Protokoll:
18010

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 18

  • date_rangeSitzungsnummer: 10

  • date_rangeDatum: 29. Januar 2014

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 11:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:41 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 18/10 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 I n h a l t : Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 561 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin mit anschließender Aussprache . . . 561 B Dr. Angela Merkel,  Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 C Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 571 B Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 575 B Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 583 A Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 586 B Monika Grütters, Staatsministerin  BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 592 A Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 C Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 595 D Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 A Außen, Europa und Menschenrechte . . . . . 598 C Dr. Frank-Walter Steinmeier,  Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 600 D Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 601 D Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 C Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 606 A Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 606 C Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 608 C Tagesordnungspunkt 2: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der inte- grierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksachen 18/262, 18/347. . . . . . . . . . . 609 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/382 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 610 D Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 612 B Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 613 C Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 614 C Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 B Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 616 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 616 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 618 A Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 D Tagesordnungspunkt 3: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesam- ten Mittelmeer Drucksachen 18/263, 18/348 . . . . . . . . . . . 618 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/383 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 623 A Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 624 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 B Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 D Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 626 D Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 A Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 627 B Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 C Tagesordnungspunkt 4: a) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung des Ver- trauensgremiums gemäß § 10a Ab- satz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/358. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Vertrauens- gremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/359. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C b) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des Bundes- schuldenwesengesetzes Drucksache 18/360. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschulden- wesengesetzes Drucksache 18/361. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschus- ses für die vom Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfas- sungsgerichts gemäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes Drucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 C d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes (Richterwahlaus- schuss) Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 D Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 C, D; 660 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin  (Fortsetzung der Aussprache) . . . . . . . . . . . . . 631 D Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 633 D Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 635 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 637 A Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 638 A Kathrin Vogler (DIE LINKE). . . . . . . . . . . 638 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 641 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 A Gabi Weber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 645 A Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 D Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 C Dr. Gerd Müller, Bundesminister  BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 649 B Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 650 B Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 III Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 652 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 653 D Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 657 A Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 658 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 661 A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesre- gierung: Fortsetzung der Entsendung bewaff- neter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Natio- nen) sowie des Beschlusses des Nordatlantik- rates vom 4. Dezember 2012 (Tagesordnungs- punkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 661 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 661 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 561 (A) (C) (D)(B) 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Beginn: 11.00 Uhr
  • folderAnlagen
    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 661 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den An- trag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidi- gung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbst- verteidigung (Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlan- tikrates vom 4. Dezember 2012 (Tagesord- nungspunkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD): Ich konnte der Mandats- verlängerung der Operation Active Fence nicht zustim- men.  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 29.01.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 29.01.2014 Freese, Ulrich SPD 29.01.2014 Gerdes, Michael SPD 29.01.2014 Heller, Uda CDU/CSU 29.01.2014 Juratovic, Josip SPD 29.01.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Petzold (Havelland), Harald DIE LINKE 29.01.2014 Rüthrich, Susann SPD 29.01.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Schmidt (Wetzlar), Dagmar SPD 29.01.2014 Steinbrück, Peer SPD 29.01.2014 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 29.01.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Die Entwicklung in Syrien bedaure ich zutiefst, vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung im Bürgerkrieg verurteile ich aufs Schärfste. Es muss das Ziel sein, so bald als möglich einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien herbeizuführen. Gerade werden in Genf die ersten Verhandlungen zu einer Lösung des syrischen Konflikts geführt. Ich begrüße und unterstütze diesen Verhandlungsprozess. Für meinen Entschluss, der Mandatsverlängerung nicht zuzustimmen gibt es gute Gründe. Die Gesamtkon- zeption des Einsatzes ist, abgesehen von einer symboli- schen Solidaritätshandlung gegenüber der Türkei, frag- lich. So sind die Patriot-Flugabwehrraketenstellungen nicht geeignet, um gegnerische Artillerie- oder Mörser- granaten abzuwehren. Dies ist jedoch die einzige realis- tische Bedrohung, welche aktuell für die Türkei von Sy- rien ausgeht. Des Weiteren ist die Befürchtung eines möglichen Einsatzes von syrischem Giftgas hinfällig ge- worden. Seit der Resolution des Sicherheitsrats der Ver- einten Nationen zur Vernichtung der syrischen Chemie- waffen und dem bereits begonnenen Abtransport dieser Waffen ist dieses Bedrohungsszenario ausgeschlossen. Mit einem Abzug der Patriot-Flugabwehrraketenstel- lungen könnte von westlicher Seite ein Signal für eine Entmilitarisierung und Deeskalation der Region gesen- det werden. Es muss in erster Linie um die humanitäre Situation der Menschen in Syrien sowie der syrischen Flüchtlinge in den Anrainerstaaten gehen und nicht um ein sehr unwahrscheinliches Bedrohungsszenario. Das Ende des Patriot-Mandats in der Türkei wäre ein erstes Signal vonseiten der NATO, dass eine friedliche Lösung für Syrien gewünscht ist. Dies gilt insbesondere als Un- terstützung für die aktuellen Friedensverhandlungen in Genf. Denn ohne einen stabilen Waffenstillstand ist der Weg hin zu Frieden und humanitärer Hilfe unmöglich. Ähnlich wie es ein symbolischer Akt war, im Winter 2012/13 der Türkei die Bündnissolidarität deutlich zu zeigen, ist es heute angesagt, ein Zeichen zur Deeskala- tion und für die Friedensverhandlungen zu setzen. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ich stimme gegen den Antrag der Bundesregierung, deutsche Truppen an die türkisch-syrische Grenze zu entsenden, vor allem auch, weil die Begründung für den Einsatz auf einer Lüge und einer massiven Täuschung von Öffentlichkeit und Parlament durch die Bundesregierung beruht. Im Antrag der Bundesregierung zur Entsendung deut- scher Streitkräfte in die Türkei (NATINADS) heißt es unter Abs. 2, „Völkerrechtliche Grundlagen“, wörtlich: Auf Antrag der Türkei waren im Nordatlantikrat am 26. Juni und 3. Oktober 2012 Konsultationen nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages durchgeführt wor- den. Angesichts einer dargelegten Bedrohung der Un- versehrtheit des türkischen Staatsgebiets und der ei- genen Sicherheit hatte der Nordatlantikrat auf An- Anlagen 662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 (A) (C) (D)(B) trag der türkischen Regierung vom 21. November 2012 am 4. Dezember 2012 beschlossen, die Fähig- keiten im Bereich der integrierten Luftverteidigung der NATO zu verstärken. Mit ihrem Beschluss und einer entsprechenden Ver- legung schuf die NATO die Voraussetzung für die beteiligten Parteien, für den Fall eines bewaffneten Angriffes auf die Türkei (Artikel 5 des Nordatlan- tikvertrags) vom Recht zur individuellen oder kol- lektiven Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) Gebrauch machen zu kön- nen. Anlass dieser Konsultationen war zunächst der ver- meintliche Abschuss eines türkischen Aufklärungsflug- zeuges und später der vermeintliche Granatenbeschuss durch die syrische Armee. Auf dieser Grundlage und bei diesen Gelegenheiten wurde die Bedrohung der Türkei nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages festgestellt. In ei- ner Erklärung des Nordatlantikrates nach diesem Treffen wurde festgestellt, dass es sich um einen „unacceptable“ Akt handele, der zu verurteilen sei. Zudem wurde der vermeintliche Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs als weiteres Beispiel der syrischen Behörden in ihrer Missachtung völkerrechtlicher Normen, des Friedens, der Sicherheit und des menschlichen Lebens betrachtet, so der NATO-Rat. Auf diese Weise ist die NATO als for- males Verteidigungsbündnis überhaupt erst ins Spiel ge- kommen, und das hat die Türkei in ihrem eskalierenden Kurs gegenüber Syrien gestärkt. Die Darstellung der türkischen Regierung und der Vorwurf der NATO lautet also, dass die syrische Luftab- wehr über internationalen Gewässern ein Aufklärungsflug- zeug der türkischen Armee abgeschossen hätte, nachdem dieses versehentlich – und zwar im Tiefflug – in syri- schen Luftraum eingedrungen wäre. Ursächlich und un- umstritten liegt also eine türkische Verletzung des syri- schen Hoheitsgebietes vor. Dass aber der Abschuss über internationalen Gewäs- sern stattfand, wurde schnell bezweifelt; die Kenntnisse der NATO weichen von den Angaben der Türkei über die Absturzstelle ab und werden zudem geheim gehal- ten. Die Bundesregierung hat die Geheimhaltung dieser Informationen verteidigt und in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage entsprechend dargelegt: „Eine Offenle- gung könnte zur Folge haben, dass dem Bundesnachrich- tendienst künftig keine schutzbedürftigen Erkenntnisse anvertraut werden.“ (Bundestagsdrucksache 17/13515) Ich stimme gegen die Entsendung deutscher Bundes- wehrsoldaten, auch weil der Standpunkt der Bundesre- gierung einfach nicht der Wahrheit entspricht. Denn sicher ist doch, dass das türkische Flugzeug von keiner Rakete getroffen wurde, womit ein Abschuss in internationalem Luftraum ausscheidet. Mittlerweile er- scheint zweifelhaft, ob es überhaupt einen Beschuss des türkischen Flugzeugs gab oder dieses nicht aufgrund des riskanten Manövers und veralteter Technik abgestürzt ist. In einem Text der International Crisis Group heißt es hierzu: „Wie auch immer, es wurden keine Anzeichen ei- nes Raketeneinschlags auf dem Wrack des Flugzeugs, einer Phantom F4, entdeckt.“ Auch die Stiftung Wissen- schaft und Politik schreibt zu diesem Vorfall und der er- zwungenen Landung eines aus Moskau kommenden sy- rischen Flugzeugs: „In beiden Fällen musste die Türkei schon bald einräumen, dass ihre jeweilige Darstellung unrichtig war“. Trotzdem haben der NATO-Generalsekretär und der Nordatlantikrat, an dem Vertreter der Bundesregierung teilgenommen haben, denen zu diesem Zeitpunkt schon eigene und von der türkischen Darstellung stark abwei- chende Informationen vorlagen, anlässlich der Art.-4- Konsultationen gegenüber der Öffentlichkeit folgende Aussage gemacht: „Das ist ein weiteres Beispiel für die Missachtung der internationalen Normen, des Friedens, der Sicherheit und des Menschenlebens durch das syri- sche Regime.“ Damit haben die NATO, deren Generalsekretär und die deutsche Bundesregierung die Öffentlichkeit be- wusst und gezielt falsch informiert. Noch am 7. November 2012 wertete die Bundesregie- rung den vermeintlichen Abschuss des türkischen Mili- tärjets als „unverhältnismäßigen Akt“. Im Mai 2013 be- gründete sie diese Einschätzung mit „den zugrunde gelegten Informationen, dass ein Abschuss im interna- tionalen Luftraum ohne Vorwarnung erfolgt sei“. Bereits im November 2013 spätestens lagen jedoch auch der Bundesregierung die Erkenntnisse der NATO vor, wo- nach der Abschuss nicht in internationalem Luftraum er- folgt sein kann – sofern er überhaupt erfolgt ist. Ich stimme gegen eine Entsendung der Patriot-Rake- ten, weil auch der zweite Grund, der angebliche Grana- tenbeschuss durch syrische Streitkräfte ohne vorherige Angriffe türkischer Streitkräfte, äußerst zweifelhaft ist: Denn was die zweiten Konsultationen angeht, so er- folgten diese aufgrund von vermeintlichem Granatenbe- schuss türkischen Territoriums von Syrien aus. Auch hier wurden schnell auch aus NATO-Kreisen Zweifel laut, ob diese tatsächlich von der syrischen Armee oder den eng mit der Türkei kooperierenden Rebellen abge- schossen wurden: NATO-Vertreter gaben an, dass es sich um Granaten aus NATO-Beständen handelte. Eine Un- tersuchung der Vorfälle hat nach Angaben der Bundesre- gierung nicht stattgefunden und sei auch nicht angestrebt worden; auch hier hat man sich einfach und unkritisch der türkischen Darstellung angeschlossen. Die Bundes- regierung hat dazu keine eigenen Informationen und auch keine eigenen Untersuchungen angestrebt, aber „geht davon aus“, dass es zumindest in einem Fall Ende September „Beschuss türkischen Territoriums durch sy- rische Artilleriekräfte gab“. Am 3. Oktober 2012, am Tag der zweiten NATO-Konsultationen, gab es auch Be- schuss syrischen Territoriums durch die türkische Ar- mee. Hierzu gibt die Bundesregierung an, dass ihr „über die Presseberichterstattung hinaus … keine eigenen Er- kenntnisse“ vorlägen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Türkei zweifellos Handlungen vorgenommen hat, die völker- rechtlich als Angriffshandlungen gewertet werden kön- nen, Bundesregierung und NATO diese jedoch nicht zur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 663 (A) (C) (B) Kenntnis nehmen. Demgegenüber werden vermeintliche Reaktionen der syrischen Armee auf diese Angriffshand- lungen als „Bedrohung der Unversehrtheit des türki- schen Staatsgebiets“ aufgefasst, welche die „Solidarität“ des Bündnisses unter anderem in Form der Patriot-Sta- tionierung aktivieren. Ich stimme gegen die Patriot-Entsendung, weil die Abgeordneten von der Bundesregierung bisher regel- recht getäuscht worden sind. Beide Begründungen für die Entsendung der Patriots sind schlicht nicht haltbar. Ich finde, in einer so wichtigen Frage, wenn es um Krieg oder Frieden geht, wichtige Informationen vor der Öffentlichkeit zurückzuhalten, wie den abweichen- den NATO-Bericht, ist schon bemerkenswert. Da ist et- was ins Rutschen geraten, was die Demokratie in Deutsch- land insgesamt infrage stellt. Mit der Befreiung vom Faschismus und vom deutschen Militarismus hatte die Bundesrepublik einst auch mit einer Kriegspolitik gebro- chen, die von einer Geheimdiplomatie vorbereitet wird. Dies steht jetzt infrage. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung manipuliert Informationen, um Aus- landseinsätze der Bundeswehr zu legitimieren. Deshalb stimme ich gegen den Einsatz der Bundeswehr. Der Fall der Patriots, aber nicht nur dieser Fall, zeigt klar und deutlich: Um Auslandseinsätze durchzusetzen, werden Öffentlichkeit und Parlament gnadenlos belogen. Wer dann auch nur wagt, kritisch nachzufragen, wird als Assad-Unterstützer diffamiert. Das ist ein Prinzip, das sich in Deutschland leider mittlerweile etabliert hat. Die NATO hat diese Kriegslüge mit auf den Weg gebracht. Sie wusste, dass an der türkischen Version etwas nicht stimmen kann. Damit werden die Deutschen mit zu Geiseln der AKP und der Brüsseler NATO-Zentrale und ihrer Desinformationspolitik. Von Bündnisverteidi- gung kann keine Rede mehr sein. Man kann sich des Ein- drucks nicht erwehren, als ginge es darum, die Bundes- wehr in möglichst viele Auslandseinsätze zu schicken. Die NATO sucht zudem nach ihrer sich abzeichnenden Niederlage am Hindukusch nach neuen Betätigungsfel- dern. Dass sie nunmehr an der Seite von islamistischen Milizen und Al-Qaida-Kämpfern in Syrien steht, ist mehr als eine Ironie der Geschichte. Für mich ist es ein Verbrechen. (D) 10. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin TOP 1 Außen, Europa und Menschenrechte TOP 2 Bundeswehr-Einsatz OAF (Türkei) TOP 3 Bundeswehr-Einsatz OAE TOP 4 a Wahl: Vertrauensgremium TOP 4 b Wahl: Gremium Bundesschuldenwesengesetz TOP 4 c Wahl: Wahlausschuss Bundesverfassungsrichter TOP 4 d Wahl: Richterwahlausschuss TOP 1 Verteidigung TOP 1 Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte Ihnen vor Eintritt in unsere Tages-
ordnung mitteilen, dass interfraktionell vereinbart
wurde, die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 1, also
Außenpolitik, Europa und Menschenrechte, im An-
schluss an die Regierungserklärung im Umfang von
60 Minuten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit den
Tagesordnungspunkten 2 und 3 zu verbinden. Damit
werden die Bundeswehreinsätze im Rahmen der Man-
date OAF und OAE gesondert nach dem Tagesordnungs-
punkt 1 beraten. Die Dauer der Debatte soll für diese
beiden Punkte jeweils 25 Minuten betragen.

Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, den
Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung aus
der 17. Legislaturperiode auf der Drucksache 17/13674
federführend dem Ausschuss für Tourismus und zur Mit-
beratung dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie,
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend, dem Ausschuss für Verkehr und digitale Infra-
struktur, dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit sowie dem Ausschuss für Kultur
und Medien zu überweisen. Ich hätte auch vortragen
können, an wen er nicht überwiesen werden soll. Sind
Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Regierungserklärung durch die Bundeskanz-
lerin
mit anschließender Aussprache

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung
5 Stunden und 30 Minuten, morgen 10 Stunden und
17 Minuten – vergessen Sie die Stoppuhr nicht – sowie
am Freitag 3 Stunden und 36 Minuten vorgesehen. – Ich
sehe überall helle Begeisterung. Dann können wir so
verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1801000100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts der
aktuellen Ereignisse lassen Sie mich bitte zu Beginn ei-
nige Worte zur Lage in der Ukraine sagen. Durch den
Druck der Demonstrationen werden jetzt ganz offen-
sichtlich ernsthafte Gespräche zwischen dem Präsiden-
ten und der Opposition über notwendige politische
Reformen möglich. Der Bundesaußenminister, das
Kanzleramt und die deutsche Botschaft in Kiew unter-
stützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung des
Konflikts und die berechtigten Anliegen der Opposition
mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir ste-
hen dazu auch in engem Kontakt mit der Hohen Beauf-
tragten Lady Ashton und werden unsere Bemühungen in
den nächsten Stunden und Tagen fortsetzen.

Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EU-
Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November in
Vilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sie
nicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein,
die auch uns in der Europäischen Union leiten, und des-
halb müssen sie Gehör finden.

Unverändert gilt, dass die Tür für die Unterzeichnung
des EU-Assoziierungsabkommens durch die Ukraine
weiter offen steht. Und unverändert gilt, dass die Gefahr
eines Entweder-oder im Hinblick auf das Verhältnis der
Länder der Östlichen Partnerschaft zu Europa oder zu
Russland überwunden werden muss und – davon bin ich
überzeugt – in geduldigen Verhandlungen auch über-
wunden werden kann. Genau dies haben auch der EU-
Ratspräsident Van Rompuy und EU-Kommissionspräsi-
dent Barroso gestern beim EU-Russland-Gipfel gegen-
über dem russischen Präsidenten Putin noch einmal zum
Ausdruck gebracht. Auch die Bundesregierung wird dies
gegenüber Russland unvermindert zum Ausdruck brin-
gen, zum Wohle aller in der Region.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, bevor wir nun auf die
nächsten Jahre schauen, sollten wir kurz zurückblicken:
auf den Beginn dieses Jahrhunderts. Damals galt
Deutschland als der kranke Mann Europas. Die soziale
Marktwirtschaft, die unser Land im 20. Jahrhundert
nachhaltig geprägt hat, wurde national wie international
fast schon als Auslaufmodell angesehen. Manche mein-
ten, dass unsere Wirtschafts- und Sozialordnung zu behä-
big, zu altmodisch für die Anforderungen der Globalisie-
rung im 21. Jahrhundert geworden sei. Und heute, zehn
Jahre später? Heute können wir feststellen: Deutschland
geht es so gut wie lange nicht. Die Wirtschaft wächst,


(Zuruf von der LINKEN: Die Armut wächst!)


die Beschäftigung ist auf dem höchsten Niveau seit der
Wiedervereinigung, die Menschen schauen so optimis-
tisch in die Zukunft wie seit dem Fall der Mauer nicht
mehr,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


und von der sozialen Marktwirtschaft als Auslaufmodell
spricht keiner mehr, von Deutschland als krankem Mann
Europas erst recht nicht.

Im Gegenteil: Deutschland ist Wachstumsmotor in
Europa, Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Wir
sind rascher und stärker aus der weltweiten Wirtschafts-
und Finanzkrise herausgekommen als andere. Wir tragen
maßgeblich dazu bei, dass die europäische Staatsschul-
denkrise überwunden werden kann. Für diese Erfolgsge-
schichte ist das Zusammenspiel der Sozialpartner ganz
entscheidend, das Zusammenspiel der Arbeitgeber und
der Gewerkschaften, das unserem Land gemeinsam mit
klugen politischen Entscheidungen die Stabilität und
Stärke gibt, die heute notwendig sind. Sie sind notwen-
dig, wenn wir den Anspruch haben, nicht einfach irgend-
wie die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit zu
meistern, sondern so, dass sich die Werte und Interessen
Deutschlands und Europas auch in Zukunft im harten
weltweiten Wettbewerb behaupten können. Ich habe die-
sen Anspruch, die Regierung der Großen Koalition hat
diesen Anspruch.

Wir haben den Anspruch, nicht einfach irgendwie aus
den weltweiten und europäischen Finanz- und Schulden-
krisen herauszukommen, sondern stärker, als wir in sie
hineingegangen sind. Wir haben den Anspruch, nicht
einfach irgendwie mit den großen Herausforderungen
unserer Zeit beim Schutz unseres Klimas, beim Zugang
zu Energie oder beim Kampf gegen die asymmetrischen
Bedrohungen fertigzuwerden, sondern so, dass wir unse-
ren Werten und unseren Interessen gerecht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtiger
denn je. Längst hat die Globalisierung unsere Welt auch
im Kleinen erfasst. Heute leben über 7 Milliarden Men-
schen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstand teilha-
ben. Als Exportnation sind wir auf vielfältige Weise mit
anderen Nationen verflochten. Niemand kann sich mehr
darauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blick
zu haben, und wenn er es doch tut, dann schadet er über
kurz oder lang sich selbst.
In den 50er-Jahren hatte nur 1 Prozent der Weltbevöl-
kerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren. Heute
wird über die Hälfte aller Menschen über 70 Jahre alt.
Schon diese eine Zahl gibt uns eine Ahnung vom Aus-
maß der demografischen Entwicklung, mit der ja auch
gerade Deutschland umzugehen lernen muss.

Die digitalen Möglichkeiten und das Internet verän-
dern unser Leben rasant. Sie schaffen schier unendliche
Kommunikations- und Informationsformen, haben aber
auch eine kaum absehbare Wirkung auf den Schutz des-
sen, was privat und persönlich sein und bleiben sollte.

Es versteht sich von selbst: Mit der globalen und digi-
talen Dynamik unserer Zeit müssen wir Schritt halten.
Mehr noch: Ein Land wie Deutschland, größte und
stärkste Volkswirtschaft Europas, muss an ihrer Spitze
stehen und auch stehen wollen, und zwar nicht um uns
ihr zu unterwerfen, sondern um die Chancen erkennen
und auch nutzen zu können, die ohne jeden Zweifel in
ihr stecken. Das gilt für unsere Forscher und Entwickler,
das gilt für unser Bildungssystem, das gilt für unsere Un-
ternehmen und Arbeitnehmer, und das gilt für unsere Art
der Energieversorgung.

Mit dieser Dynamik Schritt zu halten, an der Spitze
der Entwicklung zu stehen, das ist eine der großen politi-
schen wie ethischen Gestaltungsaufgaben unserer Gene-
ration. Sie kann nur mit einem Kompass gelingen. Die-
ser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


weil sie immer mehr war als eine Wirtschaftsordnung,
weil sie als Wirtschafts- und Sozialordnung wirtschaftli-
che Kraft und sozialen Ausgleich miteinander verbindet.
Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre
Prinzipien zeitlos gültig sind und sie doch mit der Zeit
gehen und weiterentwickelt werden können, wie dies mit
der ökologischen und der internationalen Dimension un-
seres Lebens gelungen ist.

Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil
sie wie keine zweite Wirtschafts- und Sozialordnung den
Menschen in den Mittelpunkt stellt. Genau darum hat es
zu gehen: um den Menschen im Mittelpunkt unseres
Handelns.


(Zuruf von der LINKEN: Schön wär’s! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Fangen Sie mal damit an!)


Das leitet mich seit meinem Amtsantritt im November
2005 in meinem Verständnis als Kanzlerin aller Deut-
schen und aller in Deutschland lebenden Menschen,
gleich welcher Herkunft, das leitet mich auch in Zu-
kunft, und das leitet die Regierung der Großen Koalition
von CDU, CSU und SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Eine Politik, die nicht den Staat, nicht Verbände, nicht
Partikularinteressen, sondern den Menschen in den Mit-
telpunkt ihres Handelns stellt, eine solche Politik kann
die Grundlagen für ein gutes Leben in Deutschland und
Europa schaffen.


(Zuruf von der LINKEN: Nicht nur reden!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Die Quellen des guten Lebens sind Freiheit, Rechts-
staatlichkeit, politische Stabilität, wirtschaftliche Stärke
und Gerechtigkeit. Die Regierung der Großen Koalition
will die Quellen des guten Lebens allen zugänglich ma-
chen, das bedeutet, allen bestmögliche Chancen zu eröff-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Im Zweifel handeln wir für den Menschen. Bei jeder Ab-
wägung von großen und kleinen Interessen, bei jedem
Ermessen: Die Entscheidung fällt für den Menschen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


So dienen wir den Menschen und unserem Land. Wir ge-
stalten Deutschlands Zukunft – um es mit dem ebenso
einfachen wie klaren Motto des Koalitionsvertrages von
CDU, CSU und SPD zu sagen.

Dabei setzen wir erstens auf solide Finanzen, zwei-
tens auf Investitionen in die Zukunft unseres Landes,


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch alles nicht!)


drittens auf die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zu-
sammenhalts, viertens auf die Fähigkeit Deutschlands,
Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen.
Diese vier Punkte sind nicht hierarchisch gegliedert. Sie
stehen gleichrangig nebeneinander. Ohne solide Finan-
zen könnten wir keine Zukunft gestalten. Ohne gezielte
Investitionen in die Zukunft unseres Landes bliebe Spa-
ren Selbstzweck. Ohne die Stärkung unseres gesell-
schaftlichen Zusammenhalts ginge unserem Land vieles
von seiner sozialen Stabilität verloren, die ja gerade ein
Garant unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist. Ohne die Fä-
higkeit Deutschlands, Verantwortung in Europa und der
Welt zu übernehmen, schadeten wir unseren Partnern
wie uns selbst, unseren Werten und Interessen, wir scha-
deten uns politisch und ökonomisch.

Es ist doch gerade erst etwas mehr als fünf Jahre her,
dass wir erlebt haben, wohin die verantwortungslosen
Exzesse der Märkte, Überschuldung und eine mangel-
hafte Regulierung der internationalen Finanzmärkte füh-
ren können. Wir haben erlebt, dass dies mit einem
Schlag gravierende Auswirkungen auf alle Staaten die-
ser Erde hatte, auch auf Deutschland. Wir mussten da-
mals einen der schlimmsten Wirtschaftseinbrüche, den
schlimmsten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland, verkraften. Es ist das blei-
bende Verdienst der damaligen Koalition von CDU,
CSU und SPD, Deutschland 2009 gemeinsam mit den
Sozialpartnern so rasch, so erfolgreich durch diese Krise
geführt zu haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Einen nachhaltigen Erfolg kann Deutschland aber
nicht alleine haben. Eine Politik, die den Menschen in
den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, setzt deshalb alles
daran, dass alle, dass die ganze Welt die Lektionen aus
dieser damaligen Krise lernt. Eine davon ist und bleibt:
Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein
Finanzplatz darf ohne angemessene Regulierung blei-
ben;


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Finanzakteure müssen durch die Finanztransaktionsteuer
zur Verantwortung gezogen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch in der internationalen sozialen Marktwirtschaft ist
nämlich der Staat der Hüter der Ordnung. Deutschland
übernimmt Verantwortung in Europa und der Welt, da-
mit sich genau diese Einsicht, dass der Staat Hüter der
Ordnung ist, durchsetzen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu sind Fortschritte bei der Regulierung der Finanz-
märkte unverzichtbar, und zwar Fortschritte, die diesen
Namen auch wirklich verdienen, wenn wir das Verspre-
chen einhalten wollen, das wir den Menschen gegeben
haben. Das ist das Versprechen, dass sich eine solch ver-
heerende weltweite Finanzkrise nicht wiederholen darf.
Das bedeutet, in einem Satz gesagt: Wer ein Risiko ein-
geht, der haftet auch für die Verluste, und nicht mehr der
Steuerzahler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Manches ist erreicht. Vieles ist zu tun. Deshalb sind die
Regelungen für eine Bankenunion in Europa so wichtig;
denn bei der Sanierung und Abwicklung von Banken hat
für uns die Einhaltung einer klaren Haftungskaskade
eine zentrale Bedeutung.

Meine Damen und Herren, wir alle müssen verstehen,
dass es mehr denn je nicht mehr ausreicht, nur auf die ei-
gene Kraft und Stärke zu setzen. Konkret heißt das:
Auch Deutschland ist auf Dauer nur stark, wenn auch
Europa stark ist; auch Deutschland geht es auf Dauer nur
gut, wenn es auch Europa gut geht. Doch ich kann uns
auch heute nicht ersparen, darauf hinzuweisen: Auch
wenn die europäische Staatsschuldenkrise nicht mehr
täglich die Schlagzeilen bestimmt, müssen wir doch se-
hen, dass sie allenfalls unter Kontrolle ist. Dauerhaft und
nachhaltig überwunden ist sie damit noch nicht. Wir ha-
ben zwar eine Wirtschafts- und Währungsunion, in der
nationale Entscheidungen jeweils Auswirkungen auf alle
anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion haben, aber
wir haben auch eine Währungsunion, deren wirtschafts-
politische Koordinierung nach wie vor überaus mangel-
haft gestaltet ist. Ohne entscheidende Fortschritte, ohne
einen Quantensprung hier werden wir die europäische
Staatsschuldenkrise nicht überwinden. Wir werden viel-
leicht irgendwie mit ihr zu leben lernen, aber unseren
Platz an der Spitze der globalen Entwicklung werden wir
so nicht halten können. So werden wir nicht stärker aus
der Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangen
sind. Doch nur das kann Europas Anspruch sein: nach der
Krise stärker zu sein als vor der Krise; und weil das so ist,
dürfen wir der trügerischen Ruhe jetzt nicht trauen. Ja, es
ist wahr: Europa ist auf dem Weg zu Stabilität und Wachs-
tum bereits ein gutes Stück vorangekommen. Wahr ist
aber auch, dass wir uns unvermindert anstrengen müssen,
um Vorsorge für die Zukunft zu treffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Dafür müssen wir die Wirtschafts- und Währungs-
union vertiefen und damit das nachholen, was bei ihrer
Gründung versäumt wurde: der Währungsunion eine
echte Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen.


(Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Sozialunion!)


Hierfür müssen wir auch die europäischen Institutionen
stärken. In einer echten Wirtschaftsunion werden wir um
ein Mehr an Verbindlichkeit nicht herumkommen. Ich
bin überzeugt: Dazu müssen auch die EU-Verträge wei-
terentwickelt werden.

Das Ziel ist ein Europa, das seine Kräfte bündelt und
das sich auf die großen Herausforderungen konzentriert.
Alle europäischen Politiken, die Energie- und Klima-
politik, die Gestaltung des Binnenmarktes, die Außen-
handelsbeziehungen, müssen sich daran messen lassen,
ob sie zur Stärkung der europäischen Wirtschaftskraft
und damit auch zu Wohlstand und Beschäftigung beitra-
gen oder nicht. Denn sie bilden zusammen mit den natio-
nalen Reformanstrengungen die Grundlage, um neues
Wachstum und dauerhafte Beschäftigung für die Bürge-
rinnen und Bürger Europas zu schaffen.

Auch die europäische Politik muss den Menschen in
den Mittelpunkt des Handelns stellen. Sie soll den Alltag
der Menschen einfacher machen und nicht schwerer. Sie
soll die Rahmenbedingungen für Engagement, Eigenini-
tiative und Unternehmertum verbessern und nicht beein-
trächtigen. Deshalb muss gelten: Wer Europa will und
wer will, dass es Europa gut geht, der muss bereit sein,
Europa stabiler, bürgernäher, stärker, einiger und gerech-
ter zu machen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


und der muss natürlich zu Hause seine Hausaufgaben
machen.

Deutschland macht seine Hausaufgaben. Der Bund
hat bereits seit 2012 – und damit früher als vorgesehen –
die Vorgaben der Schuldenbremse eingehalten. Für 2014
ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt vorgesehen.
Ab 2015 wollen wir ganz ohne Nettoneuverschuldung
auskommen. Solch ein Ende der Neuverschuldung nach
Jahrzehnten, in denen wir geradezu selbstverständlich
Jahr für Jahr immer neue Schulden gemacht haben, ist
nicht nur Ausdruck solider Finanzen, es ist vielmehr ein
zentrales Gebot der Gerechtigkeit und damit gelebte so-
ziale Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nur zu schaffen, wenn wir bei unseren Ausga-
ben klare Prioritäten setzen und konsequent in die Zu-
kunft investieren. Wir müssen uns dabei immer wieder
vor Augen führen, dass die Bürgerinnen und Bürger un-
seres Landes unser Gemeinwesen nur dann akzeptieren,
wenn sie sich auch vor Ort auf funktionierende Struktu-
ren verlassen können. Deshalb entlastet der Bund die
Kommunen auch in Zukunft: in diesem Jahr, indem er
nunmehr vollständig die Grundsicherung für ältere Men-
schen übernimmt, und in den Folgejahren, indem er sich
schrittweise an der Eingliederungshilfe bis zu einer
Höhe von 5 Milliarden Euro beteiligt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch alles schon vereinbart! Das haben wir 2011 schon vereinbart! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? Wann soll das kommen? 2020, oder wann?)


Die Gespräche mit den Ländern in den Koalitionsver-
handlungen haben im Übrigen einmal mehr deutlich ge-
macht, dass die Bund-Länder-Finanzbeziehungen ganz
grundsätzlich einer Neuordnung bedürfen, und zwar ver-
bunden mit einer klaren Aufgabenzuordnung an Bund,
Länder und Kommunen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundesregierung wird bis zum Sommer einen Vor-
schlag machen, wie die dazu notwendigen Gespräche
geführt werden können.

Meine Damen und Herren, dass unsere Haushaltslage
so gut ist, verdanken wir natürlich ganz entscheidend
auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung und den
Millionen Beschäftigten, Selbstständigen und Unterneh-
men, die zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung beige-
tragen haben. Das hat zu einem neuen Rekord an Steuer-
einnahmen geführt. Auch deshalb ist die Politik es den
Menschen schuldig, zu zeigen, dass wir mit dem aus-
kommen, was wir einnehmen, und dass wir keine Steu-
ern erhöhen oder neue einführen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst später Steuern erhöhen?)


Trotz aller Erfolge dürfen wir aber unsere Hände
nicht in den Schoß legen.


(Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Denn unser Land braucht auch in Zukunft eine starke
Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsrate. Dafür
schafft die Regierung der Großen Koalition die notwen-
digen Voraussetzungen, zum Beispiel indem wir die
Struktur der Bundesregierung an einer zentralen Stelle
verändert haben: Wir haben die Kompetenzen von Wirt-
schaft und Energie in einem Ministerium gebündelt. Wir
haben uns dazu entschieden, weil wir überzeugt sind,
dass unser Wohlstand nur mit einem starken industriel-
len Fundament aus großen und mittelständischen Unter-
nehmen gesichert werden kann, dessen unabdingbare
Voraussetzung eine umweltfreundliche, sichere und be-
zahlbare Energieversorgung ist – für unsere Unterneh-
men genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deutschland hat den Weg der Energiewende einge-
schlagen. Deutschland hat sich entschieden, eine Abkehr
vom jahrzehntelangen Energiemix – einem Energiemix
aus vornehmlich fossilen Energieträgern und Kernener-
gie – zu vollziehen. Es gibt kein weiteres vergleichbares





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Land auf dieser Welt, das eine solch radikale Verände-
rung seiner Energieversorgung anpackt. Diese Entschei-
dung wird von der überwältigenden Mehrheit der Deut-
schen unterstützt.

Doch machen wir uns nichts vor: Die Welt schaut mit
einer Mischung aus Unverständnis und Neugier darauf,
ob und wie uns diese Energiewende gelingen wird.
Wenn sie uns gelingt, dann wird sie – davon bin ich
überzeugt – zu einem weiteren deutschen Exportschla-
ger. Und auch davon bin ich überzeugt: Wenn diese
Energiewende einem Land gelingen kann, dann ist das
Deutschland.

Bis 2050 wollen wir 80 Prozent unseres Stroms aus
erneuerbaren Energien erzeugen. Schon heute haben die
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung einen
Anteil von 25 Prozent, der bis 2025 auf 40 bis 45 Pro-
zent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent ansteigen soll.
Mit diesem Ausbaukorridor können wir ganz harmo-
nisch das Ausbauziel von 80 Prozent erreichen – aller-
dings nur, wenn gleichzeitig unsere Industrie im welt-
weiten Wettbewerb bestehen kann und Strom für alle
erschwinglich bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit einem Anteil von 25 Prozent an der Stromerzeu-
gung haben die erneuerbaren Energien heute ihr Ni-
schendasein verlassen. Bis dahin war es sinnvoll, sie
durch die Umweltpolitik zu fördern. Jetzt aber müssen
sie als zunehmend tragende Säule der Stromerzeugung
in den Gesamtenergiemarkt integriert werden. Maßstab
für den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen Plan-
barkeit und Kosteneffizienz sein. Deshalb muss der Aus-
baukorridor auch verbindlich festgeschrieben werden.
Die einzelnen Formen der erneuerbaren Energien müs-
sen so schnell wie möglich marktfähig werden; ihr Aus-
bau und der Ausbau der Transportnetze müssen Hand in
Hand gehen.

Wir sehen: Das ist eine Herkulesaufgabe; das bedarf
einer nationalen Kraftanstrengung. Gerade auch deshalb
habe ich davon gesprochen, dass die Große Koalition
eine Koalition für große Aufgaben ist. Und wenn es eine
politische Aufgabe gibt, bei der nicht Partikularinteres-
sen im Mittelpunkt zu stehen haben, sondern der
Mensch, dann ist das die Energiewende.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Sie kann nur gelingen, wenn alle – Bund, Länder, Ge-
meinden, Verbände, jeder Einzelne – über ihren Schatten
springen und nur eines im Blick haben: das Gemein-
wohl. Aber dann – davon bin ich überzeugt – wird die
Energiewende auch gelingen; dann wird sie ein weiteres
Beispiel gelebter ökologischer und sozialer Marktwirt-
schaft sein.

Das Kabinett hat die dazu vom Bundeswirtschafts-
minister vorgelegten Eckpunkte beschlossen. Sie sind
Grundlage für den Gesetzentwurf zur Novelle des Er-
neuerbare-Energien-Gesetzes, die am 9. April im Kabi-
nett verabschiedet und bis zur Sommerpause auch in
Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.
Zusammen mit dem Netzausbau und mit Entscheidun-
gen über Kraftwerksreserven zur Sicherung der Energie-
versorgung entsteht daraus der Rahmen zur Umsetzung
der Energiewende.

Die Bundesregierung wird sich in den anstehenden si-
cherlich nicht einfachen Beratungen um eine breite
Mehrheit bemühen; denn ich bin davon überzeugt: Je
größer die Mehrheit, desto größer ist auch die Akzeptanz
bei den Bürgerinnen und Bürgern. Zeit haben wir aller-
dings nicht zu verlieren: Wir müssen parallel alles dafür
tun, dass unsere Entscheidungen auch in Brüssel akzep-
tiert werden. Gleichzeitig müssen wir die Energiewende
in eine anspruchsvolle nationale und europäische Kli-
mastrategie einbetten. Es ist gut, dass die Kommission
mit dem ambitionierten 40-Prozent-CO2-Reduktionsziel
die Vorreiterrolle Europas im internationalen Klima-
schutz noch einmal unmissverständlich unterstrichen
hat.

Deutschland wird sich auch mit ganzer Kraft für die
Verabschiedung einer international verbindlichen Klima-
konvention einsetzen. Gemeinsam mit Frankreich arbeiten
wir für einen Erfolg der internationalen Klimakonferenz
Ende 2015 in Paris, damit am Ende eine verbindliche
Regelung für die weltweite Reduktion von Treibhausga-
sen ab 2020 gefunden wird.

Wir setzen uns auch für einen funktionierenden Emis-
sionshandel in Europa ein, damit umweltfreundliche
Kraftwerke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke
endlich wieder eine faire Chance auf den Märkten erhal-
ten.

Um im Baubereich zu einer Gesamtstrategie zu kom-
men, in die auch der Klimaschutz integriert ist, hat die
Bundesregierung den Umweltschutz und den Baubereich
in einem Ministerium gebündelt. So können wir unsere
nationalen Klimaziele auch in den Bereichen der Ener-
gieeffizienz und der Gebäudesanierung erreichen. Im
Übrigen können unsere Wirtschaft und unser Handwerk
davon profitieren. Umweltschutz, die ökologische und
soziale Marktwirtschaft schafft Arbeitsplätze.

Meine Damen und Herren, vor einem Jahrzehnt, als
5 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos waren,
hatten viele Zweifel, ob und inwieweit eine der jahr-
zehntelangen großen Gewissheiten der sozialen Markt-
wirtschaft auch in Zukunft noch ihre Berechtigung
haben würde, nämlich die Gewissheit, dass es den Ar-
beitnehmern dann gut geht, wenn es dem eigenen Be-
trieb auch gut geht. Die Auswirkungen der Globalisie-
rung hatten dieses Grundvertrauen ins Wanken gebracht.
Reformen, zuvor jahrelang verzögert oder vermieden,
wurden unumgänglich. Es folgte die Agenda 2010 der
Regierung Schröder, auf die dann weitere Reformen der
Großen Koalition von 2005 bis 2009 und der anschlie-
ßend christlich-liberalen Bundesregierung fußten. Das
Ergebnis dieser Reformen: Heute hat unser Land mehr
Beschäftigte als je zuvor.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Tja!)


Die Arbeitslosigkeit liegt unter 3 Millionen; die Jugend-
arbeitslosigkeit ist die geringste in Europa.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Aber es gibt auch Schattenseiten. Aus der unverzicht-
baren Flexibilisierung des Arbeitsrechts sind neue Mög-
lichkeiten des Missbrauchs entstanden. Schon die christ-
lich-liberale Bundesregierung hat einige davon beseitigt,
aber die Große Koalition wird weitere Korrekturen vor-
nehmen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Bei den Werkverträgen! Das ist Ausbeutung pur!)


Konkret geschieht das in der Leiharbeit, deren Dauer
auf maximal 18 Monate beschränkt wird. Die gleiche
Bezahlung eines Leiharbeiters wie die eines Beschäftig-
ten der Stammbelegschaft hat jetzt nach spätestens
9 Monaten zu erfolgen, und beim Abschluss von Werk-
verträgen ist in Zukunft der Betriebsrat zu informieren.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Mitbestimmen müssen sie! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich für die SPD bei der Leiharbeit!)


Es ist die gemeinsame Überzeugung von CDU, CSU
und SPD, dass derjenige, der voll arbeitet, mehr haben
muss, als wenn er nicht arbeitet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Niemand, der ein Herz hat, ist deshalb schnell bei der
Hand damit, das Instrument eines Mindestlohns rund-
weg abzulehnen. Doch jeder, der ein Herz hat, muss aber
genauso sicherstellen,


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nicht nur Herz, sondern auch Verstand!)


dass der so nachvollziehbare Wunsch nach würdiger Be-
zahlung nicht Menschen, die heute Arbeit haben, in die
Arbeitslosigkeit führt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit Herz zu tun?)


Die Koalitionsverhandlungen um einen gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 haben alle
Facetten dieses Dilemmas behandelt. Das Ergebnis ist
ein Kompromiss, bei dem – das sage ich aus voller Über-
zeugung – die Vorteile die Nachteile überwiegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Mindestlohn von 8,50 Euro wird ab Anfang 2015
gelten. Allerdings haben wir vereinbart, dass Tarifver-
träge, die mit einer Lohnuntergrenze von weniger als
8,50 Euro vereinbart wurden, bis Ende 2016 weitergel-
ten können. Im Laufe dieses Jahres können solche Tarif-
verträge noch abgeschlossen werden. Ich sage ganz aus-
drücklich: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben damit
alle Freiheit und Möglichkeit, genau davon dort Ge-
brauch zu machen, wo immer dies zum Erhalt von Ar-
beitsplätzen notwendig ist.

Derartige Tarifverträge können in Zukunft in einem
vereinfachten Verfahren für allgemeinverbindlich erklärt
werden, da sie im öffentlichen Interesse sind. Dadurch
wird im Übrigen auch die Tarifpartnerschaft, ein We-
sensmerkmal der sozialen Marktwirtschaft, wieder ge-
stärkt, und sie muss in einigen Bereichen gestärkt wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Eine starke soziale Marktwirtschaft braucht interna-
tional wettbewerbsfähige Unternehmen. Wir wissen aus
unseren Erfahrungen, dass das besonders gut funktio-
niert, wenn Frauen und Männer gleiche Chancen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deshalb werden wir für Aufsichtsräte von voll mitbe-
stimmungspflichtigen und börsennotierten Unterneh-
men, die ab 2016 neu besetzt werden, eine Quote von
mindestens 30 Prozent Frauen einführen. Jahrelanges
gutes Zureden hat nicht geholfen. Deshalb müssen wir
diesen Schritt jetzt gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Freude bei den Kollegen! – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist irgendwie Unruhe in Ihrer Koalition! Ich weiß nicht, warum!)


– Nein, große Vorfreude.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, unsere sozialen Siche-
rungssysteme gehören zu den besten der Welt. Damit
dies auch in Zukunft so bleibt, müssen sie sowohl den
Erwartungen der heutigen Generation als auch den An-
forderungen zukünftiger Generationen entsprechen. Sie
müssen also der demografischen Entwicklung unseres
Landes standhalten. Diesem Ziel dient die schrittweise
Einführung der Rente mit 67 bis zum Jahr 2029. Heute
haben bereits deutlich mehr Menschen im Alter zwi-
schen 55 und 65 Jahren eine Chance auf dem Arbeits-
markt als noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklung
muss fortgesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dennoch – das sollten wir nicht vergessen – haben
wir bei der Einführung der Rente mit 67 bereits diejeni-
gen vom Anstieg der Lebensarbeitszeit ausgenommen,
die 45 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung ge-
zahlt haben. Diese Regelung werden wir jetzt modifizie-
ren. Wir werden für Menschen mit 45 Beitragsjahren
inklusive des Bezugs von Arbeitslosengeld I eine ab-
schlagsfreie Rente mit 63 Jahren, aufwachsend dann bis
Anfang der 30er-Jahre auf 65 Jahre, einführen. Ich füge
hinzu: In der Zwischenzeit müssen wir dafür Sorge tra-
gen, dass sich auch die Beschäftigungschancen langjäh-
rig Beschäftigter weiter deutlich verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen im Übrigen nicht länger die Augen davor
verschließen, dass viele Frauen eine gerechte Anerken-
nung der Leistungen für die Erziehung der Kinder an-
mahnen. Wie ist die Lage heute? Heute werden für die





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

nach 1992 geborenen Kinder drei Jahre im Rentenrecht
anerkannt, für die davor geborenen Kinder nur ein Jahr.
Das ist in den Augen vieler nicht gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt ih-
res Handelns stellt, muss und will das verändern. Wir ha-
ben in den letzten Jahren große Anstrengungen für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf unternommen: den
Ausbau der Kitaplätze, verbesserte Möglichkeiten für
flexible Arbeitszeiten, die Einführung des Elterngelds
mit Vätermonaten. In dieser Legislaturperiode werden
wir die Teilzeitarbeit der Eltern durch das ElterngeldPlus
erleichtern und den Ausbau der Kitaplätze fortsetzen.
Mütter, die vor 1992 ihre Kinder geboren haben, hatten
nicht annähernd so gute Bedingungen für die Vereinbar-
keit von Beruf und Familie. Deshalb wollen wir diesen
Müttern, über 9 Millionen Frauen, im Rentenrecht we-
nigstens ein Jahr mehr für die Anerkennung ihrer Erzie-
hungsleistung anrechnen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wegen der guten Beschäftigungssituation kann die
Rentenversicherung diese Aufgabe zurzeit erfüllen. Wir
wissen aber: Mittelfristig werden wir einen Teil durch
weitere Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt ergän-
zen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Außerdem werden wir die Renten im Falle von Er-
werbsunfähigkeit verbessern. Das ist unerlässlich. Denn
Erwerbsunfähigkeit ist heute eine der Hauptursachen für
Altersarmut. Sie wissen: Wir haben heute genau dieses
Gesetzespaket auf den Weg gebracht und zur parlamen-
tarischen Beratung überwiesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich vor
allem an ihrem Umgang mit Schwachen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie zeigt sich in den Situationen, in denen Menschen auf
Schutz und Hilfe angewiesen sind: wenn sie alt sind und
wenn sie krank sind. Der medizinische Fortschritt er-
möglicht immer neue Heilungs- und Behandlungsmög-
lichkeiten. Unsere Lebenserwartung steigt stetig an, und
gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Pflege an-
gewiesen. Jeder muss die medizinische Versorgung be-
kommen, die er braucht, und jeder Mensch muss in
Würde sterben können. Das sind die zentralen Aufgaben
der Politik für unser Gesundheits- und Pflegesystem.

Die Bundesregierung will dafür Sorge tragen, dass die
medizinische Versorgung verbessert wird, insbesondere
bei der Versorgung mit Fachärzten. Jeder muss schnell
und gut behandelt werden. Die hohe Qualität unserer
medizinischen Versorgung muss auch in Zukunft gerade
im ländlichen Raum gesichert werden. Dabei spielt die
Entwicklung der Telemedizin im Übrigen eine zentrale
Rolle.
Für die Pflege werden wir die Leistungen in den
nächsten vier Jahren um insgesamt 25 Prozent gegen-
über heute steigern. Die zusätzlichen Mittel werden wir
insbesondere erstens für die Verbesserung der pflegeri-
schen Leistungen einsetzen – dabei werden wir gleich-
zeitig die Bürokratie mindern –, zweitens für eine bes-
sere Ausbildung und Bezahlung der Pflegekräfte nutzen,
um den vielerorts herrschenden Pflegenotstand abzu-
bauen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


und drittens für den Aufbau einer demografischen Re-
serve verwenden, um zukünftige Generationen vor zu
hohen Belastungen zu schützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch werden wir Hospize und die Palliativmedizin stär-
ken.

Doch bei allem dürfen wir zu keiner Zeit vergessen:
Immer noch leisten Familienangehörige die meiste Pfle-
gearbeit. Sie gehen dabei oft bis an die Grenzen ihrer
Kräfte, nicht selten darüber hinaus. Sie sind die stillen
Helden unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das zeigt einmal mehr: Die Familien sind das Herzstück
unserer Gesellschaft. Deshalb arbeiten wir für verlässli-
che und gute Rahmenbedingungen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Ver-
änderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft garan-
tieren auf Dauer nur Investitionen in Forschung und Bil-
dung die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unseres
Landes im globalen Wettbewerb. Wir müssen in vielen
Bereichen zu den Besten der Welt gehören. Deshalb in-
vestieren wir 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in
Forschung und Entwicklung und gehören damit in
Europa, allerdings nicht unbedingt immer weltweit, zu
den führenden Ländern.

Unsere Hightech-Strategie setzt Maßstäbe für die
Spitzenforschung. Der Bund will seinen Anteil von
3 Prozent für die Forschung auch in den nächsten Jahren
halten. Der Bund wird aber zusätzlich auch die Länder
entlasten, indem wir den Aufwuchs bei den Mitteln für
die außeruniversitäre Forschung voll übernehmen, also
auch den Länderanteil, und uns erstmalig auch an der
Grundfinanzierung der Universitäten beteiligen werden,
um den Abstand zwischen außeruniversitärer Forschung
und universitärer Bildung und Forschung nicht zu groß
werden zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die ein Hoch-
schulstudium aufnehmen, auf über 50 Prozent gestiegen.
Das ist erfreulich. Aber die Bundesregierung wird in die-
ser Legislaturperiode gerade auch der anderen Säule un-
seres Bildungssystems, der dualen Berufsausbildung, be-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

sonderes Augenmerk zukommen lassen. Sie ist ein
Markenzeichen unserer sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen den Ausbildungspakt zu einem Pakt für
Aus- und Weiterbildung fortentwickeln, an dem sich ne-
ben den Arbeitgebern in Zukunft auch die Gewerkschaf-
ten wieder beteiligen sollen. Ohne hervorragend ausge-
bildete Menschen ist Deutschland kein wirtschaftlich
starkes Land.

In den nächsten Jahren werden immer weniger junge
Menschen in Deutschland ins Berufsleben eintreten. Das
heißt, wir müssen jedem jungen Menschen die Chance
auf eine gute Bildung sichern. Das beginnt beim Ausbau
der Kindertagesstätten, an dem der Bund sich weiter be-
teiligen wird. Das setzt sich fort mit unserer Initiative
„Chance Beruf“, die der Bund zu einem flächendecken-
den Angebot ausweiten will. Wir führen den Hochschul-
pakt fort. Studienabbrecher bekommen in Zukunft die
Chance, auch eine duale Berufsausbildung zu machen.
Junge Menschen über 25, die noch keine abgeschlossene
Berufsausbildung haben, sollen eine zweite Chance be-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dies ist auch eine zentrale Aufgabe unserer Integra-
tionspolitik. Auf dem Integrationsgipfel in diesem Jahr
– so haben wir es besprochen – werden wir uns schwer-
punktmäßig mit der Ausbildung von Migrantinnen und
Migranten befassen. Auch werden wir jungen Menschen
mit Migrationshintergrund unser Willkommen in Deutsch-
land dadurch verdeutlichen, dass wir bei der Staatsbür-
gerschaft die Optionspflicht für in Deutschland geborene
und aufgewachsene Jugendliche abschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es ist im Übrigen ein Gebot unserer sozialen Markt-
wirtschaft, dass gerade die Jüngeren der ja immer noch
fast 3 Millionen Arbeitslosen eine berufliche Perspek-
tive bekommen; denn wenn sie das in jungen Jahren
nicht bekommen, wird es über Jahrzehnte schwierig für
sie. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass es
mir schon Sorge bereitet, dass die Zahl der Langzeitar-
beitslosen wieder steigt. Dem müssen wir zusammen mit
der Bundesagentur für Arbeit entgegenwirken. Der Bund
verwendet jährlich mehr als 30 Milliarden Euro für die
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder hier
nicht benötigte Euro kann für Zukunftsprojekte verwen-
det werden.

Zusätzlich müssen wir natürlich weiter offen für
Fachkräfte aus dem Ausland sein. Deutschland wird die
Möglichkeiten nutzen und nutzen müssen, die die Frei-
zügigkeit in Europa bietet.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie denn zur CSU?)


– Deutschland wird die Möglichkeiten nutzen, die die
Freizügigkeit in Europa bietet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dennoch – auch das gehört hierher – dürfen wir die Au-
gen vor ihrem möglichen Missbrauch nicht verschließen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es bedarf einer Klärung, wer aus dem europäischen Aus-
land unter welchen Bedingungen Anspruch auf Sozial-
leistungen hat. Angesichts völlig unterschiedlicher So-
zialsysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union darf es durch das Prinzip der Freizügigkeit nicht
zu einer faktischen Einwanderung in die Sozialsysteme
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch gar nicht! Die Sozialsysteme profitieren doch davon!)


Ob sich hier aus der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs nationaler oder europäischer Handlungsbe-
darf ergibt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Dies ist
aber auch nicht auszuschließen, weil deutsche Gerichte
Vorlagen in dieser Sache an den Europäischen Gerichts-
hof gegeben haben. Deshalb hat die Bundesregierung ei-
nen Staatssekretärsausschuss unter Federführung des
Innen- und des Sozialministeriums gebildet, der die offe-
nen Fragen klären wird und mit heute schon besonders
betroffenen Kommunen Hilfsmöglichkeiten des Bundes
bespricht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Als Land in der Mitte Europas ist Deutschland auf
eine funktionierende Infrastruktur zwingend angewie-
sen. Wir haben entschieden, das Verkehrsministerium zu
einem Infrastrukturministerium auszubauen. Wir werden
in die klassischen Verkehrsstrukturen allein aus Bundes-
mitteln bis 2017 5 Milliarden Euro mehr investieren.
Wir werden die streckenbezogene Nutzungsgebühr für
Lkw ausweiten. Für ausländische Pkw werden wir eine
Gebühr auf Autobahnen einführen, ohne dass der deut-
sche Fahrzeughalter stärker als heute belastet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht doch gar nicht!)


– Warten Sie es doch einfach mal ab!


(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Merkel hat gesagt: Mit mir kommt eine Maut nicht!)


Bis dahin gibt es doch auch noch eine Menge anderer
Sachen zu tun. Also wirklich!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden wir auch!)


– Einfach noch mal zuhören.

Erweitert werden die Zuständigkeiten des Verkehrs-
ministeriums um die Aufgaben der digitalen Infrastruk-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

tur. 2018 soll jeder Deutsche Zugang zum schnellen
Internet haben. Hier geht es nicht einfach um ein techni-
sches Ziel, hier geht es gerade für Menschen im ländli-
chen Raum um gleichwertige Chancen zur Teilhabe an
Bildung, medizinischer Versorgung und wirtschaftlicher
Tätigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dazu werden wir alle Kräfte zum Netzausbau in einer
Netzallianz bündeln. Die europäischen und internationa-
len Investitionsbedingungen müssen verbessert werden.
Dies ist unerlässlich, wenn wir uns klarmachen, welch
technologischer Unterschied schon heute in vielen Be-
reichen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika,
asiatischen Ländern und Europa besteht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir spüren immer
mehr, welch tiefgreifendem Wandel unsere Gesellschaft
durch die Digitalisierung ausgesetzt ist. Bildung, Ausbil-
dung, der Arbeitsalltag, die industrielle Produktion ver-
ändern sich. Informationen aus der ganzen Welt sind in
Sekunden verfügbar. Die Kommunikation der Menschen
ist schier grenzenlos. Daten über jeden Einzelnen kön-
nen in beliebigem Umfang gespeichert werden. Wir wol-
len, dass das Internet eine Verheißung bleibt; deshalb
wollen wir es schützen.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Ja, wir wollen, dass es für die Menschen, so wie es
heute viele erleben, eine Verheißung bleibt.

Allerdings heißt das: Wir wollen es schützen vor Zer-
störung von innen durch kriminellen Missbrauch und
durch intransparente, allumfassende Kontrolle von au-
ßen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der bisherige rechtliche Rahmen für eine vernünftige
Balance von Freiheit und Sicherheit – das ist offensicht-
lich geworden – reicht nicht mehr aus. Einen internatio-
nalen Rechtsrahmen gibt es noch nicht. Das heißt, wir
betreten Neuland.


(Lachen bei der LINKEN)


Jeder Einzelne von uns ist davon betroffen.

Deshalb wird die Bundesregierung in diesem Jahr un-
ter der gemeinsamen Federführung des Innen-, des Wirt-
schafts- und des Infrastrukturministeriums eine digitale
Agenda erstellen und im Laufe der Legislaturperiode
umsetzen. Wir arbeiten an einer europäischen Daten-
schutzgrundverordnung mit Hochdruck. Aber wir achten
dabei sehr darauf, dass der deutsche Datenschutz durch
die Vereinheitlichung des europäischen Datenschutzes
nicht unverhältnismäßig geschwächt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Mit großer Wucht sind wir vor einem halben Jahr
durch Informationen von Edward Snowden über die Ar-
beitsweise der amerikanischen Nachrichtendienste mit
Fragen der Datensicherheit konfrontiert worden. Nie-
mand, der politische Verantwortung trägt, kann ernsthaft
bestreiten, dass die Arbeit der Nachrichtendienste für
unsere Sicherheit, für den Schutz unserer Bürgerinnen
und Bürger unverzichtbar ist. Niemand, der politische
Verantwortung trägt, kann ernsthaft bestreiten, dass die
Arbeit der Nachrichtendienste im Zeitalter asymmetri-
scher Bedrohung, für die der 11. September exempla-
risch steht, noch wichtiger als ohnehin schon geworden
ist. Gerade um diese Gefahren bannen zu können, ist
nicht nur die Arbeit unserer eigenen Dienste von großer
Bedeutung für uns, sondern ebenso die Zusammenarbeit
mit Nachrichtendiensten unserer Verbündeten und Part-
ner.

Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass wir
gerade unseren amerikanischen Partnern wertvolle Infor-
mationen verdanken. Umgekehrt leisten innerhalb dieser
internationalen Kooperation auch unsere eigenen
Dienste wertvolle Beiträge. Das Parlamentarische Kon-
trollgremium wird jeweils darüber unterrichtet. Aber
niemand, der politische Verantwortung trägt, kann auch
ernsthaft bestreiten, dass das, was wir seit einem halben
Jahr über die Arbeit insbesondere der amerikanischen
Nachrichtendienste zur Kenntnis nehmen müssen, ganz
grundsätzliche Fragen aufwirft.

