ei-nem weitgehend noch unbewältigten Kapitel deutscherGeschichte stehen. Wir müssen die Entrechtung von Ei-gentümern von Kunstwerken in der Nazizeit zwingendaufklären und zügiger diskutieren, als wir dies bisher
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598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Martin Dörmann
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getan haben. Dazu bedarf es – Frau StaatsministerinMonika Grütters hat es bereits erwähnt – einer verstärk-ten Provenienzforschung. Wir müssen uns aber auchüberlegen, ob rechtliche Anpassungen gegebenenfallsnotwendig sind.
Der vierte und letzte Punkt, den ich erwähnenmöchte, betrifft die Reform der Medienordnung. Die Di-gitalisierung und das Internet führen gerade im Bereichder Medien zu großen Umbrüchen. Die Koalition wirddie Bemühungen der Länder um eine der Medienkonver-genz angemessene Medienordnung tatkräftig unterstüt-zen. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflich-tet. Wie Sie wissen, soll hierzu eine zeitlich befristeteBund-Länder-Kommission eingesetzt werden. Sie sollklären, ob es an den Schnittstellen zwischen Medienauf-sicht, Telekommunikationsrecht und Wettbewerbsrechtmit unterschiedlichen Kompetenzen zwischen Bund undLändern zu Anpassungen kommen sollte, die dann auchden Bundesgesetzgeber betreffen könnten. Messlatte fürdie SPD-Fraktion wird dabei die Frage sein, wie wirauch in einer veränderten Medienwelt die Freiheit, Un-abhängigkeit und Vielfalt der Medien bewahren undstärken können.In diesem Zusammenhang will ich Folgendes ergän-zen: Frau Staatsministerin Grütters hat in ihren ersten In-terviews begrüßenswerterweise darauf hingewiesen,dass wir uns innerhalb der Koalition darauf verständigthaben, beispielsweise auch auf EU-Ebene dafür zu sor-gen, dass die Möglichkeit besteht, Bücher und Zeitungenmit Blick auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz so-wohl im Online- als auch im Offline-Bereich gleich zubehandeln. Ich glaube, das wäre ein wichtiger Schritt,der dafür sorgt, dass die Medien im Internet am EndeQualitätsjournalismus finanzieren können. Dazu solltenwir einen Beitrag leisten.
Eine Baustelle bleibt uns zum Glück erspart. DasBundesverfassungsgericht hat gestern die Rechtmäßig-keit der Filmförderung durch das Filmfördergesetz be-stätigt. Das Urteil ist zugleich ein klares Bekenntnis füreine kulturelle Filmförderung. Das ist ein großer Erfolg.
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf einenPunkt hinweisen: Film ist nach unserem Grundverständ-nis zwar auch ein Wirtschaftsgut, aber in erster Linie einkulturelles Gut. Es geht um die Förderung kulturellerWerte, und zwar über das hinaus, was die bloße Logikdes Marktes ausmacht. Gleiches muss für das Freihan-delsabkommen gelten – das ist bereits von dem KollegenKretschmer erwähnt worden –: Wir werden dafür sor-gen, dass dort die Ausnahmen für die Bereiche Kulturund audiovisuelle Dienste wirklich zum Tragen kom-men. Das ist ein ganz zentraler Punkt für uns.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste Kultur-staatsminister im Amt, Michael Naumann, hat einmaltreffend formuliert: Kultur ist die schönste Form derFreiheit. – Ich will hinzufügen: Freie, unabhängige undvielfältige Medien sind eine Grundvoraussetzung füreine funktionierende Demokratie. Daher ist es wichtig,Kultur und Medien zu stärken, damit wir auch die Frei-heit und die Demokratie stärken. Ich freue mich, dasswir heute in dieser Debatte sehr viele Gemeinsamkeitenauch über Fraktionsgrenzen hinweg erkennen konnten.Deshalb freue ich mich in besonderer Weise auf unseregemeinsame Zusammenarbeit in dieser Legislaturpe-riode.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. Es liegen keine weiterenWortmeldungen vor.Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Außen,Europa und Menschenrechte. Die Debatte wird eröffnetvon unserem Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister desAuswärtigen:Danke, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Es ist nun wahrhaftig keine Selbstverständlich-keit, dass ich nach acht Jahren wieder an diesem Pultstehe und die Chance habe, einen neuen Blick auf diedeutsche Außenpolitik und die internationalen Bezie-hungen zu werfen. Ich versichere Ihnen, dass es für michnicht einfach eine Wiederholungstat ist, wenn ich Ihnenhier als Außenminister zum zweiten Male innerhalb vonwenigen Jahren gegenübertrete. Das liegt auf der Hand;denn zwar ist das Büro, das ich inzwischen im Auswärti-gen Amt bezogen habe, dasselbe – völlig unverändert –wie das, welches ich vor vier Jahren verlassen habe; aberder Zustand der Welt, über den zu reden ist, hat sich in-nerhalb dieser letzten vier Jahre gravierend verändert.Krisen und Konflikte sind in dieser Zeit spürbar näher anuns herangerückt. Das alles hat mit uns zu tun: dass dieFolgen sowohl außenpolitischen Tuns als auch außen-politischen Unterlassens uns hier in Deutschland immerirgendwie berühren. Deshalb seien Sie versichert, meineDamen und Herren: Ich weiß, was auf mich zukommt;aber ich freue mich darauf und bitte um Ihre Unterstüt-zung. Gerade weil ich um die eine oder andere Mei-nungsverschiedenheit in diesem Hohen Hause, insbeson-dere wenn wir über Mandate reden, weiß, biete ich Ihnenausdrücklich offene und faire Zusammenarbeit an. Dashat heute Morgen im Ausschuss ganz gut begonnen, undich hoffe, das setzt sich hier im Plenum fort. HerzlichenDank schon im Voraus.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 599
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Wenn ich mich in Europa umschaue, dann stelle ichfest, dass sich dieses Europa in den letzten Jahren völligauf sich selbst konzentriert hat. Seit vier Jahren ringenwir alle miteinander mit der europäischen Krise. Daswar auch notwendig. Ich habe aber den Eindruck, dassbeim Ringen um den Weg aus der europäischen Krisedas ein bisschen aus dem Blick geraten ist, was sich so-zusagen jenseits des europäischen Tellerrandes tut. Manmuss, glaube ich, die internationale Lage gar nicht in denschwärzesten Farben zeichnen, um zu sehen: Die drama-tischen Zuspitzungen, die wir in uns ganz nahen Teilendieser Welt erleben, werden im Augenblick in der MitteEuropas, erst recht da, wo es wirtschaftlich stabil ist, un-terschätzt. Ein Blick in den Mittleren Osten, in den Na-hen Osten, in Teile der arabischen Welt reicht aus, um zusehen, was bei unterstelltem schlechtem Verlauf unsererBemühungen, die wir und andere gegenwärtig unterneh-men, in kurzer Zeit zur Entladung kommen kann – mög-licherweise mit Ergebnissen, die überhaupt nicht mehrbeherrschbar sind, weder in der Region noch in derNachbarschaft, auch nicht von uns.Ein Blick in die osteuropäische Nachbarschaft zeigt,dass in die Ukraine gerade eine Form von Unfriedlich-keit zurückgekehrt ist, von der wir nach fast 70 JahrenFrieden in Europa und nach Erreichen der Wiederverei-nigung Europas dachten, dass dafür eigentlich gar keinRaum mehr ist, nicht in Europa und auch nicht in denRandzonen der Europäischen Union.Oder schauen wir nach Afghanistan, wo wir im Au-genblick noch darum ringen, dass das Land nach demAbzug der internationalen Streitkräfte nicht einfach wie-der zurückfällt in den Status der Konflikte, die es vor2001 und in den Jahrzehnten des Bürgerkrieges dort gab.Oder schauen wir nach Ostasien. Ich glaube, wir müs-sen miteinander eingestehen, dass wir – das ist über-haupt kein Vorwurf – die historische Tiefenschärfe desKonfliktes zwischen China und Japan, der sich scheinbarum ein paar Inseln dreht, überhaupt noch nicht verstan-den haben, und das ausgerechnet im Falle einer Region– darum erwähne ich es hier –, in der die Staaten nochnach bei uns gar nicht mehr geltenden Kriterien von sehrschlichten geopolitischen Vorstellungen oder sehr ver-einfachenden Gleichgewichtsmodellen miteinander um-gehen. Das macht diesen Konflikt zu einem nicht ganzungefährlichen Konflikt. Ich glaube, wir müssen dassehr sorgfältig im Auge behalten, selbst wenn wir vonhier aus nicht unmittelbar Einfluss darauf nehmen kön-nen. Ich bin ganz sicher: Diese Debatten werden uns be-schäftigen.Wir werden uns – Thomas Oppermann hat heute Mor-gen darauf hingewiesen – diesen Debatten gerade in ei-nem Jahr wie diesem nicht verweigern können, in dembeim Gedenken an 1914, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, an vieles erinnert wird, zum Beispiel an das Versa-gen von Diplomatie, an das Ausbleiben von Außenpoli-tik – auch davon waren die sechs Wochen vor Ausbruchdes Ersten Weltkrieges gekennzeichnet –
oder an das wachsende Maß der Entfremdung oder derSprachlosigkeit zwischen den Staaten. Die Folgen des-sen zeichnen sich im Kriegsbeginn 1914 ab. Aber all dashat – ohne dass ich vordergründige Parallelen ziehenoder gar Gleichsetzungen machen will – Bezüge zuheute, liebe Kolleginnen und Kollegen.Mit Blick auf Millionen von Menschen, die heute Op-fer von Kriegen und Bürgerkriegen sind oder darunterleiden, mit Blick auf die Millionen, die durch diese Aus-einandersetzungen vielleicht zu einer Flucht ins Auslandgezwungen werden, sage ich Ihnen vorneweg meineganz persönliche Meinung: Ich finde es nicht nur uner-träglich, sondern sogar ein bisschen zynisch, was man inden letzten Jahren immer wieder – viel zu häufig, wieich finde – über den Bedeutungsverlust – das wäre janoch gegangen – oder gar die Bedeutungslosigkeit derAußenpolitik in diesen Zeiten lesen konnte. Demnachsei es geradezu unanständig, das Amt des Außenminis-ters anzutreten, weil das ja alles nichts mehr wert sei.Mit Blick auf eine Welt – ich habe sie eben nur mit eini-gen Strichen gezeichnet –, die zahlreiche Aufgaben füruns vorhält, finde ich das ziemlich unerträglich.Ich gebe zu: Ja, Außenpolitik folgt nicht unbedingtdem Rhythmus von Onlinemeldungen; das ist wahr. DerIran-Konflikt zum Beispiel ist ein Konflikt, der uns seitmehr als 30 Jahren beschäftigt. Zehn Jahre lang habenwir verhandelt, und es hat zehn Jahre gedauert, bis zumersten Mal eine Perspektive für eine Entschärfung desKonfliktes – noch nicht für eine Lösung – sichtbar ge-worden ist. Ich glaube, das muss man sich vor Augenführen: Gäbe es keine aktive Außenpolitik, auch nichtjene, die sich sozusagen im Zustand der Aussichtslosig-keit immer wieder um kleinste Fortschritte bemüht, dannwürden solche Konflikte eben eskalieren.Es gibt diesen alten Satz, der wie verstaubt klingt, ei-nen Satz aus dem vergangenen Jahrhundert: Solangeverhandelt wird, wird nicht geschossen. –
Der Satz ist nicht verstaubt. Denn der Iran-Konflikt hatuns gezeigt: Solange verhandelt wurde, wurde nicht ge-schossen. Aber das Entscheidende ist: Auch die Tür zueiner politischen Lösung wurde mit solchen langandau-ernden Bemühungen offengehalten. Deshalb, meine Da-men und Herren, plädiere ich so sehr für einen hohenStellenwert der Außenpolitik und für eine aktive Außen-politik.
Wenn ich – das hören Sie heute nicht zum ersten Malvon mir – für Zurückhaltung und gegen vorschnelle Ent-scheidungen in Bezug auf einen Einsatz von Militär bin,hat das gleichwohl seinen Grund nicht darin, dass ichmeinen würde – da würden Sie mich missverstehen –,Abwarten wäre die richtige Reaktion. Ich sage eher et-was anderes: So richtig die Politik der militärischen Zu-rückhaltung ist, sie darf nicht als eine Kultur des Heraus-haltens missverstanden werden. Dafür sind wir, auch inEuropa, inzwischen ein bisschen zu groß und ein biss-chen zu wichtig. Wir sind nicht ein Kleinstaat in einer
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600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
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europäischen Randlage, sondern der bevölkerungs-reichste, größte Staat der Europäischen Union; wir ha-ben die stärkste Wirtschaftskraft. Wenn sich ein solchesLand bei dem Versuch, internationale Konflikte zu lösen,heraushält, dann werden sie nicht gelöst, dann gibt eskeine belastbaren Vorschläge.Das ist der Grund, weshalb eine der ersten Entschei-dungen, die Frau von der Leyen und ich dem Kabinettvorgeschlagen haben, eine Änderung des Verhaltens inBezug auf die Beseitigung und Vernichtung von Che-miewaffen in Syrien war.
Dieser Fall ist ein plausibles Beispiel dafür, welcheRolle wir spielen. Ich glaube, wir haben richtig gelegen,als wir gesagt haben: In einer solchen Situation Bombenauf Damaskus abzuwerfen, wäre der falsche Weg, wahr-scheinlich eher ein Umweg, wenn man irgendwann spä-ter zu politischen Lösungen kommen will. Aber mankann sich nicht gegen militärische Optionen aussprechenund sich dann auch noch in Bezug auf die übrig bleiben-den Alternativen heraushalten.Aus diesem Grund sage ich: Verantwortung in derAußenpolitik bedeutet, dass man als größtes Land in Eu-ropa auch in solchen Situationen Verantwortung über-nimmt und sagt: Wenn wir die Möglichkeit haben, einekleine Basis zu schaffen, auf der dann zukünftig politi-sche Verhandlungen möglich sind, dann müssen wirauch zur Verfügung stehen und unseren Teil dazu beitra-gen. Ich bin jedenfalls froh, dass das Kabinett eine sehrschnelle Entscheidung getroffen hat, die dazu führenwird, dass wir den größeren Teil der Chemierestbe-stände, die bei der Vernichtung entstehen, in Deutsch-land vernichten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht en-den, ohne einen Blick – nicht auf den Mittleren und Na-hen Osten – in die europäische Nachbarschaft zu werfen.Die Entwicklung in der Ukraine hat uns alle miteinanderin den letzten Tagen und Wochen hinreichend beschäf-tigt. Die gute Nachricht ist: Die letzte Nacht war die ru-higste Nacht seit langem. Die schlechte Nachricht ist:Bisher sind alle Angebote, die vonseiten des Präsidentenan die Opposition gegangen sind, nicht belastbar.Ein Einstieg in politische Gespräche konnte stattfin-den, weil Janukowitsch auf Druck der Opposition undder internationalen Staatengemeinschaft notwendiger-weise anbieten musste, sein Gesetz zur Unterdrückungder politischen Betätigung zurückzunehmen. Es gehörteweiterhin zum Einstieg in politische Gespräche, dass derMinisterpräsident seinen Rücktritt angeboten hat unddass infolgedessen die ganze Regierung zurücktrat.Aber das ist noch nicht die Lösung. Noch wissen wirnicht, ob in der Ukraine vonseiten des Präsidenten aufZeit gespielt wird. Die Unterzeichnung der notwendigenGesetze macht Janukowitsch davon abhängig, ob es derOpposition gelingt, den Maidan zu räumen, obwohl erweiß, dass die Opposition nicht auf jeden der beteiligtenDemonstranten Einfluss hat. Wir müssen mit unserenEinschätzungen deshalb noch vorsichtig sein. Es gibtaber einen Hoffnungsschimmer, dass die jetzt begonne-nen Gespräche – das ukrainische Parlament tagt zu die-ser Stunde – vielleicht doch noch den Weg für eine poli-tische Lösung der Konflikte eröffnen. Sicher ist dasjedoch nicht.Wir haben uns ganz in den Dienst von Lady Ashtongestellt, die für die Europäer das Vermittlungsgeschäft inder Ukraine übernommen hat. Sie ist gestern dort ange-kommen und wird heute den ganzen Tag vor Ort sein.Ich denke, wir können uns im Namen des ganzen Hausesbei ihr für das bedanken, was sie bisher getan hat, undGlück und Fortune wünschen, dass es am Ende zu einerfriedlichen Lösung für die Ukraine kommt und dass dasLand beieinander bleibt.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. Sie sehen die
Unterstützung des ganzen Hauses. – Der nächste Redner
in dieser Debatte ist Wolfgang Gehrcke für die Links-
fraktion.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe geradeein bisschen länger gewartet, bis ich zum Rednerpult ge-gangen bin. Denn es wäre mir wirklich unangenehm ge-wesen, Beifall, der Frank-Walter Steinmeier galt, fürmich in Anspruch zu nehmen.
Das wird nicht stattfinden; da kann ich Sie beruhigen.Herr Außenminister, ich habe auf eine Botschaft vonIhnen gewartet. Sie haben zu Recht gesagt, dass die Au-ßenpolitik ihren guten Ruf verloren hat. Vielleicht hätteman einmal überlegen sollen, ob es an der Qualität derAußenpolitik liegt, dass sie bei vielen Menschen in die-ser Welt so schlecht angesehen ist. Ich muss Ihnen ehr-lich sagen: Ich habe oft den Eindruck, dass, wenn hiervon Menschenrechten geredet wird, eigentlich Öl, Was-ser und andere Naturressourcen gemeint sind.
Das weiß man in der Welt. Die Doppelbödigkeit und dieDoppelzüngigkeit der Außenpolitik, auch der deutschenAußenpolitik, haben den Ruf der Außenpolitik versaut.
Ich finde, da sollte man ansetzen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 601
Wolfgang Gehrcke
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Ich habe auf eine Botschaft, auf ein Wort von Ihnenzu Edward Snowden gewartet, trotz der vorhandenenSchwierigkeiten, die mir bewusst sind. Ich habe auf diefolgende Botschaft gewartet: Wir möchten als Bundesre-gierung dazu beitragen, dass Edward Snowden inDeutschland Asyl erhalten kann. Das wäre wichtig ge-wesen für die internationale Politik. Das wäre übrigensauch eine wichtige Ermutigung für die Menschen in un-serem Land und in den USA. Es ist doch unsinnig, zubehaupten, dass man sich gegen die Menschen in denUSA richtet, wenn man Edward Snowden Asyl gewährt.Ganz im Gegenteil: Das wäre für viele mutige Menschenin den USA eine Ermunterung.
Aber die Bundesregierung taucht ab. Sie sind nicht be-reit, auf Augenhöhe, partnerschaftlich mit den USA da-rüber zu sprechen. Das spricht dafür, dass immer dann,wenn es schwierig wird, wenn sich die Sache zuspitzt,auf diese Bundesregierung kein Verlass ist.Ich kann Ihnen ankündigen, dass wir als Linke die Al-ternativen, die Sie nicht präsentieren, vorstellen werden.Wir werden ein Stück weit das schlechte Gewissen dessozialdemokratischen Teils dieser Großen Koalitionsein, weil wir uns an vieles halten, was auch die Grund-lage Ihrer Geschichte ist. Es wäre gut, wenn Sie mal wie-der einen Blick auf Ihre eigene Geschichte werfen wür-den.
Sie haben aus der Bundeswehr ein Instrument der Au-ßenpolitik gemacht. Wir sind strikt dagegen. Wenn nachdem Balkan, dem Mittelmeerraum und Zentralasien jetztAfrika das neue Betätigungsfeld wird, dann kann ich nursagen: Wir bleiben dabei, dass wir alle Auslandseinsätzeder Bundeswehr beenden wollen, und wir möchten, dassdie Soldaten zurückgeholt werden – ohne Abstriche.
Das sind Alternativen, über die zu streiten ist. Da gehenwir nicht zusammen.Ich möchte auch, dass wir hier in einer anderen Artund Weise über das Freihandelsabkommen zwischen derEU und den USA diskutieren. Für mich wäre diesesFreihandelsabkommen, wenn es in der jetzt vorgesehe-nen Form durchgesetzt würde, so etwas wie eine ökono-mische NATO. Ich finde, schon die NATO ist zu viel,und ich möchte nicht zusätzlich noch eine ökonomischeNATO haben. Deswegen bin ich gegen diese Verhand-lungen. Ich bin dafür, dass sie abgebrochen werden,
nicht wegen der Auseinandersetzung um EdwardSnowden, sondern weil das Ergebnis eine neue Barrierein der Welt wäre.Ich möchte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken,ob es nicht doch Alternativen zur NATO gibt. In IhremKoalitionsvertrag steht, dass Sie die NATO stärken wol-len. Wir wollen, dass die NATO aufgelöst wird, dass siesich auflöst, dass an ihre Stelle ein kollektives Sicher-heitssystem tritt, das nicht auf dem Militär basiert. Esgab einmal einen großen Sozialdemokraten, der für einkollektives Sicherheitssystem in Europa eintrat. HabenSie das schon alle vergessen?
Wir als Linke möchten, dass ein anderer Kurs einge-schlagen wird. Ich hoffe, dass wir uns zumindest darübereinig sind, dass das jetzige Vorgehen in Bezug auf Russ-land nicht fortgesetzt werden kann. Sie haben zu Rechtgesagt, dass alle Probleme nur in Kooperation mit Russ-land zu lösen sind. Dann müssen wir aber auch ein Stückweit von unserem hohen Ross herunterkommen. ZurKrise in der Ukraine hat auch die EU-Politik einen ge-wissen Teil beigetragen.
Es kann doch nicht sein, dass wir die Bürgerinnen undBürger der Ukraine vor die Alternative „Russland oderEU“ stellen. Beides ist für die Bürgerinnen und Bürgerwichtig. Ich möchte, dass die Ukraine eine Brücke nachRussland ist und nicht ein Bollwerk gegen Russland.Das wäre eine vernünftige Politik.
Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Ich möchte,dass wir klipp und klar sagen, dass wir mit den Rechten,den Nationalisten, den Rechtsextremen in der Ukrainenichts zu tun haben wollen.
Das sind keine Freiheitskämpfer, sondern das sind Men-schen, die die Freiheit beerdigen wollen.Nun sehen Sie: Eine andere Außenpolitik ist denkbarund möglich. Ich konnte Ihren Beifall zu Recht nicht fürmich in Anspruch nehmen, aber Sie können meinen auchnicht für sich in Anspruch nehmen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff das Wort.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Steinmeier,Sie haben zu Beginn des Jahres 2014, am Anfang dieserLegislaturperiode an das Fehlen von Diplomatie, an dasVersagen der Außenpolitik vor dem Ausbruch des ErstenWeltkrieges erinnert. Der britische Historiker ChristopherClark hat dies in einem Buch mit dem Titel Die Schlaf-wandler eindrucksvoll dargestellt. Wenn wir uns heutean diese Zeit erinnern und uns fragen, was wir darauslernen können, dann sehen wir, dass die Außenpolitiknicht nur in den letzten sechs Wochen vor dem Ausbruchdes Krieges nicht mehr funktioniert hat, wodurch dieMächte Europas in diesen Krieg hineingestolpert sind,sondern dass die Menschen in Europa ein ganzes Jahr-zehnt vor Ausbruch des Krieges im Bewusstsein einer
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602 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Dr. Andreas Schockenhoff
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Vorkriegszeit gelebt haben, in einer Logik der Hegemo-nie, der Eroberung, der Nullsumme, in der sie sich nichtgefragt haben, ob es zum großen Krieg kommt, sondernwann es zum großen Krieg kommt.Wenn wir aus unserer Geschichte etwas gelernt ha-ben, dann ist es die zivilisatorische Leistung Europas.Heute denken wir eben nicht mehr in dieser Nullsum-menlogik. Wir sagen heute nicht mehr: Wenn wir unsereWerte verteidigen, wenn wir unseren Interessen dienen,dann tun wir das gegen die Interessen unserer Nachbarn.Was wir gewinnen, müssen wir den anderen wegneh-men. – Heute gestalten wir unsere Außen- und Sicher-heitspolitik in einer Logik der Integration. Nur miteinan-der, in einer immer tieferen Zusammenarbeit können wirunsere Werte, unsere Lebensweise und unsere Interessenverteidigen.Dazu passt eine Kernaussage unseres Koalitionsver-trages. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag ge-schrieben: „Sicherheit in und für Europa lässt sich nurmit und nicht gegen Russland erreichen.“ Das sehen wirin diesen Tagen bei vielen Fragen, die uns beschäftigen,etwa wenn es um eine erste humanitäre Hilfe in Syriengeht, wenn es um eine Lösung des Nuklearkonfliktes mitdem Iran geht oder – auch darauf wurde hingewiesen –wenn es um die Vorgänge in Kiew geht. Deswegen ha-ben wir ein Interesse daran, mit Russland einen kon-struktiven und intensiven Dialog zu führen.Wir wollen mit Russland überall da zusammenarbei-ten, wo es möglich ist. Wir wollen im Verhältnis zwi-schen Russland und der NATO – auch hinsichtlich derFrage der Raketenabwehr – Fortschritte erzielen. Wirwollen eine mit politischer Substanz gefüllte Moderni-sierungspartnerschaft mit Russland voranbringen. Wirwollen auch das EU-Russland-Partnerschaftsabkommenendlich ein Stück weit voranbringen.Leider passt dazu nicht, dass Russland in letzter Zeitimmer wieder zu verstehen gegeben hat, es brauche kei-nen Dialog, es brauche die Zusammenarbeit mit der EUnicht. Diese Haltung nützt niemandem, auch nicht Russ-land.Deswegen sollten wir den Vorschlag, den PräsidentPutin mehrfach geäußert hat, aufgreifen. Präsident Putinsprach von einem großen wirtschaftlichen und humanitä-ren Raum Europa. Diesen Raum wollen wir mit Russ-land gemeinsam gestalten. Dazu gehört aber auch – auchdas schreiben wir im Koalitionsvertrag –, dass wir beider Zusammenarbeit mit Russland die berechtigten Inte-ressen unserer gemeinsamen Nachbarn berücksichtigenmüssen. Deshalb ist es nicht tolerierbar, dass Russlandbeispielsweise die wirtschaftliche Notlage der Ukraineausnutzt und die Ukraine erpresst. In einem humanitärenund wirtschaftlichen Raum Europa kann es keine Hege-monie geben. Diese Haltung haben Sie, Herr Steinmeier,zu Recht als empörend bezeichnet.
Wir sollten mit Russland auch über unterschiedlicheVorstellungen von einer Modernisierungspartnerschaftsprechen. Solange Russland damit Know-how-Transferoder westliche Investitionen hauptsächlich in technolo-gische Projekte versteht, wir aber auch mehr Rechts-staatlichkeit, weniger Korruption und mehr zivilgesell-schaftliche Zusammenarbeit, so lange können wir dasPotenzial, das in dieser Partnerschaft steckt, nicht aus-schöpfen. Deswegen hoffen wir, dass wir zu substanziel-len Vereinbarungen über eine tiefere zivilgesellschaftli-che Zusammenarbeit kommen und dass wir auch in derFrage der Rechtssicherheit zu Fortschritten kommen.Wir unterstützen Sie bei einer solchen Politik gegenüberRussland ausdrücklich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rücknahme derrepressiven Einschränkungen des Demonstrationsrechtsund der Meinungsfreiheit und der Rücktritt der Regie-rung Asarow in Kiew waren erste Erfolge der Bewegungder Bürger auf dem Maidan und anderswo in derUkraine. Jetzt müssen weitere Schritte folgen: eine Am-nestie und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, diedem Parlament und der Regierung die demokratischenRechte verleiht, die sie gegenüber dem Präsidenten brau-chen. Die Ukraine braucht vor allem mehr Rechtsstaat-lichkeit.Dabei kann die EU helfen; aber wir brauchen jetztauch eine Strategie, wie wir der Ukraine auf ihrem Wegin Richtung Europa helfen wollen. Die Situation istheute eine andere als im Dezember nach dem Gipfel inVilnius. Es reicht heute nicht mehr, zu sagen: „Die Türbleibt offen“, oder: „Wir sind weiterhin bereit, den Asso-ziierungsvertrag zu unterschreiben“. Wir brauchen dieBereitschaft zu intensiverer wirtschaftlicher Zusammen-arbeit.
Dazu gehört ein klares Konzept zu Finanzhilfen im Zu-sammenhang mit dem IWF. Dazu gehören vor allemauch Unterstützungsmaßnahmen im Hinblick auf mehrRechtsstaatlichkeit.Vor allem aber müssen wir der Ukraine klarmachen,dass wir zu Art. 49 des Vertrages über die EuropäischeUnion stehen: dass jedes europäische Land – und dieUkraine ist zweifellos ein Land in Europa – eine euro-päische Perspektive hat, auch wenn diese in den nächs-ten 20 Jahren vielleicht noch nicht konkret wird undnoch nichts abgeschlossen wird. Es ist wichtig, dass dieMenschen, die sich heute auf dem Maidan für Freiheitund Menschenrechte einsetzen, weil sie so leben wollenwie wir und Freiheit und Integration in Europa so verste-hen wie wir, sich darauf verlassen können, dass ihnendiese europäische Perspektive nicht genommen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen dasmilitärische Engagement der Franzosen in der Zentral-afrikanischen Republik. Dort drohte ein religiös moti-vierter Streit zwischen Christen und Muslimen so zu es-kalieren, dass die Vereinten Nationen schon von einemGenozid gesprochen haben. Damit drohte ein weiterer
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Dr. Andreas Schockenhoff
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gescheiterter Staat oder scheiternder Staat, von denen esin Afrika schon so viele gibt. Ich glaube, wir brauchenuns heute nicht mehr darüber zu unterhalten, ob das Ein-greifen im französischen oder im europäischen Interesseliegt. Natürlich ist die Kombination von fundamentalisti-schem Terror, organisierter Kriminalität, religiöser Ver-folgung, Menschenhandel, Drogenhandel usw. eine dergefährlichsten Bedrohungen für Europa.Wir begrüßen deshalb, dass, wie es die Bundeskanzle-rin, der Herr Außenminister und am Wochenende dieVerteidigungsministerin angedeutet haben, Deutschlanddas Engagement der Bundeswehr in Mali verstärkenwird, um den Franzosen mehr Kapazitäten für das Vor-gehen in der Zentralafrikanischen Republik zu lassen.Diese Frage zeigt doch einmal mehr, dass wir uns nichterst dann, wenn eine Krise eskaliert, nicht erst dann,wenn eine konkrete Mandatsentscheidung ansteht, Ge-danken machen können, wo wir gemeinsame, europäi-sche Sicherheitsinteressen haben, wo wir gemeinsamvorgehen müssen, wo wir die Mittel haben, gemeinsamzu agieren. Stattdessen brauchen wir eine strategischeDebatte darüber, in welchen Regionen wir in der Lagesind, mit zivilen und militärischen Mitteln das zu tun,was für die Sicherheit Europas notwendig ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo brauchen wirdenn eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungs-politik? Wir brauchen sie nicht in Asien. Wir brauchensie auf absehbare Zeit auch nicht in Lateinamerika. Wirbrauchen sie mit Sicherheit in Afrika.Die GSVP-Mission Atalanta, die GSVP-Ausbil-dungsmission in Somalia, zwei Bundeswehrmandate imSudan, Active Endeavour zur Terrorismusbekämpfungim Mittelmeer, worüber wir heute noch abstimmen wer-den, Mali und jetzt die Zentralafrikanische Republik:Wir müssen uns in Europa gemeinsam überlegen, waswir mit den Mitteln, die wir haben, tun können – dennwir können nicht überall sein –, und wir müssen dannauch klare Prioritäten setzen, wo wir arbeitsteilig ge-meinsam vorgehen wollen.Dass das Auswirkungen auf das Parlamentsbeteili-gungsgesetz hat, steht im Koalitionsvertrag. Deswegenwerden wir eine Expertengruppe einsetzen, die uns bin-nen eines Jahres Vorschläge dazu machen soll, wie wirdieses Parlamentsrecht erhalten und ausweiten können,um uns darauf vorzubereiten, dass wir künftig stärker ar-beitsteilig mit unseren Partnern vorgehen wollen. Diesmüssen wir gegenüber der Bevölkerung und unserenPartnern verlässlich und berechenbar machen.100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges,75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegesund 25 Jahre, nachdem wir die Teilung unseres Landesfriedlich – vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisseist das ein besonderes Glück – überwunden haben, ste-hen wir vor großen Herausforderungen. Die CDU/CSUsteht zu einer Kultur der Verantwortung und auch zu ei-ner Kultur der Mithilfe, gemeinsam mit unseren Part-nern. Das wird in den nächsten Jahren, in dieser Legisla-turperiode nicht einfach werden,
aber wir empfinden das als ein großes Glück für unserLand.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Außenminister, natürlich haben gerade Sie als bis-heriger Chef einer Oppositionsfraktion auch Anspruchauf die berühmten 100 Tage Zeit für den Start, und zwi-schen uns und Ihnen gibt es sicher auch viele außenpoli-tische Schnittmengen. Aber den Koalitionsvertrag habenSie unterschrieben und zu verantworten, und der ist inzentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragendurch ein eher verwirrtes Sowohl-als-auch geprägt. Ichwill das an drei Beispielen deutlich machen:Rüstungsexporte. Waffenexporte dürfen kein norma-les Instrument der Außenpolitik werden bzw. bleiben.Aber es bleibt bei den unverbindlichen Leitlinien fürRüstungsexporte wie bisher. Sie versprechen nur, dasssie strikter eingehalten werden sollen. Der klare Interes-sengegensatz in der Koalition bei der Exportfrage bleibtbestehen, und man darf wirklich gespannt sein, wer sichim Einzelfall durchsetzt. Klarheit sieht wirklich andersaus.
Sie wollen sich auch für eine atomwaffenfreie Welteinsetzen, bekennen sich aber mehrfach ohne jeden Vor-behalt zur NATO-Strategiekonzeption und damit zurnuklearen Teilhabe. Sie versprechen den Abbau derAtomwaffen, und dann unterstützen Sie stattdessen ihreModernisierung. Das nenne ich doppelte Buchführung.
Jeder kann an vielen Stellen in diesen Koalitionsver-trag hineinlesen, was er will. Ganz drastisch wird dasbeim Thema „bewaffnete Drohnen“. Die Union will hierein Bekenntnis dafür und schürt Erwartungen auf diebaldige Beschaffung. Die SPD sieht das nicht so; vielevölkerrechtliche Prüfungen, die im Koalitionsvertragvorgesehen sind, sollen die Sache totprüfen.Man weiß bei keinem dieser Themen, wie die kon-krete Politik nun aussehen soll und wer sich im Einzel-fall durchsetzen wird. Viel politischer Nebel, wenigklare Konturen!Das gilt leider auch für zentrale Punkte der Europa-politik.
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Dr. Frithjof Schmidt
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Ich will hier aber mit etwas Positivem beginnen: Dieneue Akzentsetzung bei der Stärkung der deutsch-fran-zösischen Kooperation ist wichtig. Eine politische Initia-tive war lange überfällig. Da haben Sie unsere Unterstüt-zung.
Aber worin besteht die Linie der Koalition bei der ak-tuellen Kernfrage in der Europäischen Union? Was sollals Antwort auf die Krise zur Ankurbelung der europäi-schen Wirtschaftsentwicklung getan werden? Das bleibtnebulös. Ein schlichtes Beschwören des im Sommer2012 geschlossenen Paktes für Wachstum und Beschäfti-gung im Koalitionsvertrag hilft da nicht weiter. Neues istnicht in Sicht. Sie blockieren sich gegenseitig in der Ko-alition, und das Resultat ist Stillstand der Marke 2012.Was die transatlantischen Beziehungen, einen Eck-pfeiler der deutschen Außenpolitik, betrifft, wird derpolitische Nebel immer dichter. Nehmen wir die NSA-Spionage, die offenbar auch Wirtschaftsspionage ist:Was wollen Sie denn jetzt tun, wenn es kein No-Spy-Ab-kommen mit den USA gibt? Ihre Koalition sendet dochdas klare Signal über den Atlantik, dass Sie nicht denWillen haben, dann zum Beispiel in der EuropäischenUnion eine Aussetzung des SWIFT-Abkommens auf dieTagesordnung zu setzen. Ich sage Ihnen: Wer vorher si-gnalisiert, dass er keine relevanten Konsequenzen ziehenwird, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er nur mitnetten Worten abgespeist werden wird.
Was die Gespräche über ein Handels- und Investi-tionsabkommen mit den USA betrifft, ist ein merkwürdi-ges Schweigen der Regierung zu verzeichnen. Für dieÖffentlichkeit ist der Verhandlungsprozess weitgehendundurchsichtig. Die Befürchtungen sind massiv. In denvertraulichen Berichten, die nur Abgeordnete sehen dür-fen, steht sehr oft ganz wenig. So wird Kontrolle unter-laufen.Wir hören aber, dass Kommissar de Gucht unter demabstrakten Stichwort „Horizontal Regulatory Coopera-tion“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung fürjede ordnungspolitische Maßnahme in der EU verhan-delt. Das bedeutet dann die systematische Unterordnungunserer Standards und übrigens auch einer sozialverträg-lichen Industriepolitik unter Handelsinteressen. Von die-ser Bundesregierung mit sozialdemokratischer Beteili-gung kommt kein Wort der Kritik. Ich sage: Kommissarde Gucht muss gestoppt werden. Die Aussetzung derVerhandlungen ist nötig. Hören Sie auf, zu schweigen!Sie müssen hier endlich handeln.
In Bezug auf die Russlandpolitik gibt es im Koali-tionsvertrag keine klaren Antworten auf die Entwicklungder letzten Jahre und Monate. Ja, Europa braucht Russ-land. Das ist zentral für deutsche Außenpolitik. Aber dieRegierung Putin betreibt eine repressive und modernisie-rungsfeindliche Gesellschaftspolitik, vor der wir nichtdie Augen verschließen dürfen.Sie betreibt eine Nachbarschaftspolitik in Bezug aufWeißrussland und die Ukraine, gegen die klarer Wider-spruch geboten ist. Da kann es nicht einfach die Fort-schreibung einer Politik der sogenannten strategischenPartnerschaft geben, die sich auf gemeinsame Werte undWertorientierungen gründen sollte, flankiert von regel-mäßigen Protestnoten. Sie werden sich dieser Entwick-lung anders stellen müssen, als Sie dies in Ihrem Koali-tionsvertrag tun.
Wir haben eine separate Debatte zur Entwicklung inder Ukraine für den Freitag vereinbart. Ich finde es sehrgut, dass sich der Deutsche Bundestag dieses Themas ineiner separaten Debatte annimmt. Deswegen will ich nurwenige Sätze hierzu sagen: Wir alle wissen, dass dieEntwicklung auf der Kippe steht. Es ist nicht klar, inwelche Richtung sie geht. Wir setzen natürlich unsereHoffnung darauf, dass es eine friedliche Entwicklunghin zu Freiheit und mehr Demokratie gibt. Wir hoffen,dass die Europäische Union eine wichtige Rolle dabeispielen kann, diese Entwicklung voranzubringen. Wirhoffen auch, dass die Bundesregierung diese Politik derEuropäischen Union unterstützt. Wir ermutigen Sie, sichhier zu engagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist offenkundig,dass in dem Krisenbogen vom Nahen Osten über dieLänder Nordafrikas bis hin zur Sahelzone eine der zen-tralen Herausforderungen für die europäische Außen-politik liegt. Wir erwarten da von Ihnen keine fertigenAntworten. Aber ich sage auch: Ministerinnenthesen, diedarauf hinauslaufen, dass eine Kultur der militärischenZurückhaltung überholt sei, weisen auf jeden Fall in diefalsche Richtung.