Es geht um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es
geht darum, in welchem Verhältnis zur Gefahr die Mittel
stehen, die wir dann wählen, um dieser Gefahr zu begeg-
nen. Die Bundesregierung trägt Verantwortung für den
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Anschlägen
und Kriminalität, und sie trägt Verantwortung für den
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen
auf ihre Privatsphäre. Sie trägt Verantwortung für unsere
Freiheit und Sicherheit. Seit jeher stehen Freiheit und Si-
cherheit in einem gewissen Konflikt zueinander. Sie
müssen durch Recht und Gesetz immer wieder in der Ba-
lance gehalten werden.

Wir kennen das in Deutschland ja zu gut aus unseren
langen Diskussionen um Wohnraumüberwachung und
Vorratsdatenspeicherung. Kann es also richtig sein, dass
unsere engsten Partner wie die Vereinigten Staaten von
Amerika oder Großbritannien sich Zugang zu allen
denkbaren Daten mit der Begründung verschaffen, dies
diene der eigenen Sicherheit und der Sicherheit der Part-
ner? Wir hätten also auch etwas davon. Kann es richtig
sein, dass man auch deshalb so handele, weil andere auf
der Welt es genauso machten? Kann es richtig sein,
wenn es zum Schluss gar nicht mehr allein um die Ab-
wehr terroristischer Gefahren geht, sondern darum, sich
auch gegenüber Verbündeten, zum Beispiel für Verhand-
lungen bei G-20-Gipfeln oder UN-Sitzungen, Vorteile zu
verschaffen – Vorteile, die nach meiner jahrelangen Er-
fahrung sowieso völlig zu vernachlässigen sind?


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Unsere Antwort kann nur lauten: Nein, das kann nicht
richtig sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Denn es berührt den Kern dessen, was die Zusammen-
arbeit befreundeter und verbündeter Staaten ausmacht:
Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für Frieden und
Freundschaft zwischen den Völkern. Vertrauen ist erst





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeter
Staaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel
heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch
gemacht wird, verletzt Vertrauen; es sät Misstrauen. Am
Ende gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Darüber reden wir mit den Vereinigten Staaten von
Amerika. Ich bin überzeugt, dass Freunde und Verbün-
dete in der Lage und willens sein müssen, Grundsätze ih-
rer Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Abwehr
von Bedrohungen zu vereinbaren, und zwar in ihrem je-
weils eigenen Interesse.

Die Vorstellungen sind heute weit auseinander. Viele
sagen, die Versuche für eine solche Vereinbarung seien
von vornherein zum Scheitern verurteilt, ein unrealisti-
sches Unterfangen. Mag sein. Mit Sicherheit wird das
Problem nicht schon durch eine Reise von mir gelöst
und abgeschlossen sein.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh, das ist aber schade!)


Mit Sicherheit wäre auch der Abbruch von Gesprächen
in anderen Bereichen, wie etwa denen über ein transat-
lantisches Freihandelsabkommen, nicht wirklich hilf-
reich. Auch andere sogenannte Hebel, wie es in diesen
Tagen so oft heißt, die Amerika zum Umdenken zwin-
gen könnten, gibt es nach meiner Auffassung nicht.
Trotzhaltungen haben im Übrigen noch nie zum Erfolg
geführt.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Ich führe – und das mit allem Nachdruck – diese Gesprä-
che mit der Kraft unserer Argumente, nicht mehr und
nicht weniger. Aber ich glaube, wir haben davon gute.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Weg ist lang; aber lohnend ist er allemal. Denn
die Möglichkeiten der digitalen Rundumerfassung der
Menschen berühren unser Leben im Kern. Es handelt
sich deshalb um eine ethische Aufgabe, die weit über die
sicherheitspolitische Komponente hinausweist. Milliar-
den Menschen, die in undemokratischen Staaten leben,
schauen heute sehr genau, wie die demokratische Welt
auf Bedrohungen ihrer Sicherheit reagiert, ob sie in sou-
veräner Selbstsicherheit umsichtig handelt oder ob sie an
jenem Ast sägt, der sie in den Augen genau dieser Mil-
liarden Menschen so attraktiv macht – an der Freiheit
und der Würde des einzelnen Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Doch bei allen Konflikten, bei allen Enttäuschungen,
bei allen Interessenunterschieden werde ich wieder und
wieder deutlich machen: Deutschland kann sich keinen
besseren Partner wünschen als die Vereinigten Staaten
von Amerika. Die deutsch-amerikanische und die trans-
atlantische Partnerschaft sind und bleiben für uns von
überragender Bedeutung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zusammen sind wir in Afghanistan im Einsatz.
Deutschland ist bereit, sich auch nach 2014 an der Aus-
bildung der Sicherheitskräfte und am wirtschaftlichen
Aufbau des Landes zu beteiligen. Voraussetzung ist, dass
Präsident Karzai – das sage ich allerdings mit allem
Nachdruck; ich habe es neulich auch persönlich dem
Präsidenten gesagt – das Sicherheitsabkommen mit den
USA und der NATO unterzeichnet.

Deutschland beteiligt sich an Einsätzen im Kosovo,
vor den Küsten Somalias und des Libanon oder in Mali.
Das Mandat in Mali zur Ausbildung malischer Sicher-
heitskräfte wollen wir nicht nur fortsetzen, sondern auch
verstärken.

Hinzu kommt die Frage, wie Deutschland seinen Ver-
bündeten Frankreich gegebenenfalls bei der europäischen
Überbrückungsmission in der Zentralafrikanischen Repu-
blik unterstützen kann; ich sage: gegebenenfalls. Hierbei
geht es nicht um einen deutschen Kampfeinsatz, sondern
allenfalls um unsere Fähigkeit zur Rettung und Behand-
lung Verwundeter.

Immer gilt: Kein Konflikt kann allein militärisch ge-
löst werden. Das leitet die Bundesregierung. Deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik setzt auf die Vernetzung
militärischer und ziviler Mittel, und darin sehen wir uns
in den letzten Jahren noch mehr bestärkt.

2015 übernimmt Deutschland die G-8-Präsidentschaft.
In dem Jahr werden die Vereinten Nationen neue Ent-
wicklungsziele festlegen. Unsere Präsidentschaft wird
deshalb auch im Zeichen dieser Neuausrichtung der Ent-
wicklungsziele stehen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, nicht Parti-
kularinteressen stehen im Mittelpunkt unseres Handelns,
sondern der Mensch steht im Mittelpunkt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Seit wann?)


Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft. Damit
setzen wir auf solide Finanzen, Investitionen in die Zu-
kunft, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammen-
halts und Deutschlands Fähigkeit, Verantwortung in
Europa und der Welt zu übernehmen – für unsere Werte
und für unsere Interessen und in dem Bewusstsein, dass
sie sich weltweit stets aufs Neue behaupten müssen.

Es ist in diesem Jahr 100 Jahre her, dass der Erste
Weltkrieg ausbrach. Er war die erste große Katastrophe
des 20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte:
der Zivilisationsbruch der Schoah und der Beginn des
Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.

Die anschließend folgende europäische Einigung, die
uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, er-
scheint aus dieser Perspektive wie ein Wunder. Wir le-
ben heute in einer politischen Ordnung, in der nicht wie
vor 100 Jahren wenige in geheimer Diplomatie die Ge-
schicke Europas bestimmen, sondern in der alle 28 Mit-
gliedstaaten gleichberechtigt und im Zusammenwirken
mit den europäischen Institutionen die Dinge zum Wohl





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam gestalten. Das
Europäische Parlament, das gut 375 Millionen Men-
schen im Mai neu wählen werden, und die nationalen
Parlamente sorgen für die notwendige demokratische
Legitimität und Öffentlichkeit.

Vor 65 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland
gegründet. Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Vor 10 Jahren
erlebten wir den Beginn der EU-Osterweiterung. Weitere
Grenzen in Europa konnten abgebaut werden. Wir Deut-
schen und wir Europäer, wir sind heute zu unserem
Glück vereint.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die neue Bundesregierung will dazu beitragen, dieses
Glück zu schützen und zu wahren, indem wir die Quel-
len guten Lebens allen zugänglich machen: Freiheit,
politische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche
Stärke, Gerechtigkeit. Das ist unser Auftrag, und dafür
bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.

Herzlichen Dank.


(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Anhaltender Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000200

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, bevor ich die

Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen – sicher im Na-
men aller Mitglieder des Hauses – eine baldige und voll-
ständige Genesung von Ihrer Verletzung wünschen.


(Beifall)


Da das sicher alle nachfolgenden Redner gleich als Ein-
stieg hatten vortragen wollen, spart es diesen bei ihrer
knapp bemessenen Redezeit einige wichtige Sekunden,


(Heiterkeit)


beispielsweise dem Vorsitzenden der Fraktion Die
Linke, dem ich in der nun eröffneten Aussprache als Ers-
tem das Wort erteile.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801000300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,

dass ich außerhalb meiner Redezeit doch noch einen
Satz dazu sagen darf.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Kanzlerin, ich hatte im letzten Jahr auch einen Ski-
unfall. Wir müssen einfach beide lernen, altersgerecht
Sport zu treiben.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber uncharmant, mein lieber Gregor Gysi! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ganz schlechter Einstieg!)


– Wir werden das hinbekommen.
Aber nun zum Ernst der Lage und damit zu Ihrer Re-
gierungserklärung: Sie haben eine Erklärung abgegeben,
die in weiten Teilen mit der Realität nichts, aber auch gar
nichts zu tun hatte.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir in diesem Jahr den 100. Jahrestag des Beginns des
Ersten Weltkrieges, den 75. Jahrestag des Beginns des
Zweiten Weltkrieges begehen. Deshalb begreife ich
nicht, weshalb auch diese Regierung derart militärisch
denkt und handelt. Frau von der Leyen hat gesagt: Es ge-
schähen ja Mord und Vergewaltigung; darum müsse die
Bundeswehr nach Afrika marschieren. – Ich bitte Sie:
Wenn das das Ziel ist, dann müssten wir die Bundeswehr
ja weltweit einsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber nicht nur darum geht es. Es geht um etwas ganz
anderes. Wenn es Ihnen wirklich um die Bekämpfung
von Not geht, sollten Sie sich eine Zahl vor Augen füh-
ren: Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Men-
schen, davon 18 Millionen an Hunger und den Folgen
von Hunger. Da sterben Millionen Kinder, Millionen
Frauen. Ich habe noch nie von Ihnen, Frau Bundeskanz-
lerin, oder von Ihnen, Frau von der Leyen, oder von Ih-
nen, Herr Gabriel, gehört, dass Sie sagen: Das ist die
Not, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen sofort da
hin und etwas unternehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nur wenn geschossen wird, dann soll die Bundeswehr
mitschießen. Das ist doch wirklich überhaupt kein Argu-
ment. Ich kann es wirklich nicht verstehen.

Die Hilfe, die wir weltweit gegen Hunger leisten, ge-
rade auch in Afrika, ist sehr, sehr gering, viel zu gering.
Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen – ich
muss es Ihnen sagen – töten zum Teil, und sie werden
zum Teil auch getötet; das ist schlimm genug. Wenn sie
dann zurückkommen, kommen sie zum Teil auch krank
zurück. Ein Drittel aller Soldatinnen und Soldaten sind
psychisch gestört. Das militärische Vorgehen, der Krieg,
ist der falsche Weg. Die Probleme der Menschheit müs-
sen wir gänzlich anders lösen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben über NSA gesprochen. Nun wissen wir ja
dank Snowden, dass 80 Prozent aller Übermittlungen per
Internet, Handy, SMS, über soziale Netzwerke wie Face-
book und Twitter abgehört und kontrolliert werden. Sie,
Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt, Sie arbeiteten mit
der Kraft der Argumente. Ich sage Ihnen: Das ist deut-
lich zu wenig! – Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegen-
über den USA nicht aufgeben, gibt es keine Partner-
schaft und keine Freundschaft. Diese erzeugt vielmehr
genau das Gegenteil davon.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Grundgesetz ist doch der Schutz der Privatsphäre
geregelt. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung. Sie haben einen Eid geleistet, die Bevölke-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

rung zu schützen. Wo bleibt denn hier der Schutz? Indem
man nur mit der US-Regierung redet, geht es nicht weiter.
Warum weisen Sie nicht Leute, die aus den Botschaften
heraus Spionage betreiben, aus unserem Land aus?


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann wäre die russische Botschaft leer!)


Warum werden von der Bundesanwaltschaft keine Er-
mittlungsverfahren eingeleitet, obwohl Straftaten began-
gen worden sind? Wieso gilt hier zweierlei Recht? Auch
das ist nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun kommt noch eines hinzu. Präsident Obama hat ja
erklärt, dass die Staats- und Regierungschefs befreunde-
ter Staaten nicht mehr abgehört werden. Das ist ein
Schutz für Herrn Gauck und für Frau Merkel. Was ist
aber mit den 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-
nern dieses Landes? Für diese tragen Sie eine Verant-
wortung!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt kommt etwas Neues. Herr Snowden hat erklärt –
das haben wir übrigens von Anfang an gesagt –, dass na-
türlich auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Dazu
haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, kein Wort gesagt. Von
Anfang an haben wir gesagt, dass auch Wirtschaftsspio-
nage betrieben wird. Jetzt ist es die Linke, die allein die
Unternehmen schützen muss. So weit ist es inzwischen
in dieser Gesellschaft gekommen.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


– Ja, machen Sie denn etwas dagegen, dass die Unter-
nehmen ausspioniert werden? Nein, die Einzigen, die
sich wirklich dagegen wenden, sind wir.

Sie haben über Europa gesprochen. Europa und die
Europäische Union sind wichtig. Der Frieden zwischen
den Mitgliedsländern ist etwas, was erst jetzt zur Realität
geworden ist. Frühere Jahrhunderte waren völlig anders
geprägt. Aber wenn wir die Europäische Union wollen,
dann müssen wir erreichen, dass die Menschen sie als
Hort des Friedens, der Demokratie und des sozialen
Wohlstands wahrnehmen können. Was macht die EU
stattdessen? Sie fasst Aufrüstungs- und Militärbeschlüsse.
Zwei Banker werden ohne Volkswahlen einfach zu Mi-
nisterpräsidenten gemacht, so in Griechenland und in
Italien. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. In Grie-
chenland haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von über
60 Prozent, in Spanien von über 50 Prozent. Und das al-
les auch auf Druck der vorherigen Bundesregierung!

Herr Steinmeier, als Sie noch in der Opposition wa-
ren, haben Sie an diesem Pult die Sparpolitik im Hin-
blick auf Griechenland kritisiert. Jetzt fahren Sie als Au-
ßenminister nach Griechenland und sagen, sie müssten
so weitermachen wie bisher. Das heißt, es soll bei die-
sem Sozialabbau bleiben. Das ist antieuropäisch, aber es
ist nicht antieuropäisch, wenn man soziale Gerechtigkeit
für Europa fordert.


(Beifall bei der LINKEN)

Ich will auch folgenden Zusammenhang erwähnen:
Wir stellen in Deutschland doppelt so viel her, wie wir
benötigen. Also sind wir auf den Export angewiesen.
Aber das bedeutet, dass andere Länder weniger herstel-
len müssen, als sie benötigen. Um unsere Waren zu kau-
fen, brauchen diese Länder Geld. Dafür machen sie
Schulden. Nun werfen wir ihnen die Schulden vor, nach-
dem wir an unseren Waren so viel verdient haben.

SPD und Grüne sind damals mit der Agenda 2010 ei-
nen bestimmten Weg gegangen. Man hat einen Niedrig-
lohnsektor eingeführt, übrigens der größte in Europa.
Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz
Europa. Sie haben die prekäre Beschäftigung eingeführt.
Wir hatten sinkende Reallöhne und Realrenten. Dadurch
wurde alles billiger, und dadurch hat der Export zuge-
nommen. Wann begreifen wir denn endlich, dass wir ei-
nen umgekehrten Weg gehen müssen? Wir müssen einen
Ausgleich im Außenhandel herstellen. So etwas gelingt
nur, wenn wir höhere Renten, höhere Löhne, höhere So-
zialleistungen haben und wenn wir endlich die Binnen-
wirtschaft durch höhere Kaufkraft stärken. Das ist der
Weg, den wir gehen müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt treiben Sie den Sozialabbau im Süden Europas
voran. Eines Tages kann es passieren, dass unser Export
stark beeinträchtigt wird, weil der Süden Europas unsere
Waren nicht mehr bezahlen kann. Die Steuereinnahmen
sind dort ebenfalls rückläufig. Was machen Sie dann?
Fordern Sie dann eine neue Agenda 2010? Wollen Sie,
um noch etwas verkaufen zu können, dass die Sozialleis-
tungen weiter gesenkt werden? Es wäre verheerend. Wir
müssen heraus aus diesem Kreislauf.

Das Ungerechteste in der Euro-Zone ist folgende Tat-
sache: Alle Millionäre der Euro-Zone besitzen ein Geld-
vermögen – ich rede nicht von Immobilien und Unter-
nehmen, sondern nur vom Geldvermögen –, das größer
ist als die Staatsschulden der Euro-Staaten. Das ist die
eigentliche Ursache. Aber Sie trauen sich nicht an die
geringste Umverteilung heran. Das wird das Problem
dieser Bundesregierung werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Gabriel, Sie haben gesagt, die Linke sei europa-
feindlich. Sie schauen in die ganz falsche Richtung.
Schauen Sie einmal in Richtung Regierungsbank. Dort
sitzt die CSU. Sie warnt vor Rumäninnen und Rumänen,
vor Bulgarinnen und Bulgaren, vor Armutsmigration etc.
Das ist europafeindlich, und nicht die Linke, die mehr
soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Frie-
den fordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Umverteilung, zu Armut und Reichtum. Es gibt
eine neue Statistik von Oxfam. Da hat sich Folgendes
herausgestellt: Die reichsten 85 Menschen der Erde be-
sitzen genauso viel wie die finanziell untere Hälfte der
Menschheit. Das heißt, 85 Menschen haben das gleiche
Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen. Daran, Frau
Merkel, wollen Sie nichts ändern? Sie haben es noch nie
kritisiert. Das machen Sie und auch die SPD einfach





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

mit? Wir haben weltweit eine große Verteilungsunge-
rechtigkeit. Ich sage Ihnen, dass eine so extreme Vertei-
lungsungerechtigkeit zu Verteilungskriegen führt, die
wir zum Teil schon erleben.

Wie sieht es in Deutschland aus? In unserem Land
sieht es nicht viel besser aus. Die finanziell untere Hälfte
unserer Bevölkerung – also 40 Millionen – besitzen 1 Pro-
zent des Vermögens – 1 Prozent! 0,65 Prozent besitzen
20 Prozent des Vermögens, nämlich 2 Billionen Euro.
Das ist eine so große Ungerechtigkeit. Und da wollen
Sie noch nicht einmal eine ganz geringe Steuererhöhung,
kein bisschen Steuergerechtigkeit? Es soll dabei bleiben,
dass die Mitte der Gesellschaft alles bezahlt? Das sind
die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, das sind die An-
gestellten, das sind auch die Handwerkerinnen und
Handwerker, die Mittelständler und die Selbstständigen.
Sie alle sollen für die Gesellschaft zahlen, nur weil Sie
sich nicht heranwagen an das Vermögen, an die Bestver-
dienenden und an die Leute, die wirklich viel zu viel
Geld haben.

Im Übrigen weiß ich, was Banker zum Teil verdienen;
es ist – selbst wenn sie fleißig sind – völlig überzogen.
Auch deren Tag hat nur 24 Stunden, und 8 Stunden müs-
sen sie noch schlafen. – Damit wir uns nicht missverste-
hen: Ich will keinen gleichen Lohn für alle. Ich möchte
schon, dass es Unterschiede gibt, aber sie müssen nach-
vollziehbar sein. Es ist maßlos geworden, und Sie gehen
an dieses Problem nicht heran.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen endlich den Mindestlohn einführen, was
ich sehr begrüße. Es wird auch höchste Zeit. Jahrelang
haben wir dafür gekämpft. Aber jetzt geht es um Aus-
nahmen. Nun hat sich herausgestellt: Wenn man die
Ausnahmen macht, die die CSU will, dann bedeutet das,
dass die Hälfte derjenigen, die heute unter ihrem gesetz-
lichen Mindestlohn verdienen, weiterhin unter dem
gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Wenn es einen ge-
setzlichen Mindestlohn geben soll, dann muss er flä-
chendeckend sein und keine Ausnahmen regeln.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Außerdem kommt er zu spät, und er ist zu niedrig.

Dann haben Sie geregelt – die Kanzlerin hat es auch
wieder betont –, dass bestehende Tarifverträge, die einen
geringeren Mindestlohn vorsehen, noch bis 2017 weiter-
gelten können. Die Regierung, auch die SPD, die Ge-
werkschaften und Herr Jörges vom Stern unterliegen hier
einem Irrtum. Sie glauben nämlich, das sei ein genialer
Trick: Dadurch werde man gezwungen, Tarifverträge ab-
zuschließen, und dann hätten wir sehr viel mehr Tarif-
verträge in Deutschland und der Tariflohn spiele dann
eine größere Rolle. Ich sage Ihnen: Das ist eine Illusion.
Die meisten Unternehmen machen dies nicht für die
zwei Jahre, weil sie wissen, dass sie dann auf lange Zeit
gebunden sind. Es ist immer schlau gedacht, aber es
kommt nichts dabei heraus, außer dass die Leute einen
geringeren Lohn beziehen, als sie es in jeder Hinsicht
verdient haben.

Wenn ich mir Ihre Änderungen hinsichtlich der prekä-
ren Beschäftigung ansehe: Mein Gott, Frau Merkel und
Frau Nahles! Sie sagen: Nach neun Monaten soll es ei-
nen Anspruch auf gleichen Lohn geben. Damit sagen Sie
den Unternehmen: Nach neun Monaten müsst ihr wech-
seln. Das ist alles, was Sie damit sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann sagen Sie: Nach 18 Monaten muss man sogar
einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
haben. Das heißt, nach spätestens 18 Monaten müssen
die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gewechselt wer-
den. Ich sage Ihnen: Die Unternehmer, die anständig
sind, machen es sowieso. Für diese brauchen wir es
nicht. Die anderen, die es nicht machen, werden es auch
dann nicht machen, sondern sie werden die Frist entspre-
chend beachten.

Was machen Sie gegen den Missbrauch der Werkver-
träge und gegen Dumpinglöhne? Sie sagen: Personal-
und Betriebsräte sind zu informieren, aber sie dürfen
nicht entscheiden. – Ich sage: Wir brauchen hier ein Mit-
bestimmungsrecht, damit sie das Ganze unterbinden
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun zur Rente. Sie ändern nichts an der Senkung des
Rentenniveaus, nichts an der Rente erst ab 67. Das wird
massiv zu Altersarmut führen. Das wissen Sie alle. Nun
haben Sie drei Änderungen geplant. Die eine sieht die
sogenannte Rente ab 63 abschlagsfrei vor, wenn man
45 Beitragsjahre hat. Erstens ist der Name „Rente ab 63“
falsch, weil Sie ja generell den Eintritt der Rente bis auf
67 verschieben und die Änderung nachher tatsächlich
bedeutet, dass man mit 65 Rente bekommt und nicht mit
63. Also streichen Sie die 63 und sagen, dass es Ihnen
um zwei Jahre geht.

Es wird zweitens so getan, als ob das eine grundle-
gende Änderung ist. Schon jetzt können Menschen mit
65 in Rente gehen, obwohl andere erst später in Rente
gehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre haben. Das
heißt, Sie helfen nur einem Teil der Bevölkerung und
auch nur vorübergehend. Dieser Teil ist übrigens sehr
männlich. Dies erreichen kaum Frauen. Das muss man
auch erwähnen. Dann machen Sie Folgendes: Sie sagen,
Zeiten mit ALG-I-Bezug sollen mit angerechnet werden,
weil auch Beiträge gezahlt werden. Aber wenn dann tat-
sächlich das Renteneintrittsalter 67 gilt und die Men-
schen dann 45 Beitragsjahre haben und mit 65 in Rente
gehen dürfen, dann gilt die heutige Regelung, bei der
Zeiten mit ALG-I-Bezug nicht mit einbezogen werden.
Auch das muss korrigiert werden. Aber diese Absicht
haben Sie nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Übrigens: In besseren Zeiten sind während des
ALG-II-Bezugs auch Beiträge bezahlt worden. Auch das
soll nicht anerkannt werden.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Dann komme ich zur Mütterrente – auch ein blöder
Name. Frau Merkel, Sie müssen mir eines erklären:
Wieso war es vor 1992 so viel leichter, Kinder aufzuzie-
hen, als nach 1992? Wenn es nicht so war, dann müssen
Sie mir mit Blick auf das Grundgesetz erklären, warum
diese Kinder weniger wert sind.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie verbessern die Stellung, aber Sie stellen nicht gleich.
Man bekommt jetzt für ein nach 1992 geborenes Kind
3 Rentenpunkte und für ein vor 1992 geborenes Kind
1 Rentenpunkt. Das wollen Sie auf 2 Rentenpunkte erhö-
hen. Mit anderen Worten: Sie lassen einen Unterschied.
Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Diese Rentenent-
geltpunkte unterscheiden sich nach Ost und West. Das
heißt, Frau Merkel, dass man im Osten für ein Kind ei-
nen geringeren Rentenzuschlag bekommt als im Westen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt schon so!)


– Ja, eben.


(Zurufe von der LINKEN)


Es ist jetzt schon ein Skandal, Herr Kauder. Und dass Sie
das im 24. Jahr der deutschen Einheit beibehalten und es
für die Zukunft so regeln, dass Kinder aus dem Osten
weniger wert sind als Kinder aus dem Westen, ist indis-
kutabel und grundgesetzwidrig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, Frau Merkel, können Sie dem Osten nicht erklären.

Dann planen Sie eine völlig falsche Finanzierung.
Also, ich bitte Sie! Sie wollen das Ganze über die Bei-
träge finanzieren; aber Kinder haben doch mit den Bei-
trägen nichts zu tun. Kinder sind doch eine Leistung für
die gesamte Gesellschaft. Und was kommt dabei heraus?
Die Verkäuferin im Bäckerladen, die Lidl-Kassiererin
und der Bäckermeister – also auch die Unternehmen –
bezahlen die sogenannte Mütterrente, und wir Bundes-
tagsabgeordnete beteiligen uns nicht mit einem halben
Euro daran, weil wir ja keine Beiträge in die gesetzliche
Rentenversicherung einzahlen. Indiskutabel! Es ist aus
Steuern zu bezahlen, damit es die gesamte Gesellschaft
bezahlt und nicht, wie Sie es gegenwärtig planen, die
Beitragszahlerinnen und -zahler und die Unternehmen
alleine.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zur Lebensleistungsrente nach 40 Beitragsjahren. Es
liegt noch kein Gesetzentwurf vor, aber Sie haben ge-
sagt, dass sie 30 Rentenentgeltpunkte betragen soll. Das
bedeutet, sie beträgt für Menschen aus den alten Bundes-
ländern etwa 850 Euro, für Menschen aus den neuen
Bundesländern rund 760 Euro, weil der Wert der Ren-
tenentgeltpunkte im Osten niedriger ist als im Westen.
Beide Beträge sind zu niedrig – das sage ich ganz deut-
lich –; das löst das Problem der Altersarmt nicht. Aber
im 24. Jahr der deutschen Einheit dem Osten wiederum
eine geringere Rente zuzubilligen als dem Westen – das,
Frau Bundeskanzlerin, darf man dieser Regierung nicht
durchgehen lassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nehmen Sie einen einheitlichen Betrag, regeln Sie das
gleich!

Zur Energiewende. Herr Gabriel, Sie wollen die ge-
setzlich zugesicherte Förderung reduzieren, und zwar
gerade bei der Windenergie. Und wen trifft’s? Die klei-
nen und mittelständischen Unternehmen. Denn im Off-
shorebereich kürzen Sie natürlich nicht – da geht es um
die berühmten Windenergieanlagen im Meer, die von
den vier großen Konzernen betrieben werden. Oh Gott,
oh Gott, es wäre ja so mutig gewesen, denen einen hal-
ben Euro wegzunehmen, aber das trauen Sie sich nicht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt nicht!)


Nein, Sie treffen damit wiederum die kleinen und mittle-
ren Unternehmen und damit natürlich auch die Beschäf-
tigten dieser Unternehmen. Und wer schützt wieder die
kleinen und mittleren Unternehmen? Ich sage es: die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe es Ihnen vorhin schon bei der Wirtschaftsspio-
nage gesagt; hier ist es genauso.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Keine Ahnung von Energiepolitik!)


Insofern sage ich: So kriegen Sie die Preise nicht so-
zial gestaltet. Wenn wir wirklich den Strom preiswert
machen wollen, sodass sich jede und jeder ihn leisten
kann, brauchen wir ganz andere Schritte:

Wir müssen die Strompreisaufsicht wieder einführen.
Ich sage Ihnen auch einen Grund: Der Strompreis an der
Energiebörse ist extrem niedrig, aber er wird nicht an die
Kundinnen und Kunden weitergereicht. Genau dafür
muss eine staatliche Strompreisaufsicht sorgen.

Wenn die EEG-Umlage erhöht wird, müssen Sie die
Stromsteuer senken oder vielleicht sogar ganz abschaf-
fen; sie hat keine ökologische Wirkung.

Die Ausnahmen für die Industrie müssen auf ein Mi-
nimum reduziert werden. Es geht doch nicht, dass die
Mieterin das alles bezahlt, aber die großen Industrie-
unternehmen nichts bezahlen müssen. Auch das ist nicht
gerechtfertigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann brauchen wir endlich eine Abwrackprämie für
die Verschrottung stromfressender Haushaltsgeräte,
wenn energiesparende angeschafft werden. Bei Autos
konnten wir das doch machen. Warum können wir das
nicht endlich mal bei Haushaltsgeräten machen? Gerade
die ärmeren Haushalte wären sehr darauf angewiesen.

Außerdem brauchen wir einen gebührenfreien So-
ckeltarif; auch das müssen wir haben. Dann wären wir
diese Sorgen los und könnten wirklich sagen: Ja, die





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Energiewende gelingt, und zwar vernünftig, und bleibt
für die Leute bezahlbar. Ich warne Sie: Wenn wir den är-
meren Teil der Bevölkerung nicht mitnehmen und ihn
mit überhöhten Strompreisen verschrecken, werden wir
eine antiökologische Einstellung verursachen, die wir
alle uns nicht leisten können.

Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Ihr Leitfaden ist die
soziale Marktwirtschaft. Ich bitte Sie! Fragen Sie die
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fragen Sie die
ALG-II-Bezieherinnen und ALG-II-Bezieher, fragen Sie
die Leute, die befristet beschäftigt werden! Übrigens:
Mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen sind befris-
tete Beschäftigungen. Dagegen haben Sie nichts unter-
nommen. Da soll sich gesetzlich auch nichts ändern. Die
werden Ihnen erzählen, dass sie diese Marktwirtschaft
als höchst unsozial empfinden. Sie wecken hier einfach
Illusionen. Ich sage Ihnen eines – das fällt mir schwer –:
Unter Kohl war die Marktwirtschaft sozialer als heute.
Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken, Frau
Merkel.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich glaube, dass die Große Koalition zunächst hek-
tisch das eine oder andere beschließen wird, aber viel zu
wenig verändern wird. Die Politik von Schwarz-Gelb
wird im Kern fortgesetzt. Wir werden später Stillstand
und dann Herumwurstelei erleben. Man soll ja nicht wet-
ten, aber ich könnte mit Ihnen wetten, dass die Bevölke-
rung nach der Regierungszeit der Großen Koalition tief
enttäuscht sein wird.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000400

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1801000500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

deskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung
deutlich gemacht, wie unsere gemeinsame Regierung
mit den Fraktionen von CDU, CSU und SPD in den
nächsten vier Jahren die Zukunft unseres Landes gestal-
ten will.

Dies war in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland die erste Regierungsbildung, die vom Aus-
gang eines Mitgliederentscheides abhängig war, und
diese Hürde haben wir souverän gemeistert.


(Beifall bei der SPD)


256 000 SPD-Mitglieder haben sich für diese Regierung
entschieden. Sie wollen, dass dieser Koalitionsvertrag
umgesetzt wird und dass dadurch das Leben der Men-
schen in Deutschland besser und gerechter wird. Sie
wollen, dass diese Regierung Erfolg hat. Das wollen wir
auch. Deshalb freue ich mich auf die gemeinsame Ar-
beit. Packen wir es an!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Herr Gysi, Sie sind erstmals Vorsitzender der größten
Oppositionsfraktion.


(Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie antworten deshalb unmittelbar auf die Kanzlerin. Sie
sind jetzt sozusagen Oppositionsführer. Herzlichen
Glückwunsch!


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann streben
Sie gar nicht an, der größte Oppositionsführer in der Ge-
schichte des Deutschen Bundestages zu werden, sondern
Ihr Wunsch ist es, die Linke in die Regierung zu führen.
Wenn das wirklich Ihr Wunsch ist, Herr Gysi, genügt es
allerdings nicht, so über Europa zu reden, wie Sie es
eben getan haben. Vielmehr müssen Sie dafür sorgen,
dass Ihre Fraktion und Ihre Partei anders über Europa
denken und sprechen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)


Welchen Wert Europa für uns hat, wird uns in diesem
Jahr besonders bewusst, wenn wir uns an den Beginn des
Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnern. Damals tau-
melte Europa verblendet vom Nationalismus in einen
furchtbaren Krieg. Der Erste Weltkrieg war der erste
Krieg, in dem moderne Massenvernichtungswaffen ein-
gesetzt wurden. Das Versagen der Diplomatie in Europa
forderte 17 Millionen Tote, und trotz dieser Erfahrungen
zettelte Deutschland kurze Zeit später einen noch viel
furchtbareren Krieg an. Ich finde, jeder, der sich vor Au-
gen führt, welch schreckliche Dinge ihren Ausgangs-
punkt im nationalistischen Deutschland genommen ha-
ben, der muss doch erkennen, wie unschätzbar wertvoll
die europäische Integration vor allem für uns Deutsche
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Entscheidung für Europa war die beste Antwort so-
wohl auf den Ersten Weltkrieg als auch auf den Zweiten
Weltkrieg. Sie war die beste Antwort auf die nationalso-
zialistische Gewaltherrschaft,


(Zuruf von der LINKEN)


und sie ist der beste Weg, den Frieden auch in Zukunft
zu sichern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber Europa steht nicht nur für Frieden, sondern Eu-
ropa steht auch für unser gemeinsames Wertesystem: un-
sere Freiheit, unsere Demokratie und unser europäisches
Sozialstaatsmodell, das Menschen, die in Not geraten,
nicht fallen lässt, sondern sie absichert und ihnen wieder
neue Chancen gibt.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wo denn?)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

In unserer globalisierten Welt wäre jedes einzelne Land
zu klein und zu schwach, um diese Werte allein zu ver-
teidigen. Das schaffen wir nur gemeinsam. Deshalb darf
es keine Rückkehr zum nationalstaatlichen Denken ge-
ben. Gerade im Jahr der Europawahl sage ich ausdrück-
lich: Wir dürfen Europa nicht den nationalen Populisten
überlassen, egal ob sie von links oder von rechts kom-
men.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Herr Gysi, Ihr Parteivorstand nennt die EU in
der Präambel eines Leitantrages zur Europawahl eine
„militaristische und weithin undemokratische Macht“.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, genau!)


Das ist nicht etwa ein Zitat von Rosa Luxemburg, mit
dem sie die Zustände des deutschen Kaiserreiches vor
100 Jahren beschreibt, sondern das ist Ihre Beschreibung
für Europa im Jahr 2014, für eine der größten zivilisato-
rischen Errungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ich finde das unglaublich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist so abenteuerlich, dass Sie sich davon distanzie-
ren mussten. Ich füge hinzu: Ich glaube Ihnen, dass Sie
sich davon ehrlich distanziert haben, dass das Ihre auf-
richtige Meinung ist. Aber ich bezweifle, dass diese Dis-
tanzierung von Ihrer Partei und Ihrer Fraktion mitgetra-
gen wird.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich auch!)


Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie in diesem Hause Part-
ner finden wollen, müssen Sie Ihr Verhältnis zu Europa
und zum Euro klären. Klären Sie Ihr Verhältnis zur inter-
nationalen Verantwortung Deutschlands. Damit haben
Sie in den nächsten vier Jahren genug zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Bekenntnis zu Europa als Macht des Friedens
und Hüterin unserer Werte allein reicht nicht. Die EU-
Kommission und die europäische Politik müssen klar
besser werden, wenn dem Populismus das Wasser abge-
graben werden soll. Der Präsident des Europäischen Par-
laments, Martin Schulz, benutzte kürzlich ein sehr tref-
fendes Bild, als er von den zwei Denkschulen sprach, die
sich in der Europäischen Kommission sozusagen gegen-
seitig im Wege stehen: Die einen geben nicht eher Ruhe,
bis auch der letzte kommunale Friedhof in Europa priva-
tisiert ist. Und die anderen hören nicht auf, bevor nicht
eine einheitliche Friedhofsordnung für ganz Europa ent-
standen ist. „Das macht die Leute verrückt“, sagt Martin
Schulz. Und ich sage: Der Mann hat recht.


(Beifall bei der SPD)


Europa muss nicht alles machen, vor allem nicht das,
was die Mitgliedstaaten selber können.
Deshalb sage ich: Die Europäische Kommission muss
sich in den nächsten Jahren stärker um das kümmern,
was Europa eint, was uns stark macht und was die Ein-
zelnen alleine nicht schaffen. Dazu gehört die weitere
Bändigung der Finanzmärkte. Dazu gehört die Bekämp-
fung von Steueroasen und Steuerschlupflöchern, die un-
sere Steuerzahler hier in Deutschland Milliarden kosten.
Dazu gehört die Verringerung des Wohlstandsgefälles
innerhalb der Europäischen Union. Und dazu gehört
ganz gewiss nicht zuletzt die Bekämpfung der horrenden
Arbeitslosigkeit von jungen Menschen in vielen Ländern
Europas.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf diese Dinge muss sich die EU konzentrieren, damit
die Menschen erkennen können, warum Europa so wich-
tig für uns alle ist.

Viele fragen sich, wie wir in den harten Verhandlun-
gen zwischen CDU, CSU und SPD zueinandergefunden
haben. In der Tat, bei so schwierigen Themen wie Min-
destlohn, Rente, Leiharbeit, Pflege oder Frauenquote
war es überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir uns
am Ende verständigen. Das lag natürlich auch an der auf
beiden Seiten vorhandenen Kompromissbereitschaft.
Aber ich glaube, das lag in erster Linie daran, dass es in
Deutschland einen gesellschaftlichen Grundkonsens
gibt, einen Grundkonsens über die soziale Marktwirt-
schaft – darüber hat auch die Bundeskanzlerin gespro-
chen; und ich stimme ihr zu –: 90 Prozent der Menschen
finden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft rich-
tig für unser Land, und sie wollen, dass sie gesichert und
gestärkt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Arbeitnehmer wissen doch ganz genau, dass
Wohlstand für alle ohne eine starke Wirtschaft nicht
möglich ist. In der sozialen Marktwirtschaft muss der
Staat Rahmenbedingungen setzen, die es Unternehmen
ermöglichen, Gewinne zu machen. Unternehmer, die
keine Gewinne machen, gefährden am Ende Arbeits-
plätze. Deshalb brauchen wir Produktivitätsfortschritt,
deshalb brauchen wir Wachstum und Wettbewerbsfähig-
keit auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite brau-
chen wir auch faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt, faire
Löhne, Arbeitnehmerrechte, Kündigungsschutz und Mit-
bestimmung. Das sind keine Problemfaktoren, sondern
das sind positive Standortfaktoren in einer erfolgreichen
Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])


Das eine darf nicht auf Kosten des anderen durchgesetzt
werden. Wir brauchen beides: Wettbewerb und faire Re-
geln. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir die so-
ziale Marktwirtschaft in Deutschland in eine stabile Ba-
lance bringen können. Das wollen wir umsetzen. Das ist
unser Programm.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

Damit fangen wir gleich an. Noch in diesem Jahr
wird die Koalition den gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro beschließen. Für viele Menschen, die 4, 5 oder
6 Euro in der Stunde verdienen, wird das die kräftigste
Lohnerhöhung in ihrem Leben. Das wird das Alltagsle-
ben von Millionen Menschen in diesem Land positiv
verändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieser Mindestlohn generiert milliardenschwere
Kaufkraft. Das ist ein gewaltiges Konjunkturprogramm,
das die Binnennachfrage stärken und für zusätzliches
Wachstum sorgen wird. Das ist gut für unsere Wirt-
schaft. Der Mindestlohn ist nicht nur sozial gerecht, weil
er der Arbeit wieder Wert und Würde gibt, sondern er ist
auch ordnungspolitisch richtig, weil er Wettbewerbsver-
zerrungen durch Lohndumping beseitigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir den Mindestlohn haben, wenn wir die Leih-
arbeit regulieren, wenn wir die missbräuchliche Nutzung
von Werkverträgen beenden und dafür sorgen, dass in
den Betrieben gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt
wird, dann werden sich Arbeit und Anstrengungen für
Millionen Menschen in Deutschland wieder lohnen. Ge-
nau das wollen wir: eine Politik für die fleißigen Leute
und für die verantwortungsvollen Unternehmer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das gilt natürlich auch für die Rentner. Wer ein Leben
lang hart gearbeitet und Kinder großgezogen hat, hat
Anspruch auf ein sicheres Auskommen im Alter. Wenn
jetzt bezüglich des Gesetzentwurfs, den Andrea Nahles
heute in das Kabinett eingebracht hat, von Unterneh-
mern die Sorge geäußert wird, das könnte zu Frühver-
rentungen führen, dann sage ich: Diese Arbeitgeber
können zuerst selber verhindern, dass es zu Frühverren-
tungen kommt,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


indem sie 61-Jährige nicht mehr in die Arbeitslosigkeit
schicken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn es zu einem Missbrauch kommen sollte, dann wer-
den wir diesen Missbrauch mit geeigneten Maßnahmen
sofort wieder abstellen. Denn dafür haben wir die Rente
nach 45 Berufsjahren nicht eingeführt.

Die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente nach
45 Beschäftigungsjahren haben eine Debatte über Gene-
rationengerechtigkeit ausgelöst, und wir werden uns
dieser Debatte stellen. Bei der Rente geht es übrigens
immer um Generationengerechtigkeit, aber in beide
Richtungen und nicht nur in eine Richtung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Frau Göring-Eckardt, Sie haben den Begriff der Ge-
nerationenkumpanei in diese Debatte eingeführt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Pfui! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unchristlich!)


Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich in
E-Mails und Briefen an uns darüber empören, dass mit
diesem Begriff ihre Lebensleistung abgewertet wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass Sie den anderen nicht helfen!)


Das ist unfair gegenüber den Müttern und denjenigen,
die 45 Jahre hart gearbeitet haben. Das sind doch dieje-
nigen, die mit ihrer harten Arbeit ein umlagefinanziertes
stabiles Rentensystem überhaupt erst ermöglichen, Frau
Göring-Eckardt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die anderen?)


Wir sollten uns davor hüten, die Generationen gegen-
einander auszuspielen. Die Zukunftschancen der jungen
Generation hängen doch nicht in erster Linie von der
Rentenpolitik ab, sondern sie hängen davon ab, was wir
bildungs- und wirtschaftspolitisch in diesem Lande ma-
chen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber da machen Sie ja nichts!)


Die Perspektiven hängen davon ab, ob wir in 20 oder
30 Jahren in Deutschland noch eine starke Wirtschaft ha-
ben und ein starkes Industrieland sind. Sie hängen davon
ab, ob wir jungen Menschen attraktive Jobs anbieten
können und ob dort hohe Löhne verdient werden kön-
nen. Das sind doch die Fragen. Ich sage: Diese Regie-
rung wird die Grundlagen dafür legen. Ich freue mich,
dass diese Regierung mit Sigmar Gabriel als Wirt-
schaftsminister endlich wieder eine aktive Industriepoli-
tik für Deutschland macht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da ist natürlich die ganze Regierung gefordert; denn
eine starke Wirtschaft wird es in Zukunft nur geben,
wenn wir eine moderne Infrastruktur haben. Wir müssen
den Investitionsstau abarbeiten, und wir brauchen gut
ausgebildete Fachkräfte. Wir haben 9 Milliarden Euro
für Investitionen in Kitas, Forschung und Entwicklung
bereitgestellt. Wir brauchen ein hohes Niveau an For-
schung und Entwicklung und nicht zuletzt ein Energie-
system, das Versorgungssicherheit, Preisstabilität und
Klimaschutz miteinander verbindet. Deswegen ist es gut,
dass das Kabinett schnell Eckpunkte für die Energie-
wende vorgelegt hat, mit denen der weitere Preisanstieg
der erneuerbaren Energien gebremst wird; denn ein
funktionierendes Energiesystem ist das Herz-Kreislauf-
System der Wirtschaft; ohne ein solches System kann





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Alles hängt davon
ab, dass Energie bezahlbar bleibt. Ich finde es richtig,
dass wir die Nutzung der erneuerbaren Energien weiter
ausbauen; aber wir müssen sie so ausbauen, dass Energie
für die Menschen und für die Wirtschaft auch bezahlbar
bleibt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Da muss uns die Europäische Union auch die Mög-
lichkeit lassen, energieintensive, tatsächlich im interna-
tionalen Wettbewerb stehende Unternehmen von der
EEG-Umlage zu befreien. Das sind doch keine wettbe-
werbsverzerrenden Entlastungen – entsprechende Belas-
tungen in anderen Ländern gibt es doch gar nicht.


(Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])


Wenn übrigens an anderer Stelle argumentiert wird,
dass wir auf die energieintensiven Unternehmen in
Deutschland im Interesse einer besseren Ökobilanz viel-
leicht ganz verzichten könnten, dann halte ich das für ab-
solut verantwortungslos. Die Stärke unserer Wirtschaft,
das sind doch nicht einzelne industrielle Leuchttürme.
Stark sind wir doch deshalb in Deutschland, weil wir
über die ganze Wertschöpfungskette verfügen: von der
Grundstoffindustrie bis zu den Hightechunternehmen
und den hochwertigen Dienstleistungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Wertschöpfungskette darf nicht zerstört werden,
meine Damen und Herren.

Ich finde, Energieminister Gabriel hat in dieser De-
batte einen ganz wichtigen Satz gesagt, der übrigens
auch etwas über die Art und Weise, wie Politik gemacht
werden sollte, aussagt: Die Summe der jetzt geltend ge-
machten Interessen ist nicht identisch mit dem Gemein-
wohl. – Da hat er recht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich müssen alle Interessen und Argumente gehört,
diskutiert und gewichtet werden; aber am Ende muss es
eine Entscheidung für eine Energiepolitik im Interesse
des Allgemeinwohls geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dafür hat der Bundeswirtschaftsminister die volle Unter-
stützung der Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren
grundlegend verändert. Wie vielfältig wir geworden
sind, spiegelt übrigens auch der Deutsche Bundestag wi-
der: Spitzenreiter bleibt zwar der Nachname „Schmidt“,
auf den sechs Kollegen und Kolleginnen hören, aber
„Özdemir“ kommt inzwischen genauso häufig vor wie
„Mayer/Meier“: zwei Mal.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich freue mich, dass wir vielfältiger geworden sind – ge-
nauso wie unser Land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch wenn die Koalition nicht in allen Fragen der
doppelten Staatsangehörigkeit wirklich einer Meinung
ist, finde ich es doch gut, dass wir es geschafft haben,
uns darauf zu verständigen, dass wir junge Menschen,
die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind,
nicht mehr in die Zwangslage bringen wollen, sich, um
Deutsche bleiben zu können, vor Vollendung des 23. Le-
bensjahres gegen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern
und Großeltern zu entscheiden. Das wollen wir diesen
Menschen ersparen, indem wir ihnen die doppelte
Staatsangehörigkeit ermöglichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor allem
wegen seines starken Arbeitsmarktes ein attraktives Ein-
wanderungsland geworden. Angesichts der demografi-
schen Veränderungen und des Fachkräftemangels gilt
Einwanderung heute nicht mehr als Belastung, sondern
als Chance. 2012 kamen 370 000 Menschen, im letzten
Jahr 400 000 Menschen mehr nach Deutschland, als
weggegangen sind. Das sind ganz überwiegend gut Aus-
gebildete und hoch Qualifizierte. Sie sind ein Riesenge-
winn für unsere Wirtschaft. Deutschland profitiert wie
kein anderes Land in der Europäischen Union von der
Arbeitnehmerfreizügigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb sage ich: Wir freuen uns über jeden und über
jede, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten, Geld zu
verdienen und ihr Glück zu machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich bleibt es eine große Herausforderung, un-
sere Einwanderungsgesellschaft so zu organisieren, dass
alle Menschen gut zusammenleben können. Aber da, wo
durch Zuwanderung Probleme entstehen – wie in Duis-
burg, Dortmund, Mannheim oder Berlin –, helfen keine
lautstarken Debatten und Parolen, sondern da ist tatkräf-
tiges Handeln gefragt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb begrüße ich es, dass die Regierung schnell ei-
nen Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat und wir als-
bald mit geeigneten Maßnahmen beginnen können, um
vor allem den betroffenen Kommunen zu helfen. Wir
dürfen diese Kommunen mit ihren Problemen nicht al-
leinlassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

Auch wenn das jetzt vielleicht überraschen mag,
möchte ich unserem Koalitionspartner CSU in diesem
Zusammenhang ein Kompliment machen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist reine Heuchelei! Was kommt jetzt?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000600

Jetzt aber langsam zum Mitschreiben.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1801000700

Die Idee von Horst Seehofer,


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der Maut!)


einem Minister aus seinem Kabinett die Zuständigkeit
für die Heimat zu übertragen, musste ja viel Spott ertra-
gen, aber ich finde sie überhaupt nicht abwegig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heimat ist die emotionale Verbindung der Menschen
mit einer ihnen vertrauten Umgebung. Für ganz viele
Menschen in der heutigen Welt ist Heimat alles andere
als selbstverständlich. Ob sie aus Syrien fliehen, um ihr
Leben zu retten, oder ob sie innerhalb Europas nach
neuen Chancen suchen: Viele Menschen sehen sich ge-
zwungen, ihre Heimat zu verlassen. Deshalb muss es
doch die Aufgabe der Politik sein, denen, die einen Neu-
anfang in Deutschland machen wollen, hier in Deutsch-
land auch eine Heimat zu geben, in der sie sich wohlfüh-
len und von wo sie nicht gleich wieder weggehen
wollen, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse än-
dern.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dazu können wir alle und kann dann auch ein Heimatmi-
nister beitragen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist doch eine Aufgabe für Sie!)


Die Große Koalition hat im Deutschen Bundestag
eine Mehrheit von 504 Abgeordneten. Natürlich werden
wir unsere politischen Ziele mit dieser Mehrheit umset-
zen. Diese große Mehrheit darf uns aber nicht zu Arro-
ganz verleiten. Deshalb wollen wir die Arbeit des Parla-
mentes mit Augenmaß gestalten.

Ich bin mir sicher, dass wir uns über die Minderhei-
ten- und Oppositionsrechte noch einigen werden. In den
Vorschlägen, die der Bundestagspräsident gemacht hat,
sehe ich eine gute Grundlage. Hinsichtlich der Redezeit
bitte ich um Verständnis, dass auch die Abgeordneten
der Koalition frei gewählte Abgeordnete sind und dass
sie zu Wort kommen müssen und hier nicht zu Statisten
degradiert werden können.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!)

Die Kontrolle der Regierung ist zwar zuerst die Auf-
gabe der Opposition, aber nicht allein Aufgabe der Op-
position, sondern des gesamten Parlamentes.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Deshalb, liebe Britta Haßelmann und lieber Herr Gysi,
werden wir die Kontrolle der Regierung nicht allein den
Oppositionsfraktionen überlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wie wichtig diese Arbeit des Parlamentes ist, hat in
der letzten Wahlperiode die fraktionsübergreifende Ar-
beit des NSU-Untersuchungsausschusses gezeigt. Der
Ausschuss hat die eklatanten Versäumnisse der Sicher-
heitsbehörden aufgedeckt und eine Reihe von Maßnah-
men vorgeschlagen, um das gestörte Vertrauen in die Fä-
higkeit des Staates wiederherzustellen, allen Menschen,
unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ih-
rer Religion, in Deutschland Sicherheit und Schutz zu
bieten.


(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Die Koalition hat sich darauf verständigt, all diese
Empfehlungen umzusetzen. Daran können Sie sehen,
wie wichtig eine fraktionsübergreifende Kontrolle der
Regierung durch das Parlament ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir bieten Ihnen deshalb auch an, beim NSA-Unter-
suchungsausschuss zusammenzuarbeiten. Dass Millio-
nen Bürger abgehört werden und dass das Mobiltelefon
der Bundeskanzlerin abgehört wird, ist eine Angelegen-
heit, die das ganze Parlament etwas angeht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Regierungsbildung war nicht einfach. Wir haben
hart gerungen und uns Zeit genommen – auch, um die
außergewöhnliche Beteiligung unserer Partei zu ermög-
lichen. Jetzt erwarten die Menschen, dass unsere Vorha-
ben umgesetzt werden und wir Ergebnisse liefern.

Menschen, die nach langer Arbeit auf eine Rente in
Würde hoffen, warten auf die Möglichkeit, nach 45 Be-
rufsjahren in Rente zu gehen. Arbeitnehmer, die trotz
Vollzeitjob nicht genug zum Leben verdienen, hoffen auf
den Mindestlohn. Pflegebedürftige und ihre Pfleger er-
warten, dass die Politik den Pflegenotstand beseitigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Frauen, die im Beruf Nachteile erfahren, warten auf eine
neue Gleichstellungspolitik.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Unternehmen, die viel Energie zum Produzieren brau-
chen, erwarten eine neue Verlässlichkeit in der Energie-
politik.





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)

Wir werden Antworten auf diese Erwartungen geben.
Mit diesen Antworten werden wir Deutschland Stück für
Stück ein bisschen besser und gerechter machen.


(Beifall bei der SPD)


Das ist der Anspruch. Daran sollten wir in vier Jahren
gemessen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000800

Nächster Redner ist der Kollege Anton Hofreiter für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich aufgrund der aktuellen Ereig-
nisse ganz kurz etwas zur Ukraine sagen. Nach den Er-
gebnissen der letzten Tage ist die Hoffnung größer ge-
worden, dass es eine friedliche Lösung gibt. Aber wir
erwarten von Europa, wir erwarten insbesondere auch
von der Bundesregierung, dass sie sich stark dafür einset-
zen, dass es eine friedliche und demokratische Lösung
gibt und dass die demokratische und proeuropäische Op-
position nicht alleingelassen wird. Diese Erwartung ha-
ben wir an Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzle-
rin, Sie haben über die Regierungspolitik in den kom-
menden vier Jahren gesprochen. Sie haben die Unterstüt-
zung von 80 Prozent der Abgeordneten hier. Das sind
viele; das bezweifeln wir nicht. Aber Masse macht noch
nicht automatisch Klasse. Ihre Mehrheit ist groß, der Ko-
alitionsvertrag ist dick. Aber Ihr Regierungsprogramm
ist zukunftsvergessen, perspektivlos, eine Verwaltung
des Stillstandes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Große Koalition denkt nicht an morgen. Sie stellt
nicht das Klima, sondern die Kohle unter Schutz. Sie in-
vestiert nicht in die Zukunft. Und die rechte Hand der
Koalition zündelt am gemeinsamen Haus Europa. Das
ist ein arg kleiner Plan für so viel Masse, Frau Merkel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor kurzem stand in der Zeitung: Angela Merkel ist
auf dem Zenit ihrer Macht und am Tiefpunkt ihrer in-
haltlichen Ansprüche angekommen. – Eine treffende Be-
merkung! Dazu fällt mir ein altes Bild ein. Sie haben
sich einmal als Klimakanzlerin inszeniert – erinnern Sie
sich noch? Das schöne Bild von Ihnen mit der roten Ja-
cke vor den fotogenen Eisbergen in Grönland. Was ist
davon übrig geblieben? Ich kann nichts erkennen. Frau
Merkel, Herr Gabriel, verspielen Sie die Chance nicht,
die Ihnen die Menschen gegeben haben. Gehen Sie die
großen Herausforderungen unserer Zeit an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was ist eigentlich Ihre Idee für die kommenden vier
Jahre, Frau Merkel? Ich habe Ihnen gut zugehört, auch
wenn es manchmal nicht einfach war, aber ich habe
nichts gefunden. Sie setzen auf den kleinsten gemeinsa-
men Nenner, anstatt etwas Großes zu wagen. Je größer
die Mehrheit, desto kleiner der Anspruch, so scheint es
zu sein. Das ist wohl die Realität dieser Großen Koali-
tion.

„Deutschlands Zukunft gestalten“ steht auf dem Titel-
blatt des Koalitionsvertrages. „Den Status quo verwal-
ten“ wäre die treffendere Bezeichnung gewesen. Überall
da, wo neue Wege dringend erforderlich sind, hat die
Dagegen-Partei CDU blockiert: gegen den Ausbau der
Infrastruktur, gegen eine faire Verteilung der Steuerlast,
gegen Klimaschutz, gegen Datenschutz, gegen Verbrau-
cherrechte, gegen Gleichberechtigung und Gleichstel-
lung. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt sitzen Sie, Frau Merkel, zum dritten Mal als neu
gewählte Kanzlerin hier. Ich gratuliere Ihnen ehrlich und
wünsche Ihnen wirklich gute Besserung. Sie falten die
Hände zur Raute und sagen schöne Worte. Sie wollen
die Banken und Finanzmärkte regulieren.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist doch gut!)


Wäre das Ihre erste Regierungszeit, würde ich sagen:
Richtig! Aber Sie regieren seit acht Jahren, und passiert
ist fast nichts.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: 30 Projekte!)


Der Soziologe Ulrich Beck bezeichnet solch ein Verhal-
tensmuster als verbal aufgeschlossen bei weitgehender
Verhaltensstarre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alles soll so bleiben, wie es ist. Aber ohne Verände-
rung gibt es keine gute Zukunft in Deutschland und Eu-
ropa, ob beim Klimawandel, der Erhaltung unseres
Wohlstandes oder beim Zusammenhalt unserer Gesell-
schaft. Gestalten statt verwalten: Darum muss es gehen.
Aber dazu scheinen Ihnen der Mut, die Ideen oder viel-
leicht sogar beides zu fehlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
kommt es Ihnen, wenn Sie morgens in Richtung Parla-
ment laufen, nicht manchmal seltsam vor, dass Sie jetzt
mit der Union die Politik machen, die Sie noch vor ein
paar Monaten ach so sehr bekämpft haben? Wie sehr ha-
ben Sie die ungleiche Verteilung von Vermögen und Ein-
kommen beklagt. Was wollten Sie in der Steuerpolitik
nicht alles anders machen. Und was haben Sie davon
durchgesetzt?

In Deutschland leben über 2,5 Millionen Kinder unter
der Armutsgrenze. Was aber unternehmen Sie, um das
zu ändern? Wie viel mehr haben Sie dafür übrig? Laut
Ihrem Koalitionsvertrag nicht 1 Cent mehr. Ist das wirk-
lich Ihr Ernst, Herr Gabriel?





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

Auch wenn es schön ist, dass Frau Schwesig nach-
träglich Vorschläge macht, gilt auch hier: Für eine
Ministerin ist reden allein zu wenig. Im Wahlkampf
wollten Sie von der SPD die Steuern erhöhen, um in
Schulen und Kitas zu investieren. Aber jetzt tragen Sie
eine Politik mit, die diese Probleme ignoriert.

Wie sehr haben Sie für einen radikalen Kurswechsel
in der Europapolitik gekämpft. Jetzt tragen Sie die Poli-
tik der Kanzlerin einfach mit, als ob nie etwas gewesen
wäre. Sie waren gegen eine Politik für Banken und, wie
Sie schrieben, Finanzjongleure. Jetzt müssen Sie diese
Politik mittragen.

Sie wollten für ein gemeinsames Haus Europa eintre-
ten. Nun sitzen Sie am Kabinettstisch, mit Ihren neuen
Freunden von der CSU, die auf das gemeinsame Haus
Europa eintreten. Diesen ekelhaften Populismus der
CSU gegen Rumänen und Bulgaren konnten Sie in Ihrer
eigenen Koalition nicht unterbinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
Ihr Wahlprogramm hieß „Das WIR entscheidet.“ Sie ha-
ben es vielleicht schon gemerkt: Es ist meist die Kanzle-
rin, die entscheidet, wenn in dieser Koalition überhaupt
etwas entschieden wird.

Immerhin will auch Frau Merkel jetzt den Mindest-
lohn: teilweise, mit Ausnahmen, später, aber immerhin.
Bei der Mietpreisbremse oder der zaghaften Frauenquote
gehen Sie immerhin in die richtige Richtung. Ich gratu-
liere Ihnen zu diesen Schritten.