Unbedingt notwendig – das möchte ich noch sagen –ist eine drastische Kurskorrektur bei der Aufnahme vonFlüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkrieg.
Die Zusage der Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen inDeutschland im letzten Jahr war schon traurig wenig.Aber bis heute sind davon noch nicht einmal 3 000 Men-schen hier angekommen und aufgenommen worden. Dasist und bleibt eine Schande für unser Land.
Die Ankündigung einer europäischen Initiative istnicht genug. Deutschland muss hier eine aktive Vorrei-terrolle übernehmen. Die Zahlen müssen drastisch er-höht werden. Wir müssen aktiv dafür sorgen, dass esklappt, dass die Menschen aufgenommen werden. Dasgilt auch für den Einsatz zur humanitären Hilfe in derRegion selbst. Wir wünschen uns wirklich, dass Sie dazudie Kraft finden.Danke für die Aufmerksamkeit.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Frank
Schwabe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!In der Tat ist es wohltuend, einen Außenminister zu ha-ben, der schon in kurzer Zeit Deutschlands Stimme inEuropa und in der Welt deutlich wahrnehmbar gemachthat
und sich mit ganzer Kraft der Konfliktbewältigung undauch der Konfliktprävention widmet, und zwar – dasdarf ich an dieser Stelle sagen – in guter sozialdemokra-tischer Tradition. Das finden wir sehr gut und befriedi-gend, und das macht uns als Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten auch ein bisschen stolz.
Frank-Walter Steinmeier steht auch für gute Personal-entscheidungen. Ich gratuliere ganz herzlich ChristophSträsser, der heute von der Bundesregierung zum Beauf-tragten für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfeernannt wurde.
Christoph Strässer ist jemand, der – so habe ich ihnjedenfalls kennengelernt – mutig seine Stimme erhebt:gegen Unterdrückung und für das Recht. Das tut ermanchmal leise, aber auch manchmal laut, wenn es da-rum geht, Öffentlichkeit zu schaffen. Ich bin mir sicher,dass er für seine neue Aufgabe die Unterstützung desganzen Hauses braucht, verdient hat und auch bekommt.
Die Menschenrechte haben einen eigenen Platz im Par-lament, und sie haben einen eigenen Platz in der Außen-politik. Im Grunde sind sie die Grundlage der Außenpoli-tik. Außenpolitik – und nicht nur sie – muss wertebasiertsein, nämlich auf der Grundlage der Menschenrechte.Ansonsten verkommt sie zur reinen Machtpolitik ohneKompass. Ich finde, dass der Koalitionsvertrag eine guteGrundlage für die Menschenrechtspolitik der nächstenvier Jahre liefert.
Ich kann nur auf einige Punkte eingehen. HerrGehrcke, Sie haben durchaus recht mit Ihrer Betrach-tung, dass es nicht sein kann, dass die einen für Fragender wirtschaftlichen Vernunft und die Sicherung derRohstoffversorgung zuständig sind und andere für dieMenschenrechte. Das muss zusammengehen. Das findetman aber auch im Koalitionsvertrag. Wie das in dennächsten vier Jahren mit dem Koalitionspartner ausge-füllt wird, wird man sehen. Aber wir haben uns klar dazubekannt, dass transnationale Unternehmen ihrer sozialenund ökologischen Verantwortung ebenso wie ihrer Ver-antwortung im Bereich der Menschenrechte gerecht wer-den müssen. Wir haben uns klar dazu bekannt, dass dieUN-Leitprinzipien dazu in Deutschland übernommenwerden. Ich finde, das ist erst einmal eine gute Grund-lage für die Arbeit der nächsten vier Jahre.
Ich finde es gut, dass wir uns in einem Punkt, in demhohe Übereinstimmung herrscht, noch einmal klar posi-tioniert haben, nämlich gegen die Todesstrafe, die es ineinigen Ländern der Welt noch gibt. Wir setzen uns fürdas Verbot der Folter, aber auch für die weltweite Ab-schaffung der Todesstrafe ein.
Wir sind gerade dabei, die Länder, die mit uns gemein-same Werte teilen, dazu aufzufordern. Ich finde es uner-träglich – das sage ich an dieser Stelle deutlich, und dasmuss geändert werden –, dass es gerade auch in entwi-ckelten Staaten wie den USA und Japan weiterhin dieTodesstrafe gibt. Die ganze Kraft dieses Parlaments undDeutschlands muss in den nächsten Jahren für denKampf dagegen eingesetzt werden.
Ich will zumindest erwähnen, dass wir mit dem Deut-schen Institut für Menschenrechte eine hochanerkannteInstitution haben und dass wir im Koalitionsvertrag fest-gelegt haben, dass dieses Institut nach den Pariser Prin-zipien unabhängig und sicher finanziert werden muss.Lassen Sie mich noch etwas zu der Institution inEuropa sagen, die für den Schutz der Menschenrechtesteht. Das ist der Europarat. Ich gehöre ihm seit nunmehrknapp zwei Jahren an. Was ich dort manchmal erlebe,lässt mich daran zweifeln, ob nicht auch in dieser Institu-tion mittlerweile ökonomische Interessen überhandge-nommen haben über den klaren Willen, sich für Men-schenrechte einzusetzen. Ich glaube, das wird ein großesThema in den nächsten vier Jahren werden. Umso wich-tiger wäre es, an dieser Stelle mit einer neuen General-sekretärin Zeichen zu setzen, nicht nur weil sie ausDeutschland kommt, sondern weil sie wirklich für eineengagierte Menschenrechtspolitik steht. Ich glaube, esist gut und richtig, dass nicht nur die alte und die neueBundesregierung, sondern das ganze Haus hinter derKandidatur von Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerstehen.
Zum Schluss. Menschenrechte woanders einzufor-dern, ist im Zweifel einfach und wohlfeil. Es ist aberauch wichtig, sie im unmittelbaren Lebensumfeld vorzu-leben. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, wie wirüber Menschen reden und dass die Würde von Menschengewahrt bleibt. Gerade manche Debatten über Men-
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Frank Schwabe
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schen, die zu uns kommen, in den letzten Wochen habenmich durchaus zum Nachdenken gebracht. Ich will hierkein Scharfmacher sein, sondern bitte lediglich alle Ab-geordneten dieses Parlaments, mit gutem Beispiel voran-zugehen und darüber nachzudenken, welche Formulie-rungen zu wählen sind, damit die Würde von Menschengeschützt werden kann.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Diether Dehm das Wort.
Frau Präsidentin! Damen und Herren! Gestern starb
der große Pete Seeger. Sein Leben steht für sozialen Kampf
und Versöhnung. Er wurde als Kommunist verfolgt. Dieser
Amerikaner, dessen Familie aus Deutschland einst emi-
grieren musste, hat, als er Marlene Dietrich sein Lied
Sag mir, wo die Blumen sind gab, mehr vom europäi-
schen Traum des Friedens begriffen als jener Herr, der
hier am Mikrofon herumtriumphierte, in der EU werde
endlich wieder deutsch gesprochen. Dieses „Deutsch“
der sozialen Kälte gellt nicht nur den griechischen Rent-
nern und den jungen Arbeitslosen in Südeuropa in den
Ohren, sondern auch der alleinerziehenden Hartz-IV-
Empfängerin seit der unwürdigen EU-Agenda 2010. So-
lange es in den EU-Vertragsgrundlagen keine soziale
Fortschrittsklausel gibt und nur die Grundfreiheiten des
Kapitals einklagbar sind, geht der Krieg gegen Sozial-
staat und Tariflöhne ungehemmt weiter.
Den Eliten – das sagte heute Nacht sogar Barack Obama
– geht es so gut wie nie zuvor. Aber die Kaufkraft „un-
ten“ schwindet dahin, und das bringt den nächsten Schub
für eine Krise. Und was machen die Verträge der EU?
Sie zwingen in Art. 42 EUV die Staaten zur Aufrüstung
und verbieten in Art. 63 AEUV, dass Kapitalverkehr
kontrolliert wird. Die Linke möchte Abrüstung und
auch, dass Kapital kontrolliert wird.
Das Freihandelsabkommen, das Sie unter strengster
Geheimhaltung mit den USA planen, erlaubt zwar der
Deutschen Bank, die strengere amerikanische Banken-
aufsicht auszuhebeln, und dem US-Konzern Monsanto,
sich vor einem Schiedsgericht einen Persilschein für
seine Umweltverbrechen abzuholen. Aber die Arbeiten-
den in Europa und den USA werden dabei noch mehr
zum Spielball der Konzerne und Banken. So machen Sie
aus der Europäischen Union eine antieuropäische Union.
Die Linke sagt: Eine europäische Integration kann nur
sozial gelingen.
Nach dem Faschismus 1945 wurde kapitalistische
Macht, mit der Hitler hochfinanziert wurde, in vielen
Verfassungen eingegrenzt, in der italienischen und auch
in der deutschen. Nach dem Faschismus in Portugal, der
jetzt vor 40 Jahren überwiegend von Linken niederge-
kämpft wurde, gab es eine soziale Verfassung, aufgrund
derer jüngst der portugiesische Staatsgerichtshof die dra-
konischsten Troika-Brutalitäten für unwirksam erklärt
hat. Herr Henkel von der AfD, der früher Frau Merkel
unterstützt hat, will zurück zur D-Mark, und Frau
Merkel hält an der EU fest, so wie sie ist. Aber beide,
Henkel und Merkel, wollen einen EU-Wettlauf darum,
wo das Kapital am wenigsten besteuert wird, wo die
Löhne am meisten sinken, wo die Arbeitslosigkeit am
gefügigsten macht, wo der Sozialstaat am meisten leidet
und wo Demokratie dem Finanzmarkt am besten unter-
worfen wird.
Wir Linke halten an den fortschrittlichsten, erkämpf-
ten Standards in Portugal, Griechenland und auch in un-
serem Grundgesetz fest; denn nur durch radikal-demo-
kratische Änderungen kann aus der EU ein europäisches
Projekt des inneren und äußeren Friedens werden – im
Geiste des schönen Pete-Seeger-Songs We shall over-
come.
Der Kollege Thomas Strobl hat für die Unionsfraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Vor zwei Tagen hat uns von diesem Rednerpult ausein 95-jähriger Mann, der russische Schriftsteller DaniilGranin, tief berührt. Er hat von der zweieinhalbjährigenBelagerung Leningrads vor 70 Jahren berichtet, von fast900 Tagen Verzweiflung, Angst, Tod, Hoffnungslosig-keit und Grauen für Tausende von Familien und Kin-dern. Das hat uns berührt und bewegt.Dass wir 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Welt-kriegs und 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Welt-kriegs, nach dem Grauen in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts, auf diesem Kontinent den Krieg nichtmehr fürchten müssen, hat mit einem politischen Kon-strukt zu tun, das zu Beginn der zweiten Hälfte jenesJahrhunderts erfunden wurde und das uns natürlich heuteund in Zukunft sehr beschäftigt, weil es unvollendet ist,und das heißt Europa. Wir sollten diesen Gedanken beiallen Diskussionen um Euro, um Finanzkrise, um Schul-denkrise, um Armutszuwanderung und anderes mehr,wenn wir also über Europapolitik hier im DeutschenBundestag sprechen, nicht vergessen.
Apropos Krise: Gestern gab mir ein wohlmeinenderMitbürger, ein Wirtschaftsberater, den Rat, die Regie-rung könne doch die Finanz- und Schuldenkrise in Eu-ropa einfach für beendet erklären. Das wäre doch auchmit Blick auf den 25. Mai, den Europawahltag, eine guteSache. Nun, für die Wahl könnte es, Herr Bundesaußen-minister, vielleicht helfen, aber es wäre nicht wahr; denndie Krise ist keinesfalls überstanden.
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Thomas Strobl
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Was wir sehen können, ist: Der Weg, den wir gemein-sam in den letzten Jahren gegangen sind, ist richtig; dennwir kommen voran. Griechenland hat aller Voraussichtnach im Jahr 2013 einen primären Haushaltsüberschusserwirtschaftet. Fast die Hälfte davon hat Athen aus eige-ner Kraft geschafft. Irland konnte bereits im vergange-nen Jahr den Rettungsschirm verlassen. Irland ist an denMarkt zurückgekehrt und kann sich inzwischen wiederselbst mit Geld refinanzieren. Spanien ist seit dem 1. Ja-nuar nicht mehr auf den Rettungsschirm angewiesen. ImÜbrigen ist die Zahl der Arbeitslosen – das finde ich be-sonders erfreulich – im Dezember des vergangenen Jah-res in Spanien signifikant gesunken. Auch in Portugalsteigt die Anzahl der Beschäftigten.
In Italien gewinnen die Märkte wieder Vertrauen. Esgeht zumindest aufwärts. Die Richtung stimmt.
Man sieht also, dass wir mit der Stabilisierung voran-kommen. Dabei zahlt es sich vor allem aus, dass wir imGegenzug für die Hilfe umfangreiche Sparmaßnahmenund Reformen in den Ländern mit Problemen verlangthaben. Die Beseitigung der Ursachen der Krise war unsimmer wichtig und hat sich als richtig herausgestellt,auch wenn das ein schwieriger Weg ist.Doch die Ruhe ist eine trügerische. Niemand darf sichausruhen, und die Partner dürfen auch nicht müde wer-den, den Weg der Reformen voranzugehen. Dann sindwir weiter bereit, sie auf dem Weg der Konsolidierungzu unterstützen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass dies, je-denfalls inzwischen, eine breite Mehrheit in diesemHaus so sieht. Solidarität nur bei Solidität; Unterstüt-zung bedarf auch der eigenen Anstrengung. Das sindzwei Seiten einer Medaille, und das muss auch in Zu-kunft so bleiben.
Wenn man allerdings Auflagen vereinbart und Refor-men fordert, dann gehört dazu, dass es für die Umset-zung dieser Reformen auch eine wirksame Kontrollegibt. Für diese Kontrolle haben wir gemeinsam mit demInternationalen Währungsfonds, der Europäischen Zen-tralbank und der Europäischen Kommission ein Exper-tengremium geschaffen, das sich Troika nennt. DiesesGremium ist in letzter Zeit für das, was es tut, vor allemvon der europäischen Linken stark angegriffen worden.Manche finden, es sei undemokratisch, was die Troikatut.
Ich kann das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht verste-hen. Denn die Troika unterbreitet nach intensiven Bera-tungen mit den Reformländern Empfehlungen. Bevor sieumgesetzt werden, werden diese Empfehlungen immerin den nationalen Parlamenten beschlossen.
Ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente pas-siert überhaupt nichts. Das gilt im Übrigen auch für dieGarantieländer. Schließlich beschließen auch wir, derDeutsche Bundestag, jede Hilfsmaßnahme, jede Auszah-lungstranche, jede Bürgschaft. Insofern kann an der de-mokratischen Legitimation dieser Vorgehensweise nichtder geringste Zweifel bestehen.
Der Vorwurf, die Troika sei undemokratisch, ist absurd,und er ist auch gefährlich; denn er arbeitet den Extremis-ten und den Gegnern Europas in die Hände. Deswegenweisen wir ihn ausdrücklich zurück.
Die Tatsache, dass die Empfehlungen der Troika unbe-quem sind, ändert daran im Übrigen nichts. Wir werdenauch weiterhin den Mut zur Unbequemlichkeit haben. Eswäre leichter gewesen, die mangelnde Wettbewerbsfä-higkeit Europas etwa durch eine Vergemeinschaftungder Schulden, durch Euro-Bonds, zu verdecken, so wiedies die politische Linke immer gefordert hat und heutenoch fordert. Aber das ist nicht unser Weg.Wir haben den Mut, an Europa festzuhalten, weil wirwissen, dass Europa unsere Zukunft ist. Das heißt imÜbrigen nicht, dass Europa sich um alles Mögliche küm-mern muss. Etwa für die Betreuung von Kindern sind beiuns die Kommunen und Länder zuständig. Die berufli-che Bildung, der Meisterbrief und das Elterngeld gehö-ren in die nationale Souveränität. Ich weise auch auf dieTatsache hin, dass wir in Deutschland einen Exportüber-schuss haben; nach den dieser Tage bekannt gewordenenZahlen sind wir wieder Exportweltmeister. Das muss dieEuropäische Kommission jetzt nicht tiefer beschäftigen.Man macht Europa nicht dadurch stark, dass man dieStarken schwächer macht. Wir wollen vielmehr, dass dieSchwachen in Europa stark werden.
Gestern hat ein Vertreter der EU-Kommission hier imDeutschen Bundestag beklagt, in Deutschland werde zuviel gespart. Die Kommission wolle sich jetzt der The-matik widmen, warum die Unternehmen in Deutschlandso viel sparten und zu wenig investierten. Also gab esauch hierzu ein klares Wort: Wir freuen uns über diehohe Eigenkapitalausstattung unserer Unternehmen. Dasist im Übrigen nicht zuletzt wegen der EU eine Voraus-setzung, um Kredite für Investitionen zu erhalten. Es istauch klar: Unsere Familienbetriebe, unsere Mittelständ-ler, unsere Unternehmer wissen besser als die Beamtenin der EU-Kommission, wie sie mit ihrem Geld umge-hen, wann und wo sie investieren. Damit muss sichBrüssel nicht beschäftigen.
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608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Thomas Strobl
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In anderen Bereichen wollen und brauchen wir mehrEuropa.
Klimaschutzprobleme sind nicht national lösbar. Auchim Hinblick auf die Energiepolitik – Leitungstrassen,Speicherkapazitäten und anderes mehr – brauchen wirsicher mehr Europa. Da dürfen wir uns auch an unsereeigene deutsche Nase fassen, weil wir in einem Land le-ben, in dem der Bund die Kompetenz für die Energiepo-litik hat, aber jedenfalls manche der 16 Bundesländerglauben, ihre eigene Energiewende gestalten zu müssen.
Ich glaube im Übrigen, dass wir eine gemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik brauchen. Wir braucheneines Tages keine nationalen Armeen mehr, nicht inDeutschland, nicht in Frankreich, nicht in Großbritan-nien;
wir brauchen eine gemeinsame europäische „Operative“,die vermutlich eher eine Polizeieinheit als eine klassi-sche Armee sein wird.
Das würde uns den gleichen Sicherheitsgewinn bringenund würde Milliarden an Einsparungen bringen. Eswürde Geld frei, das wir in Europa für andere Dinge gutverwenden könnten.
Ich will einmal absehen von den Themen „Euro“,„Schulden“, „Finanzen“, „Geld“ und mit einem Satzschließen, den Bundestagspräsident Lammert gesagt hat:„Europa ist mehr als der Euro.“ – Und das ist auch wahr:Europa ist vor allem eine Wertegemeinschaft, gegründetauf dem christlichen Bild vom Menschen. So unter-schiedlich Italiener, Spanier, Deutsche, Griechen, Iren,Franzosen sind –
aus diesem Bild leiten wir den Gedanken der Freiheitund der Menschenwürde ab. Darauf gründet alles, wasunser Zusammenleben in Europa ausmacht. Aus diesemGedanken leiten wir ein politisches System namensparlamentarische Demokratie ab, ein Wirtschaftssystemnamens soziale Marktwirtschaft, beruhend auf der Frei-heit. Daraus leiten wir die Menschenwürde ab, dieGleichheit von Mann und Frau, das Verbot der Diskrimi-nierung von Behinderten –
Kollege Strobl, ich muss Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass Sie der Kollegin Steinbach die Redezeit weg-
nehmen.
– ich bin sofort zu Ende –, die Toleranz
– ich werde sofort zum Ende kommen –
Die Präsidentin kämpft für die Rechte aller Abgeord-
neten.
– gegenüber Andersdenkenden. Diese Werte zu be-
wahren, darum geht es auch in den nächsten vier Jahren.
Auch daran habe ich gedacht, als vor zwei Tagen der 95-
jährige russische Schriftsteller Daniil Granin hier am
Rednerpult stand und mich mit seinen Worten so sehr
berührt hat.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Erika Steinbach das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Deutsche Europa- und deutsche Außenpolitik ist immerauch Menschenrechtspolitik gewesen und wird es auchin Zukunft sein. Unsere Große Koalition hat sich dem– das können Sie im Koalitionsvertrag nachlesen – sehrnachdrücklich verpflichtet.Wir sehen heute, dass in erschreckend vielen Ländernder Erde Menschenrechte zunehmend keine Heimstattmehr haben. Aber mit Krieg und mit Gewalt lassen sichdiese für Menschen elementaren Grundlagen nicht ver-bessern und Unrechtssysteme nicht beheben. Wir brau-chen engagierte Diplomatie. Ich freue mich, dass wir inder Großen Koalition in diesen schwierigen Zeiten mitAußenminister Frank-Walter Steinmeier einen sehr er-fahrenen Diplomaten haben.
Er hat hervorgehoben, dass wir Diplomatie gerade jetztbrauchen.Eines ist aber auch zwingend nötig: Wir müssen alsParlamentarier, als Bundesregierung Defizite immer undimmer wieder ansprechen und alle Möglichkeitennutzen, Menschenrechtsverletzungen geradezu schlag-lichtartig zu beleuchten. Das sensibilisiert am Ende, dasprangert die Täter an, macht sie vielleicht auch nach-denklich.Gute Gelegenheiten, eine große Öffentlichkeit fürMenschenrechtsanliegen zu interessieren – viele Men-schen im Lande bewegt es gar nicht, wenn es Defizitegibt –, sie zu mobilisieren, sind immer auch sportlicheGroßereignisse. Ob Fußballweltmeisterschaften oderOlympische Spiele – da schauen alle Menschen hin. DieWinterolympiade in Russland macht das sehr deutlich.
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Erika Steinbach
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Schon im Vorfeld dieser Olympiade werden schlaglicht-artig zahlreiche Menschenrechtsdefizite in Russlandimmer wieder benannt und einer großen Öffentlichkeitbekannt gemacht. Zuvor hatten nur Nichtregierungsorga-nisationen, die interessierten Politiker, die dafür verant-wortlichen Fachkollegen Interesse an der Thematik.Heute geht es über die Bildschirme, und es werden vieleauf Defizite gestoßen, von denen sie keine Ahnunghatten. Vor dem Hintergrund ist es, wie ich glaube, auchgut, wenn sportliche Großereignisse immer wieder ein-mal auch in diesen Ländern stattfinden, seien es dieOlympischen Spiele damals in China oder jetzt in Russ-land oder demnächst die Fußballweltmeisterschaft inKatar, weil wir so die Gelegenheit nutzen können,schlaglichtartig zu beleuchten, was mit den Menschen-rechten dort geschieht.
Ein Kernanliegen unserer Menschenrechtspolitik istdas elementare Menschenrecht der Religionsfreiheit.Religion ist ja für Milliarden von Menschen elementarerTeil der Identität. Mit großer Sorge sehen wir die Ent-wicklung sowohl in Afrika als auch im Vorderen Orient.Wir müssen leider erkennen, dass es dort Schlachtfelderder Religion gibt. Häufig ist Religion ein willkommenerVorwand für aggressive und gewalttätige Auseinander-setzungen zwischen Volksgruppen, und in Regionen, indenen über lange Zeiträume hinweg die Menschen unter-schiedlicher Religionszugehörigkeit in friedlichem Mit-einander oder wenigstens friedlich nebeneinander gelebthaben, herrscht heute Mord und Totschlag. Im Nahenund Mittleren Osten sehen wir das aggressive Gegenein-ander von Schiiten gegen Sunniten, von Sunniten gegenSchiiten oder Aleviten. Dazwischen werden die Christenzerrieben. Muslime in Afrika morden Christen, undChristen morden Muslime. All das macht deutlich: Dahat sich etwas entwickelt, was für uns sehr beklemmendist. Deutschland und Europa haben das im Dreißigjähri-gen Krieg erlebt: Katholiken gegen Evangelische, Evan-gelische gegen Katholiken. Wir wissen, was Religion füreine zerstörerische Gewalt entfacht hat und entfachenkann, wenn sie missbraucht wird, um Machtansprüchezu manifestieren oder Gruppen gegeneinander zu hetzen.Religiöse Toleranz ist die unverzichtbare Grundlagefür ein friedliches Miteinander von Volksgruppen. Mitgutem Beispiel – das ist endlich auch einmal ein Licht-blick – geht Tunesien, einst das Ursprungsland des soge-nannten Arabischen Frühlings, ein Frühling, der jainzwischen für viele Regionen zum Winter derMenschenrechte geworden ist, voran. Mit der Verab-schiedung der neuen tunesischen Verfassung, in derReligions- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichbe-rechtigung der Geschlechter verankert sind, wurde einebeachtliche Grundlage für eine gute Zukunft geschaffen.
Wir können daran mitwirken und sollten alles dafür tun,damit das, was dort niedergeschrieben ist, jetzt auch eineChance hat, Realität zu werden und in das alltägliche Le-ben eingebracht zu werden.In Europa selbst sehen wir für das Freiheitsbedürfnisder Ukrainer – ich sage es einmal so – einen ganzschmalen Lichtstreif am Horizont. Die Demonstrantenhaben erreicht, dass der Regierungschef Asarow mit sei-nem gesamten Kabinett zurückgetreten ist. Das ukraini-sche Parlament hat die sogenannten Diktaturgesetze vom16. Januar wieder aufgehoben. Wir wollen, wir müssen,wir sollen den Dialog mit den Demonstranten, mit derUkraine selbst, aber auch mit Russland führen, um dazubeizutragen, dass die Ukraine den Kontakt zur Europäi-schen Union weder aufgibt noch verliert noch unterDruck gesetzt werden kann, ihn aufzugeben. Es ist abernoch ein weiter Weg. Der Außenminister hat darauf hin-gewiesen. Die Gefahren sind noch längst nicht gebannt,vielmehr ist noch harte Arbeit zu leisten.
Kollegin Steinbach, es tut mir wirklich leid: Auch
wenn die Kollegin Beck jetzt versucht, mit einer
Zwischenfrage Ihre schon überzogene Redezeit zu ver-
längern – ich habe dabei noch nicht einmal die Zeit ab-
gezogen, die der Kollege Strobl hier überzogen hat –,
bitte ich Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.
Ich komme selbstverständlich gerne zum Schluss,
Frau Präsidentin.
Auch in Deutschland haben wir eine große Aufgabe
zu bewältigen. Wir haben nämlich hier im eigenen
Lande dafür zu sorgen, dass Menschenhandel und
Zwangsprostitution erfolgreich unterbunden werden.
Was sich hier abspielt, ist eine Schande für dieses Land.
Wir sind ein Eldorado für Menschenhändler geworden.
Das darf nicht so bleiben. Wir haben in der Großen
Koalition gemeinsam beschlossen, das zu unterbinden.
Danke schön.
Wir sind damit am Schluss dieses Debattenteils.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesre-
gierungFortsetzung der Entsendung bewaffneterdeutscher Streitkräfte zur Verstärkungder integrierten Luftverteidigung derNATO auf Ersuchen der Türkei und aufGrundlage des Rechts auf kollektive
schlusses des Nordatlantikrates vom 4. De-zember 2012Drucksachen 18/262, 18/347
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderNiels AnnenSevim DağdelenOmid Nouripour
Drucksache 18/382Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDoris BarnettMichael LeutertDr. Tobias LindnerIch mache Sie jetzt schon darauf aufmerksam, dasswir über die Beschlussempfehlung später namentlich ab-stimmen werden.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es vorwegzusagen: Die Verlängerung des Patriot-
Mandats wird den Bürgerkrieg in Syrien weder beenden
noch anfeuern. Es geht in erster Linie um einen Beitrag
im Bündnis und um den Versuch, einen ohnehin entfes-
selten und enthemmten Krieg nicht weiter zu entgrenzen
– nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir glauben, dass
das Mandat, das die Bundesregierung hier vorgelegt hat,
verantwortbar ist, weil es defensiv ist bzw. weil es – wie
wir es in den 70er-Jahren im Rahmen des Ost-West-
Konflikts manchmal diskutiert haben – nicht angriffs-
fähig ist. Es erteilt sozusagen aus unserer Verantwortung
heraus einen defensiven Auftrag. Es wirkt nicht in den
syrischen Luftraum, es leistet keiner Flugverbotszone
Vorschub, und es enthält eine Zusammenarbeit mit ande-
ren Partnern. Nicht zuletzt: Es wirkt im Bündnis.
Wenn wir – einige Tausende Kilometer entfernt –
glauben, die Bedrohung sei nicht existenziell für die
Türkei, so möchte ich daran erinnern, dass in diesem
Bürgerkrieg 600 bis 700 Mittelstreckenraketen dem Re-
gime in Syrien zur Verfügung stehen. Dieses Regime hat
die Mittelstreckenraketen auch schon eingesetzt. Da die
Bedrohung in unmittelbarer Umgebung so wahrgenom-
men wird und da wir in Deutschland um einen Beitrag
zusammen mit den Niederlanden und den USA gebeten
werden, ist das eine akzeptable Maßnahme innerhalb des
Bündnisses, von dem auch Deutschland profitiert hat.
Wir sollten uns weiterhin auch Folgendes deutlich
machen: Diese Patriot-Einheiten verteidigen keine Re-
gierung, keine politischen Handlungen, sondern Flücht-
linge, deren Helfer und letztlich die Menschen, die in
diesem Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze
wohnen. Es soll durch Abschreckung geschützt werden.
Zumindest hat dies in den letzten Monaten funktioniert.
Dass sich die Bundeswehr daran beteiligt hat, ist auch
diesem Mandat letztlich geschuldet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein
Zweifel: Die Türkei ist direkt und indirekt in diesen
Konflikt involviert – im Guten wie im Schlechten. Von
dieser Stelle muss gerade der Türkei, den Hilfsorganisa-
tionen und insbesondere den Menschen, die in diesem
Gebiet Flüchtlinge aufgenommen haben, gedankt wer-
den für die humanitäre Hilfe für die vielen Tausend
Flüchtlinge, die aus dem Bürgerkriegsgebiet in die Tür-
kei geflohen sind.
Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dağdelen?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, HerrKollege Mützenich. – Herr Kollege Mützenich, Siehaben gesagt, dass dieses Mandat ein verantwortbaresMandat ist und dass es dazu da ist, besonders Flüchtlingean der Grenze zwischen der Türkei und Syrien zuschützen.Ich möchte Sie aber auf einen Punkt hinweisen. Indem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung diesesEinsatzes der Bundeswehr steht im zweiten Absatz unter„Völkerrechtliche Grundlagen“, dass auf Antrag derTürkei im Nordatlantikrat am 26. Juni und am 3. Okto-ber 2012 Konsultationen stattgefunden haben aufgrundzweier Ereignisse. Aufgrund dieser zwei Konsultationenhat die NATO beschlossen, dass es diesen Einsatz gebensoll. – Können Sie mir bis hierhin folgen?
Die Begründungen – –
– Er hat so grimmig geguckt. Deshalb frage ich, ob ermir überhaupt folgen kann.Dies steht im Antrag der Bundesregierung, den Siehöchstwahrscheinlich gelesen haben. Die Begründungender Entsendung von Patriots sind aber nicht haltbar. AufAntrag der Türkei fanden zwei NATO-Konsultationenstatt. Die erste befasste sich mit dem Abschuss eines tür-kischen Militärflugzeugs durch die Syrer, die zweiteKonsultation mit dem Granatbeschuss der Syrer Rich-
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Sevim Dağdelen
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tung Türkei. Das steht in dem Antrag der Bundesregie-rung. Diese Begründungen sind schlicht nicht haltbar,Herr Kollege, weil sich herausgestellt hat, dass in einemgeheimen NATO-Bericht – diesen Bericht legt die Bun-desregierung bisher nicht vor – steht, dass diese türki-sche Version nicht stimmt. Deshalb frage ich Sie, HerrKollege: Wie kommen Sie darauf, den Antrag zu unter-stützen, obwohl in dem NATO-Bericht steht, dass dieKonsultationen, auf deren Grundlage dieser Einsatzheute noch einmal beschlossen werden soll, uns Abge-ordneten nicht wahrheitsgemäß vermittelt worden sind?Wir sind getäuscht worden. Die International CrisesGroup und die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ ha-ben gesagt, dass die Darstellung der Türkei falsch war.Warum sagen Sie jetzt, dass dieser Antrag immer nochauf der gleichen Grundlage im Bundestag bewilligt wer-den muss? Ich frage Sie, wenn sich der Anlass, der indiesem Antrag zugrunde liegt, als unwahr erwiesen hat:Was ist der eigentliche Sinn und Zweck dieses Einsat-zes? Teilen Sie dem Bundestag und auch der Öffentlich-keit mit, warum Sie dem AKP-Regime unter dem autori-tären Führer Erdoğan mit dem Einsatz von Patriots zurSeite stehen.
Ein kleinen Moment, Kollege Mützenich. Ich habe
die Uhr inzwischen angehalten.
Das ist gut so.
Ich bitte nur darum, bei weiteren Debatten und Zwi-
schenfragen nicht den Umstand auszunutzen, dass wir
zwischendurch einen kleinen Technikausfall hatten und
daher die Zeit für eine Bemerkung oder Frage nicht mes-
sen konnten, und die Redezeit zu überschreiten. Ich bitte
um die gebotene Kürze, damit wir die Debattenzeit auf
diese Art und Weise nicht verdoppeln. Ich denke, wir
sind alle fähig, den Sachverhalt zu erläutern und eine
Frage zu stellen.
Kollege Mützenich, Sie haben das Wort für die Ant-
wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich halte es auch fürangemessen; denn wir führen hier eine ernste Debatteüber die Verlängerung von Mandaten, bei denen wir dieBundeswehr in Regionen schicken, in denen Krisen-situationen herrschen.Deswegen vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie mirdiese langen Zusammenhänge und Fragen zutrauen. Ichbin Ihren Ausführungen schon gefolgt.
Der entscheidende Punkt, den ich versucht habe Ihnenam Anfang deutlich zu machen, war, dass dieses Man-dat, als es damals hier in den Deutschen Bundestag ein-gebracht worden ist, einen allein defensiven Charakterhatte, dass es keine provokativen Elemente gegenüberdem syrischen Regime hatte. In diesem Zeitraum muss-ten wir immer wieder erleben, dass in Syrien Mittelstre-ckenraketen von der dortigen Armee eingesetzt wurden.Ich glaube, dass die Bedrohung existenziell zu diesemZeitpunkt gewesen ist, wie sie es auch heute ist. WennSie berücksichtigen, dass es 600 bis 700 Mittelstrecken-raketen in Syrien gibt und dort ein entfesselter Krieg– mit 130 000 Toten – stattfindet, angesichts dessen9,3 Millionen Menschen in Syrien auf Hilfe angewiesensind und es 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge und2,4 Millionen Flüchtlinge gibt, die unter anderem in dieTürkei gehen, dann erkennen Sie, welche Krisen sich ausdieser Situation entwickeln können, die sich letztlichauch auf die Türkei auswirken. Deswegen mache ich esnoch einmal sehr deutlich: Dies ist ein defensiver Auf-trag. In dem Mandat der Bundesregierung steht nichtsvon der AKP-Regierung, die Sie hier eben benannt ha-ben.Wenn Sie einen Geheimbericht haben, den Sie uns,den Kolleginnen und Kollegen, zukommen lassen wol-len, haben wir, glaube ich, genügend Gelegenheit, imAuswärtigen Ausschuss darüber zu reden.
Ich bin mir nicht sicher, warum wir ihn nicht mit IhrerHilfe bei den Beratungen im Auswärtigen Ausschusseinsehen konnten. Das wäre hilfreich gewesen.
Es macht keinen Sinn, wenn hier nur etwas von einemBericht behauptet wird. Dann besteht letztlich keineMöglichkeit, ihn in die Beratung dieser Fragen einzube-ziehen.Ich würde gerne noch sagen – wenn Sie, Frau Präsi-dentin, es erlauben –: Sie sollten sich auch die Fragestellen, ob es manchmal nicht besser ist, einen Partnerdurch eigene Beiträge im Bündnis zu halten und an derPolitik zu beteiligen. Sie unterstellen der AKP-Regie-rung ja eine Menge.
Stellen Sie sich nicht die Frage, ob es nicht möglicher-weise hilfreich ist, einen Beitrag zu leisten, wenn einBündnispartner Hilfe erbittet, um ihn auf diese Weiseeng an die Politik zu binden, die in den letzten Wochenund Monaten in Montreux und Genf verfolgt wurde?Wir versuchen nämlich, die falsche Politik in dieser Re-gion, die auch die AKP-Regierung mit zu verantwortenhat, zu korrigieren.
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Dr. Rolf Mützenich
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Darauf würde ich gerne im Laufe meiner Redezeit, diemir noch zur Verfügung steht, zu sprechen kommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was Sie vonder Linksfraktion immer wieder übersehen, ist, dass sol-che Mandate in einen politischen Handlungsrahmen ein-gebettet sind. Wir haben gerade eine Generaldebatteüber die Außen- und Sicherheitspolitik geführt. Der Au-ßenminister hat hier betont, welche aktive Rolle dieseBundesregierung in den letzten Wochen gerade auch beider zivilen und politischen Bearbeitung des Bürgerkrie-ges in Syrien gespielt hat. Diesen Beitrag, diese diplo-matischen Bemühungen – ich hoffe, da spreche ich fürdas gesamte Haus – sollte Deutschland weiterhin erbrin-gen.Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung inner-halb weniger Tage eine frühere Entscheidung korrigierthat – ich hätte es mir schon früher gewünscht –: Sie hatzugesagt, die Restbestände an chemischen Waffen, diedas syrische Regime eingesetzt hat, in Deutschland zuvernichten. Ich finde, das ist ein exzellenter Beitrag, denwir mit den Mitteln und Instrumenten, die in Deutsch-land auch aufgrund des Ost-West-Konflikts und derHilfe bei der Zerstörung der libyschen Chemiewaffenvorgehalten werden, leisten können.In diesem Zusammenhang möchte ich auch im Hin-blick auf die Haushaltsberatungen betonen, wie wichtigin Zukunft zum Beispiel das Kapitel zu Abrüstung undRüstungskontrolle sein wird. Wir, das Parlament – auchwir Sozialdemokraten –, werden sehr selbstbewusst da-rauf achten, dass entsprechende finanzielle Mittel vorge-halten werden, damit immer wieder ad hoc auf be-stimmte Situationen reagiert werden kann und wirunseren Beitrag zu Abrüstung und Rüstungskontrolleleisten können. Damit besteht letztendlich die Möglich-keit, auf die entsprechenden Länder einzuwirken.
Kollege Mützenich, ich habe gerade wieder die Uhr
angehalten, um Sie zu fragen, ob Sie dem Kollegen van
Aken eine Bemerkung oder Frage gestatten.
Bitte.
Herr Mützenich, Sie haben gerade eben gesagt – es
war nur ein kleiner Halbsatz –, dass auch die syrische
Regierung Chemiewaffen eingesetzt hat. Sie wissen,
dass Sie nicht wissen, wer sie eingesetzt hat. Sie wissen,
dass die UNO nicht weiß, wer diese Chemiewaffen ein-
gesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie das
hier?
Ich habe die gesamten Unterlagen dazu gelesen. Die
UNO sagt ausdrücklich, sie wisse nicht, wer es war. Ich
habe alle Anschuldigungen von Kerry und den USA ge-
lesen, die nachweisen wollen, dass es das Assad-Regime
war. Ich habe früher bei der UNO in diesem Bereich ge-
arbeitet und sage: All das, was die USA vorlegen, ist
ganz dünn. Ich habe auch die Unterlagen gesehen, die
Russland vorgelegt hat, um nachzuweisen, dass es die
Rebellen waren. Auch all das ist ganz dünn.