Aber was ignoriert diese Regierung nicht alles? Vor
dem Überwachungswahn der US-amerikanischen Regie-
rung haben Sie kapituliert. Frau Merkel, Sie freuen sich
über das Versprechen, dass Ihr Handy nicht mehr ausge-
späht wird. Aber Sie sind nicht Kanzlerin, um nur Ihre
persönlichen Grundrechte zu schützen. Als Kanzlerin
sind Sie verpflichtet, für den Schutz der Grundrechte al-
ler Menschen in Deutschland zu sorgen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Diese Menschen haben ebenfalls ein Recht darauf, dass
ihre Daten geschützt werden. Auch dafür wurden Sie ge-
wählt, wobei sich die Frage stellt, wer in diesem Kabi-
nett eigentlich dafür zuständig ist.

Anstatt die Kompetenzen zu bündeln, sind die Zu-
ständigkeiten über acht Ministerien verstreut, bis hin zu
einem neuen Minister für Ausländermaut und Breitband-
kabel. Mit diesem Kompetenzwirrwarr gibt es bestimmt
keine Verbesserung beim Datenschutz, selbst wenn Sie
dies wollten, was allerdings angesichts Ihrer Position zur
Vorratsdatenspeicherung leider mehr als fraglich ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Grüne haben
bekanntlich nichts dagegen, Lasten gerecht zu verteilen.
Starke Schultern können mehr tragen als schwache. Das
ist solidarisch und gerecht. Die Altersarmut ist ein mas-
sives Problem. Reicht das Geld im Alter? Diese Frage
bereitet vielen Sorgen. Sie wollen 160 Milliarden Euro
an zusätzlichen Ausgaben für die Rente beschließen.
Man könnte doch meinen, mit so einer Summe sollte das
Problem sich lösen lassen. Aber Sie verschütten das
viele Geld wie mit der Gießkanne, ohne das Problem der
Altersarmut von heute oder von morgen zu lindern.

Die armen Rentnerinnen und Rentner in der Grund-
sicherung fallen durchs schwarz-rote Raster. Eine
Rentnerin in der Grundsicherung, die Anspruch auf die
Mütterrente hätte, bekommt diese wieder komplett abge-
zogen und behält nicht einen Cent. Damit nutzt Ihre Re-
form ausgerechnet den ärmsten Rentnerinnen nichts. Ist
das gerecht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Genauso ergeht es Menschen, die lange arbeitslos wa-
ren: Von der Rente mit 63 haben sie nichts. Das ist unge-
recht und auch noch ungerecht finanziert. Die zukünfti-
gen Generationen, die das finanzieren müssen, müssen
sogar noch mehr um ihre Rente bangen. Das ist eine
traurige Form von Sozialpolitik. Es ist keine Politik für
eine gute Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe erwähnt, dass Sie die vielen Herausforderun-
gen, die vor uns liegen, nicht anpacken, sondern den
Stillstand verwalten. Ich will auf zwei Herausforderun-
gen besonders eingehen. Erstens: Wie können wir die
Energiewende klug und gemeinsam gelingen lassen, da-
mit Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen gesichert
sind? Zweitens: Wie können wir Europa wieder zu ei-
nem positiven Projekt machen, das uns auch morgen
Frieden und Demokratie garantiert?

Wofür machen wir die Energiewende eigentlich? Wir
machen sie doch nicht, weil wir Windräder schön finden
oder weil Solaranlagen wunderbar blau funkeln auf den
Dächern. Wir machen sie, um aus der Atomkraft und der
Kohlenutzung auszusteigen. Wir machen sie, damit nicht
noch mehr klimaschädliches Kohlendioxid in die Luft
geblasen wird. Der internationale Klimarat stellt fest:
Gelingt nicht bald eine radikale Verminderung dieser
Klimakiller, dann wird das Weltklima völlig aus den Fu-
gen geraten. – Die Klimakatastrophe ist für viele Men-
schen jetzt schon real. Extreme Wetterereignisse häufen
sich, und der steigende Meeresspiegel vertreibt bereits
jetzt Menschen aus ihrer Heimat. Der Klimawandel ge-
fährdet die Lebensgrundlagen von uns allen auf diesem
Planeten. Es ist höchste Zeit, zu handeln. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Großen Koalition, nutzen
Sie doch Ihre 80-Prozent-Mehrheit! Nehmen Sie den
Kampf gegen den Klimawandel auf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber was ist die Antwort von Ihnen, Herr Gabriel?
Der Klimakiller Kohle bleibt der liebste Genosse der So-
zialdemokratie. 2013 hat Deutschland so viel Braun-
kohle zu Strom verbrannt wie seit 1990 nicht mehr. Die
klimafreundlichen Erneuerbaren bremsen Sie aus. Das
ist doch das Gegenteil von verantwortlicher Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

Das ist nicht nur schlecht für das Klima. Es ist auch
schlecht für die deutsche und die europäische Wirtschaft,
wie sogar die EU-Kommission, die nicht gerade für be-
sonderen Ehrgeiz beim Klimaschutz bekannt ist, zuge-
ben muss. 1,25 Millionen neuer Jobs könnten entstehen,
wenn die Energiewende klug angepackt werden würde.
Das wären viele Jobs in den südlichen Krisenländern.
Aber auch in Deutschland, zum Beispiel in Nordrhein-
Westfalen, hängen Tausende Jobs von der Energiewende
ab. Es stehen alleine dort Investitionen von 1 Milliarde
Euro auf dem Spiel. Die Zukunft Deutschlands finden
Sie nicht in Ihren Braunkohlegruben! Die Zukunft
Deutschlands entsteht im Sektor der erneuerbaren Ener-
gien. Sie entsteht durch die Nutzung von Sonne und
Wind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wir Grüne wollen, dass die Energiewende gelingt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir wollen mit Ihnen zusammenarbeiten, weil wir uns
unserer Verantwortung im Bundestag, in den Landtagen
und als Partei bewusst sind


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


und die Energiewende nur in einem gesellschaftlichen
Konsens gelingen kann. Wir strecken die Hand zum
Konsens aus, Ihren Fehlstart zu korrigieren. Hören Sie
auf, ausgerechnet die kostengünstigste Form der Erneu-
erbaren, die Windenergie, auszubremsen! Lassen Sie die
Energiewende in den Händen der Bürger!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Machen Sie Deutschland wieder zum Vorreiter des Kli-
maschutzes! Dann können wir gemeinsam dieses histori-
sche Projekt voranbringen.

Sehr geehrte Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Rede
von einem starken Deutschland in einem starken Europa
gesprochen. Wer würde sich das nicht wünschen? Ich be-
fürchte nur, dass wir nicht das Gleiche darunter verste-
hen. Ich wünsche mir ein Deutschland, das solidarisch
ist mit seinen Partnern, dessen Regierung eine Wirt-
schaftspolitik betreibt, die zu Stabilität und Wachstum
beiträgt, mit einer Regierung, die beim Klimaschutz vor-
angeht, die mehr Flüchtlinge aufnimmt und nicht zu-
sieht, wie Menschen – Männer, Frauen und Kinder – im
Mittelmeer ertrinken. Stattdessen bauen Sie weiter mit
an der Festung Europa, einem Europa der Ausgrenzung,
der Abschottung. Ich wünsche mir ein Europa, das stark
ist, weil es die Freiheit der Menschen nicht nur achtet,
sondern auch garantiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die offenen Grenzen innerhalb Europas sind eine rie-
sige Errungenschaft. Sie geben uns die Freiheit, dort zu
leben und zu arbeiten, wo wir wollen. Diese Freiheit ist
in Gefahr durch die Rechtspopulisten von Wilders bis Le
Pen. Aber auch das unverantwortliche Geschwätz von
Ihrem Koalitionspartner CSU vergiftet das gesellschaft-
liche Klima in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Die Populisten von der CSU gaukeln vor, die Sorgen der
Menschen ernst zu nehmen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die nehmen wir auch ernst!)


Das tun sie nicht. Sie vergiften die Debatte, machen Vor-
urteile hoffähig und erschweren damit genau die Lösung
von Problemen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist ja nicht wahr!)


Frau Merkel, wir erwarten von einer verantwortungsvol-
len Kanzlerin, dass sie diesen Unsinn beendet. Stellen
Sie sich klar auf die Seite der Offenheit und Freiheit in
Europa und gegen die kleingeistigen Brandstifter, die
nicht erkennen, dass Deutschland nur in einem starken
und einigen Europa eine gute Zukunft hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Europa als Verheißung, als Ort der Solidarität und des
Fortschritts, Europa als Ort der Freiheit und als eine Idee
im Dienst der Menschen – so soll unser Europa sein. Es
soll keines der Schlagbäume und Grenzen sein, kein Eu-
ropa des Freihandelsabkommens auf Kosten des Ver-
braucherschutzes und keines nur für die Interessen ein-
zelner Lobbys.

Frau Merkel, Sie tragen schon acht Jahre lang große
Verantwortung für Europa.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Stimmt!)


In der Vergangenheit haben Sie Ihre Macht für lasche
Regeln für die Automobilindustrie und die Deutsche
Bank eingesetzt. Damit gewinnt man weder das Herz
noch den Verstand der Menschen für unser Europa. Nut-
zen Sie Ihre dritte Amtszeit richtig, damit Europa zu ei-
nem Erfolg für alle wird, mit einer Politik, die die Fi-
nanzmärkte endlich an den Krisenkosten beteiligt, die
die Banken endlich in ihre Schranken weist und nicht
nur hier davon redet, die den sozialen Fortschritt über
die Interessen einzelner Lobbyisten stellt, mit einer
Politik, die gegen Massenarbeitslosigkeit in den Kri-
senstaaten vorgeht, mit einer Politik, die gegen den Kli-
mawandel kämpft und den Verfolgten einen sicheren Zu-
fluchtsort bietet,


(Zuruf von der CDU/CSU: Amen!)


mit einer Politik, die Zukunft nicht verwaltet, sondern
klug und weitsichtig im Interesse aller gestaltet.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1801000900

Nun erhält Volker Kauder das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1801001000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,

Thomas Oppermann hat es in seinem Beitrag angespro-
chen: Wir, die CDU/CSU und die SPD, haben während
des ganzen Bundestagswahlkampfes nicht daran ge-
dacht, dass wir zum Start in die neue Legislaturperiode
des Deutschen Bundestages in einer Koalition landen
würden.


(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Wenn man dies weiß, ist auch verständlich, dass es
uns nicht leichtgefallen ist, bei dem, was Schwerpunkt
und Ziel dieser Großen Koalition sein soll, zusammen-
zukommen. Ich finde, dass es eine gute Grundlage für
diese Koalition ist, dass wir dies auch nicht verborgen
haben, sondern dass wir in den Koalitionsverhandlungen
ernsthaft gerungen haben und dass wir die Themen offen
auf den Tisch gelegt haben. Aber es war uns auch klar,
dass wir nicht um unseretwillen in den Deutschen Bun-
destag gewählt worden sind, sondern dass wir für dieses
Land in einer schwierigen Situation eine stabile und
handlungsfähige Regierung stellen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es hat auch andere gegeben, die dieses nicht so gese-
hen haben. Deswegen kam es zur Großen Koalition. Ich
bin dankbar, dass dies jetzt gelungen ist. Wenn man den
Koalitionsvertrag anschaut und das, was die Bundes-
kanzlerin vorhin für die Bundesregierung gesagt hat, an-
hört, dann kann man doch erkennen, dass dies eine gute,
gemeinsame Ausgangslage darstellt, um dieses Land tat-
sächlich in eine gute Zukunft zu führen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ja, Thomas Oppermann, ich teile die Auffassung: Wir
müssen uns daran messen lassen, dass es den Menschen
und dem Land nach diesen vier Jahren Großer Koalition
besser geht als vorher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Dafür gibt es eine ganze Reihe von wichtigen Punk-
ten. Das zentrale Thema, auf das es ankommt, ist auch in
den nächsten Jahren dieser Großen Koalition Europa.
Wenn wir in Europa Fehler machen, schwere Fehler ma-
chen, können wir sie mit keiner nationalen Gesetzge-
bung mehr korrigieren. Deswegen ist Europa so ent-
scheidend.

In Europa gibt es politische Leitlinien, die zu beach-
ten sind. Da ist die wirtschaftliche, die finanzielle Situa-
tion. Ich finde es gut, dass wir uns trotz unterschiedlicher
Ausgangslage in dieser Koalition darauf verständigt ha-
ben, wie wir die Europapolitik in den nächsten Jahren
gestalten wollen. Wir waren uns einig: Ja, wir Deutsche
sind solidarisch in Europa; aber wir verlangen auch die
notwendigen Veränderungen. Solidarität ja, aber auch
die notwendigen Reformen. Keine Leistung ohne Ge-
genleistung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Das ist unsere Position. Man sieht ja, dass dieser Kurs
durchaus erfolgreich ist.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit!)


Jetzt muss man natürlich eines auch sagen: Meine Ge-
neration weiß, dass es, gerade wenn man an Europa
denkt, einige Zeit dauern kann, bis man Ziele erreicht.
Wir alle sind in einer so ungeduldigen Hektik: heute Be-
schluss, morgen Erfolg. Wir müssen uns alle ein wenig
Zeit geben, die Entwicklung hinzubekommen. Große
Werke gelingen natürlich nur mit einem entsprechenden
Startschuss. Aber dann bedürfen sie auch einer geduldi-
gen Betreuung und Pflege, damit die Dinge vorankom-
men.

Da sind wir, wie ich finde, auf einem guten Weg. Na-
türlich ist ein zentrales Thema, dass wir die Jugendarbeits-
losigkeit in Europa bekämpfen. Von jungen Menschen,
die erleben, dass sie keinen Einstieg in die Berufswelt
und in ein selbstständiges Leben bekommen, kann man
kaum Begeisterung für dieses Europa erwarten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist es richtig, dass diese Bundesregierung
entsprechende Initiativen ergreift, um in Europa junge
Menschen voranzubringen. Daher ist es richtig, dass wir
in Deutschland jungen Menschen aus Europa die Mög-
lichkeit geben, hier zu arbeiten, Erfahrungen zu sam-
meln und dann auch wieder in ihre Heimat zu gehen.
Das ist alles in Ordnung. Und es ist auch richtig, dass
wir unser anerkanntes System der dualen Berufsausbil-
dung in die anderen europäischen Länder tragen, wenn
sie dies wünschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


Dies heißt aber auch, dass wir selber diese duale Be-
rufsausbildung in unserem Land ernst nehmen und dass
wir sagen: Jawohl, ein exzellent ausgebildeter Meister
ist uns so wichtig wie ein Diplom-Ingenieur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir brauchen beides. Wir sehen ja beispielsweise in Spa-
nien, wohin es geführt hat, wenn man glaubt, nur akade-
mische Ausbildung führe zum Erfolg. Das heißt, auch
wir in Deutschland müssen unsere duale Berufsausbil-
dung weiter auf Kurs halten.

Es ist natürlich richtig, dass wir in Europa all die
Dinge bekämpfen und korrigieren, die zu diesen Ergeb-
nissen geführt haben. Es ist natürlich richtig, dass wir
eine europäische Bankenaufsicht schaffen und dass da-
raus entsprechende Konsequenzen folgen, dass diese
Bankenaufsicht also bestimmte Auflagen erteilen kann.





Volker Kauder


(C)



(D)(B)

Wir wissen aus der Erfahrung der letzten Jahre, dass in
manchem europäischen Staat die nationale Bankenauf-
sicht nicht so hingeschaut hat, wie es notwendig gewe-
sen wäre, um zu dem entsprechenden Ergebnis zu kom-
men. Ich finde es richtig, dass die Aufsicht in einer
besonderen Abteilung der EZB angesiedelt wird. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, eine Bankenaufsicht, die ei-
ner politischen Kontrolle unterstellt wäre, würde nie die-
selben Ergebnisse bringen wie eine unabhängige Ban-
kenaufsicht. Deswegen ist die Ansiedlung, die jetzt
gemacht wird, völlig richtig, und wir unterstützen sie
auch.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
dieses Europa anschauen, müssen wir sagen: Europa hat
auch deshalb immer wieder Probleme gehabt, weil man
sich nicht an das gehalten hat, was man miteinander ver-
einbart hat. Dabei ist der Satz „Europa hat deshalb Pro-
bleme bekommen“ sogar noch falsch. Nicht Europa trägt
dafür Verantwortung, sondern es sind noch immer die
Nationalstaaten, die dieses Europa bilden und die Ver-
antwortung tragen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Deswegen kann ich nur sagen: Deutschland muss da-
für sorgen, dass die einmal getroffenen Vereinbarungen
eingehalten werden. Das gilt sowohl bei den finanziellen
Fragen als auch bei anderen. Es macht keinen guten Ein-
druck, wenn wir beispielsweise nicht energisch sagen:
Die Stabilitätskriterien müssen eingehalten werden. –
Jede Ausnahme gilt nämlich nicht nur für einen, sondern
für das ganze System, und so kam das System ins Rut-
schen. Wir haben Vereinbarungen, die wir getroffen ha-
ben, selber nicht eingehalten, und das kann so nicht wei-
tergehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das gilt aber auch in allen anderen Bereichen. Damit
will ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der in der
politischen Diskussion der letzten Wochen durch die
Klausurtagung der CSU-Landesgruppe eine gewisse
Rolle gespielt hat. Zunächst einmal rate ich immer dazu,
sich genau anzuhören, was gesagt worden ist. Dann rate
ich dazu, in den Koalitionsvertrag zu schauen und zu le-
sen, was zu dem Thema dort vereinbart wurde. Und dann
wird in den allermeisten Fällen ein gutes Ergebnis he-
rauskommen.


(Lachen der Abg. Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auch das hat mit Europa zu tun. In Europa haben wir
uns selbst das große Geschenk der Freizügigkeit ge-
macht, und daran will auch überhaupt niemand rütteln.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ach?)


– Daran will niemand rütteln. – Aber wir haben in den
Regelungen zur Personenfreizügigkeit in der EU klar
und deutlich gesagt, dass in Europa Zuwanderung in Ar-
beit richtig ist, aber Zuwanderung in soziale Sicherungs-
systeme nicht erwünscht ist. Wenn man sieht, dass sich
das in dem einen oder anderen Fall anders verhält, muss
man dies auch ansprechen. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, im Koalitionsvertrag steht ausdrücklich, dass wir
uns solche Fehlentwicklungen anschauen wollen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Schlimm genug, dass das da steht!)


Wir sind für die Freizügigkeit und die Zuwanderung.
Aber wir werden mehr Verständnis der Bürgerinnen und
Bürger für Europa und für die Politik nur dann bekom-
men, wenn wir die eine Botschaft klar sagen – und uns
nicht von Populisten von links oder rechts beeindrucken
lassen –, wenn wir aber auch den Mut haben, in aller
Nüchternheit und Klarheit Fehlentwicklungen anzuspre-
chen und dafür zu sorgen, dass sie abgestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist das gemeinsame Thema, und da brauchen wir
Belehrungen von links oder von ganz rechts außen nicht.
Wenn wir das so machen, dann kommen wir auch gut
voran; das findet sich im Koalitionsvertrag wieder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Europa muss
auch mehr sein als ein Europa von Euro und Cent. Ich
bin Thomas Oppermann dankbar, dass er angesprochen
hat, dass wir eine Wertegemeinschaft sind. Es geht na-
türlich auch darum, dass wir diese Werte umsetzen. Da
haben wir – auch das muss man sagen – in unserem eige-
nen europäischen Haus an der einen oder anderen Stelle
noch miteinander zu tun. Wir sind mit der Situation von
Rechtsstaatlichkeit, von Unabhängigkeit der Justiz in
dem einen oder anderen europäischen Land nicht zufrie-
den. Das müssen wir klar und deutlich sagen. Wir kön-
nen auch nicht zufrieden sein, wenn ein europäisches
Land – ich nenne einmal den Namen, nämlich Rumänien –
sich nicht noch mehr anstrengt, Roma im eigenen Land
besser zu integrieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Das muss angemahnt werden. Dafür hat die Europäische
Union Geld zur Verfügung gestellt. Es gehört also beides
zusammen: Wir sind eine Wertegemeinschaft und müs-
sen diese Werte auch umsetzen.

Dann sage ich auch: Die Erfahrung der letzten Jahre
hat gezeigt, dass wir bei Verhandlungen mit Ländern, die
zur Europäischen Union gehören wollen, nicht nur ein-
seitig auf die wirtschaftliche Situation schauen dürfen
– das sowieso –, sondern auch dafür sorgen müssen, dass
der Rechtsstaat und auch die Freiheits- und Bürgerrechte
umgesetzt werden. Wir dürfen uns nicht darin täuschen,
dass sie erst dann umgesetzt werden, wenn ein Land in
Europa ist. Vielmehr muss dies vorher geschehen. Des-
wegen bitte ich die Bundesregierung ausdrücklich, bei
den Verhandlungen mit der Türkei das Thema Rechts-
staatlichkeit, Religionsfreiheit nicht bis zu den Verhand-
lungen über das letzte Kapitel zu verschieben, sondern
deutlich zu machen, dass dieses Thema ein Wesensele-
ment der Wertegemeinschaft Europa ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


(A)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es den
Menschen nach vier Jahren dieser Großen Koalition bes-
sergeht, wird darüber hinaus ganz entscheidend – auch
dies ist von Thomas Oppermann gesagt worden – von
der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Deswegen
muss es das erste Ziel sein, alles dafür zu tun, dass die
deutsche Wirtschaft sich entwickeln und wachsen kann.
Unser Mittelstand steht in einer unglaublichen Wettbe-
werbssituation, in Asien, aber auch in Europa. Es sind
enorme Investitionen notwendig, um die neuen Heraus-
forderungen annehmen zu können. Deswegen war es
richtig, das Geld dort zu lassen, wo es gebraucht wird,
um die Wirtschaft wachsen zu lassen, statt es durch Steu-
ererhöhungen in den Staatshaushalt hineinzuspülen. Da-
mit haben wir eine richtige Entscheidung getroffen. Ich
bin dankbar dafür, dass diese Entscheidung in der Gro-
ßen Koalition möglich war. Ich will es nur noch einmal
sagen – wir brauchen es nicht weiter zu vertiefen –: Bei
der Entscheidung „keine Steuererhöhungen“ bleibt es in
dieser Koalition in den nächsten vier Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich bin der Auffassung, auch wenn unterschiedliche
Positionen in unseren Gesprächen bei der einen oder an-
deren Frage zum Vorschein gekommen sind, dass das,
was wir jetzt im Koalitionsvertrag vereinbart haben, ver-
antwortet werden kann, sowohl das Rentenpaket als
auch die Maßnahmen, die wir im Umfeld des Arbeits-
marktes vereinbart haben. Aber wir sollten uns immer
auch darüber im Klaren sein: Verantwortet werden kann
es – und wir stehen dazu – nur dann, wenn die wirt-
schaftliche Entwicklung stabil verläuft. 100 000 Arbeits-
lose mehr bedeuten 2,2 Milliarden Euro Mehrausgaben
bei der Bundesanstalt für Arbeit. Es soll uns immer lei-
ten, alles, was wir machen, daraufhin genau anzuschauen,
ob es dazu dient, mehr Arbeit zu schaffen, mehr Men-
schen in Arbeit zu bringen und nicht weniger. Das muss
die Hauptaufgabe bei all diesen Dingen bleiben, diesen
Kontrollmechanismus müssen wir genau im Auge behal-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht nur
die innenpolitischen Themen sind entscheidend für unser
wirtschaftliches Wachstum. Die Energiepolitik – sie ist
schon angesprochen worden – ist ein zentrales Thema.
Sehr geehrter Herr Minister Gabriel, ich kann es an die-
ser Stelle nur noch einmal sagen: Diese große Aufgabe,
die Energiewende voranzubringen und zum Erfolg zu
führen, diese Aufgabe, die Sie nun in der Regierung und
wir in der gesamten Koalition haben, betrachten wir
nicht als die Aufgabe eines SPD-Bundesministers; viel-
mehr ist es die gemeinsame Aufgabe von uns allen, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Sie können sicher sein, dass wir Sie bei dieser Aufgabe
begleiten, vielleicht zuverlässiger als mancher aus Ihren
eigenen Reihen, den Sie jetzt gerade hören.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)

Damit wende ich mich an die Bundesländer – die
Bundeskanzlerin hat es schon angesprochen –: Es geht
nicht um Partikularinteressen. Wir müssen klar und deut-
lich formulieren: Wir machen Energiepolitik für Deutsch-
land. Dafür trägt auch der Bundesrat eine Verantwortung.
Natürlich schauen wir auf das eine oder andere Anliegen
der Länder. Aber wir machen Energiepolitik, damit
Deutschlands Wirtschaft wachsen kann und die Men-
schen nicht übermäßig zahlen müssen. Auf diesem Weg
haben Sie uns an Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die
deutsche Wirtschaft ist nicht nur entscheidend, was wir
in diesem Land machen. Wir sind eine Exportnation.
Deswegen sind wir natürlich auch auf die europäischen
Märkte angewiesen. Aber wir sind nicht nur in Europa,
sondern weltweit unterwegs. Das muss auch in Zukunft
so bleiben. Wir müssen uns daher darum bemühen, dass
es in einigen Krisenherden in der Welt wieder mehr Sta-
bilität gibt, und wir müssen uns stattgefundene Verände-
rungen anschauen. Wir werden deshalb in dieser Koali-
tion für drei Bereiche eine neue Situationsbeschreibung
machen müssen.

Erstens. Die Veränderungen in Asien waren drama-
tisch. Wir sehen, dass es neben Veränderungen im wirt-
schaftlichen Bereich auch Unsicherheiten gibt. Denken
Sie nur an die Situation auf der koreanischen Halbinsel
oder die Beziehungen zwischen China und Japan. Wir
brauchen deshalb eine neue Asien-Strategie. Wir müssen
uns fragen: Wie gehen wir mit der neuen Situation um?

Zweitens. In diesen Tagen sehen wir ja, was in Afrika
los ist. Niemand glaube, dass wir nach dem Motto „Was in
Afrika passiert, das geht uns nichts an!“ leben können.
Wir brauchen daher eine neue Afrika-Strategie. Da müs-
sen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie das Verhältnis
von politischen Aktivitäten, also dem Vorhererkennen von
Krisen und Präventionsmaßnahmen, zu militärischen
Notwendigkeiten aussieht. Ich halte das für völlig rich-
tig, was in der Bundesregierung gesagt worden ist, näm-
lich dass wir auch in Afrika unseren Beitrag leisten.
Aber ich bin schon der Meinung, dass wir uns noch ein-
mal darüber unterhalten sollten, was wir konkret machen
wollen.

Ich kann beim allerbesten Willen nicht erkennen – ich
halte unsere damalige Entscheidung für richtig –, dass
der militärische Einsatz in Libyen tatsächlich ein Erfolg
war. Die Waffen, die dort waren, sind in andere Staaten
Afrikas gelangt. Deswegen ist es völlig richtig, wenn wir
uns politische und diplomatische Maßnahmen sowie die
Notwendigkeit für militärische Aktionen ganz genau an-
schauen und auf ihre Erfolgsmöglichkeiten hin überprü-
fen.

Drittens. Wir brauchen eine neue Lateinamerika-Stra-
tegie. In Lateinamerika wird zu Recht immer wieder be-
klagt, dass wir uns zu wenig um diese Länder kümmern.

Zum Schluss. All das, was wir jetzt beispielsweise in
Afrika sehen, hat auch etwas mit unserer eigenen Sicher-
heit zu tun. Wir sehen eine neue Entwicklung in der





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Welt. Jeder weiß, dass ich mich mit dem Thema Reli-
gionsfreiheit in besonderer Weise befasse. Früher hatten
wir immer das Problem, dass Staaten Religionsfreiheit
eingeschränkt haben und dass dort Gläubige verfolgt
wurden. Zunehmend stellen wir fest, dass die Risiken
von Unfreiheit, von Bekämpfung von Glaubensbekennt-
nissen in sogenannten gefallenen Staaten, in denen es
keine staatliche Autorität mehr gibt, steigen. Entlang von
ethnischen Grenzen und Glaubensüberzeugungen wird
eine Auseinandersetzung geführt. Wo es keine staatliche
Gewalt mehr gibt, entstehen islamistische Terrorgrup-
pen, die auch zum Leidwesen der einheimischen musli-
mischen Bevölkerung ihr Unwesen treiben. Deshalb ist
die Frage, mit welcher Strategie wir an diese Fragen he-
rangehen, ein zentrales Thema der Menschenrechte, aber
auch der wirtschaftlichen Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, Herr Hofreiter, dass diese Koalition die
wirklich großen Fragen in ihrem Koalitionsvertrag ange-
sprochen hat; die Bundeskanzlerin hat diese genannt.
Viele Punkte, die in der Koalitionsvereinbarung stehen,
sind für Gruppen, aber auch für einzelne Menschen
wichtig. Ich kann nur sagen: In Europa dafür zu sorgen,
dass es wieder vorangeht, wirtschaftliches Wachstum
und Frieden und Stabilität in dieser Welt zu fördern,
das sind die großen Herausforderungen, denen wir uns
stellen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801001100

Vielen Dank, Herr Kauder. – Das Wort hat Gerda

Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1801001200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Eines können wir zu Beginn dieser Legislaturpe-
riode eindeutig feststellen: Das Feld ist sehr gut bestellt.
Die Konjunktur hat wieder an Schwung gewonnen; die
Steuereinnahmen haben einen Höchststand erreicht. Es
sind wieder mehr Menschen in Beschäftigung als in frü-
heren Jahren, und sie verdienen im Durchschnitt mehr
als die Menschen in der Europäischen Union. Dies
macht deutlich: Deutschland ist das Chancenland in
Europa. Das ist die Ausgangsposition.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das hängt damit zusammen, dass die Menschen fleißig
sind, dass wir tüchtige Unternehmer haben, dass die Ta-
rifpartnerschaft funktioniert. Aber es hängt auch damit
zusammen, dass in den vergangenen acht Jahren unter
der Führung von Angela Merkel eine gute Politik für die
Menschen im Land gemacht wurde. Der Vertrauens-
beweis, den sie und diese Regierungskoalition, insbeson-
dere die Unionsfraktion, bekommen haben, macht deut-
lich: Die Menschen wollen keinen Politikwechsel. Sie
wollen, dass der politische Stabilitätskurs der vergange-
nen Jahre fortgesetzt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vor genau dieser Ausgangsposition standen wir zu
Beginn der Koalitionsverhandlungen. Es ist bereits von
Volker Kauder und Thomas Oppermann deutlich ge-
macht worden, dass es wahrlich nicht selbstverständlich
war, sich auf ein so starkes Programm für die Menschen
im Land, für eine weitere gute Entwicklung zu verstän-
digen. Aber uns war klar: Es ist keine Zeit, um sich
zurückzulehnen, schon gar keine Zeit, um von der Sub-
stanz zu leben. Der Auftrag, den wir alle haben, ist, die-
ses Land und die Menschen gut zu regieren und die He-
rausforderungen, die vor uns stehen, mutig anzugehen.
Das haben wir gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Als Erstes geht es um die zentrale Frage: Wie kann
der Kurs in Richtung Vollbeschäftigung gehalten wer-
den? Eines der wichtigsten Themen dabei war – das
wurde gerade von Volker Kauder angesprochen – das
Nein zu jeder Art von Steuererhöhungen. Wir hatten da
zunächst unterschiedliche Positionen. Aber weil wir wis-
sen, dass Steuererhöhungen Gift für die Wirtschaft, Gift
für eine weiterhin gute Beschäftigungssituation wären,
haben wir uns gemeinsam darauf verständigt, dass es
keine Steuererhöhungen gibt. Dabei muss und wird es
auch bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben uns auf ein Zweites verständigt, das für die
weitere Beschäftigungsentwicklung von entscheidender
Bedeutung ist: den Vorrang von Bildung, Forschung und
Innovation. Auch dabei geht es um die Fortführung des
Kurses der letzten Legislaturperiode. Damals wurden
vonseiten des Bundes zusätzliche Gelder gerade für For-
schung ausgegeben, und auch diesen Kurs setzen wir
fort. Das, was wir in unsere Kinder und Jugendlichen, in
die Köpfe der Menschen investieren, das kann ihnen nie-
mand mehr nehmen. Es ist das Kapital unseres Landes,
für eine weitere erfolgreiche Entwicklung der Menschen
selbst, aber auch unserer gesamten Volkswirtschaft. Des-
halb ist dies so wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Wir haben einen dritten Schwerpunkt gesetzt, auch
dies in Fortführung dessen, was in der letzten Legislatur-
periode begonnen wurde, und zwar auf die Verbesserung
der Infrastruktur. Wir alle wissen, dass ohne eine ausrei-
chende Verkehrsinfrastruktur wirtschaftliche Prosperität
nicht stattfinden kann. Wir haben hier Nachholbedarf
aus früheren Jahren. Deshalb brauchen wir zusätzliche
Mittel für die Verkehrsinfrastruktur und auch eine Betei-
ligung derjenigen, die sich bisher nicht beteiligen, näm-
lich der Ausländer, die auf unseren deutschen Autobah-
nen fahren. Das wollen und werden wir auch realisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zu einer guten Infrastruktur gehört auch die Versor-
gung mit einem modernen Breitbandnetz. Deshalb ist es





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

richtig, die Kompetenzen für die Infrastruktur, die Ver-
kehrskompetenz und die Breitbandkompetenz, in einem
Ministerium zu bündeln. Wir können es nicht zulassen,
dass nur in den Ballungsgebieten, dort, wo es sich markt-
wirtschaftlich rechnet, eine schnelle Internetverbindung
zur Verfügung steht. Jeder Unternehmer, jeder Student,
jeder Schüler, jede Privatperson, auch im ländlichen
Raum, hat einen Anspruch auf eine schnelle Internet-
verbindung. Deshalb begrüße ich es besonders, die
Kommunen hier finanziell besser zu unterstützen. Ich
begrüße auch die Anstrengungen einiger Länder; Bayern
tut dies in vorzüglicher Weise.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein Viertes ist für die Beschäftigungssituation und die
weitere wirtschaftliche Entwicklung von elementarer
Bedeutung: die Bewältigung der Energiewende. Das ist
vorhin schon mehrfach angesprochen worden. Was ma-
chen wir in diesem Bereich? Wir nehmen im Endeffekt
eine Reparatur dessen vor, was insbesondere von den
Grünen forciert wurde. Sie haben sich nämlich damals
überhaupt nicht um den Netzausbau und den Speicher-
ausbau gekümmert.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann regieren Sie denn, Frau Hasselfeldt? Seit acht Jahren!)


Sie haben sich auch nicht um die Preisentwicklung ge-
kümmert, sondern einen unkoordinierten und unge-
bremsten Ausbau der erneuerbaren Energien betrieben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Hasselfeldt, seit wann regieren Sie denn?)


Wir haben jetzt das zu reparieren, was Sie durch Ihre
Fehler und Defizite hinterlassen haben. Das ist die Aus-
gangsposition. Nun geht es darum, die Energiewende
weiter zu begleiten und dabei eben nicht nur darauf zu
schauen, dass sich der Anteil der erneuerbaren Energien
erhöht, sondern auch darauf, dass die Versorgung gesi-
chert ist, und zwar auch dann, wenn die Sonne nicht
scheint und der Wind nicht weht, und dass die Preise
nicht davonlaufen, damit sie jeder private Verbraucher,
jede Rentnerin und jeder Rentner, jeder Arbeitnehmer
und jedes Unternehmen, das Arbeitsplätze zur Verfü-
gung stellt, auch zahlen kann. Darum geht es, meine
Damen und Herren; das haben wir in gemeinsamer Ver-
antwortung zu bewerkstelligen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Der Bundesminister hat dazu Eckpunkte vorgelegt;


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sogar von Herrn Seehofer kritisiert werden!)


das sind richtige Weichenstellungen. Er wird auf Grund-
lage dieser Eckpunkte einen konkreten Gesetzentwurf
vorlegen. Wir werden bei dieser komplizierten Materie
natürlich alles diskutieren; das ist auch unsere Verant-
wortung. Aber eines muss klar sein: Wir müssen dieses
Projekt gemeinsam begleiten. Wir alle wissen um die
sehr unterschiedlichen regionalen Interessen, um die
unterschiedlichen Interessen der Verbände und der be-
troffenen Wirtschaftszweige. Unser Augenmerk muss
immer darauf gerichtet sein, die Aspekte Umweltver-
träglichkeit, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und
Akzeptanz in der Bevölkerung unter einen Hut zu brin-
gen. Das ist eine schwierige Aufgabe – wenn es leicht
wäre, hätten wir das längst erledigt –, die wir gemeinsam
bewerkstelligen müssen. Sie haben unsere Unterstützung
bei der Bewältigung der Energiewende.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


All dies ist die Grundvoraussetzung dafür, dass alle
notwendigen Anpassungen im sozialpolitischen Bereich
zufriedenstellend gelöst werden können. Bevor ich aber
darauf zu sprechen komme, möchte ich einen weiteren
Komplex ansprechen, der für die Zukunft unseres
Landes von ganz entscheidender Bedeutung ist. Es geht
um die Frage: Wie gehen wir mit unseren öffentlichen
Finanzen um? Wie halten wir es mit unseren Haushal-
ten? Das ist nicht nur theoretisch zu entscheiden. Es geht
auch nicht darum, dass etwas auf dem Papier steht. Hier
geht es vielmehr um unser Selbstverständnis, zumindest
um mein Selbstverständnis, von politischer Arbeit; denn
wir machen nicht nur für die heutige Generation Politik,
sondern immer auch mit Blick auf diejenigen, die nach
uns kommen, auf unsere Kinder und Enkelkinder. Wenn
wir unsere Verantwortung, für solide öffentliche Finan-
zen zu sorgen, nicht ernst nehmen, dann versündigen wir
uns an den nachfolgenden Generationen, an unseren
Kindern und Enkeln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein gutes Beispiel ist Bayern. Seit fast zehn Jahren
haben wir einen ausgeglichenen Haushalt; mittlerweile
sind wir bei der Tilgung der Altschulden. Auch auf
Bundesebene sind wir auf einem sehr guten Weg. In die-
sem Jahr werden wir einen strukturell ausgeglichenen
Haushalt haben und für das nächste Jahr einen ausgegli-
chenen Haushalt vorlegen. Das ist das Ergebnis unserer
harten Arbeit in den vergangenen Jahren. Wir dürfen
jetzt aber nicht stehen bleiben. Deswegen bin ich sehr
dankbar, dass wir uns in den Koalitionsverhandlungen
bei zunächst unterschiedlicher Ausgangsposition auf
diesen Weg der Stabilität verständigt haben.

Das Gleiche gilt für Europa. Auch hier haben wir
– die Bundeskanzlerin hat es vorhin angesprochen – in
den vergangenen Jahren durch unseren Stabilitätskurs
und durch die Hartnäckigkeit der Bundeskanzlerin viel
erreicht. Die Situation in den Problemländern hat sich
deutlich verbessert. Aber auch hier gilt es, Kurs zu
halten; wir sind noch nicht über den Berg. Wir müssen
immer wieder deutlich machen: Eine zu hohe Staats-
verschuldung ist die Basis für eine weiter schlechte wirt-
schaftliche Entwicklung auf Jahrzehnte. Wir wollen eine
Stabilitätsunion in Europa, statt den Weg in eine Schul-
denunion zu gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)






Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Das Thema Europa ist mehrfach angesprochen wor-
den. Ich will dazu nur einige Bemerkungen machen.
Trotz all der schwierigen Entscheidungen, die wir in
letzter Zeit zu treffen hatten, konnten wir uns die Vor-
teile Europas bewusst machen und durften erkennen,
welch großartiges Geschenk es ist, in der jetzigen Zeit,
auch nach schwierigen Phasen in Europa, in Deutsch-
land leben und dieses Europa weiter gestalten zu
können. Die Erfahrungen aus der Geschichte haben ge-
zeigt, dass wir ein starkes Europa brauchen, wenn es um
Außen- und Sicherheitspolitik geht, wenn es um Wirt-
schaftskoordinierung und um Währungsfragen geht oder
auch um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in
den europäischen Ländern. Aber wir brauchen ein
schlankes Europa, wenn es darum geht, den Alltag der
Bürger zu gestalten. Europa muss sich nicht in jede Klei-
nigkeit einmischen – vom Trinkwasser bis zu den
Duschköpfen –, sondern sollte sich auf die wesentlichen
Aufgaben beschränken. Ich bin froh, dass dieser Ge-
danke der Subsidiarität, der früher im Wesentlichen ein
Gedanke der Union war, gelegentlich sogar nur mit der
CSU verbunden wurde, in Europa mittlerweile auch in
anderen Parteien Platz gegriffen hat. Das begrüße ich
sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich begrüße auch – wenn ich das sagen darf – das
große Verständnis für die CSU-Position zur Freizügig-
keit in Europa, das heute mehrere Redner zum Ausdruck
gebracht haben. Ich betone es hier noch einmal: Ich
stehe mit meiner Partei voll zur Freizügigkeit in Europa.
Niemand in meiner Partei stellt das infrage, niemand.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aber wir wollen keinen Missbrauch der Freizügigkeit,
und wir müssen eine Antwort geben auf die Klagen der
Kommunen und Städte über die Situation vor Ort. Ich
bin sehr dankbar dafür, dass sich der Staatssekretärsaus-
schuss dieser Probleme annimmt und eine Lösung sucht.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da tagt wieder ein Arbeitskreis!)


Das ist eine notwendige und richtige Konsequenz. Wenn
wir vorhandene Probleme nicht ansprechen, dann brau-
chen wir uns nicht darüber zu wundern, dass sich am
rechten und am linken Rand unserer Gesellschaft Kräfte
tummeln, die wir alle miteinander nicht haben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will noch einen Komplex ansprechen. Unser Land
lebt ganz wesentlich vom gesellschaftlichen Zusammen-
halt, vom Zusammenhalt der Generationen, vom Zusam-
menhalt der unterschiedlichen sozialen Gruppierungen.
Deshalb ist es uns wichtig, den Stellenwert der Familie
und den Stellenwert der Erziehung immer wieder deut-
lich herauszustellen. Wir haben dafür gekämpft, dass
das, was in der letzten Legislaturperiode erreicht wurde,
nicht reduziert wird. Das haben wir geschafft. Außerdem
haben wir dafür gekämpft, dass bei der Rentenversiche-
rung die Erziehungszeiten derjenigen, die vor 1992 Kin-
der geboren haben, besser anerkannt werden, als das frü-
her der Fall war.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das sind wir den Müttern dieser Generation schuldig,
die unter viel schwierigeren Bedingungen als heute ihre
Kinder großgezogen haben, die häufig gezwungen wa-
ren, auf Erwerbstätigkeit zu verzichten und deshalb
niedrigere Renten haben.

Wir vergessen ferner weder diejenigen, die pflegebe-
dürftig sind, noch diejenigen, die die Pflegebedürftigen
pflegen, egal ob in den Familien oder hauptberuflich,
stationär oder ambulant. Deshalb wird uns das große
Werk der Reform der Pflegeversicherung stark in An-
spruch nehmen.

Wir vergessen auch die Menschen mit Behinderungen
nicht. In diesem Zusammenhang denken wir auch an die
Kommunen; denn wir wissen sehr wohl, dass die Leis-
tung für behinderte Menschen, die Eingliederungshilfe,
nicht eine kommunalpolitische Leistung ist, sondern
eine Leistung, die in den Verantwortungsbereich aller
Ebenen fällt, des Bundes, der Länder und der Kommu-
nen. Deshalb werden wir mit dem Bundesleistungsge-
setz auch hier ein Zeichen setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das steht noch nicht einmal im Haushalt!)


Wir haben bei all diesen Themen eine gemeinsame
Verantwortung in diesem Land. Gemeinsame Verant-
wortung bedeutet aber nicht, dass man über unterschied-
liche Positionen nicht kontrovers diskutieren darf. Zu ei-
ner Demokratie gehört Meinungsvielfalt, auch einmal
Streit im guten Sinne des Wortes. Man darf auch einmal
innerhalb einer Partei oder einer Koalition streiten; das
sind wir den Menschen schuldig. Das geschieht aber im-
mer unter dem Gesichtspunkt, dass wir alle miteinander,
egal welcher Partei, den Auftrag haben, den Menschen
zu dienen und dafür zu sorgen, dass es ihnen noch besser
geht als heute schon. Das sind Auftrag und Verpflich-
tung dieser Koalition.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801001300

Vielen Dank, Frau Kollegin Hasselfeldt. – Ich gebe

nun das Wort der Beauftragten für Kultur und Medien,
der Staatsministerin Professor Monika Grütters.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


M
Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1801001400


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von
dem wunderbaren, gelegentlich ein wenig satirisch da-
herkommenden Mark Twain stammt der Satz: Kultur ist
das, was übrig bleibt, wenn der letzte Dollar ausgegeben
ist. – Hier ist er einmal ganz nüchtern gewesen. In der
Tat, Mark Twain hat recht: Kultur ist eben mehr als alles
andere, Kultur ist ein Wert an sich. Geld ist nicht alles;





Staatsministerin Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

das wissen wir hier besser als alle anderen. Ohne Dollars
und Euros geht es halt nicht. Zum Glück haben Bundes-
tag und Bundesregierung in der vergangenen Legislatur-
periode den Etat des Staatsministers für Kultur immer
wieder ein wenig aufwachsen lassen. Es wäre schön,
wenn es dabei bliebe.

Gerade in Zeiten ökonomischer Krisen, wie wir sie
nicht nur in Europa, sondern weltweit seit Jahren erle-
ben, wird die Wertegemeinschaft, wird das, was wir das
Kulturprojekt Europa nennen, immer wichtiger. Wo,
wenn nicht in der Kultur, können Antworten gesucht
werden auf die Frage, was uns zusammenhält? Die Frage
stellt sich einmal mehr in einem so intensiven Gedenk-
jahr wie 2014. Welche Werte erkennen wir eigentlich als
gemeinsames Fundament an? Eine Kulturnation wie
Deutschland, die in ihren Traditionen so reich, aber in ih-
ren Brüchen auch so radikal ist – mehr als alle anderen –,
muss sich mehr denn je nach ihrer Rolle im heutigen und
im zukünftigen Europa fragen. Ich glaube, Antworten
auf diese Fragen sind wir schuldig, und zwar vor
Deutschland, vor Europa und auch vor den Augen der
Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ein Blick auf unsere ja so sperrige Geschichte macht
deutlich, dass die Kultur in den vergangenen Jahrhun-
derten in Deutschland immer eine besondere Rolle ge-
spielt hat. Sie war und ist bis heute das geistige Band,
das uns auch über manche föderalen Schwierigkeiten
hinweg zusammenhält. Deutschland war zuerst eine
Kultur- und dann eine politische Nation. Nationale Iden-
tität wächst eben auch zuallererst aus dem Kulturleben
eines Landes. Aus den Zusammenbrüchen unserer Ge-
schichte mit zwei Diktaturen in einem Jahrhundert haben
wir eine Lehre gezogen. Bereits in Art. 5 Abs. 3 unseres
Grundgesetzes heißt es: „Kunst und Wissenschaft, For-
schung und Lehre sind frei“. Das ist der oberste Grund-
satz jeder verantwortlichen Kulturpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frei sein können Kunst und Wissenschaft nur, wenn
der Staat ihre Freiheiten schützt. Diese staatliche Für-
sorge für die Kultur und ihre Freiheit, die mit dem Mut
zum Experiment natürlich auch das Risiko des Schei-
terns einschließt, hat immer wieder weltweit beachtete
Leistungen hervorgebracht. Dieses hartnäckige Engage-
ment für die Künste, die ja nicht immer leicht zu ertra-
gen sind, hat entscheidenden Anteil am mittlerweile wie-
der hohen Ansehen Deutschlands in der Welt. Eine
solche Kultur ist eben nicht das Ergebnis des Wirt-
schaftswachstums; sie ist vielmehr dessen Vorausset-
zung. Kulturelle Existenz in Deutschland ist keine Aus-
stattung, die sich unsere Nation leistet, sondern eine
Vorleistung. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass sie
allen zugutekommt.

Eine so verstandene Kultur ist auch kein dekorativer
Luxus, sondern Ausdruck eines menschlichen Grundbe-
dürfnisses. Sie ist nicht allein Standortfaktor, sondern
auch Ausdruck von Humanität. Deshalb ist es mir beson-
ders wichtig, neben der Fürsorge für unser kulturelles
Erbe, also für die Institutionen, ganz besonders auch die
Künstler in den Blick zu nehmen, die Kreativen, und
Sorge für die Rahmenbedingungen zu tragen, unter de-
nen sie leben.


(Beifall des Abg. Charles M. Huber [CDU/ CSU])


– Danke, ich habe auch Sie persönlich gemeint.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Denn es sind ja die Künstler, die uns immer wieder mit
ihren herausragenden Leistungen beglücken. Ich finde,
das, was von den Kreativen kommt, darf auch mal weh-
tun, darf auch unbequem sein. Sie sind das kritische Kor-
rektiv, das wir brauchen und von dem eine vitale Gesell-
schaft lebt. Sie dürfen uns zum Nachdenken und auch
zur Kritik herausfordern. Ich bin Ihnen ausdrücklich
dankbar dafür, dass das immer wieder und so hartnäckig
passiert.


(Beifall im ganzen Hause)


Bei einem solchen Verständnis von Kultur verbieten
sich eine allzu kleinliche Steuerung und ein staatliches
Kriterienkorsett. Künstler brauchen keine autoritativen
Vorgaben; was sie brauchen, sind Inspiration, Anstöße
und unseren gemeinsamen Diskurs.

Lassen Sie mich an dieser Stelle als Münsteranerin in
Berlin und als Berlinerin in diesem Amt ein Wort zu
Berlin sagen.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Ja!)


Mein Berliner Kollege Swen Schulz, meine Kollegin
Högl, mir wird immer unterstellt, ich würde jetzt nur
noch Berlin sehen.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ganz gefährlich!)


Aber Berlin ist eben die Hauptstadt, und das, was in die-
ser Hauptstadt kulturell gelingt, wird in den Augen der
Welt dem ganzen Land gutgeschrieben.


(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD] und Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Andererseits wird – jedenfalls in den Augen der Öffent-
lichkeit – für das, was hier schiefgeht, auch das ganze
Land verantwortlich gemacht. Kulturpolitik in Berlin ist
also, ob man das will oder nicht, immer auch Bundes-
politik,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


und die Bundeskulturpolitik in und für Berlin ist Aus-
druck der Anerkennung der besonderen Rolle der Haupt-
stadt für die Nation.

Gleich wird es Ihnen nicht so gefallen. – In der Kul-
turpolitik muss den Ländern klargemacht werden, dass
Berlin kein konkurrierendes Bundesland, kein Bundes-
land wie jedes andere ist, sondern unser aller Mittel-
punkt. Berlin selbst muss dem Bund aber auch klarma-





Staatsministerin Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

chen, dass er als Erster von einer kulturell blühenden
Hauptstadt profitiert. Ich würde mich schon freuen – da
können Sie mir alle helfen –, wenn Berlin auch einmal
Danke sagen würde oder einfach nur erkennen ließe,
dass Hauptstadt sein auch eine dienende Funktion ist.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Um also allen Mutmaßungen entgegenzutreten: Ich
verstehe mich als Kulturstaatsministerin für ganz Deutsch-
land, nicht nur, aber ganz besonders auch für Berlin, un-
sere Hauptstadt. Deshalb hat mich meine erste Dienst-
reise nach Frankfurt geführt und dort nicht in einen
Tempel der Hochkultur, sondern ins Jüdische Museum.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Dort wird nämlich gerade sehr eindrucksvoll in einer
kleinen Kammerausstellung gezeigt, dass es den Nazis
1938 nicht nur und nicht in erster Linie darum ging, die
Kunst der Moderne als entartet zu diffamieren, sondern
dass das Hauptziel war, auch im Kunstbetrieb jüdische
Mitbürger und Akteure zu eliminieren. Deshalb bleiben
Provenienzrecherche und Restitution, also die Rückgabe
geraubter Güter, für uns ein ganz wichtiges Anliegen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Es gehört zu unseren großen Verantwortungen, uns
unserer Geschichte und ihren Folgen immer wieder und
auch auf diesem bitteren Feld zu stellen, damit das ge-
schehene Unrecht nicht auch noch latent fortdauert. Ich
finde es schlicht unerträglich, dass sich immer noch
Naziraubkunst in deutschen Museen befindet.


(Beifall im ganzen Hause)


Allerdings ist in puncto Provenienzrecherche in den ver-
gangenen Jahren sehr viel geschehen. Die Arbeitsstelle
für Provenienzforschung hat 2008 ihre Arbeit aufgenom-
men; finanziert wird sie übrigens vom Bund und von den
Ländern. Seitdem sind 14,5 Millionen Euro in die Her-
kunftssuche geflossen. Was häufig nicht gesehen wird:
90 000 Objekte in 67 Museen und mehr als 520 000 Bü-
cher und Drucke in 20 Bibliotheken wurden mittlerweile
überprüft. Nach unseren Erkenntnissen wurden bis Sep-
tember letzten Jahres mehr als 12 200 Objekte – meist
diskret – zurückgegeben.

Die Koordinierungsstelle Magdeburg, die Arbeits-
stelle für Provenienzforschung und die Limbach-Kom-
mission leisten eine hervorragende Arbeit, die übrigens
im Ausland sehr wohl anerkannt wird. Aber es fehlt ein
erkennbarer Ansprechpartner. Darum sollen die Aktivi-
täten von Bund, Ländern und Kommunen in den Berei-
chen Provenienzforschung und Restitution, also tatsäch-
liche Rückgabe, künftig gebündelt und nachhaltig – ich
spreche von einer Verdopplung der Bundesleistungen –
gestärkt werden. Ich habe dazu viele Gespräche mit Län-
derkollegen geführt und nur positive Rückmeldung be-
kommen.

Es geht uns um mehr als um Kunstobjekte. Es geht
um das große Unrecht, um geraubte Identität, um den
Verlust von Erinnerungen, die ja mit diesen Stücken ver-
bunden waren, an geliebte Menschen. Ich finde, hier darf
sich keine öffentliche Institution wegducken. Bei der
Restitution geht es nicht in erster Linie um materielle
Werte. Den Anspruchstellern ist besonders wichtig, dass
sie, die Opfer, auch als Opfer anerkannt werden. Sie
möchten, dass wir alle ihre zerstörten Lebensläufe ken-
nen und dass durch die Anerkennung das Unglück und
das Leid, das sie erlitten haben, wenigstens nachträglich
sichtbar werden. Ich finde, es ist unsere moralische
Pflicht, genau das zu leisten.


(Beifall im ganzen Hause)


Deshalb ist auch klar, dass die Museen künftig nicht
nur, wie bisher, an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspoli-
tik, sondern auch daran gemessen werden, wie sie mit ih-
rer Geschichte und mit der Geschichte ihrer Sammlung
umgehen. Weil das nur gemeinsam gelingt, habe ich ein
zweites wichtiges Thema auf meiner Agenda: Wir
möchten enger mit den Ländern zusammenarbeiten.

Ich habe mit den 16 Länderministern inzwischen ver-
abredet, dass wir uns, wenn es irgendwie geht, zweimal
im Jahr treffen. Das erste Treffen soll auf meine Einla-
dung hin stattfinden. Dazu möchte ich dann auch die
kommunalen Spitzenverbände einladen, weil immerhin
44 Prozent der Kulturleistungen in Deutschland von den
wackeren Kommunen erbracht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der zweite Besuch – ich respektiere ja mit großer Be-
geisterung die Kulturhoheit der Länder – soll dann von
der KMK selber ausgehen. Wir wollen gemeinsam Stra-
tegien dafür entwickeln, wie wir unsere kulturelle Infra-
struktur retten können; denn sie wird sich ja vor dem
Hintergrund der Demografie und der ethnischen Durch-
mischung verändern.

Dazu gehört eben auch die Stabilisierung der Künst-
lersozialversicherung; denn der Erfolg der Kreativwirt-
schaft, die in Deutschland hinter der Automobilindustrie
mittlerweile immerhin an zweiter Stelle rangiert, darf
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allerwenigsten
Künstler und Kreativen Großverdiener sind. Die Einfüh-
rung der Künstlersozialversicherung vor 31 Jahren war
ein sozial- und kulturpolitischer Meilenstein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Die Künstlersozialkasse garantiert bis heute ganz we-
sentlich die soziale Absicherung der freiberuflich tätigen
Künstler und Publizisten, und ich finde, wir dürfen bei
aller immer wieder laut werdenden Kritik aus einschlägi-
gen Kreisen nicht zusehen, wie diese Errungenschaft
jetzt beschädigt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Das hat nämlich auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.
Wer künstlerische Leistungen in Anspruch nimmt, der
muss eben auch ein bisschen dafür Sorge tragen, dass
Künstler von ihrer Arbeit leben und nicht nur knapp
überleben können, also angemessen bezahlt werden.





Staatsministerin Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

Andererseits sollen die, die regelmäßig Abgaben ent-
richten, eben nicht zu Zahlmeistern werden, weil sich die
anderen drücken. Deshalb ist eine stärkere, intensivere
Prüfung notwendig. Im vergangenen Sommer waren wir
kurz davor, das durchzusetzen. Ich bin meiner Kollegin
Nahles sehr dankbar, dass auch sie das Thema Künstler-
sozialkasse ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Viel-
leicht schaffen wir es jetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Ja, ich finde, das ist einen Applaus wert.

Die Absicherung ist das eine, noch wichtiger ist es
aber, dass Künstler von ihrer kreativen Arbeit überhaupt
leben können – auch im digitalen Zeitalter. In der kom-
menden Legislaturperiode wird es deshalb darum gehen,
das Urheberrecht weiter an das digitale Umfeld anzupas-
sen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das Urhebervertragsrecht!)


Es gilt vor allem, den Wert geistigen Eigentums besser
zu vermitteln. Künstlerische Leistungen sind im Internet
ja frei verfügbar; das ist unbestritten. Umsonst dürfen sie
aber nicht sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Urheberrechtsverletzungen im Netz verursachen gra-
vierende Schäden, nicht nur volkswirtschaftlich. Des-
halb müssen wir in der Rechtsdurchsetzung konsequen-
ter sein, und die Rechteinhaber stehen für mich dabei im
Mittelpunkt. Wir wollen die Verbraucher nicht sanktio-
nieren, sondern sensibilisieren und aufklären.

Mit den digitalen Techniken sind nicht nur Risiken
verbunden, sondern sie eröffnen auch einen ganz ande-
ren Zugang zu Kultur und Bildung. Deshalb ist es uns
ein wichtiges Anliegen, das kulturelle Erbe zu digitali-
sieren. Ich möchte hier aber nicht verschweigen, dass
das vor allen Dingen sehr teuer ist. Trotzdem ist es bitter,
dass wir hier im Vergleich zu anderen Ländern, wie
Frankreich, weit hinterherhinken. Das betrifft vor allen
Dingen unser nationales Filmerbe, das nicht nur digitali-
siert, sondern auch viel besser aufbewahrt werden muss.
Als Kulturpolitikerin ist es mir in diesem Kontext wich-
tig, dass wir auch hier nach den gesellschaftlichen Ver-
änderungen und den Werten fragen, die nicht im Rausch
des technisch Machbaren untergehen dürfen.

Erlauben Sie mir zum Schluss bitte noch ein Wort zu
meinem Herzensanliegen, zum größten Kulturprojekt
Europas; denn das entsteht in Berlins Mitte auf dem zen-
tralen Platz der Republik: Es ist das Humboldt-Forum.
Das ist schon lange kein Luftschloss mehr. Sie sehen,
dass der Keller gedeckt ist und dass es auf starken Fun-
damenten steht. Ich traue der Stiftung auch zu, dass am
Jahresende der Rohbau zu sehen sein wird.

Ich möchte versuchen, anhand von zehn einfachen
Punkten zu sagen, warum ich eine so leidenschaftliche
Verfechterin bin.

Erstens. Deutschland hat als einzige Nation der Welt
die historische Chance, den zentralen Platz der Republik
am Beginn des 21. Jahrhunderts neu zu definieren. Wir
machen kein Parkhaus, kein Hotel und auch kein Central
Park East, sondern wir laden die Kunst ein.

Zweitens. In einer einzigartigen Verbindung werden
die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Universität
und die Bibliothek die Mitte der Hauptstadt bespielen.

Drittens. Hier sollen sich vor allen Dingen die außer-
europäischen Künste selbstbewusst darstellen.

Viertens. Das Ganze geschieht im direkten Dialog mit
unserer eigenen Kunstgeschichte, gegenüber auf der
Museumsinsel.

Fünftens. Es soll um die Betrachtung der großen
Menschheitsthemen gehen, wie die Grenzen des Lebens,
Geburt, Tod, Gott, die Bedeutung der Religion, Identität
und Migration. Hier erfahren wir das, was wir alle über
unser Leben wissen wollen.

Sechstens. Wir alle erleben immer wieder, was es
heißt, als Minderheit in einer Diaspora zu leben, zum
Beispiel ich als Katholikin in Marzahn oder die Schwa-
ben in Prenzlauer Berg.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Kosmopolitische Städte wie Berlin sind unsere Zukunft.
In Museen gilt dieser Unterschied nicht; da sind alle
Menschen gleich. Die Unterschiede sind kleiner als die
Gemeinsamkeiten.