Ich möchte nur feststellen: Es gibt niemanden, der ob-
jektive Fakten darüber hat, wer diese Chemiewaffen ein-
gesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie hier,
ohne Belege zu haben, dass es das Regime war? Ich
möchte hier nur für Objektivität sorgen.
Dann möchte ich in diesem Atemzug noch eine Be-
merkung machen: Wenn Sie schon erwähnen, dass es sy-
rische Chemiewaffen gibt, müssten Sie auch dazusagen,
woher das syrische Regime unter Assad die Chemikalien
für die Herstellung von Sarin geliefert bekommen hat.
Sie kommen nämlich aus Deutschland.
Lieber Kollege van Aken, Sie wissen genauso gut wieich, dass der Versuch unternommen worden ist, durcheine unabhängige Kommission auf der Grundlage einesBeschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten NationenÜberprüfungen durchzuführen. Viele der dadurch ge-wonnenen Indizien – und das verschweigen Sie in IhrerFrage –, deuten auf das syrische Regime hin.
Das betrifft sowohl die Substanzen als auch die Muni-tion, die von dieser unabhängigen Expertengruppe ge-funden worden sind. All das ist ein deutlicher Fingerzeigauf dieses Regime. Ich glaube, es ist notwendig, dasnoch einmal zu betonen.Ich will Ihnen deutlich sagen: Wie in Ihrem Beitragzu diesem Mandat in der ersten Lesung zeigt sich auchjetzt wieder, wie sehr Sie versuchen, Realitäten auszu-blenden. Sie haben zum Beispiel davon berichtet, dassSie in den kurdischen Gebieten in Syrien unterwegs ge-wesen sind. Daraus haben Sie in der ersten Lesung dieSchlussfolgerung gezogen, dass die Kurden in Genf undMontreux eigentlich viel besser vertreten sein müssten.Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass viele Kurden,auch in der Opposition, in Genf und in Montreux dabeigewesen sind.Letztlich fordern Sie ein Mandat für die in Syrien le-benden Kurden ein. Deswegen frage ich Sie: Denkennicht auch Sie in Kategorien der Ethnisierung in Bezugauf Konflikte und Konfliktbearbeitung? Ich finde, Siesollten sich dieser Realität stellen. Darauf kommt es ineiner seriösen Debatte an.
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Dr. Rolf Mützenich
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Zum Zweiten. Sie haben sehr stolz darüber berichtet,dass Sie in den kurdischen Gebieten Syriens unterwegsgewesen sind. Während ich Ihnen zugehört habe, habeich mich gefragt: Wie waren Sie denn dort unterwegs?Hat Sie dort jemand beschützt? Mit Waffen? Ist diesesGebiet mit Waffen freigekämpft worden? Von dieserRealität haben Sie hier nämlich nichts berichtet, weil Sieimmer nur einen kleinen Ausschnitt – vielleicht ist dassogar provokativ gemeint – in die Debatte des DeutschenBundestages einbringen.Ich finde, es gehört zu einer ehrlichen Debatte – undich hoffe, dass das in den nächsten vier Jahren der Fallsein wird –, nicht ständig Realitäten auszublenden, ins-besondere wenn es um internationale Konflikte geht.Deswegen sage ich: Stellen Sie sich der Aufgabe, Reali-täten zu benennen.Es wäre sehr hilfreich, wenn wir es schaffen könnten,Sie doch zu überzeugen, mit uns wenigstens über Ein-sätze auf der Grundlage von Kapitel VI der Charta derVereinten Nationen – hier geht es um friedliche Streit-beilegung – zu sprechen, wenn Sie schon nicht darüberdiskutieren wollen, Einsätze der Bundeswehr zu manda-tieren. Vielleicht käme dadurch ein bisschen Bewegungin die Diskussion. So könnten Sie sich den Realitäten an-nähern.
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass ich demDeutschen Bundestag durch die Zulassung der vielenZwischenfragen und letztlich auch durch die Antwortendarauf ein wenig Zeit gestohlen habe, aber ich findediese Auseinandersetzung sehr wichtig, und zwar nichtnur in Bezug auf Mandate, sondern auch in Bezug aufdie Nutzung unserer diplomatischen Möglichkeiten.Ich habe daran erinnert, wie sehr sich die Bundesre-gierung eingesetzt hat. Ich finde, dass von diesem Hauseaus auch ein Dankeschön an den Vermittler des General-sekretärs der Vereinten Nationen, Herrn Brahimi, gehensollte,
der sich unermüdlich für diesen kleinen Erfolg im Be-reich der humanitären Hilfe eingesetzt hat. Ich hoffe,dass die Hilfe die Menschen in Homs oder an andererStelle erreicht.In der Tat ist es so – Kollege Schmidt hat darauf hin-gewiesen –, dass wir in Deutschland in den letzten Jah-ren gerade im Hinblick auf die Aufnahme von syrischenFlüchtlingen wenig getan haben. 26 000 Flüchtlinge sindbisher nach Deutschland gekommen. Ich glaube, es gibtviele, die sich wünschen, dass im Rahmen des Kontin-gents, das Sie angesprochen haben, noch mehr zu unskommen.Ich bin den syrischen Familien dankbar, die entwederBekannte, Freunde oder Verwandte trotz begrenzterMöglichkeiten bei sich aufgenommen haben. UnsereAufgabe ist es nun, die Kommunen dabei zu unterstüt-zen, für gute Bedingungen bei der Aufnahme der Flücht-linge zu sorgen.Mit diesem Mandat ist nicht nur der Einsatz der Bun-deswehr verbunden, sondern auch diplomatische und hu-manitäre Aufgaben. Vielleicht können wir uns zumin-dest auf diesen Teil beziehen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als wir am Montag im Verteidigungsausschuss die Posi-tion der Linken zu den zwei Einsätzen im Mittelmeerund an der türkisch-syrischen Grenze vorgetragen haben,hat ein Kollege gesagt, unsere Argumente gegen dieseEinsätze seien unerträglich. Ich will Ihnen einmal sagen,was für meine Fraktion und für mich unerträglich ist:Erstens. Die Große Koalition hatte überhaupt nichtvor, die Mandatsverlängerung hier im Parlament ordent-lich zu beraten,
wie es das Parlamentsbeteiligungsgesetz vorschreibt.Herr Mützenich, Sie fordern eine offene Debatte überdie Auslandseinsätze OAF und OAE; dabei wollten Siediese Debatte in einer Regierungserklärung verstecken.Erst nachdem die Linke eine Geschäftsordnungsdebattebeantragt hatte, war man bereit, die abschließende Le-sung aus der Regierungserklärung herauszulösen undüber die Mandate einzeln zu debattieren.
Sie glauben – auch das muss man hier einmal sagen –,dass Sie mit Ihrer großen Mehrheit hier machen können,was Sie wollen. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen dieLinke nicht durchgehen lassen.
Zweitens. Ich will noch einmal festhalten, wie es zudem Einsatz deutscher Abwehrraketen an der türkisch-syrischen Grenze gekommen ist. Der anhaltende Bürger-krieg in Syrien stellte nach Angaben der Türkei eine Ge-fahr für die territoriale Integrität des Landes dar. Vor al-lem Einschläge fehlgeleiteter Granaten auf demtürkischen Territorium wurden als Grund genannt, dieNATO um Beistand zu bitten. Die Türkei selbst räumteein, dass die Granaten nicht auf ihr Land gerichtet gewe-sen seien. Es gab also keine konkrete Bedrohungslage.Hinzu kommt, dass die Patriot-Raketen bei einem mögli-chen Einsatz von Chemiewaffen oder Granatenbeschuss
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Katrin Kunert
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völlig wirkungslos sind. Das verdeutlicht, dass Sie unterfalschen Voraussetzungen einen Bundeswehreinsatz kre-iert haben. Das ist aus unserer Sicht die falsche Antwort.
Drittens. Die Türkei ist Teil des Konflikts. Sie unter-stützt radikale Aufständische, gewährt islamistischenGotteskriegern die Einreise über ihr Territorium undlässt Waffenlieferungen aus den Golfstaaten die Grenzepassieren. Die Regierung in Ankara boykottiert jeglicheVersuche demokratischer Selbstverwaltung in den kurdi-schen Provinzen Syriens, indem sie die Grenzen abrie-gelt und selbst humanitäre Hilfe blockiert. Die Türkeibefördert somit Kriegshandlungen im Nachbarland undbeklagt sich dann über fehlgeleitete Granaten. Das istdoch absurd.
Ich bitte Sie: Beenden Sie das Mandat. Ziehen wir diedeutschen Raketen ab.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für ei-nen Waffenstillstand und die friedliche Beendigung desBürgerkriegs in Syrien einzusetzen. Die Linke fordertdie Bundesregierung auf, sich beim Bündnispartner Tür-kei dafür einzusetzen, dass die Blockaden an den Gren-zen aufgehoben werden, um humanitäre Hilfe und ganznormalen Handel zu unterstützen.
Lassen Sie uns die knapp 20 Millionen Euro, die derPatriot-Einsatz kosten würde, für Medikamente und not-wendige Lebensmittel einsetzen. Das wäre humanitäreHilfe.
Raketen machen nicht satt, und sie bringen auch keinenFrieden. Insofern – das ist unser Vorschlag – sollten wirjetzt alle unser ganzes diplomatisches Geschick für einfriedliches und demokratisches Syrien einsetzen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nehme an, der
Kollege Kiesewetter freut sich darüber, dass Sie so zahl-
reich hier im Plenarsaal vertreten sind.
Es wäre aber schön, wenn Sie jetzt auch die Vorausset-
zung dafür schaffen würden, dass alle im Plenarsaal die
Beiträge des Kollegen Kiesewetter und der folgenden
Rednerinnen und Redner verfolgen können. Daher bitte
ich, notwendige Gespräche nach draußen zu verlagern. –
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wir haben heute mehrfach von einem Teil der Op-position gehört, dass wir Auslandseinsätze derBundeswehr beenden sollen. Wir haben mehrfach ge-hört, dass wir eine andere Sicherheitspolitik anstrebensollen. Wir sollten das nicht als gebetsmühlenartig ab-tun, sondern wir sollten uns in unserer großen Mehrheit,als Große Koalition bewusst sein, dass wir unsere Aus-landseinsätze auf einem klaren sicherheitspolitischenFundament diskutieren und verabschieden. Wir müssenuns im Klaren sein, dass wir die Sicherheitspolitik nichteiner kleinen Gruppe von Fachleuten überlassen dürfen,sondern als Große Koalition gemeinsam dafür stehenmüssen.Deshalb bin ich auch sehr froh und dankbar, dass vordieser Debatte eine breite sicherheitspolitische General-debatte stattgefunden hat. Ich kann hier nur einigen Vor-rednern, zum Beispiel Thomas Strobl, zustimmen, diegesagt haben, dass Sicherheitspolitik in Wirtschaftspoli-tik, in Sozialpolitik und in Außenpolitik einzubetten ist.Wenn wir uns jetzt mit dem Mandat Operation ActiveFence, also dem Schutz des Luftraums in der Türkei, be-schäftigen, müssen wir uns im Klaren sein, dass wir diesvor einem Jahr zum ersten Mal verabschiedet haben undsich die Bedrohungslage nicht verändert hat. Die Türkeihat aber in der Zwischenzeit 72 zivile Tote zu beklagenund kümmert sich – sie übernimmt damit Solidarität fürviele Staaten Europas – um 800 000 Flüchtlinge auf demeigenen Territorium.Der Einsatz Active Fence bleibt unverändert notwen-dig. Warum? Die Türkei verfügt über keine eigenenFlugabwehrsysteme. Die Türkei hat kein Patriot-System.Aber – das zeigt die Bündnissolidarität – Deutschland,die USA und die Niederlande helfen der Türkei mit die-sem System aus.Worum geht es dabei? Es geht nicht darum, im Luft-raum Syriens zu wirken, sondern es ist eine defensiveMaßnahme, die der NATO-Rat beschlossen hat und derwir im Bundestag, glaube ich, einmütig zustimmen kön-nen. Es geht dabei darum, den Luftraum der Türkei zuschützen. Syrien verfügt – Kollege Mützenich hat esvorhin gesagt – über ballistische Raketen und setzt sieim eigenen Land ein. Es ist ein Zeichen der SolidaritätDeutschlands, der Niederlande und der Vereinigten Staa-ten, Seite an Seite mit der Türkei ihren Luftraum zuschützen.
Im Übrigen leistet Deutschland einen weiteren Bei-trag, den wir hier ansprechen sollten. Der Einsatz wird janicht von der Türkei, sondern aus Deutschland herausvom Air Command in Ramstein geführt. Das ist einNATO-Kommando auf deutschem Boden. Hier zeigenwir, dass wir Teil dieser NATO-Operation sind, wir zei-gen Bündnissolidarität und leisten auch mit Blick auf dieKommandostrukturen der reformierten NATO einenBeitrag.
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Roderich Kiesewetter
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Lassen Sie mich zum Abschluss auch das Übergeord-nete ansprechen. Diese Operation ist in ein größeres Kri-sen- und Konfliktmanagement eingebettet. KollegeMützenich hat das sehr deutlich angesprochen. WirDeutschen leisten auch einen Beitrag im Bereich der hu-manitären Hilfe, der Übergangshilfen, der Krisenbewäl-tigung und des Konfliktmanagements. Die Kosten unse-res Einsatzes bei Active Fence betragen rund 20Millionen Euro im Jahr, während die der humanitärenHilfe, der Übergangshilfen, im Bereich des Konfliktma-nagements und der zivilen Krisenprävention über 400Millionen Euro jährlich betragen. Wir zeigen damit, dasswir einen mehrfachen Beitrag leisten und uns mit einerbeispielhaften vernetzten Sicherheitspolitik für die Tür-kei einbringen. Dadurch werden wir auch unserem Ko-alitionsvertrag gerecht, in dem wir schreiben, dass wirzivile und militärische Instrumente abgestimmt und vorallen Dingen mit parlamentarischer Begleitung zum Ein-satz bringen wollen.Lassen Sie mich abschließend den zurzeit 400 deut-schen Soldatinnen und Soldaten, aber auch unseren nie-derländischen und amerikanischen Bündnispartnern auftürkischem Boden unsere Solidarität versichern und ih-nen für ihren Einsatz danken. Ich werbe um Zustimmungfür das Mandat und danke für Ihre Aufmerksamkeit.Danke schön.
Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.Ich bitte noch einmal die Kolleginnen und Kollegen,die schon im Saal sind und noch keinen Sitzplatz gefun-den haben, sich jetzt bitte zu setzen oder notwendige Ge-spräche nach draußen zu verlegen. – Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir Grüne werden der Verlängerung des Mandats zurAufstellung der Patriot-Systeme in der Türkei aufgrundder Verpflichtungen im Bündnis, weil die Kriegsgefahrin der Region im letzten Jahr zumindest nicht gesunkenist, zustimmen. Wir stimmen auch zu, weil das Mandataufgrund des Drucks von uns Grünen im letzten Jahr soangepasst wurde, dass politische Manipulationen er-schwert werden. Ich nenne als Beispiel die ausreichendeDistanz zur türkisch-syrischen Grenze.Die Entsendung der Patriot-Einheiten darf aber nichtden Blick auf die Krise in Syrien verstellen. Hier liegendie Ursachen dafür, dass es notwendig ist, Abwehrsys-teme zu stationieren. Hier müssen wir liefern, wenn dasMandat ein Ende finden soll.
Am Montag sprach – Herr Strobl, Sie haben ihn er-wähnt – Daniil Granin zu uns. Seine Schilderung derBlockade von Leningrad hat mich sehr berührt. Als erüber das Elend der Kinder sprach, schnürte sich mir derHals zu. Ohne dass ich die deutschen Gräueltaten imZweiten Weltkrieg irgendwie relativieren wollte, mussich sagen, dass mir bei Herrn Granins Erinnerungen Bil-der von Kindern und Frauen aus Homs in den Kopf ka-men. Auch die syrische Stadt Homs wird seit Monaten,seit Jahren belagert, beschossen, ausgehungert. DieMenschen dort stehen ohne medizinische Versorgung da.Zwei Drittel der Krankenhäuser sowie der Krankenwa-gen in Syrien sind zerstört. Die syrische Regierung ver-hindert die Lieferung medizinischer Hilfsgüter in Ge-biete, die von den Oppositionellen kontrolliert werden.Es gibt Bestrebungen, den Verantwortlichen für zehn-tausendfache Folter, Tod, Aushungern, für Jahrzehnteder Unterdrückung – Baschar al-Assad – als die bessereAlternative darzustellen. Das, meine Damen und Herren,dürfen wir nicht durchgehen lassen. Hier muss HerrSteinmeier ein klares Signal setzen.
Ich hätte mir gewünscht, dass es in den Genf-II-Ver-handlungen einen Hoffnungsschimmer für Homs gibt;aber trotz der Zusage des Assad-Regimes hat humanitäreHilfe Homs bis heute Nachmittag nicht erreicht. Statt-dessen fordert das Regime heute, Frauen und Kinder vonden Männer zu trennen. Das ruft mir unweigerlich Sre-brenica ins Gedächtnis: Die Frauen und Kinder habenihre Männer und Väter damals nie wieder gesehen. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen. Das humanitäreVölkerrecht ist nicht verhandelbar, es gilt für alle, ohneWenn und Aber.
Wir dürfen Assads Hinhaltetaktik nicht weiter dulden.Seien wir doch ehrlich: Wenn der Zugang nach Homsnicht bald gelingt, wird die Opposition am Verhand-lungstisch nicht sitzen bleiben können, ohne jeglicheGlaubwürdigkeit innerhalb Syriens zu verlieren. Dannwären die Verhandlungen erst einmal vorbei.Herr Steinmeier ist in diesem Moment leider nicht da.Ich möchte ihn fragen: Tun Sie wirklich alles, um denDruck auf Assad und seinen Partner Putin so zu erhöhen,dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs bekommt?Was für Chemiewaffeninspekteure möglich ist, das mussdoch erst recht für humanitäre Helfer möglich sein: Siemüssen im ganzen Land unbeschränkten Zugang bekom-men. Der Schutz der Bevölkerung darf doch nicht beider Vernichtung der Chemiewaffen enden.
Es würde Russland gut anstehen – auch mit Blick aufden olympischen Frieden von Sotschi –, ein humanitä-res Zeichen zu setzen, indem man sich dafür starkmacht– wenn nicht in Genf, dann in New York, im Sicher-heitsrat –, dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs be-kommt.Herr Steinmeier, üben Sie bitte auch Druck aus aufSaudi-Arabien und Katar – Länder, aus denen Dschiha-
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Dr. Franziska Brantner
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disten finanziert werden –, die auch keine humanitäreHilfe zulassen. Da wird wieder einmal klar: Wir brau-chen endlich eine echte Contact Group, in der Russen,Iraner, Saudi-Araber, eben alle an einem Tisch sitzen,um sich auch zwischen Friedenskonferenzen abzustim-men und zu einigen.Und, liebe Bundesregierung, wir brauchen eine euro-päische Stimme; die gibt es in der Syrien-Politik mo-mentan gar nicht. Der Europäische Auswärtige Dienstmit Herrn Vimont an der Spitze liest die französischenKabelberichte, Frau Ashton hört auf Herrn Cameron,und was machen die Deutschen? Es ist unsere Chance,hier endlich Kohärenz herbeizuführen und vielleicht ei-nen Beitrag zu leisten.
Letzte Frage an Herrn Steinmeier und Herrn Müller:Leisten wir Deutsche wirklich alles – alles –, um die hu-manitäre Hilfe in Syrien zu stärken? Können wir nichtnoch mehr Gelder senden? Der Treuhandfonds, der mitDeutschlands Hilfe aufgelegt wurde, ist noch längstnicht gefüllt; da könnten wir doch zum Beispiel nachle-gen.Sehr geehrte Damen und Herren, aus unserer Ge-schichte erwächst Verantwortung. Gedenken ohne Han-deln reicht nicht. Wir müssen uns besonders engagieren.In diesem Sinne appelliere ich an den Minister: Tun Siemehr, tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende!Ich danke Ihnen.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Reinhard Brandl für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Lassen Sie mich eines vorausschicken: Das Leid
der Menschen in Syrien lässt einen manchmal schier ver-
zweifeln. Jeden Tag lesen wir neue Nachrichten über
Tod und Vertreibung – auch heute wieder; Frau Brantner,
Sie haben es angesprochen –, und das, obwohl gleichzei-
tig in Genf Friedensverhandlungen stattfinden.
Es wird in diesem Konflikt keinen Sieger im militäri-
schen Kampf geben. Vielmehr kann Frieden in Syrien
nur über den Verhandlungsweg erreicht werden. Inso-
weit ist es zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer,
dass sich in Genf gerade zu der Stunde, in der wir hier
debattieren, die Oppositionsparteien mit den Regie-
rungsparteien zumindest in einem Raum befinden und
indirekt miteinander reden. Ich hoffe, dass die internatio-
nalen Anstrengungen, dort eine Lösung herbeizuführen,
in den nächsten Wochen und Monaten fruchten werden.
Deutschland tut, was möglich ist, um das Leid der
Menschen in Syrien zu lindern. Wir sind einer der größ-
ten Geber von bilateraler Hilfe. Der Kollege Kiesewetter
hat die 440 Millionen Euro seit 2012 angesprochen. Wir
unterstützen die besonders betroffenen Nachbarländer in
vielerlei Hinsicht, nehmen selber Flüchtlinge auf und
helfen jetzt ganz aktuell, die syrischen Chemiewaffen zu
vernichten.
Wir können als Deutschland nicht alles leisten, aber
die Vernichtung dieser Chemiewaffen ist zum Beispiel
ein Beitrag, den wir leisten können, weil wir dafür die
Technologie und das Know-how haben. Wir stellen uns
dieser Verantwortung und bringen diesen Beitrag ein,
und das ist wichtig und richtig.
Meine Damen und Herren, das ist internationale Ge-
meinschaft: Jeder leistet entsprechend seinen Möglich-
keiten und seinen Fähigkeiten einen Beitrag zur Lösung
des großen Problems.
Ein solcher Beitrag ist auch der Schutz der Türkei vor
fehlgeleiteten Raketen. Diese Hochtechnologiefähigkeit
der Raketenabwehr haben im Bündnis nur wir, die USA
und die Niederlande. Die Türkei selber hat sie nicht.
– Da ist der Wunsch einer Zwischenfrage; ich würde sie
zulassen.
Gut, Kollege Brandl. Jetzt, am Beginn der Legislatur-
periode, scheinen sich neue Freundschaften in Bezug auf
Zwischenfragen und Antworten zu bilden.
– Ja, ich werde genau beobachten, wie sich das hier wei-
terentwickelt. – Kollegin Dağdelen, Sie haben das Wort
zu einer Zwischenfrage oder Bemerkung.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Kollege,danke, dass Sie es zugelassen haben, Sie kurz zweiDinge zu fragen. Denn Sie haben ja gesagt: Dieser Ein-satz dient dem Schutz der Türkei.Erstens. Vor dem Hintergrund, dass ich es sehr bedau-ere, dass in dieser Debatte bis jetzt kein Wort, kein kriti-sches Wort über die Unterdrückung in der Türkei gefal-len ist, möchte ich Sie fragen: Ist es nicht eher so, dassdie Bundeswehr mit diesem Einsatz das AKP-Regimeund Erdogan schützen soll?Zweitens: Wie gehen Sie in den Koalitionsfraktionendamit um, dass laut Umfragen von unabhängigen Institu-ten in der Türkei – auch aktuellen Umfragen – einegroße Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gegendiesen Patriot-Einsatz in der Türkei ist? Es gab massen-hafte Demonstrationen und Proteste gegen die Bundes-wehr und auch gegen diesen Einsatz. Wie gehen Sie da-mit eigentlich um?
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Wir nehmen die Stimmung in der Türkei sehr zur
Kenntnis, wobei ich Ihnen sagen muss, dass es nicht so
eindeutig ist, wie Sie sagen. Ich habe auch andere Stim-
men aus der Türkei gehört. Wir haben erst in der letzten
Woche mit türkischen Vertretern gesprochen, die den
Einsatz der Deutschen sehr begrüßen.
Ich möchte Ihnen eines zur Bedrohungslage in der
Türkei sagen: Auf türkischem Gebiet gab es seit dem
Ausbrechen des Bürgerkriegs 309 Verletzte und 94 tote
Zivilisten. Die Zahl ist vom November; jetzt werden es
sicher schon wieder mehr sein.
Unsere Patriot-Systeme sind seit einem Jahr im Ein-
satz; wir haben darüber diskutiert. In diesem Jahr haben
diese Systeme über 300 Abschüsse von Kurzstreckenra-
keten festgestellt. Diese Kurzstreckenraketen haben eine
Reichweite von etwa 700 Kilometern. Wenn die Rakete
startet, wissen Sie nicht, wo sie einschlagen wird. Es
dauert eine gewisse Zeit, bis Sie errechnen können, wo
der Einschlagpunkt ist.
Dass die Menschen in diesem Gebiet Angst haben,
liebe Frau Kollegin, ist doch nachvollziehbar. Sie müs-
sen sich das ganz praktisch vorstellen. Das ist ein
Kriegsfall. Sie wissen nie, wer dahinter steht, wer zum
Beispiel die Koordinaten für die Rakete eingibt, welche
Motive er hat und ob er immer rational handelt. Sie wis-
sen beispielsweise nie, ob die Rakete Giftgas mit sich
führt. Dieses Risiko konnte im letzten Jahr deutlich mi-
nimiert werden, auch mit deutscher Hilfe. Aber aus
Deutschland heraus die Bedrohungslage in der Türkei
infrage zu stellen, finde ich schon ziemlich vermessen. –
Liebe Frau Kollegin, die Frage ist jetzt beantwortet.
Wir leisten unseren Beitrag im Rahmen der Bündnis-
solidarität. Die Türkei hat bei der NATO und damit auch
bei uns um diesen Beitrag nachgefragt. Gerade Deutsch-
land hat jahrzehntelang von der Solidarität im Bündnis
dahin gehend profitiert, dass unsere internationalen Part-
ner in unserem Land stationiert waren und im Falle eines
Falles eingegriffen hätten. Davon haben wir profitiert.
Unsere Partner haben unsere Sicherheit garantiert. Jetzt
leisten wir einen Beitrag zur Sicherheit und zur Stabilität
im Bündnis.
Ich finde, wir sollten das tun. Ein solcher Einsatz ist
doch rein defensiv. Ich verstehe, ehrlich gesagt, gar
nicht, was die Linken immer gegen solche Einsätze ha-
ben. Wenn Sie grundsätzlich gegen Bundeswehreinsätze
sind, dann sagen Sie das. Sagen Sie doch: Wir lehnen ei-
nen solchen Einsatz aus grundsätzlichen Erwägungen
ab. – Aber inhaltlich können Sie diesen Einsatz doch
nicht kritisieren. Er ist rein defensiv. Es geht nicht da-
rum, jemanden mit Raketen anzugreifen, sondern es geht
nur darum: Wenn eine Rakete aus Syrien auf türkisches
Gebiet fliegt, dann soll sie abgeschossen werden, bevor
sie in Kahramanmaras oder in einer anderen Großstadt
einschlägt. Dagegen kann man nichts haben.
Das ist ein wertvoller Beitrag, den wir im Bündnis
leisten.
Ich denke, wir sollten diesen Beitrag nicht verwehren.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierungzur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscherStreitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftvertei-digung der NATO auf Ersuchen der Türkei.Mir liegen zwei Erklärungen der KolleginnenDağdelen und Kiziltepe nach § 31 unserer Geschäftsord-nung vor. Wir nehmen sie entsprechend unseren Regelnzu Protokoll.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/347, den Antrag der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/262 anzunehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte jetzt umAufmerksamkeit. Mir ist zu Ohren gekommen, dassnoch nicht alle, insbesondere neu dem Haus angehö-rende Mitglieder des Bundestages, wissen, mit welchenMaterialien sie sich für die unterschiedlichen Abstim-mungsformen, die wir heute alle üben, jeweils ausstattenmüssen. Deshalb bitte ich darum, mir jetzt sehr genauzuzuhören.Sie brauchen für die namentliche Abstimmung dieStimmkarte Ihrer Wahl, die Sie aus dem Kartenfach inder Westlobby geholt haben. Ich bitte Sie, zu überprüfen,ob die Stimmkarte, die Sie schon bei sich haben, tatsäch-lich Ihren Namen trägt, und gegebenenfalls, sollten Sieaus Versehen die Stimmkarte Ihres Nachbarn mitgenom-men haben, den entsprechenden Austausch vor der Ab-stimmung vorzunehmen.Ich weise Sie außerdem darauf hin, dass nach dieserAbstimmung eine weitere Debatte stattfindet, welche wie-derum in eine namentliche Abstimmung mündet, welchewiederum mittels Stimmkarte vollzogen wird. Die weite-ren gedruckten Karten, Wahlausweise, die Sie gegebenen-falls auch schon aus Ihren Kartenfächern geholt haben,brauchen wir erst für die darauffolgenden Wahlgänge.Ich bitte Sie trotzdem, da es offensichtlich schon zuVerwechslungen gekommen ist, die Zeit der nächstenDebatte dafür zu nutzen, zu überprüfen, ob die Wahlaus-weise und die Stimmkarte, die Sie schon haben, entspre-chend gekennzeichnet sind, also Ihren Namen tragen.Sollte dies nicht der Fall sein, bitte ich Sie, die Wahlaus-weise an das rechtmäßig abstimmungsberechtigte Mit-glied des Bundestages zurückzugeben. Denn einige Kol-legen haben offensichtlich ihre Wahlausweise nichtmehr im Fach vorgefunden; die muss also schon jemandanders herausgenommen haben.1) Anlage 2
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich hoffe, ich habe mich jetzt deutlich genug ausge-drückt, welche Aufgaben Sie neben dem Verfolgen derDebatte und den Abstimmungen in den nächsten Minu-ten noch zu erfüllen haben.Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung. Ichbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-sehenen Plätze einzunehmen. Ich bitte um ein Zeichen,ob an jedem Abstimmungsplatz eine Schriftführerin oderein Schriftführer der Koalitionsfraktionen und eineSchriftführerin oder ein Schriftführer der Oppositions-fraktionen anwesend ist. – Das scheint der Fall zu sein.Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall.Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)Hier vorn ist noch ein Wahlausweis übrig; der wird ja,wie gesagt, später noch gebraucht.
Ich habe gerade den Hinweis bekommen, dass ich alleInstrumente, die dem Präsidium zur Verfügung stehen,nutzen soll. Das scheint mir an dieser Stelle angebrachtzu sein.
Ich bitte all diejenigen, die der folgenden Debattenicht folgen können oder wollen, den Saal zu verlassen,und alle anderen, Platz zu nehmen. – Ich werde die De-batte nicht eröffnen, bevor wir nicht die notwendigeOrdnung hergestellt haben. Dieser Hinweis gilt sowohlfür die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten alsauch für die Mitglieder der Bundesregierung.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, der Unionsfraktion, der Grünen und auch derFraktion Die Linke, den Bemühungen ihrer Parlamenta-rischen Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen, hierdie notwendige Ordnung herzustellen, nun auch Folgezu leisten.
– Kollege Ulrich, es ist gut, aber auch Sie können nochbesser werden. Auch Mitglieder der Fraktion Die Linkestehen noch. – Kollege Ströbele, es macht mich traurig,dass Sie mich ignorieren.
– Das gilt natürlich auch für die Kolleginnen von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen, die da noch stehen.
1) Ergebnis Seite 620 DWenn die Kollegen der SPD und der Union auch nochdie notwendige Ordnung herstellen, können wir fortfah-ren.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der NATO-geführ-ten Operation Active Endeavour im gesamtenMittelmeerDrucksachen 18/263, 18/348Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderNiels AnnenWolfgang GehrckeDr. Frithjof Schmidt– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der GeschäftsordnungDrucksache 18/383Berichterstattung:Abgeordnete Alois KarlDoris BarnettMichael LeutertDr. Tobias LindnerÜber die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeNiels Annen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie so wacker fürAufmerksamkeit gekämpft haben. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wir beraten und beschließen heute überden Antrag der Bundesregierung, die Beteiligung an derOperation Active Endeavour fortzusetzen. Wie Sie allewissen, hat sich meine Fraktion mit diesem Mandat be-sonders intensiv auseinandergesetzt. Von diesem Red-nerpult aus haben Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten darauf hingewiesen, dass die Begründung desEinsatzes der Diskussion bedarf. Deswegen will ich da-ran erinnern: Die Grundlage für die Entsendung vondeutschen Streitkräften im Rahmen dieses Mandates istdie Ausrufung des Bündnisfalls nach Art. 5 des NATO-Vertrages.
Diese Entscheidung war nach dem Angriff des 11. Sep-tember 2001 auf unsere amerikanischen Verbündetenrichtig. Sie war ein Akt der Solidarität, ein Akt derBündnistreue. Im Rahmen dieses Einsatzes haben wir in
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Niels Annen
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den letzten Jahren dazu beigetragen, dass der Terroris-mus bekämpft worden ist und dass wir hier in Deutsch-land sicherer geworden sind.Aber es ist auch richtig, dass unter der Überschrift„Krieg gegen den Terrorismus“ vieles falschgelaufen ist.Überreaktionen und Fehlentwicklungen – darüber sindsich, glaube ich, viele in diesem Hause einig – habendazu geführt, dass die Glaubwürdigkeit des Westens invielen Bereichen gelitten hat. Die Stichworte sind unshier alle präsent: die Debatte über Folter, die Debatteüber Guantánamo, über illegales Töten etc. Ich bin über-zeugt davon: Die terroristische Bedrohung auch im Mit-telmeer ist nicht gebannt, und es wäre fahrlässig, diesenEindruck zu erwecken. Aber wir brauchen eine neueGrundlage zur Bekämpfung des Terrorismus und dafürauch einen neuen politischen Konsens. Wir glauben,dass der Bezug dieses Mandates auf Art. 5 des Nordat-lantikvertrags in den nächsten Jahren ersetzt werdensollte.
Wir stimmen heute zu, weil wesentliche Kritikpunkteaus unseren Vorschlägen, aber auch aus der Diskussionin diesem Land von der Bundesregierung aufgegriffenworden sind. Wir stimmen heute einem verändertenMandat zu: Die Obergrenze der Zahl der Soldaten ist ge-senkt worden, das sogenannte Einmelden von Schiffenfindet künftig nicht mehr statt, und die exekutiven Be-fugnisse sind begrenzt worden.Ich will aber deutlich sagen, auch in Richtung derBundesregierung: Wir stimmen auch in der Erwartungzu, dass die Botschaft, die wir ausgesandt haben, aufge-griffen wird, dass die doch relativ kurze Zeit der Manda-tierung – elf Monate – dafür genutzt wird, in der NATOdafür zu sorgen, dass dieser neue politische Konsens Ge-stalt annimmt, und dass wir gemeinsam mit unserenBündnispartnern ein neues Mandat ohne den Bezug aufArt. 5 erreichen können. Ich bin dem Bundesaußen-minister und auch der Verteidigungsministerin sehrdankbar dafür, dass die ersten Gespräche bereits geführtworden sind. Ich erwarte, dass das in den nächsten Mo-naten weiter geschehen wird. Dann werden wir gemein-sam hier darüber beraten und auch Bilanz ziehen kön-nen.Ich möchte noch etwas zu der Frage der Bündnissoli-darität sagen, auch mit Verweis auf die vorhergehendeDiskussion. Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen wieimmer aufmerksam zugehört.
– Danke schön. – Mir geht es um einen Punkt: Ich habeden Eindruck, es gibt in einem Teil der politischen Lin-ken ein Missverständnis, was unsere Beziehung zurNATO betrifft. Sie glauben, wenn Deutschland sich ein-seitig aus dem Bündnis verabschiedet – es ist Ihr Vor-schlag, die NATO aufzulösen; in diesem konkreten Fallist Ihr Vorschlag, wir sollten uns einseitig aus der Opera-tion zurückziehen –, dann würde das Ansehen unseresLandes in der Welt steigen, und wir würden Respekt ge-nießen. Habe ich Sie richtig verstanden?
Schauen Sie in die Geschichte, auch die der SPD, zu-rück. Die Diskussion haben wir in den 50er-Jahren ge-führt. Damals gab es ganz viele, die dieser Meinung wa-ren. Seit der großen Rede von Herbert Wehner 1960
gibt es in diesem Land einen Konsens, dem Sie sich ver-weigern. Wir kommen zu einem genau anderen Ergeb-nis: Die feste Verankerung unseres Landes in den inter-nationalen Bündnisstrukturen der Europäischen Unionund der NATO hat – davon bin ich fest überzeugt – dieGrundlage für das hohe Ansehen unseres Landes erst ge-legt.
Kollege Annen, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Ströbele?
Das tue ich gerne.
Danke, Herr Kollege. – Ihnen ist wahrscheinlich wie
mir bekannt, dass in den letzten Jahren im Mittelmeer
kein einziges Boot durch die Bundesmarineeinheiten,
die dort sind, aufgebracht oder kontrolliert worden ist.
Halten Sie es wirklich für richtig und entspricht es
Ihrer Überzeugung, allein deshalb einen Bundes-
wehreinsatz im Ausland weiterhin zu praktizieren und
das Bestehen des Bündnisfalls in der NATO weiterhin
anzunehmen und zu unterstützen, weil man mit den Part-
nern im Augenblick noch nicht geredet hat oder weil
man Bündnistreue beweisen muss, obwohl dieser Ein-
satz überhaupt keinen Sinn mehr macht, oder weil man
sich einfach nicht traut, aus diesem Einsatz herauszuge-
hen, obwohl man ihn selber für falsch und überflüssig
hält? Das heißt, halten Sie einen bewaffneten Bundes-
wehreinsatz im Ausland allein aus demonstrativen Grün-
den für richtig?
Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen für die Frage.Ich glaube, dass nun eine gute Gelegenheit ist, noch ein-mal darauf hinzuweisen – ich hätte das sonst in der Formvielleicht gar nicht gemacht –, dass es einen Unterschiedgibt, seit die Sozialdemokratische Partei in die Bundes-regierung eingetreten ist. Wir haben uns nämlich in derOpposition und jetzt in der Regierungsverantwortungmit genau dem Punkt, den Sie ja zu Recht ansprechen,auseinandergesetzt.
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Niels Annen
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Ich möchte Ihre Frage schon im Hinblick auf den spe-zifischen Fall beantworten; generell muss jeder Einsatzdetailliert und für jeden Einzelfall begründet werden. In-sofern bin ich gar nicht bereit und nicht in der Lage, IhreFrage allgemein mit Ja oder Nein zu beantworten.Wir kommen zu dem Ergebnis: Die Bündnissolidari-tät muss in unserer Abwägung immer eine Rolle spielen,auch insofern, als wir uns alle – ich bin mir sicher, dieBundesregierung tut das auch – die Frage stellen müs-sen: Was würde eine einseitige Entscheidung, so wie sieuns die Kollegen der Linkspartei hier vorschlagen, fürunseren politischen Spielraum bedeuten?Ich habe auch in meiner Rede eben sehr klar die Er-wartung geäußert – ich wiederhole das gerne –, dass inden nächsten elf Monaten etwas passiert. Insofern binich mit diesem Mandat sehr zufrieden, als es in eineRichtung geht, von der wir immer gefordert haben, dasssie formuliert wird. Darüber hinaus ist das Ganze sehrverantwortbar, weil wir nicht dasselbe, sondern ein ver-ändertes Mandat beschließen. Darauf habe ich am An-fang hingewiesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchteam Ende meiner Rede versuchen, an einen vorherigenGedanken anzuschließen. Ich hatte, Frau Präsidentin,eine Zwischenfrage eher von der linken Seite erwartet;aber das scheint sich nach der vorhergehenden Debatteinsoweit erledigt zu haben.
Ich weise vorsorglich darauf hin, dass ich eine Ver-
doppelung oder gar Verdreifachung der Redezeit durch
Zwischenfragen – auch wenn das durch Koalition und
Opposition verabredet worden ist – nicht zulassen
werde. Das wurde ja vorhin schon probiert.
Das war keine Verabredung. – Ich komme auch gleich
zum Schluss meiner Ausführungen.
Wir haben bereits in der vorherigen Debatte detailliert
über die Einsatzbedingungen und auch über die Lage im
Mittelmeer diskutiert. Klar wurde, dass dort weiter die
Notwendigkeit für diesen Einsatz besteht, dass wir ein
Interesse daran haben müssen, Informationen aus einer
Region zu bekommen, die großen Spannungen unter-
liegt, in der es politische und auch militärische Spannun-
gen gibt, und dass wir von dieser Region ein aktuelles
Lagebild brauchen. Das steht für mich gar nicht zur Dis-
kussion.
Ich glaube, dass es die Politik dieser Großen Koali-
tion auszeichnet, dass wir diese Debatte mit unseren
Partnern führen,
und dass es eine Erweiterung unserer politischen Spiel-
räume bedeutet, wenn wir nicht einfach Knall auf Fall
– nur weil sich eine Regierungskonstellation in Deutsch-
land verändert hat – sagen: Da machen wir nicht mehr
mit. – Wir nehmen nämlich zur Kenntnis, Kolleginnen
und Kollegen, dass es innerhalb der NATO Partner gibt,
die vielleicht zu einem anderen Bedrohungsbild und zu
einer anderen politischen Lageeinschätzung kommen als
wir.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Wir vertrauen
auf die Argumentationskraft und darauf, dass die Vertre-
terinnen und Vertreter der Bundesregierung diesen Im-
puls aus dem Deutschen Bundestag aufgreifen. Deswe-
gen bitte ich um Zustimmung und bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelteErgebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: ab-gegebene Stimmen 601. Mit Ja haben 523 Kolleginnenund Kollegen gestimmt, mit Nein haben 71 Kolleginnenund Kollegen gestimmt, und es gab 7 Enthaltungen. DieBeschlussempfehlung ist damit angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 600;davonja: 522nein: 71enthalten: 7JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter Flosbach
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 621
Vizepräsidentin Petra Pau
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Thorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeDr. Heribert HirteChristian HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerSilke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias Bartke
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622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Sören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertWilli BraseDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseUli GrötschMichael GroßWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogGabriele Hiller-OhmThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannRalf KapschackGabriele KatzmarekUlrich KelberMarina KermerArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannAydan ÖzoğuzMahmut Özdemir
Markus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne Schieder
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteFrank SchwabeStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerRüdiger VeitUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerTom KoenigsOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Manuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnMarkus TresselJürgen TrittinDoris WagnerDr. Valerie WilmsNeinSPDKlaus BarthelDr. Ute Finckh-KrämerPetra Hinz
Cansel KiziltepeHilde MattheisDr. Hans-JoachimSchabedothSwen Schulz
Waltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta Krellmann
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 623
Vizepräsidentin Petra Pau
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Katrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauRichard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENCorinna RüfferHans-Christian StröbeleEnthaltenSPDMarco BülowDr. Daniela De RidderEwald SchurerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMaria Klein-SchmeinkSylvia Kotting-UhlMonika LazarDr. Julia Verlinden
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kol-lege Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Operation Active Endeavour soll erneutunter Verweis auf Art. 51 der UN-Charta in Verbindungmit Art. 5 des Nordatlantikvertrags verlängert werden.Es geht um die kollektive Selbstverteidigung, zumindestformell. De facto aber geht es um etwas ganz anderes. Inder Begründung Ihres Antrages schreiben Sie schon imersten Satz:Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkon-tinentalen Transportkorridoren weltweit und ist fürden innereuropäischen und transatlantischen Han-del von geostrategisch vitaler Bedeutung.Genau darum geht es. Es geht darum, dass Sie dieBundeswehr für das deutsche Kapital ins Mittelmeerschicken, um dort die Interessen zu verteidigen. Das istder eigentliche Ansatz Ihrer Politik.
Die Operation Active Endeavour läuft nun seit 2001,das heißt seit zwölf Jahren. Seit zwölf Jahren spinnenSie an der Legende, es sei eine kollektive Selbstverteidi-gung. Das ist es nicht. Es sind nämlich gewisse Kriteriennicht erfüllt. Es gibt also Gründe, die erhebliche Zweifelan Ihrer Behauptung aufkommen lassen. Dazu gehörendie räumliche und zeitliche Dimension eines Selbst-verteidigungsfalls, auch von OAE.Der Terroranschlag 2001 hat nicht im Mittelmeerstattgefunden – das sollte Ihnen bekannt sein, sehr ge-ehrte Damen und Herren –; er hat in New York statt-gefunden. Die räumliche Verteidigung viele TausendKilometer vom Anschlagsort entfernt ist mehr als frag-würdig. Man stelle sich einfach einmal vor – ich macheein Gedankenexperiment –, es gäbe einen Terroran-schlag in China, in Peking. Herr Arnold, ich habe dasArgument schon einmal vorgebracht.
– Die bringe ich gerne mit ein. – Man stelle sich vor,China würde fortan eine maritime Dauerpräsenz in derOstsee, in der Nordsee oder im westlichen Atlantikschaffen mit dem Argument: Wir müssen uns verteidi-gen. – Ich wäre gespannt auf das Geschrei der hiesigenPolitik und der Medien. Es wäre ganz gewaltig.
– Die Marsmännchen fehlen noch, genau; darauf kommeich gleich zurück.Auch der zeitliche Aspekt ist mit Blick auf Art. 51 derUN-Charta in Verbindung mit Art. 5 des Nordatlantik-vertrags nicht tragfähig. Sollte hier jemals das Verteidi-gungsargument gezogen haben, woran die Linke erhebli-che Zweifel hat – denken Sie an den Hinweis, den ichgerade gegeben habe –, so ist der Zeitraum von zwölfJahren wirklich nicht mehr vertretbar.
Das Fazit, welches es zu ziehen gilt, ist: Der Selbst-verteidigungsfall war im Mittelmeer nie gegeben. Er ist,wie man es auch drehen und wenden mag, auch unterzeitlichem Aspekt nicht gegeben gewesen. Es hat imMittelmeer – darauf wurde vom Kollegen Ströbele ge-rade zu Recht hingewiesen – niemals eine konkreteBedrohung Europas und der USA gegeben. Das ist dereigentliche Punkt. Die präventive Selbstverteidigung ge-gen eine abstrakte Bedrohung – das ist der Begriff, denSie verwenden – ist völkerrechtswidrig und irgendwieauch lächerlich, wäre sie nicht friedensgefährdend.
Aber die Lächerlichkeit haben auch Sie irgendwannerkannt, selbst in den Reihen der CDU/CSU. Nun verste-cken Sie sich hinter dem Argument der Bündnis-verpflichtung und der Bündniszuverlässigkeit.Zum Thema Bündnisverpflichtung nur so viel: Siegreift nicht. Art. 5 des Nordatlantikvertrages ist so for-muliert, dass die Beteiligungsform relativ offen ist. Esreicht auch ein Beileidsschreiben, so wurde mir von mei-nem Prof an der Uni erzählt. Ich habe es nachgeprüft;das reicht tatsächlich aus.Zur Bündniszuverlässigkeit. Das ist nichts anderes alseine irrationale Nibelungentreue auf Kosten der Solda-
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624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Dr. Alexander S. Neu
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tinnen und Soldaten, ihrer Familien und der Steuerzah-ler. Sie zahlen dafür, dass Sie den USA gegenüber auchim Mittelmeer Nibelungentreue demonstrieren.
Wir, die Linke, fordern deshalb die sofortige Aufhe-bung des Bündnisfalls und die Beendigung zumindestder deutschen Beteiligung an der Operation ActiveEndeavour. Sollten gewisse NATO-Partner nicht mitzie-hen, was wohl der Fall sein wird, ist eine einseitige Auf-kündigung des Konsenses in unseren Augen zwingenderforderlich. Die Konsensaufkündigung ist das souve-räne Recht eines Landes, insbesondere dann, wenn dieAuflösung des Konsenses im Nordatlantikvertrag nochnicht einmal fixiert ist. Von daher ist die Rückfalllinie,dass ein souveräner Staat von einem Abkommen zurück-treten kann.Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Bun-desregierung, nutzen Sie die Souveränität, um endlicheine verantwortungsvolle Außenpolitik einzuleiten!
Die Gegenargumente, die ich heute gehört habe, vor al-lem von der SPD, zeigen nur eines: Unsere Forderungnach Austritt aus den militärischen Strukturen der NATOist richtig. Noch eines müssen wir, glaube ich, feststel-len: Schwarmintelligenz, vor allem auch die der NATO,ist nicht immer intelligent – siehe den kollektiven Selbst-mord von Lemmingen.Danke.
Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das
war die erste Rede des Kollegen Dr. Neu.
Jetzt rufe ich den nächsten Redner auf. Das ist der
Kollege Peter Beyer. Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! DieOperation Active Endeavour ist ein Paradebeispiel füreine erfolgreiche Zusammenarbeit der NATO-Bündnis-partner, und Bündnistreue – das geht insbesondere an dieAdresse des Vorredners von der Linksfraktion – ist füruns ein wichtiger Faktor. Nach den Anschlägen vom11. September 2001 rief die NATO erstmals den Bünd-nisfall nach Art. 5 aus. Einer der daraus resultierendenBundeswehreinsätze ist die Operation Active Endea-vour. Seither debattiert der Deutsche Bundestag jedesJahr über die Verlängerung dieses Mandats. Das machenwir heute auch in dieser Debatte.Die Opposition verweist unter anderem auf die – dashaben wir vorhin gehört – umstrittene völkerrechtlicheGrundlage oder auf die veränderte Bedrohungslage imMittelmeerraum. Ein Kollege der Fraktion Die Linkehatte in der Debatte zu dem Antrag der Bundesregierungam 16. Januar dieses Jahres gesagt – ich zitiere –: „Esgibt im Mittelmeer keine Bedrohung für Europa.“ Meinesehr geehrten Damen und Herren, wer das glaubt, istblauäugig. Wahr ist, die Bedrohungslage hat sich in denletzten 13 Jahren verändert. Die Bedrohungslage ist, wiees in dem Antrag der Bundesregierung heißt, abstrakt.Die Bedrohung durch maritimen Terrorismus wird in-zwischen als gering eingeschätzt. Das liegt nicht zuletztan der Operation Active Endeavour, die eine abschre-ckende und eine präventive Wirkung entfaltet hat. Andieser Stelle möchte ich ausdrücklich allen Soldatinnenund Soldaten in der Verwendung bei der OperationActive Endeavour für ihren Einsatz danken.
Die Sicherheitslage bleibt jedoch aufgrund der politi-schen Umwälzungen im gesamten arabischen Raumdurchaus fragil. Piraterie, Verbreitung von Massenver-nichtungswaffen, organisierte Kriminalität und darausresultierende Sicherheitsrisiken bestehen weiterhin. Miteinem präventiven und netzwerkbasierten Ansatz und ei-nem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung kann undmuss die Operation Active Endeavour auch in Zukunfteinen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit imMittelmeerraum leisten. Daran hat nicht zuletzt unserLand ein strategisches Interesse; denn auch die deutscheWirtschaft ist auf sichere Seewege angewiesen. Für deninnereuropäischen und den transatlantischen Handel ge-hört das Mittelmeer zu den wichtigsten Transitrouten.Der Suezkanal ist die meistbefahrene Seestraße der Welt.Gerade Deutschland als Exportnation profitiert von ei-nem sicheren Mittelmeer am allermeisten. Daher hatDeutschland ein großes Interesse an einem lückenlosenLagebild vom Mittelmeer, um potenzielle Risikenschneller zu erkennen. Genau das leisten die Soldatinnenund Soldaten bei der OAE.
Im Übrigen wäre ein Ende der deutschen Beteiligungan der OAE kein gutes Signal an unsere Bündnispartner.Deutschland ist ein verlässlicher internationaler Partner.Das müssen wir zeigen, indem wir weiterhin einen ver-lässlichen Beitrag leisten. Mir ist durchaus bekannt, dassdies nicht nur auf Zustimmung stößt, wie wir ja auchheute in der Debatte erfahren konnten. Deutschlandssicherheitspolitische Zurückhaltung in den letzten Jahrenhat bei unseren Partnern nicht nur für Irritationen ge-sorgt, sondern zuweilen auch dazu geführt, dass unsereVerlässlichkeit infrage gestellt wurde. Deutschland mussweiterhin und – meiner Überzeugung nach – auch ver-stärkt eine wichtige Rolle in der Welt spielen. Deutsch-land ist willens, fähig und in der Lage, sich insbesonderemit unseren Freunden auf der anderen Seite des Atlan-tiks, den Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsamglobalen Herausforderungen zu stellen.Die Weiterentwicklung und Anpassung des Mandatsan die Einsatzrealität ist ein richtiger und wichtigerSchritt. Der deutsche Beitrag wird sich künftig mit einermaximalen Obergrenze von 500 Soldatinnen und Solda-ten auf die Beteiligung an den ständigen maritimen Ver-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 625
Peter Beyer
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bänden der NATO und an den Aufklärungs- und Früh-warnflugzeugen der NATO, AWACS, sowie auf denAustausch von Lagedaten beschränken. Die OAE kon-zentriert sich inzwischen ohnehin auf die Seeraumüber-wachung und den Lagebildaustausch. Damit kommt ihreine wichtige und nicht zu unterschätzende Frühwarn-funktion zu.Deutschland setzt sich kontinuierlich dafür ein, dieEinsatzgrundlagen der Operation auch konzeptionell dertatsächlichen Einsatzrealität anzupassen. Auf deutscheInitiative hin hat die NATO im April des vergangenenJahres 2013 eine Option eröffnet, OAE perspektivisch ineine nicht durch Art. 5 gestützte Operation zu überfüh-ren. Die aktuelle Verlängerung des Mandats unter dengeänderten Bedingungen stellt damit eine Übergangslö-sung dar. Sie ist ein wichtiger Schritt in dem Prozess zurWeiterentwicklung der Operation Active Endeavour.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Ich werbe um Zustimmung zum Antrag der Bundes-regierung für das Mandat OAE.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht
der Kollege Tobias Lindner.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in
diesem Hohen Haus über Auslandseinsätze der Bundes-
wehr sprechen, dann kommt uns an zwei Stellen eine be-
sondere Verantwortung zu. Ich bin daher froh, dass wir
heute überhaupt über dieses Mandat diskutieren.
Die erste Verantwortung, die uns zukommt, ist, sich
im Zweifel für den Parlamentsvorbehalt zu entscheiden.
Noch im Dezember wollte uns der damals geschäftsfüh-
rende Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière
erklären, dass OAE nicht zustimmungspflichtig sei. Ich
bin daher froh, dass sich die Argumente auch unserer
Fraktion durchgesetzt haben und wir in diesem Hause
über dieses Mandat abstimmen.
Es wäre nämlich geradezu absurd, ein Mandat nicht für
zustimmungspflichtig zu erachten, das mit Art. 5 des
NATO-Vertrages begründet wird. Art. 5 des NATO-
Vertrags ist ein hohes Gut. Er besagt, dass es die Unter-
zeichnerstaaten als einen Angriff auf ihr Land betrach-
ten, wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird. Wenn wir
Angriffe auf andere Mitgliedstaaten als Angriffe auf un-
ser Land empfinden, dann kann ich nicht verstehen, wie
man auf die Idee kommen kann, ein Mandat, das mit
Art. 5 des NATO-Vertrags begründet wird, sei nicht zu-
stimmungspflichtig.
Die zweite Verantwortung, die uns zukommt, wenn
wir über Auslandseinsätze reden, ist, uns Folgendes zu
fragen: Ist erstens das Mandat richtig begründet? Liegt
uns zweitens eine für uns nachvollziehbare und glaub-
würdige Schilderung der Situation vor? Sind drittens die
Mittel, zu denen wir die Bundeswehr ermächtigen, ge-
eignet, um mit dieser Situation umzugehen? Lieber Niels
Annen, hier muss man sagen: Ja, das Mandat ist
verändert worden. Aus Sicht meiner Fraktion ist dieses
veränderte Mandat, das uns heute vorliegt, aber in sich
widersprüchlich. Damit wir uns richtig verstehen: Wir
reden hier über Art. 5. Ich persönlich fand es richtig,
nach den Anschlägen des 11. September den Bündnisfall
auszurufen. Diese Anschläge waren ein menschenver-
achtender Akt des Terrorismus. Es war ein Angriff, und
es bestand eine konkrete Bedrohung der Vereinigten
Staaten. Aber genauso wichtig, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist es, dass dies nach zwölf Jahren nicht mehr
als Begründung für eine, wie Sie selber im Antrag
schreiben, abstrakte Bedrohungssituation im Mittelmeer
dient. Allein das ist ein Grund, warum meine Fraktion
diesem Mandat heute nicht zustimmen kann.
Der andere Punkt ist: Wenn wir uns anschauen, zu
welchen Mitteln bei einer solch abstrakten Bedrohungs-
situation gegriffen wird – wir haben es hier gehört: See-
raumüberwachung, Fernmeldeaufklärung, Patrouillie-
ren –, dann stellen wir fest, dass es in vielen Teilen
dieses Mandats um Elemente geht, wie sie in routinemä-
ßigen Missionen der NATO vorkommen. Das heißt, die
Bundesregierung hat es nicht nur versäumt, sich dafür
einzusetzen, dass der Bündnisfall endlich beendet wird,
sondern auch nicht dafür gesorgt, das Mandat so weit zu-
rückzuführen, dass es einer Routinemission entspricht.
So ist dieser Antrag ein widersprüchliches Wischiwa-
schi.
Ich komme zum Ende. Sie legen uns hier ein verän-
dertes, aber nach wie vor mit Art. 5 begründetes Mandat
vor. Wenn Sie es schon nicht geschafft haben, sich inner-
halb der NATO dafür einzusetzen, dass der Bündnisfall
beendet ist, dann wäre es Ihre Aufgabe gewesen, sich da-
für einzusetzen, dass sich Deutschland an dieser Mis-
sion, ähnlich wie in Libyen, nicht beteiligt. Wir erkennen
nach wie vor nicht den Sinn. Deswegen werden wir, wie
in den Vorjahren auch, heute diesem Mandat nicht zu-
stimmen.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Julia Bartz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Herr Dr. Neu, es freut mich, dass Sie sichbei Ihrer ersten Rede zumindest mit einer Unterstellungzurückgehalten haben. Bei vergangenen Debatten zurOperation Active Endeavour haben die Linken zum wie-
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626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Julia Bartz
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derholten Male unseren Soldatinnen und Soldaten unter-stellt, Sie würden im Mittelmeer Flüchtlinge jagen. ZurErinnerung: Kollegin Dağdelen behauptete am 28. No-vember 2013, dass – ich zitiere – „NATO-Schiffe imMittelmeer zur Flüchtlingsjagd, zur Hetze gegen Flücht-linge … eingesetzt werden sollen“. Kollege Liebich wie-derholte diesen Vorwurf am 16. Januar 2014 und sprachvon einer Abwehr der Flüchtlinge durch die Hintertür.Ihre Unterstellungen weise ich entschieden zurück.
Dass Ihnen Auslandseinsätze der Bundeswehr gegen denStrich gehen, haben wir ja verstanden. Aber eine Diffa-mierung unserer Soldatinnen und Soldaten lasse ich indiesem Hohen Hause nicht zu.
Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen einen wich-tigen Auftrag für unser Land. Sie tun dies in unterschied-lichen Teilen der Erde. Unsere Soldatinnen und Soldatenschützen am Horn von Afrika Handelsschiffe vor Pirate-rie. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die im Ko-sovo für Stabilität sorgen. Sie sind es, die an der Grenzezu Syrien die Sicherheit der Türkei gewährleisten, undunsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die bei derHochwasserkatastrophe im Juni 2013 mit 18 000 Frauenund Männern an Elbe, Inn, Saale und anderen Flüssenden Opfern der Hochwasserkatastrophe geholfen haben.Ihnen gebühren unser Dank und unsere Anerkennung.
Heute beschließen wir den Antrag der Bundesregie-rung zur Fortsetzung der Operation Active Endeavourim Mittelmeer.
Die Fortsetzung der Operation ist notwendig, weil sicherstens die instabile Lage im Nahen und Mittleren Ostensowie in Nordafrika zuspitzt. Die gesamte Region ist einPulverfass, neben dem das Feuer in Syrien brennt. Nord-afrika entwickelt sich mehr und mehr zu einer Bastionfür terroristische Zellen. Menschen-, Drogen- und Waf-fenhandel sind dort an der Tagesordnung. Hier schlum-mert eine große Gefahr für viele Staaten Afrikas und Eu-ropas.Zweitens. Die Operation Active Endeavour ist wich-tig, weil das Mittelmeer eine der bedeutendsten Handels-routen für Deutschland ist. 220 000 Handelsschiffe, einDrittel aller über See verschifften Waren und ein Viertelaller Öltransporte durchqueren jährlich das Mittelmeer.Deshalb brauchen wir ein aktuelles Lagebild der Region.
Frau Bartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Omid Nouripour?
Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen.
Die Aufgabe der Erstellung eines aktuellen Lagebil-
des der Region können wir nur im Bündnis erfüllen.
Hierbei müssen wir unserer Rolle in der NATO gerecht
werden. Unsere Beteiligung an OAE macht deutlich:
Deutschland ist ein verlässlicher Partner; wir stehen zu
unserer Verantwortung.
Ich fasse zusammen: Die Instabilität im Nahen und
Mittleren Osten sowie in Nordafrika, die Absicherung
einer der wichtigsten Handelsrouten und unsere Bünd-
nissolidarität sprechen für die Fortsetzung der Operation
Active Endeavour. Es liegt im Interesse Deutschlands,
dass die NATO im Mittelmeerraum präsent ist. Wir müs-
sen die Lage auf dem Schirm haben. OAE liefert uns
dieses dichte Lagebild dank fliegender und maritimer
Aufklärung. Durch unsere Präsenz im Mittelmeerraum
hat sich OAE zu einem präventiven Ordnungsfaktor ent-
wickelt. Zudem hat sich OAE zu einer Kooperations-
plattform entwickelt, an der auch viele Mittelmeeranrai-
ner mitwirken. Die Ziele der Operation haben sich
zunehmend hin zur Seeraumüberwachung, Aufklärung
und Lagebilderstellung in und über See gewandelt. Der
Antrag der Bundesregierung wird diesen neuen Anforde-
rungen gerecht und bereitet gleichzeitig den Weg für
eine Neukonzipierung und Weiterentwicklung des Man-
dats.
Unser gemeinsames Ziel ist es, OAE in eine nicht auf
Art. 5 des NATO-Vertrags gestützte Operation zu über-
führen. Wir unterstützen deshalb seitens der CDU/CSU-
Fraktion den Antrag der Bundesregierung.
Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt erhält der Kol-
lege Liebich das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrte Kollegin Bartz, Sie hatten mich direktangesprochen. Sie haben zitiert, was ich in meiner letz-ten Rede gesagt habe, und dann geäußert, Sie würdendies nicht zulassen. Sie haben hier im Deutschen Bun-destag zwar eine 80-Prozent-Mehrheit, aber das Recht,unsere Meinung zu vertreten, auch wenn das nicht IhreMeinung ist, werden wir uns nicht nehmen lassen.
Ich möchte ein Zweites hinzufügen. Sie haben ebendas Argument vorgebracht, dass es im Mittelmeer wich-tige Handelsrouten gibt und diese geschützt werdenmüssen. Das ist nun ausdrücklich nicht Bestandteil desMandats, über das wir hier reden, und zwar aus gutemGrund; denn unsere Bundeswehr hat nicht die Aufgabe– das ist Gott sei Dank auch im Grundgesetz nicht vor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 627
Stefan Liebich
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gesehen –, Handelsrouten für den privaten Schiffsver-kehr freizuhalten.
Frau Kollegin Bartz erhält das Wort zur Erwiderung.
Herr Kollege Liebich, natürlich kann ich weder Ihnen
noch jemand anderem das Wort verbieten. Aber gestehen
Sie mir bitte zu, dass ich Ihnen deutlich widerspreche.
Wie gesagt: Ein Ziel der Operation Active Endeavour ist
die Entwicklung eines präventiven Ordnungsfaktors, ist
die Stabilisierung der Region, und das wird damit erfüllt.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierungzur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscherStreitkräfte an der NATO-geführten Operation ActiveEndeavour im gesamten Mittelmeer.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/348, den Antrag der Bundesre-gierung auf Drucksache 18/263 anzunehmen. Wir stim-men über die Beschlussempfehlung namentlich ab.Ich mache darauf aufmerksam, dass im Anschluss andiese Abstimmung vier Wahlen mit Stimmkarte undWahlausweis stattfinden werden. Ich bitte die Kollegin-nen und Kollegen, sich die Unterlagen für diese Wahlenzu holen, falls dies noch nicht geschehen ist.Zunächst möchte ich jedoch die Schriftführerinnenund Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzu-nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Ich er-öffne hiermit die zweite namentliche Abstimmung.Ist ein Mitglied dieses Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wirdIhnen später bekannt gegeben.1)Ich bitte Sie, Ihre Plätze wieder einzunehmen. – LiebeKolleginnen und Kollegen, ich habe diese große Glockenoch nicht zum Einsatz gebracht. Wenn es notwendig ist,mache ich das gleich. Das soll aber ohrenbetäubend lautsein. Deshalb bitte ich Sie, einfach Ihre Plätze einzuneh-men, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.Das gilt für die Kollegen, die hier vorne stehen und mit-einander sprechen, und auch für diejenigen, die im Hin-tergrund stehen und miteinander sprechen. – Liebe Kol-leginnen und Kollegen, noch einmal die Bitte an Sie:Nehmen Sie die Plätze ein. Die Gespräche können Sieanschließend fortsetzen.1) Ergebnis Seite 628 CIch rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:a) – Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung des Vertrauensgremiums ge-mäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushalts-ordnungDrucksache 18/358– Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremi-ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundes-haushaltsordnungDrucksache 18/359b) – Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung eines Gremiums gemäß § 3 desBundesschuldenwesengesetzesDrucksache 18/360– Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäߧ 3 des BundesschuldenwesengesetzesDrucksache 18/361c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses fürdie vom Deutschen Bundestag zu berufendenRichter des Bundesverfassungsgerichts ge-mäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsge-richtsgesetzesDrucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365
d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für dieWahl der Richter der obersten Gerichtshöfedes Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgeset-zes
Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369Zunächst bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für Hin-weise, die für alle vier Wahlen gelten. Ich werde dieseHinweise nicht jedes Mal wiederholen. Deshalb bitte ichSie jetzt um Aufmerksamkeit.Sie benötigen Ihre Wahlausweise in den Farben Gelb,Weiß, Grün und Grau, die Sie, soweit noch nicht gesche-hen, bitte Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entneh-men. Ich gehe aber davon aus, dass Sie Ihre Wahlaus-weise inzwischen haben. Bitte achten Sie darauf, dassIhre Wahlausweise auch tatsächlich Ihren Namen tragen.Dieser Hinweis ist nicht überflüssig. Es geschieht leiderimmer wieder, dass mancher in das falsche Fach greift.Also bitte überprüfen Sie das. Der Nachweis für die Teil-nahme an den Wahlen kann nämlich nur durch Abgabedes Wahlausweises, der Ihren Namen trägt, erbrachtwerden. Den Wahlausweis übergeben Sie bitte einem derSchriftführer an den Wahlurnen, bevor Sie bei dem je-weiligen Wahlgang Ihre Stimmkarte in eine der Wahlur-nen werfen.Die Wahlen finden offen statt. Die Stimmkarten kön-nen also an Ihrem Platz angekreuzt werden. Die Wahlen
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628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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werden einzeln aufgerufen. Die gelbe Stimmkarte für dieerste Wahl, die Wahl zum Vertrauensgremium, ist bereitsverteilt worden. Die Stimmkarten für die drei folgendenWahlen werden später unmittelbar vor jeder Wahl imSaal ausgehändigt. Kreuzen Sie Ihre Stimmkarte bitteerst an, wenn ich die jeweilige Wahl eröffnet habe.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 a, zur Wahldes Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bun-deshaushaltsordnung. Bevor wir die Mitglieder wählen,rufe ich den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/358 zur Einsetzung des Gremiums undzur Festlegung der Anzahl der Mitglieder auf. Werstimmt für diesen interfraktionellen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der An-trag einstimmig angenommen worden. Damit ist dasVertrauensgremium eingesetzt und die Mitgliederzahlauf neun festgelegt.Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Vertrauensgre-miums kommen, gebe ich noch weitere Hinweise. Diesegelten auch für die im Anschluss folgende Wahl zumGremium nach dem Bundesschuldenwesengesetz. Ge-wählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitgliederdes Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindes-tens 316 Stimmen erhält. Auf den beiden Stimmkartensind die Namen der vorgeschlagenen Kandidaten aufge-führt. Sie können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“,„Nein“ oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie beieinem Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuzmachen oder andere Namen als die der vorgeschlagenenKandidaten oder Zusätze eintragen, ist diese Stimme un-gültig.Für die nun folgende Wahl brauchen Sie die gelbeStimmkarte und den gelben Wahlausweis, und Sie habenneun Stimmen.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze anden Urnen besetzt? – Liebe Kolleginnen und Kollegen,ich kann die Wahl nicht eröffnen, solange die Urnennoch nicht besetzt sind. – Ich frage jetzt noch einmal:Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall.Dann ist damit die Wahl eröffnet.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich damit den Wahlgang und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen.Bevor ich den nächsten Wahlgang aufrufe, liebe Kol-leginnen und Kollegen, möchte ich Ihnen das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über die Fortset-zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräftean der NATO-geführten Operation Active Endeavourmitteilen: Abgegeben wurden 602 Stimmen. Mit Ja ha-ben gestimmt 467, mit Nein haben gestimmt 129, und6 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten.
Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 602;davonja: 467nein: 129enthalten: 6JaCDU/CSUStephan AlbaniKatrin AlbsteigerPeter AltmaierArtur AuernhammerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleJulia BartzGünter BaumannMaik BeermannManfred Behrens
Veronika BellmannSybille BenningDr. Andre BergheggerDr. Christoph BergnerUte BertramPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexandra Dinges-DierigAlexander DobrindtMichael DonthThomas DörflingerMarie-Luise DöttHansjörg DurzJutta EckenbachHermann FärberUwe FeilerDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachThorsten FreiDr. Astrid FreudensteinDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartAlois GerigEberhard GiengerCemile GiousoufReinhard GrindelUrsula Groden-KranichHermann GröheKlaus-Dieter GröhlerMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundOliver GrundmannMonika GrüttersDr. Herlind GundelachFritz GüntzlerOlav GuttingChristian HaaseFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtMatthias HauerMark HauptmannDr. Stefan HeckDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank Heinrich
Mark HelfrichJörg HellmuthRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingPeter HintzeChristian HirteDr. Heribert HirteRobert HochbaumAlexander HoffmannKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampDr. Hendrik HoppenstedtMargaret HorbBettina HornhuesCharles M. HuberAnette HübingerHubert HüppeErich IrlstorferThomas JarzombekSylvia JörrißenDr. Franz Josef JungXaver Jung
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 629
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Andreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterSteffen KanitzAlois KarlAnja KarliczekBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterDr. Georg KippelsVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenMarkus KoobCarsten KörberHartmut KoschykKordula KovacMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Roy KühneGünter LachUwe LagoskyDr. Karl A. LamersAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeBarbara LanzingerSilke LaunertPaul LehriederDr. Katja LeikertDr. Philipp LengsfeldDr. Andreas LenzPhilipp Graf LerchenfeldDr. Ursula von der LeyenAntje LeziusIngbert LiebingMatthias LietzAndrea LindholzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsWilfried LorenzDr. Claudia Lücking-MichelDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigKarin MaagYvonne MagwasThomas MahlbergDr. Thomas de MaizièreGisela ManderlaMatern von MarschallHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Reiner MeierDr. Michael MeisterJan MetzlerMaria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtKarsten MöringMarlene MortlerElisabeth MotschmannDr. Gerd MüllerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp MurmannDr. Andreas NickMichaela NollHelmut NowakDr. Georg NüßleinWilfried OellersFlorian OßnerDr. Tim OstermannHenning OtteIngrid PahlmannSylvia PantelMartin PatzeltDr. Martin PätzoldUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferRonald PofallaEckhard PolsThomas RachelKerstin RadomskiAlexander RadwanAlois RainerDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenErwin RüddelAlbert RupprechtAnita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanAndreas ScheuerKarl SchiewerlingJana SchimkeNorbert SchindlerTankred SchipanskiHeiko SchmelzleChristian Schmidt
Gabriele Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderDr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-DrüggelteDr. Klaus-Peter SchulzeUwe Schummer
Christina SchwarzerDetlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerTino SorgeJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelDr. Wolfgang StefingerAlbert StegemannPeter SteinErika SteinbachSebastian SteinekeJohannes SteinigerChristian Freiherr von StettenDieter StierRita StockhofeGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerMatthäus StreblThomas StritzlThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Sabine Sütterlin-WaackDr. Peter TauberAntje TillmannAstrid Timmermann-FechterDr. Volker UllrichArnold VaatzOswin VeithThomas ViesehonMichael VietzVolkmar Vogel
Sven VolmeringChristel Voßbeck-KayserKees de VriesDr. Johann WadephulMarco WanderwitzNina WarkenAlbert WeilerMarcus Weinberg
Dr. Anja WeisgerberPeter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannMarian WendtKai WhittakerPeter WichtelAnnette Widmann-MauzHeinz Wiese
Klaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerOliver WittkeDagmar G. WöhrlBarbara WoltmannHeinrich ZertikEmmi ZeulnerDr. Matthias ZimmerGudrun ZollnerSPDNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeike BaehrensUlrike BahrHeinz-Joachim BarchmannDr. Katarina BarleyDr. Hans-Peter BartelsDr. Matthias BartkeSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerLothar Binding
Burkhard BlienertDr. Karl-Heinz BrunnerEdelgard BulmahnMartin BurkertDr. Lars CastellucciPetra CroneBernhard DaldrupDr. Karamba DiabySabine DittmarMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSiegmund EhrmannMichaela Engelmeier-HeiteDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerSaskia EskenKarin Evers-MeyerDr. Johannes FechnerDr. Fritz FelgentreuElke FernerChristian FlisekGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeUlrike GottschalckKerstin GrieseUli GrötschMichael GroßWolfgang GunkelBettina HagedornRita Hagl-KehlMetin HakverdiUlrich HampelSebastian HartmannMichael Hartmann
Dirk HeidenblutHubertus Heil
Gabriela HeinrichMarcus HeldWolfgang HellmichDr. Barbara HendricksHeidtrud HennGustav HerzogThomas HitschlerDr. Eva HöglMatthias IlgenChristina JantzFrank JungeThomas JurkOliver KaczmarekJohannes KahrsChristina KampmannGabriele Katzmarek
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630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Ulrich KelberMarina KermerCansel KiziltepeArno KlareLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela KolbeBirgit KömpelAnette KrammeDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerHiltrud LotzeKirsten LühmannDr. Birgit Malecha-NissenCaren MarksKatja MastKlaus MindrupSusanne MittagBettina MüllerMichelle MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanUlli NissenThomas OppermannMahmut Özdemir
Aydan ÖzoğuzMarkus PaschkeChristian PetryJeannine PflugradtDetlev PilgerSabine PoschmannJoachim PoßFlorian PostAchim Post
Dr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeDr. Simone RaatzMartin RabanusMechthild RawertStefan RebmannDr. Carola ReimannAndreas RimkusSönke RixDennis RohdeDr. Martin RosemannDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Susann RüthrichBernd RützelJohann SaathoffAnnette SawadeDr. Hans-JoachimSchabedothAxel Schäfer
Dr. Nina ScheerMarianne Schieder
Udo SchiefnerDr. Dorothee SchlegelUlla Schmidt
Matthias Schmidt
Carsten Schneider
Ursula SchulteStefan SchwartzeAndreas SchwarzRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingRainer SpieringNorbert SpinrathSvenja StadlerMartina Stamm-FibichSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackClaudia TausendMichael ThewsFranz ThönnesWolfgang TiefenseeCarsten TrägerUte VogtDirk VöpelGabi WeberBernd WestphalAndrea WickleinDirk WieseGülistan YükselDagmar ZieglerStefan ZierkeDr. Jens ZimmermannManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinSPDKlaus BarthelMarco BülowDr. Ute Finckh-KrämerPetra Hinz
Ralf KapschackGerold ReichenbachSwen Schulz
Rüdiger VeitWaltraud Wolff
DIE LINKEJan van AkenDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmChristine BuchholzEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. André HahnHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerAndrej HunkoSigrid HupachUlla JelpkeSusanna KarawanskijKerstin KassnerKatja KippingJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichDr. Gesine LötzschThomas LutzeCornelia MöhringNiema MovassatDr. Alexander S. NeuThomas NordPetra PauRichard PitterleMartina RennerMichael SchlechtDr. Petra SitteKersten SteinkeDr. Kirsten TackmannAzize TankFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerDr. Sahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerBirgit WöllertJörn WunderlichHubertus ZdebelPia ZimmermannSabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLuise AmtsbergKerstin AndreaeAnnalena BaerbockMarieluise Beck
Volker Beck
Dr. Franziska BrantnerAgnieszka BruggerEkin DeligözKatja DörnerKatharina DrögeHarald EbnerDr. Thomas GambkeMatthias GastelKai GehringKatrin Göring-EckardtAnja HajdukBritta HaßelmannDr. Anton HofreiterBärbel HöhnDieter JanecekUwe KekeritzKatja KeulSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerStephan Kühn
Christian Kühn
Renate KünastMarkus KurthMonika LazarSteffi LemkeDr. Tobias LindnerPeter MeiwaldIrene MihalicBeate Müller-GemmekeÖzcan MutluDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffCem ÖzdemirLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Corinna RüfferManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergUlle SchauwsDr. Frithjof SchmidtKordula Schulz-AscheDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleMarkus TresselJürgen TrittinDr. Julia VerlindenDoris WagnerDr. Valerie WilmsEnthaltenSPDWilli BraseDr. Daniela De RidderGabriele Hiller-OhmRené RöspelEwald SchurerFrank Schwabe
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 631
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
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Ich komme damit zum nächsten Tagesordnungspunkt,dem Tagesordnungspunkt 4 b: Einsetzung eines Gre-miums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes,also des Bundesfinanzierungsgremiums.Wir kommen auch hier zunächst zum gemeinsamenAntrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke undBündnis 90/Die Grünen auf Einsetzung dieses Gre-miums und Festlegung der Anzahl der Mitglieder,Drucksache 18/360. Wer stimmt für diesen interfraktio-nellen Antrag zur Einsetzung des Bundesfinanzierungs-gremiums? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen. Damitist das Gremium gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen-gesetzes eingesetzt und die Zahl der Mitglieder auf zehnfestgelegt.Für die Wahl der Mitglieder benötigen Sie nun dieweiße Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Dieweißen Stimmkarten werden jetzt im Sitzungssaal ver-teilt. Sie haben zehn Stimmen und können wiederum zujedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltemich“ ankreuzen. Für diese Stimmkarten gilt das Glei-che, was ich vorhin ausgeführt habe; deswegen verzichteich auf die Wiederholung. Ich bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-nehmen. – Das ist auch der Fall, soweit ich das sehe.Damit eröffne ich die zweite Wahl, Farbe Weiß, Bun-desfinanzierungsgremium.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde Ihnen fürden nächsten Wahlgang genau sagen, wo diejenigen ste-hen, die die Stimmzettel verteilen, damit das nicht nocheinmal so chaotisch wird wie jetzt.Ich warte jetzt so lange, bis alle einen Stimmzettel ha-ben, und bitte noch einmal diejenigen, die die Stimmzet-tel verteilen, ihren Arm hochzuheben, damit die Kolle-ginnen und Kollegen das wirklich sehen können. – Ichbitte Sie, die graue und die grüne Stimmkarte noch nichtauszufüllen. Bei der grauen Stimmkarte haben Sie zumBeispiel nur eine Stimme. Ich bitte Sie also noch um ei-nen Moment Geduld.Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das die weißeStimmkarte und den weißen Wahlausweis noch nicht ab-gegeben hat? Sie müssten sich dann sofort melden, daich ansonsten den Wahlgang schließe. – Ich schließehiermit den Wahlgang.Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 c.Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 18/362 bis18/365 Listen mit Wahlvorschlägen der einzelnenFraktionen vor.Für diese Wahl benötigen Sie die grüne Stimmkarteund Ihren grünen Wahlausweis.Die grünen Stimmkarten werden jetzt im Saal verteilt.Ich möchte Sie gleich darauf aufmerksam machen,dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag an-kreuzen dürfen. Demzufolge sind Stimmkarten ungültig,die mehr als ein Kreuz tragen oder Zusätze enthalten.Wer sich der Stimme enthalten will, macht bitte keinenEintrag.Jetzt ein Hinweis, wo Sie die Karten erhalten: Sie er-halten die Karten vorne rechts und links an den beidenSäulen, direkt vorne an den Wahlurnen und hinten beiden beiden Säulen. Das müsste jetzt klappen.Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihrePlätze bereits eingenommen. Ich eröffne den Wahlgang.Gibt es einen Kollegen, der noch keine Stimmkarteabgegeben hat? –Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich damit denWahlgang.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 d: Wahl derMitglieder des Richterwahlausschusses. Dazu liegen Ih-nen auf den Drucksache 18/366 bis 18/368 Listen mitWahlvorschlägen der einzelnen Fraktionen vor.Sie benötigen nun die graue Stimmkarte und Ihrengrauen Wahlausweis. Die grauen Stimmkarten werdenebenfalls im Saal verteilt.Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihrePlätze an den Urnen eingenommen. Ich eröffne denWahlgang.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-glied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht ab-gegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ichden Wahlgang.Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit haben wirdiese Übung absolviert. Ich bitte um Entschuldigung,aber wir werden uns im Präsidium für das nächste Malein anderes Verfahren überlegen müssen.