Siebentens. Ich finde, es muss eine Vision für Berlin,
die Hauptstadt, her, für Deutschland, eine der bedeu-
tendsten Kulturnationen der Welt. Ich glaube, das kann
an diesem Platz in aufregenden Kunstpräsentationen sei-
nen Ausdruck finden.

Achtens. Wir wollen die Diskussion interdisziplinär
und auf hohem Niveau führen.

Neuntens. Berlin ist der Sehnsuchtsort für viele junge
Menschen, die Deutschland attraktiv finden. Wir laden
die Jugend ein, denn dort sprechen wir eine neue, junge
Sprache.

Zehntens und last, but not least. Das Humboldt-Fo-
rum ist mit einer einzigartigen Idee verbunden. Es geht
dabei ja nicht um ein besseres Völkerkundemuseum oder
um die pragmatische Unterbringung unserer Sammlung.
Es geht um neuartige Kunst- und Kulturerfahrung und
um das Wissen über gleichberechtigte Weltkulturen und
neue Kompetenzen im Weltverständnis. Damit das ge-
lingt, müssen wir nicht nur das bauliche Entstehen be-
gleiten, sondern wir müssen sehr schnell die Inhalte
durch eine Intendanz profilieren, um die ich mich sehr
zügig kümmern möchte.

Letzter Satz. Der Name „Humboldt-Forum“ steht für
die Tradition der Aufklärung, für die weltoffene und
selbstbewusste Annäherung der Völker und für das Ideal
eines friedlichen Dialogs. Für diese Ideen müssen wir
werben. Sie sind von grundlegender Bedeutung für uns
in der Gegenwart und in der Zukunft; denn Kultur ist ein
Modus für das Zusammenleben.

Kultur darf, ja, sie muss zuweilen Zumutung sein.
Wenn sie darüber hinaus noch unterhält, umso besser.





Staatsministerin Monika Grütters


(A) (C)



(D)(B)

Wenn wir für all das Sorge tragen, dann bleibt sie uns,
selbst wenn Mark Twains letzter Dollar ausgegeben ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801001500

Vielen Dank, Monika Grütters. – Das Wort hat Sigrid

Hupach für die Linksfraktion.


(Beifall bei der LINKEN)



Sigrid Hupach (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801001600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich komme aus Thüringen, einem Land, in
dem Goethe, Schiller, Bach und das Bauhaus wirkten.

Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1801001700
Kunst
und Kultur brauchen größtmögliche Freiheit, um sich
entfalten zu können. – Da kann ich Ihnen nur zustim-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Die entscheidenden Fragen für mich sind aber: Was
bedeutet das für die Kulturpolitik, für Kulturfinanzie-
rung und -förderung? Wie viel Marktfreiheit braucht
Kultur, und wie viel Staat und Regulierung verträgt sie?
Damit sich Kunst und Kultur entfalten können, brauchen
Künstlerinnen und Kreative Rahmenbedingungen, die
ihnen Freiräume verschaffen. Aber sie brauchen auch
Rahmenbedingungen, die ihnen eine soziale Absiche-
rung garantieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu gehört die Künstlersozialkasse genauso wie
steuerliche Vergünstigungen. Viel zu viele Kulturschaf-
fende und Kreative sind nicht nur keine Schwerverdie-
ner, sondern sie leben und arbeiten in prekären Verhält-
nissen. Als freischaffende Architektin weiß ich, wovon
ich rede.

Welche Gefahren in einer rein marktorientierten
Wahrnehmung von Kultur liegen, zeigen aktuell die
Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen
der EU mit den USA. Es war allein Frankreich, welches
sich in den Verhandlungen zum Mandatstext für eine
kulturelle Ausnahme starkgemacht hat. Deutschland un-
terstützte es nicht. Aber ein Freihandelsabkommen ohne
kulturelle Ausnahme bedroht Errungenschaften wie die
Buchpreisbindung, den reduzierten Mehrwertsteuersatz
oder die Filmförderung; das sind Mittel der Kulturförde-
rung, deren Wegfall Kultur und Künstlerinnen existen-
ziell gefährden würden. Da machen wir nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Bundesregie-
rung zu dem besonderen Schutzbedürfnis von Kultur
und Medien. Dieses müsse bei den Verhandlungen über
ein Freihandelsabkommen durch Ausnahmeregelungen
berücksichtigt und gesichert werden. Wir erwarten, dass
dem nun Taten folgen.


(Beifall bei der LINKEN)

Statt Geheimverhandlungen brauchen wir Transparenz
und eine Staatsministerin, die sich für die kulturelle Aus-
nahme einsetzt.

Die Linke hat im Wahlkampf ein Bundeskulturminis-
terium gefordert. Als Ministerin mit Kabinettsrang hätte
Frau Grütters in dieser Debatte jetzt auf der europäi-
schen Ebene einen viel besseren Stand. Dies ist aber
nicht die einzige vertane Chance im Koalitionsvertrag.

Seit Jahren fordert die Linke ein Kooperationsgebot
für Bildung und Kultur. Zwar bekennt sich die Bundes-
regierung zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern,
aber hierfür fehlen entscheidende Voraussetzungen. Wie
will die Koalition ohne ein Staatsziel Kultur, eine Ge-
meinschaftsaufgabe, ein Kooperationsgebot und eine
Verbesserung der Finanzsituation der Länder und Kom-
munen die Probleme anpacken?

Herr Bundestagspräsident Lammert sagte kürzlich in
einer Rede, mit Klauen und Zähnen müssten die Deut-
schen die traditionell gewachsene reiche Kunst- und
Kulturlandschaft verteidigen. Da bin ich ganz bei Ihnen,
Herr Lammert.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Koalitionsvertrag aber gleicht in seinen allgemeinen
Formulierungen eher einem zahnlosen Tiger.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801001800

Vielen Dank, liebe Kollegin. Im Namen des ganzen

Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede und
wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer neuen Funktion.


(Beifall)


Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Högl für die SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1801001900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Unser Koalitionsvertrag wie auch die Regierungser-
klärung der Bundeskanzlerin und diese Debatte, die wir
schon eine ganze Zeit führen, zeigen eines ganz deutlich:
Wir haben vier Jahre engagierter Politik vor uns. Darauf
freue ich mich richtig doll.

Diese Große Koalition wird viele sehr konkrete Ver-
besserungen für viele Menschen in Deutschland, in Eu-
ropa und darüber hinaus bringen. Wir wissen – das ge-
hört zur Wahrheit dazu; das muss ich erwähnen –, dass
viele Themen vier Jahre lang liegen geblieben sind. Wir
mit dieser Koalition beenden jetzt Stillstand und Blo-
ckade. Wir verlieren keine Zeit mit unsinnigem Streit
über Kleinigkeiten, sondern wir haben das Wesentliche
im Blick.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

Wir werden die große Mehrheit in diesem Hause da-
für nutzen, zu gestalten. Wir fangen direkt damit an. Wir
legen tatkräftig los. Lieber Herr Hofreiter – er ist nicht
mehr anwesend, aber er verfolgt bestimmt die Debatte –,
wir haben sowohl Mut als auch Ideen, um genau das zu
tun, was wir uns vorgenommen haben, nämlich zu ge-
stalten.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Na ja!)


Unser Koalitionsvertrag ist voller guter Ideen, und
zwar mit konkreten Vorschlägen und klaren Vereinba-
rungen. Es gibt nicht nur Absichtserklärungen und Prüf-
aufträge, sondern konkrete Verbesserungen für die Bür-
gerinnen und Bürger, und wir leisten mit diesem Beitrag
auch ganz konkret etwas Entscheidendes für die Moder-
nisierung unserer Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, damit spreche ich ein paar
Themen an, die zwar nicht in den Kulturteil dieser Aus-
sprache gehören, aber viel mit der Kultur unseres Zu-
sammenlebens zu tun haben. Die Reihenfolge der Reden
ist immer etwas unterschiedlich. Zur Kultur wird gleich
mein Kollege Martin Dörmann noch ausführlich Stel-
lung nehmen. Es gibt ein paar andere Themen, die viel
mit unserem Zusammenleben zu tun haben und dem
Motto folgen, das wir, wie gesagt, in den nächsten vier
Jahren verwirklichen wollen: einerseits Verbesserungen
für die Bürgerinnen und Bürger und andererseits die Mo-
dernisierung unserer Gesellschaft.

Als allererstes Beispiel nenne ich ein Thema, das
nicht nur in Berlin, sondern weit darüber hinaus ganz
wichtig ist und das wir gleich am Anfang angehen wer-
den: Wir werden die Stellung der Mieterinnen und Mie-
ter verbessern. Das ist dringend erforderlich.


(Beifall bei der SPD – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Na ja!)


Wir werden eine klar definierte Obergrenze für Miet-
steigerungen bei der Wiedervermietung von Wohnungen
einführen. Wir werden damit direkt zu Beginn der Legis-
laturperiode ein Wahlversprechen umsetzen. Wir helfen
damit vielen Menschen in den Ballungszentren und
Großstädten, eine bezahlbare Wohnung zu finden und in
ihren angestammten Kiezen wohnen bleiben zu können.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wenn die Länder mitspielen!)


Das verhindert die massenweise Verdrängung an die
Stadtränder, und es hilft vor allen Dingen den Kommu-
nen und den Bundesländern. Sie werden mitspielen,
liebe Frau Wawzyniak, eine zielgerichtete Wohnraum-
politik zu machen. Wir werden das Ganze flankieren
– ich bin sehr stolz darauf, dass wir das im Koalitions-
vertrag vereinbart haben – mit einer Aufstockung der
Mittel für das Programm „Soziale Stadt“. Damit können
wir eine klar akzentuierte Politik für viele Bürgerinnen
und Bürger machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich spreche noch ein Thema an, das heute schon oft
angesprochen wurde, und zwar zu Recht, weil es so
wichtig ist. Wir werden im Staatsbürgerschaftsrecht die
Optionspflicht abschaffen. Damit werden wir für viele
Menschen in unserem Land konkrete Verbesserungen er-
reichen, nämlich für all diejenigen, die sich bisher mit
23 Jahren für einen von zwei Pässen entscheiden muss-
ten. Wir sagen Ja zu jungen Menschen mit türkischer
Familiengeschichte, die hier geboren sind. Denn wir
wissen: Deutschland ist ihr Heimatland – Thomas
Oppermann hat zum Thema Heimat etwas sehr Wichti-
ges gesagt –, und gleichzeitig sind diese Menschen in
der Kultur ihrer Vorfahren verwurzelt. Deswegen ist es
sehr wichtig, dass eine unserer ersten Maßnahmen dazu
dient, sie nicht mehr vor eine quälende Entscheidung zu
stellen, sondern ihnen beide Perspektiven zu eröffnen,
also beide Pässe behalten zu dürfen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])


Damit sagen wir auch ganz klar Ja zu Deutschland als
Einwanderungsgesellschaft. Das ist unser Beitrag zu ei-
ner Modernisierung unserer Gesellschaft.

Ich möchte noch ein drittes Thema ansprechen. Auch
hier beenden wir Stillstand und vor allen Dingen einen
jahrelangen ideologisch völlig überhöhten Streit, näm-
lich den Streit um die Frauenquote. Es ist ein großer Er-
folg der SPD – das sage ich so deutlich; denn auf Ihrer
Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
gab es viele, die das nicht wollten –, dass wir endlich
eine Frauenquote in Aufsichtsräten einführen. Ich habe
mich heute über die deutlichen Worte der Bundeskanzle-
rin hierzu sehr gefreut.


(Beifall bei der SPD)


Das ist nicht nur ein Schritt zur Beseitigung bestehender
Diskriminierung von Frauen – wir haben hier im Bun-
destag einen Handlungsauftrag –, sondern wir helfen vor
allen Dingen – das ist mir besonders wichtig – all den
exzellent ausgebildeten und hervorragend qualifizierten
Frauen, die wir in Deutschland haben, endlich auf die
Plätze zu kommen, die ihnen immer vorenthalten wur-
den: in Vorständen, in Aufsichtsräten und im mittleren
und höheren Management. Wir machen Schluss mit der
gläsernen Decke. Auch das ist ein ganz wichtiger Bei-
trag zur Unterstützung von Frauen, aber auch zur Mo-
dernisierung unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich noch etwas zu einem Thema sagen,
bei dem es mich ganz besonders geärgert hat, dass die
letzte Bundesregierung und die sie tragende Koalition
hier vier wertvolle Jahre verschenkt haben. Das ist das
Thema Menschenhandel. In unserem Land leben Men-
schen, die Opfer von Zwangsprostitution werden und de-
ren Arbeitskraft widerlich ausgebeutet wird; das ist ein
ganz wichtiges Thema. Diese Menschen brauchen unse-
ren Schutz und unsere Hilfe. Hier besteht Handlungsbe-
darf, und zwar nicht nur weil es eine gute EU-Richtlinie
gibt, sondern weil wir diese Menschen schützen und ih-
nen helfen müssen. Wir wollen die Opfer besser schüt-





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

zen und die Täter wirksam bestrafen. Deswegen haben
wir im Koalitionsvertrag vereinbart, das Thema Men-
schenhandel engagiert anzugehen und endlich zu kon-
kreten Vorschlägen zu kommen. Ich möchte eine Ergän-
zung machen, weil das in diesem Kontext immer
erwähnt wird: Diese Koalition hat sich ganz klar dazu
bekannt, Prostitution – im Gegensatz zu Frankreich –
nicht zu verbieten. Wir werden die Stellung von Prostitu-
ierten stärken, ihre Beschäftigungsbedingungen verbes-
sern und ganz sorgfältig trennen zwischen Menschenhan-
del, der bekämpft werden muss, und legaler Prostitution.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Zum Schluss möchte ich ein Thema ansprechen, bei
dem nicht die Regierung gefragt ist, sondern wir hier im
Deutschen Bundestag. Es geht hier nicht darum, unsere
Positionen entlang der Fraktionsgrenzen bzw. nach
Mehrheiten festzulegen. Vielmehr versuchen wir, eine
gute Debatte in Gang zu bringen, um dann hoffentlich
ein hervorragendes Ergebnis bei einem ganz schwierigen
Thema zu erzielen – das ist unsere Aufgabe in dieser Le-
gislaturperiode –, nämlich dem Thema Sterbehilfe. Wir
werden diese Debatte mit Sorgfalt, ausreichender Zeit
und Sensibilität führen. Wir werden hoffentlich eine
kluge und sehr wertschätzende Debatte führen.

Auch diese Debatte führen wir anders als in der letz-
ten Legislaturperiode, in der ein Gesetz vorgelegt, dann
aber doch nicht verabschiedet wurde, weil gar nicht genü-
gend Zeit zur Beratung war. Das Anliegen der Koalition,
soweit wir uns bisher vereinbart haben, ist vielmehr, einen
intensiven und ausführlichen Diskussionsprozess nicht
nur hier im Parlament – ich lade alle ein, mitzuma-
chen –, sondern in der gesamten Gesellschaft zu initiie-
ren.

Es geht bei dem Thema Sterbehilfe sowohl um den
Umgang mit unheilbaren und sehr schweren Erkrankun-
gen, mit dem Ende des Lebens, um Fragen der Selbstbe-
stimmung, als auch um die Würde des Menschen, und es
geht natürlich auch um Nächstenliebe und unser Men-
schenbild. Es geht nicht darum, die Bundesregierung
aufzufordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, und es
geht auch nicht darum, die Debatte auf einzelne Begriffe
im Zusammenhang mit Sterbehilfe zu reduzieren, son-
dern es geht um viel mehr, um unser Verständnis von
Beistand und Unterstützung und letztendlich um Sterbe-
begleitung.

Deswegen begrüße ich, dass wir uns hier im Parla-
ment bereits auf zwei Dinge verständigt haben: erstens,
dass wir diese Debatte sorgfältig führen, dass wir uns
Zeit für diese Debatte nehmen, und zweitens – da sind
wir jetzt alle gefordert –, dass wir das zu einer Gewis-
sensentscheidung machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir sortieren uns nicht entlang der Fraktionsgrenzen,
sondern entlang unserer individuellen Auffassungen. Ich
habe das Thema extra hier in dieser Generaldebatte an-
gesprochen, weil es – Sie merken das –, ein wichtiges
Thema ist, weil ich mich mit vielen Kolleginnen und
Kollegen engagieren möchte und weil ich Sie alle einla-
den möchte – da spreche ich insbesondere die Kollegin-
nen und Kollegen der Opposition an –, mit uns gemein-
sam diesen Prozess zu gestalten, zu guten Debatten im
Bundestag zu kommen und dann eine gute Regelung für
dieses schwierige Thema zu finden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002000

Vielen Dank, Eva Högl. – Ich gebe das Wort an Ulle

Schauws für Bündnis 90/Die Grünen.


Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen!

Kultur ist keine Subvention, sondern eine Investi-
tion in unsere Zukunft.

Diese Aussage findet sich in Ihrem Koalitionsvertrag,
und sie ist absolut zutreffend; aber sie geht nicht weit ge-
nug. Kultur ist mehr als ein Wirtschaftsgut, Kultur ist
notwendiger Teil der Daseinsvorsorge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Der kulturelle Reichtum allein in unserem Land sollte
uns wirklich beglücken. Er fordert uns auf, alle Möglich-
keiten zu nutzen, jede Art von Kunst und Kultur und alle
Talente zu fördern. Gerade deshalb engen Förderregeln
wie das Kooperationsverbot in der Kulturförderung oder
konventionelle Definitionen von Kultur, wie sie sich im
Koalitionsvertrag andeuten, das, was kreative Vielfalt
ausmacht, ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wir brauchen, ist der Wille, Kultur für alle erlebbar
zu machen. Dazu gehört der Mut, finanzielle Mittel auch
vielen kleinen Initiativen in aller Bandbreite zur Verfü-
gung zu stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Welche Zukunftsperspektive bietet die Bundesregierung
denjenigen Menschen in unserem Land, die Kultur ge-
stalten? Im Koalitionsvertrag lassen Sie diese dringende
Frage leider offen. Sie begnügen sich mit der vagen Aus-
sage, man müsse zuerst einmal die „Lücken in der sozia-
len Absicherung von Künstlern … identifizieren …“ Das
ist entschieden zu wenig;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn die soziale Lage der Kulturschaffenden ist längst
bekannt. Sie leben mehrheitlich in prekären Verhältnis-
sen. Sozialversicherungspflichtige werden in die Schein-
selbstständigkeit gedrängt, verdienen durchschnittlich
unter 1 000 Euro monatlich. Darunter sind vor allem





Ulle Schauws


(A) (C)



(D)(B)

viele Frauen. Im Schnitt liegt der Rentenanspruch bei
420 Euro.

Angesichts eines wachsenden Marktes der Kultur-
und Kreativwirtschaft um jährlich gut 3 Prozent frage
ich mich, warum von dieser Wachstumsdividende nichts
bei den Kulturschaffenden selbst ankommt. Während
meiner Zeit als Filmschaffende war diese Frage für mich
existenziell. Daher sage ich: Mir fehlt Ihr klares Be-
kenntnis zu sozialen Mindeststandards.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Mir fehlen Ihre Lösungsvorschläge für die vorprogram-
mierte Altersarmut vieler Kreativer. Gerade deshalb wä-
ren weitere Einschränkungen beim Zugang zur Künstler-
sozialkasse absolut kontraproduktiv.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir Grüne wollen seit langem die circa 1 Million
Kulturschaffenden – das sind deutlich mehr Beschäftigte
als etwa in der gesamten Automobilindustrie; ich habe
da andere Zahlen, Frau Staatsministerin; es handelt sich
hierbei um knapp 0,75 Millionen Beschäftigte – fest in
das soziale Netz und in die Sozialversicherungssysteme
einbinden. Das heißt, wir wollen auch Mindestlöhne und
Honoraruntergrenzen im Kulturbereich verankern und
selbstverständlich auch Frauen im Kulturbetrieb gleich-
stellen. Außerdem wollen wir ein deutlich verbessertes
Urhebervertragsrecht; denn die Profite müssen stärker
bei den Urheberinnen und Urhebern selbst ankommen
und dürfen nicht nur bei den Verlagen und Providern
hängen bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf 2014,
dem europäischen Erinnerungsjahr mit zahlreichen Jah-
restagen, wird es um die Frage gehen, wie wir angemes-
sen gedenken. Hier warten wir immer noch auf Ihre kon-
kreten Vorschläge. In diesem Kontext ist aber auch die
aktuelle Debatte um die Beute- und Raubkunst von Be-
deutung. Wir Grüne stehen hier für eine rückhaltlose und
koordinierte Aufklärung, und das nicht nur im Falle
Gurlitt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Bundeskulturpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen,
darf sich auch nicht auf die Förderung prestigelastiger
Schaufenster- und Großprojekte in Berlin, wie zum Bei-
spiel des Stadtschlosses oder einer Staatsoper, deren
Umbaukosten gerade explodieren, konzentrieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Ein Blick in die Provinz täte ganz gut. Wenn wir der
Vielfalt der Kultur von morgen eine Chance geben wol-
len, brauchen wir jetzt politische Weitsicht, nachvoll-
ziehbare und sozial gerechte Förderkriterien und mehr
Transparenz.
Da setzen wir ganz besonders auch auf Sie, Frau
Staatsministerin; denn Sie haben in den vielen Jahren als
Vorsitzende des Kulturausschusses auch mit meiner
Fraktion sehr gut und kooperativ zusammengearbeitet.
Wenn es Ihnen um eine Kulturpolitik für alle Bürgerin-
nen und Bürger und eine starke kulturelle Infrastruktur
und Bildung in diesem Land geht, dann stehen wir gerne
zur Verfügung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kultur ist nämlich keine Subvention, sondern eine Inves-
tition in unsere Zukunft und Daseinsvorsorge für alle.
Lassen Sie uns diesen Grundsatz gemeinsam umsetzen.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002200

Vielen Dank, liebe Kollegin Ulle Schauws. – Auch

Ihnen gratuliert das ganze Haus zu Ihrer ersten Rede im
Bundestag.


(Beifall)


Wir wünschen Ihnen alles Gute als Abgeordnete mit
dem Arbeitsschwerpunkt Kultur.

Als Nächster hat das Wort Michael Kretschmer für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kretschmer (CDU):
Rede ID: ID1801002300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir leben in einer einzigartigen Zeit von Chan-
cen und Möglichkeiten. Die Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin und die Diskussion darüber haben ge-
zeigt, wie stark unser Land im internationalen Wettbe-
werb dasteht und wie gut deswegen auch die Chancen
für Kunst- und Kulturförderung in unserem Land sind.

Für CDU, CSU und SPD ist klar, dass die Freiheit von
Kunst und Kultur ein unumstößliches Prinzip ist, wobei
für uns Kunst und Kultur und die Freiheit dazu immer
auch die Freiheit des Andersdenkenden ist, also dessen,
der eine andere Meinung hat. Das zu verteidigen und
Freiräume für künstlerische Tätigkeit zu garantieren, das
ist das Prinzip der Bundesrepublik Deutschland, das in
den vergangenen Jahren, seitdem es einen Kulturstaats-
minister gibt, immer Arbeitsauftrag und Verpflichtung
war.

Die Koalitionsverhandlungen über den Bereich Kul-
tur haben in einer beeindruckenden Harmonie stattge-
funden, getragen von dem Willen, gemeinsam etwas für
die Kunst und die Kultur, für die Künstlerinnen und
Künstler in unserem Land zu erreichen. Ich denke, das
Ergebnis dieses Koalitionsvertrages kann sich sehen las-
sen, gerade im Bereich der Kulturpolitik.





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)

Wichtig ist uns, dass die Künstlersozialversicherung
auch in Zukunft eine Sonderstellung für die Kulturschaf-
fenden in Deutschland hat. Sie soll soziale Sicherheit
schaffen. Die besonderen Herausforderungen, vor denen
die Künstlerinnen und Künstler stehen, müssen eben
auch in der Ausgestaltung der Künstlersozialversiche-
rung ihren Niederschlag finden. Dazu ist es notwendig,
dass die Abgabepflicht und die Prüftätigkeit wirklich ge-
regelt werden. Das muss in den nächsten Wochen und
Monaten dringend auf den Weg gebracht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Meine Damen und Herren, für uns ist klar, dass bei
dem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen
Union und den USA keine Zugeständnisse im Bereich
kultureller und audiovisueller Dienstleistungen gemacht
werden können. Hier ist der Kern unserer kulturellen
Identität getroffen. Hier können wir keine Kompromisse
machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Bernd Neumann hat die beeindruckende Bilanz der
verschiedenen Staatsministerinnen und -minister für
Kultur zu einer Größe gebracht, wie viele sie nicht für
möglich gehalten haben. Als das Amt eingeführt wurde,
haben die Länder parteiunabhängig geschimpft und Be-
denken vorgebracht. Kritisiert, dass der Bund sich in die-
sem Bereich engagiert. Heute ist man froh darüber, dass
der Bund sich in der Kultur so stark engagiert und dass
Monika Grütters unsere neue Kulturstaatsministerin ist,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Bärbel Bas [SPD])


Wir wollen den Haushalt von 1,2 Milliarden Euro
auch in Zukunft stetig anwachsen lassen. Wir wollen die
identitätsstiftende Kraft von Kunst und Kultur gerade in
einer Zeit mit hoher Migration nach Deutschland för-
dern. Wir haben heute auch dazu etwas gehört. Viele
Menschen werden zu uns kommen. Der Begriff „Hei-
mat“ ist gefallen und positiv besetzt worden, auch von
unseren Freunden von der Sozialdemokratie. Wir wollen
also gerade in diesen Zeiten Kunst und Kultur als identi-
tätsstiftende Kraft fördern. Deswegen werden wir in die-
sen Bereich weiter investieren.

Für uns ist wichtig, dass die kulturelle Bildung ge-
stärkt wird. Das geht nur in Zusammenarbeit mit den
Kulturverbänden, in einer großen Harmonie mit den
Ländern und mit den Kommunen. Aber es ist wichtig, zu
begreifen, dass Bildung mehr ist als nur Mathematik und
Geschichte; es geht darum, Persönlichkeitsentwicklung
zu betreiben, soziale Kompetenzen aufzubauen, gesell-
schaftliche und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Dazu müssen wir stärker als bisher in die kulturelle Bil-
dung investieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, die beeindruckende Feier-
stunde am Montag dieser Woche mit unserem Gast aus
Russland hat vielen von uns und auch mir gezeigt, wie
schnell man in der Deutung von Geschichte auf Abwege
geführt werden kann. Ich gebe zu, dass für mich auf-
grund der Prägung durch die DDR-Bildung die Belage-
rung von Leningrad als großer Kampf in Erinnerung ge-
blieben ist, bei dem großer Widerstand geleistet wurde.
Wie die Schattenseiten aussahen, wie die neutrale, unab-
hängige Bewertung ist, wie wir sie hier gehört haben,
das hatte sich mir über lange Zeit nicht eingeprägt.

Deswegen müssen wir, was die Erinnerung und die
Aufarbeitung der Geschichte unseres Landes und der eu-
ropäischen Geschichte angeht, weiter investieren. Wir
dürfen nicht nachlassen. Wir müssen dafür sorgen, dass
Gedenktage wie der 25. Jahrestag des Mauerfalls oder
im kommenden Jahr der 25. Jahrestag der Wiederherstel-
lung der deutschen Einheit nicht in Vergessenheit gera-
ten, und dafür, dass die Täter von damals nicht die Ge-
schichtslehrer von heute werden. Deswegen müssen wir
diese Daten bewusst besetzen und sie zum Anlass neh-
men, breite Diskussionen anzustoßen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das gilt für auch die anderen Jahrestage, für den
100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, für
den Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, und für
die positiven Gedenktage unserer Geschichte, beispiels-
weise das Reformationsjubiläum.

Meine Damen und Herren, eine große Herausforde-
rung in den kommenden Jahren ist die Digitalisierung
gerade auch im Kulturbereich. Wir haben hier große
Erfolge vorzuweisen. Wir haben eine Digitalisierungs-
offensive gestartet, die fortgeführt werden muss. Die
Deutsche Digitale Bibliothek zielt schon heute auf
30 000 Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen ab, die
sich hier vernetzen sollen. Es ist klar, dass in Zukunft
nur das, was digital verfügbar ist, aufgefunden werden
kann. Deswegen muss hier investiert werden. Das gilt
auch und gerade bei der Digitalisierung unseres Film-
erbes und der digitalen Nutzung verwaister und vergrif-
fener Werke. Hier haben wir in den vergangenen Jahren
viel bewegt, und hier werden wir in den nächsten Jahren
noch viel mehr bewegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der fortschreitende demografische Wandel stellt so
manche Region in Deutschland vor die Frage, wie es mit
dem Angebot von Kultureinrichtungen und kulturellen
Initiativen weitergehen kann. Deswegen bin ich froh da-
rüber, dass wir uns in unserem Koalitionsvertrag ver-
ständigt haben, hier neue Akzente zu setzen. Wir wollen
im demografischen Wandel mit neuen Kooperationsmo-
dellen auf kommunaler Ebene lebendige Kulturräume
erhalten. Ich glaube, dass das ein ganz wichtiger Ansatz
ist.

Meine Damen und Herren, Kulturpolitik hat in den
vergangenen Jahren in diesem Parlament immer eine
große Rolle gespielt. Wir haben hierfür Ressourcen be-
reitgestellt, während in anderen Politikbereichen gekürzt





Michael Kretschmer


(A) (C)



(D)(B)

wurde. Das ist richtig. Das muss auch weiter so gehen.
Das ist der Wille von CDU/CSU und SPD.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002400

Vielen Dank, Herr Kollege. Eigentlich hätten Sie

noch ein bisschen weiterreden können.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Aber man muss nicht weiterreden!)


– Nein, man muss nicht, aber man darf, Herr Strobl. –
Also, vielen Dank, Herr Kollege. Das passiert ja nicht so
oft.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Es war eine sehr gute Rede! In der Kürze liegt die Würze!)


Der letzte Redner in der Aussprache zur Regierungs-
erklärung ist Martin Dörmann für die SPD.


(Beifall bei der SPD)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1801002500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich übernehme gerne die zwei Minuten des koalitionären
Kollegen,


(Heiterkeit bei der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So geht das jetzt!)


ich hoffe aber, dass ich auch so auskomme.

Lassen Sie mich zu den verabredeten Projekten der
Großen Koalition im Bereich Kultur und Medien mit ei-
nigen außerparlamentarischen Stimmen beginnen. So
sagt die ARD-Kulturkorrespondentin Maria Ossowski:

Noch nie hat es eine so ausführliche und detailrei-
che kulturpolitische Festschreibung irgendwann in
einem Koalitionsvertrag gegeben.

Der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Ver-
bandes, DJV, Michael Konken, bewertet den Koalitions-
vertrag als „in einigen Punkten interessant für die Anlie-
gen der Journalistinnen und Journalisten“. Und der stets
aufmerksam-kritische Geschäftsführer des Deutschen
Kulturrates, Olaf Zimmermann, meint: „Es ist wirklich
ein guter Koalitionsvertrag für die Kultur.“ – Genau so
ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich,
dass auch außen wahrgenommen wird, dass wir uns viel
vorgenommen haben.

Der Koalitionsvertrag beschreibt für den Bereich Kul-
tur und Medien ein kooperatives Grundverständnis im
Zusammenwirken von Bund und Ländern, selbstver-
ständlich unter Wahrung der primären Kompetenzen auf
der Länderebene. Mit der Schaffung des Amtes des Be-
auftragten für Kultur und Medien unter Rot-Grün ist eine
Kultur- und Medienpolitik des Bundes entstanden, die
die Aktivitäten der Länder unterstützt, gleichzeitig aber
auch eigene Akzente setzt. Eine starke Kultur- und Me-
dienpolitik des Bundes wirkt sich so verstanden eben
auch positiv und befruchtend auf die Länder aus. Es war
kein Zufall, dass die Länder bei den jüngsten Koalitions-
verhandlungen in besonderer Weise beteiligt waren.

Die Große Koalition hat konkrete Vorhaben verein-
bart, die wir nun schnellstmöglich anpacken wollen. Zu
den drängendsten Themen gehören aus meiner Sicht ins-
besondere vier Punkte:

Erstens die bereits erwähnte Absicherung der Künst-
lersozialversicherung.


(Beifall bei der SPD)


Schwarz-Gelb hat in der letzten Legislaturperiode nicht
vermocht, die notwendigen Regelungen zu treffen, um
alle Unternehmen regelmäßig und gleichmäßig zu über-
prüfen, damit sie ihrer gesetzlichen Pflicht zur Zahlung
der Künstlersozialabgabe auch wirklich nachkommen.
So gerät das wichtige Sicherungssystem der Künstlerso-
zialkasse zunehmend unter Druck; der Abgabesatz steigt.
Sehr zügig wollen wir dies nun angehen und eine Lö-
sung erreichen.

Ich bin sehr froh, dass unsere Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles angekündigt hat, gerade auch diesen
Punkt in ihre Vorhabenplanung für dieses Jahr mit aufzu-
nehmen. Das ist ihr ein Herzensanliegen. Wir sehen ja
schon am Rentenpaket, wie schnell sie gearbeitet hat.
Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir da auch in die-
sem Jahr zu einer gesetzlichen Lösung kommen werden.
Ich will auch daran erinnern, dass es damals der SPD-
Fraktionskollege Dieter Lattmann gewesen ist, der am
Ende der sozialliberalen Koalition das Ganze auf den
Weg gebracht hat.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Zweiter Punkt ist die einzusetzende Expertenkommis-
sion zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Auch hier
sind wichtige Aufgaben noch unerledigt. Wir erinnern
uns: Am 15. Januar 1990, also vor gut 24 Jahren, er-
stürmten mutige Bürgerinnen und Bürger der damaligen
DDR die verhasste Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg
und stellten kilometerweise Akten sicher, die unter men-
schenunwürdigen Umständen entstanden sind. Das war
ein bis heute einzigartiger Vorgang, der zeigt, wie ent-
schlossen die Menschen waren, ihr Schicksal nun selbst
in die Hand zu nehmen.

Die Stasiunterlagenbehörde mit der Aufgabe, Zugang
zu diesen Akten zu gewähren, war nie auf Dauer ange-
legt. Damit die Aufarbeitung dieses Kapitels deutscher
Geschichte eine Zukunft hat, muss nun geklärt werden,
wie und in welcher Form die Aufgaben der Behörde fort-
geführt werden können.

Dritter Punkt: eine konsequente Provenienzforschung
und gegebenenfalls Restitution, also Rückgabe geraubter
Kulturgüter. Der Fund von 1 280 Kunstwerken von
teilweise ungeklärter Herkunft im Privatbesitz von
Cornelius Gurlitt hat dieses Thema auf die Tagesord-
nung der Politik gesetzt und offenbart, dass wir vor ei-
nem weitgehend noch unbewältigten Kapitel deutscher
Geschichte stehen. Wir müssen die Entrechtung von Ei-
gentümern von Kunstwerken in der Nazizeit zwingend
aufklären und zügiger diskutieren, als wir dies bisher





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)

getan haben. Dazu bedarf es – Frau Staatsministerin
Monika Grütters hat es bereits erwähnt – einer verstärk-
ten Provenienzforschung. Wir müssen uns aber auch
überlegen, ob rechtliche Anpassungen gegebenenfalls
notwendig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der vierte und letzte Punkt, den ich erwähnen
möchte, betrifft die Reform der Medienordnung. Die Di-
gitalisierung und das Internet führen gerade im Bereich
der Medien zu großen Umbrüchen. Die Koalition wird
die Bemühungen der Länder um eine der Medienkonver-
genz angemessene Medienordnung tatkräftig unterstüt-
zen. Dazu haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflich-
tet. Wie Sie wissen, soll hierzu eine zeitlich befristete
Bund-Länder-Kommission eingesetzt werden. Sie soll
klären, ob es an den Schnittstellen zwischen Medienauf-
sicht, Telekommunikationsrecht und Wettbewerbsrecht
mit unterschiedlichen Kompetenzen zwischen Bund und
Ländern zu Anpassungen kommen sollte, die dann auch
den Bundesgesetzgeber betreffen könnten. Messlatte für
die SPD-Fraktion wird dabei die Frage sein, wie wir
auch in einer veränderten Medienwelt die Freiheit, Un-
abhängigkeit und Vielfalt der Medien bewahren und
stärken können.

In diesem Zusammenhang will ich Folgendes ergän-
zen: Frau Staatsministerin Grütters hat in ihren ersten In-
terviews begrüßenswerterweise darauf hingewiesen,
dass wir uns innerhalb der Koalition darauf verständigt
haben, beispielsweise auch auf EU-Ebene dafür zu sor-
gen, dass die Möglichkeit besteht, Bücher und Zeitungen
mit Blick auf den ermäßigten Mehrwertsteuersatz so-
wohl im Online- als auch im Offline-Bereich gleich zu
behandeln. Ich glaube, das wäre ein wichtiger Schritt,
der dafür sorgt, dass die Medien im Internet am Ende
Qualitätsjournalismus finanzieren können. Dazu sollten
wir einen Beitrag leisten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war eine gemeinsame Forderung!)


Eine Baustelle bleibt uns zum Glück erspart. Das
Bundesverfassungsgericht hat gestern die Rechtmäßig-
keit der Filmförderung durch das Filmfördergesetz be-
stätigt. Das Urteil ist zugleich ein klares Bekenntnis für
eine kulturelle Filmförderung. Das ist ein großer Erfolg.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nicht nur der Regierung!)


Ich will in diesem Zusammenhang noch auf einen
Punkt hinweisen: Film ist nach unserem Grundverständ-
nis zwar auch ein Wirtschaftsgut, aber in erster Linie ein
kulturelles Gut. Es geht um die Förderung kultureller
Werte, und zwar über das hinaus, was die bloße Logik
des Marktes ausmacht. Gleiches muss für das Freihan-
delsabkommen gelten – das ist bereits von dem Kollegen
Kretschmer erwähnt worden –: Wir werden dafür sor-
gen, dass dort die Ausnahmen für die Bereiche Kultur
und audiovisuelle Dienste wirklich zum Tragen kom-
men. Das ist ein ganz zentraler Punkt für uns.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste Kultur-
staatsminister im Amt, Michael Naumann, hat einmal
treffend formuliert: Kultur ist die schönste Form der
Freiheit. – Ich will hinzufügen: Freie, unabhängige und
vielfältige Medien sind eine Grundvoraussetzung für
eine funktionierende Demokratie. Daher ist es wichtig,
Kultur und Medien zu stärken, damit wir auch die Frei-
heit und die Demokratie stärken. Ich freue mich, dass
wir heute in dieser Debatte sehr viele Gemeinsamkeiten
auch über Fraktionsgrenzen hinweg erkennen konnten.
Deshalb freue ich mich in besonderer Weise auf unsere
gemeinsame Zusammenarbeit in dieser Legislaturpe-
riode.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002600

Vielen Dank, Herr Kollege. Es liegen keine weiteren

Wortmeldungen vor.

Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Außen,
Europa und Menschenrechte. Die Debatte wird eröffnet
von unserem Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des
Auswärtigen:

Danke, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Es ist nun wahrhaftig keine Selbstverständlich-
keit, dass ich nach acht Jahren wieder an diesem Pult
stehe und die Chance habe, einen neuen Blick auf die
deutsche Außenpolitik und die internationalen Bezie-
hungen zu werfen. Ich versichere Ihnen, dass es für mich
nicht einfach eine Wiederholungstat ist, wenn ich Ihnen
hier als Außenminister zum zweiten Male innerhalb von
wenigen Jahren gegenübertrete. Das liegt auf der Hand;
denn zwar ist das Büro, das ich inzwischen im Auswärti-
gen Amt bezogen habe, dasselbe – völlig unverändert –
wie das, welches ich vor vier Jahren verlassen habe; aber
der Zustand der Welt, über den zu reden ist, hat sich in-
nerhalb dieser letzten vier Jahre gravierend verändert.
Krisen und Konflikte sind in dieser Zeit spürbar näher an
uns herangerückt. Das alles hat mit uns zu tun: dass die
Folgen sowohl außenpolitischen Tuns als auch außen-
politischen Unterlassens uns hier in Deutschland immer
irgendwie berühren. Deshalb seien Sie versichert, meine
Damen und Herren: Ich weiß, was auf mich zukommt;
aber ich freue mich darauf und bitte um Ihre Unterstüt-
zung. Gerade weil ich um die eine oder andere Mei-
nungsverschiedenheit in diesem Hohen Hause, insbeson-
dere wenn wir über Mandate reden, weiß, biete ich Ihnen
ausdrücklich offene und faire Zusammenarbeit an. Das
hat heute Morgen im Ausschuss ganz gut begonnen, und
ich hoffe, das setzt sich hier im Plenum fort. Herzlichen
Dank schon im Voraus.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Wenn ich mich in Europa umschaue, dann stelle ich
fest, dass sich dieses Europa in den letzten Jahren völlig
auf sich selbst konzentriert hat. Seit vier Jahren ringen
wir alle miteinander mit der europäischen Krise. Das
war auch notwendig. Ich habe aber den Eindruck, dass
beim Ringen um den Weg aus der europäischen Krise
das ein bisschen aus dem Blick geraten ist, was sich so-
zusagen jenseits des europäischen Tellerrandes tut. Man
muss, glaube ich, die internationale Lage gar nicht in den
schwärzesten Farben zeichnen, um zu sehen: Die drama-
tischen Zuspitzungen, die wir in uns ganz nahen Teilen
dieser Welt erleben, werden im Augenblick in der Mitte
Europas, erst recht da, wo es wirtschaftlich stabil ist, un-
terschätzt. Ein Blick in den Mittleren Osten, in den Na-
hen Osten, in Teile der arabischen Welt reicht aus, um zu
sehen, was bei unterstelltem schlechtem Verlauf unserer
Bemühungen, die wir und andere gegenwärtig unterneh-
men, in kurzer Zeit zur Entladung kommen kann – mög-
licherweise mit Ergebnissen, die überhaupt nicht mehr
beherrschbar sind, weder in der Region noch in der
Nachbarschaft, auch nicht von uns.

Ein Blick in die osteuropäische Nachbarschaft zeigt,
dass in die Ukraine gerade eine Form von Unfriedlich-
keit zurückgekehrt ist, von der wir nach fast 70 Jahren
Frieden in Europa und nach Erreichen der Wiederverei-
nigung Europas dachten, dass dafür eigentlich gar kein
Raum mehr ist, nicht in Europa und auch nicht in den
Randzonen der Europäischen Union.

Oder schauen wir nach Afghanistan, wo wir im Au-
genblick noch darum ringen, dass das Land nach dem
Abzug der internationalen Streitkräfte nicht einfach wie-
der zurückfällt in den Status der Konflikte, die es vor
2001 und in den Jahrzehnten des Bürgerkrieges dort gab.

Oder schauen wir nach Ostasien. Ich glaube, wir müs-
sen miteinander eingestehen, dass wir – das ist über-
haupt kein Vorwurf – die historische Tiefenschärfe des
Konfliktes zwischen China und Japan, der sich scheinbar
um ein paar Inseln dreht, überhaupt noch nicht verstan-
den haben, und das ausgerechnet im Falle einer Region
– darum erwähne ich es hier –, in der die Staaten noch
nach bei uns gar nicht mehr geltenden Kriterien von sehr
schlichten geopolitischen Vorstellungen oder sehr ver-
einfachenden Gleichgewichtsmodellen miteinander um-
gehen. Das macht diesen Konflikt zu einem nicht ganz
ungefährlichen Konflikt. Ich glaube, wir müssen das
sehr sorgfältig im Auge behalten, selbst wenn wir von
hier aus nicht unmittelbar Einfluss darauf nehmen kön-
nen. Ich bin ganz sicher: Diese Debatten werden uns be-
schäftigen.

Wir werden uns – Thomas Oppermann hat heute Mor-
gen darauf hingewiesen – diesen Debatten gerade in ei-
nem Jahr wie diesem nicht verweigern können, in dem
beim Gedenken an 1914, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, an vieles erinnert wird, zum Beispiel an das Versa-
gen von Diplomatie, an das Ausbleiben von Außenpoli-
tik – auch davon waren die sechs Wochen vor Ausbruch
des Ersten Weltkrieges gekennzeichnet –


(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

oder an das wachsende Maß der Entfremdung oder der
Sprachlosigkeit zwischen den Staaten. Die Folgen des-
sen zeichnen sich im Kriegsbeginn 1914 ab. Aber all das
hat – ohne dass ich vordergründige Parallelen ziehen
oder gar Gleichsetzungen machen will – Bezüge zu
heute, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Mit Blick auf Millionen von Menschen, die heute Op-
fer von Kriegen und Bürgerkriegen sind oder darunter
leiden, mit Blick auf die Millionen, die durch diese Aus-
einandersetzungen vielleicht zu einer Flucht ins Ausland
gezwungen werden, sage ich Ihnen vorneweg meine
ganz persönliche Meinung: Ich finde es nicht nur uner-
träglich, sondern sogar ein bisschen zynisch, was man in
den letzten Jahren immer wieder – viel zu häufig, wie
ich finde – über den Bedeutungsverlust – das wäre ja
noch gegangen – oder gar die Bedeutungslosigkeit der
Außenpolitik in diesen Zeiten lesen konnte. Demnach
sei es geradezu unanständig, das Amt des Außenminis-
ters anzutreten, weil das ja alles nichts mehr wert sei.
Mit Blick auf eine Welt – ich habe sie eben nur mit eini-
gen Strichen gezeichnet –, die zahlreiche Aufgaben für
uns vorhält, finde ich das ziemlich unerträglich.

Ich gebe zu: Ja, Außenpolitik folgt nicht unbedingt
dem Rhythmus von Onlinemeldungen; das ist wahr. Der
Iran-Konflikt zum Beispiel ist ein Konflikt, der uns seit
mehr als 30 Jahren beschäftigt. Zehn Jahre lang haben
wir verhandelt, und es hat zehn Jahre gedauert, bis zum
ersten Mal eine Perspektive für eine Entschärfung des
Konfliktes – noch nicht für eine Lösung – sichtbar ge-
worden ist. Ich glaube, das muss man sich vor Augen
führen: Gäbe es keine aktive Außenpolitik, auch nicht
jene, die sich sozusagen im Zustand der Aussichtslosig-
keit immer wieder um kleinste Fortschritte bemüht, dann
würden solche Konflikte eben eskalieren.

Es gibt diesen alten Satz, der wie verstaubt klingt, ei-
nen Satz aus dem vergangenen Jahrhundert: Solange
verhandelt wird, wird nicht geschossen. –


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr wahr!)


Der Satz ist nicht verstaubt. Denn der Iran-Konflikt hat
uns gezeigt: Solange verhandelt wurde, wurde nicht ge-
schossen. Aber das Entscheidende ist: Auch die Tür zu
einer politischen Lösung wurde mit solchen langandau-
ernden Bemühungen offengehalten. Deshalb, meine Da-
men und Herren, plädiere ich so sehr für einen hohen
Stellenwert der Außenpolitik und für eine aktive Außen-
politik.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich – das hören Sie heute nicht zum ersten Mal
von mir – für Zurückhaltung und gegen vorschnelle Ent-
scheidungen in Bezug auf einen Einsatz von Militär bin,
hat das gleichwohl seinen Grund nicht darin, dass ich
meinen würde – da würden Sie mich missverstehen –,
Abwarten wäre die richtige Reaktion. Ich sage eher et-
was anderes: So richtig die Politik der militärischen Zu-
rückhaltung ist, sie darf nicht als eine Kultur des Heraus-
haltens missverstanden werden. Dafür sind wir, auch in
Europa, inzwischen ein bisschen zu groß und ein biss-
chen zu wichtig. Wir sind nicht ein Kleinstaat in einer





Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

europäischen Randlage, sondern der bevölkerungs-
reichste, größte Staat der Europäischen Union; wir ha-
ben die stärkste Wirtschaftskraft. Wenn sich ein solches
Land bei dem Versuch, internationale Konflikte zu lösen,
heraushält, dann werden sie nicht gelöst, dann gibt es
keine belastbaren Vorschläge.

Das ist der Grund, weshalb eine der ersten Entschei-
dungen, die Frau von der Leyen und ich dem Kabinett
vorgeschlagen haben, eine Änderung des Verhaltens in
Bezug auf die Beseitigung und Vernichtung von Che-
miewaffen in Syrien war.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieser Fall ist ein plausibles Beispiel dafür, welche
Rolle wir spielen. Ich glaube, wir haben richtig gelegen,
als wir gesagt haben: In einer solchen Situation Bomben
auf Damaskus abzuwerfen, wäre der falsche Weg, wahr-
scheinlich eher ein Umweg, wenn man irgendwann spä-
ter zu politischen Lösungen kommen will. Aber man
kann sich nicht gegen militärische Optionen aussprechen
und sich dann auch noch in Bezug auf die übrig bleiben-
den Alternativen heraushalten.

Aus diesem Grund sage ich: Verantwortung in der
Außenpolitik bedeutet, dass man als größtes Land in Eu-
ropa auch in solchen Situationen Verantwortung über-
nimmt und sagt: Wenn wir die Möglichkeit haben, eine
kleine Basis zu schaffen, auf der dann zukünftig politi-
sche Verhandlungen möglich sind, dann müssen wir
auch zur Verfügung stehen und unseren Teil dazu beitra-
gen. Ich bin jedenfalls froh, dass das Kabinett eine sehr
schnelle Entscheidung getroffen hat, die dazu führen
wird, dass wir den größeren Teil der Chemierestbe-
stände, die bei der Vernichtung entstehen, in Deutsch-
land vernichten werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht en-
den, ohne einen Blick – nicht auf den Mittleren und Na-
hen Osten – in die europäische Nachbarschaft zu werfen.
Die Entwicklung in der Ukraine hat uns alle miteinander
in den letzten Tagen und Wochen hinreichend beschäf-
tigt. Die gute Nachricht ist: Die letzte Nacht war die ru-
higste Nacht seit langem. Die schlechte Nachricht ist:
Bisher sind alle Angebote, die vonseiten des Präsidenten
an die Opposition gegangen sind, nicht belastbar.

Ein Einstieg in politische Gespräche konnte stattfin-
den, weil Janukowitsch auf Druck der Opposition und
der internationalen Staatengemeinschaft notwendiger-
weise anbieten musste, sein Gesetz zur Unterdrückung
der politischen Betätigung zurückzunehmen. Es gehörte
weiterhin zum Einstieg in politische Gespräche, dass der
Ministerpräsident seinen Rücktritt angeboten hat und
dass infolgedessen die ganze Regierung zurücktrat.

Aber das ist noch nicht die Lösung. Noch wissen wir
nicht, ob in der Ukraine vonseiten des Präsidenten auf
Zeit gespielt wird. Die Unterzeichnung der notwendigen
Gesetze macht Janukowitsch davon abhängig, ob es der
Opposition gelingt, den Maidan zu räumen, obwohl er
weiß, dass die Opposition nicht auf jeden der beteiligten
Demonstranten Einfluss hat. Wir müssen mit unseren
Einschätzungen deshalb noch vorsichtig sein. Es gibt
aber einen Hoffnungsschimmer, dass die jetzt begonne-
nen Gespräche – das ukrainische Parlament tagt zu die-
ser Stunde – vielleicht doch noch den Weg für eine poli-
tische Lösung der Konflikte eröffnen. Sicher ist das
jedoch nicht.

Wir haben uns ganz in den Dienst von Lady Ashton
gestellt, die für die Europäer das Vermittlungsgeschäft in
der Ukraine übernommen hat. Sie ist gestern dort ange-
kommen und wird heute den ganzen Tag vor Ort sein.
Ich denke, wir können uns im Namen des ganzen Hauses
bei ihr für das bedanken, was sie bisher getan hat, und
Glück und Fortune wünschen, dass es am Ende zu einer
friedlichen Lösung für die Ukraine kommt und dass das
Land beieinander bleibt.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801002700

Vielen Dank, Frank-Walter Steinmeier. Sie sehen die

Unterstützung des ganzen Hauses. – Der nächste Redner
in dieser Debatte ist Wolfgang Gehrcke für die Links-
fraktion.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801002800

Schönen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe gerade

ein bisschen länger gewartet, bis ich zum Rednerpult ge-
gangen bin. Denn es wäre mir wirklich unangenehm ge-
wesen, Beifall, der Frank-Walter Steinmeier galt, für
mich in Anspruch zu nehmen.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Kommt darauf an, was Sie sagen!)


Das wird nicht stattfinden; da kann ich Sie beruhigen.

Herr Außenminister, ich habe auf eine Botschaft von
Ihnen gewartet. Sie haben zu Recht gesagt, dass die Au-
ßenpolitik ihren guten Ruf verloren hat. Vielleicht hätte
man einmal überlegen sollen, ob es an der Qualität der
Außenpolitik liegt, dass sie bei vielen Menschen in die-
ser Welt so schlecht angesehen ist. Ich muss Ihnen ehr-
lich sagen: Ich habe oft den Eindruck, dass, wenn hier
von Menschenrechten geredet wird, eigentlich Öl, Was-
ser und andere Naturressourcen gemeint sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Das weiß man in der Welt. Die Doppelbödigkeit und die
Doppelzüngigkeit der Außenpolitik, auch der deutschen
Außenpolitik, haben den Ruf der Außenpolitik versaut.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, da sollte man ansetzen.





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe auf eine Botschaft, auf ein Wort von Ihnen
zu Edward Snowden gewartet, trotz der vorhandenen
Schwierigkeiten, die mir bewusst sind. Ich habe auf die
folgende Botschaft gewartet: Wir möchten als Bundesre-
gierung dazu beitragen, dass Edward Snowden in
Deutschland Asyl erhalten kann. Das wäre wichtig ge-
wesen für die internationale Politik. Das wäre übrigens
auch eine wichtige Ermutigung für die Menschen in un-
serem Land und in den USA. Es ist doch unsinnig, zu
behaupten, dass man sich gegen die Menschen in den
USA richtet, wenn man Edward Snowden Asyl gewährt.
Ganz im Gegenteil: Das wäre für viele mutige Menschen
in den USA eine Ermunterung.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber die Bundesregierung taucht ab. Sie sind nicht be-
reit, auf Augenhöhe, partnerschaftlich mit den USA da-
rüber zu sprechen. Das spricht dafür, dass immer dann,
wenn es schwierig wird, wenn sich die Sache zuspitzt,
auf diese Bundesregierung kein Verlass ist.

Ich kann Ihnen ankündigen, dass wir als Linke die Al-
ternativen, die Sie nicht präsentieren, vorstellen werden.
Wir werden ein Stück weit das schlechte Gewissen des
sozialdemokratischen Teils dieser Großen Koalition
sein, weil wir uns an vieles halten, was auch die Grund-
lage Ihrer Geschichte ist. Es wäre gut, wenn Sie mal wie-
der einen Blick auf Ihre eigene Geschichte werfen wür-
den.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Sie haben aus der Bundeswehr ein Instrument der Au-
ßenpolitik gemacht. Wir sind strikt dagegen. Wenn nach
dem Balkan, dem Mittelmeerraum und Zentralasien jetzt
Afrika das neue Betätigungsfeld wird, dann kann ich nur
sagen: Wir bleiben dabei, dass wir alle Auslandseinsätze
der Bundeswehr beenden wollen, und wir möchten, dass
die Soldaten zurückgeholt werden – ohne Abstriche.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sind Alternativen, über die zu streiten ist. Da gehen
wir nicht zusammen.

Ich möchte auch, dass wir hier in einer anderen Art
und Weise über das Freihandelsabkommen zwischen der
EU und den USA diskutieren. Für mich wäre dieses
Freihandelsabkommen, wenn es in der jetzt vorgesehe-
nen Form durchgesetzt würde, so etwas wie eine ökono-
mische NATO. Ich finde, schon die NATO ist zu viel,
und ich möchte nicht zusätzlich noch eine ökonomische
NATO haben. Deswegen bin ich gegen diese Verhand-
lungen. Ich bin dafür, dass sie abgebrochen werden,


(Beifall bei der LINKEN)


nicht wegen der Auseinandersetzung um Edward
Snowden, sondern weil das Ergebnis eine neue Barriere
in der Welt wäre.

Ich möchte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken,
ob es nicht doch Alternativen zur NATO gibt. In Ihrem
Koalitionsvertrag steht, dass Sie die NATO stärken wol-
len. Wir wollen, dass die NATO aufgelöst wird, dass sie
sich auflöst, dass an ihre Stelle ein kollektives Sicher-
heitssystem tritt, das nicht auf dem Militär basiert. Es
gab einmal einen großen Sozialdemokraten, der für ein
kollektives Sicherheitssystem in Europa eintrat. Haben
Sie das schon alle vergessen?


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als Linke möchten, dass ein anderer Kurs einge-
schlagen wird. Ich hoffe, dass wir uns zumindest darüber
einig sind, dass das jetzige Vorgehen in Bezug auf Russ-
land nicht fortgesetzt werden kann. Sie haben zu Recht
gesagt, dass alle Probleme nur in Kooperation mit Russ-
land zu lösen sind. Dann müssen wir aber auch ein Stück
weit von unserem hohen Ross herunterkommen. Zur
Krise in der Ukraine hat auch die EU-Politik einen ge-
wissen Teil beigetragen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es kann doch nicht sein, dass wir die Bürgerinnen und
Bürger der Ukraine vor die Alternative „Russland oder
EU“ stellen. Beides ist für die Bürgerinnen und Bürger
wichtig. Ich möchte, dass die Ukraine eine Brücke nach
Russland ist und nicht ein Bollwerk gegen Russland.
Das wäre eine vernünftige Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie mich noch etwas hinzufügen: Ich möchte,
dass wir klipp und klar sagen, dass wir mit den Rechten,
den Nationalisten, den Rechtsextremen in der Ukraine
nichts zu tun haben wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das sind keine Freiheitskämpfer, sondern das sind Men-
schen, die die Freiheit beerdigen wollen.

Nun sehen Sie: Eine andere Außenpolitik ist denkbar
und möglich. Ich konnte Ihren Beifall zu Recht nicht für
mich in Anspruch nehmen, aber Sie können meinen auch
nicht für sich in Anspruch nehmen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801002900

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Andreas

Schockenhoff das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1801003000

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Steinmeier,

Sie haben zu Beginn des Jahres 2014, am Anfang dieser
Legislaturperiode an das Fehlen von Diplomatie, an das
Versagen der Außenpolitik vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkrieges erinnert. Der britische Historiker Christopher
Clark hat dies in einem Buch mit dem Titel Die Schlaf-
wandler eindrucksvoll dargestellt. Wenn wir uns heute
an diese Zeit erinnern und uns fragen, was wir daraus
lernen können, dann sehen wir, dass die Außenpolitik
nicht nur in den letzten sechs Wochen vor dem Ausbruch
des Krieges nicht mehr funktioniert hat, wodurch die
Mächte Europas in diesen Krieg hineingestolpert sind,
sondern dass die Menschen in Europa ein ganzes Jahr-
zehnt vor Ausbruch des Krieges im Bewusstsein einer





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)

Vorkriegszeit gelebt haben, in einer Logik der Hegemo-
nie, der Eroberung, der Nullsumme, in der sie sich nicht
gefragt haben, ob es zum großen Krieg kommt, sondern
wann es zum großen Krieg kommt.

Wenn wir aus unserer Geschichte etwas gelernt ha-
ben, dann ist es die zivilisatorische Leistung Europas.
Heute denken wir eben nicht mehr in dieser Nullsum-
menlogik. Wir sagen heute nicht mehr: Wenn wir unsere
Werte verteidigen, wenn wir unseren Interessen dienen,
dann tun wir das gegen die Interessen unserer Nachbarn.
Was wir gewinnen, müssen wir den anderen wegneh-
men. – Heute gestalten wir unsere Außen- und Sicher-
heitspolitik in einer Logik der Integration. Nur miteinan-
der, in einer immer tieferen Zusammenarbeit können wir
unsere Werte, unsere Lebensweise und unsere Interessen
verteidigen.

Dazu passt eine Kernaussage unseres Koalitionsver-
trages. Wir haben in unserem Koalitionsvertrag ge-
schrieben: „Sicherheit in und für Europa lässt sich nur
mit und nicht gegen Russland erreichen.“ Das sehen wir
in diesen Tagen bei vielen Fragen, die uns beschäftigen,
etwa wenn es um eine erste humanitäre Hilfe in Syrien
geht, wenn es um eine Lösung des Nuklearkonfliktes mit
dem Iran geht oder – auch darauf wurde hingewiesen –
wenn es um die Vorgänge in Kiew geht. Deswegen ha-
ben wir ein Interesse daran, mit Russland einen kon-
struktiven und intensiven Dialog zu führen.

Wir wollen mit Russland überall da zusammenarbei-
ten, wo es möglich ist. Wir wollen im Verhältnis zwi-
schen Russland und der NATO – auch hinsichtlich der
Frage der Raketenabwehr – Fortschritte erzielen. Wir
wollen eine mit politischer Substanz gefüllte Moderni-
sierungspartnerschaft mit Russland voranbringen. Wir
wollen auch das EU-Russland-Partnerschaftsabkommen
endlich ein Stück weit voranbringen.