Ich hoffe, dass es jetzt trotzdem noch einigermaßen ge-klappt hat. Aber ich denke, dass wir die Übung in dieserForm nicht wiederholen sollten.Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später be-kannt gegeben.1)Wir fahren mit Tagesordnungspunkt 1 fort:Regierungserklärung durch die Bundeskanz-lerin
Wir kommen zum Themenbereich Verteidigung. Fürdie Aussprache sind 60 Minuten vereinbart worden.Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Ursulavon der Leyen. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Erlauben Sie mir, zunächst einmal auf der Tribüne Fall-schirmjäger des Bataillons 263 aus Zweibrücken ganzherzlich zu begrüßen. Ich freue mich, dass Sie heute die-ser Debatte beiwohnen können.1) Ergebnisse Seiten 659 C, D, 660 A
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632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Das Jahr 2014 ist ein wichtiges Jahr für die deutscheSicherheitspolitik, für Europa und die NordatlantischeAllianz, und zwar aus vielerlei Gründen. Ich möchte zueinigen Stellung nehmen.Zunächst einmal: In welchem Rahmen bewegen wiruns? Die NATO erreicht die Mitte der Dekade, die durchihr strategisches Konzept von Lissabon 2010 bestimmtist. Wir werden auf dem NATO-Gipfel im Septemberentscheiden, wie die zweite Hälfte unter sich verändern-den Bedingungen gestaltet werden soll; das wird einspannender Prozess werden. Zugleich haben wir erlebt,dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungs-chefs im Dezember 2013 zum ersten Mal seit Jahren dieStärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik – ich betone: Gemeinsamen – auf den Weggebracht hat. Sie hat sich ein sehr anspruchsvolles Pro-gramm für die Verbesserung der zivilen und militäri-schen Fähigkeiten der Europäer gegeben.Das alles spielt sich vor dem Hintergrund ab, dass inAfghanistan die Allianz und ihre Partner den größten,den längsten und den anspruchsvollsten Kampfeinsatz inder Geschichte der NATO beenden. Bei aller Pein, diedas mit sich gebracht hat, hat uns Afghanistan viel ge-lehrt. Der Kampfeinsatz war anfangs notwendig zurBekämpfung des Terrorismus. Aber gerade als Verteidi-gungsministerin kann ich nur immer wieder betonen,wie wichtig der vernetzte Ansatz ist, bei dem militäri-sche Sicherheit, entwicklungspolitische Hilfe, diplomati-sche Verhandlung und wirtschaftlicher Aufbau Hand inHand gehen.
Wir wollen, dass dieses Land für seine Sicherheit undStabilität bald selber sorgen kann. Dazu setzen wir be-reits jetzt alle Kraft für die Ausbildung einer afghani-schen Armee und Polizei ein. Wir haben den Flughafenin Masar-i-Scharif den Afghanen übergeben. Wir habenim vergangenen Sommer ein Generalkonsulat in Masar-i-Scharif eröffnet. Das ist ein starkes Zeichen dafür, wiewichtig uns Afghanistan ist. Aber wir müssen auch will-kommen sein. Die kommenden Monate sind entschei-dend, ob es gelingt, dass Karzai oder ein Nachfolger dasbilaterale Sicherheitsabkommen mit den USA unter-schreibt. Das ist Grundbedingung dafür, dass wir die füruns so wichtige Folgemission der Ausbildung und derUnterstützung auf den Weg bringen können. Heute Nachthat Obama in seiner State of the Union noch einmal be-kräftigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aufdiesem Sicherheitsabkommen zu Recht bestehen, aberdass sie dann bereit sind, diese Resolute Support Mis-sion zu unterstützen.Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünschthätte, dass in Afghanistan die Vorarbeit für diese Mis-sion früher begonnen hätte, dass die Folgemission alsojetzt schon gesichert wäre. Die Zeit drängt, und umsowichtiger ist es, dass wir in der verbleibenden Zeit allesdaransetzen, dass Schutz, Training und Ausbildung, alsoRSM, möglich werden.Afghanistan hat aber auch zum allerersten Mal ge-zeigt, wie sehr die Europäer in der NATO darauf ange-wiesen sind, sich untereinander abzustimmen. Im Nor-den tragen wir die Hauptverantwortung; wir sind dieRahmennation für 16 weitere Nationen. Im Ergebniszeigt sich ein geschlossener, kohärenter Einsatz, breitangelegt und durchhaltefähig. Wir haben im Einsatz ge-lernt: Keiner kann mehr alles allein vorhalten. Nur ge-meinsam können wir Verantwortung in Europa überneh-men.Hinzu kommt, dass die globale Finanzkrise, insbeson-dere die Euro-Krise, tiefe Spuren hinterlassen hat. Dieneue europäische Wirtschafts- und Währungsunionnimmt feste Formen an; aber alle hier im Raum wissen,dass unsere nationalen Budgets unter einem enormenKonsolidierungsdruck stehen. Das ist so. In der Folgewerden Verteidigungsbudgets gekürzt, ob es gefällt odernicht. Wir müssen aber vermeiden, dass unabgestimmtin vielen Mitgliedstaaten gekürzt wird, was zur Folgehaben kann, dass viele Lücken gerissen werden und wirden Verlust von gemeinsamen Fähigkeiten noch erhö-hen. Ich bin der Überzeugung, dass wir trotz der schwie-rigen Lage als Europäer intelligenter zusammenarbeitenkönnen, und das sollten wir auch tun.
Wir brauchen mehr Kooperation, wir brauchen mehrTransparenz, wir brauchen mehr Abstimmung, und dasheißt mehr Vertrauen. Das sind die Gebote der Stunde.Sie kennen die Schlagworte: Smart Defense und Poolingand Sharing. Wir müssen auch nach dem ISAF-Einsatzdas hohe Niveau der Zusammenarbeit, das, was wir imNorden gelernt haben – ich habe es eben geschildert –,unter anderem durch anspruchsvolle Übungsprogrammein den nächsten Jahren wahren. Da ist die ConnectedForces Initiative der NATO ein richtiger und wichtigerSchritt in die Zukunft. Dieses Signal sollten wir verstär-ken.Deutschland übernimmt Verantwortung im Bündnis.Das brauche ich hier eigentlich nicht zu wiederholen.Alle wissen, dass wir der zweitgrößte Beitragszahlersind und dass wir bei den beiden größten NATO-Missio-nen in Afghanistan und im Kosovo einer der zentralenTruppensteller sind. Nun werden wir zusehends mit ei-ner Vielzahl von Krisenherden in Afrika konfrontiert.Diese haben sehr schnell auch Auswirkungen aufEuropa. Keiner von uns hat die Bilder von Lampedusavergessen. Wir sind daher auch hier zum Handeln ver-pflichtet. Das beginnt mit der Bekämpfung der Piraterieam Horn von Afrika und geht bis hin zu Einsätzen inMali und Zentralafrika. Wir wollen den in 2013 begon-nenen Einsatz in Mali zusammen mit unseren europäi-schen, aber auch mit unseren afrikanischen Partnern zueinem Erfolg bringen. Wir überprüfen daher die Ergän-zung, aber auch die Aufstockung der Zahl unserer Solda-tinnen und Soldaten, die in Mali schon im Einsatz sind,und wir prüfen eine Unterstützung der kommenden EU-Mission in der Zentralafrikanischen Republik. Wir ha-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 633
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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ben diese EU-Mission als Europäer gemeinsam auf denWeg gebracht. Also müssen wir uns jetzt, wenn wir dieseMission ausplanen, auch entsprechend verhalten.Mir sind zwei Dinge wichtig. Erstens. Es bleibt beiunserem Grundsatz: Kein Kampfeinsatz in Zentralafrika.Aber wir haben Fähigkeiten – das geht unter den Begrif-fen Pooling and Sharing und Smart Defense ganz konsis-tent voran – zum Beispiel im Verwundetentransport,MedEvac, die andere so nicht haben. Wenn diese Fähig-keiten nötig sind, dann sollten wir sie auch stellen. Wirsollten diese Diskussion führen; denn ich finde: Wennman innerhalb des Bündnisses gemeinsam etwas auf denWeg bringt, dann muss man auch bereit sein, gemeinsamdie Verantwortung dafür zu übernehmen. Das heißt, eindifferenziertes Vorgehen ist uns wichtig, und dieses Vor-gehen muss selbstverständlich auf dem Boden einesMandats stattfinden.Der zweite Punkt, der mir wichtig ist. Dauerhafte Sta-bilität kann nur durch den Wiederaufbau staatlicherStrukturen erzeugt werden, siehe Afghanistan. Wir ha-ben gelernt, dass es auch eine Frage der Zeit ist, wannman mit Folgemissionen auftritt. Dabei geht es um ver-netzte Sicherheit. Deshalb: Der Wiederaufbau staatlicherStrukturen kann nicht und darf nicht nur die Aufgabe desMilitärs sein. Gerade als Verteidigungsministerin kannich immer wieder nur betonen, wie wichtig es ist, die mi-litärische Sicherheit, die entwicklungspolitische Hilfeund den Wiederaufbau Seit’ an Seit’ zu haben. Denn ichbin der festen Überzeugung: Streitkräfte und damit dieBundeswehr sind gelegentlich nötig, um die Lage zu klä-ren; gar keine Frage. Wir sehen mit Stolz und Dankbar-keit auch auf unsere Soldatinnen und Soldaten im Ein-satz, die das für uns immer wieder im Bündnis leisten.
Aber wir wissen eben auch: Wir sind Teil des Gesamt-instrumentariums der vernetzten Sicherheit, und wirkönnen und dürfen nicht das einzige Instrument sein. Ichbin deshalb der festen Überzeugung, dass es richtig ist,sich jetzt an eine Afrika-Strategie zu machen, diese ge-meinsam mit den Ressorts – dem Außenministerium,dem Entwicklungshilfeministerium – und den Fraktio-nen auf den Weg zu bringen. Ich habe mich über die ver-schiedenen Signale gefreut. Ja, Afrika ist unser Nachbar.In Afrika ist uns vieles nicht von vornherein selbstver-ständlich und nah. Aber wir als Europäer haben eineenge Verbindung zum Nachbarkontinent. Wir als Euro-päer wissen viel über Afrika. Wenn wir dieses Wissenund unsere Fähigkeiten bündeln, dann ist das der richtigeWeg zur Erreichung von Frieden und zum Aufbau demo-kratischer und stabiler Strukturen in Afrika.Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist einzentrales sicherheitspolitisches Instrument mit demMandat des Deutschen Bundestages. Lassen Sie michnoch den Blick nach innen werfen. Wir haben in der letz-ten Sitzungswoche eine ausgeprägte Diskussion über dieAttraktivität der Bundeswehr im Rahmen der Debatteüber den Bericht des Wehrbeauftragten geführt. Deshalbverwende ich heute weniger Zeit darauf. Ich fand es sehrschön, wie die Kanzlerin heute Morgen sagte: Wir ma-chen Politik für die Menschen. – Das wollen wir durch-deklinieren bis tief in die Bundeswehr und ihren Alltaghinein, liebe Freundinnen und Freunde.
Das zentrale Ziel der Neuausrichtung ist die dauer-hafte Einsatzfähigkeit. Ja, das stimmt. Aber Attraktivität,Modernität, Verankerung in der Gesellschaft sind auchzentrale Faktoren der dauerhaften Einsatzfähigkeit. Siesind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich. Ich binder festen Überzeugung: Eine familienfreundliche Bun-deswehr wird nicht schwächer, sie wird stärker.
Die Diskussion über das Wie wird noch lange andau-ern. Vieles ist gut; aber viel ist auch noch zu tun. Mir istwichtig: Das ist keine Frage, die „nur“ die Frauen in derBundeswehr angeht, sondern eine Frage, die vor allemauch den Soldaten betrifft, der Vater ist und für seinKind als Vater unverzichtbar ist. Das bedeutet, dass ergemeinsame Zeit mit seiner Familie braucht, und diewollen wir ermöglichen. Wir wollen nicht aasen mit sei-ner Zeit, sondern wir wollen durch Flexibilität diese Zeitermöglichen.Wir haben in der letzten Sitzungswoche eine breiteDiskussion über das Thema „Frauen in der Bundeswehr“geführt. Auch dazu sage ich: Mehr Frauen in der Bun-deswehr machen die Bundeswehr ganz sicher nichtschwächer, sondern sehr viel stärker.
Der Frauenanteil in der Bundeswehr liegt bei 10 Pro-zent; das wissen wir alle. Diese Frauen in der Truppesind selbstbewusste Frauen. Ich weiß aus der eigenenLebenserfahrung, dass nicht jeder damit umgehen kann,aber die allermeisten können das – und die wollen wirstärken. Deshalb müssen wir die Karrierepfade fürFrauen gangbarer machen. Wir müssen sie sichtbarermachen, und wir müssen sichtbarer machen, wie sehr dieBundeswehr von der wachsenden Zahl der Frauen in derTruppe profitiert.Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sichbewährt. Sie hat sich bewährt als eine Armee für denFrieden im multinationalen Raum und als eine Armeeder Demokratie. Wir wollen sicherstellen, dass das sobleibt.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht
Dr. Alexander Neu.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen undHerren! Die beste familienfreundliche Bundeswehr ist
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634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Dr. Alexander S. Neu
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eine Bundeswehr, die zu Hause bleibt, die das Territo-rium Deutschlands verteidigt, und keine Interventionsar-mee.
Ich habe mich heute auf das Thema Verteidigung ein-gestellt. Ich habe aber zum Thema Verteidigung nichtsehr viel gehört, Frau von der Leyen.
Was ich gehört habe, ist „Afrika“, was ich gehört habe,ist „Menschenrechte“ etc., aber von Verteidigung nichts.Ich möchte gern einmal charakterisieren, was Verteidi-gung ist.Die Verteidigung ist laut Grundgesetz eine Territorial-verteidigung. Ich kann das gern auch zitieren; Art. 87 aAbs. 1 in Verbindung mit Art. 115 a Abs. 1. Dort heißtes:Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffen-gewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriffunmittelbar droht , trifft derBundestag mit Zustimmung des Bundesrates.Ein zentraler Begriff ist „Bundesgebiet“; das heißt,ein räumlich bestimmter Verteidigungsbegriff. Ein wei-terer zentraler Begriff ist „Waffengewalt“; das heißt diekonkrete Anwendung von Waffengewalt gegen Deutsch-land, keine Spekulation und vor allem keine abstraktenBedrohungsgefühle. Das Dritte ist der Präemptionsfall– ein Angriff droht unmittelbar –; das heißt Akzeptanzdes Präemptionsfalls, was wiederum heißt: zeitlicheUnmittelbarkeit, Angriff im Kommen. Mit anderen Wor-ten: Das eigene Staatsgebiet ist gegenwärtig Ziel einesAngriffs. Ein Beispiel: Die funkelektronische und satel-litengestützte Aufklärung macht klar, dass auf Deutsch-land Waffensysteme gerichtet sind und agieren. Die Völ-kerrechtsliteratur, sehr geehrte Damen und Herren,kommt mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass der Präemp-tionsschlag legitim ist.Die Grundgesetzformulierung ist sehr gut, und dieLinke teilt genau diese, nämlich den verteidigungspoliti-schen Begriff als einen territorial gebundenen Begriff.
Allerdings erleben wir von den Bundesregierungenwechselnder Couleur und von unseren NATO-Verbünde-ten seit Anfang der 90er-Jahre, dass sie sich regelmäßigin Völkerrechtsbrüchen üben. Nicht nur Präemption,sondern auch Prävention, sogenannte offensive Selbst-verteidigung, soll legalisiert werden.
– Ja! – So heißt es zum Beispiel im Entwurf des Weiß-buchs aus dem Jahr 2006 – nächstes Zitat –:Die gewandelten Sicherheitsherausforderungen er-fordern ein neues, gemeinsames Verständnis desSystems der Charta der Vereinten Nationen … dasRecht auf Selbstverteidigung [muss] präzisiert undpräventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesi-cherten Grundlagen geregelt werden.Also, Prävention wird eingefordert.Stichworte wie „Proliferation von Massenvernich-tungswaffen“, „internationaler Terrorismus“, „Problem-staaten“ – schon der Begriff „Problemstaaten“ irritiertmich sehr –, „Cyberwar“ etc. suggerieren nichts anderesals asymmetrische Risiken, die eine, wie es so schönheißt, Neuinterpretation des Völkerrechts oder eine Wei-terentwicklung des Völkerrechts erforderlich machen.Nun ist es aber so, dass eine Weiterentwicklung odereine Neuinterpretation des Völkerrechts einige Hakenhat:Erstens. Die Staaten des globalen Südens finden dasüberhaupt nicht toll. Dort wird keine Bereitschaft zu er-kennen sein, Präventivkriege als Selbstverteidigungs-kriege in irgendeiner Weise völkerrechtlich oder ver-tragsrechtlich gewohnheitsmäßig zu etablieren.Zweitens. Eine völkerrechtliche Etablierung von Prä-ventivkriegen als Selbstverteidigungsfall ist nichts ande-res als ein Ermächtigungsgesetz, und ich glaube, daswollen wir nun wirklich nicht haben.
– Nein, ich hatte einen sehr guten Lehrer – im Gegensatzzu Ihnen; aber darüber können wir gerne streiten. – Dasheißt, mit der Etablierung des Selbstverteidigungs-krieges als Präventivkrieg schaden Sie nachhaltig demFriedensvölkerrecht. Sie erledigen es quasi.
Lieber Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, dass
wir den Begriff „Ermächtigungsgesetz“, der einen klaren
Bezug und eine klare Bedeutung aus der Zeit des Natio-
nalsozialismus hat, in der Debatte heute nicht verwenden
sollten und auch solche Vergleiche nicht anstellen soll-
ten.
Ich werde diese Belehrung für den heutigen Tag ak-zeptieren, Frau Präsidentin.
Ich hoffe, dass die Sekunden, die mir dadurch geradeverloren gegangen sind, wieder gutgeschrieben werden.
Ich darf fortsetzen. – Bei einem entterritorialisiertenVerteidigungsbegriff, der Aspekte – –
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 635
Dr. Alexander S. Neu
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– Ich bitte um Ruhe; ich lasse Sie auch ausreden.
– Sie reden so viel Unsinn jeden Tag. Das fällt gar nichtmehr weiter auf.Wir sind bei dem entterritorialisierten Verteidigungs-begriff, in dessen Rahmen Werte- und Interessenvertei-digung – die Kanzlerin hat heute selber die Begriffe „In-teressenverteidigung“ und „Werteverteidigung“ in denMund genommen – akzentuiert werden. Wenn dieses aufdem Territorium von Drittstaaten gegen deren Willenpraktiziert wird, handelt es sich um eine blanke Aggres-sion und nicht um eine Selbstverteidigung.
– Hören Sie zu, dann lernen Sie noch etwas. – Der Ver-teidigungsbegriff, der seiner spezifischen zeitlichen undräumlichen – –
– Können Sie das bitte unterbinden? Das ist unerträglich.
Herr Kollege, es gehört erstens zu den parlamentari-
schen Gepflogenheiten, dass auch Zwischenrufe erlaubt
sind.
Zweitens, Herr Kollege, greife ich dann ein, wenn ich
es für angemessen halte.
Da habe ich wieder etwas gelernt. – Wenn Frau
Ministerin von der Leyen damit argumentiert, Deutsch-
land müsse seiner gewachsenen Verantwortung mehr ge-
recht werden, kann ich dazu nur sagen: Sie hat recht, es
muss nur nicht militärisch sein.
Es gibt eine Menge Möglichkeiten, wie man es auch
zivil handhaben kann. Jährlich verhungern weltweit
zwischen 20 und 40 Millionen Menschen. Kommen Sie
Ihrer Verantwortung nach und tragen Sie zu einer fairen
Weltwirtschaft bei,
statt mit Krieg und militärischer Drohpräsenz deutsche
Exportchancen zu erkämpfen!
Westerwelles Kultur der militärischen Zurückhaltung,
sehr geehrte Damen und Herren, war richtig. Die Linke
teilt genau diesen Ansatz.
– Ja, wer hätte gedacht, dass die Linke einmal einem Au-
ßenminister Westerwelle nachtrauern würde. Das ist nun
leider der Fall.
Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleu-
ropas und damit Deutschlands mit konventionellen
militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr. Das
wird … auf absehbare Zeit auch so bleiben.
So der Generalinspekteur Wieker in seinem Bericht zum
Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010.
Frau Ministerin von der Leyen, ziehen Sie aus dieser
Feststellung von Wieker und meinen Ausführungen ent-
sprechende Konsequenzen, nämlich a) die massive
personelle Reduktion der Bundeswehr und b) die Re-
strukturierung der Bundeswehr zu einer reinen Verteidi-
gungsarmee.
Herr Neu, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Natürlich.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Neu, ich habe nur eine ganz kurze Frage. Ich binauch neu hier, aber nicht mit Namen. Soll das jetzt wirk-lich so weitergehen, diese Unart, diese Ungezogenheit?Sie sagen, Frau Bellmann würde nur Unsinn reden,
und anderen werfen Sie es auch vor.
Das ist, glaube ich, in so einem Haus doch nicht notwen-dig. Das ist auch nicht gut für den Namen unseres Hau-ses, weil sich der eine oder andere das auch untermenschlichen Gesichtspunkten anschaut. Ich würdeschon bitten, auch als neuer Kollege da vielleicht dochein bisschen Ehre an den Tag zu legen und so etwas ein-fach zu unterlassen.Meine Frage wäre jetzt: Wollen Sie das so weiterfüh-ren, oder wollen Sie sich da vielleicht etwas zurückneh-men?Danke schön.
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636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
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Das war eine verkappte Frage. Das war ein Verhal-
tenshinweis. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich
werde gleich zum Ende kommen.
Herr Kollege Weiler, Sie müssten während der Ant-
wort stehen bleiben. Das ist aber entschuldigt bei einem
neuen Abgeordneten, keine Frage.
Sie, Herr Weiler, sind halt neu im Hause, ich auch. –
Ja, die Antwort habe ich gegeben. Es war keine wirkli-
che Frage, sondern eine verkappte Frage.
Ich würde gerne fortfahren und werde versuchen,
mich zu disziplinieren.
– Ich kann fortfahren? – Wenn nun die Bundesregierung
der Auffassung ist, dass sie etwas verteidigen und schüt-
zen möchte, dann soll sie es tun. Sie möge endlich ihrer
originären staatlichen Aufgabe nachkommen, nämlich
die Menschen in diesem Lande vor Cyberwar zu schüt-
zen. Cyberspionage, Cybersabotage ist Cyberwar.
80 Millionen Menschen in diesem Land sind potenzielle
und reale Opfer von Cyberangriffen auf deutschem
Territorium. Es gibt also massive und permanente An-
griffe auf die Souveränität unseres Landes und auf die
Bürgerrechte durch einen Drittstaat bzw. sogar durch
mehrere Drittstaaten.
Frau Bundeskanzlerin – sie ist zwar jetzt nicht mehr
hier, aber dennoch richte ich diese Worte an sie –, Sie ha-
ben einen Eid auf das Grundgesetz abgelegt. Sie sind
dem Grundgesetz und den Menschen dieses Landes ge-
genüber verpflichtet, nicht gegenüber Washington. Tun
Sie etwas! Kommen Sie Ihrer Pflicht nach, zum Wohle
dieses Landes und seiner Menschen! Handeln Sie end-
lich!
Danke.
Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Arnold
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollte ich mich mit den Linken nicht aus-
einandersetzen. Aber Ihre Ausführungen waren so
schlimm, dass ich richtig Sehnsucht nach Ihrem Vorgän-
ger Paul Schäfer habe.
Mit dem konnte man streiten, was man mit Ihnen nicht
mehr tun kann, Herr Kollege Neu.
Sie haben mich vorhin auf unseren Disput im Vertei-
digungsausschuss angesprochen. Sie haben dort die
abstrakte terroristische Bedrohung mit Marsmännchen
verglichen. Herr Kollege, Ihre Rede war außerirdisch.
Insofern trifft Ihr Vergleich zu.
Herr Kollege, wer negiert, dass die Vereinten Natio-
nen deutsche Einsätze mandatieren,
wer negiert, dass das Bundesverfassungsgericht Verfas-
sungsrecht gesprochen hat, und wer Thesen wie „völker-
rechtswidrig“ oder gar „Ermächtigungsgesetz“ in den
Raum stellt,
der kann nicht mehr ernst genommen werden; es tut mir
leid. Darüber können wir nicht streiten, weil es einfach
nicht stimmt.
Die Ministerin hat heute nach ihrem Impuls in der
letzten Woche zur besseren Vereinbarkeit von Familie
und Beruf längere Linien gezogen. Wir begrüßen dies
außerordentlich. Wir sind nämlich der Auffassung, dass
die Große Koalition eine Chance sein kann, hier eine
entsprechende Debatte anzustoßen, die in Deutschland
heikel und angesichts der deutschen Geschichte sowie
der vorhandenen Distanz vieler Menschen in Deutsch-
land zu militärischen Themen vielleicht eine sensible
Angelegenheit ist. Gründe für die vorhandene Distanz
– ich sage ausdrücklich, dass mir diese Distanz lieber ist,
als wenn es andersherum wäre – sind ein Stück weit
durch Debatten zu klären.
Es ist ein vernünftiger Aufschlag, in Deutschland in
den nächsten vier Jahren in der Großen Koalition Klar-
heit darüber zu schaffen, welche Verantwortung und
welche Rolle Deutschland in der internationalen Politik
spielen soll. Mein Eindruck ist: Die deutschen Bürgerin-
nen und Bürger sind längst bereit, über die strategische
Ausrichtung, über die Grundlagen der Sicherheitspolitik
und über die Legitimation von Einsätzen der Streitkräfte
vernünftig zu reflektieren.
Herr Kollege, ich habe so lange gewartet, bis Sie eine
kleine Pause machen. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zulassen.
Gerne.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 637
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Danke schön, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege
Arnold, Sie sagten, die UN mandatiere die deutschen
Einsätze. Meine Frage ist: Wer hat denn die Patriot-Sta-
tionierung mandatiert? Wer hat Operation Enduring
Freedom mandatiert? Wer hat Operation Active Endea-
vour mandatiert? Hier finden doch Selbstmandatierun-
gen eines Militärbündnisses statt. Hier findet Selbster-
mächtigung in Bezug darauf statt, wann eine Gefahr
besteht. Hier wird im Grunde neues Recht geschaffen.
Vielleicht sind Sie ja vergesslich. Deswegen möchteich Sie daran erinnern: Die Vereinten Nationen habennach den Anschlägen von 9/11 die Staatengemeinschaftaufgefordert, alles, was möglich ist, zu tun, um gegendiese Bedrohung vorzugehen. Die Bedrohung kam indiesem Fall aus Afghanistan.Ihr Kollege hat vorhin davon gesprochen, dass es zer-fallende Staaten gibt, was er offensichtlich nicht soschlimm findet. Als ob uns dies nichts anginge! In zer-fallenden Staaten schlachten sich Ethnien oder Angehö-rige verschiedener Religionsgemeinschaften gegenseitigab. Mit Verlaub: Dies müsste Politiker der Linken dochaus ethischen Gründen etwas angehen. ZerfallendeStaaten, die Rückzugsräume für Terroristen bieten, aufderen Agenda steht, gegen unser Leben und gegenunsere Länder vorzugehen, müssen uns alle miteinanderetwas angehen.
Zu Ihrem letzten Beispiel, Einsatz in der Türkei, willich sagen: Es ist Alltag im Bündnis, dass man Landes-verteidigung bündnisweit sieht. Wir verteidigen unserLand nicht mehr, indem wir warten, bis die Risiken beiuns angekommen sind, sondern wir verteidigen dasBündnis insgesamt. Dies ist durch das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts ganz eindeutig geklärt.Was wir in der Türkei machen, ist NATO-Routine.
Wir haben mit AWACS einen ständigen Aufklärungs-verband der NATO in der Türkei. Eigentlich ist es keingroßer Aufreger, wenn defensive Systeme bereitgehaltenwerden. Wir mandatieren diesen Einsatz deshalb, weilan der Grenze zwischen der Türkei und Syrien einbewaffneter Konflikt stattfindet, bei dem die Gefahr be-steht, dass türkische Bürgerinnen und Bürger in ihrerGesundheit geschädigt werden und dass sie vielleicht so-gar – das ist bereits geschehen – ums Leben kommen.Deshalb gibt es ein Mandat. Aber es ist alles völker-rechtlich in Ordnung.Hören Sie deshalb auf, den Unsinn zu verbreiten, wirwürden völkerrechtswidrige Einsätze beschließen!
Wir als Abgeordnete würden uns strafbar machen, wennwir dies täten. Jeder deutsche Soldat – auf der Zuschau-ertribüne sitzen einige Soldaten – dürfte nicht nur,sondern er müsste den Befehl verweigern, wenn er sichin einem völkerrechtswidrigen Einsatz befinden würde.Hören Sie mit diesem Quatsch einfach auf!
Ich war bei dem Thema: Wie können wir die gesell-schaftliche Debatte in Deutschland voranbringen? Ichbin mir darüber klar, dass das auch Sache des Parlamentsist. Ich bin froh über Beiträge aus der Gesellschaft. Ichstimme zwar nicht überein mit dem, was die EKD veröf-fentlicht hat; aber es ist ein guter Auftakt, um mit denKirchen über die deutsche Verantwortung und Rolle inder Welt zu sprechen. Wir nehmen dieses Angebot sehrgerne an. Die Lehre aus Afghanistan hat die Ministerinauch beschrieben, nämlich dass es nur ressortübergrei-fende Ansätze gibt.Noch einmal an die Linken: Niemand behauptet, dassdie Probleme der Welt militärisch zu lösen sind. Wir allewissen längst, dass das Militär zunächst einmal dasSchlimmste verhindern kann, ein Zeitfenster für zivileLeistungen offenhalten kann. Wir wissen schon lange,dass ziviler Aufbau, diplomatische Bemühungen undmilitärische Interventionen dort, wo sie notwendig sind,zusammen gedacht, zusammen geplant und zusammenorganisiert werden müssen. Deshalb ist es natürlich rich-tig, wenn wir diesen vernetzten Ansatz in dieser GroßenKoalition noch deutlicher zum Tragen bringen. Ich wün-sche mir, dass wir, statt Verteidigungspolitische Richtli-nien zu veröffentlichen, wieder zu einer alten Traditionin der Bundesregierung zurückkommen, nämlich zwi-schen den Ressorts abgestimmte sicherheitspolitischeRichtlinien zu formulieren.Der Außenminister hat uns heute gesagt: Die Heraus-forderungen ändern sich schneller. Zur Zeit des KaltenKrieges war die Situation viele Jahre statisch. In denletzten vier Jahren sind die Krisen näher an Europa he-rangekommen – das merken wir bei unseren heutigenDebatten –, gerade auf dem afrikanischen Kontinent.Das ist überhaupt keine Frage. Es ist gut und richtig,wenn eine vernetzte Strategie entwickelt wird und mitden Europäern darüber geredet wird, dass es nicht effek-tiv sein kann, wenn jedes Land in vielen afrikanischenLändern kleine Beiträge leistet. Nein, wir müssen unsfragen: Wer kann was und wo am besten? Da kommt denfranzösischen Partnern in den französischsprachigenLändern natürlich eine besondere Verantwortung zu. Esist klug und richtig, wenn die Deutschen Schwerpunktebilden, weil es logistisch viel einfacher ist.Die ganze Debatte zeigt allerdings auch: Wir müssenüber die Bundeswehrreform noch intensiver reden, FrauMinisterin; denn diese Reform hat diese Szenarien nichtausreichend im Blick. Sie ist eine Reform mit Fokus aufdie Lehren aus Afghanistan und dem Kosovo.Wir sehen im Augenblick auf jeden Fall Folgendes:Wir stellen uns eher auf viele kleinere, parallel laufende
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638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Rainer Arnold
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Einsätze ein. Dazu gibt die Reform im Bereich der Lo-gistik, der Aufklärung und der Unterstützung des Trans-ports nicht die ausreichenden Antworten. Ich bin derAuffassung: Die Umsetzung, die Implementierung derReform ist Sache der Exekutive; das ist ganz klar. Aber:Das deutsche Parlament entscheidet über die Einsätze.
Das setzt voraus, dass alle Abgeordneten Verständnis fürdie Grenzen der Möglichkeiten haben, die die Bundes-wehr anbietet, für das, was die Bundeswehr leisten kann.Wir alle sollten ein Grundverständnis von der Funktio-nalität der Truppe haben. Jeder Abgeordnete, der überEinsätze entscheidet, hat zusammen mit der Regierungeine Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler und derÖffentlichkeit. Deshalb ist es wichtig, über die Reformin den nächsten Wochen intensiv zu diskutieren.
Herr Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Movassat?
Gerne.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Arnold, Sie
haben vorhin gesagt, Deutschland sei nicht an völker-
rechtswidrigen Einsätzen beteiligt gewesen. Ich nenne
Ihnen einen ganz konkreten Fall, der im Juni 2005 vor
dem Bundesverwaltungsgericht entschieden worden ist.
Hierbei ging es um den Irak-Einsatz, an dem Deutsch-
land zwar nicht direkt militärisch beteiligt war, bei dem
es aber Überflugrechte gewährt hat, AWACS zur Verfü-
gung gestellt hat. Es ging um die Gehorsamsverweige-
rung eines Soldaten. Er sollte an der Erarbeitung eines
Computerprogramms mitwirken und hatte die Befürch-
tung, dass dieses Programm im Zusammenhang mit dem
Irak-Einsatz verwendet wird. Das Bundesverwaltungs-
gericht stellte fest, dass der Irak-Krieg völkerrechtswid-
rig ist und dass durch einen solchen Einsatz des Soldaten
Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Einsatz geleistet
wird. Mithin hat sich Deutschland durchaus schon ein-
mal an völkerrechtswidrigen Einsätzen beteiligt. Oder
bestreiten Sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerich-
tes?
Ich habe das Urteil noch in Erinnerung, Herr Kollege.
Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht gesagt, dass
dieser Einsatz völkerrechtswidrig ist. Es konnte diese
Frage nicht wirklich klären.
Es hat aber das Recht des Soldaten gestärkt.
Herr Kollege, für mich ist aber etwas anderes ent-
scheidend: Ich bin stolz darauf, wie die Sozialdemokra-
tie und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in
dieser Situation zurechtgekommen sind, wie sie dem
Druck von vielen Partnern standgehalten haben, sich an
diesem Krieg zu beteiligen. Das war eine Sternstunde
dieser Regierung und des Parlamentes, und das lassen
wir uns ganz eindeutig von niemandem schlechtreden.
Ich möchte zur Reform zurückkommen. Bisher war es
der Ansatz der Politik, möglichst viele Optionen anzu-
bieten. Ich glaube, dieser Ansatz wird in Zukunft nicht
tragen. Wir müssen verstärkt die Frage stellen: Welche
Fähigkeiten passen am besten zum politischen Auftrag,
den wir der Bundeswehr in Zukunft geben werden?
Dazu müssen wir diesen Auftrag sorgfältig diskutieren
und formulieren. Das heißt, wir müssen die Bundes-
wehrreform nicht primär am aktuellen Einsatz orientie-
ren, sondern eher am zukünftigen Auftrag. Die Ziele
bleiben die gleichen: Durchhaltefähigkeit, Flexibilität,
Mobilität. Aber der Wehrbeauftragte sagt uns zu Recht:
Diese Ziele werden durch die Reform zumindest in vie-
len Bereichen eher nicht erreicht. Er hat Anlass zur
Sorge, dass – –
Herr Kollege Arnold, es wird noch einmal um eine
Zwischenfrage gebeten.
Immer gerne.
Frau Kollegin Vogler.
Danke, Frau Präsidentin, und danke, Herr KollegeArnold, dass Sie erneut eine Zwischenbemerkung zulas-sen.Herr Kollege, ich kann das, was Sie gerade gesagthaben, nicht so stehen lassen. Ich finde, was Sie hier be-treiben, ist schon in einem gewissen Maße Selbstbe-weihräucherung. Würden Sie mir zugestehen, dass Bun-deskanzler Schröder und die Bundesregierung nicht nurdem Druck seitens der Verbündeten ausgesetzt waren,die Bundeswehr in den Irak-Krieg zu schicken, sondernandererseits auch einem erheblichen Druck aus der Be-völkerung ausgesetzt waren, dies zu unterlassen?Ich habe selber die große Demonstration hier in Ber-lin mit veranstaltet, an der eine halbe Million Menschenteilgenommen haben. An diesem Tag waren mindestens13 Millionen Menschen auf der ganzen Welt unterwegsund haben in den Hauptstädten gegen den Irak-Krieg de-monstriert. Da gab es eine riesige Bewegung, es war eineweltweite Stimmung. Viele waren gemeinsam unter-wegs:
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Kathrin Vogler
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Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Friedenskämpfer,Leute aus Kirchen und Gewerkschaften.
Ganz viele Menschen waren da unterwegs und haben ihrAnliegen auf die Straße getragen. Würden Sie mir zu-stimmen, dass das dazu beigetragen hat, dem Druckstandhalten zu können, von dem Sie berichtet haben?