Leider passt dazu nicht, dass Russland in letzter Zeit
immer wieder zu verstehen gegeben hat, es brauche kei-
nen Dialog, es brauche die Zusammenarbeit mit der EU
nicht. Diese Haltung nützt niemandem, auch nicht Russ-
land.

Deswegen sollten wir den Vorschlag, den Präsident
Putin mehrfach geäußert hat, aufgreifen. Präsident Putin
sprach von einem großen wirtschaftlichen und humanitä-
ren Raum Europa. Diesen Raum wollen wir mit Russ-
land gemeinsam gestalten. Dazu gehört aber auch – auch
das schreiben wir im Koalitionsvertrag –, dass wir bei
der Zusammenarbeit mit Russland die berechtigten Inte-
ressen unserer gemeinsamen Nachbarn berücksichtigen
müssen. Deshalb ist es nicht tolerierbar, dass Russland
beispielsweise die wirtschaftliche Notlage der Ukraine
ausnutzt und die Ukraine erpresst. In einem humanitären
und wirtschaftlichen Raum Europa kann es keine Hege-
monie geben. Diese Haltung haben Sie, Herr Steinmeier,
zu Recht als empörend bezeichnet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sollten mit Russland auch über unterschiedliche
Vorstellungen von einer Modernisierungspartnerschaft
sprechen. Solange Russland damit Know-how-Transfer
oder westliche Investitionen hauptsächlich in technolo-
gische Projekte versteht, wir aber auch mehr Rechts-
staatlichkeit, weniger Korruption und mehr zivilgesell-
schaftliche Zusammenarbeit, so lange können wir das
Potenzial, das in dieser Partnerschaft steckt, nicht aus-
schöpfen. Deswegen hoffen wir, dass wir zu substanziel-
len Vereinbarungen über eine tiefere zivilgesellschaftli-
che Zusammenarbeit kommen und dass wir auch in der
Frage der Rechtssicherheit zu Fortschritten kommen.
Wir unterstützen Sie bei einer solchen Politik gegenüber
Russland ausdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rücknahme der
repressiven Einschränkungen des Demonstrationsrechts
und der Meinungsfreiheit und der Rücktritt der Regie-
rung Asarow in Kiew waren erste Erfolge der Bewegung
der Bürger auf dem Maidan und anderswo in der
Ukraine. Jetzt müssen weitere Schritte folgen: eine Am-
nestie und eine Rückkehr zur Verfassung von 2004, die
dem Parlament und der Regierung die demokratischen
Rechte verleiht, die sie gegenüber dem Präsidenten brau-
chen. Die Ukraine braucht vor allem mehr Rechtsstaat-
lichkeit.

Dabei kann die EU helfen; aber wir brauchen jetzt
auch eine Strategie, wie wir der Ukraine auf ihrem Weg
in Richtung Europa helfen wollen. Die Situation ist
heute eine andere als im Dezember nach dem Gipfel in
Vilnius. Es reicht heute nicht mehr, zu sagen: „Die Tür
bleibt offen“, oder: „Wir sind weiterhin bereit, den Asso-
ziierungsvertrag zu unterschreiben“. Wir brauchen die
Bereitschaft zu intensiverer wirtschaftlicher Zusammen-
arbeit.


(Beifall der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dazu gehört ein klares Konzept zu Finanzhilfen im Zu-
sammenhang mit dem IWF. Dazu gehören vor allem
auch Unterstützungsmaßnahmen im Hinblick auf mehr
Rechtsstaatlichkeit.

Vor allem aber müssen wir der Ukraine klarmachen,
dass wir zu Art. 49 des Vertrages über die Europäische
Union stehen: dass jedes europäische Land – und die
Ukraine ist zweifellos ein Land in Europa – eine euro-
päische Perspektive hat, auch wenn diese in den nächs-
ten 20 Jahren vielleicht noch nicht konkret wird und
noch nichts abgeschlossen wird. Es ist wichtig, dass die
Menschen, die sich heute auf dem Maidan für Freiheit
und Menschenrechte einsetzen, weil sie so leben wollen
wie wir und Freiheit und Integration in Europa so verste-
hen wie wir, sich darauf verlassen können, dass ihnen
diese europäische Perspektive nicht genommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen das
militärische Engagement der Franzosen in der Zentral-
afrikanischen Republik. Dort drohte ein religiös moti-
vierter Streit zwischen Christen und Muslimen so zu es-
kalieren, dass die Vereinten Nationen schon von einem
Genozid gesprochen haben. Damit drohte ein weiterer





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)

gescheiterter Staat oder scheiternder Staat, von denen es
in Afrika schon so viele gibt. Ich glaube, wir brauchen
uns heute nicht mehr darüber zu unterhalten, ob das Ein-
greifen im französischen oder im europäischen Interesse
liegt. Natürlich ist die Kombination von fundamentalisti-
schem Terror, organisierter Kriminalität, religiöser Ver-
folgung, Menschenhandel, Drogenhandel usw. eine der
gefährlichsten Bedrohungen für Europa.

Wir begrüßen deshalb, dass, wie es die Bundeskanzle-
rin, der Herr Außenminister und am Wochenende die
Verteidigungsministerin angedeutet haben, Deutschland
das Engagement der Bundeswehr in Mali verstärken
wird, um den Franzosen mehr Kapazitäten für das Vor-
gehen in der Zentralafrikanischen Republik zu lassen.
Diese Frage zeigt doch einmal mehr, dass wir uns nicht
erst dann, wenn eine Krise eskaliert, nicht erst dann,
wenn eine konkrete Mandatsentscheidung ansteht, Ge-
danken machen können, wo wir gemeinsame, europäi-
sche Sicherheitsinteressen haben, wo wir gemeinsam
vorgehen müssen, wo wir die Mittel haben, gemeinsam
zu agieren. Stattdessen brauchen wir eine strategische
Debatte darüber, in welchen Regionen wir in der Lage
sind, mit zivilen und militärischen Mitteln das zu tun,
was für die Sicherheit Europas notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo brauchen wir
denn eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungs-
politik? Wir brauchen sie nicht in Asien. Wir brauchen
sie auf absehbare Zeit auch nicht in Lateinamerika. Wir
brauchen sie mit Sicherheit in Afrika.

Die GSVP-Mission Atalanta, die GSVP-Ausbil-
dungsmission in Somalia, zwei Bundeswehrmandate im
Sudan, Active Endeavour zur Terrorismusbekämpfung
im Mittelmeer, worüber wir heute noch abstimmen wer-
den, Mali und jetzt die Zentralafrikanische Republik:
Wir müssen uns in Europa gemeinsam überlegen, was
wir mit den Mitteln, die wir haben, tun können – denn
wir können nicht überall sein –, und wir müssen dann
auch klare Prioritäten setzen, wo wir arbeitsteilig ge-
meinsam vorgehen wollen.

Dass das Auswirkungen auf das Parlamentsbeteili-
gungsgesetz hat, steht im Koalitionsvertrag. Deswegen
werden wir eine Expertengruppe einsetzen, die uns bin-
nen eines Jahres Vorschläge dazu machen soll, wie wir
dieses Parlamentsrecht erhalten und ausweiten können,
um uns darauf vorzubereiten, dass wir künftig stärker ar-
beitsteilig mit unseren Partnern vorgehen wollen. Dies
müssen wir gegenüber der Bevölkerung und unseren
Partnern verlässlich und berechenbar machen.

100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges,
75 Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
und 25 Jahre, nachdem wir die Teilung unseres Landes
friedlich – vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse
ist das ein besonderes Glück – überwunden haben, ste-
hen wir vor großen Herausforderungen. Die CDU/CSU
steht zu einer Kultur der Verantwortung und auch zu ei-
ner Kultur der Mithilfe, gemeinsam mit unseren Part-
nern. Das wird in den nächsten Jahren, in dieser Legisla-
turperiode nicht einfach werden,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, das glaube ich auch!)


aber wir empfinden das als ein großes Glück für unser
Land.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003100

Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, natürlich haben gerade Sie als bis-
heriger Chef einer Oppositionsfraktion auch Anspruch
auf die berühmten 100 Tage Zeit für den Start, und zwi-
schen uns und Ihnen gibt es sicher auch viele außenpoli-
tische Schnittmengen. Aber den Koalitionsvertrag haben
Sie unterschrieben und zu verantworten, und der ist in
zentralen außen- und sicherheitspolitischen Fragen
durch ein eher verwirrtes Sowohl-als-auch geprägt. Ich
will das an drei Beispielen deutlich machen:

Rüstungsexporte. Waffenexporte dürfen kein norma-
les Instrument der Außenpolitik werden bzw. bleiben.
Aber es bleibt bei den unverbindlichen Leitlinien für
Rüstungsexporte wie bisher. Sie versprechen nur, dass
sie strikter eingehalten werden sollen. Der klare Interes-
sengegensatz in der Koalition bei der Exportfrage bleibt
bestehen, und man darf wirklich gespannt sein, wer sich
im Einzelfall durchsetzt. Klarheit sieht wirklich anders
aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen sich auch für eine atomwaffenfreie Welt
einsetzen, bekennen sich aber mehrfach ohne jeden Vor-
behalt zur NATO-Strategiekonzeption und damit zur
nuklearen Teilhabe. Sie versprechen den Abbau der
Atomwaffen, und dann unterstützen Sie stattdessen ihre
Modernisierung. Das nenne ich doppelte Buchführung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jeder kann an vielen Stellen in diesen Koalitionsver-
trag hineinlesen, was er will. Ganz drastisch wird das
beim Thema „bewaffnete Drohnen“. Die Union will hier
ein Bekenntnis dafür und schürt Erwartungen auf die
baldige Beschaffung. Die SPD sieht das nicht so; viele
völkerrechtliche Prüfungen, die im Koalitionsvertrag
vorgesehen sind, sollen die Sache totprüfen.

Man weiß bei keinem dieser Themen, wie die kon-
krete Politik nun aussehen soll und wer sich im Einzel-
fall durchsetzen wird. Viel politischer Nebel, wenig
klare Konturen!

Das gilt leider auch für zentrale Punkte der Europa-
politik.





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)

Ich will hier aber mit etwas Positivem beginnen: Die
neue Akzentsetzung bei der Stärkung der deutsch-fran-
zösischen Kooperation ist wichtig. Eine politische Initia-
tive war lange überfällig. Da haben Sie unsere Unterstüt-
zung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber worin besteht die Linie der Koalition bei der ak-
tuellen Kernfrage in der Europäischen Union? Was soll
als Antwort auf die Krise zur Ankurbelung der europäi-
schen Wirtschaftsentwicklung getan werden? Das bleibt
nebulös. Ein schlichtes Beschwören des im Sommer
2012 geschlossenen Paktes für Wachstum und Beschäfti-
gung im Koalitionsvertrag hilft da nicht weiter. Neues ist
nicht in Sicht. Sie blockieren sich gegenseitig in der Ko-
alition, und das Resultat ist Stillstand der Marke 2012.

Was die transatlantischen Beziehungen, einen Eck-
pfeiler der deutschen Außenpolitik, betrifft, wird der
politische Nebel immer dichter. Nehmen wir die NSA-
Spionage, die offenbar auch Wirtschaftsspionage ist:
Was wollen Sie denn jetzt tun, wenn es kein No-Spy-Ab-
kommen mit den USA gibt? Ihre Koalition sendet doch
das klare Signal über den Atlantik, dass Sie nicht den
Willen haben, dann zum Beispiel in der Europäischen
Union eine Aussetzung des SWIFT-Abkommens auf die
Tagesordnung zu setzen. Ich sage Ihnen: Wer vorher si-
gnalisiert, dass er keine relevanten Konsequenzen ziehen
wird, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er nur mit
netten Worten abgespeist werden wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was die Gespräche über ein Handels- und Investi-
tionsabkommen mit den USA betrifft, ist ein merkwürdi-
ges Schweigen der Regierung zu verzeichnen. Für die
Öffentlichkeit ist der Verhandlungsprozess weitgehend
undurchsichtig. Die Befürchtungen sind massiv. In den
vertraulichen Berichten, die nur Abgeordnete sehen dür-
fen, steht sehr oft ganz wenig. So wird Kontrolle unter-
laufen.

Wir hören aber, dass Kommissar de Gucht unter dem
abstrakten Stichwort „Horizontal Regulatory Coopera-
tion“ über eine Art Handelsverträglichkeitsprüfung für
jede ordnungspolitische Maßnahme in der EU verhan-
delt. Das bedeutet dann die systematische Unterordnung
unserer Standards und übrigens auch einer sozialverträg-
lichen Industriepolitik unter Handelsinteressen. Von die-
ser Bundesregierung mit sozialdemokratischer Beteili-
gung kommt kein Wort der Kritik. Ich sage: Kommissar
de Gucht muss gestoppt werden. Die Aussetzung der
Verhandlungen ist nötig. Hören Sie auf, zu schweigen!
Sie müssen hier endlich handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Bezug auf die Russlandpolitik gibt es im Koali-
tionsvertrag keine klaren Antworten auf die Entwicklung
der letzten Jahre und Monate. Ja, Europa braucht Russ-
land. Das ist zentral für deutsche Außenpolitik. Aber die
Regierung Putin betreibt eine repressive und modernisie-
rungsfeindliche Gesellschaftspolitik, vor der wir nicht
die Augen verschließen dürfen.
Sie betreibt eine Nachbarschaftspolitik in Bezug auf
Weißrussland und die Ukraine, gegen die klarer Wider-
spruch geboten ist. Da kann es nicht einfach die Fort-
schreibung einer Politik der sogenannten strategischen
Partnerschaft geben, die sich auf gemeinsame Werte und
Wertorientierungen gründen sollte, flankiert von regel-
mäßigen Protestnoten. Sie werden sich dieser Entwick-
lung anders stellen müssen, als Sie dies in Ihrem Koali-
tionsvertrag tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben eine separate Debatte zur Entwicklung in
der Ukraine für den Freitag vereinbart. Ich finde es sehr
gut, dass sich der Deutsche Bundestag dieses Themas in
einer separaten Debatte annimmt. Deswegen will ich nur
wenige Sätze hierzu sagen: Wir alle wissen, dass die
Entwicklung auf der Kippe steht. Es ist nicht klar, in
welche Richtung sie geht. Wir setzen natürlich unsere
Hoffnung darauf, dass es eine friedliche Entwicklung
hin zu Freiheit und mehr Demokratie gibt. Wir hoffen,
dass die Europäische Union eine wichtige Rolle dabei
spielen kann, diese Entwicklung voranzubringen. Wir
hoffen auch, dass die Bundesregierung diese Politik der
Europäischen Union unterstützt. Wir ermutigen Sie, sich
hier zu engagieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist offenkundig,
dass in dem Krisenbogen vom Nahen Osten über die
Länder Nordafrikas bis hin zur Sahelzone eine der zen-
tralen Herausforderungen für die europäische Außen-
politik liegt. Wir erwarten da von Ihnen keine fertigen
Antworten. Aber ich sage auch: Ministerinnenthesen, die
darauf hinauslaufen, dass eine Kultur der militärischen
Zurückhaltung überholt sei, weisen auf jeden Fall in die
falsche Richtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unbedingt notwendig – das möchte ich noch sagen –
ist eine drastische Kurskorrektur bei der Aufnahme von
Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkrieg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Zusage der Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen in
Deutschland im letzten Jahr war schon traurig wenig.
Aber bis heute sind davon noch nicht einmal 3 000 Men-
schen hier angekommen und aufgenommen worden. Das
ist und bleibt eine Schande für unser Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Ankündigung einer europäischen Initiative ist
nicht genug. Deutschland muss hier eine aktive Vorrei-
terrolle übernehmen. Die Zahlen müssen drastisch er-
höht werden. Wir müssen aktiv dafür sorgen, dass es
klappt, dass die Menschen aufgenommen werden. Das
gilt auch für den Einsatz zur humanitären Hilfe in der
Region selbst. Wir wünschen uns wirklich, dass Sie dazu
die Kraft finden.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003200

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Frank

Schwabe das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Frank Schwabe (SPD):
Rede ID: ID1801003300

Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

In der Tat ist es wohltuend, einen Außenminister zu ha-
ben, der schon in kurzer Zeit Deutschlands Stimme in
Europa und in der Welt deutlich wahrnehmbar gemacht
hat


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und sich mit ganzer Kraft der Konfliktbewältigung und
auch der Konfliktprävention widmet, und zwar – das
darf ich an dieser Stelle sagen – in guter sozialdemokra-
tischer Tradition. Das finden wir sehr gut und befriedi-
gend, und das macht uns als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten auch ein bisschen stolz.


(Beifall bei der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ein bisschen bescheidener täte es auch!)


Frank-Walter Steinmeier steht auch für gute Personal-
entscheidungen. Ich gratuliere ganz herzlich Christoph
Strässer, der heute von der Bundesregierung zum Beauf-
tragten für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe
ernannt wurde.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Christoph Strässer ist jemand, der – so habe ich ihn
jedenfalls kennengelernt – mutig seine Stimme erhebt:
gegen Unterdrückung und für das Recht. Das tut er
manchmal leise, aber auch manchmal laut, wenn es da-
rum geht, Öffentlichkeit zu schaffen. Ich bin mir sicher,
dass er für seine neue Aufgabe die Unterstützung des
ganzen Hauses braucht, verdient hat und auch bekommt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschenrechte haben einen eigenen Platz im Par-
lament, und sie haben einen eigenen Platz in der Außen-
politik. Im Grunde sind sie die Grundlage der Außenpoli-
tik. Außenpolitik – und nicht nur sie – muss wertebasiert
sein, nämlich auf der Grundlage der Menschenrechte.
Ansonsten verkommt sie zur reinen Machtpolitik ohne
Kompass. Ich finde, dass der Koalitionsvertrag eine gute
Grundlage für die Menschenrechtspolitik der nächsten
vier Jahre liefert.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das meinen Sie doch nicht im Ernst!)


Ich kann nur auf einige Punkte eingehen. Herr
Gehrcke, Sie haben durchaus recht mit Ihrer Betrach-
tung, dass es nicht sein kann, dass die einen für Fragen
der wirtschaftlichen Vernunft und die Sicherung der
Rohstoffversorgung zuständig sind und andere für die
Menschenrechte. Das muss zusammengehen. Das findet
man aber auch im Koalitionsvertrag. Wie das in den
nächsten vier Jahren mit dem Koalitionspartner ausge-
füllt wird, wird man sehen. Aber wir haben uns klar dazu
bekannt, dass transnationale Unternehmen ihrer sozialen
und ökologischen Verantwortung ebenso wie ihrer Ver-
antwortung im Bereich der Menschenrechte gerecht wer-
den müssen. Wir haben uns klar dazu bekannt, dass die
UN-Leitprinzipien dazu in Deutschland übernommen
werden. Ich finde, das ist erst einmal eine gute Grund-
lage für die Arbeit der nächsten vier Jahre.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde es gut, dass wir uns in einem Punkt, in dem
hohe Übereinstimmung herrscht, noch einmal klar posi-
tioniert haben, nämlich gegen die Todesstrafe, die es in
einigen Ländern der Welt noch gibt. Wir setzen uns für
das Verbot der Folter, aber auch für die weltweite Ab-
schaffung der Todesstrafe ein.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Wir sind gerade dabei, die Länder, die mit uns gemein-
same Werte teilen, dazu aufzufordern. Ich finde es uner-
träglich – das sage ich an dieser Stelle deutlich, und das
muss geändert werden –, dass es gerade auch in entwi-
ckelten Staaten wie den USA und Japan weiterhin die
Todesstrafe gibt. Die ganze Kraft dieses Parlaments und
Deutschlands muss in den nächsten Jahren für den
Kampf dagegen eingesetzt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will zumindest erwähnen, dass wir mit dem Deut-
schen Institut für Menschenrechte eine hochanerkannte
Institution haben und dass wir im Koalitionsvertrag fest-
gelegt haben, dass dieses Institut nach den Pariser Prin-
zipien unabhängig und sicher finanziert werden muss.

Lassen Sie mich noch etwas zu der Institution in
Europa sagen, die für den Schutz der Menschenrechte
steht. Das ist der Europarat. Ich gehöre ihm seit nunmehr
knapp zwei Jahren an. Was ich dort manchmal erlebe,
lässt mich daran zweifeln, ob nicht auch in dieser Institu-
tion mittlerweile ökonomische Interessen überhandge-
nommen haben über den klaren Willen, sich für Men-
schenrechte einzusetzen. Ich glaube, das wird ein großes
Thema in den nächsten vier Jahren werden. Umso wich-
tiger wäre es, an dieser Stelle mit einer neuen General-
sekretärin Zeichen zu setzen, nicht nur weil sie aus
Deutschland kommt, sondern weil sie wirklich für eine
engagierte Menschenrechtspolitik steht. Ich glaube, es
ist gut und richtig, dass nicht nur die alte und die neue
Bundesregierung, sondern das ganze Haus hinter der
Kandidatur von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zum Schluss. Menschenrechte woanders einzufor-
dern, ist im Zweifel einfach und wohlfeil. Es ist aber
auch wichtig, sie im unmittelbaren Lebensumfeld vorzu-
leben. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, wie wir
über Menschen reden und dass die Würde von Menschen
gewahrt bleibt. Gerade manche Debatten über Men-





Frank Schwabe


(A) (C)



(D)(B)

schen, die zu uns kommen, in den letzten Wochen haben
mich durchaus zum Nachdenken gebracht. Ich will hier
kein Scharfmacher sein, sondern bitte lediglich alle Ab-
geordneten dieses Parlaments, mit gutem Beispiel voran-
zugehen und darüber nachzudenken, welche Formulie-
rungen zu wählen sind, damit die Würde von Menschen
geschützt werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003400

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege

Dr. Diether Dehm das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003500

Frau Präsidentin! Damen und Herren! Gestern starb

der große Pete Seeger. Sein Leben steht für sozialen Kampf
und Versöhnung. Er wurde als Kommunist verfolgt. Dieser
Amerikaner, dessen Familie aus Deutschland einst emi-
grieren musste, hat, als er Marlene Dietrich sein Lied
Sag mir, wo die Blumen sind gab, mehr vom europäi-
schen Traum des Friedens begriffen als jener Herr, der
hier am Mikrofon herumtriumphierte, in der EU werde
endlich wieder deutsch gesprochen. Dieses „Deutsch“
der sozialen Kälte gellt nicht nur den griechischen Rent-
nern und den jungen Arbeitslosen in Südeuropa in den
Ohren, sondern auch der alleinerziehenden Hartz-IV-
Empfängerin seit der unwürdigen EU-Agenda 2010. So-
lange es in den EU-Vertragsgrundlagen keine soziale
Fortschrittsklausel gibt und nur die Grundfreiheiten des
Kapitals einklagbar sind, geht der Krieg gegen Sozial-
staat und Tariflöhne ungehemmt weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Eliten – das sagte heute Nacht sogar Barack Obama
– geht es so gut wie nie zuvor. Aber die Kaufkraft „un-
ten“ schwindet dahin, und das bringt den nächsten Schub
für eine Krise. Und was machen die Verträge der EU?
Sie zwingen in Art. 42 EUV die Staaten zur Aufrüstung
und verbieten in Art. 63 AEUV, dass Kapitalverkehr
kontrolliert wird. Die Linke möchte Abrüstung und
auch, dass Kapital kontrolliert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Freihandelsabkommen, das Sie unter strengster
Geheimhaltung mit den USA planen, erlaubt zwar der
Deutschen Bank, die strengere amerikanische Banken-
aufsicht auszuhebeln, und dem US-Konzern Monsanto,
sich vor einem Schiedsgericht einen Persilschein für
seine Umweltverbrechen abzuholen. Aber die Arbeiten-
den in Europa und den USA werden dabei noch mehr
zum Spielball der Konzerne und Banken. So machen Sie
aus der Europäischen Union eine antieuropäische Union.
Die Linke sagt: Eine europäische Integration kann nur
sozial gelingen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach dem Faschismus 1945 wurde kapitalistische
Macht, mit der Hitler hochfinanziert wurde, in vielen
Verfassungen eingegrenzt, in der italienischen und auch
in der deutschen. Nach dem Faschismus in Portugal, der
jetzt vor 40 Jahren überwiegend von Linken niederge-
kämpft wurde, gab es eine soziale Verfassung, aufgrund
derer jüngst der portugiesische Staatsgerichtshof die dra-
konischsten Troika-Brutalitäten für unwirksam erklärt
hat. Herr Henkel von der AfD, der früher Frau Merkel
unterstützt hat, will zurück zur D-Mark, und Frau
Merkel hält an der EU fest, so wie sie ist. Aber beide,
Henkel und Merkel, wollen einen EU-Wettlauf darum,
wo das Kapital am wenigsten besteuert wird, wo die
Löhne am meisten sinken, wo die Arbeitslosigkeit am
gefügigsten macht, wo der Sozialstaat am meisten leidet
und wo Demokratie dem Finanzmarkt am besten unter-
worfen wird.

Wir Linke halten an den fortschrittlichsten, erkämpf-
ten Standards in Portugal, Griechenland und auch in un-
serem Grundgesetz fest; denn nur durch radikal-demo-
kratische Änderungen kann aus der EU ein europäisches
Projekt des inneren und äußeren Friedens werden – im
Geiste des schönen Pete-Seeger-Songs We shall over-
come.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003600

Der Kollege Thomas Strobl hat für die Unionsfraktion

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1801003700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Vor zwei Tagen hat uns von diesem Rednerpult aus
ein 95-jähriger Mann, der russische Schriftsteller Daniil
Granin, tief berührt. Er hat von der zweieinhalbjährigen
Belagerung Leningrads vor 70 Jahren berichtet, von fast
900 Tagen Verzweiflung, Angst, Tod, Hoffnungslosig-
keit und Grauen für Tausende von Familien und Kin-
dern. Das hat uns berührt und bewegt.

Dass wir 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Welt-
kriegs und 75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Welt-
kriegs, nach dem Grauen in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts, auf diesem Kontinent den Krieg nicht
mehr fürchten müssen, hat mit einem politischen Kon-
strukt zu tun, das zu Beginn der zweiten Hälfte jenes
Jahrhunderts erfunden wurde und das uns natürlich heute
und in Zukunft sehr beschäftigt, weil es unvollendet ist,
und das heißt Europa. Wir sollten diesen Gedanken bei
allen Diskussionen um Euro, um Finanzkrise, um Schul-
denkrise, um Armutszuwanderung und anderes mehr,
wenn wir also über Europapolitik hier im Deutschen
Bundestag sprechen, nicht vergessen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Apropos Krise: Gestern gab mir ein wohlmeinender
Mitbürger, ein Wirtschaftsberater, den Rat, die Regie-
rung könne doch die Finanz- und Schuldenkrise in Eu-
ropa einfach für beendet erklären. Das wäre doch auch
mit Blick auf den 25. Mai, den Europawahltag, eine gute
Sache. Nun, für die Wahl könnte es, Herr Bundesaußen-
minister, vielleicht helfen, aber es wäre nicht wahr; denn
die Krise ist keinesfalls überstanden.





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

Was wir sehen können, ist: Der Weg, den wir gemein-
sam in den letzten Jahren gegangen sind, ist richtig; denn
wir kommen voran. Griechenland hat aller Voraussicht
nach im Jahr 2013 einen primären Haushaltsüberschuss
erwirtschaftet. Fast die Hälfte davon hat Athen aus eige-
ner Kraft geschafft. Irland konnte bereits im vergange-
nen Jahr den Rettungsschirm verlassen. Irland ist an den
Markt zurückgekehrt und kann sich inzwischen wieder
selbst mit Geld refinanzieren. Spanien ist seit dem 1. Ja-
nuar nicht mehr auf den Rettungsschirm angewiesen. Im
Übrigen ist die Zahl der Arbeitslosen – das finde ich be-
sonders erfreulich – im Dezember des vergangenen Jah-
res in Spanien signifikant gesunken. Auch in Portugal
steigt die Anzahl der Beschäftigten.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Auf welchem Niveau?)


In Italien gewinnen die Märkte wieder Vertrauen. Es
geht zumindest aufwärts. Die Richtung stimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])


Man sieht also, dass wir mit der Stabilisierung voran-
kommen. Dabei zahlt es sich vor allem aus, dass wir im
Gegenzug für die Hilfe umfangreiche Sparmaßnahmen
und Reformen in den Ländern mit Problemen verlangt
haben. Die Beseitigung der Ursachen der Krise war uns
immer wichtig und hat sich als richtig herausgestellt,
auch wenn das ein schwieriger Weg ist.

Doch die Ruhe ist eine trügerische. Niemand darf sich
ausruhen, und die Partner dürfen auch nicht müde wer-
den, den Weg der Reformen voranzugehen. Dann sind
wir weiter bereit, sie auf dem Weg der Konsolidierung
zu unterstützen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass dies, je-
denfalls inzwischen, eine breite Mehrheit in diesem
Haus so sieht. Solidarität nur bei Solidität; Unterstüt-
zung bedarf auch der eigenen Anstrengung. Das sind
zwei Seiten einer Medaille, und das muss auch in Zu-
kunft so bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn man allerdings Auflagen vereinbart und Refor-
men fordert, dann gehört dazu, dass es für die Umset-
zung dieser Reformen auch eine wirksame Kontrolle
gibt. Für diese Kontrolle haben wir gemeinsam mit dem
Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zen-
tralbank und der Europäischen Kommission ein Exper-
tengremium geschaffen, das sich Troika nennt. Dieses
Gremium ist in letzter Zeit für das, was es tut, vor allem
von der europäischen Linken stark angegriffen worden.
Manche finden, es sei undemokratisch, was die Troika
tut.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!)


Ich kann das, ehrlich gesagt, überhaupt nicht verste-
hen. Denn die Troika unterbreitet nach intensiven Bera-
tungen mit den Reformländern Empfehlungen. Bevor sie
umgesetzt werden, werden diese Empfehlungen immer
in den nationalen Parlamenten beschlossen.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!)

Ohne die Zustimmung der nationalen Parlamente pas-
siert überhaupt nichts. Das gilt im Übrigen auch für die
Garantieländer. Schließlich beschließen auch wir, der
Deutsche Bundestag, jede Hilfsmaßnahme, jede Auszah-
lungstranche, jede Bürgschaft. Insofern kann an der de-
mokratischen Legitimation dieser Vorgehensweise nicht
der geringste Zweifel bestehen.


(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ CSU])


Der Vorwurf, die Troika sei undemokratisch, ist absurd,
und er ist auch gefährlich; denn er arbeitet den Extremis-
ten und den Gegnern Europas in die Hände. Deswegen
weisen wir ihn ausdrücklich zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wo ist die Troika denn demokratisch?)


Die Tatsache, dass die Empfehlungen der Troika unbe-
quem sind, ändert daran im Übrigen nichts. Wir werden
auch weiterhin den Mut zur Unbequemlichkeit haben. Es
wäre leichter gewesen, die mangelnde Wettbewerbsfä-
higkeit Europas etwa durch eine Vergemeinschaftung
der Schulden, durch Euro-Bonds, zu verdecken, so wie
dies die politische Linke immer gefordert hat und heute
noch fordert. Aber das ist nicht unser Weg.

Wir haben den Mut, an Europa festzuhalten, weil wir
wissen, dass Europa unsere Zukunft ist. Das heißt im
Übrigen nicht, dass Europa sich um alles Mögliche küm-
mern muss. Etwa für die Betreuung von Kindern sind bei
uns die Kommunen und Länder zuständig. Die berufli-
che Bildung, der Meisterbrief und das Elterngeld gehö-
ren in die nationale Souveränität. Ich weise auch auf die
Tatsache hin, dass wir in Deutschland einen Exportüber-
schuss haben; nach den dieser Tage bekannt gewordenen
Zahlen sind wir wieder Exportweltmeister. Das muss die
Europäische Kommission jetzt nicht tiefer beschäftigen.
Man macht Europa nicht dadurch stark, dass man die
Starken schwächer macht. Wir wollen vielmehr, dass die
Schwachen in Europa stark werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gestern hat ein Vertreter der EU-Kommission hier im
Deutschen Bundestag beklagt, in Deutschland werde zu
viel gespart. Die Kommission wolle sich jetzt der The-
matik widmen, warum die Unternehmen in Deutschland
so viel sparten und zu wenig investierten. Also gab es
auch hierzu ein klares Wort: Wir freuen uns über die
hohe Eigenkapitalausstattung unserer Unternehmen. Das
ist im Übrigen nicht zuletzt wegen der EU eine Voraus-
setzung, um Kredite für Investitionen zu erhalten. Es ist
auch klar: Unsere Familienbetriebe, unsere Mittelständ-
ler, unsere Unternehmer wissen besser als die Beamten
in der EU-Kommission, wie sie mit ihrem Geld umge-
hen, wann und wo sie investieren. Damit muss sich
Brüssel nicht beschäftigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: In der EUKommission läuft nichts ohne Deutschland! Nichts!)






Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

In anderen Bereichen wollen und brauchen wir mehr
Europa.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wo denn?)


Klimaschutzprobleme sind nicht national lösbar. Auch
im Hinblick auf die Energiepolitik – Leitungstrassen,
Speicherkapazitäten und anderes mehr – brauchen wir
sicher mehr Europa. Da dürfen wir uns auch an unsere
eigene deutsche Nase fassen, weil wir in einem Land le-
ben, in dem der Bund die Kompetenz für die Energiepo-
litik hat, aber jedenfalls manche der 16 Bundesländer
glauben, ihre eigene Energiewende gestalten zu müssen.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seehofer!)


Ich glaube im Übrigen, dass wir eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Wir brauchen
eines Tages keine nationalen Armeen mehr, nicht in
Deutschland, nicht in Frankreich, nicht in Großbritan-
nien;


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Gar keine!)


wir brauchen eine gemeinsame europäische „Operative“,
die vermutlich eher eine Polizeieinheit als eine klassi-
sche Armee sein wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das würde uns den gleichen Sicherheitsgewinn bringen
und würde Milliarden an Einsparungen bringen. Es
würde Geld frei, das wir in Europa für andere Dinge gut
verwenden könnten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Darüber kann man reden!)


Ich will einmal absehen von den Themen „Euro“,
„Schulden“, „Finanzen“, „Geld“ und mit einem Satz
schließen, den Bundestagspräsident Lammert gesagt hat:
„Europa ist mehr als der Euro.“ – Und das ist auch wahr:
Europa ist vor allem eine Wertegemeinschaft, gegründet
auf dem christlichen Bild vom Menschen. So unter-
schiedlich Italiener, Spanier, Deutsche, Griechen, Iren,
Franzosen sind –


(Zuruf von der LINKEN: Und Baden-Württemberger!)


aus diesem Bild leiten wir den Gedanken der Freiheit
und der Menschenwürde ab. Darauf gründet alles, was
unser Zusammenleben in Europa ausmacht. Aus diesem
Gedanken leiten wir ein politisches System namens
parlamentarische Demokratie ab, ein Wirtschaftssystem
namens soziale Marktwirtschaft, beruhend auf der Frei-
heit. Daraus leiten wir die Menschenwürde ab, die
Gleichheit von Mann und Frau, das Verbot der Diskrimi-
nierung von Behinderten –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801003800

Kollege Strobl, ich muss Sie darauf aufmerksam ma-

chen, dass Sie der Kollegin Steinbach die Redezeit weg-
nehmen.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1801003900

– ich bin sofort zu Ende –, die Toleranz

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– ich werde sofort zum Ende kommen –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801004000

Die Präsidentin kämpft für die Rechte aller Abgeord-

neten.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1801004100

– gegenüber Andersdenkenden. Diese Werte zu be-

wahren, darum geht es auch in den nächsten vier Jahren.
Auch daran habe ich gedacht, als vor zwei Tagen der 95-
jährige russische Schriftsteller Daniil Granin hier am
Rednerpult stand und mich mit seinen Worten so sehr
berührt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801004200

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin

Erika Steinbach das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Open End!)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1801004300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Deutsche Europa- und deutsche Außenpolitik ist immer
auch Menschenrechtspolitik gewesen und wird es auch
in Zukunft sein. Unsere Große Koalition hat sich dem
– das können Sie im Koalitionsvertrag nachlesen – sehr
nachdrücklich verpflichtet.

Wir sehen heute, dass in erschreckend vielen Ländern
der Erde Menschenrechte zunehmend keine Heimstatt
mehr haben. Aber mit Krieg und mit Gewalt lassen sich
diese für Menschen elementaren Grundlagen nicht ver-
bessern und Unrechtssysteme nicht beheben. Wir brau-
chen engagierte Diplomatie. Ich freue mich, dass wir in
der Großen Koalition in diesen schwierigen Zeiten mit
Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen sehr er-
fahrenen Diplomaten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Er hat hervorgehoben, dass wir Diplomatie gerade jetzt
brauchen.

Eines ist aber auch zwingend nötig: Wir müssen als
Parlamentarier, als Bundesregierung Defizite immer und
immer wieder ansprechen und alle Möglichkeiten
nutzen, Menschenrechtsverletzungen geradezu schlag-
lichtartig zu beleuchten. Das sensibilisiert am Ende, das
prangert die Täter an, macht sie vielleicht auch nach-
denklich.

Gute Gelegenheiten, eine große Öffentlichkeit für
Menschenrechtsanliegen zu interessieren – viele Men-
schen im Lande bewegt es gar nicht, wenn es Defizite
gibt –, sie zu mobilisieren, sind immer auch sportliche
Großereignisse. Ob Fußballweltmeisterschaften oder
Olympische Spiele – da schauen alle Menschen hin. Die
Winterolympiade in Russland macht das sehr deutlich.





Erika Steinbach


(A) (C)



(D)(B)

Schon im Vorfeld dieser Olympiade werden schlaglicht-
artig zahlreiche Menschenrechtsdefizite in Russland
immer wieder benannt und einer großen Öffentlichkeit
bekannt gemacht. Zuvor hatten nur Nichtregierungsorga-
nisationen, die interessierten Politiker, die dafür verant-
wortlichen Fachkollegen Interesse an der Thematik.
Heute geht es über die Bildschirme, und es werden viele
auf Defizite gestoßen, von denen sie keine Ahnung
hatten. Vor dem Hintergrund ist es, wie ich glaube, auch
gut, wenn sportliche Großereignisse immer wieder ein-
mal auch in diesen Ländern stattfinden, seien es die
Olympischen Spiele damals in China oder jetzt in Russ-
land oder demnächst die Fußballweltmeisterschaft in
Katar, weil wir so die Gelegenheit nutzen können,
schlaglichtartig zu beleuchten, was mit den Menschen-
rechten dort geschieht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein Kernanliegen unserer Menschenrechtspolitik ist
das elementare Menschenrecht der Religionsfreiheit.
Religion ist ja für Milliarden von Menschen elementarer
Teil der Identität. Mit großer Sorge sehen wir die Ent-
wicklung sowohl in Afrika als auch im Vorderen Orient.
Wir müssen leider erkennen, dass es dort Schlachtfelder
der Religion gibt. Häufig ist Religion ein willkommener
Vorwand für aggressive und gewalttätige Auseinander-
setzungen zwischen Volksgruppen, und in Regionen, in
denen über lange Zeiträume hinweg die Menschen unter-
schiedlicher Religionszugehörigkeit in friedlichem Mit-
einander oder wenigstens friedlich nebeneinander gelebt
haben, herrscht heute Mord und Totschlag. Im Nahen
und Mittleren Osten sehen wir das aggressive Gegenein-
ander von Schiiten gegen Sunniten, von Sunniten gegen
Schiiten oder Aleviten. Dazwischen werden die Christen
zerrieben. Muslime in Afrika morden Christen, und
Christen morden Muslime. All das macht deutlich: Da
hat sich etwas entwickelt, was für uns sehr beklemmend
ist. Deutschland und Europa haben das im Dreißigjähri-
gen Krieg erlebt: Katholiken gegen Evangelische, Evan-
gelische gegen Katholiken. Wir wissen, was Religion für
eine zerstörerische Gewalt entfacht hat und entfachen
kann, wenn sie missbraucht wird, um Machtansprüche
zu manifestieren oder Gruppen gegeneinander zu hetzen.

Religiöse Toleranz ist die unverzichtbare Grundlage
für ein friedliches Miteinander von Volksgruppen. Mit
gutem Beispiel – das ist endlich auch einmal ein Licht-
blick – geht Tunesien, einst das Ursprungsland des soge-
nannten Arabischen Frühlings, ein Frühling, der ja
inzwischen für viele Regionen zum Winter der
Menschenrechte geworden ist, voran. Mit der Verab-
schiedung der neuen tunesischen Verfassung, in der
Religions- und Gewissensfreiheit sowie die Gleichbe-
rechtigung der Geschlechter verankert sind, wurde eine
beachtliche Grundlage für eine gute Zukunft geschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir können daran mitwirken und sollten alles dafür tun,
damit das, was dort niedergeschrieben ist, jetzt auch eine
Chance hat, Realität zu werden und in das alltägliche Le-
ben eingebracht zu werden.
In Europa selbst sehen wir für das Freiheitsbedürfnis
der Ukrainer – ich sage es einmal so – einen ganz
schmalen Lichtstreif am Horizont. Die Demonstranten
haben erreicht, dass der Regierungschef Asarow mit sei-
nem gesamten Kabinett zurückgetreten ist. Das ukraini-
sche Parlament hat die sogenannten Diktaturgesetze vom
16. Januar wieder aufgehoben. Wir wollen, wir müssen,
wir sollen den Dialog mit den Demonstranten, mit der
Ukraine selbst, aber auch mit Russland führen, um dazu
beizutragen, dass die Ukraine den Kontakt zur Europäi-
schen Union weder aufgibt noch verliert noch unter
Druck gesetzt werden kann, ihn aufzugeben. Es ist aber
noch ein weiter Weg. Der Außenminister hat darauf hin-
gewiesen. Die Gefahren sind noch längst nicht gebannt,
vielmehr ist noch harte Arbeit zu leisten.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801004400

Kollegin Steinbach, es tut mir wirklich leid: Auch

wenn die Kollegin Beck jetzt versucht, mit einer
Zwischenfrage Ihre schon überzogene Redezeit zu ver-
längern – ich habe dabei noch nicht einmal die Zeit ab-
gezogen, die der Kollege Strobl hier überzogen hat –,
bitte ich Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1801004500

Ich komme selbstverständlich gerne zum Schluss,

Frau Präsidentin.

Auch in Deutschland haben wir eine große Aufgabe
zu bewältigen. Wir haben nämlich hier im eigenen
Lande dafür zu sorgen, dass Menschenhandel und
Zwangsprostitution erfolgreich unterbunden werden.
Was sich hier abspielt, ist eine Schande für dieses Land.
Wir sind ein Eldorado für Menschenhändler geworden.
Das darf nicht so bleiben. Wir haben in der Großen
Koalition gemeinsam beschlossen, das zu unterbinden.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801004600

Wir sind damit am Schluss dieses Debattenteils.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses

(3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesre-

gierung

Fortsetzung der Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung
der integrierten Luftverteidigung der
NATO auf Ersuchen der Türkei und auf
Grundlage des Rechts auf kollektive

(Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen)

schlusses des Nordatlantikrates vom 4. De-
zember 2012

Drucksachen 18/262, 18/347





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Niels Annen
Sevim Dağdelen
Omid Nouripour


(8. Ausschuss)


Drucksache 18/382

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Doris Barnett
Michael Leutert
Dr. Tobias Lindner

Ich mache Sie jetzt schon darauf aufmerksam, dass
wir über die Beschlussempfehlung später namentlich ab-
stimmen werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801004700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Um es vorwegzusagen: Die Verlängerung des Patriot-
Mandats wird den Bürgerkrieg in Syrien weder beenden
noch anfeuern. Es geht in erster Linie um einen Beitrag
im Bündnis und um den Versuch, einen ohnehin entfes-
selten und enthemmten Krieg nicht weiter zu entgrenzen
– nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir glauben, dass
das Mandat, das die Bundesregierung hier vorgelegt hat,
verantwortbar ist, weil es defensiv ist bzw. weil es – wie
wir es in den 70er-Jahren im Rahmen des Ost-West-
Konflikts manchmal diskutiert haben – nicht angriffs-
fähig ist. Es erteilt sozusagen aus unserer Verantwortung
heraus einen defensiven Auftrag. Es wirkt nicht in den
syrischen Luftraum, es leistet keiner Flugverbotszone
Vorschub, und es enthält eine Zusammenarbeit mit ande-
ren Partnern. Nicht zuletzt: Es wirkt im Bündnis.

Wenn wir – einige Tausende Kilometer entfernt –
glauben, die Bedrohung sei nicht existenziell für die
Türkei, so möchte ich daran erinnern, dass in diesem
Bürgerkrieg 600 bis 700 Mittelstreckenraketen dem Re-
gime in Syrien zur Verfügung stehen. Dieses Regime hat
die Mittelstreckenraketen auch schon eingesetzt. Da die
Bedrohung in unmittelbarer Umgebung so wahrgenom-
men wird und da wir in Deutschland um einen Beitrag
zusammen mit den Niederlanden und den USA gebeten
werden, ist das eine akzeptable Maßnahme innerhalb des
Bündnisses, von dem auch Deutschland profitiert hat.

Wir sollten uns weiterhin auch Folgendes deutlich
machen: Diese Patriot-Einheiten verteidigen keine Re-
gierung, keine politischen Handlungen, sondern Flücht-
linge, deren Helfer und letztlich die Menschen, die in
diesem Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze
wohnen. Es soll durch Abschreckung geschützt werden.
Zumindest hat dies in den letzten Monaten funktioniert.
Dass sich die Bundeswehr daran beteiligt hat, ist auch
diesem Mandat letztlich geschuldet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht kein
Zweifel: Die Türkei ist direkt und indirekt in diesen
Konflikt involviert – im Guten wie im Schlechten. Von
dieser Stelle muss gerade der Türkei, den Hilfsorganisa-
tionen und insbesondere den Menschen, die in diesem
Gebiet Flüchtlinge aufgenommen haben, gedankt wer-
den für die humanitäre Hilfe für die vielen Tausend
Flüchtlinge, die aus dem Bürgerkriegsgebiet in die Tür-
kei geflohen sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801004800

Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Dağdelen?


Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801004900

Ja.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005000

Bitte.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005100

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr

Kollege Mützenich. – Herr Kollege Mützenich, Sie
haben gesagt, dass dieses Mandat ein verantwortbares
Mandat ist und dass es dazu da ist, besonders Flüchtlinge
an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien zu
schützen.

Ich möchte Sie aber auf einen Punkt hinweisen. In
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung dieses
Einsatzes der Bundeswehr steht im zweiten Absatz unter
„Völkerrechtliche Grundlagen“, dass auf Antrag der
Türkei im Nordatlantikrat am 26. Juni und am 3. Okto-
ber 2012 Konsultationen stattgefunden haben aufgrund
zweier Ereignisse. Aufgrund dieser zwei Konsultationen
hat die NATO beschlossen, dass es diesen Einsatz geben
soll. – Können Sie mir bis hierhin folgen?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Die Begründungen – –


(Peter Beyer [CDU/CSU]: Es ist Karnevalszeit!)


– Er hat so grimmig geguckt. Deshalb frage ich, ob er
mir überhaupt folgen kann.

Dies steht im Antrag der Bundesregierung, den Sie
höchstwahrscheinlich gelesen haben. Die Begründungen
der Entsendung von Patriots sind aber nicht haltbar. Auf
Antrag der Türkei fanden zwei NATO-Konsultationen
statt. Die erste befasste sich mit dem Abschuss eines tür-
kischen Militärflugzeugs durch die Syrer, die zweite
Konsultation mit dem Granatbeschuss der Syrer Rich-





Sevim Dağdelen


(A) (C)



(D)(B)

tung Türkei. Das steht in dem Antrag der Bundesregie-
rung. Diese Begründungen sind schlicht nicht haltbar,
Herr Kollege, weil sich herausgestellt hat, dass in einem
geheimen NATO-Bericht – diesen Bericht legt die Bun-
desregierung bisher nicht vor – steht, dass diese türki-
sche Version nicht stimmt. Deshalb frage ich Sie, Herr
Kollege: Wie kommen Sie darauf, den Antrag zu unter-
stützen, obwohl in dem NATO-Bericht steht, dass die
Konsultationen, auf deren Grundlage dieser Einsatz
heute noch einmal beschlossen werden soll, uns Abge-
ordneten nicht wahrheitsgemäß vermittelt worden sind?
Wir sind getäuscht worden. Die International Crises
Group und die Stiftung „Wissenschaft und Politik“ ha-
ben gesagt, dass die Darstellung der Türkei falsch war.
Warum sagen Sie jetzt, dass dieser Antrag immer noch
auf der gleichen Grundlage im Bundestag bewilligt wer-
den muss? Ich frage Sie, wenn sich der Anlass, der in
diesem Antrag zugrunde liegt, als unwahr erwiesen hat:
Was ist der eigentliche Sinn und Zweck dieses Einsat-
zes? Teilen Sie dem Bundestag und auch der Öffentlich-
keit mit, warum Sie dem AKP-Regime unter dem autori-
tären Führer Erdoğan mit dem Einsatz von Patriots zur
Seite stehen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005200

Ein kleinen Moment, Kollege Mützenich. Ich habe

die Uhr inzwischen angehalten.


Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801005300

Das ist gut so.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005400

Ich bitte nur darum, bei weiteren Debatten und Zwi-

schenfragen nicht den Umstand auszunutzen, dass wir
zwischendurch einen kleinen Technikausfall hatten und
daher die Zeit für eine Bemerkung oder Frage nicht mes-
sen konnten, und die Redezeit zu überschreiten. Ich bitte
um die gebotene Kürze, damit wir die Debattenzeit auf
diese Art und Weise nicht verdoppeln. Ich denke, wir
sind alle fähig, den Sachverhalt zu erläutern und eine
Frage zu stellen.

Kollege Mützenich, Sie haben das Wort für die Ant-
wort.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Das können wir Frau Steinbach gutschreiben!)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801005500

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich halte es auch für

angemessen; denn wir führen hier eine ernste Debatte
über die Verlängerung von Mandaten, bei denen wir die
Bundeswehr in Regionen schicken, in denen Krisen-
situationen herrschen.

Deswegen vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie mir
diese langen Zusammenhänge und Fragen zutrauen. Ich
bin Ihren Ausführungen schon gefolgt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Der entscheidende Punkt, den ich versucht habe Ihnen
am Anfang deutlich zu machen, war, dass dieses Man-
dat, als es damals hier in den Deutschen Bundestag ein-
gebracht worden ist, einen allein defensiven Charakter
hatte, dass es keine provokativen Elemente gegenüber
dem syrischen Regime hatte. In diesem Zeitraum muss-
ten wir immer wieder erleben, dass in Syrien Mittelstre-
ckenraketen von der dortigen Armee eingesetzt wurden.
Ich glaube, dass die Bedrohung existenziell zu diesem
Zeitpunkt gewesen ist, wie sie es auch heute ist. Wenn
Sie berücksichtigen, dass es 600 bis 700 Mittelstrecken-
raketen in Syrien gibt und dort ein entfesselter Krieg
– mit 130 000 Toten – stattfindet, angesichts dessen
9,3 Millionen Menschen in Syrien auf Hilfe angewiesen
sind und es 6,5 Millionen Binnenflüchtlinge und
2,4 Millionen Flüchtlinge gibt, die unter anderem in die
Türkei gehen, dann erkennen Sie, welche Krisen sich aus
dieser Situation entwickeln können, die sich letztlich
auch auf die Türkei auswirken. Deswegen mache ich es
noch einmal sehr deutlich: Dies ist ein defensiver Auf-
trag. In dem Mandat der Bundesregierung steht nichts
von der AKP-Regierung, die Sie hier eben benannt ha-
ben.

Wenn Sie einen Geheimbericht haben, den Sie uns,
den Kolleginnen und Kollegen, zukommen lassen wol-
len, haben wir, glaube ich, genügend Gelegenheit, im
Auswärtigen Ausschuss darüber zu reden.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Er ist doch geheim!)


Ich bin mir nicht sicher, warum wir ihn nicht mit Ihrer
Hilfe bei den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss
einsehen konnten. Das wäre hilfreich gewesen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es macht keinen Sinn, wenn hier nur etwas von einem
Bericht behauptet wird. Dann besteht letztlich keine
Möglichkeit, ihn in die Beratung dieser Fragen einzube-
ziehen.

Ich würde gerne noch sagen – wenn Sie, Frau Präsi-
dentin, es erlauben –: Sie sollten sich auch die Frage
stellen, ob es manchmal nicht besser ist, einen Partner
durch eigene Beiträge im Bündnis zu halten und an der
Politik zu beteiligen. Sie unterstellen der AKP-Regie-
rung ja eine Menge.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie doch auch! – Weiterer Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Stellen Sie sich nicht die Frage, ob es nicht möglicher-
weise hilfreich ist, einen Beitrag zu leisten, wenn ein
Bündnispartner Hilfe erbittet, um ihn auf diese Weise
eng an die Politik zu binden, die in den letzten Wochen
und Monaten in Montreux und Genf verfolgt wurde?
Wir versuchen nämlich, die falsche Politik in dieser Re-
gion, die auch die AKP-Regierung mit zu verantworten
hat, zu korrigieren.


(Zurufe von der LINKEN: Ah!)






Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)

Darauf würde ich gerne im Laufe meiner Redezeit, die
mir noch zur Verfügung steht, zu sprechen kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was Sie von
der Linksfraktion immer wieder übersehen, ist, dass sol-
che Mandate in einen politischen Handlungsrahmen ein-
gebettet sind. Wir haben gerade eine Generaldebatte
über die Außen- und Sicherheitspolitik geführt. Der Au-
ßenminister hat hier betont, welche aktive Rolle diese
Bundesregierung in den letzten Wochen gerade auch bei
der zivilen und politischen Bearbeitung des Bürgerkrie-
ges in Syrien gespielt hat. Diesen Beitrag, diese diplo-
matischen Bemühungen – ich hoffe, da spreche ich für
das gesamte Haus – sollte Deutschland weiterhin erbrin-
gen.

Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung inner-
halb weniger Tage eine frühere Entscheidung korrigiert
hat – ich hätte es mir schon früher gewünscht –: Sie hat
zugesagt, die Restbestände an chemischen Waffen, die
das syrische Regime eingesetzt hat, in Deutschland zu
vernichten. Ich finde, das ist ein exzellenter Beitrag, den
wir mit den Mitteln und Instrumenten, die in Deutsch-
land auch aufgrund des Ost-West-Konflikts und der
Hilfe bei der Zerstörung der libyschen Chemiewaffen
vorgehalten werden, leisten können.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch im Hin-
blick auf die Haushaltsberatungen betonen, wie wichtig
in Zukunft zum Beispiel das Kapitel zu Abrüstung und
Rüstungskontrolle sein wird. Wir, das Parlament – auch
wir Sozialdemokraten –, werden sehr selbstbewusst da-
rauf achten, dass entsprechende finanzielle Mittel vorge-
halten werden, damit immer wieder ad hoc auf be-
stimmte Situationen reagiert werden kann und wir
unseren Beitrag zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
leisten können. Damit besteht letztendlich die Möglich-
keit, auf die entsprechenden Länder einzuwirken.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005600

Kollege Mützenich, ich habe gerade wieder die Uhr

angehalten, um Sie zu fragen, ob Sie dem Kollegen van
Aken eine Bemerkung oder Frage gestatten.


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801005700

Bitte.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Mensch, hat der es gut!)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801005800

Herr Mützenich, Sie haben gerade eben gesagt – es

war nur ein kleiner Halbsatz –, dass auch die syrische
Regierung Chemiewaffen eingesetzt hat. Sie wissen,
dass Sie nicht wissen, wer sie eingesetzt hat. Sie wissen,
dass die UNO nicht weiß, wer diese Chemiewaffen ein-
gesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie das
hier?
Ich habe die gesamten Unterlagen dazu gelesen. Die
UNO sagt ausdrücklich, sie wisse nicht, wer es war. Ich
habe alle Anschuldigungen von Kerry und den USA ge-
lesen, die nachweisen wollen, dass es das Assad-Regime
war. Ich habe früher bei der UNO in diesem Bereich ge-
arbeitet und sage: All das, was die USA vorlegen, ist
ganz dünn. Ich habe auch die Unterlagen gesehen, die
Russland vorgelegt hat, um nachzuweisen, dass es die
Rebellen waren. Auch all das ist ganz dünn.

Ich möchte nur feststellen: Es gibt niemanden, der ob-
jektive Fakten darüber hat, wer diese Chemiewaffen ein-
gesetzt hat. Ich frage Sie: Warum behaupten Sie hier,
ohne Belege zu haben, dass es das Regime war? Ich
möchte hier nur für Objektivität sorgen.

Dann möchte ich in diesem Atemzug noch eine Be-
merkung machen: Wenn Sie schon erwähnen, dass es sy-
rische Chemiewaffen gibt, müssten Sie auch dazusagen,
woher das syrische Regime unter Assad die Chemikalien
für die Herstellung von Sarin geliefert bekommen hat.
Sie kommen nämlich aus Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1801005900

Lieber Kollege van Aken, Sie wissen genauso gut wie

ich, dass der Versuch unternommen worden ist, durch
eine unabhängige Kommission auf der Grundlage eines
Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
Überprüfungen durchzuführen. Viele der dadurch ge-
wonnenen Indizien – und das verschweigen Sie in Ihrer
Frage –, deuten auf das syrische Regime hin.


(Zuruf von der LINKEN: Nein!)


Das betrifft sowohl die Substanzen als auch die Muni-
tion, die von dieser unabhängigen Expertengruppe ge-
funden worden sind. All das ist ein deutlicher Fingerzeig
auf dieses Regime. Ich glaube, es ist notwendig, das
noch einmal zu betonen.

Ich will Ihnen deutlich sagen: Wie in Ihrem Beitrag
zu diesem Mandat in der ersten Lesung zeigt sich auch
jetzt wieder, wie sehr Sie versuchen, Realitäten auszu-
blenden. Sie haben zum Beispiel davon berichtet, dass
Sie in den kurdischen Gebieten in Syrien unterwegs ge-
wesen sind. Daraus haben Sie in der ersten Lesung die
Schlussfolgerung gezogen, dass die Kurden in Genf und
Montreux eigentlich viel besser vertreten sein müssten.
Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass viele Kurden,
auch in der Opposition, in Genf und in Montreux dabei
gewesen sind.

Letztlich fordern Sie ein Mandat für die in Syrien le-
benden Kurden ein. Deswegen frage ich Sie: Denken
nicht auch Sie in Kategorien der Ethnisierung in Bezug
auf Konflikte und Konfliktbearbeitung? Ich finde, Sie
sollten sich dieser Realität stellen. Darauf kommt es in
einer seriösen Debatte an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)

Zum Zweiten. Sie haben sehr stolz darüber berichtet,
dass Sie in den kurdischen Gebieten Syriens unterwegs
gewesen sind. Während ich Ihnen zugehört habe, habe
ich mich gefragt: Wie waren Sie denn dort unterwegs?
Hat Sie dort jemand beschützt? Mit Waffen? Ist dieses
Gebiet mit Waffen freigekämpft worden? Von dieser
Realität haben Sie hier nämlich nichts berichtet, weil Sie
immer nur einen kleinen Ausschnitt – vielleicht ist das
sogar provokativ gemeint – in die Debatte des Deutschen
Bundestages einbringen.

Ich finde, es gehört zu einer ehrlichen Debatte – und
ich hoffe, dass das in den nächsten vier Jahren der Fall
sein wird –, nicht ständig Realitäten auszublenden, ins-
besondere wenn es um internationale Konflikte geht.
Deswegen sage ich: Stellen Sie sich der Aufgabe, Reali-
täten zu benennen.

Es wäre sehr hilfreich, wenn wir es schaffen könnten,
Sie doch zu überzeugen, mit uns wenigstens über Ein-
sätze auf der Grundlage von Kapitel VI der Charta der
Vereinten Nationen – hier geht es um friedliche Streit-
beilegung – zu sprechen, wenn Sie schon nicht darüber
diskutieren wollen, Einsätze der Bundeswehr zu manda-
tieren. Vielleicht käme dadurch ein bisschen Bewegung
in die Diskussion. So könnten Sie sich den Realitäten an-
nähern.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich weiß, dass ich dem
Deutschen Bundestag durch die Zulassung der vielen
Zwischenfragen und letztlich auch durch die Antworten
darauf ein wenig Zeit gestohlen habe, aber ich finde
diese Auseinandersetzung sehr wichtig, und zwar nicht
nur in Bezug auf Mandate, sondern auch in Bezug auf
die Nutzung unserer diplomatischen Möglichkeiten.

Ich habe daran erinnert, wie sehr sich die Bundesre-
gierung eingesetzt hat. Ich finde, dass von diesem Hause
aus auch ein Dankeschön an den Vermittler des General-
sekretärs der Vereinten Nationen, Herrn Brahimi, gehen
sollte,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


der sich unermüdlich für diesen kleinen Erfolg im Be-
reich der humanitären Hilfe eingesetzt hat. Ich hoffe,
dass die Hilfe die Menschen in Homs oder an anderer
Stelle erreicht.

In der Tat ist es so – Kollege Schmidt hat darauf hin-
gewiesen –, dass wir in Deutschland in den letzten Jah-
ren gerade im Hinblick auf die Aufnahme von syrischen
Flüchtlingen wenig getan haben. 26 000 Flüchtlinge sind
bisher nach Deutschland gekommen. Ich glaube, es gibt
viele, die sich wünschen, dass im Rahmen des Kontin-
gents, das Sie angesprochen haben, noch mehr zu uns
kommen.

Ich bin den syrischen Familien dankbar, die entweder
Bekannte, Freunde oder Verwandte trotz begrenzter
Möglichkeiten bei sich aufgenommen haben. Unsere
Aufgabe ist es nun, die Kommunen dabei zu unterstüt-
zen, für gute Bedingungen bei der Aufnahme der Flücht-
linge zu sorgen.

Mit diesem Mandat ist nicht nur der Einsatz der Bun-
deswehr verbunden, sondern auch diplomatische und hu-
manitäre Aufgaben. Vielleicht können wir uns zumin-
dest auf diesen Teil beziehen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006000

Das Wort hat die Kollegin Katrin Kunert für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als wir am Montag im Verteidigungsausschuss die Posi-
tion der Linken zu den zwei Einsätzen im Mittelmeer
und an der türkisch-syrischen Grenze vorgetragen haben,
hat ein Kollege gesagt, unsere Argumente gegen diese
Einsätze seien unerträglich. Ich will Ihnen einmal sagen,
was für meine Fraktion und für mich unerträglich ist:

Erstens. Die Große Koalition hatte überhaupt nicht
vor, die Mandatsverlängerung hier im Parlament ordent-
lich zu beraten,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Genau das!)


wie es das Parlamentsbeteiligungsgesetz vorschreibt.
Herr Mützenich, Sie fordern eine offene Debatte über
die Auslandseinsätze OAF und OAE; dabei wollten Sie
diese Debatte in einer Regierungserklärung verstecken.
Erst nachdem die Linke eine Geschäftsordnungsdebatte
beantragt hatte, war man bereit, die abschließende Le-
sung aus der Regierungserklärung herauszulösen und
über die Mandate einzeln zu debattieren.


(Beifall bei der LINKEN – Christine Lambrecht [SPD]: Das haben wir vor zwei Wochen schon gemacht!)


Sie glauben – auch das muss man hier einmal sagen –,
dass Sie mit Ihrer großen Mehrheit hier machen können,
was Sie wollen. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen die
Linke nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Zum Thema!)


Zweitens. Ich will noch einmal festhalten, wie es zu
dem Einsatz deutscher Abwehrraketen an der türkisch-
syrischen Grenze gekommen ist. Der anhaltende Bürger-
krieg in Syrien stellte nach Angaben der Türkei eine Ge-
fahr für die territoriale Integrität des Landes dar. Vor al-
lem Einschläge fehlgeleiteter Granaten auf dem
türkischen Territorium wurden als Grund genannt, die
NATO um Beistand zu bitten. Die Türkei selbst räumte
ein, dass die Granaten nicht auf ihr Land gerichtet gewe-
sen seien. Es gab also keine konkrete Bedrohungslage.
Hinzu kommt, dass die Patriot-Raketen bei einem mögli-
chen Einsatz von Chemiewaffen oder Granatenbeschuss





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

völlig wirkungslos sind. Das verdeutlicht, dass Sie unter
falschen Voraussetzungen einen Bundeswehreinsatz kre-
iert haben. Das ist aus unserer Sicht die falsche Antwort.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Die Türkei ist Teil des Konflikts. Sie unter-
stützt radikale Aufständische, gewährt islamistischen
Gotteskriegern die Einreise über ihr Territorium und
lässt Waffenlieferungen aus den Golfstaaten die Grenze
passieren. Die Regierung in Ankara boykottiert jegliche
Versuche demokratischer Selbstverwaltung in den kurdi-
schen Provinzen Syriens, indem sie die Grenzen abrie-
gelt und selbst humanitäre Hilfe blockiert. Die Türkei
befördert somit Kriegshandlungen im Nachbarland und
beklagt sich dann über fehlgeleitete Granaten. Das ist
doch absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bitte Sie: Beenden Sie das Mandat. Ziehen wir die
deutschen Raketen ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für ei-
nen Waffenstillstand und die friedliche Beendigung des
Bürgerkriegs in Syrien einzusetzen. Die Linke fordert
die Bundesregierung auf, sich beim Bündnispartner Tür-
kei dafür einzusetzen, dass die Blockaden an den Gren-
zen aufgehoben werden, um humanitäre Hilfe und ganz
normalen Handel zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie uns die knapp 20 Millionen Euro, die der
Patriot-Einsatz kosten würde, für Medikamente und not-
wendige Lebensmittel einsetzen. Das wäre humanitäre
Hilfe.


(Beifall bei der LINKEN)


Raketen machen nicht satt, und sie bringen auch keinen
Frieden. Insofern – das ist unser Vorschlag – sollten wir
jetzt alle unser ganzes diplomatisches Geschick für ein
friedliches und demokratisches Syrien einsetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006200

Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die Unions-

fraktion das Wort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nehme an, der
Kollege Kiesewetter freut sich darüber, dass Sie so zahl-
reich hier im Plenarsaal vertreten sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es wäre aber schön, wenn Sie jetzt auch die Vorausset-
zung dafür schaffen würden, dass alle im Plenarsaal die
Beiträge des Kollegen Kiesewetter und der folgenden
Rednerinnen und Redner verfolgen können. Daher bitte
ich, notwendige Gespräche nach draußen zu verlagern. –
Bitte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1801006300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wir haben heute mehrfach von einem Teil der Op-
position gehört, dass wir Auslandseinsätze der
Bundeswehr beenden sollen. Wir haben mehrfach ge-
hört, dass wir eine andere Sicherheitspolitik anstreben
sollen. Wir sollten das nicht als gebetsmühlenartig ab-
tun, sondern wir sollten uns in unserer großen Mehrheit,
als Große Koalition bewusst sein, dass wir unsere Aus-
landseinsätze auf einem klaren sicherheitspolitischen
Fundament diskutieren und verabschieden. Wir müssen
uns im Klaren sein, dass wir die Sicherheitspolitik nicht
einer kleinen Gruppe von Fachleuten überlassen dürfen,
sondern als Große Koalition gemeinsam dafür stehen
müssen.

Deshalb bin ich auch sehr froh und dankbar, dass vor
dieser Debatte eine breite sicherheitspolitische General-
debatte stattgefunden hat. Ich kann hier nur einigen Vor-
rednern, zum Beispiel Thomas Strobl, zustimmen, die
gesagt haben, dass Sicherheitspolitik in Wirtschaftspoli-
tik, in Sozialpolitik und in Außenpolitik einzubetten ist.

Wenn wir uns jetzt mit dem Mandat Operation Active
Fence, also dem Schutz des Luftraums in der Türkei, be-
schäftigen, müssen wir uns im Klaren sein, dass wir dies
vor einem Jahr zum ersten Mal verabschiedet haben und
sich die Bedrohungslage nicht verändert hat. Die Türkei
hat aber in der Zwischenzeit 72 zivile Tote zu beklagen
und kümmert sich – sie übernimmt damit Solidarität für
viele Staaten Europas – um 800 000 Flüchtlinge auf dem
eigenen Territorium.

Der Einsatz Active Fence bleibt unverändert notwen-
dig. Warum? Die Türkei verfügt über keine eigenen
Flugabwehrsysteme. Die Türkei hat kein Patriot-System.
Aber – das zeigt die Bündnissolidarität – Deutschland,
die USA und die Niederlande helfen der Türkei mit die-
sem System aus.

Worum geht es dabei? Es geht nicht darum, im Luft-
raum Syriens zu wirken, sondern es ist eine defensive
Maßnahme, die der NATO-Rat beschlossen hat und der
wir im Bundestag, glaube ich, einmütig zustimmen kön-
nen. Es geht dabei darum, den Luftraum der Türkei zu
schützen. Syrien verfügt – Kollege Mützenich hat es
vorhin gesagt – über ballistische Raketen und setzt sie
im eigenen Land ein. Es ist ein Zeichen der Solidarität
Deutschlands, der Niederlande und der Vereinigten Staa-
ten, Seite an Seite mit der Türkei ihren Luftraum zu
schützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen leistet Deutschland einen weiteren Bei-
trag, den wir hier ansprechen sollten. Der Einsatz wird ja
nicht von der Türkei, sondern aus Deutschland heraus
vom Air Command in Ramstein geführt. Das ist ein
NATO-Kommando auf deutschem Boden. Hier zeigen
wir, dass wir Teil dieser NATO-Operation sind, wir zei-
gen Bündnissolidarität und leisten auch mit Blick auf die
Kommandostrukturen der reformierten NATO einen
Beitrag.





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich zum Abschluss auch das Übergeord-
nete ansprechen. Diese Operation ist in ein größeres Kri-
sen- und Konfliktmanagement eingebettet. Kollege
Mützenich hat das sehr deutlich angesprochen. Wir
Deutschen leisten auch einen Beitrag im Bereich der hu-
manitären Hilfe, der Übergangshilfen, der Krisenbewäl-
tigung und des Konfliktmanagements. Die Kosten unse-
res Einsatzes bei Active Fence betragen rund 20
Millionen Euro im Jahr, während die der humanitären
Hilfe, der Übergangshilfen, im Bereich des Konfliktma-
nagements und der zivilen Krisenprävention über 400
Millionen Euro jährlich betragen. Wir zeigen damit, dass
wir einen mehrfachen Beitrag leisten und uns mit einer
beispielhaften vernetzten Sicherheitspolitik für die Tür-
kei einbringen. Dadurch werden wir auch unserem Ko-
alitionsvertrag gerecht, in dem wir schreiben, dass wir
zivile und militärische Instrumente abgestimmt und vor
allen Dingen mit parlamentarischer Begleitung zum Ein-
satz bringen wollen.

Lassen Sie mich abschließend den zurzeit 400 deut-
schen Soldatinnen und Soldaten, aber auch unseren nie-
derländischen und amerikanischen Bündnispartnern auf
türkischem Boden unsere Solidarität versichern und ih-
nen für ihren Einsatz danken. Ich werbe um Zustimmung
für das Mandat und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006400

Die Kollegin Dr. Franziska Brantner hat für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ich bitte noch einmal die Kolleginnen und Kollegen,
die schon im Saal sind und noch keinen Sitzplatz gefun-
den haben, sich jetzt bitte zu setzen oder notwendige Ge-
spräche nach draußen zu verlegen. – Sie haben das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir Grüne werden der Verlängerung des Mandats zur
Aufstellung der Patriot-Systeme in der Türkei aufgrund
der Verpflichtungen im Bündnis, weil die Kriegsgefahr
in der Region im letzten Jahr zumindest nicht gesunken
ist, zustimmen. Wir stimmen auch zu, weil das Mandat
aufgrund des Drucks von uns Grünen im letzten Jahr so
angepasst wurde, dass politische Manipulationen er-
schwert werden. Ich nenne als Beispiel die ausreichende
Distanz zur türkisch-syrischen Grenze.

Die Entsendung der Patriot-Einheiten darf aber nicht
den Blick auf die Krise in Syrien verstellen. Hier liegen
die Ursachen dafür, dass es notwendig ist, Abwehrsys-
teme zu stationieren. Hier müssen wir liefern, wenn das
Mandat ein Ende finden soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Am Montag sprach – Herr Strobl, Sie haben ihn er-
wähnt – Daniil Granin zu uns. Seine Schilderung der
Blockade von Leningrad hat mich sehr berührt. Als er
über das Elend der Kinder sprach, schnürte sich mir der
Hals zu. Ohne dass ich die deutschen Gräueltaten im
Zweiten Weltkrieg irgendwie relativieren wollte, muss
ich sagen, dass mir bei Herrn Granins Erinnerungen Bil-
der von Kindern und Frauen aus Homs in den Kopf ka-
men. Auch die syrische Stadt Homs wird seit Monaten,
seit Jahren belagert, beschossen, ausgehungert. Die
Menschen dort stehen ohne medizinische Versorgung da.
Zwei Drittel der Krankenhäuser sowie der Krankenwa-
gen in Syrien sind zerstört. Die syrische Regierung ver-
hindert die Lieferung medizinischer Hilfsgüter in Ge-
biete, die von den Oppositionellen kontrolliert werden.

Es gibt Bestrebungen, den Verantwortlichen für zehn-
tausendfache Folter, Tod, Aushungern, für Jahrzehnte
der Unterdrückung – Baschar al-Assad – als die bessere
Alternative darzustellen. Das, meine Damen und Herren,
dürfen wir nicht durchgehen lassen. Hier muss Herr
Steinmeier ein klares Signal setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hätte mir gewünscht, dass es in den Genf-II-Ver-
handlungen einen Hoffnungsschimmer für Homs gibt;
aber trotz der Zusage des Assad-Regimes hat humanitäre
Hilfe Homs bis heute Nachmittag nicht erreicht. Statt-
dessen fordert das Regime heute, Frauen und Kinder von
den Männer zu trennen. Das ruft mir unweigerlich Sre-
brenica ins Gedächtnis: Die Frauen und Kinder haben
ihre Männer und Väter damals nie wieder gesehen. So
weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Das humanitäre
Völkerrecht ist nicht verhandelbar, es gilt für alle, ohne
Wenn und Aber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir dürfen Assads Hinhaltetaktik nicht weiter dulden.
Seien wir doch ehrlich: Wenn der Zugang nach Homs
nicht bald gelingt, wird die Opposition am Verhand-
lungstisch nicht sitzen bleiben können, ohne jegliche
Glaubwürdigkeit innerhalb Syriens zu verlieren. Dann
wären die Verhandlungen erst einmal vorbei.

Herr Steinmeier ist in diesem Moment leider nicht da.
Ich möchte ihn fragen: Tun Sie wirklich alles, um den
Druck auf Assad und seinen Partner Putin so zu erhöhen,
dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs bekommt?
Was für Chemiewaffeninspekteure möglich ist, das muss
doch erst recht für humanitäre Helfer möglich sein: Sie
müssen im ganzen Land unbeschränkten Zugang bekom-
men. Der Schutz der Bevölkerung darf doch nicht bei
der Vernichtung der Chemiewaffen enden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es würde Russland gut anstehen – auch mit Blick auf
den olympischen Frieden von Sotschi –, ein humanitä-
res Zeichen zu setzen, indem man sich dafür starkmacht
– wenn nicht in Genf, dann in New York, im Sicher-
heitsrat –, dass humanitäre Hilfe Zugang nach Homs be-
kommt.

Herr Steinmeier, üben Sie bitte auch Druck aus auf
Saudi-Arabien und Katar – Länder, aus denen Dschiha-





Dr. Franziska Brantner


(A) (C)



(D)(B)

disten finanziert werden –, die auch keine humanitäre
Hilfe zulassen. Da wird wieder einmal klar: Wir brau-
chen endlich eine echte Contact Group, in der Russen,
Iraner, Saudi-Araber, eben alle an einem Tisch sitzen,
um sich auch zwischen Friedenskonferenzen abzustim-
men und zu einigen.

Und, liebe Bundesregierung, wir brauchen eine euro-
päische Stimme; die gibt es in der Syrien-Politik mo-
mentan gar nicht. Der Europäische Auswärtige Dienst
mit Herrn Vimont an der Spitze liest die französischen
Kabelberichte, Frau Ashton hört auf Herrn Cameron,
und was machen die Deutschen? Es ist unsere Chance,
hier endlich Kohärenz herbeizuführen und vielleicht ei-
nen Beitrag zu leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Letzte Frage an Herrn Steinmeier und Herrn Müller:
Leisten wir Deutsche wirklich alles – alles –, um die hu-
manitäre Hilfe in Syrien zu stärken? Können wir nicht
noch mehr Gelder senden? Der Treuhandfonds, der mit
Deutschlands Hilfe aufgelegt wurde, ist noch längst
nicht gefüllt; da könnten wir doch zum Beispiel nachle-
gen.

Sehr geehrte Damen und Herren, aus unserer Ge-
schichte erwächst Verantwortung. Gedenken ohne Han-
deln reicht nicht. Wir müssen uns besonders engagieren.
In diesem Sinne appelliere ich an den Minister: Tun Sie
mehr, tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende!

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006500

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Reinhard Brandl für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1801006600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lassen Sie mich eines vorausschicken: Das Leid
der Menschen in Syrien lässt einen manchmal schier ver-
zweifeln. Jeden Tag lesen wir neue Nachrichten über
Tod und Vertreibung – auch heute wieder; Frau Brantner,
Sie haben es angesprochen –, und das, obwohl gleichzei-
tig in Genf Friedensverhandlungen stattfinden.

Es wird in diesem Konflikt keinen Sieger im militäri-
schen Kampf geben. Vielmehr kann Frieden in Syrien
nur über den Verhandlungsweg erreicht werden. Inso-
weit ist es zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer,
dass sich in Genf gerade zu der Stunde, in der wir hier
debattieren, die Oppositionsparteien mit den Regie-
rungsparteien zumindest in einem Raum befinden und
indirekt miteinander reden. Ich hoffe, dass die internatio-
nalen Anstrengungen, dort eine Lösung herbeizuführen,
in den nächsten Wochen und Monaten fruchten werden.

Deutschland tut, was möglich ist, um das Leid der
Menschen in Syrien zu lindern. Wir sind einer der größ-
ten Geber von bilateraler Hilfe. Der Kollege Kiesewetter
hat die 440 Millionen Euro seit 2012 angesprochen. Wir
unterstützen die besonders betroffenen Nachbarländer in
vielerlei Hinsicht, nehmen selber Flüchtlinge auf und
helfen jetzt ganz aktuell, die syrischen Chemiewaffen zu
vernichten.

Wir können als Deutschland nicht alles leisten, aber
die Vernichtung dieser Chemiewaffen ist zum Beispiel
ein Beitrag, den wir leisten können, weil wir dafür die
Technologie und das Know-how haben. Wir stellen uns
dieser Verantwortung und bringen diesen Beitrag ein,
und das ist wichtig und richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Niels Annen [SPD])


Meine Damen und Herren, das ist internationale Ge-
meinschaft: Jeder leistet entsprechend seinen Möglich-
keiten und seinen Fähigkeiten einen Beitrag zur Lösung
des großen Problems.

Ein solcher Beitrag ist auch der Schutz der Türkei vor
fehlgeleiteten Raketen. Diese Hochtechnologiefähigkeit
der Raketenabwehr haben im Bündnis nur wir, die USA
und die Niederlande. Die Türkei selber hat sie nicht.


(Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Da ist der Wunsch einer Zwischenfrage; ich würde sie
zulassen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006700

Gut, Kollege Brandl. Jetzt, am Beginn der Legislatur-

periode, scheinen sich neue Freundschaften in Bezug auf
Zwischenfragen und Antworten zu bilden.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wir wollen es nicht übertreiben!)


– Ja, ich werde genau beobachten, wie sich das hier wei-
terentwickelt. – Kollegin Dağdelen, Sie haben das Wort
zu einer Zwischenfrage oder Bemerkung.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801006800

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Lieber Herr Kollege,

danke, dass Sie es zugelassen haben, Sie kurz zwei
Dinge zu fragen. Denn Sie haben ja gesagt: Dieser Ein-
satz dient dem Schutz der Türkei.

Erstens. Vor dem Hintergrund, dass ich es sehr bedau-
ere, dass in dieser Debatte bis jetzt kein Wort, kein kriti-
sches Wort über die Unterdrückung in der Türkei gefal-
len ist, möchte ich Sie fragen: Ist es nicht eher so, dass
die Bundeswehr mit diesem Einsatz das AKP-Regime
und Erdogan schützen soll?

Zweitens: Wie gehen Sie in den Koalitionsfraktionen
damit um, dass laut Umfragen von unabhängigen Institu-
ten in der Türkei – auch aktuellen Umfragen – eine
große Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei gegen
diesen Patriot-Einsatz in der Türkei ist? Es gab massen-
hafte Demonstrationen und Proteste gegen die Bundes-
wehr und auch gegen diesen Einsatz. Wie gehen Sie da-
mit eigentlich um?






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1801006900

Wir nehmen die Stimmung in der Türkei sehr zur

Kenntnis, wobei ich Ihnen sagen muss, dass es nicht so
eindeutig ist, wie Sie sagen. Ich habe auch andere Stim-
men aus der Türkei gehört. Wir haben erst in der letzten
Woche mit türkischen Vertretern gesprochen, die den
Einsatz der Deutschen sehr begrüßen.

Ich möchte Ihnen eines zur Bedrohungslage in der
Türkei sagen: Auf türkischem Gebiet gab es seit dem
Ausbrechen des Bürgerkriegs 309 Verletzte und 94 tote
Zivilisten. Die Zahl ist vom November; jetzt werden es
sicher schon wieder mehr sein.

Unsere Patriot-Systeme sind seit einem Jahr im Ein-
satz; wir haben darüber diskutiert. In diesem Jahr haben
diese Systeme über 300 Abschüsse von Kurzstreckenra-
keten festgestellt. Diese Kurzstreckenraketen haben eine
Reichweite von etwa 700 Kilometern. Wenn die Rakete
startet, wissen Sie nicht, wo sie einschlagen wird. Es
dauert eine gewisse Zeit, bis Sie errechnen können, wo
der Einschlagpunkt ist.

Dass die Menschen in diesem Gebiet Angst haben,
liebe Frau Kollegin, ist doch nachvollziehbar. Sie müs-
sen sich das ganz praktisch vorstellen. Das ist ein
Kriegsfall. Sie wissen nie, wer dahinter steht, wer zum
Beispiel die Koordinaten für die Rakete eingibt, welche
Motive er hat und ob er immer rational handelt. Sie wis-
sen beispielsweise nie, ob die Rakete Giftgas mit sich
führt. Dieses Risiko konnte im letzten Jahr deutlich mi-
nimiert werden, auch mit deutscher Hilfe. Aber aus
Deutschland heraus die Bedrohungslage in der Türkei
infrage zu stellen, finde ich schon ziemlich vermessen. –
Liebe Frau Kollegin, die Frage ist jetzt beantwortet.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die ist nicht beantwortet!)


Wir leisten unseren Beitrag im Rahmen der Bündnis-
solidarität. Die Türkei hat bei der NATO und damit auch
bei uns um diesen Beitrag nachgefragt. Gerade Deutsch-
land hat jahrzehntelang von der Solidarität im Bündnis
dahin gehend profitiert, dass unsere internationalen Part-
ner in unserem Land stationiert waren und im Falle eines
Falles eingegriffen hätten. Davon haben wir profitiert.
Unsere Partner haben unsere Sicherheit garantiert. Jetzt
leisten wir einen Beitrag zur Sicherheit und zur Stabilität
im Bündnis.

Ich finde, wir sollten das tun. Ein solcher Einsatz ist
doch rein defensiv. Ich verstehe, ehrlich gesagt, gar
nicht, was die Linken immer gegen solche Einsätze ha-
ben. Wenn Sie grundsätzlich gegen Bundeswehreinsätze
sind, dann sagen Sie das. Sagen Sie doch: Wir lehnen ei-
nen solchen Einsatz aus grundsätzlichen Erwägungen
ab. – Aber inhaltlich können Sie diesen Einsatz doch
nicht kritisieren. Er ist rein defensiv. Es geht nicht da-
rum, jemanden mit Raketen anzugreifen, sondern es geht
nur darum: Wenn eine Rakete aus Syrien auf türkisches
Gebiet fliegt, dann soll sie abgeschossen werden, bevor
sie in Kahramanmaras oder in einer anderen Großstadt
einschlägt. Dagegen kann man nichts haben.

Das ist ein wertvoller Beitrag, den wir im Bündnis
leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke, wir sollten diesen Beitrag nicht verwehren.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801007000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher
Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftvertei-
digung der NATO auf Ersuchen der Türkei.

Mir liegen zwei Erklärungen der Kolleginnen
Dağdelen und Kiziltepe nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vor. Wir nehmen sie entsprechend unseren Regeln
zu Protokoll.1)

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/347, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/262 anzunehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte jetzt um
Aufmerksamkeit. Mir ist zu Ohren gekommen, dass
noch nicht alle, insbesondere neu dem Haus angehö-
rende Mitglieder des Bundestages, wissen, mit welchen
Materialien sie sich für die unterschiedlichen Abstim-
mungsformen, die wir heute alle üben, jeweils ausstatten
müssen. Deshalb bitte ich darum, mir jetzt sehr genau
zuzuhören.

Sie brauchen für die namentliche Abstimmung die
Stimmkarte Ihrer Wahl, die Sie aus dem Kartenfach in
der Westlobby geholt haben. Ich bitte Sie, zu überprüfen,
ob die Stimmkarte, die Sie schon bei sich haben, tatsäch-
lich Ihren Namen trägt, und gegebenenfalls, sollten Sie
aus Versehen die Stimmkarte Ihres Nachbarn mitgenom-
men haben, den entsprechenden Austausch vor der Ab-
stimmung vorzunehmen.

Ich weise Sie außerdem darauf hin, dass nach dieser
Abstimmung eine weitere Debatte stattfindet, welche wie-
derum in eine namentliche Abstimmung mündet, welche
wiederum mittels Stimmkarte vollzogen wird. Die weite-
ren gedruckten Karten, Wahlausweise, die Sie gegebenen-
falls auch schon aus Ihren Kartenfächern geholt haben,
brauchen wir erst für die darauffolgenden Wahlgänge.

Ich bitte Sie trotzdem, da es offensichtlich schon zu
Verwechslungen gekommen ist, die Zeit der nächsten
Debatte dafür zu nutzen, zu überprüfen, ob die Wahlaus-
weise und die Stimmkarte, die Sie schon haben, entspre-
chend gekennzeichnet sind, also Ihren Namen tragen.
Sollte dies nicht der Fall sein, bitte ich Sie, die Wahlaus-
weise an das rechtmäßig abstimmungsberechtigte Mit-
glied des Bundestages zurückzugeben. Denn einige Kol-
legen haben offensichtlich ihre Wahlausweise nicht
mehr im Fach vorgefunden; die muss also schon jemand
anders herausgenommen haben.

1) Anlage 2





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Ich hoffe, ich habe mich jetzt deutlich genug ausge-
drückt, welche Aufgaben Sie neben dem Verfolgen der
Debatte und den Abstimmungen in den nächsten Minu-
ten noch zu erfüllen haben.

Wir kommen jetzt zur namentlichen Abstimmung. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. Ich bitte um ein Zeichen,
ob an jedem Abstimmungsplatz eine Schriftführerin oder
ein Schriftführer der Koalitionsfraktionen und eine
Schriftführerin oder ein Schriftführer der Oppositions-
fraktionen anwesend ist. – Das scheint der Fall zu sein.
Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Hier vorn ist noch ein Wahlausweis übrig; der wird ja,
wie gesagt, später noch gebraucht.


(Unruhe)


Ich habe gerade den Hinweis bekommen, dass ich alle
Instrumente, die dem Präsidium zur Verfügung stehen,
nutzen soll. Das scheint mir an dieser Stelle angebracht
zu sein.


(Glocke der Präsidentin)


Ich bitte all diejenigen, die der folgenden Debatte
nicht folgen können oder wollen, den Saal zu verlassen,
und alle anderen, Platz zu nehmen. – Ich werde die De-
batte nicht eröffnen, bevor wir nicht die notwendige
Ordnung hergestellt haben. Dieser Hinweis gilt sowohl
für die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten als
auch für die Mitglieder der Bundesregierung.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der SPD-
Fraktion, der Unionsfraktion, der Grünen und auch der
Fraktion Die Linke, den Bemühungen ihrer Parlamenta-
rischen Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen, hier
die notwendige Ordnung herzustellen, nun auch Folge
zu leisten.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es ist doch gut!)


– Kollege Ulrich, es ist gut, aber auch Sie können noch
besser werden. Auch Mitglieder der Fraktion Die Linke
stehen noch. – Kollege Ströbele, es macht mich traurig,
dass Sie mich ignorieren.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Damen aber auch!)


– Das gilt natürlich auch für die Kolleginnen von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die da noch stehen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die kriegen ein Ordnungsgeld!)


1) Ergebnis Seite 620 D
Wenn die Kollegen der SPD und der Union auch noch
die notwendige Ordnung herstellen, können wir fortfah-
ren.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter
deutscher Streitkräfte an der NATO-geführ-
ten Operation Active Endeavour im gesamten
Mittelmeer

Drucksachen 18/263, 18/348

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Niels Annen
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

Drucksache 18/383

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Doris Barnett
Michael Leutert
Dr. Tobias Lindner

Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niels Annen für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1801007100

Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie so wacker für

Aufmerksamkeit gekämpft haben. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten und beschließen heute über
den Antrag der Bundesregierung, die Beteiligung an der
Operation Active Endeavour fortzusetzen. Wie Sie alle
wissen, hat sich meine Fraktion mit diesem Mandat be-
sonders intensiv auseinandergesetzt. Von diesem Red-
nerpult aus haben Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten darauf hingewiesen, dass die Begründung des
Einsatzes der Diskussion bedarf. Deswegen will ich da-
ran erinnern: Die Grundlage für die Entsendung von
deutschen Streitkräften im Rahmen dieses Mandates ist
die Ausrufung des Bündnisfalls nach Art. 5 des NATO-
Vertrages.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Eben!)


Diese Entscheidung war nach dem Angriff des 11. Sep-
tember 2001 auf unsere amerikanischen Verbündeten
richtig. Sie war ein Akt der Solidarität, ein Akt der
Bündnistreue. Im Rahmen dieses Einsatzes haben wir in





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

den letzten Jahren dazu beigetragen, dass der Terroris-
mus bekämpft worden ist und dass wir hier in Deutsch-
land sicherer geworden sind.

Aber es ist auch richtig, dass unter der Überschrift
„Krieg gegen den Terrorismus“ vieles falschgelaufen ist.
Überreaktionen und Fehlentwicklungen – darüber sind
sich, glaube ich, viele in diesem Hause einig – haben
dazu geführt, dass die Glaubwürdigkeit des Westens in
vielen Bereichen gelitten hat. Die Stichworte sind uns
hier alle präsent: die Debatte über Folter, die Debatte
über Guantánamo, über illegales Töten etc. Ich bin über-
zeugt davon: Die terroristische Bedrohung auch im Mit-
telmeer ist nicht gebannt, und es wäre fahrlässig, diesen
Eindruck zu erwecken. Aber wir brauchen eine neue
Grundlage zur Bekämpfung des Terrorismus und dafür
auch einen neuen politischen Konsens. Wir glauben,
dass der Bezug dieses Mandates auf Art. 5 des Nordat-
lantikvertrags in den nächsten Jahren ersetzt werden
sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir stimmen heute zu, weil wesentliche Kritikpunkte
aus unseren Vorschlägen, aber auch aus der Diskussion
in diesem Land von der Bundesregierung aufgegriffen
worden sind. Wir stimmen heute einem veränderten
Mandat zu: Die Obergrenze der Zahl der Soldaten ist ge-
senkt worden, das sogenannte Einmelden von Schiffen
findet künftig nicht mehr statt, und die exekutiven Be-
fugnisse sind begrenzt worden.

Ich will aber deutlich sagen, auch in Richtung der
Bundesregierung: Wir stimmen auch in der Erwartung
zu, dass die Botschaft, die wir ausgesandt haben, aufge-
griffen wird, dass die doch relativ kurze Zeit der Manda-
tierung – elf Monate – dafür genutzt wird, in der NATO
dafür zu sorgen, dass dieser neue politische Konsens Ge-
stalt annimmt, und dass wir gemeinsam mit unseren
Bündnispartnern ein neues Mandat ohne den Bezug auf
Art. 5 erreichen können. Ich bin dem Bundesaußen-
minister und auch der Verteidigungsministerin sehr
dankbar dafür, dass die ersten Gespräche bereits geführt
worden sind. Ich erwarte, dass das in den nächsten Mo-
naten weiter geschehen wird. Dann werden wir gemein-
sam hier darüber beraten und auch Bilanz ziehen kön-
nen.

Ich möchte noch etwas zu der Frage der Bündnissoli-
darität sagen, auch mit Verweis auf die vorhergehende
Diskussion. Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen wie
immer aufmerksam zugehört.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ehrt Sie!)


– Danke schön. – Mir geht es um einen Punkt: Ich habe
den Eindruck, es gibt in einem Teil der politischen Lin-
ken ein Missverständnis, was unsere Beziehung zur
NATO betrifft. Sie glauben, wenn Deutschland sich ein-
seitig aus dem Bündnis verabschiedet – es ist Ihr Vor-
schlag, die NATO aufzulösen; in diesem konkreten Fall
ist Ihr Vorschlag, wir sollten uns einseitig aus der Opera-
tion zurückziehen –, dann würde das Ansehen unseres
Landes in der Welt steigen, und wir würden Respekt ge-
nießen. Habe ich Sie richtig verstanden?

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Schauen Sie in die Geschichte, auch die der SPD, zu-
rück. Die Diskussion haben wir in den 50er-Jahren ge-
führt. Damals gab es ganz viele, die dieser Meinung wa-
ren. Seit der großen Rede von Herbert Wehner 1960


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist euer Problem!)


gibt es in diesem Land einen Konsens, dem Sie sich ver-
weigern. Wir kommen zu einem genau anderen Ergeb-
nis: Die feste Verankerung unseres Landes in den inter-
nationalen Bündnisstrukturen der Europäischen Union
und der NATO hat – davon bin ich fest überzeugt – die
Grundlage für das hohe Ansehen unseres Landes erst ge-
legt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801007200

Kollege Annen, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Ströbele?


Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1801007300

Das tue ich gerne.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Kollege. – Ihnen ist wahrscheinlich wie
mir bekannt, dass in den letzten Jahren im Mittelmeer
kein einziges Boot durch die Bundesmarineeinheiten,
die dort sind, aufgebracht oder kontrolliert worden ist.

Halten Sie es wirklich für richtig und entspricht es
Ihrer Überzeugung, allein deshalb einen Bundes-
wehreinsatz im Ausland weiterhin zu praktizieren und
das Bestehen des Bündnisfalls in der NATO weiterhin
anzunehmen und zu unterstützen, weil man mit den Part-
nern im Augenblick noch nicht geredet hat oder weil
man Bündnistreue beweisen muss, obwohl dieser Ein-
satz überhaupt keinen Sinn mehr macht, oder weil man
sich einfach nicht traut, aus diesem Einsatz herauszuge-
hen, obwohl man ihn selber für falsch und überflüssig
hält? Das heißt, halten Sie einen bewaffneten Bundes-
wehreinsatz im Ausland allein aus demonstrativen Grün-
den für richtig?


(Beifall des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE])



Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1801007400

Herr Kollege Ströbele, ich danke Ihnen für die Frage.

Ich glaube, dass nun eine gute Gelegenheit ist, noch ein-
mal darauf hinzuweisen – ich hätte das sonst in der Form
vielleicht gar nicht gemacht –, dass es einen Unterschied
gibt, seit die Sozialdemokratische Partei in die Bundes-
regierung eingetreten ist. Wir haben uns nämlich in der
Opposition und jetzt in der Regierungsverantwortung
mit genau dem Punkt, den Sie ja zu Recht ansprechen,
auseinandergesetzt.





Niels Annen


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte Ihre Frage schon im Hinblick auf den spe-
zifischen Fall beantworten; generell muss jeder Einsatz
detailliert und für jeden Einzelfall begründet werden. In-
sofern bin ich gar nicht bereit und nicht in der Lage, Ihre
Frage allgemein mit Ja oder Nein zu beantworten.

Wir kommen zu dem Ergebnis: Die Bündnissolidari-
tät muss in unserer Abwägung immer eine Rolle spielen,
auch insofern, als wir uns alle – ich bin mir sicher, die
Bundesregierung tut das auch – die Frage stellen müs-
sen: Was würde eine einseitige Entscheidung, so wie sie
uns die Kollegen der Linkspartei hier vorschlagen, für
unseren politischen Spielraum bedeuten?

Ich habe auch in meiner Rede eben sehr klar die Er-
wartung geäußert – ich wiederhole das gerne –, dass in
den nächsten elf Monaten etwas passiert. Insofern bin
ich mit diesem Mandat sehr zufrieden, als es in eine
Richtung geht, von der wir immer gefordert haben, dass
sie formuliert wird. Darüber hinaus ist das Ganze sehr
verantwortbar, weil wir nicht dasselbe, sondern ein ver-
ändertes Mandat beschließen. Darauf habe ich am An-
fang hingewiesen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
am Ende meiner Rede versuchen, an einen vorherigen
Gedanken anzuschließen. Ich hatte, Frau Präsidentin,
eine Zwischenfrage eher von der linken Seite erwartet;
aber das scheint sich nach der vorhergehenden Debatte
insoweit erledigt zu haben.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir kriegen ja keine Antworten!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801007500

Ich weise vorsorglich darauf hin, dass ich eine Ver-

doppelung oder gar Verdreifachung der Redezeit durch
Zwischenfragen – auch wenn das durch Koalition und
Opposition verabredet worden ist – nicht zulassen
werde. Das wurde ja vorhin schon probiert.


Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1801007600

Das war keine Verabredung. – Ich komme auch gleich

zum Schluss meiner Ausführungen.
Wir haben bereits in der vorherigen Debatte detailliert
über die Einsatzbedingungen und auch über die Lage im
Mittelmeer diskutiert. Klar wurde, dass dort weiter die
Notwendigkeit für diesen Einsatz besteht, dass wir ein
Interesse daran haben müssen, Informationen aus einer
Region zu bekommen, die großen Spannungen unter-
liegt, in der es politische und auch militärische Spannun-
gen gibt, und dass wir von dieser Region ein aktuelles
Lagebild brauchen. Das steht für mich gar nicht zur Dis-
kussion.

Ich glaube, dass es die Politik dieser Großen Koali-
tion auszeichnet, dass wir diese Debatte mit unseren
Partnern führen,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dagegen habe ich doch nichts!)


und dass es eine Erweiterung unserer politischen Spiel-
räume bedeutet, wenn wir nicht einfach Knall auf Fall
– nur weil sich eine Regierungskonstellation in Deutsch-
land verändert hat – sagen: Da machen wir nicht mehr
mit. – Wir nehmen nämlich zur Kenntnis, Kolleginnen
und Kollegen, dass es innerhalb der NATO Partner gibt,
die vielleicht zu einem anderen Bedrohungsbild und zu
einer anderen politischen Lageeinschätzung kommen als
wir.

Ich komme zum Schluss meiner Rede. Wir vertrauen
auf die Argumentationskraft und darauf, dass die Vertre-
terinnen und Vertreter der Bundesregierung diesen Im-
puls aus dem Deutschen Bundestag aufgreifen. Deswe-
gen bitte ich um Zustimmung und bedanke mich für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801007700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das

von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: ab-
gegebene Stimmen 601. Mit Ja haben 523 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 71 Kolleginnen
und Kollegen gestimmt, und es gab 7 Enthaltungen. Die
Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 600;
davon

ja: 522
nein: 71
enthalten: 7

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Stritzl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ursula Schulte
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Markus Kurth
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms

Nein

SPD

Klaus Barthel
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz (Essen)

Cansel Kiziltepe
Hilde Mattheis
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Swen Schulz (Spandau)

Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


DIE LINKE

Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(B)

Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Corinna Rüffer
Hans-Christian Ströbele
Enthalten

SPD

Marco Bülow
Dr. Daniela De Ridder
Ewald Schurer

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Dr. Julia Verlinden

(D)

Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kol-
lege Dr. Alexander Neu für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801007800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Operation Active Endeavour soll erneut
unter Verweis auf Art. 51 der UN-Charta in Verbindung
mit Art. 5 des Nordatlantikvertrags verlängert werden.
Es geht um die kollektive Selbstverteidigung, zumindest
formell. De facto aber geht es um etwas ganz anderes. In
der Begründung Ihres Antrages schreiben Sie schon im
ersten Satz:

Das Mittelmeer gehört zu den wichtigsten interkon-
tinentalen Transportkorridoren weltweit und ist für
den innereuropäischen und transatlantischen Han-
del von geostrategisch vitaler Bedeutung.

Genau darum geht es. Es geht darum, dass Sie die
Bundeswehr für das deutsche Kapital ins Mittelmeer
schicken, um dort die Interessen zu verteidigen. Das ist
der eigentliche Ansatz Ihrer Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Operation Active Endeavour läuft nun seit 2001,
das heißt seit zwölf Jahren. Seit zwölf Jahren spinnen
Sie an der Legende, es sei eine kollektive Selbstverteidi-
gung. Das ist es nicht. Es sind nämlich gewisse Kriterien
nicht erfüllt. Es gibt also Gründe, die erhebliche Zweifel
an Ihrer Behauptung aufkommen lassen. Dazu gehören
die räumliche und zeitliche Dimension eines Selbst-
verteidigungsfalls, auch von OAE.

Der Terroranschlag 2001 hat nicht im Mittelmeer
stattgefunden – das sollte Ihnen bekannt sein, sehr ge-
ehrte Damen und Herren –; er hat in New York statt-
gefunden. Die räumliche Verteidigung viele Tausend
Kilometer vom Anschlagsort entfernt ist mehr als frag-
würdig. Man stelle sich einfach einmal vor – ich mache
ein Gedankenexperiment –, es gäbe einen Terroran-
schlag in China, in Peking. Herr Arnold, ich habe das
Argument schon einmal vorgebracht.


(Rainer Arnold [SPD]: Kommen jetzt wieder Ihre Marsmännchen?)

– Die bringe ich gerne mit ein. – Man stelle sich vor,
China würde fortan eine maritime Dauerpräsenz in der
Ostsee, in der Nordsee oder im westlichen Atlantik
schaffen mit dem Argument: Wir müssen uns verteidi-
gen. – Ich wäre gespannt auf das Geschrei der hiesigen
Politik und der Medien. Es wäre ganz gewaltig.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Rainer Arnold [SPD])


– Die Marsmännchen fehlen noch, genau; darauf komme
ich gleich zurück.

Auch der zeitliche Aspekt ist mit Blick auf Art. 51 der
UN-Charta in Verbindung mit Art. 5 des Nordatlantik-
vertrags nicht tragfähig. Sollte hier jemals das Verteidi-
gungsargument gezogen haben, woran die Linke erhebli-
che Zweifel hat – denken Sie an den Hinweis, den ich
gerade gegeben habe –, so ist der Zeitraum von zwölf
Jahren wirklich nicht mehr vertretbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Fazit, welches es zu ziehen gilt, ist: Der Selbst-
verteidigungsfall war im Mittelmeer nie gegeben. Er ist,
wie man es auch drehen und wenden mag, auch unter
zeitlichem Aspekt nicht gegeben gewesen. Es hat im
Mittelmeer – darauf wurde vom Kollegen Ströbele ge-
rade zu Recht hingewiesen – niemals eine konkrete
Bedrohung Europas und der USA gegeben. Das ist der
eigentliche Punkt. Die präventive Selbstverteidigung ge-
gen eine abstrakte Bedrohung – das ist der Begriff, den
Sie verwenden – ist völkerrechtswidrig und irgendwie
auch lächerlich, wäre sie nicht friedensgefährdend.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber die Lächerlichkeit haben auch Sie irgendwann
erkannt, selbst in den Reihen der CDU/CSU. Nun verste-
cken Sie sich hinter dem Argument der Bündnis-
verpflichtung und der Bündniszuverlässigkeit.

Zum Thema Bündnisverpflichtung nur so viel: Sie
greift nicht. Art. 5 des Nordatlantikvertrages ist so for-
muliert, dass die Beteiligungsform relativ offen ist. Es
reicht auch ein Beileidsschreiben, so wurde mir von mei-
nem Prof an der Uni erzählt. Ich habe es nachgeprüft;
das reicht tatsächlich aus.

Zur Bündniszuverlässigkeit. Das ist nichts anderes als
eine irrationale Nibelungentreue auf Kosten der Solda-





Dr. Alexander S. Neu


(A) (C)



(D)(B)

tinnen und Soldaten, ihrer Familien und der Steuerzah-
ler. Sie zahlen dafür, dass Sie den USA gegenüber auch
im Mittelmeer Nibelungentreue demonstrieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir, die Linke, fordern deshalb die sofortige Aufhe-
bung des Bündnisfalls und die Beendigung zumindest
der deutschen Beteiligung an der Operation Active
Endeavour. Sollten gewisse NATO-Partner nicht mitzie-
hen, was wohl der Fall sein wird, ist eine einseitige Auf-
kündigung des Konsenses in unseren Augen zwingend
erforderlich. Die Konsensaufkündigung ist das souve-
räne Recht eines Landes, insbesondere dann, wenn die
Auflösung des Konsenses im Nordatlantikvertrag noch
nicht einmal fixiert ist. Von daher ist die Rückfalllinie,
dass ein souveräner Staat von einem Abkommen zurück-
treten kann.

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Bun-
desregierung, nutzen Sie die Souveränität, um endlich
eine verantwortungsvolle Außenpolitik einzuleiten!


(Beifall bei der LINKEN)


Die Gegenargumente, die ich heute gehört habe, vor al-
lem von der SPD, zeigen nur eines: Unsere Forderung
nach Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO
ist richtig. Noch eines müssen wir, glaube ich, feststel-
len: Schwarmintelligenz, vor allem auch die der NATO,
ist nicht immer intelligent – siehe den kollektiven Selbst-
mord von Lemmingen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801007900

Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das

war die erste Rede des Kollegen Dr. Neu.


(Beifall)


Jetzt rufe ich den nächsten Redner auf. Das ist der
Kollege Peter Beyer. Sie haben das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1801008000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Operation Active Endeavour ist ein Paradebeispiel für
eine erfolgreiche Zusammenarbeit der NATO-Bündnis-
partner, und Bündnistreue – das geht insbesondere an die
Adresse des Vorredners von der Linksfraktion – ist für
uns ein wichtiger Faktor. Nach den Anschlägen vom
11. September 2001 rief die NATO erstmals den Bünd-
nisfall nach Art. 5 aus. Einer der daraus resultierenden
Bundeswehreinsätze ist die Operation Active Endea-
vour. Seither debattiert der Deutsche Bundestag jedes
Jahr über die Verlängerung dieses Mandats. Das machen
wir heute auch in dieser Debatte.

Die Opposition verweist unter anderem auf die – das
haben wir vorhin gehört – umstrittene völkerrechtliche
Grundlage oder auf die veränderte Bedrohungslage im
Mittelmeerraum. Ein Kollege der Fraktion Die Linke
hatte in der Debatte zu dem Antrag der Bundesregierung
am 16. Januar dieses Jahres gesagt – ich zitiere –: „Es
gibt im Mittelmeer keine Bedrohung für Europa.“ Meine
sehr geehrten Damen und Herren, wer das glaubt, ist
blauäugig. Wahr ist, die Bedrohungslage hat sich in den
letzten 13 Jahren verändert. Die Bedrohungslage ist, wie
es in dem Antrag der Bundesregierung heißt, abstrakt.
Die Bedrohung durch maritimen Terrorismus wird in-
zwischen als gering eingeschätzt. Das liegt nicht zuletzt
an der Operation Active Endeavour, die eine abschre-
ckende und eine präventive Wirkung entfaltet hat. An
dieser Stelle möchte ich ausdrücklich allen Soldatinnen
und Soldaten in der Verwendung bei der Operation
Active Endeavour für ihren Einsatz danken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Sicherheitslage bleibt jedoch aufgrund der politi-
schen Umwälzungen im gesamten arabischen Raum
durchaus fragil. Piraterie, Verbreitung von Massenver-
nichtungswaffen, organisierte Kriminalität und daraus
resultierende Sicherheitsrisiken bestehen weiterhin. Mit
einem präventiven und netzwerkbasierten Ansatz und ei-
nem Schwerpunkt auf Informationsgewinnung kann und
muss die Operation Active Endeavour auch in Zukunft
einen wichtigen Beitrag zur maritimen Sicherheit im
Mittelmeerraum leisten. Daran hat nicht zuletzt unser
Land ein strategisches Interesse; denn auch die deutsche
Wirtschaft ist auf sichere Seewege angewiesen. Für den
innereuropäischen und den transatlantischen Handel ge-
hört das Mittelmeer zu den wichtigsten Transitrouten.
Der Suezkanal ist die meistbefahrene Seestraße der Welt.
Gerade Deutschland als Exportnation profitiert von ei-
nem sicheren Mittelmeer am allermeisten. Daher hat
Deutschland ein großes Interesse an einem lückenlosen
Lagebild vom Mittelmeer, um potenzielle Risiken
schneller zu erkennen. Genau das leisten die Soldatinnen
und Soldaten bei der OAE.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Übrigen wäre ein Ende der deutschen Beteiligung
an der OAE kein gutes Signal an unsere Bündnispartner.
Deutschland ist ein verlässlicher internationaler Partner.
Das müssen wir zeigen, indem wir weiterhin einen ver-
lässlichen Beitrag leisten. Mir ist durchaus bekannt, dass
dies nicht nur auf Zustimmung stößt, wie wir ja auch
heute in der Debatte erfahren konnten. Deutschlands
sicherheitspolitische Zurückhaltung in den letzten Jahren
hat bei unseren Partnern nicht nur für Irritationen ge-
sorgt, sondern zuweilen auch dazu geführt, dass unsere
Verlässlichkeit infrage gestellt wurde. Deutschland muss
weiterhin und – meiner Überzeugung nach – auch ver-
stärkt eine wichtige Rolle in der Welt spielen. Deutsch-
land ist willens, fähig und in der Lage, sich insbesondere
mit unseren Freunden auf der anderen Seite des Atlan-
tiks, den Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsam
globalen Herausforderungen zu stellen.

Die Weiterentwicklung und Anpassung des Mandats
an die Einsatzrealität ist ein richtiger und wichtiger
Schritt. Der deutsche Beitrag wird sich künftig mit einer
maximalen Obergrenze von 500 Soldatinnen und Solda-
ten auf die Beteiligung an den ständigen maritimen Ver-





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)

bänden der NATO und an den Aufklärungs- und Früh-
warnflugzeugen der NATO, AWACS, sowie auf den
Austausch von Lagedaten beschränken. Die OAE kon-
zentriert sich inzwischen ohnehin auf die Seeraumüber-
wachung und den Lagebildaustausch. Damit kommt ihr
eine wichtige und nicht zu unterschätzende Frühwarn-
funktion zu.

Deutschland setzt sich kontinuierlich dafür ein, die
Einsatzgrundlagen der Operation auch konzeptionell der
tatsächlichen Einsatzrealität anzupassen. Auf deutsche
Initiative hin hat die NATO im April des vergangenen
Jahres 2013 eine Option eröffnet, OAE perspektivisch in
eine nicht durch Art. 5 gestützte Operation zu überfüh-
ren. Die aktuelle Verlängerung des Mandats unter den
geänderten Bedingungen stellt damit eine Übergangslö-
sung dar. Sie ist ein wichtiger Schritt in dem Prozess zur
Weiterentwicklung der Operation Active Endeavour.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Ich werbe um Zustimmung zum Antrag der Bundes-
regierung für das Mandat OAE.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801008100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht

der Kollege Tobias Lindner.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in
diesem Hohen Haus über Auslandseinsätze der Bundes-
wehr sprechen, dann kommt uns an zwei Stellen eine be-
sondere Verantwortung zu. Ich bin daher froh, dass wir
heute überhaupt über dieses Mandat diskutieren.

Die erste Verantwortung, die uns zukommt, ist, sich
im Zweifel für den Parlamentsvorbehalt zu entscheiden.
Noch im Dezember wollte uns der damals geschäftsfüh-
rende Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière
erklären, dass OAE nicht zustimmungspflichtig sei. Ich
bin daher froh, dass sich die Argumente auch unserer
Fraktion durchgesetzt haben und wir in diesem Hause
über dieses Mandat abstimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wäre nämlich geradezu absurd, ein Mandat nicht für
zustimmungspflichtig zu erachten, das mit Art. 5 des
NATO-Vertrages begründet wird. Art. 5 des NATO-
Vertrags ist ein hohes Gut. Er besagt, dass es die Unter-
zeichnerstaaten als einen Angriff auf ihr Land betrach-
ten, wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird. Wenn wir
Angriffe auf andere Mitgliedstaaten als Angriffe auf un-
ser Land empfinden, dann kann ich nicht verstehen, wie
man auf die Idee kommen kann, ein Mandat, das mit
Art. 5 des NATO-Vertrags begründet wird, sei nicht zu-
stimmungspflichtig.

Die zweite Verantwortung, die uns zukommt, wenn
wir über Auslandseinsätze reden, ist, uns Folgendes zu
fragen: Ist erstens das Mandat richtig begründet? Liegt
uns zweitens eine für uns nachvollziehbare und glaub-
würdige Schilderung der Situation vor? Sind drittens die
Mittel, zu denen wir die Bundeswehr ermächtigen, ge-
eignet, um mit dieser Situation umzugehen? Lieber Niels
Annen, hier muss man sagen: Ja, das Mandat ist
verändert worden. Aus Sicht meiner Fraktion ist dieses
veränderte Mandat, das uns heute vorliegt, aber in sich
widersprüchlich. Damit wir uns richtig verstehen: Wir
reden hier über Art. 5. Ich persönlich fand es richtig,
nach den Anschlägen des 11. September den Bündnisfall
auszurufen. Diese Anschläge waren ein menschenver-
achtender Akt des Terrorismus. Es war ein Angriff, und
es bestand eine konkrete Bedrohung der Vereinigten
Staaten. Aber genauso wichtig, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist es, dass dies nach zwölf Jahren nicht mehr
als Begründung für eine, wie Sie selber im Antrag
schreiben, abstrakte Bedrohungssituation im Mittelmeer
dient. Allein das ist ein Grund, warum meine Fraktion
diesem Mandat heute nicht zustimmen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Der andere Punkt ist: Wenn wir uns anschauen, zu
welchen Mitteln bei einer solch abstrakten Bedrohungs-
situation gegriffen wird – wir haben es hier gehört: See-
raumüberwachung, Fernmeldeaufklärung, Patrouillie-
ren –, dann stellen wir fest, dass es in vielen Teilen
dieses Mandats um Elemente geht, wie sie in routinemä-
ßigen Missionen der NATO vorkommen. Das heißt, die
Bundesregierung hat es nicht nur versäumt, sich dafür
einzusetzen, dass der Bündnisfall endlich beendet wird,
sondern auch nicht dafür gesorgt, das Mandat so weit zu-
rückzuführen, dass es einer Routinemission entspricht.
So ist dieser Antrag ein widersprüchliches Wischiwa-
schi.

Ich komme zum Ende. Sie legen uns hier ein verän-
dertes, aber nach wie vor mit Art. 5 begründetes Mandat
vor. Wenn Sie es schon nicht geschafft haben, sich inner-
halb der NATO dafür einzusetzen, dass der Bündnisfall
beendet ist, dann wäre es Ihre Aufgabe gewesen, sich da-
für einzusetzen, dass sich Deutschland an dieser Mis-
sion, ähnlich wie in Libyen, nicht beteiligt. Wir erkennen
nach wie vor nicht den Sinn. Deswegen werden wir, wie
in den Vorjahren auch, heute diesem Mandat nicht zu-
stimmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801008200

Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Julia Bartz.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1801008300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Herr Dr. Neu, es freut mich, dass Sie sich
bei Ihrer ersten Rede zumindest mit einer Unterstellung
zurückgehalten haben. Bei vergangenen Debatten zur
Operation Active Endeavour haben die Linken zum wie-





Julia Bartz


(A) (C)



(D)(B)

derholten Male unseren Soldatinnen und Soldaten unter-
stellt, Sie würden im Mittelmeer Flüchtlinge jagen. Zur
Erinnerung: Kollegin Dağdelen behauptete am 28. No-
vember 2013, dass – ich zitiere – „NATO-Schiffe im
Mittelmeer zur Flüchtlingsjagd, zur Hetze gegen Flücht-
linge … eingesetzt werden sollen“. Kollege Liebich wie-
derholte diesen Vorwurf am 16. Januar 2014 und sprach
von einer Abwehr der Flüchtlinge durch die Hintertür.
Ihre Unterstellungen weise ich entschieden zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass Ihnen Auslandseinsätze der Bundeswehr gegen den
Strich gehen, haben wir ja verstanden. Aber eine Diffa-
mierung unserer Soldatinnen und Soldaten lasse ich in
diesem Hohen Hause nicht zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Unsere Soldatinnen und Soldaten erfüllen einen wich-
tigen Auftrag für unser Land. Sie tun dies in unterschied-
lichen Teilen der Erde. Unsere Soldatinnen und Soldaten
schützen am Horn von Afrika Handelsschiffe vor Pirate-
rie. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die im Ko-
sovo für Stabilität sorgen. Sie sind es, die an der Grenze
zu Syrien die Sicherheit der Türkei gewährleisten, und
unsere Soldatinnen und Soldaten sind es, die bei der
Hochwasserkatastrophe im Juni 2013 mit 18 000 Frauen
und Männern an Elbe, Inn, Saale und anderen Flüssen
den Opfern der Hochwasserkatastrophe geholfen haben.
Ihnen gebühren unser Dank und unsere Anerkennung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute beschließen wir den Antrag der Bundesregie-
rung zur Fortsetzung der Operation Active Endeavour
im Mittelmeer.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Woher wissen Sie das? Vielleicht wird er auch abgelehnt!)


Die Fortsetzung der Operation ist notwendig, weil sich
erstens die instabile Lage im Nahen und Mittleren Osten
sowie in Nordafrika zuspitzt. Die gesamte Region ist ein
Pulverfass, neben dem das Feuer in Syrien brennt. Nord-
afrika entwickelt sich mehr und mehr zu einer Bastion
für terroristische Zellen. Menschen-, Drogen- und Waf-
fenhandel sind dort an der Tagesordnung. Hier schlum-
mert eine große Gefahr für viele Staaten Afrikas und Eu-
ropas.

Zweitens. Die Operation Active Endeavour ist wich-
tig, weil das Mittelmeer eine der bedeutendsten Handels-
routen für Deutschland ist. 220 000 Handelsschiffe, ein
Drittel aller über See verschifften Waren und ein Viertel
aller Öltransporte durchqueren jährlich das Mittelmeer.
Deshalb brauchen wir ein aktuelles Lagebild der Region.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801008400

Frau Bartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen Omid Nouripour?

Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1801008500

Nein, ich möchte meine Rede zu Ende führen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Aufgabe der Erstellung eines aktuellen Lagebil-
des der Region können wir nur im Bündnis erfüllen.
Hierbei müssen wir unserer Rolle in der NATO gerecht
werden. Unsere Beteiligung an OAE macht deutlich:
Deutschland ist ein verlässlicher Partner; wir stehen zu
unserer Verantwortung.

Ich fasse zusammen: Die Instabilität im Nahen und
Mittleren Osten sowie in Nordafrika, die Absicherung
einer der wichtigsten Handelsrouten und unsere Bünd-
nissolidarität sprechen für die Fortsetzung der Operation
Active Endeavour. Es liegt im Interesse Deutschlands,
dass die NATO im Mittelmeerraum präsent ist. Wir müs-
sen die Lage auf dem Schirm haben. OAE liefert uns
dieses dichte Lagebild dank fliegender und maritimer
Aufklärung. Durch unsere Präsenz im Mittelmeerraum
hat sich OAE zu einem präventiven Ordnungsfaktor ent-
wickelt. Zudem hat sich OAE zu einer Kooperations-
plattform entwickelt, an der auch viele Mittelmeeranrai-
ner mitwirken. Die Ziele der Operation haben sich
zunehmend hin zur Seeraumüberwachung, Aufklärung
und Lagebilderstellung in und über See gewandelt. Der
Antrag der Bundesregierung wird diesen neuen Anforde-
rungen gerecht und bereitet gleichzeitig den Weg für
eine Neukonzipierung und Weiterentwicklung des Man-
dats.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unser gemeinsames Ziel ist es, OAE in eine nicht auf
Art. 5 des NATO-Vertrags gestützte Operation zu über-
führen. Wir unterstützen deshalb seitens der CDU/CSU-
Fraktion den Antrag der Bundesregierung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801008600

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt erhält der Kol-

lege Liebich das Wort zu einer Kurzintervention.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801008700

Sehr geehrte Kollegin Bartz, Sie hatten mich direkt

angesprochen. Sie haben zitiert, was ich in meiner letz-
ten Rede gesagt habe, und dann geäußert, Sie würden
dies nicht zulassen. Sie haben hier im Deutschen Bun-
destag zwar eine 80-Prozent-Mehrheit, aber das Recht,
unsere Meinung zu vertreten, auch wenn das nicht Ihre
Meinung ist, werden wir uns nicht nehmen lassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte ein Zweites hinzufügen. Sie haben eben
das Argument vorgebracht, dass es im Mittelmeer wich-
tige Handelsrouten gibt und diese geschützt werden
müssen. Das ist nun ausdrücklich nicht Bestandteil des
Mandats, über das wir hier reden, und zwar aus gutem
Grund; denn unsere Bundeswehr hat nicht die Aufgabe
– das ist Gott sei Dank auch im Grundgesetz nicht vor-





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

gesehen –, Handelsrouten für den privaten Schiffsver-
kehr freizuhalten.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801008800

Frau Kollegin Bartz erhält das Wort zur Erwiderung.