Unsere Partei ist jetzt 150 Jahre alt, und wir brauchenkeine Belehrungen.
Wir schauen seit 150 Jahren in den Rückspiegel, auf dieBevölkerung. Wir sind aber auch, wenn es notwendig ist,150 Jahre lang standhaft und setzen Dinge gegen denMainstream durch; wir diskutieren darüber, und dannwird der Wähler entscheiden. Sie sind für uns also keinRatgeber. Wir wissen selbst, was wir tun.Ich glaube, Sie müssen eines einfach mal reflektieren:Sollen in Deutschland irgendwann in Zukunft anderepolitische Mehrheiten zum Tragen kommen,
muss eine Grundvoraussetzung erfüllt werden: Die Lin-ken müssen im Bereich der Außen- und Sicherheitspoli-tik ihr Godesberg machen.
Anders wird es überhaupt nicht gehen. Sie entfernen sichaber immer weiter.Kurt Schumacher hat in den 50er-Jahren gesagt:Nichts ist lehrreicher als die Wirklichkeit. – Das ist einesmeiner Lieblingszitate. Aber, Kolleginnen und Kollegenvon den Linken, Sie nähern sich dieser Wirklichkeit mitden heutigen Reden nicht an, sondern entfernen sich im-mer weiter von der Betrachtung der realen Welt mit ih-ren Risiken und Gefahren und den Sorgen der Men-schen. Sie müssen da mal mit sich ins Gericht gehen.Ich würde gern noch ein wenig über die Reform re-den; es ist ein bisschen schwierig, wenn man immer un-terbrochen wird. Der Wehrbeauftragte hat gesagt, dassder Gang der Reform nicht Anlass zu der Hoffnung gibt,dass all das, was vorgesehen ist, gelingt. Um es nocheinmal klar zu sagen: Im Koalitionsvertrag steht, dassvieles an dieser Reform richtig ist und es im Grundsatzdabei bleiben soll. Aber die Ministerin selbst hat einenPunkt angesprochen: Diese Reform wurde de facto ohneAbstimmung mit unseren EU- und NATO-Partnern be-schlossen. Dies muss man heilen, wenn man die Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa vo-ranbringen will. Wenn man sie voranbringen will,brauchen wir neben der Debatte in Deutschland über un-sere Verantwortung auch eine strategische Klärung zwi-schen Deutschland und Frankreich: Wie betrachten diesebeiden Länder die Welt, und was sind sie bereit zu tun?Ich meine, mit dieser Koalition, auch durch die Arbeitdes Außenministers, stehen die Chancen gut, dass wir inall diesen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wie-der enger mit unseren französischen Freunden zusam-menkommen. Dies ist die Grundvoraussetzung für einevertiefte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik inEuropa. Wenn Deutschland und Frankreich hier nicht imKonsens vorangehen, dann wird es in diesem Bereichnicht vorangehen.
Deshalb meine herzliche Bitte, Frau Ministerin: Las-sen Sie die Bundeswehrreform im Sinne von Fehlerkul-tur auf den Prüfstand stellen. Haben Sie die Kraft, neueErkenntnisse – wenn es sein muss, auch bei der Frage,welcher Standort der geeignetste ist – in Ihre Überlegun-gen mit einzubeziehen, um neue Berechnungen anzustel-len, und korrigieren Sie die Fehler. Ich glaube, die Sol-daten warten darauf, weil sie bisher eher den Eindruckhatten: Dort, wo die Reform nicht gut funktioniert, wirdvon ihnen erwartet, dass sie trotzdem mit den Problemenumgehen.Man kann dies so machen, aber klar ist dann auch:Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht zu ge-währleisten. In den Schlüsselfunktionen gibt es zu wenigPersonal für die Bewältigung der zukünftigen Aufgaben.Wenn man für die bessere Vereinbarkeit von Familie undBeruf sorgen will, dann muss man im Rahmen der Re-form an den entsprechenden Stellen ansetzen und denPersonalkörper möglicherweise neu justieren.Ich plädiere auch für Ehrlichkeit gegenüber den Sol-daten in dieser Debatte. Ja, die Reform ist in ihren Eck-punkten und im Umfang grundsätzlich richtig. Ich nenneals Beispiel die Abschaffung der Wehrpflicht. Sie istzwar falsch und schlecht gemacht worden; im Grundsatzwar die Wehrpflicht aber nicht mehr haltbar.Es geht nicht um die größte Reform aller Zeiten, wiedas manchmal kommuniziert wurde. Dass diejenigen,die die Reform kritisiert haben, sie einfach nicht verstan-den haben, das war keine gute Botschaft der Führung.Vielmehr geht es doch darum, das Verständnis dafür zuwecken, dass keine Reform in Stein gemeißelt sein wird.Der alte Generalinspekteur Schneiderhan war eigent-lich auf dem richtigen Pfad, als er gesagt hat: Wir befin-den uns in einer Transformation der Streitkräfte undnicht in einer Reform. – Die Welt ändert sich, jedes Un-ternehmen ändert sich im Laufe der Zeit. Dann mussman nachsteuern und neue Erkenntnisse umsetzen. Ge-nauso wird es bei der Bundeswehr sein, sonst werdenwir in drei bis vier Jahren in wichtigen Schlüsselberei-chen feststellen, dass das Konzept nicht mehr funktio-niert. Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Hub-schrauber, wo wir viel zu wenig Personal haben undauch zu wenig Nachwuchs ausbilden. Das gilt auch fürviele andere Bereiche.Wir müssen jetzt umsteuern, sonst können wir unsschon heute ausrechnen, welche Probleme in ein paarJahren auf uns zukommen werden; denn Fachärzte, Hub-schrauberpiloten und technisches Personal werden nicht
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640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Rainer Arnold
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über Nacht gebacken. Deswegen muss jetzt schnell eineentsprechende Regelung her.Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Die GroßeKoalition ist in diesem Sinn für die Bundeswehr aucheine Chance; denn das, was im Koalitionsvertrag steht,ist gut für die Bundeswehr. Von wichtigen Vertretern derStreitkräfte ist mir heute Mittag berichtet worden, dassdie Soldaten zum ersten Mal mit großem Interesse einenKoalitionsvertrag gelesen haben und dass unsere Vorha-ben Zustimmung bei der Truppe finden.Damit hängt natürlich auch zusammen, was der Bun-deswehrVerband und auch der Wehrbeauftragte festge-stellt haben: Das Problem im Augenblick ist, dass dieSoldaten ein Stück weit das Vertrauen in die Führungverloren haben. Damit ist auch ein Stück weit Vertrauenin die Politik verloren gegangen. Der Soldat unterschei-det nicht so sehr zwischen Regierung und Parlament. Beisolchen Diskussionen sind wir alle angesprochen, unddeshalb müssen wir uns alle kümmern, und wir mischenuns auch ein, ob Regierung, ob Opposition. Dieses Ver-trauen wiederherzustellen, ist der Schlüssel für dasFunktionieren der Streitkräfte.Frau Ministerin, Sie sind mit großem Vertrauensvor-schuss gestartet; das ist gut. Es ist schön, wenn man mitOptimismus an die Dinge herangeht, aber damit hängtnatürlich auch eine unglaubliche Verantwortung zusam-men. Wir alle miteinander, Regierung und Parlament,dürfen in dieser Situation die Erwartungen der Soldatenin den nächsten zwei Jahren nicht enttäuschen, sondernwir müssen und werden den Koalitionsvertrag erfolg-reich umsetzen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!„Deutschlands Zukunft gestalten“ – diesen Titel und die-sen Anspruch haben Union und SPD ihrem Koalitions-vertrag gegeben. Im außen- und sicherheitspolitischenTeil reihen sie dabei häufig Allgemeinplätze aneinander,aber eine klare Richtung ist nicht wirklich erkennbar.Die Diskussion darüber hat Kollege Arnold gerade ein-gefordert, und das begrüßen wir als Grüne sehr.
Aus Oppositionssicht muss man Ihnen wirklich zuge-stehen, dass nicht alles schlecht ist, worauf Sie sich eini-gen konnten. Sie haben zum Beispiel endlich erkannt,dass es bei der Bundeswehrreform Nachbesserungen ge-ben muss.Zwar sind Herr Außenminister Steinmeier und Sie,Frau Ministerin von der Leyen, noch nicht sehr lange inIhren Ämtern, dafür waren Sie medial aber umso präsen-ter. Leider erfahren wir dadurch noch nicht wirklich et-was über die neuen Linien und Ziele der schwarz-rotenAußen- und Sicherheitspolitik. Im Gegenteil: Sie ver-heddern sich in Widersprüchen. Wo es im Ganzen hinge-hen soll, bleibt weiterhin völlig offen. Besonders deut-lich wird dies in der aktuellen Debatte über einemögliche deutsche Unterstützung der geplanten europäi-schen Mission in der Zentralafrikanischen Republik undbei der Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Mali.Die Ministerin von der Leyen prescht plötzlich vor undkündigt an, es sei vorbei mit der Kultur der militärischenZurückhaltung in Deutschland.
Daraufhin rudert der Außenminister zurück, und es ha-gelt Kritik aus der SPD-Bundestagsfraktion. Ich finde,eine besonnene und abgestimmte Außen- und Sicher-heitspolitik sieht anders aus.
An dieser Stelle rächt sich auch der größte Geburts-fehler der Bundeswehrreform, nämlich das Versäumnis,zu Beginn mit der Öffentlichkeit und im Parlament einefundierte Debatte über zukünftige Sicherheitsbedrohun-gen und die Frage, welche Aufgaben man daraus für dieBundeswehr ableitet, zu führen.Frau Ministerin von der Leyen, in einem Interview imaktuellen Spiegel geben Sie zu verstehen, Deutschlandmüsse sich jetzt ganz schnell stärker militärisch inAfrika engagieren. Manchmal hat man den Eindruck,dass Sie über diesen riesigen Kontinent reden, als würdees sich dabei um ein einziges Land handeln. Ich war ver-wundert, dass Sie die Gewalteskalation im Südsudan, womittlerweile schätzungsweise 10 000 Menschen gestor-ben sind, in diesem Interview nicht erwähnt haben, unddas, obwohl die deutsche Bundeswehr an einer Missionder Vereinten Nationen im Südsudan beteiligt ist.Meine Damen und Herren, jeder der 54 afrikanischenStaaten hat eine lange Geschichte, komplexe gesell-schaftliche Strukturen und eine ganz eigene politischeDynamik. Nicht überall herrschen Krieg und Elend. DieKonflikte sind vielschichtig, in ihren Ursachen genausowie hinsichtlich ihrer Akteure. Natürlich dürfen wir inEuropa nicht nur zuschauen, wenn in Afrika Gewalt aus-zubrechen droht, wenn Krisen sich verschärfen oder dieZivilbevölkerung leidet. Hier sind aber in erster Linieder frühzeitige Einsatz ziviler, entwicklungspolitischerund diplomatischer Mittel gefragt und auch gut durch-dachte Strategien, die sich spezifisch mit den einzelnenKonflikten und ihren Ursachen auseinandersetzen.Frau Ministerin, Sie verweisen zur Rechtfertigung desgeplanten Afrika-Engagements auch noch auf dieschrecklichen Bilder von Lampedusa. Ich finde, die Ant-wort auf diese Flüchtlingskatastrophe ist nicht, mehr Mi-litär nach Afrika zu entsenden. Diesbezüglich und nichthinsichtlich der militärischen Zurückhaltung wäre einKurswechsel dringend angesagt;
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 641
Agnieszka Brugger
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denn statt Abschottung brauchen wir endlich eine solida-rische und europäische Flüchtlingspolitik.Der Einsatz der Bundeswehr erfordert in jedem Ein-zelfall eine Einbettung in eine politische Gesamtstrate-gie, die die Konfliktursachen berücksichtigt, eine sorg-fältige Prüfung der Risiken und Gefahren und eine klareDefinition der Ziele. Sagen Sie uns doch endlich einmalkonkret, welche Antworten und Beiträge Sie sich für dieMissionen in Mali und in der Zentralafrikanischen Repu-blik vorstellen.
Dann werden wir Grüne – wie immer – die vorgelegtenMandate genau und kritisch prüfen. Doch einer Politik,die planlos die Ausweitung von Militäreinsätzen fordert,werden wir entschieden entgegentreten.
Meine Damen und Herren, zu einer verantwortungs-vollen Außen- und Sicherheitspolitik gehört ganz beson-ders, dass man Konflikte nicht dadurch verschärft, dassman deutsche Waffen in alle Welt exportiert. Gerade dieVerbreitung von Kleinwaffen sorgt in Afrikas Konfliktenfür noch blutigere Gewalt und noch mehr Gräueltaten.Es muss endlich Schluss sein mit Rüstungsexporten inStaaten, die in Krisenregionen liegen oder wo Men-schenrechte mit Füßen getreten werden.
In der Vergangenheit hat die SPD den Merkel-Kursbei Rüstungsexporten und auch das zynische Motto da-hinter – Ertüchtigung statt Einmischung – massiv kriti-siert. Heute erst beklagte sich Sigmar Gabriel, dass mansich in den Koalitionsverhandlungen nicht habe durch-setzen können. Wenn nun alles so weiterlaufen soll wiebisher, dann ist das, wie ich finde, nicht nur unverant-wortlich, sondern eine brandgefährliche Strategie. Auchhier wäre ein Kurswechsel geboten, und zwar ein radika-ler.
Frau Ministerin, vielleicht wäre es nicht schlecht, inden nächsten Wochen ein paar Interviewüberschriftenweniger zu produzieren und noch einmal über die Ideen,die Ziele, die konkreten Konzepte und eine stimmigeStrategie nachzudenken und zu diskutieren, um demselbst gesetzten Anspruch, „Zukunft zu gestalten“, ge-recht werden zu können und um für eine Politik für mehrFrieden und mehr Sicherheit einzutreten.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Henning Otte
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die heutige Regierungserklärung unsererBundeskanzlerin Angela Merkel hat einmal mehr deut-lich gemacht: Deutschland steht gut da. Wir beschließendie Dinge, die notwendig sind, damit unser Land auchweiterhin eine so gute Perspektive hat. Wir sind als Landbereit, auch zukünftig Verantwortung für eine friedlicheWeltgemeinschaft zu übernehmen, und wenn es seinmuss, auch noch stärker.Eingebunden in die Vereinten Nationen, eingebundenin das Bündnis der NATO, eingebunden in einer Ge-meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Eu-ropa steht Deutschland als verlässlicher Partner zu sei-nen Verpflichtungen, zu seiner Verantwortung und zuseinen Interessen und Werten. Dabei darf von uns erwar-tet werden, dass wir diese Verlässlichkeit und Verant-wortung mit einer klaren sicherheitsstrategischen Aus-richtung untermauern und lenken.Diesen Anspruch haben wir für die Regierung und dieArbeit der sie tragenden Koalitionsfraktionen in unseremKoalitionsvertrag mit dem Titel – Frau Brugger hat esrichtig zitiert – „Deutschlands Zukunft gestalten“ auchfür den Bereich der Außen-, der Sicherheits-, der Vertei-digungs- und der Entwicklungspolitik geltend gemacht.Das heißt, Deutschland stellt sich seiner internationalenVerantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktivmitgestalten. Dabei lassen wir uns von den Interessenund Werten unseres Landes leiten.Deutschland setzt sich weltweit für Frieden, für Frei-heit, für Sicherheit, für eine gerechte Weltordnung, fürdie Durchsetzung der Menschenrechte und die Geltungdes Völkerrechts sowie für nachhaltige Entwicklung undArmutsbekämpfung ein. Wir stehen bereit, wenn von un-serem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Kon-flikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittelder Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung undder Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund. Dasist die Richtschnur unserer Außen- und Sicherheitspoli-tik. Es ist an der Zeit, damit zu beginnen, dies umzuset-zen.
Ich danke unserer Bundesministerin für Verteidigung,Frau Dr. Ursula von der Leyen, für ihre klaren Aussagenzur sicherheitspolitischen Ausrichtung unserer Streit-kräfte und für ihre klaren Aussagen zu unserer Verant-wortungskultur in einer friedlichen Weltgemeinschaft.Frau Ministerin, Sie haben umfassend und vertieft dar-gestellt, dass unser Land Verantwortung annimmt unddass dies zu Recht auch selbstbewusst geschieht, indemwir uns in den Dienst der Gemeinschaft für Sicherheit,für Frieden und für Freiheit stellen. Für diesen klarenKurs danke ich Ihnen.
Es ist eben kein Signal der Verlässlichkeit und Verant-wortung, wenn man beispielsweise Frankreich das Ge-fühl gibt, man stehe auch militärisch an der Seite diesesPartners, und man in Deutschland in der Bevölkerungden Glauben entstehen lässt, man könne sich bei militä-rischen Fragen auch vornehm zurückhalten. Durch die
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Henning Otte
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Rede unserer Verteidigungsministerin ist deutlich he-rausgestellt worden, dass es legitim und auch im Inte-resse unseres Landes ist, zu einer Befriedung in Afrikaeinen Beitrag zu leisten; denn dies dient auch demSchutz unseres eigenen Landes.Eine der Lehren aus dem langjährigen Einsatz in Af-ghanistan sollte sein, dass wir als Politik den Bürgernzum frühestmöglichen Zeitpunkt klar verdeutlichen, wa-rum wir Streitkräfte einsetzen und welchen Zweck sieerreichen sollen. Zusammengefasst gesagt: Es muss Er-klärungen zum Way in und zum Way out geben.Zur Wahrheit gehört auch, dass Militär allein natür-lich keinen Konflikt lösen kann. Meines Erachtens mussnoch stärker herausgestellt werden, dass Diplomatie undEntwicklungshilfe selbstverständlich zuerst gefragt sindund erst dann, wenn diese Mittel befristet nicht zur Wir-kung gelangen, Streitkräfte eingesetzt werden, um Vo-raussetzungen für eine friedliche Entwicklung zu schaf-fen. Wenn dann die Bundeswehr gerufen wird, muss siesich auf eine breite gesellschaftliche und parlamentari-sche Unterstützung verlassen können.
Auch dies ist eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanis-tan: Unsere Staatsbürger, auch die in Uniform, haben ei-nen Anspruch darauf, zu erfahren, welche Beweggründeuns Politiker leiten und wie die Lage dort ist, wohin un-sere Soldaten geschickt werden sollen.Meine Damen und Herren, gerade in Bezug aufAfrika, welches geografisch wie kulturell noch näher anEuropa liegt als vielleicht Afghanistan, haben wir alsEuropa und Deutschland Interessen. Wir können nichteinerseits bedauern, dass die Menschen nach Europaflüchten, und andererseits nichts an den Ursachen ändernwollen. Wer das eine verhindern will, muss bereit sein,das andere zu machen: den Menschen dort zu helfen, wosie ursprünglich angesiedelt sind. Ist dort ein auskömm-liches Leben möglich, wird es zu keinen Massenfluchtenkommen; denn der Mensch hängt grundsätzlich am Landseiner Mütter und Väter.Hier wird deutlich: Durch ein militärisches Vorgehenallein kann man nicht dauerhaft wirksam Sicherheit undOrdnung sowie Perspektivhaftigkeit eines Landes her-stellen. Vielmehr muss der vernetzte sicherheitspoliti-sche Ansatz als Ganzes herangezogen werden – so wiees im letzten Weißbuch dargestellt wurde, so wie es auchin den Verteidigungspolitischen Richtlinien herausge-stellt wurde und so wie es auch unsere Verteidigungsmi-nisterin heute gesagt hat.Klar ist: Deutschland kann das nicht allein leisten undwill das auch nicht. Die globalen Herausforderungensind nur in internationaler Zusammenarbeit und durch ei-nen koordinierten Einsatz aller Instrumente der Außen-,der Sicherheits-, der Verteidigungs- und der Entwick-lungspolitik zu bewältigen. Die Koordinierung dieserInstrumente muss auf europäischer Ebene noch stärkervorangetrieben werden. Die gemeinsame Linie desEuropäischen Rates zur Gemeinsamen Sicherheits- undVerteidigungspolitik war ein guter Anfang hierzu. Dieservernetzte sicherheitspolitische Ansatz muss weiter unter-füttert werden.Für mich als Verteidigungspolitiker der Union stehtfest, dass die Bundeswehr in jeder sicherheitspolitischenFrage die Befähigung für eine Antwort haben muss. Siemuss in der Lage sein, der Politik die notwendigenHandlungsoptionen in der gesamten Bandbreite bereit-zustellen. Das kann Air MedEvac sein, das können Luft-transporte sein, das muss aber auch Kampftruppe seinkönnen.Damit die Bundeswehr dies alles leisten kann, fußtdie Neuausrichtung der Streitkräfte auf dem Konzept„Breite vor Tiefe“ und kann mit der AusrichtungDeutschlands als Rahmennation weiterentwickelt wer-den.Die Idee einer gemeinsamen europäischen Armee istdabei gut und das Ziel alle Mühe wert; bis dahin ist es je-doch noch ein langer Weg. Neben organisatorischenHindernissen gibt es ordnungspolitische und verfas-sungsrechtliche Hindernisse, die aus dem Weg geräumtwerden müssen. Hierzu müssten wir beispielsweise dieParlamentsbeteiligung anpassen, ohne aber den Parla-mentsvorbehalt anzutasten.
Denn es ist eine Errungenschaft unserer Demokratie inDeutschland, dass für eine Entsendung der Bundeswehrin Einsätze ein Parlamentsvorbehalt gilt. Die Bundes-wehr ist damit eine Parlamentsarmee. Dies ist eineStärke unseres Landes, um die uns andere Länder benei-den.
Niemand von uns entsendet Soldaten leichtfertig odergar leichtherzig in den Einsatz. Der Soldatenberuf istkein Beruf wie jeder andere: Soldaten müssen unter Ein-satz von Leib und Leben kämpfen können. Die Soldatenunserer Bundeswehr leisten eine hervorragende Arbeitim In- und Ausland. Sie sind hervorragend ausgebildet.Sie genießen den Respekt und die Anerkennung unsererBündnispartner, an deren Seite sie ihren Dienst leisten.Sie verdienen die Anerkennung dieses ganzen Hauses.
Ich fasse zusammen: Verantwortung zu übernehmenheißt, Verantwortung zu übernehmen. Deutschland hateinen sicherheitspolitischen Gestaltungsanspruch – in ei-nem vernetzten Ansatz. Wir haben zur Umsetzung dieserZiele eine Bundeswehr als Streitkraft, die im Rahmender Neuausrichtung zu einer Einsatzarmee weiterentwi-ckelt wird. Deutschland ist eingebunden in Europa undbereit, als berechenbarer und verlässlicher Partner einerfriedlichen Weltgemeinschaft mehr Verantwortung zuübernehmen – für Sicherheit, für Stabilität, für Friedenund für Freiheit.Herzlichen Dank.
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Als nächster Redner hat der Kollege Tobias Lindner
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Frau von der Leyen, Sie sind ja die Minis-
terin – ich glaube, das kann man mit Fug und Recht sa-
gen –, die in den wenigen Tagen, seitdem es diese Große
Koalition gibt, mit den meisten Schlagzeilen – Herr
Arnold sprach von Impulsen und großen Linien – in der
Öffentlichkeit wahrgenommen worden ist.
Sie sprachen davon, dass von verstärkten Auslands-
einsätzen der Bundeswehr auszugehen ist. Sie sprachen
davon, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr das beste Material verdient haben. Sie sprachen da-
von, dass man die Vereinbarkeit von Familie und Dienst
verbessern und die Bundeswehr sogar zu einem der at-
traktivsten Arbeitgeber in Deutschland, wenn ich das
richtig im Kopf habe, machen muss.
Sie werden sich in Ihrer Amtszeit natürlich schon
bald, nämlich dann, wenn Ihre ersten 100 Tage im Amt
abgelaufen sind, daran messen lassen müssen, welche
konkreten Maßnahmen daraus folgen. Ich will das nur an
einem Beispiel, und zwar an der Vereinbarkeit von Fa-
milie und Dienst, deutlich machen.
Im Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und
Dienst in den Streitkräften sind 82 Maßnahmen be-
schrieben. Sie werden sagen müssen, Frau Ministerin,
was Sie denn mehr tun wollen, als diese 82 Maßnahmen
zu ergreifen, und an welchen Stellen, an denen diese
Maßnahmen noch nicht gegriffen haben, Sie wie nach-
steuern wollen, damit sich die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst tatsächlich erhöht.
Liebe Frau von der Leyen, Sie werden natürlich auch
sagen müssen, wie das alles finanziert werden soll; denn
wir glauben Ihnen nicht, dass das ohne zusätzliche Kos-
ten geht. Zumindest wird man im Einzelplan des Bun-
desministeriums der Verteidigung aufzeigen müssen, wo
das Geld hierfür herkommen soll.
Liebe Frau Ministerin, ich würde mir schon wünschen,
dass Sie auch dazu ein paar Worte verlieren.
Karl-Theodor zu Guttenberg hat Thomas de Maizière
das Haus mitten in einer Bundeswehrreform übergeben,
die – ich zitiere Herrn zu Guttenberg – in vier Jahren ein
Konsolidierungspotenzial von 8,3 Milliarden Euro er-
wirtschaften sollte. Wir reden über den zweitgrößten
Etat im Bundeshaushalt. Wir geben momentan mehr
Geld für Verteidigung als für Zinszahlungen für die
Schulden des Bundes aus.
Thomas de Maizière hat Ihnen ein Haus übergeben,
das nicht nur Lehren aus dem Drohnendesaster des letz-
ten Sommers ziehen sollte, sondern das auch noch ganz
andere Baustellen hat, wie zum Beispiel den fragwürdi-
gen Deal über einen Marinehubschrauber, bei dem man
schon fragen muss, ob die Marine dieses Modell über-
haupt will – von Verzögerungen und Kostensteigerungen
beim A400M ganz zu schweigen.
Liebe Frau von der Leyen, hier werden Sie gefordert
sein, nicht nur, um die Fehler an den konkreten Projek-
ten zu beheben, sondern auch, um an das große Thema
Beschaffungsprozess heranzugehen, wo wirklich Stell-
schrauben verändert werden müssen. Aber auch der In-
formationsfluss in Richtung des Parlaments und der
Fachausschüsse – ich will hier nur an den Koalitionsver-
trag erinnern – muss dringend verbessert werden; denn
wir können es uns in Zeiten knapper werdender Gelder
– das haben Sie ja selbst gesagt – gar nicht erlauben,
dass noch mehr Steuergelder in fragwürdige Projekte bei
der Bundeswehr investiert werden, wenn wir wirklich
die beste Ausstattung für unsere Soldatinnen und Solda-
ten wollen.
Ich danke Ihnen.
Als Nächster gebe ich Frau Kollegin Gabi Weber von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ichsende zunächst dem Luftwaffengeschwader 33 in Rhein-land-Pfalz, meinem Heimatland, herzliche Grüße undspreche sowohl den Kameraden, die bei einem Verkehrs-unfall schwer verletzt wurden, als auch den beiden ver-unglückten Tornadopiloten meine Genesungswünscheaus. Ich gehe davon aus, das tue ich auch in Ihrem Na-men.
Meine Damen und Herren, ich ergänze die heute hierschon gesetzten Impulse um einige wenige, für uns je-doch wesentliche Schwerpunkte:Durch die Bundeswehrreform haben wir Strukturen inden Dienststellen geschaffen, die dazu führen, dass wir– mit wenigen Ausnahmen – keine rein militärischenund keine rein zivilen Dienststellen mehr haben. DieLeitung dieser Stellen wechselt mittlerweile häufig zwi-schen Soldaten und Zivilangestellten. Dennoch geltenfür die beiden Gruppen unterschiedliche Beteiligungs-rechte beim sogenannten Grundbetrieb in Deutschland.Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Un-gleichheit zu beenden und für den Grundbetrieb die Re-gelungen anzupassen. Es muss für beide Gruppen – mili-tärische und zivile Beschäftigte der Bundeswehr – diegleichen Beteiligungsrechte geben.
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Gabi Weber
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Für diskussionswürdig halten wir die Auslagerungdes Travel Managements. Dieses Vorhaben resultiert ausder Planung, die Zahl der Zivilbeschäftigten auf 55 000zu reduzieren. Wir sind uns sicher, dass diese Zahl von55 000 einer Überprüfung mit Blick auf die Dienstpos-ten, die für den Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Bundes-wehr notwendig sind, nicht standhält.Außerdem müssen wir schon jetzt erkennen, dass dieAuslagerung der Personalabrechnung, die bedauerlicher-weise bereits umgesetzt ist, große Probleme schafft. Ins-besondere die Übertragung der Beihilfeabrechnung andas Bundesministerium der Finanzen hat dazu geführt,dass sich Beihilfebearbeitungszeiten um ein Vielfachesverlängern und manche Beschäftigte bis zu zwölf Mo-nate auf ihr Geld warten müssen. Ich kann mir gut vor-stellen, in welch missliche Lage unsere Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter dadurch gebracht wurden. Soldatenmussten die Krankheitskosten ihrer Angehörigen, diezum Beispiel durch OPs schnell in die Zehntausende ge-hen können, vorstrecken. Zahlungsziel jedoch – da sindÄrzte und Kliniken knallhart – ist vier Wochen. Mittler-weile ist man dazu übergegangen, Abschlagszahlungenvorzunehmen, die diesen Missstand jedoch lediglich ka-schieren. Das darf so einfach nicht sein.
Solche Umstände, Frau Ministerin, schaden dem Anse-hen der Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber massiv.In der freien Wirtschaft wäre das so nicht möglich.Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sieuns beim Travel Management aus den Problemen bei derVerlagerung der Beihilfeabrechnung lernen. Wir müssenuns damit im Ausschuss noch einmal ernsthaft beschäfti-gen.Wir halten es schlicht für nicht machbar, die Reisepla-nung weiter bei der Bundeswehr zu belassen, aber wiebei dem anderen Fall die Abrechnung beim Bundes-finanzministerium anzusiedeln. In der Praxis würde dasbedeuten, dass Planungen vier bis sechs Wochen vorReisebeginn abgeschlossen und der Abrechnungsstellezur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Das ent-behrt jeder Lebenserfahrung. Außerdem fehlt nicht nurmir jede Fantasie, wie dann kurzfristig Aktion und Re-aktion auf nicht beeinflussbare Geschehnisse möglichsein sollen. Für mich gehört dieser Aspekt auch zu dervon der Ministerin zu Recht angesprochenen Fürsorgeund Betreuung unserer Beschäftigten.Wir sollten die Bundesregierung dabei unterstützen,wenn sie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik der EU, GSVP, in dieser Wahlperiode zu ei-nem Schwerpunkt ihrer Arbeit macht. Die Wirtschafts-krise hat die Bemühungen zur GSVP in den EU-Staatenins Stocken gebracht. Wir haben im Koalitionsvertragfestgeschrieben, dass wir einen immer engeren Bund dereuropäischen Streitkräfte anstreben, und haben das sehrambitionierte Ziel einer parlamentarisch kontrollierteneuropäischen Armee formuliert. Liebe Frau Ministerin,wir freuen uns, dass Sie diese Absicht nochmals aus-drücklich bestätigt haben. – Ich bin etwas aufgeregt, dasist meine erste Rede.
Europa ist eine wertegebundene und von gemeinsamerVerantwortung getragene Friedensmacht. Europa schafftStabilität, die über seine Grenzen hinaus ausstrahlt. Um-gekehrt wirken sich jedoch Konflikte in unserer unmittel-baren Nachbarschaft auch auf die Sicherheit und StabilitätEuropas aus. Das beste und auch schlimmste Beispiel er-leben wir gerade in Osteuropa. Die Ukraine mit ihrenderzeit völlig chaotischen Zuständen ist gerade einmalso weit von der deutschen Grenze entfernt wie Hamburgvon München. Daher müssen wir wirksame Antwortenauf diese Herausforderungen geben.Eine europäische Verständigung bei der strategischenAusrichtung der EU halten wir daher für dringend erfor-derlich. Aber es ist kein Geheimnis, dass sich die EUderzeit sehr schwertut, bei der Sicherheits- und Verteidi-gungspolitik gemeinsam vorzugehen. Der europäischenSicherheitsstrategie von 2003 fehlt die institutionelleUmsetzung, aber auch die Bereitschaft einiger Mitglied-staaten, entsprechende Fähigkeiten vorzuhalten.Mittlerweile erleben wir bilaterale VereinbarungenFrankreichs und Großbritanniens, aber auch die Überle-gungen der skandinavischen Staaten zur Bildung einernordischen Allianz. Dies sind in unseren Augen die Fol-gen dieser ins Stocken geratenen gemeinsamen europäi-schen Sicherheitspolitik. Wir sollten daher mit unserenFreunden aus Frankreich und Polen die Initiative ergrei-fen und auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle einnehmenund gemeinsam das Projekt einer europäischen Integra-tion von Sicherheit und Verteidigung voranbringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns da-bei keine Denkverbote auferlegen. Die Wirtschaftskrisein vielen Staaten Europas können wir auch als Chanceverstehen, um neue Impulse zu setzen, und, wie FrauMinisterin es bereits angesprochen hat, durch Pooling,Sharing und die Spezialisierung auf bestimmte militäri-sche Fähigkeiten deutliche Synergieeffekte zu erzielen.Daher ist die Neufassung der von mir angesprochenenSicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 als verbindlichestaatliche Ausrichtung voranzutreiben. Das funktioniertaber nur – auch das ist schon angesprochen worden –,wenn vorher vernünftige Analysen vorliegen, in denendie vorhandenen Schwachstellen beschrieben werden.Für mich selbstverständlich ist bei all diesen von miraufgezählten Punkten, dass die Einhaltung der parlamen-tarischen Beteiligungsrechte auch bei Teilnahme euro-päischer Kontingente an von den Vereinten Nationenmandatierten Einsätzen gewährleistet sein muss.Eigentlich wollte ich noch einige diskussionswürdigeAspekte zur Evaluierung der Bundeswehrreform anfü-gen. In Anbetracht meiner schon abgelaufenen Redezeitmuss ich das allerdings auf eine spätere Rede verschie-ben.In diesem Sinne: Es gibt für uns viel zu tun. Wir ha-ben arbeitsreiche Jahre vor uns. Ich freue mich auf dieZusammenarbeit mit Ihnen in diesem Haus und danke
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Gabi Weber
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für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde. Sie ha-ben es mir leichtgemacht, meine erste Rede zu halten,vor der ich zugegebenermaßen riesigen Respekt hatte.Herzlichen Dank.
Liebe Frau Kollegin Weber, das Präsidium gratuliert
Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten
Rede. Sie war engagiert, und Sie haben die Zeit leicht
überzogen. Das haben wir aber als Gabe an Ihre erste
Rede akzeptiert.
Was die späte Stunde angeht, werden Sie im Laufe
der Zeit erleben: Es gibt auch noch spätere Stunden in
diesem Hause.
Wir haben auch schon erlebt, dass wir Mitternacht hinter
uns gelassen haben. Jetzt ist es 19.10 Uhr. Ich finde, das
geht gerade noch.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Charakter unserer Armee, der Bundes-
wehr, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verän-
dert. Während wir früher noch darüber gesprochen ha-
ben, dass wir kämpfen können müssen, um nicht
kämpfen zu müssen, sprechen wir heute von einer Ar-
mee im Einsatz. Die Aufgaben und Anforderungen ha-
ben sich entsprechend geändert. Gleichzeitig hat sich die
Verfügbarkeit von Ressourcen mit Blick auf die Demo-
grafie und die begrenzten Haushaltsmittel deutlich ver-
ringert.
Wir sind diesen Veränderungen nachgekommen. Wir
haben gerade auch für die Truppen im Einsatz in den
letzten Jahren bei den Themen Ausbildung und Ausrüs-
tung massiv zugelegt und Verbesserungen erzielt, und
wir haben eine Bundeswehrreform auf den Weg ge-
bracht, um dieser Neuausrichtung auch organisatorisch
gerecht zu werden.
Ich finde es gut – das ist ein guter Start für diese Ko-
alition –, dass wir in unserem Koalitionsvertrag verein-
bart haben, dass wir die Neuausrichtung konsequent
fortsetzen und zum Erfolg führen wollen. Das heißt, die
Reform wird vollständig umgesetzt. Es heißt auch, dass
es keine Reform der Reform gibt. Das ist wichtig; denn
unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen genauso Pla-
nungssicherheit wie auch das zivile Personal.
Nichtsdestotrotz, auch wenn wir bei der Grundaus-
richtung bleiben, wird es natürlich auch Gelegenheit ge-
ben, zu optimieren. Das müssen wir auch. Wo es bei-
spielsweise Handlungsbedarf gibt, zeigt der Bericht des
Wehrbeauftragten. Er hat einige Themen angeführt, die
auch unsere Ministerin schon aufgegriffen hat, beispiels-
weise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier gibt
es einiges zu tun, auch wenn der Beruf des Soldaten kein
Beruf wie jeder andere und nicht mit zivilen Berufen
vergleichbar ist.
Kolleginnen und Kollegen, die Welt ändert sich. Die
globalen Machtverhältnisse ändern sich massiv. Das hat
Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Ich glaube,
es ist kein Geheimnis – viele Kolleginnen und Kollegen
und auch Sie, Frau Ministerin, haben es heute gesagt –:
Wir müssen in Europa – und Deutschland mit vorneweg –
mehr Verantwortung übernehmen. Auch wenn unsere
subjektive Wahrnehmung, umringt von Freunden, manch-
mal eine andere ist, so ist es doch so, dass Deutschland
weiterhin bedroht ist und dass vor allem auch unsere
Hilfe gefordert wird.
Herr Kollege.
Bitte?
Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Las-
sen Sie sie zu?
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Hahn, vielen Dank, dass Sie mir die Ge-
legenheit geben, eine Frage zu einem Punkt zu stellen,
der noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Sie haben
gerade von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und
der Attraktivität der Bundeswehr gesprochen. Ein Punkt
ist heute Abend noch gar nicht zur Sprache gekommen,
nämlich die Studie „Truppenbild mit Dame“, die wir
kürzlich zur Kenntnis nehmen konnten und die mich,
ehrlich gesagt, einigermaßen überrascht hat. Zehn Jahre
nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen ist die Situa-
tion im Laufe der Jahre nicht etwa besser geworden.
Vielmehr ist in dieser Studie zu lesen, dass die Akzep-
tanz von Frauen deutlich abgenommen hat. Außerdem
hat diese Studie aufgezeigt, dass sexuelle Belästigung
durchaus ein gravierendes Problem darstellt und dass es
fraglich ist, ob die Strukturen geeignet sind, diesem Pro-
blem effektiv zu begegnen.
Ich möchte Sie Folgendes fragen, Herr Kollege: Wel-
che konkreten Maßnahmen könnte man ergreifen, um
die Akzeptanz von Frauen in der Bundeswehr zu erhö-
hen, und wie könnte man sexueller Belästigung begeg-
nen?
Vielen Dank.