Julia Bartz (CSU):
Rede ID: ID1801008900

Herr Kollege Liebich, natürlich kann ich weder Ihnen

noch jemand anderem das Wort verbieten. Aber gestehen
Sie mir bitte zu, dass ich Ihnen deutlich widerspreche.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie gesagt: Ein Ziel der Operation Active Endeavour ist
die Entwicklung eines präventiven Ordnungsfaktors, ist
die Stabilisierung der Region, und das wird damit erfüllt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009000

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active
Endeavour im gesamten Mittelmeer.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/348, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 18/263 anzunehmen. Wir stim-
men über die Beschlussempfehlung namentlich ab.

Ich mache darauf aufmerksam, dass im Anschluss an
diese Abstimmung vier Wahlen mit Stimmkarte und
Wahlausweis stattfinden werden. Ich bitte die Kollegin-
nen und Kollegen, sich die Unterlagen für diese Wahlen
zu holen, falls dies noch nicht geschehen ist.

Zunächst möchte ich jedoch die Schriftführerinnen
und Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Ich er-
öffne hiermit die zweite namentliche Abstimmung.

Ist ein Mitglied dieses Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der
Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)

Ich bitte Sie, Ihre Plätze wieder einzunehmen. – Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich habe diese große Glocke
noch nicht zum Einsatz gebracht. Wenn es notwendig ist,
mache ich das gleich. Das soll aber ohrenbetäubend laut
sein. Deshalb bitte ich Sie, einfach Ihre Plätze einzuneh-
men, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Das gilt für die Kollegen, die hier vorne stehen und mit-
einander sprechen, und auch für diejenigen, die im Hin-
tergrund stehen und miteinander sprechen. – Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, noch einmal die Bitte an Sie:
Nehmen Sie die Plätze ein. Die Gespräche können Sie
anschließend fortsetzen.

1) Ergebnis Seite 628 C
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:

a) – Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Einsetzung des Vertrauensgremiums ge-
mäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushalts-
ordnung

Drucksache 18/358

– Wahl der Mitglieder des Vertrauensgremi-
ums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundes-
haushaltsordnung

Drucksache 18/359

b) – Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des
Bundesschuldenwesengesetzes

Drucksache 18/360

– Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß
§ 3 des Bundesschuldenwesengesetzes

Drucksache 18/361

c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für
die vom Deutschen Bundestag zu berufenden
Richter des Bundesverfassungsgerichts ge-
mäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsge-
richtsgesetzes

Drucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365

(neu)


d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die
Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe
des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgeset-
zes (Richterwahlausschuss)


Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369

Zunächst bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für Hin-
weise, die für alle vier Wahlen gelten. Ich werde diese
Hinweise nicht jedes Mal wiederholen. Deshalb bitte ich
Sie jetzt um Aufmerksamkeit.

Sie benötigen Ihre Wahlausweise in den Farben Gelb,
Weiß, Grün und Grau, die Sie, soweit noch nicht gesche-
hen, bitte Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entneh-
men. Ich gehe aber davon aus, dass Sie Ihre Wahlaus-
weise inzwischen haben. Bitte achten Sie darauf, dass
Ihre Wahlausweise auch tatsächlich Ihren Namen tragen.
Dieser Hinweis ist nicht überflüssig. Es geschieht leider
immer wieder, dass mancher in das falsche Fach greift.
Also bitte überprüfen Sie das. Der Nachweis für die Teil-
nahme an den Wahlen kann nämlich nur durch Abgabe
des Wahlausweises, der Ihren Namen trägt, erbracht
werden. Den Wahlausweis übergeben Sie bitte einem der
Schriftführer an den Wahlurnen, bevor Sie bei dem je-
weiligen Wahlgang Ihre Stimmkarte in eine der Wahlur-
nen werfen.

Die Wahlen finden offen statt. Die Stimmkarten kön-
nen also an Ihrem Platz angekreuzt werden. Die Wahlen





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(B)

werden einzeln aufgerufen. Die gelbe Stimmkarte für die
erste Wahl, die Wahl zum Vertrauensgremium, ist bereits
verteilt worden. Die Stimmkarten für die drei folgenden
Wahlen werden später unmittelbar vor jeder Wahl im
Saal ausgehändigt. Kreuzen Sie Ihre Stimmkarte bitte
erst an, wenn ich die jeweilige Wahl eröffnet habe.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 a, zur Wahl
des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der Bun-
deshaushaltsordnung. Bevor wir die Mitglieder wählen,
rufe ich den gemeinsamen Antrag der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/358 zur Einsetzung des Gremiums und
zur Festlegung der Anzahl der Mitglieder auf. Wer
stimmt für diesen interfraktionellen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der An-
trag einstimmig angenommen worden. Damit ist das
Vertrauensgremium eingesetzt und die Mitgliederzahl
auf neun festgelegt.

Bevor wir zur Wahl der Mitglieder des Vertrauensgre-
miums kommen, gebe ich noch weitere Hinweise. Diese
gelten auch für die im Anschluss folgende Wahl zum
Gremium nach dem Bundesschuldenwesengesetz. Ge-
wählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder
des Bundestages auf sich vereint, das heißt, wer mindes-
tens 316 Stimmen erhält. Auf den beiden Stimmkarten
sind die Namen der vorgeschlagenen Kandidaten aufge-
führt. Sie können zu jedem Kandidatenvorschlag „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“ ankreuzen. Wenn Sie bei
einem Namen mehr als ein Kreuz oder gar kein Kreuz
machen oder andere Namen als die der vorgeschlagenen
Kandidaten oder Zusätze eintragen, ist diese Stimme un-
gültig.

Für die nun folgende Wahl brauchen Sie die gelbe
Stimmkarte und den gelben Wahlausweis, und Sie haben
neun Stimmen.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? – Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich kann die Wahl nicht eröffnen, solange die Urnen
noch nicht besetzt sind. – Ich frage jetzt noch einmal:
Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall.
Dann ist damit die Wahl eröffnet.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich damit den Wahlgang und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.

Bevor ich den nächsten Wahlgang aufrufe, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, möchte ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung über die Fortset-
zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an der NATO-geführten Operation Active Endeavour
mitteilen: Abgegeben wurden 602 Stimmen. Mit Ja ha-
ben gestimmt 467, mit Nein haben gestimmt 129, und
6 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten.

(D)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 602;
davon

ja: 467
nein: 129
enthalten: 6

Ja

CDU/CSU

Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Peter Altmaier
Artur Auernhammer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Julia Bartz
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Andre Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Reinhard Grindel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich (Chemnitz)

Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Peter Hintze
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Erich Irlstorfer
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Xaver Jung





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Silke Launert
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Dr. Andreas Lenz
Philipp Graf Lerchenfeld
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Elisabeth Motschmann
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt (Fürth)

Gabriele Schmidt (Ühlingen)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Ole Schröder
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Erika Steinbach
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Stritzl
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Albert Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)

Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese (Ehingen)

Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner

SPD

Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Hans-Peter Bartels
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Dr. Karamba Diaby
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier-Heite
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Karin Evers-Meyer
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Uli Grötsch
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Dirk Heidenblut
Hubertus Heil (Peine)

Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Matthias Ilgen
Christina Jantz
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Christina Kampmann
Gabriele Katzmarek





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Katja Mast
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
Bettina Müller
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir (Duisburg)

Aydan Özoğuz
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post (Minden)

Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim

Schabedoth
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder

(Schwandorf)


Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt (Aachen)

Matthias Schmidt (Berlin)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ursula Schulte
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

Nein

SPD

Klaus Barthel
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Petra Hinz (Essen)

Ralf Kapschack
Gerold Reichenbach
Swen Schulz (Spandau)

Rüdiger Veit
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


DIE LINKE

Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Richard Pitterle
Martina Renner
Michael Schlecht
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
Pia Zimmermann
Sabine Zimmermann


(Zwickau)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Luise Amtsberg
Kerstin Andreae
Annalena Baerbock
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Dieter Janecek
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)

Christian Kühn (Tübingen)

Renate Künast
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Peter Meiwald
Irene Mihalic
Beate Müller-Gemmeke
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Dr. Valerie Wilms

Enthalten

SPD

Willi Brase
Dr. Daniela De Ridder
Gabriele Hiller-Ohm
René Röspel
Ewald Schurer
Frank Schwabe





Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)

Ich komme damit zum nächsten Tagesordnungspunkt,
dem Tagesordnungspunkt 4 b: Einsetzung eines Gre-
miums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes,
also des Bundesfinanzierungsgremiums.

Wir kommen auch hier zunächst zum gemeinsamen
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen auf Einsetzung dieses Gre-
miums und Festlegung der Anzahl der Mitglieder,
Drucksache 18/360. Wer stimmt für diesen interfraktio-
nellen Antrag zur Einsetzung des Bundesfinanzierungs-
gremiums? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen. Damit
ist das Gremium gemäß § 3 des Bundesschuldenwesen-
gesetzes eingesetzt und die Zahl der Mitglieder auf zehn
festgelegt.

Für die Wahl der Mitglieder benötigen Sie nun die
weiße Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Die
weißen Stimmkarten werden jetzt im Sitzungssaal ver-
teilt. Sie haben zehn Stimmen und können wiederum zu
jedem Kandidatenvorschlag „Ja“, „Nein“ oder „Enthalte
mich“ ankreuzen. Für diese Stimmkarten gilt das Glei-
che, was ich vorhin ausgeführt habe; deswegen verzichte
ich auf die Wiederholung. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. – Das ist auch der Fall, soweit ich das sehe.

Damit eröffne ich die zweite Wahl, Farbe Weiß, Bun-
desfinanzierungsgremium.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde Ihnen für
den nächsten Wahlgang genau sagen, wo diejenigen ste-
hen, die die Stimmzettel verteilen, damit das nicht noch
einmal so chaotisch wird wie jetzt.

Ich warte jetzt so lange, bis alle einen Stimmzettel ha-
ben, und bitte noch einmal diejenigen, die die Stimmzet-
tel verteilen, ihren Arm hochzuheben, damit die Kolle-
ginnen und Kollegen das wirklich sehen können. – Ich
bitte Sie, die graue und die grüne Stimmkarte noch nicht
auszufüllen. Bei der grauen Stimmkarte haben Sie zum
Beispiel nur eine Stimme. Ich bitte Sie also noch um ei-
nen Moment Geduld.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das die weiße
Stimmkarte und den weißen Wahlausweis noch nicht ab-
gegeben hat? Sie müssten sich dann sofort melden, da
ich ansonsten den Wahlgang schließe. – Ich schließe
hiermit den Wahlgang.

Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 4 c.

Dazu liegen Ihnen auf den Drucksachen 18/362 bis
18/365 (neu) Listen mit Wahlvorschlägen der einzelnen
Fraktionen vor.

Für diese Wahl benötigen Sie die grüne Stimmkarte
und Ihren grünen Wahlausweis.

Die grünen Stimmkarten werden jetzt im Saal verteilt.

Ich möchte Sie gleich darauf aufmerksam machen,
dass Sie auf dieser Stimmkarte nur einen Vorschlag an-
kreuzen dürfen. Demzufolge sind Stimmkarten ungültig,
die mehr als ein Kreuz tragen oder Zusätze enthalten.
Wer sich der Stimme enthalten will, macht bitte keinen
Eintrag.
Jetzt ein Hinweis, wo Sie die Karten erhalten: Sie er-
halten die Karten vorne rechts und links an den beiden
Säulen, direkt vorne an den Wahlurnen und hinten bei
den beiden Säulen. Das müsste jetzt klappen.

Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze bereits eingenommen. Ich eröffne den Wahlgang.

Gibt es einen Kollegen, der noch keine Stimmkarte
abgegeben hat? –

Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich damit den
Wahlgang.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 d: Wahl der
Mitglieder des Richterwahlausschusses. Dazu liegen Ih-
nen auf den Drucksache 18/366 bis 18/368 Listen mit
Wahlvorschlägen der einzelnen Fraktionen vor.

Sie benötigen nun die graue Stimmkarte und Ihren
grauen Wahlausweis. Die grauen Stimmkarten werden
ebenfalls im Saal verteilt.

Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben ihre
Plätze an den Urnen eingenommen. Ich eröffne den
Wahlgang.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mit-
glied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht ab-
gegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich
den Wahlgang.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit haben wir
diese Übung absolviert. Ich bitte um Entschuldigung,
aber wir werden uns im Präsidium für das nächste Mal
ein anderes Verfahren überlegen müssen.


(Beifall)


Ich hoffe, dass es jetzt trotzdem noch einigermaßen ge-
klappt hat. Aber ich denke, dass wir die Übung in dieser
Form nicht wiederholen sollten.

Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später be-
kannt gegeben.1)

Wir fahren mit Tagesordnungspunkt 1 fort:

Regierungserklärung durch die Bundeskanz-
lerin

(Fortsetzung der Aussprache)


Wir kommen zum Themenbereich Verteidigung. Für
die Aussprache sind 60 Minuten vereinbart worden.

Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Ursula
von der Leyen. Frau Ministerin, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin der
Verteidigung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erlauben Sie mir, zunächst einmal auf der Tribüne Fall-
schirmjäger des Bataillons 263 aus Zweibrücken ganz
herzlich zu begrüßen. Ich freue mich, dass Sie heute die-
ser Debatte beiwohnen können.

1) Ergebnisse Seiten 659 C, D, 660 A





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Jahr 2014 ist ein wichtiges Jahr für die deutsche
Sicherheitspolitik, für Europa und die Nordatlantische
Allianz, und zwar aus vielerlei Gründen. Ich möchte zu
einigen Stellung nehmen.

Zunächst einmal: In welchem Rahmen bewegen wir
uns? Die NATO erreicht die Mitte der Dekade, die durch
ihr strategisches Konzept von Lissabon 2010 bestimmt
ist. Wir werden auf dem NATO-Gipfel im September
entscheiden, wie die zweite Hälfte unter sich verändern-
den Bedingungen gestaltet werden soll; das wird ein
spannender Prozess werden. Zugleich haben wir erlebt,
dass der Europäische Rat der Staats- und Regierungs-
chefs im Dezember 2013 zum ersten Mal seit Jahren die
Stärkung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik – ich betone: Gemeinsamen – auf den Weg
gebracht hat. Sie hat sich ein sehr anspruchsvolles Pro-
gramm für die Verbesserung der zivilen und militäri-
schen Fähigkeiten der Europäer gegeben.

Das alles spielt sich vor dem Hintergrund ab, dass in
Afghanistan die Allianz und ihre Partner den größten,
den längsten und den anspruchsvollsten Kampfeinsatz in
der Geschichte der NATO beenden. Bei aller Pein, die
das mit sich gebracht hat, hat uns Afghanistan viel ge-
lehrt. Der Kampfeinsatz war anfangs notwendig zur
Bekämpfung des Terrorismus. Aber gerade als Verteidi-
gungsministerin kann ich nur immer wieder betonen,
wie wichtig der vernetzte Ansatz ist, bei dem militäri-
sche Sicherheit, entwicklungspolitische Hilfe, diplomati-
sche Verhandlung und wirtschaftlicher Aufbau Hand in
Hand gehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen, dass dieses Land für seine Sicherheit und
Stabilität bald selber sorgen kann. Dazu setzen wir be-
reits jetzt alle Kraft für die Ausbildung einer afghani-
schen Armee und Polizei ein. Wir haben den Flughafen
in Masar-i-Scharif den Afghanen übergeben. Wir haben
im vergangenen Sommer ein Generalkonsulat in Masar-i-
Scharif eröffnet. Das ist ein starkes Zeichen dafür, wie
wichtig uns Afghanistan ist. Aber wir müssen auch will-
kommen sein. Die kommenden Monate sind entschei-
dend, ob es gelingt, dass Karzai oder ein Nachfolger das
bilaterale Sicherheitsabkommen mit den USA unter-
schreibt. Das ist Grundbedingung dafür, dass wir die für
uns so wichtige Folgemission der Ausbildung und der
Unterstützung auf den Weg bringen können. Heute Nacht
hat Obama in seiner State of the Union noch einmal be-
kräftigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auf
diesem Sicherheitsabkommen zu Recht bestehen, aber
dass sie dann bereit sind, diese Resolute Support Mis-
sion zu unterstützen.

Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht
hätte, dass in Afghanistan die Vorarbeit für diese Mis-
sion früher begonnen hätte, dass die Folgemission also
jetzt schon gesichert wäre. Die Zeit drängt, und umso
wichtiger ist es, dass wir in der verbleibenden Zeit alles
daransetzen, dass Schutz, Training und Ausbildung, also
RSM, möglich werden.

Afghanistan hat aber auch zum allerersten Mal ge-
zeigt, wie sehr die Europäer in der NATO darauf ange-
wiesen sind, sich untereinander abzustimmen. Im Nor-
den tragen wir die Hauptverantwortung; wir sind die
Rahmennation für 16 weitere Nationen. Im Ergebnis
zeigt sich ein geschlossener, kohärenter Einsatz, breit
angelegt und durchhaltefähig. Wir haben im Einsatz ge-
lernt: Keiner kann mehr alles allein vorhalten. Nur ge-
meinsam können wir Verantwortung in Europa überneh-
men.

Hinzu kommt, dass die globale Finanzkrise, insbeson-
dere die Euro-Krise, tiefe Spuren hinterlassen hat. Die
neue europäische Wirtschafts- und Währungsunion
nimmt feste Formen an; aber alle hier im Raum wissen,
dass unsere nationalen Budgets unter einem enormen
Konsolidierungsdruck stehen. Das ist so. In der Folge
werden Verteidigungsbudgets gekürzt, ob es gefällt oder
nicht. Wir müssen aber vermeiden, dass unabgestimmt
in vielen Mitgliedstaaten gekürzt wird, was zur Folge
haben kann, dass viele Lücken gerissen werden und wir
den Verlust von gemeinsamen Fähigkeiten noch erhö-
hen. Ich bin der Überzeugung, dass wir trotz der schwie-
rigen Lage als Europäer intelligenter zusammenarbeiten
können, und das sollten wir auch tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen mehr Kooperation, wir brauchen mehr
Transparenz, wir brauchen mehr Abstimmung, und das
heißt mehr Vertrauen. Das sind die Gebote der Stunde.
Sie kennen die Schlagworte: Smart Defense und Pooling
and Sharing. Wir müssen auch nach dem ISAF-Einsatz
das hohe Niveau der Zusammenarbeit, das, was wir im
Norden gelernt haben – ich habe es eben geschildert –,
unter anderem durch anspruchsvolle Übungsprogramme
in den nächsten Jahren wahren. Da ist die Connected
Forces Initiative der NATO ein richtiger und wichtiger
Schritt in die Zukunft. Dieses Signal sollten wir verstär-
ken.

Deutschland übernimmt Verantwortung im Bündnis.
Das brauche ich hier eigentlich nicht zu wiederholen.
Alle wissen, dass wir der zweitgrößte Beitragszahler
sind und dass wir bei den beiden größten NATO-Missio-
nen in Afghanistan und im Kosovo einer der zentralen
Truppensteller sind. Nun werden wir zusehends mit ei-
ner Vielzahl von Krisenherden in Afrika konfrontiert.
Diese haben sehr schnell auch Auswirkungen auf
Europa. Keiner von uns hat die Bilder von Lampedusa
vergessen. Wir sind daher auch hier zum Handeln ver-
pflichtet. Das beginnt mit der Bekämpfung der Piraterie
am Horn von Afrika und geht bis hin zu Einsätzen in
Mali und Zentralafrika. Wir wollen den in 2013 begon-
nenen Einsatz in Mali zusammen mit unseren europäi-
schen, aber auch mit unseren afrikanischen Partnern zu
einem Erfolg bringen. Wir überprüfen daher die Ergän-
zung, aber auch die Aufstockung der Zahl unserer Solda-
tinnen und Soldaten, die in Mali schon im Einsatz sind,
und wir prüfen eine Unterstützung der kommenden EU-
Mission in der Zentralafrikanischen Republik. Wir ha-





Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (C)



(D)(B)

ben diese EU-Mission als Europäer gemeinsam auf den
Weg gebracht. Also müssen wir uns jetzt, wenn wir diese
Mission ausplanen, auch entsprechend verhalten.

Mir sind zwei Dinge wichtig. Erstens. Es bleibt bei
unserem Grundsatz: Kein Kampfeinsatz in Zentralafrika.
Aber wir haben Fähigkeiten – das geht unter den Begrif-
fen Pooling and Sharing und Smart Defense ganz konsis-
tent voran – zum Beispiel im Verwundetentransport,
MedEvac, die andere so nicht haben. Wenn diese Fähig-
keiten nötig sind, dann sollten wir sie auch stellen. Wir
sollten diese Diskussion führen; denn ich finde: Wenn
man innerhalb des Bündnisses gemeinsam etwas auf den
Weg bringt, dann muss man auch bereit sein, gemeinsam
die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das heißt, ein
differenziertes Vorgehen ist uns wichtig, und dieses Vor-
gehen muss selbstverständlich auf dem Boden eines
Mandats stattfinden.

Der zweite Punkt, der mir wichtig ist. Dauerhafte Sta-
bilität kann nur durch den Wiederaufbau staatlicher
Strukturen erzeugt werden, siehe Afghanistan. Wir ha-
ben gelernt, dass es auch eine Frage der Zeit ist, wann
man mit Folgemissionen auftritt. Dabei geht es um ver-
netzte Sicherheit. Deshalb: Der Wiederaufbau staatlicher
Strukturen kann nicht und darf nicht nur die Aufgabe des
Militärs sein. Gerade als Verteidigungsministerin kann
ich immer wieder nur betonen, wie wichtig es ist, die mi-
litärische Sicherheit, die entwicklungspolitische Hilfe
und den Wiederaufbau Seit’ an Seit’ zu haben. Denn ich
bin der festen Überzeugung: Streitkräfte und damit die
Bundeswehr sind gelegentlich nötig, um die Lage zu klä-
ren; gar keine Frage. Wir sehen mit Stolz und Dankbar-
keit auch auf unsere Soldatinnen und Soldaten im Ein-
satz, die das für uns immer wieder im Bündnis leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Aber wir wissen eben auch: Wir sind Teil des Gesamt-
instrumentariums der vernetzten Sicherheit, und wir
können und dürfen nicht das einzige Instrument sein. Ich
bin deshalb der festen Überzeugung, dass es richtig ist,
sich jetzt an eine Afrika-Strategie zu machen, diese ge-
meinsam mit den Ressorts – dem Außenministerium,
dem Entwicklungshilfeministerium – und den Fraktio-
nen auf den Weg zu bringen. Ich habe mich über die ver-
schiedenen Signale gefreut. Ja, Afrika ist unser Nachbar.
In Afrika ist uns vieles nicht von vornherein selbstver-
ständlich und nah. Aber wir als Europäer haben eine
enge Verbindung zum Nachbarkontinent. Wir als Euro-
päer wissen viel über Afrika. Wenn wir dieses Wissen
und unsere Fähigkeiten bündeln, dann ist das der richtige
Weg zur Erreichung von Frieden und zum Aufbau demo-
kratischer und stabiler Strukturen in Afrika.

Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist ein
zentrales sicherheitspolitisches Instrument mit dem
Mandat des Deutschen Bundestages. Lassen Sie mich
noch den Blick nach innen werfen. Wir haben in der letz-
ten Sitzungswoche eine ausgeprägte Diskussion über die
Attraktivität der Bundeswehr im Rahmen der Debatte
über den Bericht des Wehrbeauftragten geführt. Deshalb
verwende ich heute weniger Zeit darauf. Ich fand es sehr
schön, wie die Kanzlerin heute Morgen sagte: Wir ma-
chen Politik für die Menschen. – Das wollen wir durch-
deklinieren bis tief in die Bundeswehr und ihren Alltag
hinein, liebe Freundinnen und Freunde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das zentrale Ziel der Neuausrichtung ist die dauer-
hafte Einsatzfähigkeit. Ja, das stimmt. Aber Attraktivität,
Modernität, Verankerung in der Gesellschaft sind auch
zentrale Faktoren der dauerhaften Einsatzfähigkeit. Sie
sind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich. Ich bin
der festen Überzeugung: Eine familienfreundliche Bun-
deswehr wird nicht schwächer, sie wird stärker.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Die Diskussion über das Wie wird noch lange andau-
ern. Vieles ist gut; aber viel ist auch noch zu tun. Mir ist
wichtig: Das ist keine Frage, die „nur“ die Frauen in der
Bundeswehr angeht, sondern eine Frage, die vor allem
auch den Soldaten betrifft, der Vater ist und für sein
Kind als Vater unverzichtbar ist. Das bedeutet, dass er
gemeinsame Zeit mit seiner Familie braucht, und die
wollen wir ermöglichen. Wir wollen nicht aasen mit sei-
ner Zeit, sondern wir wollen durch Flexibilität diese Zeit
ermöglichen.

Wir haben in der letzten Sitzungswoche eine breite
Diskussion über das Thema „Frauen in der Bundeswehr“
geführt. Auch dazu sage ich: Mehr Frauen in der Bun-
deswehr machen die Bundeswehr ganz sicher nicht
schwächer, sondern sehr viel stärker.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Frauenanteil in der Bundeswehr liegt bei 10 Pro-
zent; das wissen wir alle. Diese Frauen in der Truppe
sind selbstbewusste Frauen. Ich weiß aus der eigenen
Lebenserfahrung, dass nicht jeder damit umgehen kann,
aber die allermeisten können das – und die wollen wir
stärken. Deshalb müssen wir die Karrierepfade für
Frauen gangbarer machen. Wir müssen sie sichtbarer
machen, und wir müssen sichtbarer machen, wie sehr die
Bundeswehr von der wachsenden Zahl der Frauen in der
Truppe profitiert.

Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sich
bewährt. Sie hat sich bewährt als eine Armee für den
Frieden im multinationalen Raum und als eine Armee
der Demokratie. Wir wollen sicherstellen, dass das so
bleibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächster spricht

Dr. Alexander Neu.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801009200

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und

Herren! Die beste familienfreundliche Bundeswehr ist





Dr. Alexander S. Neu


(A) (C)



(D)(B)

eine Bundeswehr, die zu Hause bleibt, die das Territo-
rium Deutschlands verteidigt, und keine Interventionsar-
mee.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe mich heute auf das Thema Verteidigung ein-
gestellt. Ich habe aber zum Thema Verteidigung nicht
sehr viel gehört, Frau von der Leyen.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Nicht zugehört?)


Was ich gehört habe, ist „Afrika“, was ich gehört habe,
ist „Menschenrechte“ etc., aber von Verteidigung nichts.
Ich möchte gern einmal charakterisieren, was Verteidi-
gung ist.

Die Verteidigung ist laut Grundgesetz eine Territorial-
verteidigung. Ich kann das gern auch zitieren; Art. 87 a
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 115 a Abs. 1. Dort heißt
es:

Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffen-
gewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff
unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der
Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates.

Ein zentraler Begriff ist „Bundesgebiet“; das heißt,
ein räumlich bestimmter Verteidigungsbegriff. Ein wei-
terer zentraler Begriff ist „Waffengewalt“; das heißt die
konkrete Anwendung von Waffengewalt gegen Deutsch-
land, keine Spekulation und vor allem keine abstrakten
Bedrohungsgefühle. Das Dritte ist der Präemptionsfall
– ein Angriff droht unmittelbar –; das heißt Akzeptanz
des Präemptionsfalls, was wiederum heißt: zeitliche
Unmittelbarkeit, Angriff im Kommen. Mit anderen Wor-
ten: Das eigene Staatsgebiet ist gegenwärtig Ziel eines
Angriffs. Ein Beispiel: Die funkelektronische und satel-
litengestützte Aufklärung macht klar, dass auf Deutsch-
land Waffensysteme gerichtet sind und agieren. Die Völ-
kerrechtsliteratur, sehr geehrte Damen und Herren,
kommt mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass der Präemp-
tionsschlag legitim ist.

Die Grundgesetzformulierung ist sehr gut, und die
Linke teilt genau diese, nämlich den verteidigungspoliti-
schen Begriff als einen territorial gebundenen Begriff.


(Beifall bei der LINKEN)


Allerdings erleben wir von den Bundesregierungen
wechselnder Couleur und von unseren NATO-Verbünde-
ten seit Anfang der 90er-Jahre, dass sie sich regelmäßig
in Völkerrechtsbrüchen üben. Nicht nur Präemption,
sondern auch Prävention, sogenannte offensive Selbst-
verteidigung, soll legalisiert werden.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Oh!)


– Ja! – So heißt es zum Beispiel im Entwurf des Weiß-
buchs aus dem Jahr 2006 – nächstes Zitat –:

Die gewandelten Sicherheitsherausforderungen er-
fordern ein neues, gemeinsames Verständnis des
Systems der Charta der Vereinten Nationen … das
Recht auf Selbstverteidigung [muss] präzisiert und
präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesi-
cherten Grundlagen geregelt werden.

Also, Prävention wird eingefordert.
Stichworte wie „Proliferation von Massenvernich-
tungswaffen“, „internationaler Terrorismus“, „Problem-
staaten“ – schon der Begriff „Problemstaaten“ irritiert
mich sehr –, „Cyberwar“ etc. suggerieren nichts anderes
als asymmetrische Risiken, die eine, wie es so schön
heißt, Neuinterpretation des Völkerrechts oder eine Wei-
terentwicklung des Völkerrechts erforderlich machen.

Nun ist es aber so, dass eine Weiterentwicklung oder
eine Neuinterpretation des Völkerrechts einige Haken
hat:

Erstens. Die Staaten des globalen Südens finden das
überhaupt nicht toll. Dort wird keine Bereitschaft zu er-
kennen sein, Präventivkriege als Selbstverteidigungs-
kriege in irgendeiner Weise völkerrechtlich oder ver-
tragsrechtlich gewohnheitsmäßig zu etablieren.

Zweitens. Eine völkerrechtliche Etablierung von Prä-
ventivkriegen als Selbstverteidigungsfall ist nichts ande-
res als ein Ermächtigungsgesetz, und ich glaube, das
wollen wir nun wirklich nicht haben.


(Zurufe von der SPD: Oh! – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Begriff kann man trotzdem vermeiden! – Michael Brand [CDU/CSU]: Sie haben aber einen schlechten Lehrer!)


– Nein, ich hatte einen sehr guten Lehrer – im Gegensatz
zu Ihnen; aber darüber können wir gerne streiten. – Das
heißt, mit der Etablierung des Selbstverteidigungs-
krieges als Präventivkrieg schaden Sie nachhaltig dem
Friedensvölkerrecht. Sie erledigen es quasi.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Auf welchem Planeten leben Sie eigentlich?)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009300

Lieber Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, dass

wir den Begriff „Ermächtigungsgesetz“, der einen klaren
Bezug und eine klare Bedeutung aus der Zeit des Natio-
nalsozialismus hat, in der Debatte heute nicht verwenden
sollten und auch solche Vergleiche nicht anstellen soll-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Nicht grinsen, entschuldigen!)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801009400

Ich werde diese Belehrung für den heutigen Tag ak-

zeptieren, Frau Präsidentin.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Und jetzt?)


Ich hoffe, dass die Sekunden, die mir dadurch gerade
verloren gegangen sind, wieder gutgeschrieben werden.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Ich darf fortsetzen. – Bei einem entterritorialisierten
Verteidigungsbegriff, der Aspekte – –


(Unruhe bei der CDU/CSU)






Dr. Alexander S. Neu


(A) (C)



(D)(B)

– Ich bitte um Ruhe; ich lasse Sie auch ausreden.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wir haben auch nicht so einen Unsinn erzählt! Kaum zu ertragen!)


– Sie reden so viel Unsinn jeden Tag. Das fällt gar nicht
mehr weiter auf.

Wir sind bei dem entterritorialisierten Verteidigungs-
begriff, in dessen Rahmen Werte- und Interessenvertei-
digung – die Kanzlerin hat heute selber die Begriffe „In-
teressenverteidigung“ und „Werteverteidigung“ in den
Mund genommen – akzentuiert werden. Wenn dieses auf
dem Territorium von Drittstaaten gegen deren Willen
praktiziert wird, handelt es sich um eine blanke Aggres-
sion und nicht um eine Selbstverteidigung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


– Hören Sie zu, dann lernen Sie noch etwas. – Der Ver-
teidigungsbegriff, der seiner spezifischen zeitlichen und
räumlichen – –


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Können Sie das bitte unterbinden? Das ist unerträglich.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009500

Herr Kollege, es gehört erstens zu den parlamentari-

schen Gepflogenheiten, dass auch Zwischenrufe erlaubt
sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michaela Noll [CDU/CSU]: Vor allem bei einem solchen Unsinn!)


Zweitens, Herr Kollege, greife ich dann ein, wenn ich
es für angemessen halte.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801009600

Da habe ich wieder etwas gelernt. – Wenn Frau

Ministerin von der Leyen damit argumentiert, Deutsch-
land müsse seiner gewachsenen Verantwortung mehr ge-
recht werden, kann ich dazu nur sagen: Sie hat recht, es
muss nur nicht militärisch sein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt eine Menge Möglichkeiten, wie man es auch
zivil handhaben kann. Jährlich verhungern weltweit
zwischen 20 und 40 Millionen Menschen. Kommen Sie
Ihrer Verantwortung nach und tragen Sie zu einer fairen
Weltwirtschaft bei,


(Michael Brand [CDU/CSU]: So ein übler Zyniker!)


statt mit Krieg und militärischer Drohpräsenz deutsche
Exportchancen zu erkämpfen!
Westerwelles Kultur der militärischen Zurückhaltung,
sehr geehrte Damen und Herren, war richtig. Die Linke
teilt genau diesen Ansatz.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ja, wer hätte gedacht, dass die Linke einmal einem Au-
ßenminister Westerwelle nachtrauern würde. Das ist nun
leider der Fall.

Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Mitteleu-
ropas und damit Deutschlands mit konventionellen
militärischen Mitteln besteht heute nicht mehr. Das
wird … auf absehbare Zeit auch so bleiben.

So der Generalinspekteur Wieker in seinem Bericht zum
Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010.
Frau Ministerin von der Leyen, ziehen Sie aus dieser
Feststellung von Wieker und meinen Ausführungen ent-
sprechende Konsequenzen, nämlich a) die massive
personelle Reduktion der Bundeswehr und b) die Re-
strukturierung der Bundeswehr zu einer reinen Verteidi-
gungsarmee.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009700

Herr Neu, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801009800

Natürlich.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801009900

Bitte, Herr Kollege.


Albert Weiler (CDU):
Rede ID: ID1801010000

Herr Neu, ich habe nur eine ganz kurze Frage. Ich bin

auch neu hier, aber nicht mit Namen. Soll das jetzt wirk-
lich so weitergehen, diese Unart, diese Ungezogenheit?
Sie sagen, Frau Bellmann würde nur Unsinn reden,


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ja, das tut sie ja auch!)


und anderen werfen Sie es auch vor.


(Zurufe von der LINKEN)


Das ist, glaube ich, in so einem Haus doch nicht notwen-
dig. Das ist auch nicht gut für den Namen unseres Hau-
ses, weil sich der eine oder andere das auch unter
menschlichen Gesichtspunkten anschaut. Ich würde
schon bitten, auch als neuer Kollege da vielleicht doch
ein bisschen Ehre an den Tag zu legen und so etwas ein-
fach zu unterlassen.

Meine Frage wäre jetzt: Wollen Sie das so weiterfüh-
ren, oder wollen Sie sich da vielleicht etwas zurückneh-
men?

Danke schön.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801010100

Das war eine verkappte Frage. Das war ein Verhal-

tenshinweis. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich
werde gleich zum Ende kommen.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801010200

Herr Kollege Weiler, Sie müssten während der Ant-

wort stehen bleiben. Das ist aber entschuldigt bei einem
neuen Abgeordneten, keine Frage.


Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801010300

Sie, Herr Weiler, sind halt neu im Hause, ich auch. –

Ja, die Antwort habe ich gegeben. Es war keine wirkli-
che Frage, sondern eine verkappte Frage.

Ich würde gerne fortfahren und werde versuchen,
mich zu disziplinieren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Selbst der Herr Gehrcke klatscht nicht mehr! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das will schon was heißen! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Es ist ja schon nach 18 Uhr!)


– Ich kann fortfahren? – Wenn nun die Bundesregierung
der Auffassung ist, dass sie etwas verteidigen und schüt-
zen möchte, dann soll sie es tun. Sie möge endlich ihrer
originären staatlichen Aufgabe nachkommen, nämlich
die Menschen in diesem Lande vor Cyberwar zu schüt-
zen. Cyberspionage, Cybersabotage ist Cyberwar.
80 Millionen Menschen in diesem Land sind potenzielle
und reale Opfer von Cyberangriffen auf deutschem
Territorium. Es gibt also massive und permanente An-
griffe auf die Souveränität unseres Landes und auf die
Bürgerrechte durch einen Drittstaat bzw. sogar durch
mehrere Drittstaaten.

Frau Bundeskanzlerin – sie ist zwar jetzt nicht mehr
hier, aber dennoch richte ich diese Worte an sie –, Sie ha-
ben einen Eid auf das Grundgesetz abgelegt. Sie sind
dem Grundgesetz und den Menschen dieses Landes ge-
genüber verpflichtet, nicht gegenüber Washington. Tun
Sie etwas! Kommen Sie Ihrer Pflicht nach, zum Wohle
dieses Landes und seiner Menschen! Handeln Sie end-
lich!

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801010400

Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Arnold

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801010500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eigentlich wollte ich mich mit den Linken nicht aus-
einandersetzen. Aber Ihre Ausführungen waren so
schlimm, dass ich richtig Sehnsucht nach Ihrem Vorgän-
ger Paul Schäfer habe.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem konnte man streiten, was man mit Ihnen nicht
mehr tun kann, Herr Kollege Neu.

Sie haben mich vorhin auf unseren Disput im Vertei-
digungsausschuss angesprochen. Sie haben dort die
abstrakte terroristische Bedrohung mit Marsmännchen
verglichen. Herr Kollege, Ihre Rede war außerirdisch.
Insofern trifft Ihr Vergleich zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Herr Kollege, wer negiert, dass die Vereinten Natio-
nen deutsche Einsätze mandatieren,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Ja, starker Tobak!)


wer negiert, dass das Bundesverfassungsgericht Verfas-
sungsrecht gesprochen hat, und wer Thesen wie „völker-
rechtswidrig“ oder gar „Ermächtigungsgesetz“ in den
Raum stellt,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Der ist hier fehl am Platz!)


der kann nicht mehr ernst genommen werden; es tut mir
leid. Darüber können wir nicht streiten, weil es einfach
nicht stimmt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Ministerin hat heute nach ihrem Impuls in der
letzten Woche zur besseren Vereinbarkeit von Familie
und Beruf längere Linien gezogen. Wir begrüßen dies
außerordentlich. Wir sind nämlich der Auffassung, dass
die Große Koalition eine Chance sein kann, hier eine
entsprechende Debatte anzustoßen, die in Deutschland
heikel und angesichts der deutschen Geschichte sowie
der vorhandenen Distanz vieler Menschen in Deutsch-
land zu militärischen Themen vielleicht eine sensible
Angelegenheit ist. Gründe für die vorhandene Distanz
– ich sage ausdrücklich, dass mir diese Distanz lieber ist,
als wenn es andersherum wäre – sind ein Stück weit
durch Debatten zu klären.

Es ist ein vernünftiger Aufschlag, in Deutschland in
den nächsten vier Jahren in der Großen Koalition Klar-
heit darüber zu schaffen, welche Verantwortung und
welche Rolle Deutschland in der internationalen Politik
spielen soll. Mein Eindruck ist: Die deutschen Bürgerin-
nen und Bürger sind längst bereit, über die strategische
Ausrichtung, über die Grundlagen der Sicherheitspolitik
und über die Legitimation von Einsätzen der Streitkräfte
vernünftig zu reflektieren.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801010600

Herr Kollege, ich habe so lange gewartet, bis Sie eine

kleine Pause machen. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel zulassen.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801010700

Gerne.






(A) (C)



(D)(B)


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801010800

Danke schön, Frau Präsidentin. – Lieber Kollege

Arnold, Sie sagten, die UN mandatiere die deutschen
Einsätze. Meine Frage ist: Wer hat denn die Patriot-Sta-
tionierung mandatiert? Wer hat Operation Enduring
Freedom mandatiert? Wer hat Operation Active Endea-
vour mandatiert? Hier finden doch Selbstmandatierun-
gen eines Militärbündnisses statt. Hier findet Selbster-
mächtigung in Bezug darauf statt, wann eine Gefahr
besteht. Hier wird im Grunde neues Recht geschaffen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Eijeijei!)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801010900

Vielleicht sind Sie ja vergesslich. Deswegen möchte

ich Sie daran erinnern: Die Vereinten Nationen haben
nach den Anschlägen von 9/11 die Staatengemeinschaft
aufgefordert, alles, was möglich ist, zu tun, um gegen
diese Bedrohung vorzugehen. Die Bedrohung kam in
diesem Fall aus Afghanistan.

Ihr Kollege hat vorhin davon gesprochen, dass es zer-
fallende Staaten gibt, was er offensichtlich nicht so
schlimm findet. Als ob uns dies nichts anginge! In zer-
fallenden Staaten schlachten sich Ethnien oder Angehö-
rige verschiedener Religionsgemeinschaften gegenseitig
ab. Mit Verlaub: Dies müsste Politiker der Linken doch
aus ethischen Gründen etwas angehen. Zerfallende
Staaten, die Rückzugsräume für Terroristen bieten, auf
deren Agenda steht, gegen unser Leben und gegen
unsere Länder vorzugehen, müssen uns alle miteinander
etwas angehen.


(Niema Movassat [DIE LINKE]: Wer hat denn die Taliban aufgebaut?)


Zu Ihrem letzten Beispiel, Einsatz in der Türkei, will
ich sagen: Es ist Alltag im Bündnis, dass man Landes-
verteidigung bündnisweit sieht. Wir verteidigen unser
Land nicht mehr, indem wir warten, bis die Risiken bei
uns angekommen sind, sondern wir verteidigen das
Bündnis insgesamt. Dies ist durch das Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts ganz eindeutig geklärt.

Was wir in der Türkei machen, ist NATO-Routine.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist ja das Problem!)


Wir haben mit AWACS einen ständigen Aufklärungs-
verband der NATO in der Türkei. Eigentlich ist es kein
großer Aufreger, wenn defensive Systeme bereitgehalten
werden. Wir mandatieren diesen Einsatz deshalb, weil
an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien ein
bewaffneter Konflikt stattfindet, bei dem die Gefahr be-
steht, dass türkische Bürgerinnen und Bürger in ihrer
Gesundheit geschädigt werden und dass sie vielleicht so-
gar – das ist bereits geschehen – ums Leben kommen.
Deshalb gibt es ein Mandat. Aber es ist alles völker-
rechtlich in Ordnung.

Hören Sie deshalb auf, den Unsinn zu verbreiten, wir
würden völkerrechtswidrige Einsätze beschließen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wir als Abgeordnete würden uns strafbar machen, wenn
wir dies täten. Jeder deutsche Soldat – auf der Zuschau-
ertribüne sitzen einige Soldaten – dürfte nicht nur,
sondern er müsste den Befehl verweigern, wenn er sich
in einem völkerrechtswidrigen Einsatz befinden würde.
Hören Sie mit diesem Quatsch einfach auf!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich war bei dem Thema: Wie können wir die gesell-
schaftliche Debatte in Deutschland voranbringen? Ich
bin mir darüber klar, dass das auch Sache des Parlaments
ist. Ich bin froh über Beiträge aus der Gesellschaft. Ich
stimme zwar nicht überein mit dem, was die EKD veröf-
fentlicht hat; aber es ist ein guter Auftakt, um mit den
Kirchen über die deutsche Verantwortung und Rolle in
der Welt zu sprechen. Wir nehmen dieses Angebot sehr
gerne an. Die Lehre aus Afghanistan hat die Ministerin
auch beschrieben, nämlich dass es nur ressortübergrei-
fende Ansätze gibt.

Noch einmal an die Linken: Niemand behauptet, dass
die Probleme der Welt militärisch zu lösen sind. Wir alle
wissen längst, dass das Militär zunächst einmal das
Schlimmste verhindern kann, ein Zeitfenster für zivile
Leistungen offenhalten kann. Wir wissen schon lange,
dass ziviler Aufbau, diplomatische Bemühungen und
militärische Interventionen dort, wo sie notwendig sind,
zusammen gedacht, zusammen geplant und zusammen
organisiert werden müssen. Deshalb ist es natürlich rich-
tig, wenn wir diesen vernetzten Ansatz in dieser Großen
Koalition noch deutlicher zum Tragen bringen. Ich wün-
sche mir, dass wir, statt Verteidigungspolitische Richtli-
nien zu veröffentlichen, wieder zu einer alten Tradition
in der Bundesregierung zurückkommen, nämlich zwi-
schen den Ressorts abgestimmte sicherheitspolitische
Richtlinien zu formulieren.

Der Außenminister hat uns heute gesagt: Die Heraus-
forderungen ändern sich schneller. Zur Zeit des Kalten
Krieges war die Situation viele Jahre statisch. In den
letzten vier Jahren sind die Krisen näher an Europa he-
rangekommen – das merken wir bei unseren heutigen
Debatten –, gerade auf dem afrikanischen Kontinent.
Das ist überhaupt keine Frage. Es ist gut und richtig,
wenn eine vernetzte Strategie entwickelt wird und mit
den Europäern darüber geredet wird, dass es nicht effek-
tiv sein kann, wenn jedes Land in vielen afrikanischen
Ländern kleine Beiträge leistet. Nein, wir müssen uns
fragen: Wer kann was und wo am besten? Da kommt den
französischen Partnern in den französischsprachigen
Ländern natürlich eine besondere Verantwortung zu. Es
ist klug und richtig, wenn die Deutschen Schwerpunkte
bilden, weil es logistisch viel einfacher ist.

Die ganze Debatte zeigt allerdings auch: Wir müssen
über die Bundeswehrreform noch intensiver reden, Frau
Ministerin; denn diese Reform hat diese Szenarien nicht
ausreichend im Blick. Sie ist eine Reform mit Fokus auf
die Lehren aus Afghanistan und dem Kosovo.

Wir sehen im Augenblick auf jeden Fall Folgendes:
Wir stellen uns eher auf viele kleinere, parallel laufende





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

Einsätze ein. Dazu gibt die Reform im Bereich der Lo-
gistik, der Aufklärung und der Unterstützung des Trans-
ports nicht die ausreichenden Antworten. Ich bin der
Auffassung: Die Umsetzung, die Implementierung der
Reform ist Sache der Exekutive; das ist ganz klar. Aber:
Das deutsche Parlament entscheidet über die Einsätze.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Bleibt das auch so?)


Das setzt voraus, dass alle Abgeordneten Verständnis für
die Grenzen der Möglichkeiten haben, die die Bundes-
wehr anbietet, für das, was die Bundeswehr leisten kann.
Wir alle sollten ein Grundverständnis von der Funktio-
nalität der Truppe haben. Jeder Abgeordnete, der über
Einsätze entscheidet, hat zusammen mit der Regierung
eine Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler und der
Öffentlichkeit. Deshalb ist es wichtig, über die Reform
in den nächsten Wochen intensiv zu diskutieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801011000

Herr Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Movassat?


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801011100

Gerne.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801011200

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Arnold, Sie

haben vorhin gesagt, Deutschland sei nicht an völker-
rechtswidrigen Einsätzen beteiligt gewesen. Ich nenne
Ihnen einen ganz konkreten Fall, der im Juni 2005 vor
dem Bundesverwaltungsgericht entschieden worden ist.
Hierbei ging es um den Irak-Einsatz, an dem Deutsch-
land zwar nicht direkt militärisch beteiligt war, bei dem
es aber Überflugrechte gewährt hat, AWACS zur Verfü-
gung gestellt hat. Es ging um die Gehorsamsverweige-
rung eines Soldaten. Er sollte an der Erarbeitung eines
Computerprogramms mitwirken und hatte die Befürch-
tung, dass dieses Programm im Zusammenhang mit dem
Irak-Einsatz verwendet wird. Das Bundesverwaltungs-
gericht stellte fest, dass der Irak-Krieg völkerrechtswid-
rig ist und dass durch einen solchen Einsatz des Soldaten
Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Einsatz geleistet
wird. Mithin hat sich Deutschland durchaus schon ein-
mal an völkerrechtswidrigen Einsätzen beteiligt. Oder
bestreiten Sie das Urteil des Bundesverwaltungsgerich-
tes?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801011300

Ich habe das Urteil noch in Erinnerung, Herr Kollege.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht gesagt, dass
dieser Einsatz völkerrechtswidrig ist. Es konnte diese
Frage nicht wirklich klären.


(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)


Es hat aber das Recht des Soldaten gestärkt.

Herr Kollege, für mich ist aber etwas anderes ent-
scheidend: Ich bin stolz darauf, wie die Sozialdemokra-
tie und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in
dieser Situation zurechtgekommen sind, wie sie dem
Druck von vielen Partnern standgehalten haben, sich an
diesem Krieg zu beteiligen. Das war eine Sternstunde
dieser Regierung und des Parlamentes, und das lassen
wir uns ganz eindeutig von niemandem schlechtreden.


(Beifall bei der SPD – Michael Brand [CDU/ CSU], an den Abg. Niema Movassat [DIE LINKE] gewandt: Genau zitieren, Herr Kollege von den Linken!)


Ich möchte zur Reform zurückkommen. Bisher war es
der Ansatz der Politik, möglichst viele Optionen anzu-
bieten. Ich glaube, dieser Ansatz wird in Zukunft nicht
tragen. Wir müssen verstärkt die Frage stellen: Welche
Fähigkeiten passen am besten zum politischen Auftrag,
den wir der Bundeswehr in Zukunft geben werden?
Dazu müssen wir diesen Auftrag sorgfältig diskutieren
und formulieren. Das heißt, wir müssen die Bundes-
wehrreform nicht primär am aktuellen Einsatz orientie-
ren, sondern eher am zukünftigen Auftrag. Die Ziele
bleiben die gleichen: Durchhaltefähigkeit, Flexibilität,
Mobilität. Aber der Wehrbeauftragte sagt uns zu Recht:
Diese Ziele werden durch die Reform zumindest in vie-
len Bereichen eher nicht erreicht. Er hat Anlass zur
Sorge, dass – –


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801011400

Herr Kollege Arnold, es wird noch einmal um eine

Zwischenfrage gebeten.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801011500

Immer gerne.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801011600

Frau Kollegin Vogler.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801011700

Danke, Frau Präsidentin, und danke, Herr Kollege

Arnold, dass Sie erneut eine Zwischenbemerkung zulas-
sen.

Herr Kollege, ich kann das, was Sie gerade gesagt
haben, nicht so stehen lassen. Ich finde, was Sie hier be-
treiben, ist schon in einem gewissen Maße Selbstbe-
weihräucherung. Würden Sie mir zugestehen, dass Bun-
deskanzler Schröder und die Bundesregierung nicht nur
dem Druck seitens der Verbündeten ausgesetzt waren,
die Bundeswehr in den Irak-Krieg zu schicken, sondern
andererseits auch einem erheblichen Druck aus der Be-
völkerung ausgesetzt waren, dies zu unterlassen?

Ich habe selber die große Demonstration hier in Ber-
lin mit veranstaltet, an der eine halbe Million Menschen
teilgenommen haben. An diesem Tag waren mindestens
13 Millionen Menschen auf der ganzen Welt unterwegs
und haben in den Hauptstädten gegen den Irak-Krieg de-
monstriert. Da gab es eine riesige Bewegung, es war eine
weltweite Stimmung. Viele waren gemeinsam unter-
wegs:


(Zurufe von der CDU/CSU: Frage!)






Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Friedenskämpfer,
Leute aus Kirchen und Gewerkschaften.


(Zurufe von der CDU/CSU: Frage!)


Ganz viele Menschen waren da unterwegs und haben ihr
Anliegen auf die Straße getragen. Würden Sie mir zu-
stimmen, dass das dazu beigetragen hat, dem Druck
standhalten zu können, von dem Sie berichtet haben?


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1801011800

Unsere Partei ist jetzt 150 Jahre alt, und wir brauchen

keine Belehrungen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die haben Sie immer nötig gehabt!)


Wir schauen seit 150 Jahren in den Rückspiegel, auf die
Bevölkerung. Wir sind aber auch, wenn es notwendig ist,
150 Jahre lang standhaft und setzen Dinge gegen den
Mainstream durch; wir diskutieren darüber, und dann
wird der Wähler entscheiden. Sie sind für uns also kein
Ratgeber. Wir wissen selbst, was wir tun.

Ich glaube, Sie müssen eines einfach mal reflektieren:
Sollen in Deutschland irgendwann in Zukunft andere
politische Mehrheiten zum Tragen kommen,


(Zuruf von der LINKEN: Legendenbildung!)


muss eine Grundvoraussetzung erfüllt werden: Die Lin-
ken müssen im Bereich der Außen- und Sicherheitspoli-
tik ihr Godesberg machen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das wird es nicht geben! Das schwöre ich Ihnen!)


Anders wird es überhaupt nicht gehen. Sie entfernen sich
aber immer weiter.

Kurt Schumacher hat in den 50er-Jahren gesagt:
Nichts ist lehrreicher als die Wirklichkeit. – Das ist eines
meiner Lieblingszitate. Aber, Kolleginnen und Kollegen
von den Linken, Sie nähern sich dieser Wirklichkeit mit
den heutigen Reden nicht an, sondern entfernen sich im-
mer weiter von der Betrachtung der realen Welt mit ih-
ren Risiken und Gefahren und den Sorgen der Men-
schen. Sie müssen da mal mit sich ins Gericht gehen.

Ich würde gern noch ein wenig über die Reform re-
den; es ist ein bisschen schwierig, wenn man immer un-
terbrochen wird. Der Wehrbeauftragte hat gesagt, dass
der Gang der Reform nicht Anlass zu der Hoffnung gibt,
dass all das, was vorgesehen ist, gelingt. Um es noch
einmal klar zu sagen: Im Koalitionsvertrag steht, dass
vieles an dieser Reform richtig ist und es im Grundsatz
dabei bleiben soll. Aber die Ministerin selbst hat einen
Punkt angesprochen: Diese Reform wurde de facto ohne
Abstimmung mit unseren EU- und NATO-Partnern be-
schlossen. Dies muss man heilen, wenn man die Ge-
meinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa vo-
ranbringen will. Wenn man sie voranbringen will,
brauchen wir neben der Debatte in Deutschland über un-
sere Verantwortung auch eine strategische Klärung zwi-
schen Deutschland und Frankreich: Wie betrachten diese
beiden Länder die Welt, und was sind sie bereit zu tun?
Ich meine, mit dieser Koalition, auch durch die Arbeit
des Außenministers, stehen die Chancen gut, dass wir in
all diesen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik wie-
der enger mit unseren französischen Freunden zusam-
menkommen. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine
vertiefte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in
Europa. Wenn Deutschland und Frankreich hier nicht im
Konsens vorangehen, dann wird es in diesem Bereich
nicht vorangehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb meine herzliche Bitte, Frau Ministerin: Las-
sen Sie die Bundeswehrreform im Sinne von Fehlerkul-
tur auf den Prüfstand stellen. Haben Sie die Kraft, neue
Erkenntnisse – wenn es sein muss, auch bei der Frage,
welcher Standort der geeignetste ist – in Ihre Überlegun-
gen mit einzubeziehen, um neue Berechnungen anzustel-
len, und korrigieren Sie die Fehler. Ich glaube, die Sol-
daten warten darauf, weil sie bisher eher den Eindruck
hatten: Dort, wo die Reform nicht gut funktioniert, wird
von ihnen erwartet, dass sie trotzdem mit den Problemen
umgehen.

Man kann dies so machen, aber klar ist dann auch:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht zu ge-
währleisten. In den Schlüsselfunktionen gibt es zu wenig
Personal für die Bewältigung der zukünftigen Aufgaben.
Wenn man für die bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf sorgen will, dann muss man im Rahmen der Re-
form an den entsprechenden Stellen ansetzen und den
Personalkörper möglicherweise neu justieren.

Ich plädiere auch für Ehrlichkeit gegenüber den Sol-
daten in dieser Debatte. Ja, die Reform ist in ihren Eck-
punkten und im Umfang grundsätzlich richtig. Ich nenne
als Beispiel die Abschaffung der Wehrpflicht. Sie ist
zwar falsch und schlecht gemacht worden; im Grundsatz
war die Wehrpflicht aber nicht mehr haltbar.

Es geht nicht um die größte Reform aller Zeiten, wie
das manchmal kommuniziert wurde. Dass diejenigen,
die die Reform kritisiert haben, sie einfach nicht verstan-
den haben, das war keine gute Botschaft der Führung.
Vielmehr geht es doch darum, das Verständnis dafür zu
wecken, dass keine Reform in Stein gemeißelt sein wird.

Der alte Generalinspekteur Schneiderhan war eigent-
lich auf dem richtigen Pfad, als er gesagt hat: Wir befin-
den uns in einer Transformation der Streitkräfte und
nicht in einer Reform. – Die Welt ändert sich, jedes Un-
ternehmen ändert sich im Laufe der Zeit. Dann muss
man nachsteuern und neue Erkenntnisse umsetzen. Ge-
nauso wird es bei der Bundeswehr sein, sonst werden
wir in drei bis vier Jahren in wichtigen Schlüsselberei-
chen feststellen, dass das Konzept nicht mehr funktio-
niert. Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Hub-
schrauber, wo wir viel zu wenig Personal haben und
auch zu wenig Nachwuchs ausbilden. Das gilt auch für
viele andere Bereiche.

Wir müssen jetzt umsteuern, sonst können wir uns
schon heute ausrechnen, welche Probleme in ein paar
Jahren auf uns zukommen werden; denn Fachärzte, Hub-
schrauberpiloten und technisches Personal werden nicht





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)

über Nacht gebacken. Deswegen muss jetzt schnell eine
entsprechende Regelung her.

Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Die Große
Koalition ist in diesem Sinn für die Bundeswehr auch
eine Chance; denn das, was im Koalitionsvertrag steht,
ist gut für die Bundeswehr. Von wichtigen Vertretern der
Streitkräfte ist mir heute Mittag berichtet worden, dass
die Soldaten zum ersten Mal mit großem Interesse einen
Koalitionsvertrag gelesen haben und dass unsere Vorha-
ben Zustimmung bei der Truppe finden.

Damit hängt natürlich auch zusammen, was der Bun-
deswehrVerband und auch der Wehrbeauftragte festge-
stellt haben: Das Problem im Augenblick ist, dass die
Soldaten ein Stück weit das Vertrauen in die Führung
verloren haben. Damit ist auch ein Stück weit Vertrauen
in die Politik verloren gegangen. Der Soldat unterschei-
det nicht so sehr zwischen Regierung und Parlament. Bei
solchen Diskussionen sind wir alle angesprochen, und
deshalb müssen wir uns alle kümmern, und wir mischen
uns auch ein, ob Regierung, ob Opposition. Dieses Ver-
trauen wiederherzustellen, ist der Schlüssel für das
Funktionieren der Streitkräfte.

Frau Ministerin, Sie sind mit großem Vertrauensvor-
schuss gestartet; das ist gut. Es ist schön, wenn man mit
Optimismus an die Dinge herangeht, aber damit hängt
natürlich auch eine unglaubliche Verantwortung zusam-
men. Wir alle miteinander, Regierung und Parlament,
dürfen in dieser Situation die Erwartungen der Soldaten
in den nächsten zwei Jahren nicht enttäuschen, sondern
wir müssen und werden den Koalitionsvertrag erfolg-
reich umsetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801011900

Jetzt hat die Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
„Deutschlands Zukunft gestalten“ – diesen Titel und die-
sen Anspruch haben Union und SPD ihrem Koalitions-
vertrag gegeben. Im außen- und sicherheitspolitischen
Teil reihen sie dabei häufig Allgemeinplätze aneinander,
aber eine klare Richtung ist nicht wirklich erkennbar.
Die Diskussion darüber hat Kollege Arnold gerade ein-
gefordert, und das begrüßen wir als Grüne sehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus Oppositionssicht muss man Ihnen wirklich zuge-
stehen, dass nicht alles schlecht ist, worauf Sie sich eini-
gen konnten. Sie haben zum Beispiel endlich erkannt,
dass es bei der Bundeswehrreform Nachbesserungen ge-
ben muss.

Zwar sind Herr Außenminister Steinmeier und Sie,
Frau Ministerin von der Leyen, noch nicht sehr lange in
Ihren Ämtern, dafür waren Sie medial aber umso präsen-
ter. Leider erfahren wir dadurch noch nicht wirklich et-
was über die neuen Linien und Ziele der schwarz-roten
Außen- und Sicherheitspolitik. Im Gegenteil: Sie ver-
heddern sich in Widersprüchen. Wo es im Ganzen hinge-
hen soll, bleibt weiterhin völlig offen. Besonders deut-
lich wird dies in der aktuellen Debatte über eine
mögliche deutsche Unterstützung der geplanten europäi-
schen Mission in der Zentralafrikanischen Republik und
bei der Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in Mali.
Die Ministerin von der Leyen prescht plötzlich vor und
kündigt an, es sei vorbei mit der Kultur der militärischen
Zurückhaltung in Deutschland.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Hat sie doch gar nicht! Stimmt doch gar nicht!)