Frau Kollegin, ich darf Sie da ein bisschen korrigie-ren. Gerade unsere Ministerin, Frau von der Leyen, hatin ihren Ausführungen zu diesem Thema gesprochen
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Florian Hahn
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und darauf hingewiesen, dass hier noch viel getan wer-den muss. Da gibt es nichts zu diskutieren. Es ist nichterfreulich. Sexuelle Belästigung ist, egal ob im militäri-schen oder zivilen Bereich, nicht hinnehmbar. Hier müs-sen Maßnahmen ergriffen werden. Offen gesagt, bin ichkein Fachmann für diesen Bereich. Daher kann ich Ihnennicht die nächsten Handlungsmaßnahmen nennen. Abereines ist ganz klar – das macht auch die Tatsache deut-lich, dass diese Studie jetzt veröffentlicht wurde –: Wiralle und insbesondere Frau von der Leyen nehmen diesesThema sehr ernst. Wir müssen darauf entsprechend re-agieren.Ich habe vorhin von den Bedrohungen gesprochen,denen Deutschland gegenübersteht. Es gibt nicht nur Be-drohungen aus dem terroristischen Bereich, sondernauch Bedrohungen durch technologischen Fortschritt. Sohat sich beispielsweise die Reichweite von Trägersyste-men deutlich erhöht. Zudem macht sich Instabilität inKonfliktregionen breit. Das alles betrifft uns direkt, unddarauf müssen wir auch reagieren können. Deshalb brau-chen wir zunehmend Absprachen mit den europäischenPartnern; das wurde schon von einigen Kolleginnen undKollegen gesagt. Es ist daher richtig, dass wir im Koali-tionsvertrag eine Stärkung der Gemeinsamen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik der EU festgeschriebenhaben. Aber so etwas lässt sich nicht von heute auf mor-gen erzwingen. Wir brauchen aus meiner Sicht konkreteProjekte, damit so etwas in Europa natürlich wachsenkann. Ich nenne ein paar Stichworte: Wir müssen die eu-ropäischen Transportkapazitäten weiter ausbauen. Wirbrauchen eine gemeinsame Luftraumüberwachung. Alsweiteres Stichwort nenne ich die europäische Raketen-abwehr. Wir müssen uns zudem darüber einig sein, wel-che technologischen Fähigkeiten wir in Europa unabhän-gig von Dritten haben wollen. Natürlich brauchen solcheProjekte Zeit.Gleichzeitig werden wir mit aktuellen Ereignissenkonfrontiert, die eventuell unser gemeinsames Handelnerfordern, wie die aktuelle Situation in Afrika. Natürlichwollen wir unserem Bündnispartner zur Seite stehen.Natürlich wollen wir den betroffenen Menschen, die inNot sind, helfen. Aber wir dürfen auch nichts überstür-zen. Für zukünftige Mandate – das lehrt uns die Erfahrungaus den aktuellen bzw. den vergangenen Einsätzen – brau-chen wir nicht nur militärische Konzepte, sondern auchKonzepte, die die zivile Hilfe und die Einbeziehung re-gionaler Akteure beinhalten. Ich bin froh, dass Sie, liebeFrau Ministerin, das heute noch einmal betont haben. Zueinem Konzept gehören aber auch Antworten auf fol-gende Fragen: Wie ist die Lage vor Ort? Welche Zielewollen wir warum und mit welchen Mitteln verfolgen?Wie stellt sich der zeitliche Umfang eines möglichen En-gagements dar? Wie sieht eine Exitstrategie aus? Undwelchen Gefahren setzen wir unsere Streitkräfte aus?Auf die Beratungen dieser Fragen in den nächsten Sit-zungswochen freue ich mich.Ich möchte mein Augenmerk noch auf das Ansehenunserer Soldatinnen und Soldaten richten. Unsere Solda-tinnen und Soldaten leisten in den Einsätzen und daheimhervorragende Arbeit. Sie genießen hohes Ansehen inden Einsatzgebieten und bei unseren Verbündeten. Ichwünsche mir aber manchmal im Inland, in Deutschland,noch mehr Wertschätzung und Respekt für die Arbeit derBundeswehrangehörigen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Reden derFraktion Die Linke zu sprechen kommen. Herr Neu, ichmuss ganz ehrlich sagen: Sie haben heute einmal mehrdeutlich gemacht, dass Sie mit Ihren Dogmen im Be-reich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht re-gierungsfähig sind. Das macht mich jetzt nicht unbe-dingt traurig. Auch das sage ich Ihnen ganz ehrlich.Wir brauchen die Bundeswehr für unsere Sicherheitund zum Schutz unserer Interessen. Wir werden daherdie Arbeit der Bundeswehr auch in der kommenden Le-gislatur unterstützen.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen zum Thema Verteidigungliegen nicht vor.Ich rufe damit den Bereich Wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung auf.Das Wort hat Bundesminister Dr. Gerd Müller.
Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen.Über 4 Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Mensch-heit im 19. Jahrhundert die Schwelle der ersten Milliardedurchbrach. Heute wächst die Weltbevölkerung täglichum 230 000 Menschen – das sind 80 Millionen Men-schen im Jahr, einmal die Einwohnerzahl von Deutsch-land – auf 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050. DieBevölkerung in Afrika wird sich in diesem Zeitraum ver-doppeln. Ein Staat wie Nigeria, der noch überhaupt nichtin unserem Blickfeld ist, wird dann 500 Millionen Ein-wohner haben.Seit meiner Geburt 1955 hat sich die Weltbevölke-rung verdoppelt. Wir haben in diesem Zeitraum aberauch eine Verdreifachung des Wasserverbrauchs, eineVervierfachung des CO2-Ausstoßes und eine Versieben-fachung der Produktion der Weltwirtschaft zu verzeich-nen. Würden alle Menschen heute auf der Erde auf demKonsumniveau von uns Deutschen und Europäern leben,dann brauchten wir drei Planeten; denn die Menschenhinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck.So stellt sich für uns natürlich auch die Frage nach denGrenzen dieses Wachstums. Unter diesem Gesichtspunktglobaler Herausforderungen ist die Entwicklungspolitik,der Sie, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnenund Kollegen, sich seit vielen Jahren – die allermeistenin diesem Raum mit so viel Idealismus – widmen, nichtNischenpolitik, weil der Tagesordnungspunkt heute umhalb acht aufgerufen wird, sondern sie steht im Zentrum
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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der Politik; sie ist Zukunftspolitik, Friedenspolitik, sie istInnenpolitik.
Auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben, habendiese Entwicklungen gewaltige Rückwirkungen auch aufuns in Deutschland. Wir stehen für eine werteorientierteEntwicklungspolitik, und das aus ethisch-moralischerVerpflichtung, aus globaler Verantwortung heraus, aberauch aus nationalem Interesse. Uns allen ist klar: DieMenschheit überlebt nur dann in Würde, wenn wir dieSchöpfung erhalten und uns an global geltenden Grund-werten orientieren, eine humane und gerechte Weltord-nung schaffen, die Lebensperspektive für alle schafft.An dieser Stelle sind wir uns einig, dass wir nicht busi-ness as usual, einfach so weitermachen können; wirbrauchen vielmehr einen Paradigmenwechsel, im Den-ken und im Handeln, national, europäisch und internatio-nal.Es ist ganz klar: Niemand in der Welt – schon aus hu-manitären Gründen – darf zurückgelassen werden. EinEnde der Armut und des Hungers, von Krankheit undSeuchen ist möglich. Dennoch lassen wir es zu, dass na-hezu 1 Milliarde Menschen unterernährt ist, hungert undtäglich 20 000 bis 30 000 Kinder sterben, während wir,1 Milliarde Menschen auf der Sonnenseite des Lebens,mit Übergewicht und Fettleibigkeit kämpfen. Das istnicht hinnehmbar. Hier müssen wir handeln.
Dazu brauchen wir ein neues Denken, ein neues Han-deln von Staat und Gesellschaft, aber auch von jedemEinzelnen. Nachhaltigkeit muss das Prinzip allen Tunsund aller Entwicklung sein. Deshalb müssen wir dieGlobalisierung so gestalten, dass sie den Menschen dientund nicht ausschließlich den Märkten und der Wirt-schaft.
Nicht der freie Markt ohne jegliche Kontrolle ist un-ser Leitbild, sondern eine ökologisch-soziale Marktwirt-schaft. Der Markt braucht Grenzen. Wir haben eine Vor-lage für ein wirtschaftlich verträgliches System. Imökologischen Sinne müssen wir unser Konsumverhaltenverändern, den Wachstumsbegriff qualitativ neu definie-ren. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,Lebensqualität“ des Bundestages hat dazu vor einemJahr eine hervorragende Vorlage geliefert, die wir nuraufzugreifen haben.Wir müssen die Ressourcen effizienter nutzen, etwamit dem Faktor fünf oder mit dem Faktor zehn. Wir müs-sen also mit weniger Einsatz mehr produzieren. Das istmöglich, und das zeigt auch auf, dass die Probleme lös-bar sind. Ökologische und soziale Standards müssenEingang in die Finanz- und in die Wirtschaftswelt fin-den, in internationale Handelsabkommen und in globaleHandelsströme. Ich denke an Doha. Hier müssen wirDeutsche, hier müssen wir Europäer ein Stück weitMaßstäbe setzen und Vorreiter sein.
Wenn man es will, kann man mit anderen zusammenauch etwas bewegen. Wir können einiges bewegen. Wirhaben in meiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekre-tär im Agrarministerium beispielsweise das Thema „Be-grenzung und Verbot der Lebensmittelspekulationen“ inden G-20-Gipfel eingebracht. Ein Anfang ist gemacht.Wir müssen auch bei anderen Themen vorangehen. Ichhabe mich heute mit der niederländischen Ministerin fürAußenhandel und Entwicklungszusammenarbeit überdie Situation der Textilwirtschaft, beispielsweise in Ban-gladesch, unterhalten. Es ist absolut nicht hinnehmbar,dass dort Näherinnen für 5 Cent in der Stunde 90 Stun-den die Woche Jeans nähen, damit wir für 9,90 Euro eineJeans kaufen können.
An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass jeder vonuns aufgefordert ist, zu handeln. Auch der Konsument,der Verbraucher, kann durch nachhaltiges Handeln Zei-chen setzen. Wir müssen als reiche Industrienationen da-bei wesentlich stärker unserer Verantwortung gerechtwerden. Europa, die USA und Japan, 20 Prozent derWeltbevölkerung, beanspruchen 80 Prozent des Reich-tums und hinterlassen zwei Drittel der Umwelt- und Kli-maschäden. Hier sind ein Umdenken und ein Umsteuernangesagt.
Ich werde zusammen mit Ihnen, den engagierten Par-lamentarierinnen und Parlamentariern, die auch in derVergangenheit immer wieder auf diese Themen auf-merksam gemacht haben, jetzt unter Beteiligung aller inder deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit Interes-sierten einen Diskussionsprozess einleiten. Wir wollenin diesem Jahr eine nationale Zukunftscharta nach demMotto „Eine Welt – unsere Verantwortung“ entwickeln,die am Ende des Jahres in einen großen Eine-Welt-Kon-gress münden soll.
Wir bereiten damit ein neues globales Zielsystem fürnachhaltige Entwicklung nach 2015, den Post-2015-Pro-zess – die Neudefinition der Millenniumsziele –, vor.Deutschland kann und muss hier eine starke inhaltlicheVorgabe machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen desAusschusses, die Sie kämpfen, die Sie die letzten Jahreauch um politische Reputation gekämpft haben, es zeigt,dass wir weit vorangekommen sind. Unser Ministeriumbekommt morgen Besuch von Ban Ki-moon. Mit ihmstarten wir diesen Prozess und leiten wir die Diskussiondieses globalen Zielsystems ein. Das BMZ ist auch undgerade das Ministerium für globale Entwicklungen.
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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Die Koalition verstärkt die Mittel für die Entwick-lungszusammenarbeit.
Natürlich hätten wir uns gewünscht, Herr Raabe, dass esmehr als 2 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahrewären. Aber: Die Notwendigkeit dieser Mittel ist bei denSpitzen der Fraktionen angekommen. Ich bedanke michbei der Kanzlerin, beim Vizekanzler, bei Herrn Gabriel.Wir haben einen großen Konsens. Es ist eine großeChance, dass wir diese Themen, diese Herausforderun-gen nicht im kleinen innerparteilichen Streit diskutierenmüssen, sondern dass wir uns im Großen und Ganzen ei-nig sind, dass wir etwas bewegen und nach vorne kom-men wollen. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen.
Als neuer Bundesminister mache ich mich mit großerFreude an die Arbeit. Ich fühle und finde viel Idealismusund Unterstützung bei Ihnen. Das gibt mir auch dieKraft, neue konkrete Akzente und Ansatzpunkte zu fin-den. Neue Schwerpunkte werden wir in den nächstenMonaten im Ausschuss miteinander entwickeln. Mitmeinen beiden Staatssekretären Joachim Fuchtel undChristian Schmidt haben wir eine Verstärkung bekom-men. Sie sind gewichtige politische Akteure an meinerSeite, profilierte Außenpolitiker und Entwicklungspoliti-ker.
Thema Nummer eins, meine Damen und Herren, istdie Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist kein Ni-schenthema, wie ich gesagt habe, und deshalb müssenwir Wirtschaft, Gesellschaft, Kirchen, Medien und Poli-tik mitnehmen.Die größte Ungerechtigkeit sind die absolute Armutund der Hunger. Deshalb werden wir unsere Anstren-gungen hier weiter verstärken und besonders in Afrikainvestieren – die Frau Verteidigungsministerin ist weg –;wir werden unsere Anstrengungen mit einer Sonderini-tiative für eine Welt ohne Hunger verstärken und inMali, in Zentralafrika einen Schwerpunkt setzen. Ich be-absichtige, mit jährlich 1 Milliarde Euro gezielt die länd-liche Entwicklung voranzubringen. Wir streben den Auf-bau von zehn grünen Wertschöpfungszentren in Afrikaan. Unser Leitbild sind nicht Agrofabriken, sondern leis-tungsfähige bäuerliche Betriebe, die die lokale Ernäh-rung sichern und die Wertschöpfung im Lande belassen.Wir sind davon überzeugt: Afrika kann sich selbst ernäh-ren.
Wir haben das Wissen, das Können. Wir müssen inPartnerschaft diesen Transfer leisten; dann ist Afrika sel-ber imstande, sich zu ernähren. Viele Länder Afrikaskönnen mit diesem Know-how, mit unserer Hilfe dieProduktivität verdoppeln, verdreifachen. Wir haben sol-che Erfahrungen in Äthiopien und in vielen anderenStaaten bereits gemacht. Also machen wir uns auf, die-sen Schwerpunkt zu setzen.Dazu gehört Bildung. Bildung ist für uns der Schlüs-sel für eine bessere Zukunft. Bildung ist die Grundlagejeglicher Veränderung. Deshalb werden wir hier einenweiteren Schwerpunkt setzen und gezielt Haushaltsmit-tel zur Stärkung der Grundbildung und zum Aufbau be-ruflicher Ausbildungszentren, aber auch für die tertiäreBildung einsetzen. Wir werden diese Haushaltsmittel aufmindestens 400 Millionen Euro jährlich erhöhen unddazu auch eine Afrika-Initiative starten. Ich habe michgestern mit der Präsidentin des DAAD getroffen. Wirhaben vereinbart, den jetzt schon erfolgreichen Aus-tausch von Studenten und Professoren zwischenDeutschland und Afrika zu verdoppeln. 1 000 neue Aus-tauschplätze für afrikanische Studenten in Deutschlandsind das Ziel.Afrika bleibt unser regionaler Schwerpunkt. Ich sage:Trotz aller Probleme ist Afrika der Chancenkontinent.Deshalb arbeiten wir an einem neuen entwicklungspoli-tischen Afrika-Konzept. Ich lade insbesondere die deut-sche Wirtschaft ein, in Partnerschaft mit uns die Chan-cen zu nutzen.Ein schwieriges, aber drängendes Thema ist dasFlüchtlingsthema. Wir brauchen ein europäisch abge-stimmtes Flüchtlingskonzept. Meine Damen und Herren,Lampedusa wird es hundertmal geben, wird es tausend-mal geben. Es genügt nicht, dass wir im Mittelmeerraumdie Zäune und die Polizeipräsenz verstärken; wir müssenLebensperspektiven für die Menschen vor Ort schaffen.
Wir müssen eine Antwort geben. Frau Roth war geradeunterwegs in Jordanien und im Libanon, wo 3 bis 4 Mil-lionen syrische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, in Not-unterkünften leben und humanitäre Hilfe, das täglicheEssen erhalten. Aber wir brauchen eine Antwort auf dieFrage der Reintegration, wo es darum geht, diese Men-schen wieder in ihre Heimat zurückzuführen. Ich sageauch mit Blick auf die Diskussion in Deutschland: Diesyrischen Flüchtlinge, aber auch die Flüchtlinge an an-deren Orten in der Welt wollen nicht hierherkommen; siewollen Heimat und Zukunft, Frieden und Stabilität zuHause, und dazu müssen und werden wir beitragen.
Dies gilt auch für Afghanistan. Ich kann das Themaheute nicht weiter vertiefen. Es geht auch dort um dieFrage einer echten Entwicklungsperspektive. Der Abzugder ISAF-Soldaten, Herr Staatssekretär, ist nur die eineSeite. Wenn wir nach zwölf Jahren herausgehen, brau-chen wir zur Stabilisierung Investitionen und eine Stär-kung der zivilen Infrastruktur, wenn wir nicht innerhalbvon fünf Jahren erleben wollen, dass der militärischeEinsatz der ISAF-Truppen erfolglos war, weil das Landim Chaos versinkt. Das wollen wir nicht, deshalb müs-sen wir die zivilen Strukturen stärken.Der Klimaschutz bleibt Eckpfeiler der Entwicklungs-politik; das ist ganz natürlich. Die Aufgabe, vor der wir
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Bundesminister Dr. Gerd Müller
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stehen, ist, ein rechtsverbindliches Klimarahmenabkom-men im Jahr 2015 abzuschließen. Dieser eine Satz be-inhaltet eine große Ankündigung. Es ist nämlich eineriesige Aufgabe, zu einem rechtsverbindlichen Klima-rahmenabkommen im Jahr 2015 zu kommen.Meine Damen und Herren, unser Einsatz gilt der För-derung von Demokratie, Menschenrechten, Gleichbe-rechtigung, Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungs-führung. Wirksame Entwicklungszusammenarbeit hatdies natürlich auch zum Ziel und zur Grundlage. Deswe-gen werden wir uns verstärkt auf Aufbauleistungen ins-besondere im Mittelmeerraum konzentrieren und dabeidie so wertvolle Arbeit unserer politischen Stiftungenfördern.
Vieles ist zu tun, und viele sind unterwegs. ZumSchluss möchte ich unseren vielen Tausend Entwick-lungshelfern und -experten in der Welt – Soldaten leistenihren wertvollen, herausragenden Dienst, aber auch Tau-sende von Entwicklungshelfer – für ihren unermüdli-chen und auch gefährlichen Dienst danken. Sie verdie-nen, dass ihnen unsere ganz besondere Wertschätzunggilt.
Unsere Entwicklungshelfer sind Botschafter Deutsch-lands im besten Sinne: Botschafter für den Frieden in derWelt. Sie stehen für unsere Kultur, für Gerechtigkeit,Frieden, Demokratie und Zukunft. Wir im DeutschenBundestag stehen fraktionsübergreifend hinter ihnen.Wir alle kämpfen für eine gerechte Welt, für eine bessereZukunft und den Erhalt unserer Schöpfung. Mit ihnenzusammen gehen wir an die Arbeit.Herzlichen Dank.
Als nächste Rednerin hat das Wort Kollegin Heike
Hänsel, Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Müller,Sie schlagen neue Töne in der Entwicklungspolitik an,auch im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger. Ich muss sagen:Dies begrüßen wir ausdrücklich hier in der entwick-lungspolitischen Debatte.
Es gibt – das haben wir auch schon heute Morgen imAusschuss gesagt – zahlreiche Ideen von Ihnen, von de-nen auch wir einige unterstützen. Die Frage der Wert-schöpfung in den Ländern des Südens ist eine der ent-scheidenden Fragen für Entwicklung. Ebenso stimmt es,dass es um Veränderungen hier im Norden gehen muss.All das sind Ansätze, die wir unterstützen. Da werdenwir Ihre Vorstellungen sicherlich kritisch-konstruktiv be-gleiten.
Ich bin aber nicht erst jetzt zu dieser Debatte gekom-men, sondern sitze hier seit heute Morgen und habe eineRegierungserklärung nach der anderen gehört. Da gab esauch andere Töne. Wenn ich mir Kanzlerin Merkel in Er-innerung rufe,
so war für mich ihre Hauptbotschaft: Wir sind besser ausder Krise herausgekommen als andere, wir wollen imharten Wettbewerb bestehen, wir wollen an die Spitze,wir wollen als starkes Europa unseren Platz an der Spitzeder globalen Entwicklung halten, usw.
Hier ging es nur um Konkurrenz. Hier ging es nur umein System von wirtschaftlicher Konkurrenz, um knall-harten Wettbewerb der Volkswirtschaften weltweit, imGrunde um den Kampf um Ressourcen, den Schutz vonHandelswegen, um billige Arbeitskräfte und neue Ab-satzmärkte. Hier ging es nicht um Kooperation, sondernhier ging es um knallharten Wettbewerb. Und das lehnenwir ab.
Diese Form des weltweiten Wirtschaftens, diese neolibe-rale Globalisierung – genau so soll es demnach ja jetztweitergehen –, steht gegen die Vorstellungen und Zieleund Ideen, die Minister Müller gerade formuliert hat.
Wir brauchen uns nur die aktuellen Zahlen anzu-schauen. Oxfam hat letzte Woche neu ausgerechnet, dassdie 85 reichsten Menschen auf der Erde über genausoviel Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Welt-bevölkerung. Das ist eine enorme Konzentration vonReichtum. Diese Form des Reichtums dürfen wir nichtakzeptieren.
Es ist eine wirtschaftliche Machtkonzentration, die diedemokratischen Fundamente weltweit massiv bedroht.Genau deswegen wollen wir weg von dieser Profit-maximierung hin zu einem solidarischen Wirtschaftssys-tem. Dann wäre auch eine Wertschöpfung in den Län-dern des Südens möglich.
Ich habe in der vorherigen Debatte ganz andere Tönevon der Verteidigungsministerin von der Leyen – wennman sie denn so nennen kann – gehört. Ich finde es ganz
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Heike Hänsel
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interessant, dass sie eine Afrika-Strategie entwickelnwill, bei der Afrika in den Fokus für immer neue Mili-täreinsätze kommen soll. Im Grunde wäre es viel besser,die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern, anstattnoch mehr Militäreinsätze durchzuführen.100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs solltenwir die Mahnung verstanden haben. Es war deutscheGroßmachtpolitik, die Millionen von Menschen insElend und ins Verderben gestürzt hat. Genau deswegenbrauchen wir andere Schlussfolgerungen als die, die ichvorhin in der verteidigungspolitischen Debatte gehörthabe.
Ich kann heute nicht alle Punkte thematisieren. Wirwerden darüber noch diskutieren.Herr Müller, für uns gibt es noch weitere Bereiche, indenen wir hoffen, dass Sie auch dort neue Akzente set-zen. Zum einen geht es – Sie sind Mitglied des Bundes-sicherheitsrates – um die Frage der Rüstungsexporte.Wir fordern Sie auf: Stimmen Sie gegen Rüstungs-exporte in die Länder des Südens! Aus Krisen werdenKriege. Wir erleben es in Syrien. Kriege verhindern Ar-mutsbekämpfung und tragen zum Entstehen neuer Ar-mut bei.
Zum anderen geht es darum, dass die Entwicklungs-zusammenarbeit ständig im Zusammenhang mit Militär-strategien erwähnt wird. Entwicklungspolitik soll Militär-einsätze flankieren, so sagte Frau von der Leyen. Dies isteine katastrophale Entwicklung. Wir und auch Entwick-lungsorganisationen warnen seit Jahren davor. Die zivil-militärische Zusammenarbeit und eine vernetzte Sicher-heit tragen nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung undzur Armutsbekämpfung bei. Die Entwicklungszusam-menarbeit wird dadurch militarisiert und nur an sicher-heitspolitischen Interessen ausgerichtet. Diese Instru-mentalisierung dürfen wir alle nicht zulassen. Wirbrauchen die Stärkung des Zivilen. Das muss unser An-spruch sein.Danke.
Als Nächster erteile ich der Kollegin Frau Dr. Bärbel
Kofler, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zu Beginn meiner Rede, Herr Minister, möchte ichDanke dafür sagen, dass Sie den Versuch unternommenhaben – ich glaube, da haben Sie die Unterstützung allerEntwicklungspolitiker im Hause –, Entwicklungszusam-menarbeit ins Zentrum der Politik zu stellen. Das ist derfolgerichtige und vernünftige Handlungsansatz, der sichaus den vielen Katastrophen und Krisen dieser Welt er-gibt.
Wir als Entwicklungspolitiker sind momentan gefor-dert. Wir befinden uns in einem Umdenkungsprozess.Wie geht es weiter? Wie können wir Armut weltweitnachhaltig und dauerhaft bekämpfen? Die Millenniums-ziele werden weiterentwickelt. Wir sind gut beraten, indieser Debatte genau hinzuschauen: Wo haben wir inden letzten Jahren Erfolge erzielt? Wo sind Handlungs-felder, in denen wir als Entwicklungspolitiker noch tätigwerden müssen? Wir müssen auf alle Fälle auf uns selbstschauen, also auf unsere Gesetzgebung und auf unserWirtschaften, das sehr oft entwicklungspolitischen Be-strebungen entgegenläuft.Herr Minister, Sie haben Arbeitsbedingungen undProduktionsbedingungen angesprochen. Ich möchte Fol-gendes deutlich herausstellen. Die ILO, die Internatio-nale Arbeitsorganisation in Genf, spricht von 900 Mil-lionen Menschen weltweit, die zwar erwerbstätig sind,aber weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung haben,um sich und ihre Familie zu ernähren. Weniger als2 Dollar trotz Erwerbstätigkeit! Wenn wir es zulassen,dass sich Menschen, die hart arbeiten und die zum Teil– leider – zwölf Stunden arbeiten müssen, mit ihrer Ar-beit nicht aus extremster Armut befreien können, dannist das ein bodenloser Skandal, der eigentlich nicht hin-genommen werden kann.
Wir werden Armut auch nicht nachhaltig bekämpfen,wenn wir nicht menschenwürdiges Arbeiten ins Zentrumder Entwicklung setzen. 60 Prozent der Menschen in denärmsten Entwicklungsländern sind unter 25 Jahre alt.Diese jungen Menschen brauchen Perspektiven, brau-chen Arbeitsplätze mit menschenwürdigen Rahmen-bedingungen, von denen sie sich vernünftig ernährenkönnen.Das Beispiel Bangladesch ist angesprochen worden.Ich war selbst in Bangladesch und habe mit Näherinnengesprochen. Damals arbeiteten sie für einen Mindestlohnvon 20 Euro im Monat. Dass man sich so nie aus derArmut befreien kann, ist völlig klar. Die Streiks in Kam-bodscha beweisen zu Recht, dass die Menschen auch indiesen Ländern beginnen, etwas an ihren Verhältnissenändern zu wollen. Auch dies ist ein Prozess, den wirunterstützen und begleiten müssen. Deshalb freut esmich, und ich halte es für ganz wichtig, dass dieFriedrich-Ebert-Stiftung in Bangladesch ein Büro eröff-net hat. Der Schwerpunkt der Arbeit dieses Büros liegtdarauf, zivilgesellschaftliche Akteure, Gewerkschaften,Wissenschaftler und Medien zusammenzubringen, umden Menschen zu helfen, ihre Arbeitnehmerrechtedurchsetzen zu können. Ich halte dies für einen zentralenPunkt der Entwicklungszusammenarbeit.Wenn wir auch bei uns Veränderungen vornehmenwollen und müssen, dann müssen wir zu verbindlichenRegeln kommen, wenn es um die Verpflichtung geht,
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Dr. Bärbel Kofler
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Sozialstandards und ökologische Standards einzuhalten;auch für unsere Unternehmen, die weltweit tätig sind.Das sind Regelungen, von denen ich glaube, dass wir siebei uns treffen können und müssen. Das hat etwas mitWertschöpfungsketten und Lieferketten, mit verbindli-chen und transparenten Regeln zu tun. Nur so kann einVerbraucher nachvollziehen, wie das Produkt entstandenist. Ansonsten ist die viel zitierte Macht des Verbrau-chers nur auf dem Papier vorhanden. Ich glaube, dafürmüssen wir gemeinsam kämpfen.
Ebenso wichtig ist der gesamte Bereich der sozialenSicherung. Vor einem Jahr hatten wir eine Anhörungzum Thema Weiterentwicklung der Millenniumsziele,also der SDGs, wie es immer so schön heißt. Es wurdeeines ganz klar: Krankheiten zum Beispiel kann manweltweit nur wirksam bekämpfen, wenn der Ansatz inein ordentliches Gesundheitssystem eingebettet ist, sonstsind es punktuelle Hilfen, die den Menschen momentanhelfen. Aber sie haben keine dauerhaften Wirkungen fürdie Menschen und weisen keinen Ausweg aus derArmut. Eines ist auch klar: Es muss um solidarische Ver-sicherungssysteme gehen; denn es ist niemandem gehol-fen, wenn die ärmsten der Armen wieder keinen Zugangzu sozialer Sicherung, zur Krankenversicherung oder zurAbsicherung finden, weil auf irgendeine Art und Weise,privatwirtschaftlich organisiert, doch das Geld entschei-det. Wir brauchen ein System, an dem alle partizipieren.Wir müssen soziale Sicherung auch deshalb machen– das haben auch Beispiele der letzten Wochen, Monateund Jahre bewiesen –, weil es eine gute Versicherung ist,damit Menschen nicht in extreme Armut zurückfallen.Mexiko und Brasilien sind Beispiele dafür, wo es gelun-gen ist, Menschen trotz Finanzkrise nicht in extremeArmut zurückfallen zu lassen, weil es einen Aufbau vonsozialen Sicherungssystemen gibt. Ich glaube, dieseWege müssen wir weiter ausbauen.
Zum Thema Klimaschutz ist viel Richtiges gesagtworden. Ich unterstreiche noch einmal: Wir haben eineVerantwortung als Industrieländer. Auch Schwellenlän-der haben eine wachsende Verantwortung. Aber wir ha-ben eine historische Verantwortung dafür, dass der vonuns verursachte Klimawandel katastrophale Folgen fürdie ärmsten der Armen und für die Entwicklungsländerhat. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen, müs-sen wir uns auch finanziell stellen. Der Aufwuchspfadfür die Langfristfinanzierung im Klimabereich beschäf-tigt uns. Auch in diesem Bereich brauchen wir nicht nurRahmenbedingungen, sondern auch finanzielle Mittel.Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, dassmittlerweile immer noch eineinhalb Milliarden Men-schen auf dieser Erde keinen Zugang zu elektrischerEnergie haben. Das ist ein unglaubliches Entwicklungs-hemmnis, aber auch eine riesige Herausforderung; denndie Fehler, die wir bei der Industrialisierung und demAufbau von Energiesystemen gemacht haben, könnenwir aufgrund der begrenzten Ressourcen des Planeten sonicht wiederholen. Wir müssen weg von einer Energie-politik, die sich an fossilen Energien oder in manchenBereichen an der Atomenergie ausrichtet. Wir müssenden Entwicklungsländern ein nachholendes Entwickelnermöglichen, ohne dass sie hinsichtlich der Umweltver-schmutzung dieselben Fehler machen, die wir schon ge-macht haben.
Frau Kollegin, es wäre nett, wenn Sie ein bisschen auf
Ihre Zeit achteten, die Sie schon liebevoll überzogen ha-
ben.
Die Gedanken sind sehr interessant, aber es gibt weitere
Kollegen, die sprechen wollen. Deswegen wäre es
schön, wenn Sie zum Schluss kämen.
Ich möchte selbstverständlich meinen Kollegen nicht
die Zeit nehmen, ihre Gedanken, die ich auch für sehr
wichtig erachte, darlegen zu können. Ich möchte nur ei-
nige Sätze zum Schluss sagen.
Wir brauchen auf der einen Seite Rahmenbedingun-
gen; wir müssen gesetzgeberisch handeln. Wir brauchen
auf der anderen Seite aber auch einen Aufwuchs bei den
finanziellen Mitteln. Herr Minister, Sie haben einige
Projekte genannt, ich habe einige Projekte genannt. Sie
können sicher sein: In Ihrem Kampf um mehr Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit werden Sie alle hier ver-
sammelten Politiker auf Ihrer Seite haben.
Danke.
Ich erteile nun dem Kollegen Uwe Kekeritz, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ichfange mit einem Zitat an:Hier sitzt Müller, nicht Niebel. Ich habe den Unter-schied deutlich gemacht.Gut so! Die Kappen sind entsorgt.Noch viel besser sind natürlich einige der Aussagen,die Sie auch heute getroffen haben: Ihre Aussagen zumThema Wachstum, zur globalen Wohlstandsverteilung,zum ökologischen Fußabdruck. Sie sprechen von einemParadigmenwechsel und sogar davon, dass Sie Regelnfür Konzerne international festschreiben wollen. Ja,wenn das nicht schon der Weg ins entwicklungspoliti-sche Paradies ist, dann weiß ich es nicht!
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652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Uwe Kekeritz
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Allerdings muss Ihnen klar sein, Herr Müller, dasswir Sie nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Tatenmessen werden.
Leider nähren Sie auch ein paar Zweifel. Erst am 6. De-zember haben Sie den Wachstumskurs bei den deutschenAgrarexporten gefeiert. Sie schrieben auch: „Eine dyna-misch wachsende Weltbevölkerung“ eröffnet „für deut-sche Qualitätsprodukte der Agrar- und Ernährungswirt-schaft eine Vielzahl von neuen Exportmöglichkeiten“.Herr Müller, Sie sind heute Entwicklungsminister undnicht mehr Vertreter des Bauernverbandes. Sie müssensich von Ihrem Dasein als Exportförderer tatsächlichverabschieden. Denn links und rechts gleichzeitig abbie-gen – das kann nur Seehofer.
Auf die Frage, wie denn die Regierung die Aus-wirkungen europäischer Agrarsubventionen einschätze,antwortete Ihr Ministerium – ich sage nicht „Sie“ –: Diegewährten Agrarsubventionen haben keinen marktver-zerrenden Einfluss. – Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.Es geht nicht um Exportsubventionen, sondern umAgrarsubventionen. Ich habe den Eindruck, dass die Be-amten Ihres Ministeriums die Fragen noch in einerWeise beantworten, wie sie es in den letzten vier, fünf,sechs, sieben Jahren gewohnt waren.
Da müssen Sie also noch hart arbeiten, bis tatsächlichvernünftige Antworten herauskommen.
Sie sprechen davon, dass die Wertschöpfung in denLändern bleiben soll. Das ist brillant. Gleichzeitig wol-len Sie aber die German Food Partnership fortsetzen, mitGroßkonzernen wie Bayer, BASF, Syngenta und Metrosowie weiteren Unternehmen. All das sind Organisatio-nen, die die Wertschöpfung nicht in Afrika belassenwollen. Die Kapitalbedingungen geben ihnen dazu über-haupt keine Möglichkeit. Sie wollen die Wertschöpfunghierherholen.Es ist auch bedenklich, dass Ihr StaatssekretärSchmidt, den ich persönlich sehr schätze, in der Verteidi-gungs- und Entwicklungspolitik fast das Gleiche sieht.Daran müssen wir noch arbeiten. Das sind zwei grund-sätzlich verschiedene Bereiche.
Sie wollen dem 0,7-Prozent-Ziel treu bleiben, HerrMinister. Auch die Kanzlerin hat das, wohl um denNiebel regelmäßig zu ärgern, vier Jahre lang immer wie-der betont. Die Politik war dann eine andere. Heute müs-sen wir feststellen: Herausgekommen sind jährlich200 Millionen Euro mehr für den Entwicklungsetat. Da-mit kann man den Berliner Flughafen ungefähr zweiMonate lang am Leben erhalten;
danach müsste man ihn schließen. Kollege Sascha Raabehat deshalb auch die Konsequenzen gezogen. HerrRaabe, Respekt! Herr Minister, wenn Sie es ernst mei-nen mit Ihren Aussagen, dann müssen Sie sich mitSigmar Gabriel zusammensetzen; denn es muss Schlusssein mit Handelsverträgen, die die Gewerkschaftsrechteunterminieren und eine wirkliche Klimapolitik in denPartnerländern unmöglich machen, die die Ernährungs-souveränität der Länder untergraben, die den Investi-tionsschutz über Menschenrechte, über soziale und öko-logische Gerechtigkeit stellen. Die ärmsten Länderbrauchen gute, günstige Medikamente und keine Aus-dehnung des Patentschutzes. Die Länder brauchen in derRegel keine deutsche Milch und vor allen Dingen auchkeine deutschen Hähnchenteile, sondern Ernährungssou-veränität. – Aber Sie haben ja gesagt, Sie wollen denAnsatz vorantreiben.Herr Minister, in einem Interview haben Sie in dervergangenen Woche gesagt, Ihre Vision sei eineweltweite ökologisch-soziale Marktwirtschaft, inder die Nachhaltigkeit dem Wachstum übergeordnetist.Wir sind hier zu 100 Prozent an Ihrer Seite. Wir werdenSie aber an Ihren Taten messen. Helmut Kohl hat immergesagt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Ichbefürchte nur – aber da werden wir uns dann schützendvor Sie stellen –, dass Sie sehr viele Steine in den Weggelegt bekommen, und zwar nicht von der Opposition,ich denke hier mehr an Ihre eigene Fraktion.Ich danke Ihnen.
Ich erteile als Nächster das Wort Frau Kollegin
Sibylle Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“Dieser Satz stammt von Kurt Schumacher – er ist einerder Lieblingssätze meines Fraktionsvorsitzenden VolkerKauder –, und ich gebe ihm recht. Die Realität hat sich,auch in der Entwicklungspolitik, in den letzten Jahrenmassiv gewandelt. Neue Akteure und andere Aufgabenhaben dazu geführt, dass wir nicht mehr so stark in denKategorien „Geberländer – Nehmerländer“ denken. Wirwissen, dass viele Probleme nicht ausschließlich auf na-tionaler Ebene zu lösen sind, und auch, dass sie nicht anLandesgrenzen Halt machen. Dazu zählt zweifelsohnedie Klimapolitik. Deshalb wollen wir von der CDU/CSU-Fraktion dieses Thema zu unserem Hauptthemamachen; denn hier wird deutlich, dass wir Veränderun-gen zum Positiven nur gemeinsam erreichen können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 653
Sibylle Pfeiffer
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Bisher waren die zentralen Fragen: Wie können wirCO2-basiertes Wirtschaftswachstum reduzieren? Wiekönnen wir dabei gleichzeitig andere Länder wie China,USA, Indien usw. verbindlich in die klimapolitischenZiele einbinden? Wie können wir dazu noch einen zugroßen Anstieg der Erderwärmung verhindern? Ist dasdie Quadratur des Kreises? Ich weiß es nicht.Für diese Fragen bietet sich zum Beispiel der G-8-Gipfel 2015 auf Schloss Elmau als geeignete Diskus-sionsplattform an. Dort könnte man sich auf gemeinsamePositionen in der Klimapolitik einigen. Wichtige Vorarbeitwurde übrigens bereits geleistet, nämlich 2009 auf derKlimakonferenz in Kopenhagen. Die dort eingegangenenfinanziellen Zusagen an die Entwicklungsländer, ab 2020100 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen,und zwar von öffentlichen und privaten Gebern, sind de-finitiv keine Peanuts. Daher hoffe ich auf eine gewisseDynamik in der Klimadebatte, auch was die Finanzie-rung betrifft; denn wir wollen hier weiterkommen.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zweiPunkte ansprechen. Erstens. Welche Auswirkungen hatder Klimawandel zum Beispiel auf Entwicklungsländer,direkt wie indirekt? Versandung, extreme Wetterphäno-mene, der Anstieg des Meeresspiegels, Ernteausfall,Hunger, Abholzung von Wäldern, Verstädterung – esgibt noch einiges mehr. Die Kosten für die Anpassung anveränderte Lebensumstände können viele Entwicklungs-länder alleine nicht schultern. Daher müssen wir unsschon heute Gedanken machen, wie wir diese Länder da-bei langfristig und nachhaltig unterstützen können. Ver-säumen wir das heute, wären die Folgen teuer, sowohlfür die betroffenen Länder als auch für uns.Zweitens. Wie binden wir die Entwicklungsländer ineine aktive Klimapolitik ein? Die zunehmende wirt-schaftliche Entwicklung in diesen Ländern bedingt auchdie Steigerung des Bedarfes an Energie, an Lebensmit-teln oder anderen Gütern mit der Folge des vermehrtenCO2-Ausstoßes. Was bringt es denn, wenn wir inDeutschland auf erneuerbare Energien setzen undgleichzeitig in den Entwicklungsländern aus Kosten-gründen unzählige neue, effizienzschwache Kohlekraft-werke gebaut werden? In weiten Teilen Afrikas würdesich doch zum Beispiel die Solarenergie als sinnvolleAlternative anbieten. Doch die Investitionskosten unddas notwendige Know-how für die Installation und dieWartung dieser Anlagen sind gewaltig. Deshalb ist dieZusage von Kopenhagen übrigens auch so wichtig; denndurch diesen Hebel können wir unsere Partner unterstüt-zen – zum beiderseitigen Nutzen. Das ist sozusagen eineWin-win-Situation mit unglaublichem Potenzial.Gestatten Sie mir einige Gedanken zu ODA. LassenSie uns auch einmal überlegen, ob wir unser Verständnisvom Einsatz der öffentlichen Entwicklungsgelder in Tei-len hinterfragen müssen. Viele Entwicklungsländer ha-ben seit dem Ende des Kalten Krieges eine langanhal-tende wirtschaftliche Entwicklung eingeschlagen. Siegenerieren signifikante eigene Einnahmen, sei es ausRohstoffhandel, aus eigenen Steuern, aus Steuern aufausländische Direktinvestitionen oder sei es durch Rück-überweisungen von Migranten. Im Jahr 2010 beispiels-weise erreichte die ODA weltweit eine Höhe von127 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die Gesamt-summe von Rücküberweisungen von Migranten in dieEntwicklungsländer, also in ihre Heimatländer, betrugallein 326 Milliarden Dollar. Das ist ein Vielfaches derEntwicklungsgelder.Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Tatsache ist mei-nes Erachtens, dass diese Einnahmen mittlerweile eineweitaus größere Rolle für die Finanzierung der Entwick-lung spielen als öffentliche Entwicklungsgelder. Dasfestzustellen, gehört für mich zum Betrachten der Reali-täten. Das ist im Übrigen ein großer Erfolg der Entwick-lungsländer selbst.Was bedeutet das für unser Verständnis von Entwick-lungspolitik? Es gibt zwar immer noch Länder, in denenes um die Sicherung der Grundbedürfnisse geht – wirwerden natürlich weiterhin unseren Beitrag leisten,wahrscheinlich sogar noch stärker als bisher –, aber vieleEntwicklungsländer sind mittlerweile selbst zu vielem inder Lage: zum Aufbau eines Basisgesundheitssystems,zur Sicherung des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Bil-dung oder einfach zum Aufbau stabiler staatlicher Struk-turen. Das ist ein Erfolg, und das ist teilweise ein ge-meinsamer Erfolg. Dabei hat sich gezeigt, dass derEntwicklungsprozess immer dann erfolgreich ist, wenner aus den Ländern selbst kommt und zumindest zu ei-nem gewissen Teil von ihnen selbst finanziert ist. Daherkönnen und müssen wir in diesen Ländern anders arbei-ten und eine andere Zusammenarbeit mit diesen Ländernbetreiben.Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Wenn Sie mirnoch einen Gedanken gestatten würden.Die Frage in diesem Zusammenhang lautet schlicht:Wie machen wir das? Diskutieren wir doch einmal überErgebnisorientierung bei der Finanzierung. Und was be-deutet es, dass der Entwicklungsprozess in erster Liniein der Verantwortung der Partnerländer liegt? Denn un-sere Partnerländer ernst zu nehmen, heißt, sich nicht nurauf gemeinsame Ziele zu einigen. Es bedeutet vielmehr,dass sie darüber entscheiden, wie sie die Ziele erreichenwollen, und sie sich sukzessive selbst mehr in die Pflichtnehmen, beispielsweise über eine steigende finanzielleEigenbeteiligung. So könnten am Ende des Prozessessich selbst tragende und funktionierende Programmeentstehen. Ich glaube, das wäre ein großer Erfolg, ein ge-meinsamer Erfolg.Vielen Dank.
Als Nächster hat das Wort der Kollege Niema
Movassat, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich findees gut, Herr Müller, dass Sie sich letzte Woche im Inter-view mit der Zeit von Ihrem Vorgänger, Herrn Niebel,
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654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Niema Movassat
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distanziert haben. Nicht nur durch das Interview, son-dern auch durch das, was Sie hier heute in politischerHinsicht gesagt haben, haben Sie sich von ihm distan-ziert. Das lässt hoffen, dass Sie vielleicht andere Wege inder Entwicklungspolitik einschlagen werden. Die letztenvier Jahre waren schlechte Jahre, weil vor allem deut-sche Interessen im Vordergrund standen, die Interessender deutschen Unternehmen, aber nicht die Menschen inarmen Ländern. Wir brauchen endlich einen Kurswech-sel.
Sie haben heute auf die Perversion hingewiesen, dass1 Milliarde Menschen hungern, während 1 MilliardeMenschen gegen Übergewicht kämpfen. Sie haben zu-dem richtigerweise die Frage aufgeworfen, ob es gerechtist, dass 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent des glo-balen Reichtums für sich beanspruchen. Um die Fragezu beantworten: Ja, es ist ungerecht, es ist unhaltbar, undes muss sich etwas ändern.
Die Wahrheit ist doch: Die Industrieländer leben aufKosten der Länder des Südens. Das ist das entschei-dende Problem. Wenn Sie dieser Argumentation tatsäch-lich folgen, Herr Müller, könnten Sie wirklich ein Ent-wicklungsminister werden, der den Namen wiederverdient.
Laut Oxfam besitzen 85 Menschen auf dieser Welt soviel Vermögen wie die Hälfte der Menschheit. 85 Indivi-duen haben so viel wie 3,5 Milliarden Menschen. Das istdoch nur noch obszön. Wir brauchen endlich globaleUmverteilung von oben nach unten. Wir müssen denglobalen Wohlstand gerecht verteilen.
Sie von der CDU/CSU als christsoziale Parteien soll-ten in dieser Frage ruhig verstärkt auf den Papst hören.
Er hat kürzlich geschrieben: Solange die strukturellenUrsachen der Ungleichverteilung der Einkünfte nicht inAngriff genommen werden, werden sich die Problemeder Welt nicht lösen lassen. – Ich weiß ja, dass Sie derLinken nicht glauben, aber glauben Sie doch wenigstensdem Papst.
Herr Müller, Sie haben gesagt, dass Sie den Kampfgegen den Hunger als drängendste politische Aufgabesehen. Wir als Linke sehen das auch so. Allerdings hat-ten Sie als Staatssekretär im Agrarministerium den Rufeines Agrarexportbeauftragten der deutschen Lebensmit-telindustrie. Das darf so nicht bleiben. Ich sage Ihnen:Solange die europäische Agrarpolitik auf massive Über-schussproduktion setzt, solange deutsche Kühe mit Fut-termitteln aus armen Ländern gefüttert werden undsolange Freihandelsabkommen Entwicklungsländerschutzlos gegenüber dem Import hochsubventioniertereuropäischer Nahrungsmittel machen, so lange tragenDeutschland und die EU eine Mitschuld am Hunger aufder Welt.
Ich weiß ja, dass Sie stets betonen, dass Exportsub-ventionen nicht mehr existieren. Aber Quersubventio-nierungen gibt es dennoch. So wurden 2012 insgesamt42 Millionen Tonnen Geflügelreste auf die afrikanischenMärkte geschafft. Das ist im Vergleich zu 2011 eine Ver-doppelung gewesen. Dadurch werden die lokalenMärkte zerstört. Wir brauchen endlich eine Kehrtwendein der globalen Agrarpolitik.
Letzte Woche haben Sie etwas gesagt, das mich einbisschen an Herrn Niebel erinnert hat. Sie haben gesagt,dass, wenn wir zum Beispiel in die äthiopische Land-wirtschaft investieren, ein Vielfaches zu uns zurück-fließt. Ein für alle Mal: Es soll kein Vielfaches zu unszurückfließen. Wenn etwas zurückfließt, nutzt das viel-leicht der deutschen Privatwirtschaft, aber nicht denMenschen vor Ort. Der Mehrwert muss in den Partner-ländern bleiben.
Zum Abschluss etwas zum Koalitionsvertrag. Sie ha-ben faktisch das Ziel aufgegeben, in nächster Zeit0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwick-lungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Dabeihatte die SPD dies ihren Wählerinnen und Wählern ver-sprochen. Aber am Schluss der Koalitionsverhandlungenhat Ihre Führungsriege dieses Versprechen beerdigt. Ihrentwicklungspolitischer Sprecher Sascha Raabe hat des-wegen sogar nach acht Jahren hingeworfen. Was Sie alsSPD abgeliefert haben, ist leider eine entwicklungspoli-tische Bankrotterklärung.Für Sie, Herr Minister, wird es dadurch nicht einfa-cher. Wir als Linke werden in der neuen Wahlperiode andeutsche Versprechen erinnern und für eine solidarischeEntwicklungspolitik streiten.Danke für die Aufmerksamkeit.
Als Nächstem erteile ich das Wort Kollegen StefanRebmann, SPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 655
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebes neues Schrift-führerteam!
– Ja, der Gewerkschafter spricht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter HerrMinister, ich finde, dass Sie heute Morgen im Ausschussund auch jetzt hier im Plenarsaal eine sehr gute Vorstel-lung gegeben haben. Ich teile die Meinung des KollegenKekeritz: Sie werden nicht nur an Ihren Worten gemes-sen, sondern auch an Ihren Taten. Auch wir in der Gro-ßen Koalition werden an dem gemessen, was wir tat-sächlich umsetzen.Ich muss Ihnen auch sagen: Ich stimme Ihnen bei demzu, was Sie heute Morgen im Ausschuss zum Image derEntwicklungspolitik gesagt haben, dass die Entwick-lungspolitiker in der Welt umherreisen und das Geld ver-teilen. Ich finde, Entwicklungspolitik ist mehr, als Almo-sen zu verteilen, Kleidung und Nahrung an Bedürftige inder Welt zu verteilen. Entwicklungspolitik ist mehr, alshier und da eine Schule zu bauen. Und Entwicklungspo-litik ist vor allem mehr, als zum Beispiel mit der be-rühmten Gießkanne durch Afrika zu gehen und Geld,Nahrung und Wasser zu verteilen – und hinterher viel-leicht sogar noch zu erklären: Wir haben unseren Beitraggeleistet; nun schaut mal, wie ihr damit klarkommt undwas ihr daraus macht! – Nein, Entwicklungspolitik istviel mehr als das. Wir verstehen Entwicklungspolitikauch als globale Strukturpolitik, als eine Politik, mit derwir die Globalisierung nachhaltig und gerecht für alleMenschen gestalten wollen.
Damit hat Entwicklungspolitik für uns auch einen vo-rausschauenden und präventiven Charakter. Denn einegute, abgestimmte und vor allen Dingen wirksame Ent-wicklungspolitik ist genau betrachtet – davon war heuteschon mehrfach die Rede – auch Friedenspolitik.
Willy Brandt hat einmal sinngemäß gesagt: Frieden istnicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. – Wenn wiruns die Frage stellen: „Was ist denn notwendig für einfriedliches Miteinander in der Welt? Was sind denn dieGrundbedingungen für Frieden, für menschliche Sicher-heit, für soziale Sicherheit, für Gesundheit, für gute Le-bens- und Arbeitsbedingungen?“, dann sind wir nichtnur mitten in der Entwicklungspolitik, sondern eine Ant-wort darauf lautet tatsächlich: umgesetzte Entwicklungs-politik. Zu den Voraussetzungen für Frieden gehörenauch faire Lebensbedingungen für die Menschen überallin der Welt. Das bedeutet: Zugang zu Nahrung und zuWasser und zu Energie, Zugang zu Gesundheits- und so-zialen Sicherungssystemen, das Recht auf Bildung füralle und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz, aufeine eigene Zukunftsgestaltung. Das bedeutet auch: fai-rere Arbeitsbedingungen und bessere Entlohnung. Dasbedeutet: Beteiligungsrechte, demokratische Strukturen,nicht korrupte Justizsysteme und vieles mehr.Frieden braucht menschliche Sicherheit. Jeder Ein-zelne braucht die Chance, sich eine eigenständige Zu-kunft aufzubauen. All das ist Friedenspolitik und Ent-wicklungspolitik zugleich. Dazu können, wollen undmüssen wir unseren Beitrag leisten, Kolleginnen undKollegen.
Wir leisten unseren Beitrag dazu mit einer Politik, diesich ressortübergreifend dem Ziel einer besseren, friedli-cheren, sozial gerechteren und chancenreicheren Weltfür alle Menschen verpflichtet fühlt.Um das zu erreichen, brauchen wir nicht nur die Un-terstützung anderer Staaten und eine abgestimmte euro-päische Entwicklungspolitik, sondern sind besonders aufdie engagierte und wertvolle Arbeit der vielen zivilenAkteure angewiesen: der Gewerkschaften, der Kirchen,der politischen und privaten Stiftungen und der zahlrei-chen anderen Nichtregierungsorganisationen, die einehervorragende Arbeit leisten.Das Gleiche gilt in besonderem Maße für die Förde-rung der Friedens- und Konfliktforschung, die wir stär-ker unterstützen und ausbauen wollen: Wir wollen diedeutschen Institutionen für Friedensförderung und Frie-densforschung – wie das Berliner Zentrum für Interna-tionale Friedenseinsätze, zif, das Forum Ziviler Frie-densdienst, forumZFD, die Bundesakademie fürSicherheitspolitik und die Deutsche Stiftung Friedens-forschung – künftig noch stärker in die Politikberatungeinbeziehen, weil sie einen wichtigen – wie ich meineund wie es uns zahlreiche Wissenschaftler bestätigen:unverzichtbaren – Beitrag leisten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Friedens-förderung, der Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturenund sozialen Sicherungssystemen sowie die Schaffungvon zivilen, gewaltfreien Konfliktlösungsmechanismenbitter nötig sind, steht außer Zweifel. Wenn wir uns dieUrsachen für Wanderungsbewegungen, für Flucht undVertreibung anschauen – die wir ja auch gegenwärtig er-leben und die zum Teil recht unseriös und unschön dis-kutiert werden –, dann erkennen wir: Wir dürfen nichtnur die Symptome behandeln, sondern müssen vor allemdie Ursachen bekämpfen.Ich bin der festen Überzeugung: Jeder Euro, den wirzielgerichtet und effektiv in unsere Entwicklungspolitikinvestieren, um so zu versuchen – nicht nur, aber auch –,die Ursachen für Flucht und Vertreibung nicht erst amVerhandlungstisch zu verändern und zu beseitigen, lohntsich. Jeden Euro, den wir – noch einmal – zielgerichtetin die Entwicklungspolitik investieren, um die Grundla-gen für eine menschliche, gesellschaftliche, wirtschaftli-che, soziale und friedliche Entwicklung zu schaffen, umalso den Menschen eine faire Chance auf eine eigenstän-dige Zukunft zu ermöglichen und ihren Kindern und Fa-
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Stefan Rebmann
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milien eine Perspektive zu geben, werden wir doppeltund dreifach zurückbekommen.Entwicklungspolitik ist also nicht das Verteilen vonAlmosen, sondern Entwicklungspolitik ist ethisch, mora-lisch und ökonomisch vernünftig und notwendig. Des-halb muss die Entwicklungspolitik künftig viel mehr imZentrum unseres politischen Handelns und auch in deröffentlichen Aufmerksamkeit stehen.Herzlichen Dank.
Als Nächste hat unsere Kollegin Claudia Roth, Bünd-nis 90/Die Grünen, das Wort.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!C’est le ton qui fait la musique. Das stimmt! Die Musikund der Sound von Gerd Müller waren heute tatsächlichanders als das, was wir in den letzten vier Jahren gehörthaben, und das ist wirklich gut. Ich komme ja von derMusik und kenne mich dort ein bisschen aus. Sie müssendiesem Sound jetzt natürlich auch gerecht werden undentsprechend liefern; denn die Entwicklungspolitik brauchttatsächlich einen neuen, einen einbindenden Politikstil –anders als in den letzten vier Jahren.Wir stehen in der Tat vor riesig großen Herausforde-rungen: Hunger, Kriege, Klimawandel, Naturkatastro-phen, Armut und Ungerechtigkeiten, gegen die wir ange-hen müssen. Aber eine ganz zentrale Herausforderungliegt bei uns selbst. Wir müssen uns selbst, unsere Le-bensweise, unsere Politik und unser Wirtschaften hinter-fragen: ob sie dem Ganzen dienen oder doch nur egoisti-schen Partikularinteressen und ob sie mehr sind als derschöne Sonntagssprech.
Die Aufgabe der Entwicklungspolitik ist ganzheitlich,mit dem Ziel, den Weg zu globaler Gerechtigkeit einzu-schlagen. Humanitäre Hilfe und Entwicklungskoopera-tion – mein Vorredner hat es auch gesagt – sind mensch-liche Pflicht. Sie sind aber immer auch Ausdruckpolitischer Rationalität; denn es hilft dem Frieden undder Entwicklung in der ganzen Welt, wenn wir Krisenund menschliche Not vor Ort bekämpfen und nicht zuFlächenbränden werden lassen.Es droht ein gigantischer Flächenbrand; Gerd Müllerhat es gesagt. Ich war acht Tage im Libanon, in Jorda-nien, im Irak und in Kurdistan-Irak und habe einen Ein-druck von der humanitären Katastrophe dort bekommen,die droht, eine politische Katastrophe für die gesamteRegion zu werden und die ganze Region in einen Kol-laps zu führen. Deswegen nehme ich Sie, Gerd Müller,und Herrn Fuchtel beim Wort, dass in Deutschland, abereben auch auf europäischer Ebene wirklich alle Anstren-gungen unternommen werden, um diesen Flächenbrandzu verhindern; denn es gibt noch viel zu tun.Wir erleben derzeit eine unerträgliche Ungleichheitdurch Ungleichzeitigkeit:Auf der einen Seite gibt es Wohlstand in Europa undin den USA, der immer neue Höhepunkte erreicht, undauf der anderen Seite erleben wir Hungerkatastrophenund humanitäre Katastrophen in der Sahelzone, auf denPhilippinen und im Kongo. Auch dort eskaliert die Si-tuation.Ungleichheit durch Ungleichzeitigkeit erleben wirauch dadurch, dass die Demokratie in vielen StaatenWestafrikas, zum Beispiel in Liberia oder in der Elfen-beinküste, außerordentliche Fortschritte macht, währenddie Bürgerrechte in manchen Staaten Osteuropas brutalabgebaut und systematisch mit Füßen getreten werden;oder dass sich bei uns endlich ein Fußballnationalspieleroutet und offen zu seiner sexuellen Identität bekennt,während auf der anderen Seite ein katastrophaler homo-phober Rollback in Staaten wie Uganda, Nigeria undauch Russland Realität ist.Neben den großen Krisen hat ganz sicher auch derKlimawandel eine ganz besondere Bedeutung; er ist einegroße Bedrohung. Ich danke Gerd Müller dafür, dass erihn benannt und auch heute Morgen im Ausschuss in dasZentrum gestellt hat, aber Klimaschutz fängt natürlichzu Hause und mit der Energiewende bei uns an, und ichglaube, hier gibt es auch für Sie als Minister ganz schönviel zu tun.
Es braucht eine deutsche Entwicklungspolitik, diesich nicht selbst marginalisiert, sondern die die Heraus-forderungen annimmt und eben nicht nur aus einem na-tionalen Interesse heraus agiert; auch das hat ein Vorred-ner gesagt. Es kann ja nicht darum gehen, dass mandeutsche Entwicklungshelfer quasi als Makler für eineMarktöffnung oder als Rohstofflieferanten einsetzt.Das Entwicklungsministerium ist heute ein Koopera-tionsministerium, das gemeinsam mit den Partnern aufAugenhöhe die sozial-ökologische Transformation nachvorne bringt, in der Welt organisiert und das auch inDeutschland und vor allem im eigenen Kabinett für Ko-härenz sorgt. Da wünsche ich Ihnen viel Durchsetzungs-kraft gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen.
Wir sind aufgefordert, im Ausschuss mit unserer Vor-sitzenden Daggi Wöhrl gut zusammenzuarbeiten, unsaber auch über diese Ausschussgrenze hinweg in die an-deren Bereiche einzumischen: in die Landwirtschafts-politik, in die Rüstungspolitik, in die Handelspolitik, indie Menschenrechtspolitik. So verstehe ich zukunftsfä-hige Entwicklungspolitik. Natürlich sind wir alle zusam-men auch aufgefordert, Cheflobbyistinnen und -lobbyis-ten zu sein, um mit der Zivilgesellschaft dafür zu sorgen,
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Claudia Roth
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dass das Bewusstsein für globale Verantwortung wächstund gestärkt wird.Die letzten Jahre haben, glaube ich, sehr viele Gräbenin der Entwicklungspolitik aufgerissen. Wir sind dabei– darauf können Sie sich verlassen –, wenn der richtigeWeg eingeschlagen wird. Wir helfen dabei, dass Brückengebaut werden, Brücken zur Veränderung der globalenStrukturen, die zu Ungleichheit und Ungerechtigkeitführen.Wir nehmen Ihre Einladung sehr ernst, uns bei denVorbereitungen zum G-8-Gipfel einzubringen, nicht nur,weil er in Bayern stattfindet, sondern weil es um die Mil-lenniumsziele geht, weil es um den Klimaschutz gehtund weil er in Bayern stattfindet.Vielen herzlichen Dank.
Als Nächste hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Claudia, ich freue mich auf die zu-künftige Zusammenarbeit im Ausschuss. Ich heiße dichals Neuling bei uns im Ausschuss herzlich willkommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren hatDeutschland Russland den Krieg erklärt. Eine Genera-tion später hat Deutschland Polen überfallen; es ist derZweite Weltkrieg entfacht worden. Auf diesen Ruinenunseres politisch-moralischen Versagens haben wirEuropa gebaut. Ich glaube, Europa kann als Entwick-lungsmodell für eine globale Strukturpolitik dienen,
und zwar im Hinblick auf Wertekonsens, Rechtsstaat-lichkeit, Demokratie, sozial-ökologische Marktwirt-schaft.Es ist mehr als protokollarische Höflichkeit, wennhohe Vertreter von internationalen Organisationen, dieuns immer wieder im Ausschuss besuchen, an uns öfterdie Bitte herantragen, dass Deutschland international beiordnungspolitischen Debatten eine Leadership-Funktionübernehmen solle, zum Beispiel bei Global Governance.Jetzt will ich nicht, dass wir uns anmaßen, eine Leader-ship-Funktion zu übernehmen, aber vielleicht könnte eseine „small Leadership“-Funktion sein: nicht oberlehrer-haft, nicht selbstgefällig, nicht populistisch, sondern er-gebnisorientiert und nachhaltig.Unser Frieden und unser Wohlstand sind nicht nurmodellhaft, sondern sie verpflichten uns auch. Sie ver-pflichten uns zu mehr internationaler Verantwortung.Und sie verpflichten uns, international ein verlässlicherPartner zu sein.Eine der besonders tragenden Säulen dafür ist dieEntwicklungspolitik; denn bei aller Notwendigkeit mili-tärischer Interventionen: Nur eine nachhaltige Entwick-lungspolitik kann der Garant für Wohlstand und Friedenin dieser Welt sein. Hier brauchen wir einen einheitli-chen Ansatz. Wir brauchen internationale Zusammenar-beit aus einem Guss. Hier haben wir eine moralischeBringschuld – das ist angesprochen worden – zur Wah-rung der Menschenrechte, zur Lösung von Konfliktenund zur Gestaltung einer gerechten und globalen Werte-ordnung.Ich spreche es hier an: Mich hat es befremdet, wie ab-schätzig in der Presse im Zuge der Ressortverteilungüber Entwicklungspolitik gesprochen worden ist, sonach dem Motto: Wer will denn das überhaupt werden?Wer ist denn auf diesem Gebiet überhaupt tätig? Es sindaber dieselben, die von uns internationale Verantwortungeinfordern. Das ist nicht in Ordnung, auch mit Blick aufdie Außenwirkung nicht. Es ist nicht in Ordnung mitBlick auf die vielen Tausend Menschen, die sich in die-sem Bereich ehrenamtlich engagieren, den vielen Ju-gendlichen, die freiwillig Entwicklungsdienste leisten,und den vielen Entwicklungshelfern, die weltweit aktivsind, um den Ärmsten der Armen in schwierigsten Situa-tionen zu helfen. Das verdient mehr Respekt und Aner-kennung. Das erwarte ich auch von den Medien.
In den Koalitionsverhandlungen haben wir bewusstSicherheitspolitik, Außenpolitik und Entwicklungspoli-tik als Ganzes verhandelt. Das ist auch gut so. Denn wirkönnen Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Teilhabe nurdann erreichen, wenn wir einen abgestimmten Politik-ansatz haben. Es geht nicht, dass jeder für sich alleineagiert; wir brauchen die Politikkohärenz und ein abge-stimmtes Verhalten. Wir wollen auch in der Außen- undSicherheitspolitik eine mehr proaktive Rolle im interna-tionalen Konfliktmanagement übernehmen.Auch Europa – das ist bereits zu Recht angesprochenworden – muss bei der Krisenreaktion und Krisenprä-vention vorangehen. Europa muss darin gestärkt werden,zukünftig als eine Einheit zu handeln. Wir müssen unsbemühen, die Kräfte vor Ort, ob die Afrikanische Unionoder die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staa-ten, in ihrer Eigenverantwortung zu unterstützen, damitsie langfristig ihre Regionen selbst stabilisieren können.Wir brauchen einen fairen und verlässlichen Welthan-del. Wir müssen darauf achten, dass die Entwicklungslän-der auf dem Entwicklungspfad voranschreiten können,damit sie die Möglichkeit bekommen, auch internatio-nale soziale Standards einzuhalten, und zum Wohle ihrerBevölkerung Welthandel treiben können. Wir wünschenuns Handelspartner auf Augenhöhe. Ich sehe die Ent-wicklungspolitik auch als vorausschauende Friedens-politik, nicht zuletzt auch im eigenen Interesse. Wirwollen nicht, dass zukünftig alle diese Themen und Pro-bleme Teil unserer Innenpolitik sind. Deshalb wollenwir, dass die Friedenspolitik vorausschauend ist und dasswir hier präventiv tätig werden.
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Dagmar G. Wöhrl
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Es ist unsere Zukunftspolitik, und es ist unsere Auf-gabe, in die anderen Politikgremien bzw. in die anderenMinisterien hineinzutragen, dass auch wir in der globa-len Welt die Zukunft für die Generation unserer Kinderund für viele Menschen auf dieser Welt mit zu gestaltenhaben.Eines muss klar sein – ich glaube, es ist uns auch allenklar, dass es leider so ist –: Die meisten unserer Einsätzesind eher Feuerwehreinsätze. Es sind Feuerwehreinsätze,für die leider gilt, dass zeitlich befristete Krisenpro-gramme und mandatierte Militärinterventionen nur eineUnterbrechung oder im günstigsten Fall die Beilegungeiner Krise oder eines Konflikts erzwingen. Das gilt fürdie Not- und Übergangshilfe. Sie ist ohne Frage überle-bensnotwendig. Aber meistens schaffen wir es nur, dieMenschen durchzubringen, bis die nächste Krise kommt.Leider schaffen es die ärmsten Länder nicht, sich vonselbst zu regenerieren. Sie sorgen nicht vor. Jeder zweiteBürgerkrieg in Afrika ist ein Rückfall. Das muss uns zudenken geben, auch dahin gehend, dass wir es so, wiewir bisher gehandelt haben, nicht schaffen, Krisen in derZukunft zu verhindern. Das heißt, wir müssen versu-chen, die Menschen vor Ort zu befähigen, wie eine ArtStehaufmännchen mit Krisen und Konflikten fertig zuwerden. Fachleute sprechen dabei von Resilienz.Ich bin dankbar, dass die Welthungerhilfe das Kon-zept der Resilienz in der Entwicklungszusammenarbeitim jüngsten Welthungerindex zum Schwerpunkt ge-macht hat. Die Europäische Union hat dies erstmals mitSHARE in Äthiopien gemacht.Ich bin dankbar, dass der Minister angekündigt hat,zukünftig zehn grüne Zentren aufzubauen. Es geht da-rum, dass die betroffenen Menschen selbst vorsorgenkönnen. Selbsthilfekräfte müssen geweckt und gestärktwerden. Nur so kann die Entwicklungsspirale aufwärtsverlaufen.Eines wissen wir mit Sicherheit: Wirtschaftswachs-tum und Wohlstandsteilhabe reduzieren nachweislichdas Risiko, erneut in eine Konfliktfalle zu geraten. Dabeihelfen viele mit. Es gibt in den Entwicklungsländernstarke Frauen, die in der Prävention und auch in der Me-diation zur Lösung von Konflikten sehr aktiv sind. Vielehaben wir auf unseren Delegationsreisen und bei der zi-vilen Friedensarbeit kennengelernt. Ich wünsche derneuen Präsidentin Catherine Samba-Panza Mut undKraft, in der Zentralafrikanischen Republik einen friedli-chen Übergang zu Neuwahlen zu schaffen.Das alles ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir habenuns im Koalitionsvertrag zum 0,7-Prozent-Ziel bekannt.Die Bundeskanzlerin hat 2 Milliarden Euro zusätzlich indie Waagschale geworfen. Wir sind der drittgrößte Ge-ber der Welt. Wir reden also nicht nur von internationa-ler Verantwortung, sondern nehmen sie auch wahr. Aberich warne davor, auf diese magische Zahl wie das Kanin-chen auf die Schlange zu schauen. Wir müssen auch al-ternative Problemlösungen im Blick haben. Dazu gehö-ren die Kooperation mit der Wirtschaft und zukünftig dieKooperation mit Schwellenländern, die in diesem Be-reich erst in ihre Rolle hineinwachsen müssen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. – Wir haben eine gute
Roadmap für die nächsten vier Jahre. Wir stehen vor
großen Herausforderungen und haben viel Verantwor-
tung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.
Eigentlich liegt es nur an uns. Ich sage daher einfach:
Let’s do it.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, dass nach dem
letzten Debattenbeitrag die Wahlergebnisse von heute
Nachmittag bekannt gegeben werden.
Unser letzter Debattenbeitrag ist zugleich der erste
Debattenbeitrag der Kollegin Gabriela Heinrich von der
SPD-Fraktion. Bitte, Sie haben das Wort, Frau Heinrich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrMinister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir habenheute schon darüber gesprochen, wie wichtig es ist, dieländliche Entwicklung zu fördern. Der Herr Minister hatmehrfach auf diesen Schwerpunkt bei der Bekämpfungvon Hunger und Armut hingewiesen. Ich denke, wir dür-fen aber auch die Stadtentwicklung nicht aus den Augenverlieren. Hunger und Armut auf dem Land, die Land-flucht und deren Auswirkungen auf die Entwicklung derStädte – das alles gehört zusammen.Heute lebt weltweit bereits jeder zweite Mensch inder Stadt. Im Jahr 2050 werden es zwei Drittel sein.Stadt bedeutet in vielen Entwicklungsländern jedochkeineswegs eine vernünftige Infrastruktur oder gar bes-sere Lebensbedingungen, sondern schlichtweg Slums.Gerade in Afrika südlich der Sahara kann man Urbani-sierung häufig nur synonym für Slumbildung verwen-den. Deshalb müssen die wachsenden Städte weiterhinein wichtiger Bereich unserer Entwicklungspolitik sein.
Ich als neues Mitglied des Bundestages will Sie nichtbelehren – Sie sind sehr viel besser mit dem Thema ver-traut als ich –, aber ich glaube, es ist wichtig, sich nocheinmal kurz vor Augen zu führen, was es bedeutet, in ei-nem Slum zu leben. Die Zahlen aus Slums wie Kiberaals Teil Nairobis oder Dharavi in Mumbai schwankenund sind stets mit Vorsicht zu genießen. Man geht vonHunderttausenden Menschen auf wenigen Quadratkilo-metern aus. In einer Hütte leben häufig bis zu zehn Men-schen auf 10 Quadratmetern, ohne Fenster und ohne Toi-lette. Gerade für Frauen ist dieser Mangel an Toiletten
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 659
Gabriela Heinrich
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verheerend. Das ist eine schwere Beeinträchtigung ihrerWürde, Gesundheit, Sicherheit und Privatsphäre.
Weit weniger als die Hälfte dieser Hütten hat Elektrizi-tät, und die Stromleitungen werden oft unter abenteuerli-chen Bedingungen angezapft. Sauberes Trinkwasser istrar, was dazu führt, dass Mütter damit leben müssen,dass mindestens eines ihrer Kinder an Durchfallerkran-kungen stirbt. Sauberes Wasser und Sanitärversorgungsind Menschenrechte, und dafür müssen wir uns einset-zen. Ich bin froh, dass ich mit Ihnen im AwZ zusammen-arbeiten darf, um hier Abhilfe zu schaffen.
Das Problem wächst. Allein in Afrika werden im Jahr2050 rund 900 Millionen Menschen mehr in Städtenwohnen als heute. Die Metropolen in Entwicklungslän-dern wachsen nicht nur durch Landflucht, sondern zu-nehmend durch natürliches Bevölkerungswachstum. ImJahr 2020 wird es weltweit 27 Megastädte mit mehr als10 Millionen Einwohnern geben. Von denen werden23 in Entwicklungsländern liegen.Es ist unsere Aufgabe, die Städte in Entwicklungslän-dern beim Wachstum zu begleiten und eine sinnvollePlanung zu unterstützen, nicht nur für die Mega-, son-dern auch für die Mittelstädte. Die Deutsche StiftungWeltbevölkerung weist völlig zu Recht darauf hin: Ge-zielte Investitionen in Infrastruktur, Gesundheitseinrich-tungen und Schulen werden gebraucht. Es geht ange-sichts des Energiebedarfs von wachsenden Metropolen– darauf wurde bereits hingewiesen – nicht zuletzt umeine nachhaltige Energieversorgung.Die Stadtentwicklung bietet eine große Chance zurSenkung der Kindersterblichkeit, zur Verbesserung derMüttergesundheit, zu Aufklärung und Familienplanungund zur besseren Bekämpfung von HIV. Wir werden da-für werben, dass in den nächsten vier Jahren noch mehrdeutsche Kommunen mit Städten in Entwicklungs- undSchwellenländern Partnerschaften eingehen, um zumBeispiel beim Aufbau von Infrastruktur zu beraten. Idea-lerweise profitieren beide Städte bei einer kommunalenPartnerschaft vom gegenseitigen Austausch.Nicht nur bei der Stadtentwicklung, sondern für un-sere Entwicklungspolitik insgesamt gilt: Wir müssen dieRechte von Frauen im Blick haben und Menschen mitBehinderung einbeziehen. Das haben wir so auch im Ko-alitionsvertrag festschreiben können. Beides muss ausSicht der SPD-Bundestagsfraktion selbstverständlicherBestandteil eines Zielkatalogs für die künftigen globalenEntwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele werden.
Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Wortezu den Akteuren der Entwicklungspolitik. In den nächs-ten vier Jahren möchten wir die NGOs, Gewerkschaften,Kirchen und Stiftungen wieder stärker in die politischeEntscheidungsfindung einbinden und Partizipation er-möglichen. Wir werden einen Dialog auf Augenhöhe mitden zivilgesellschaftlichen Akteuren führen und uns mitdiesen abstimmen; auch der Herr Minister hat darauf be-reits hingewiesen. Denn Entwicklungspolitik kann nurihre volle Stärke entfalten, wenn alle an einem Strangziehen und ihre Kräfte bündeln. Dafür werden wir unseinsetzen, und wir laden alle ein, mitzumachen. Ich binsehr gerne dabei.Vielen Dank.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin Heinrich, zuIhrer ersten Rede hier und heute in dieser wichtigen De-batte.
Ich komme nun zur Verlesung der Ergebnisse derWahlen, die wir heute Nachmittag vorgenommen ha-ben.1)Bei der ersten Wahl ging es um die Wahl der Mitglie-der des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 derBundeshaushaltsordnung. Die Mitgliederzahl des Deut-schen Bundestages beträgt 631. Abgegebene Stimmkar-ten 600, ungültige Stimmkarten keine. Zur Wahl sindmindestens 316 Stimmen erforderlich. Gewählt wurdendie Kollegen Norbert Barthle, Dr. Reinhard Brandl,Bartholomäus Kalb, Rüdiger Kruse, Bettina Hagedorn,Johannes Kahrs, Carsten Schneider, Dr. Dietmar Bartschund Anja Hajduk. Damit sind diese 9 Abgeordneten– das waren auch die 9 Kandidaten für das Amt – mit dermindestens erforderlichen Mehrheit gewählt. Die Ein-zelheiten entnehmen Sie bitte dem gedruckten Protokollder 11. Sitzung.Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für die vomDeutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bun-desverfassungsgerichts gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzesüber das Bundesverfassungsgericht: abgegebene Stim-men 598, gültige Stimmen 590, ungültige Stimmen 8.Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvor-schläge der Fraktion der CDU/CSU 294 Stimmen, aufdie Wahlvorschläge der Fraktion der SPD 179 Stimmen,auf die Wahlvorschläge der Fraktion Die Linke 59 Stim-men, auf die Wahlvorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 58 Stimmen. Nach dem Höchstzahlverfah-ren nach d’Hondt entfallen deshalb auf den Wahlvor-schlag der Fraktion der CDU/CSU 6 Mitglieder, derFraktion der SPD 4 Mitglieder, der Fraktion Die Linke1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauch 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitgliederentnehmen Sie bitte den Drucksachen 18/362 bis 18/365
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Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäߧ 5 des Richterwahlgesetzes: abgegebene Stimmen 595,Enthaltungen 2, ungültige Stimmen 3. Von den gültigenStimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktionder CDU/CSU 292 Stimmen, der Fraktion der SPD1) siehe Anlagen 11. Sitzung
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660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014
Vizepräsident Peter Hintze
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181 Stimmen, der Fraktion Die Linke 58 Stimmen, derFraktion Bündnis 90/Die Grünen 59 Stimmen. Nachdem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt entfallen aufden Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 9 Mit-glieder, der Fraktion der SPD 5 Mitglieder, der FraktionDie Linke 1 Mitglied, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitgliederund Stellvertreter entnehmen Sie bitte den Drucksachen18/366 bis 18/369.Gerade kommt das Ergebnis der Wahl der Mitgliederdes Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge-setzes, also des Bundesfinanzierungsgremiums. Auch hierwaren zur Wahl mindestens 316 Stimmen erforderlich.Abgegebene Stimmkarten 597, ungültige Stimmkartenkeine. Alle Kandidaten haben die erforderliche Mehrheiterreicht. Gewählt wurden die Abgeordneten NorbertBrackmann, Cajus Caesar, Klaus-Dieter Gröhler, ChristianHirte, Bartholomäus Kalb, Ulrike Gottschalck, ThomasJurk, Johannes Kahrs, Dr. Gesine Lötzsch und Sven-Christian Kindler. Die Einzelheiten können Sie auch hierdem Protokoll der 11. Sitzung entnehmen.Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Donnerstag, den 30. Januar 2014,9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.