Daraufhin rudert der Außenminister zurück, und es ha-
gelt Kritik aus der SPD-Bundestagsfraktion. Ich finde,
eine besonnene und abgestimmte Außen- und Sicher-
heitspolitik sieht anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle rächt sich auch der größte Geburts-
fehler der Bundeswehrreform, nämlich das Versäumnis,
zu Beginn mit der Öffentlichkeit und im Parlament eine
fundierte Debatte über zukünftige Sicherheitsbedrohun-
gen und die Frage, welche Aufgaben man daraus für die
Bundeswehr ableitet, zu führen.

Frau Ministerin von der Leyen, in einem Interview im
aktuellen Spiegel geben Sie zu verstehen, Deutschland
müsse sich jetzt ganz schnell stärker militärisch in
Afrika engagieren. Manchmal hat man den Eindruck,
dass Sie über diesen riesigen Kontinent reden, als würde
es sich dabei um ein einziges Land handeln. Ich war ver-
wundert, dass Sie die Gewalteskalation im Südsudan, wo
mittlerweile schätzungsweise 10 000 Menschen gestor-
ben sind, in diesem Interview nicht erwähnt haben, und
das, obwohl die deutsche Bundeswehr an einer Mission
der Vereinten Nationen im Südsudan beteiligt ist.

Meine Damen und Herren, jeder der 54 afrikanischen
Staaten hat eine lange Geschichte, komplexe gesell-
schaftliche Strukturen und eine ganz eigene politische
Dynamik. Nicht überall herrschen Krieg und Elend. Die
Konflikte sind vielschichtig, in ihren Ursachen genauso
wie hinsichtlich ihrer Akteure. Natürlich dürfen wir in
Europa nicht nur zuschauen, wenn in Afrika Gewalt aus-
zubrechen droht, wenn Krisen sich verschärfen oder die
Zivilbevölkerung leidet. Hier sind aber in erster Linie
der frühzeitige Einsatz ziviler, entwicklungspolitischer
und diplomatischer Mittel gefragt und auch gut durch-
dachte Strategien, die sich spezifisch mit den einzelnen
Konflikten und ihren Ursachen auseinandersetzen.

Frau Ministerin, Sie verweisen zur Rechtfertigung des
geplanten Afrika-Engagements auch noch auf die
schrecklichen Bilder von Lampedusa. Ich finde, die Ant-
wort auf diese Flüchtlingskatastrophe ist nicht, mehr Mi-
litär nach Afrika zu entsenden. Diesbezüglich und nicht
hinsichtlich der militärischen Zurückhaltung wäre ein
Kurswechsel dringend angesagt;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Agnieszka Brugger


(A) (C)



(D)(B)

denn statt Abschottung brauchen wir endlich eine solida-
rische und europäische Flüchtlingspolitik.

Der Einsatz der Bundeswehr erfordert in jedem Ein-
zelfall eine Einbettung in eine politische Gesamtstrate-
gie, die die Konfliktursachen berücksichtigt, eine sorg-
fältige Prüfung der Risiken und Gefahren und eine klare
Definition der Ziele. Sagen Sie uns doch endlich einmal
konkret, welche Antworten und Beiträge Sie sich für die
Missionen in Mali und in der Zentralafrikanischen Repu-
blik vorstellen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Hat sie doch!)


Dann werden wir Grüne – wie immer – die vorgelegten
Mandate genau und kritisch prüfen. Doch einer Politik,
die planlos die Ausweitung von Militäreinsätzen fordert,
werden wir entschieden entgegentreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, zu einer verantwortungs-
vollen Außen- und Sicherheitspolitik gehört ganz beson-
ders, dass man Konflikte nicht dadurch verschärft, dass
man deutsche Waffen in alle Welt exportiert. Gerade die
Verbreitung von Kleinwaffen sorgt in Afrikas Konflikten
für noch blutigere Gewalt und noch mehr Gräueltaten.
Es muss endlich Schluss sein mit Rüstungsexporten in
Staaten, die in Krisenregionen liegen oder wo Men-
schenrechte mit Füßen getreten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In der Vergangenheit hat die SPD den Merkel-Kurs
bei Rüstungsexporten und auch das zynische Motto da-
hinter – Ertüchtigung statt Einmischung – massiv kriti-
siert. Heute erst beklagte sich Sigmar Gabriel, dass man
sich in den Koalitionsverhandlungen nicht habe durch-
setzen können. Wenn nun alles so weiterlaufen soll wie
bisher, dann ist das, wie ich finde, nicht nur unverant-
wortlich, sondern eine brandgefährliche Strategie. Auch
hier wäre ein Kurswechsel geboten, und zwar ein radika-
ler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin, vielleicht wäre es nicht schlecht, in
den nächsten Wochen ein paar Interviewüberschriften
weniger zu produzieren und noch einmal über die Ideen,
die Ziele, die konkreten Konzepte und eine stimmige
Strategie nachzudenken und zu diskutieren, um dem
selbst gesetzten Anspruch, „Zukunft zu gestalten“, ge-
recht werden zu können und um für eine Politik für mehr
Frieden und mehr Sicherheit einzutreten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801012000

Als nächster Redner hat der Kollege Henning Otte

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Henning Otte (CDU):
Rede ID: ID1801012100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die heutige Regierungserklärung unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat einmal mehr deut-
lich gemacht: Deutschland steht gut da. Wir beschließen
die Dinge, die notwendig sind, damit unser Land auch
weiterhin eine so gute Perspektive hat. Wir sind als Land
bereit, auch zukünftig Verantwortung für eine friedliche
Weltgemeinschaft zu übernehmen, und wenn es sein
muss, auch noch stärker.

Eingebunden in die Vereinten Nationen, eingebunden
in das Bündnis der NATO, eingebunden in einer Ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Eu-
ropa steht Deutschland als verlässlicher Partner zu sei-
nen Verpflichtungen, zu seiner Verantwortung und zu
seinen Interessen und Werten. Dabei darf von uns erwar-
tet werden, dass wir diese Verlässlichkeit und Verant-
wortung mit einer klaren sicherheitsstrategischen Aus-
richtung untermauern und lenken.

Diesen Anspruch haben wir für die Regierung und die
Arbeit der sie tragenden Koalitionsfraktionen in unserem
Koalitionsvertrag mit dem Titel – Frau Brugger hat es
richtig zitiert – „Deutschlands Zukunft gestalten“ auch
für den Bereich der Außen-, der Sicherheits-, der Vertei-
digungs- und der Entwicklungspolitik geltend gemacht.
Das heißt, Deutschland stellt sich seiner internationalen
Verantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktiv
mitgestalten. Dabei lassen wir uns von den Interessen
und Werten unseres Landes leiten.

Deutschland setzt sich weltweit für Frieden, für Frei-
heit, für Sicherheit, für eine gerechte Weltordnung, für
die Durchsetzung der Menschenrechte und die Geltung
des Völkerrechts sowie für nachhaltige Entwicklung und
Armutsbekämpfung ein. Wir stehen bereit, wenn von un-
serem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Kon-
flikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittel
der Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung und
der Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund. Das
ist die Richtschnur unserer Außen- und Sicherheitspoli-
tik. Es ist an der Zeit, damit zu beginnen, dies umzuset-
zen.


(Zuruf von der LINKEN)


Ich danke unserer Bundesministerin für Verteidigung,
Frau Dr. Ursula von der Leyen, für ihre klaren Aussagen
zur sicherheitspolitischen Ausrichtung unserer Streit-
kräfte und für ihre klaren Aussagen zu unserer Verant-
wortungskultur in einer friedlichen Weltgemeinschaft.
Frau Ministerin, Sie haben umfassend und vertieft dar-
gestellt, dass unser Land Verantwortung annimmt und
dass dies zu Recht auch selbstbewusst geschieht, indem
wir uns in den Dienst der Gemeinschaft für Sicherheit,
für Frieden und für Freiheit stellen. Für diesen klaren
Kurs danke ich Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Es ist eben kein Signal der Verlässlichkeit und Verant-
wortung, wenn man beispielsweise Frankreich das Ge-
fühl gibt, man stehe auch militärisch an der Seite dieses
Partners, und man in Deutschland in der Bevölkerung
den Glauben entstehen lässt, man könne sich bei militä-
rischen Fragen auch vornehm zurückhalten. Durch die





Henning Otte


(A) (C)



(D)(B)

Rede unserer Verteidigungsministerin ist deutlich he-
rausgestellt worden, dass es legitim und auch im Inte-
resse unseres Landes ist, zu einer Befriedung in Afrika
einen Beitrag zu leisten; denn dies dient auch dem
Schutz unseres eigenen Landes.

Eine der Lehren aus dem langjährigen Einsatz in Af-
ghanistan sollte sein, dass wir als Politik den Bürgern
zum frühestmöglichen Zeitpunkt klar verdeutlichen, wa-
rum wir Streitkräfte einsetzen und welchen Zweck sie
erreichen sollen. Zusammengefasst gesagt: Es muss Er-
klärungen zum Way in und zum Way out geben.

Zur Wahrheit gehört auch, dass Militär allein natür-
lich keinen Konflikt lösen kann. Meines Erachtens muss
noch stärker herausgestellt werden, dass Diplomatie und
Entwicklungshilfe selbstverständlich zuerst gefragt sind
und erst dann, wenn diese Mittel befristet nicht zur Wir-
kung gelangen, Streitkräfte eingesetzt werden, um Vo-
raussetzungen für eine friedliche Entwicklung zu schaf-
fen. Wenn dann die Bundeswehr gerufen wird, muss sie
sich auf eine breite gesellschaftliche und parlamentari-
sche Unterstützung verlassen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch dies ist eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanis-
tan: Unsere Staatsbürger, auch die in Uniform, haben ei-
nen Anspruch darauf, zu erfahren, welche Beweggründe
uns Politiker leiten und wie die Lage dort ist, wohin un-
sere Soldaten geschickt werden sollen.

Meine Damen und Herren, gerade in Bezug auf
Afrika, welches geografisch wie kulturell noch näher an
Europa liegt als vielleicht Afghanistan, haben wir als
Europa und Deutschland Interessen. Wir können nicht
einerseits bedauern, dass die Menschen nach Europa
flüchten, und andererseits nichts an den Ursachen ändern
wollen. Wer das eine verhindern will, muss bereit sein,
das andere zu machen: den Menschen dort zu helfen, wo
sie ursprünglich angesiedelt sind. Ist dort ein auskömm-
liches Leben möglich, wird es zu keinen Massenfluchten
kommen; denn der Mensch hängt grundsätzlich am Land
seiner Mütter und Väter.

Hier wird deutlich: Durch ein militärisches Vorgehen
allein kann man nicht dauerhaft wirksam Sicherheit und
Ordnung sowie Perspektivhaftigkeit eines Landes her-
stellen. Vielmehr muss der vernetzte sicherheitspoliti-
sche Ansatz als Ganzes herangezogen werden – so wie
es im letzten Weißbuch dargestellt wurde, so wie es auch
in den Verteidigungspolitischen Richtlinien herausge-
stellt wurde und so wie es auch unsere Verteidigungsmi-
nisterin heute gesagt hat.

Klar ist: Deutschland kann das nicht allein leisten und
will das auch nicht. Die globalen Herausforderungen
sind nur in internationaler Zusammenarbeit und durch ei-
nen koordinierten Einsatz aller Instrumente der Außen-,
der Sicherheits-, der Verteidigungs- und der Entwick-
lungspolitik zu bewältigen. Die Koordinierung dieser
Instrumente muss auf europäischer Ebene noch stärker
vorangetrieben werden. Die gemeinsame Linie des
Europäischen Rates zur Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik war ein guter Anfang hierzu. Dieser
vernetzte sicherheitspolitische Ansatz muss weiter unter-
füttert werden.

Für mich als Verteidigungspolitiker der Union steht
fest, dass die Bundeswehr in jeder sicherheitspolitischen
Frage die Befähigung für eine Antwort haben muss. Sie
muss in der Lage sein, der Politik die notwendigen
Handlungsoptionen in der gesamten Bandbreite bereit-
zustellen. Das kann Air MedEvac sein, das können Luft-
transporte sein, das muss aber auch Kampftruppe sein
können.

Damit die Bundeswehr dies alles leisten kann, fußt
die Neuausrichtung der Streitkräfte auf dem Konzept
„Breite vor Tiefe“ und kann mit der Ausrichtung
Deutschlands als Rahmennation weiterentwickelt wer-
den.

Die Idee einer gemeinsamen europäischen Armee ist
dabei gut und das Ziel alle Mühe wert; bis dahin ist es je-
doch noch ein langer Weg. Neben organisatorischen
Hindernissen gibt es ordnungspolitische und verfas-
sungsrechtliche Hindernisse, die aus dem Weg geräumt
werden müssen. Hierzu müssten wir beispielsweise die
Parlamentsbeteiligung anpassen, ohne aber den Parla-
mentsvorbehalt anzutasten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt das eigentlich?)


Denn es ist eine Errungenschaft unserer Demokratie in
Deutschland, dass für eine Entsendung der Bundeswehr
in Einsätze ein Parlamentsvorbehalt gilt. Die Bundes-
wehr ist damit eine Parlamentsarmee. Dies ist eine
Stärke unseres Landes, um die uns andere Länder benei-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Niemand von uns entsendet Soldaten leichtfertig oder
gar leichtherzig in den Einsatz. Der Soldatenberuf ist
kein Beruf wie jeder andere: Soldaten müssen unter Ein-
satz von Leib und Leben kämpfen können. Die Soldaten
unserer Bundeswehr leisten eine hervorragende Arbeit
im In- und Ausland. Sie sind hervorragend ausgebildet.
Sie genießen den Respekt und die Anerkennung unserer
Bündnispartner, an deren Seite sie ihren Dienst leisten.
Sie verdienen die Anerkennung dieses ganzen Hauses.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich fasse zusammen: Verantwortung zu übernehmen
heißt, Verantwortung zu übernehmen. Deutschland hat
einen sicherheitspolitischen Gestaltungsanspruch – in ei-
nem vernetzten Ansatz. Wir haben zur Umsetzung dieser
Ziele eine Bundeswehr als Streitkraft, die im Rahmen
der Neuausrichtung zu einer Einsatzarmee weiterentwi-
ckelt wird. Deutschland ist eingebunden in Europa und
bereit, als berechenbarer und verlässlicher Partner einer
friedlichen Weltgemeinschaft mehr Verantwortung zu
übernehmen – für Sicherheit, für Stabilität, für Frieden
und für Freiheit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1801012200

Als nächster Redner hat der Kollege Tobias Lindner

das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Frau von der Leyen, Sie sind ja die Minis-
terin – ich glaube, das kann man mit Fug und Recht sa-
gen –, die in den wenigen Tagen, seitdem es diese Große
Koalition gibt, mit den meisten Schlagzeilen – Herr
Arnold sprach von Impulsen und großen Linien – in der
Öffentlichkeit wahrgenommen worden ist.

Sie sprachen davon, dass von verstärkten Auslands-
einsätzen der Bundeswehr auszugehen ist. Sie sprachen
davon, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr das beste Material verdient haben. Sie sprachen da-
von, dass man die Vereinbarkeit von Familie und Dienst
verbessern und die Bundeswehr sogar zu einem der at-
traktivsten Arbeitgeber in Deutschland, wenn ich das
richtig im Kopf habe, machen muss.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Richtig!)


Sie werden sich in Ihrer Amtszeit natürlich schon
bald, nämlich dann, wenn Ihre ersten 100 Tage im Amt
abgelaufen sind, daran messen lassen müssen, welche
konkreten Maßnahmen daraus folgen. Ich will das nur an
einem Beispiel, und zwar an der Vereinbarkeit von Fa-
milie und Dienst, deutlich machen.

Im Handbuch zur Vereinbarkeit von Familie und
Dienst in den Streitkräften sind 82 Maßnahmen be-
schrieben. Sie werden sagen müssen, Frau Ministerin,
was Sie denn mehr tun wollen, als diese 82 Maßnahmen
zu ergreifen, und an welchen Stellen, an denen diese
Maßnahmen noch nicht gegriffen haben, Sie wie nach-
steuern wollen, damit sich die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst tatsächlich erhöht.

Liebe Frau von der Leyen, Sie werden natürlich auch
sagen müssen, wie das alles finanziert werden soll; denn
wir glauben Ihnen nicht, dass das ohne zusätzliche Kos-
ten geht. Zumindest wird man im Einzelplan des Bun-
desministeriums der Verteidigung aufzeigen müssen, wo
das Geld hierfür herkommen soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Ministerin, ich würde mir schon wünschen,
dass Sie auch dazu ein paar Worte verlieren.

Karl-Theodor zu Guttenberg hat Thomas de Maizière
das Haus mitten in einer Bundeswehrreform übergeben,
die – ich zitiere Herrn zu Guttenberg – in vier Jahren ein
Konsolidierungspotenzial von 8,3 Milliarden Euro er-
wirtschaften sollte. Wir reden über den zweitgrößten
Etat im Bundeshaushalt. Wir geben momentan mehr
Geld für Verteidigung als für Zinszahlungen für die
Schulden des Bundes aus.

Thomas de Maizière hat Ihnen ein Haus übergeben,
das nicht nur Lehren aus dem Drohnendesaster des letz-
ten Sommers ziehen sollte, sondern das auch noch ganz
andere Baustellen hat, wie zum Beispiel den fragwürdi-
gen Deal über einen Marinehubschrauber, bei dem man
schon fragen muss, ob die Marine dieses Modell über-
haupt will – von Verzögerungen und Kostensteigerungen
beim A400M ganz zu schweigen.

Liebe Frau von der Leyen, hier werden Sie gefordert
sein, nicht nur, um die Fehler an den konkreten Projek-
ten zu beheben, sondern auch, um an das große Thema
Beschaffungsprozess heranzugehen, wo wirklich Stell-
schrauben verändert werden müssen. Aber auch der In-
formationsfluss in Richtung des Parlaments und der
Fachausschüsse – ich will hier nur an den Koalitionsver-
trag erinnern – muss dringend verbessert werden; denn
wir können es uns in Zeiten knapper werdender Gelder
– das haben Sie ja selbst gesagt – gar nicht erlauben,
dass noch mehr Steuergelder in fragwürdige Projekte bei
der Bundeswehr investiert werden, wenn wir wirklich
die beste Ausstattung für unsere Soldatinnen und Solda-
ten wollen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801012300

Als Nächster gebe ich Frau Kollegin Gabi Weber von

der SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gabi Weber (SPD):
Rede ID: ID1801012400

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich

sende zunächst dem Luftwaffengeschwader 33 in Rhein-
land-Pfalz, meinem Heimatland, herzliche Grüße und
spreche sowohl den Kameraden, die bei einem Verkehrs-
unfall schwer verletzt wurden, als auch den beiden ver-
unglückten Tornadopiloten meine Genesungswünsche
aus. Ich gehe davon aus, das tue ich auch in Ihrem Na-
men.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Jutta Krellmann [DIE LINKE])


Meine Damen und Herren, ich ergänze die heute hier
schon gesetzten Impulse um einige wenige, für uns je-
doch wesentliche Schwerpunkte:

Durch die Bundeswehrreform haben wir Strukturen in
den Dienststellen geschaffen, die dazu führen, dass wir
– mit wenigen Ausnahmen – keine rein militärischen
und keine rein zivilen Dienststellen mehr haben. Die
Leitung dieser Stellen wechselt mittlerweile häufig zwi-
schen Soldaten und Zivilangestellten. Dennoch gelten
für die beiden Gruppen unterschiedliche Beteiligungs-
rechte beim sogenannten Grundbetrieb in Deutschland.

Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, diese Un-
gleichheit zu beenden und für den Grundbetrieb die Re-
gelungen anzupassen. Es muss für beide Gruppen – mili-
tärische und zivile Beschäftigte der Bundeswehr – die
gleichen Beteiligungsrechte geben.


(Beifall bei der SPD)






Gabi Weber


(A) (C)



(D)(B)

Für diskussionswürdig halten wir die Auslagerung
des Travel Managements. Dieses Vorhaben resultiert aus
der Planung, die Zahl der Zivilbeschäftigten auf 55 000
zu reduzieren. Wir sind uns sicher, dass diese Zahl von
55 000 einer Überprüfung mit Blick auf die Dienstpos-
ten, die für den Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Bundes-
wehr notwendig sind, nicht standhält.

Außerdem müssen wir schon jetzt erkennen, dass die
Auslagerung der Personalabrechnung, die bedauerlicher-
weise bereits umgesetzt ist, große Probleme schafft. Ins-
besondere die Übertragung der Beihilfeabrechnung an
das Bundesministerium der Finanzen hat dazu geführt,
dass sich Beihilfebearbeitungszeiten um ein Vielfaches
verlängern und manche Beschäftigte bis zu zwölf Mo-
nate auf ihr Geld warten müssen. Ich kann mir gut vor-
stellen, in welch missliche Lage unsere Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter dadurch gebracht wurden. Soldaten
mussten die Krankheitskosten ihrer Angehörigen, die
zum Beispiel durch OPs schnell in die Zehntausende ge-
hen können, vorstrecken. Zahlungsziel jedoch – da sind
Ärzte und Kliniken knallhart – ist vier Wochen. Mittler-
weile ist man dazu übergegangen, Abschlagszahlungen
vorzunehmen, die diesen Missstand jedoch lediglich ka-
schieren. Das darf so einfach nicht sein.


(Beifall bei der SPD)


Solche Umstände, Frau Ministerin, schaden dem Anse-
hen der Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber massiv.
In der freien Wirtschaft wäre das so nicht möglich.

Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
uns beim Travel Management aus den Problemen bei der
Verlagerung der Beihilfeabrechnung lernen. Wir müssen
uns damit im Ausschuss noch einmal ernsthaft beschäfti-
gen.

Wir halten es schlicht für nicht machbar, die Reisepla-
nung weiter bei der Bundeswehr zu belassen, aber wie
bei dem anderen Fall die Abrechnung beim Bundes-
finanzministerium anzusiedeln. In der Praxis würde das
bedeuten, dass Planungen vier bis sechs Wochen vor
Reisebeginn abgeschlossen und der Abrechnungsstelle
zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Das ent-
behrt jeder Lebenserfahrung. Außerdem fehlt nicht nur
mir jede Fantasie, wie dann kurzfristig Aktion und Re-
aktion auf nicht beeinflussbare Geschehnisse möglich
sein sollen. Für mich gehört dieser Aspekt auch zu der
von der Ministerin zu Recht angesprochenen Fürsorge
und Betreuung unserer Beschäftigten.

Wir sollten die Bundesregierung dabei unterstützen,
wenn sie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik der EU, GSVP, in dieser Wahlperiode zu ei-
nem Schwerpunkt ihrer Arbeit macht. Die Wirtschafts-
krise hat die Bemühungen zur GSVP in den EU-Staaten
ins Stocken gebracht. Wir haben im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass wir einen immer engeren Bund der
europäischen Streitkräfte anstreben, und haben das sehr
ambitionierte Ziel einer parlamentarisch kontrollierten
europäischen Armee formuliert. Liebe Frau Ministerin,
wir freuen uns, dass Sie diese Absicht nochmals aus-
drücklich bestätigt haben. – Ich bin etwas aufgeregt, das
ist meine erste Rede.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Europa ist eine wertegebundene und von gemeinsamer
Verantwortung getragene Friedensmacht. Europa schafft
Stabilität, die über seine Grenzen hinaus ausstrahlt. Um-
gekehrt wirken sich jedoch Konflikte in unserer unmittel-
baren Nachbarschaft auch auf die Sicherheit und Stabilität
Europas aus. Das beste und auch schlimmste Beispiel er-
leben wir gerade in Osteuropa. Die Ukraine mit ihren
derzeit völlig chaotischen Zuständen ist gerade einmal
so weit von der deutschen Grenze entfernt wie Hamburg
von München. Daher müssen wir wirksame Antworten
auf diese Herausforderungen geben.

Eine europäische Verständigung bei der strategischen
Ausrichtung der EU halten wir daher für dringend erfor-
derlich. Aber es ist kein Geheimnis, dass sich die EU
derzeit sehr schwertut, bei der Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik gemeinsam vorzugehen. Der europäischen
Sicherheitsstrategie von 2003 fehlt die institutionelle
Umsetzung, aber auch die Bereitschaft einiger Mitglied-
staaten, entsprechende Fähigkeiten vorzuhalten.

Mittlerweile erleben wir bilaterale Vereinbarungen
Frankreichs und Großbritanniens, aber auch die Überle-
gungen der skandinavischen Staaten zur Bildung einer
nordischen Allianz. Dies sind in unseren Augen die Fol-
gen dieser ins Stocken geratenen gemeinsamen europäi-
schen Sicherheitspolitik. Wir sollten daher mit unseren
Freunden aus Frankreich und Polen die Initiative ergrei-
fen und auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle einnehmen
und gemeinsam das Projekt einer europäischen Integra-
tion von Sicherheit und Verteidigung voranbringen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns da-
bei keine Denkverbote auferlegen. Die Wirtschaftskrise
in vielen Staaten Europas können wir auch als Chance
verstehen, um neue Impulse zu setzen, und, wie Frau
Ministerin es bereits angesprochen hat, durch Pooling,
Sharing und die Spezialisierung auf bestimmte militäri-
sche Fähigkeiten deutliche Synergieeffekte zu erzielen.

Daher ist die Neufassung der von mir angesprochenen
Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 als verbindliche
staatliche Ausrichtung voranzutreiben. Das funktioniert
aber nur – auch das ist schon angesprochen worden –,
wenn vorher vernünftige Analysen vorliegen, in denen
die vorhandenen Schwachstellen beschrieben werden.

Für mich selbstverständlich ist bei all diesen von mir
aufgezählten Punkten, dass die Einhaltung der parlamen-
tarischen Beteiligungsrechte auch bei Teilnahme euro-
päischer Kontingente an von den Vereinten Nationen
mandatierten Einsätzen gewährleistet sein muss.

Eigentlich wollte ich noch einige diskussionswürdige
Aspekte zur Evaluierung der Bundeswehrreform anfü-
gen. In Anbetracht meiner schon abgelaufenen Redezeit
muss ich das allerdings auf eine spätere Rede verschie-
ben.

In diesem Sinne: Es gibt für uns viel zu tun. Wir ha-
ben arbeitsreiche Jahre vor uns. Ich freue mich auf die
Zusammenarbeit mit Ihnen in diesem Haus und danke





Gabi Weber


(A) (C)



(D)(B)

für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde. Sie ha-
ben es mir leichtgemacht, meine erste Rede zu halten,
vor der ich zugegebenermaßen riesigen Respekt hatte.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801012500

Liebe Frau Kollegin Weber, das Präsidium gratuliert

Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten
Rede. Sie war engagiert, und Sie haben die Zeit leicht
überzogen. Das haben wir aber als Gabe an Ihre erste
Rede akzeptiert.

Was die späte Stunde angeht, werden Sie im Laufe
der Zeit erleben: Es gibt auch noch spätere Stunden in
diesem Hause.


(Heiterkeit)


Wir haben auch schon erlebt, dass wir Mitternacht hinter
uns gelassen haben. Jetzt ist es 19.10 Uhr. Ich finde, das
geht gerade noch.

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das
Wort Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1801012600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Charakter unserer Armee, der Bundes-
wehr, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verän-
dert. Während wir früher noch darüber gesprochen ha-
ben, dass wir kämpfen können müssen, um nicht
kämpfen zu müssen, sprechen wir heute von einer Ar-
mee im Einsatz. Die Aufgaben und Anforderungen ha-
ben sich entsprechend geändert. Gleichzeitig hat sich die
Verfügbarkeit von Ressourcen mit Blick auf die Demo-
grafie und die begrenzten Haushaltsmittel deutlich ver-
ringert.

Wir sind diesen Veränderungen nachgekommen. Wir
haben gerade auch für die Truppen im Einsatz in den
letzten Jahren bei den Themen Ausbildung und Ausrüs-
tung massiv zugelegt und Verbesserungen erzielt, und
wir haben eine Bundeswehrreform auf den Weg ge-
bracht, um dieser Neuausrichtung auch organisatorisch
gerecht zu werden.

Ich finde es gut – das ist ein guter Start für diese Ko-
alition –, dass wir in unserem Koalitionsvertrag verein-
bart haben, dass wir die Neuausrichtung konsequent
fortsetzen und zum Erfolg führen wollen. Das heißt, die
Reform wird vollständig umgesetzt. Es heißt auch, dass
es keine Reform der Reform gibt. Das ist wichtig; denn
unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen genauso Pla-
nungssicherheit wie auch das zivile Personal.

Nichtsdestotrotz, auch wenn wir bei der Grundaus-
richtung bleiben, wird es natürlich auch Gelegenheit ge-
ben, zu optimieren. Das müssen wir auch. Wo es bei-
spielsweise Handlungsbedarf gibt, zeigt der Bericht des
Wehrbeauftragten. Er hat einige Themen angeführt, die
auch unsere Ministerin schon aufgegriffen hat, beispiels-
weise die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier gibt
es einiges zu tun, auch wenn der Beruf des Soldaten kein
Beruf wie jeder andere und nicht mit zivilen Berufen
vergleichbar ist.

Kolleginnen und Kollegen, die Welt ändert sich. Die
globalen Machtverhältnisse ändern sich massiv. Das hat
Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Ich glaube,
es ist kein Geheimnis – viele Kolleginnen und Kollegen
und auch Sie, Frau Ministerin, haben es heute gesagt –:
Wir müssen in Europa – und Deutschland mit vorneweg –
mehr Verantwortung übernehmen. Auch wenn unsere
subjektive Wahrnehmung, umringt von Freunden, manch-
mal eine andere ist, so ist es doch so, dass Deutschland
weiterhin bedroht ist und dass vor allem auch unsere
Hilfe gefordert wird.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801012700

Herr Kollege.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1801012800

Bitte?


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801012900

Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Las-

sen Sie sie zu?


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1801013000

Bitte schön, Frau Kollegin.


Doris Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801013100

Herr Kollege Hahn, vielen Dank, dass Sie mir die Ge-

legenheit geben, eine Frage zu einem Punkt zu stellen,
der noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Sie haben
gerade von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und
der Attraktivität der Bundeswehr gesprochen. Ein Punkt
ist heute Abend noch gar nicht zur Sprache gekommen,
nämlich die Studie „Truppenbild mit Dame“, die wir
kürzlich zur Kenntnis nehmen konnten und die mich,
ehrlich gesagt, einigermaßen überrascht hat. Zehn Jahre
nach Öffnung der Bundeswehr für Frauen ist die Situa-
tion im Laufe der Jahre nicht etwa besser geworden.
Vielmehr ist in dieser Studie zu lesen, dass die Akzep-
tanz von Frauen deutlich abgenommen hat. Außerdem
hat diese Studie aufgezeigt, dass sexuelle Belästigung
durchaus ein gravierendes Problem darstellt und dass es
fraglich ist, ob die Strukturen geeignet sind, diesem Pro-
blem effektiv zu begegnen.

Ich möchte Sie Folgendes fragen, Herr Kollege: Wel-
che konkreten Maßnahmen könnte man ergreifen, um
die Akzeptanz von Frauen in der Bundeswehr zu erhö-
hen, und wie könnte man sexueller Belästigung begeg-
nen?

Vielen Dank.


Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1801013200

Frau Kollegin, ich darf Sie da ein bisschen korrigie-

ren. Gerade unsere Ministerin, Frau von der Leyen, hat
in ihren Ausführungen zu diesem Thema gesprochen





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)

und darauf hingewiesen, dass hier noch viel getan wer-
den muss. Da gibt es nichts zu diskutieren. Es ist nicht
erfreulich. Sexuelle Belästigung ist, egal ob im militäri-
schen oder zivilen Bereich, nicht hinnehmbar. Hier müs-
sen Maßnahmen ergriffen werden. Offen gesagt, bin ich
kein Fachmann für diesen Bereich. Daher kann ich Ihnen
nicht die nächsten Handlungsmaßnahmen nennen. Aber
eines ist ganz klar – das macht auch die Tatsache deut-
lich, dass diese Studie jetzt veröffentlicht wurde –: Wir
alle und insbesondere Frau von der Leyen nehmen dieses
Thema sehr ernst. Wir müssen darauf entsprechend re-
agieren.

Ich habe vorhin von den Bedrohungen gesprochen,
denen Deutschland gegenübersteht. Es gibt nicht nur Be-
drohungen aus dem terroristischen Bereich, sondern
auch Bedrohungen durch technologischen Fortschritt. So
hat sich beispielsweise die Reichweite von Trägersyste-
men deutlich erhöht. Zudem macht sich Instabilität in
Konfliktregionen breit. Das alles betrifft uns direkt, und
darauf müssen wir auch reagieren können. Deshalb brau-
chen wir zunehmend Absprachen mit den europäischen
Partnern; das wurde schon von einigen Kolleginnen und
Kollegen gesagt. Es ist daher richtig, dass wir im Koali-
tionsvertrag eine Stärkung der Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik der EU festgeschrieben
haben. Aber so etwas lässt sich nicht von heute auf mor-
gen erzwingen. Wir brauchen aus meiner Sicht konkrete
Projekte, damit so etwas in Europa natürlich wachsen
kann. Ich nenne ein paar Stichworte: Wir müssen die eu-
ropäischen Transportkapazitäten weiter ausbauen. Wir
brauchen eine gemeinsame Luftraumüberwachung. Als
weiteres Stichwort nenne ich die europäische Raketen-
abwehr. Wir müssen uns zudem darüber einig sein, wel-
che technologischen Fähigkeiten wir in Europa unabhän-
gig von Dritten haben wollen. Natürlich brauchen solche
Projekte Zeit.

Gleichzeitig werden wir mit aktuellen Ereignissen
konfrontiert, die eventuell unser gemeinsames Handeln
erfordern, wie die aktuelle Situation in Afrika. Natürlich
wollen wir unserem Bündnispartner zur Seite stehen.
Natürlich wollen wir den betroffenen Menschen, die in
Not sind, helfen. Aber wir dürfen auch nichts überstür-
zen. Für zukünftige Mandate – das lehrt uns die Erfahrung
aus den aktuellen bzw. den vergangenen Einsätzen – brau-
chen wir nicht nur militärische Konzepte, sondern auch
Konzepte, die die zivile Hilfe und die Einbeziehung re-
gionaler Akteure beinhalten. Ich bin froh, dass Sie, liebe
Frau Ministerin, das heute noch einmal betont haben. Zu
einem Konzept gehören aber auch Antworten auf fol-
gende Fragen: Wie ist die Lage vor Ort? Welche Ziele
wollen wir warum und mit welchen Mitteln verfolgen?
Wie stellt sich der zeitliche Umfang eines möglichen En-
gagements dar? Wie sieht eine Exitstrategie aus? Und
welchen Gefahren setzen wir unsere Streitkräfte aus?
Auf die Beratungen dieser Fragen in den nächsten Sit-
zungswochen freue ich mich.

Ich möchte mein Augenmerk noch auf das Ansehen
unserer Soldatinnen und Soldaten richten. Unsere Solda-
tinnen und Soldaten leisten in den Einsätzen und daheim
hervorragende Arbeit. Sie genießen hohes Ansehen in
den Einsatzgebieten und bei unseren Verbündeten. Ich
wünsche mir aber manchmal im Inland, in Deutschland,
noch mehr Wertschätzung und Respekt für die Arbeit der
Bundeswehrangehörigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Lassen Sie mich zum Schluss noch auf die Reden der
Fraktion Die Linke zu sprechen kommen. Herr Neu, ich
muss ganz ehrlich sagen: Sie haben heute einmal mehr
deutlich gemacht, dass Sie mit Ihren Dogmen im Be-
reich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht re-
gierungsfähig sind. Das macht mich jetzt nicht unbe-
dingt traurig. Auch das sage ich Ihnen ganz ehrlich.

Wir brauchen die Bundeswehr für unsere Sicherheit
und zum Schutz unserer Interessen. Wir werden daher
die Arbeit der Bundeswehr auch in der kommenden Le-
gislatur unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801013300

Weitere Wortmeldungen zum Thema Verteidigung

liegen nicht vor.

Ich rufe damit den Bereich Wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung auf.

Das Wort hat Bundesminister Dr. Gerd Müller.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen.
Über 4 Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Mensch-
heit im 19. Jahrhundert die Schwelle der ersten Milliarde
durchbrach. Heute wächst die Weltbevölkerung täglich
um 230 000 Menschen – das sind 80 Millionen Men-
schen im Jahr, einmal die Einwohnerzahl von Deutsch-
land – auf 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050. Die
Bevölkerung in Afrika wird sich in diesem Zeitraum ver-
doppeln. Ein Staat wie Nigeria, der noch überhaupt nicht
in unserem Blickfeld ist, wird dann 500 Millionen Ein-
wohner haben.

Seit meiner Geburt 1955 hat sich die Weltbevölke-
rung verdoppelt. Wir haben in diesem Zeitraum aber
auch eine Verdreifachung des Wasserverbrauchs, eine
Vervierfachung des CO2-Ausstoßes und eine Versieben-
fachung der Produktion der Weltwirtschaft zu verzeich-
nen. Würden alle Menschen heute auf der Erde auf dem
Konsumniveau von uns Deutschen und Europäern leben,
dann brauchten wir drei Planeten; denn die Menschen
hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck.
So stellt sich für uns natürlich auch die Frage nach den
Grenzen dieses Wachstums. Unter diesem Gesichtspunkt
globaler Herausforderungen ist die Entwicklungspolitik,
der Sie, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, sich seit vielen Jahren – die allermeisten
in diesem Raum mit so viel Idealismus – widmen, nicht
Nischenpolitik, weil der Tagesordnungspunkt heute um
halb acht aufgerufen wird, sondern sie steht im Zentrum





Bundesminister Dr. Gerd Müller


(A) (C)



(D)(B)

der Politik; sie ist Zukunftspolitik, Friedenspolitik, sie ist
Innenpolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])


Auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben, haben
diese Entwicklungen gewaltige Rückwirkungen auch auf
uns in Deutschland. Wir stehen für eine werteorientierte
Entwicklungspolitik, und das aus ethisch-moralischer
Verpflichtung, aus globaler Verantwortung heraus, aber
auch aus nationalem Interesse. Uns allen ist klar: Die
Menschheit überlebt nur dann in Würde, wenn wir die
Schöpfung erhalten und uns an global geltenden Grund-
werten orientieren, eine humane und gerechte Weltord-
nung schaffen, die Lebensperspektive für alle schafft.
An dieser Stelle sind wir uns einig, dass wir nicht busi-
ness as usual, einfach so weitermachen können; wir
brauchen vielmehr einen Paradigmenwechsel, im Den-
ken und im Handeln, national, europäisch und internatio-
nal.

Es ist ganz klar: Niemand in der Welt – schon aus hu-
manitären Gründen – darf zurückgelassen werden. Ein
Ende der Armut und des Hungers, von Krankheit und
Seuchen ist möglich. Dennoch lassen wir es zu, dass na-
hezu 1 Milliarde Menschen unterernährt ist, hungert und
täglich 20 000 bis 30 000 Kinder sterben, während wir,
1 Milliarde Menschen auf der Sonnenseite des Lebens,
mit Übergewicht und Fettleibigkeit kämpfen. Das ist
nicht hinnehmbar. Hier müssen wir handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu brauchen wir ein neues Denken, ein neues Han-
deln von Staat und Gesellschaft, aber auch von jedem
Einzelnen. Nachhaltigkeit muss das Prinzip allen Tuns
und aller Entwicklung sein. Deshalb müssen wir die
Globalisierung so gestalten, dass sie den Menschen dient
und nicht ausschließlich den Märkten und der Wirt-
schaft.


(Beifall im ganzen Hause – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sagen Sie das einmal der Kanzlerin!)


Nicht der freie Markt ohne jegliche Kontrolle ist un-
ser Leitbild, sondern eine ökologisch-soziale Marktwirt-
schaft. Der Markt braucht Grenzen. Wir haben eine Vor-
lage für ein wirtschaftlich verträgliches System. Im
ökologischen Sinne müssen wir unser Konsumverhalten
verändern, den Wachstumsbegriff qualitativ neu definie-
ren. Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“ des Bundestages hat dazu vor einem
Jahr eine hervorragende Vorlage geliefert, die wir nur
aufzugreifen haben.

Wir müssen die Ressourcen effizienter nutzen, etwa
mit dem Faktor fünf oder mit dem Faktor zehn. Wir müs-
sen also mit weniger Einsatz mehr produzieren. Das ist
möglich, und das zeigt auch auf, dass die Probleme lös-
bar sind. Ökologische und soziale Standards müssen
Eingang in die Finanz- und in die Wirtschaftswelt fin-
den, in internationale Handelsabkommen und in globale
Handelsströme. Ich denke an Doha. Hier müssen wir
Deutsche, hier müssen wir Europäer ein Stück weit
Maßstäbe setzen und Vorreiter sein.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man es will, kann man mit anderen zusammen
auch etwas bewegen. Wir können einiges bewegen. Wir
haben in meiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekre-
tär im Agrarministerium beispielsweise das Thema „Be-
grenzung und Verbot der Lebensmittelspekulationen“ in
den G-20-Gipfel eingebracht. Ein Anfang ist gemacht.
Wir müssen auch bei anderen Themen vorangehen. Ich
habe mich heute mit der niederländischen Ministerin für
Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit über
die Situation der Textilwirtschaft, beispielsweise in Ban-
gladesch, unterhalten. Es ist absolut nicht hinnehmbar,
dass dort Näherinnen für 5 Cent in der Stunde 90 Stun-
den die Woche Jeans nähen, damit wir für 9,90 Euro eine
Jeans kaufen können.


(Beifall im ganzen Hause)


An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass jeder von
uns aufgefordert ist, zu handeln. Auch der Konsument,
der Verbraucher, kann durch nachhaltiges Handeln Zei-
chen setzen. Wir müssen als reiche Industrienationen da-
bei wesentlich stärker unserer Verantwortung gerecht
werden. Europa, die USA und Japan, 20 Prozent der
Weltbevölkerung, beanspruchen 80 Prozent des Reich-
tums und hinterlassen zwei Drittel der Umwelt- und Kli-
maschäden. Hier sind ein Umdenken und ein Umsteuern
angesagt.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich werde zusammen mit Ihnen, den engagierten Par-
lamentarierinnen und Parlamentariern, die auch in der
Vergangenheit immer wieder auf diese Themen auf-
merksam gemacht haben, jetzt unter Beteiligung aller in
der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit Interes-
sierten einen Diskussionsprozess einleiten. Wir wollen
in diesem Jahr eine nationale Zukunftscharta nach dem
Motto „Eine Welt – unsere Verantwortung“ entwickeln,
die am Ende des Jahres in einen großen Eine-Welt-Kon-
gress münden soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir bereiten damit ein neues globales Zielsystem für
nachhaltige Entwicklung nach 2015, den Post-2015-Pro-
zess – die Neudefinition der Millenniumsziele –, vor.
Deutschland kann und muss hier eine starke inhaltliche
Vorgabe machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses, die Sie kämpfen, die Sie die letzten Jahre
auch um politische Reputation gekämpft haben, es zeigt,
dass wir weit vorangekommen sind. Unser Ministerium
bekommt morgen Besuch von Ban Ki-moon. Mit ihm
starten wir diesen Prozess und leiten wir die Diskussion
dieses globalen Zielsystems ein. Das BMZ ist auch und
gerade das Ministerium für globale Entwicklungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Bundesminister Dr. Gerd Müller


(A) (C)



(D)(B)

Die Koalition verstärkt die Mittel für die Entwick-
lungszusammenarbeit.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht genug!)


Natürlich hätten wir uns gewünscht, Herr Raabe, dass es
mehr als 2 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre
wären. Aber: Die Notwendigkeit dieser Mittel ist bei den
Spitzen der Fraktionen angekommen. Ich bedanke mich
bei der Kanzlerin, beim Vizekanzler, bei Herrn Gabriel.
Wir haben einen großen Konsens. Es ist eine große
Chance, dass wir diese Themen, diese Herausforderun-
gen nicht im kleinen innerparteilichen Streit diskutieren
müssen, sondern dass wir uns im Großen und Ganzen ei-
nig sind, dass wir etwas bewegen und nach vorne kom-
men wollen. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als neuer Bundesminister mache ich mich mit großer
Freude an die Arbeit. Ich fühle und finde viel Idealismus
und Unterstützung bei Ihnen. Das gibt mir auch die
Kraft, neue konkrete Akzente und Ansatzpunkte zu fin-
den. Neue Schwerpunkte werden wir in den nächsten
Monaten im Ausschuss miteinander entwickeln. Mit
meinen beiden Staatssekretären Joachim Fuchtel und
Christian Schmidt haben wir eine Verstärkung bekom-
men. Sie sind gewichtige politische Akteure an meiner
Seite, profilierte Außenpolitiker und Entwicklungspoliti-
ker.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Thema Nummer eins, meine Damen und Herren, ist
die Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist kein Ni-
schenthema, wie ich gesagt habe, und deshalb müssen
wir Wirtschaft, Gesellschaft, Kirchen, Medien und Poli-
tik mitnehmen.

Die größte Ungerechtigkeit sind die absolute Armut
und der Hunger. Deshalb werden wir unsere Anstren-
gungen hier weiter verstärken und besonders in Afrika
investieren – die Frau Verteidigungsministerin ist weg –;
wir werden unsere Anstrengungen mit einer Sonderini-
tiative für eine Welt ohne Hunger verstärken und in
Mali, in Zentralafrika einen Schwerpunkt setzen. Ich be-
absichtige, mit jährlich 1 Milliarde Euro gezielt die länd-
liche Entwicklung voranzubringen. Wir streben den Auf-
bau von zehn grünen Wertschöpfungszentren in Afrika
an. Unser Leitbild sind nicht Agrofabriken, sondern leis-
tungsfähige bäuerliche Betriebe, die die lokale Ernäh-
rung sichern und die Wertschöpfung im Lande belassen.
Wir sind davon überzeugt: Afrika kann sich selbst ernäh-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben das Wissen, das Können. Wir müssen in
Partnerschaft diesen Transfer leisten; dann ist Afrika sel-
ber imstande, sich zu ernähren. Viele Länder Afrikas
können mit diesem Know-how, mit unserer Hilfe die
Produktivität verdoppeln, verdreifachen. Wir haben sol-
che Erfahrungen in Äthiopien und in vielen anderen
Staaten bereits gemacht. Also machen wir uns auf, die-
sen Schwerpunkt zu setzen.

Dazu gehört Bildung. Bildung ist für uns der Schlüs-
sel für eine bessere Zukunft. Bildung ist die Grundlage
jeglicher Veränderung. Deshalb werden wir hier einen
weiteren Schwerpunkt setzen und gezielt Haushaltsmit-
tel zur Stärkung der Grundbildung und zum Aufbau be-
ruflicher Ausbildungszentren, aber auch für die tertiäre
Bildung einsetzen. Wir werden diese Haushaltsmittel auf
mindestens 400 Millionen Euro jährlich erhöhen und
dazu auch eine Afrika-Initiative starten. Ich habe mich
gestern mit der Präsidentin des DAAD getroffen. Wir
haben vereinbart, den jetzt schon erfolgreichen Aus-
tausch von Studenten und Professoren zwischen
Deutschland und Afrika zu verdoppeln. 1 000 neue Aus-
tauschplätze für afrikanische Studenten in Deutschland
sind das Ziel.

Afrika bleibt unser regionaler Schwerpunkt. Ich sage:
Trotz aller Probleme ist Afrika der Chancenkontinent.
Deshalb arbeiten wir an einem neuen entwicklungspoli-
tischen Afrika-Konzept. Ich lade insbesondere die deut-
sche Wirtschaft ein, in Partnerschaft mit uns die Chan-
cen zu nutzen.

Ein schwieriges, aber drängendes Thema ist das
Flüchtlingsthema. Wir brauchen ein europäisch abge-
stimmtes Flüchtlingskonzept. Meine Damen und Herren,
Lampedusa wird es hundertmal geben, wird es tausend-
mal geben. Es genügt nicht, dass wir im Mittelmeerraum
die Zäune und die Polizeipräsenz verstärken; wir müssen
Lebensperspektiven für die Menschen vor Ort schaffen.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir müssen eine Antwort geben. Frau Roth war gerade
unterwegs in Jordanien und im Libanon, wo 3 bis 4 Mil-
lionen syrische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, in Not-
unterkünften leben und humanitäre Hilfe, das tägliche
Essen erhalten. Aber wir brauchen eine Antwort auf die
Frage der Reintegration, wo es darum geht, diese Men-
schen wieder in ihre Heimat zurückzuführen. Ich sage
auch mit Blick auf die Diskussion in Deutschland: Die
syrischen Flüchtlinge, aber auch die Flüchtlinge an an-
deren Orten in der Welt wollen nicht hierherkommen; sie
wollen Heimat und Zukunft, Frieden und Stabilität zu
Hause, und dazu müssen und werden wir beitragen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dies gilt auch für Afghanistan. Ich kann das Thema
heute nicht weiter vertiefen. Es geht auch dort um die
Frage einer echten Entwicklungsperspektive. Der Abzug
der ISAF-Soldaten, Herr Staatssekretär, ist nur die eine
Seite. Wenn wir nach zwölf Jahren herausgehen, brau-
chen wir zur Stabilisierung Investitionen und eine Stär-
kung der zivilen Infrastruktur, wenn wir nicht innerhalb
von fünf Jahren erleben wollen, dass der militärische
Einsatz der ISAF-Truppen erfolglos war, weil das Land
im Chaos versinkt. Das wollen wir nicht, deshalb müs-
sen wir die zivilen Strukturen stärken.

Der Klimaschutz bleibt Eckpfeiler der Entwicklungs-
politik; das ist ganz natürlich. Die Aufgabe, vor der wir





Bundesminister Dr. Gerd Müller


(A) (C)



(D)(B)

stehen, ist, ein rechtsverbindliches Klimarahmenabkom-
men im Jahr 2015 abzuschließen. Dieser eine Satz be-
inhaltet eine große Ankündigung. Es ist nämlich eine
riesige Aufgabe, zu einem rechtsverbindlichen Klima-
rahmenabkommen im Jahr 2015 zu kommen.

Meine Damen und Herren, unser Einsatz gilt der För-
derung von Demokratie, Menschenrechten, Gleichbe-
rechtigung, Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungs-
führung. Wirksame Entwicklungszusammenarbeit hat
dies natürlich auch zum Ziel und zur Grundlage. Deswe-
gen werden wir uns verstärkt auf Aufbauleistungen ins-
besondere im Mittelmeerraum konzentrieren und dabei
die so wertvolle Arbeit unserer politischen Stiftungen
fördern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vieles ist zu tun, und viele sind unterwegs. Zum
Schluss möchte ich unseren vielen Tausend Entwick-
lungshelfern und -experten in der Welt – Soldaten leisten
ihren wertvollen, herausragenden Dienst, aber auch Tau-
sende von Entwicklungshelfer – für ihren unermüdli-
chen und auch gefährlichen Dienst danken. Sie verdie-
nen, dass ihnen unsere ganz besondere Wertschätzung
gilt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Unsere Entwicklungshelfer sind Botschafter Deutsch-
lands im besten Sinne: Botschafter für den Frieden in der
Welt. Sie stehen für unsere Kultur, für Gerechtigkeit,
Frieden, Demokratie und Zukunft. Wir im Deutschen
Bundestag stehen fraktionsübergreifend hinter ihnen.
Wir alle kämpfen für eine gerechte Welt, für eine bessere
Zukunft und den Erhalt unserer Schöpfung. Mit ihnen
zusammen gehen wir an die Arbeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801013400

Als nächste Rednerin hat das Wort Kollegin Heike

Hänsel, Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801013500

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Müller,
Sie schlagen neue Töne in der Entwicklungspolitik an,
auch im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger. Ich muss sagen:
Dies begrüßen wir ausdrücklich hier in der entwick-
lungspolitischen Debatte.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt – das haben wir auch schon heute Morgen im
Ausschuss gesagt – zahlreiche Ideen von Ihnen, von de-
nen auch wir einige unterstützen. Die Frage der Wert-
schöpfung in den Ländern des Südens ist eine der ent-
scheidenden Fragen für Entwicklung. Ebenso stimmt es,
dass es um Veränderungen hier im Norden gehen muss.
All das sind Ansätze, die wir unterstützen. Da werden
wir Ihre Vorstellungen sicherlich kritisch-konstruktiv be-
gleiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin aber nicht erst jetzt zu dieser Debatte gekom-
men, sondern sitze hier seit heute Morgen und habe eine
Regierungserklärung nach der anderen gehört. Da gab es
auch andere Töne. Wenn ich mir Kanzlerin Merkel in Er-
innerung rufe,


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Gute Kanzlerin!)


so war für mich ihre Hauptbotschaft: Wir sind besser aus
der Krise herausgekommen als andere, wir wollen im
harten Wettbewerb bestehen, wir wollen an die Spitze,
wir wollen als starkes Europa unseren Platz an der Spitze
der globalen Entwicklung halten, usw.


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Da hat sie doch recht! – Weiterer Zuruf der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU])


Hier ging es nur um Konkurrenz. Hier ging es nur um
ein System von wirtschaftlicher Konkurrenz, um knall-
harten Wettbewerb der Volkswirtschaften weltweit, im
Grunde um den Kampf um Ressourcen, den Schutz von
Handelswegen, um billige Arbeitskräfte und neue Ab-
satzmärkte. Hier ging es nicht um Kooperation, sondern
hier ging es um knallharten Wettbewerb. Und das lehnen
wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Form des weltweiten Wirtschaftens, diese neolibe-
rale Globalisierung – genau so soll es demnach ja jetzt
weitergehen –, steht gegen die Vorstellungen und Ziele
und Ideen, die Minister Müller gerade formuliert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf der Abg. Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU])


Wir brauchen uns nur die aktuellen Zahlen anzu-
schauen. Oxfam hat letzte Woche neu ausgerechnet, dass
die 85 reichsten Menschen auf der Erde über genauso
viel Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Welt-
bevölkerung. Das ist eine enorme Konzentration von
Reichtum. Diese Form des Reichtums dürfen wir nicht
akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist eine wirtschaftliche Machtkonzentration, die die
demokratischen Fundamente weltweit massiv bedroht.

Genau deswegen wollen wir weg von dieser Profit-
maximierung hin zu einem solidarischen Wirtschaftssys-
tem. Dann wäre auch eine Wertschöpfung in den Län-
dern des Südens möglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich habe in der vorherigen Debatte ganz andere Töne
von der Verteidigungsministerin von der Leyen – wenn
man sie denn so nennen kann – gehört. Ich finde es ganz





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

interessant, dass sie eine Afrika-Strategie entwickeln
will, bei der Afrika in den Fokus für immer neue Mili-
täreinsätze kommen soll. Im Grunde wäre es viel besser,
die wirtschaftliche Entwicklung zu befördern, anstatt
noch mehr Militäreinsätze durchzuführen.

100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs sollten
wir die Mahnung verstanden haben. Es war deutsche
Großmachtpolitik, die Millionen von Menschen ins
Elend und ins Verderben gestürzt hat. Genau deswegen
brauchen wir andere Schlussfolgerungen als die, die ich
vorhin in der verteidigungspolitischen Debatte gehört
habe.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann heute nicht alle Punkte thematisieren. Wir
werden darüber noch diskutieren.

Herr Müller, für uns gibt es noch weitere Bereiche, in
denen wir hoffen, dass Sie auch dort neue Akzente set-
zen. Zum einen geht es – Sie sind Mitglied des Bundes-
sicherheitsrates – um die Frage der Rüstungsexporte.
Wir fordern Sie auf: Stimmen Sie gegen Rüstungs-
exporte in die Länder des Südens! Aus Krisen werden
Kriege. Wir erleben es in Syrien. Kriege verhindern Ar-
mutsbekämpfung und tragen zum Entstehen neuer Ar-
mut bei.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum anderen geht es darum, dass die Entwicklungs-
zusammenarbeit ständig im Zusammenhang mit Militär-
strategien erwähnt wird. Entwicklungspolitik soll Militär-
einsätze flankieren, so sagte Frau von der Leyen. Dies ist
eine katastrophale Entwicklung. Wir und auch Entwick-
lungsorganisationen warnen seit Jahren davor. Die zivil-
militärische Zusammenarbeit und eine vernetzte Sicher-
heit tragen nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung und
zur Armutsbekämpfung bei. Die Entwicklungszusam-
menarbeit wird dadurch militarisiert und nur an sicher-
heitspolitischen Interessen ausgerichtet. Diese Instru-
mentalisierung dürfen wir alle nicht zulassen. Wir
brauchen die Stärkung des Zivilen. Das muss unser An-
spruch sein.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801013600

Als Nächster erteile ich der Kollegin Frau Dr. Bärbel

Kofler, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1801013700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zu Beginn meiner Rede, Herr Minister, möchte ich
Danke dafür sagen, dass Sie den Versuch unternommen
haben – ich glaube, da haben Sie die Unterstützung aller
Entwicklungspolitiker im Hause –, Entwicklungszusam-
menarbeit ins Zentrum der Politik zu stellen. Das ist der
folgerichtige und vernünftige Handlungsansatz, der sich
aus den vielen Katastrophen und Krisen dieser Welt er-
gibt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir als Entwicklungspolitiker sind momentan gefor-
dert. Wir befinden uns in einem Umdenkungsprozess.
Wie geht es weiter? Wie können wir Armut weltweit
nachhaltig und dauerhaft bekämpfen? Die Millenniums-
ziele werden weiterentwickelt. Wir sind gut beraten, in
dieser Debatte genau hinzuschauen: Wo haben wir in
den letzten Jahren Erfolge erzielt? Wo sind Handlungs-
felder, in denen wir als Entwicklungspolitiker noch tätig
werden müssen? Wir müssen auf alle Fälle auf uns selbst
schauen, also auf unsere Gesetzgebung und auf unser
Wirtschaften, das sehr oft entwicklungspolitischen Be-
strebungen entgegenläuft.

Herr Minister, Sie haben Arbeitsbedingungen und
Produktionsbedingungen angesprochen. Ich möchte Fol-
gendes deutlich herausstellen. Die ILO, die Internatio-
nale Arbeitsorganisation in Genf, spricht von 900 Mil-
lionen Menschen weltweit, die zwar erwerbstätig sind,
aber weniger als 2 Dollar am Tag zur Verfügung haben,
um sich und ihre Familie zu ernähren. Weniger als
2 Dollar trotz Erwerbstätigkeit! Wenn wir es zulassen,
dass sich Menschen, die hart arbeiten und die zum Teil
– leider – zwölf Stunden arbeiten müssen, mit ihrer Ar-
beit nicht aus extremster Armut befreien können, dann
ist das ein bodenloser Skandal, der eigentlich nicht hin-
genommen werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden Armut auch nicht nachhaltig bekämpfen,
wenn wir nicht menschenwürdiges Arbeiten ins Zentrum
der Entwicklung setzen. 60 Prozent der Menschen in den
ärmsten Entwicklungsländern sind unter 25 Jahre alt.
Diese jungen Menschen brauchen Perspektiven, brau-
chen Arbeitsplätze mit menschenwürdigen Rahmen-
bedingungen, von denen sie sich vernünftig ernähren
können.

Das Beispiel Bangladesch ist angesprochen worden.
Ich war selbst in Bangladesch und habe mit Näherinnen
gesprochen. Damals arbeiteten sie für einen Mindestlohn
von 20 Euro im Monat. Dass man sich so nie aus der
Armut befreien kann, ist völlig klar. Die Streiks in Kam-
bodscha beweisen zu Recht, dass die Menschen auch in
diesen Ländern beginnen, etwas an ihren Verhältnissen
ändern zu wollen. Auch dies ist ein Prozess, den wir
unterstützen und begleiten müssen. Deshalb freut es
mich, und ich halte es für ganz wichtig, dass die
Friedrich-Ebert-Stiftung in Bangladesch ein Büro eröff-
net hat. Der Schwerpunkt der Arbeit dieses Büros liegt
darauf, zivilgesellschaftliche Akteure, Gewerkschaften,
Wissenschaftler und Medien zusammenzubringen, um
den Menschen zu helfen, ihre Arbeitnehmerrechte
durchsetzen zu können. Ich halte dies für einen zentralen
Punkt der Entwicklungszusammenarbeit.

Wenn wir auch bei uns Veränderungen vornehmen
wollen und müssen, dann müssen wir zu verbindlichen
Regeln kommen, wenn es um die Verpflichtung geht,





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)

Sozialstandards und ökologische Standards einzuhalten;
auch für unsere Unternehmen, die weltweit tätig sind.
Das sind Regelungen, von denen ich glaube, dass wir sie
bei uns treffen können und müssen. Das hat etwas mit
Wertschöpfungsketten und Lieferketten, mit verbindli-
chen und transparenten Regeln zu tun. Nur so kann ein
Verbraucher nachvollziehen, wie das Produkt entstanden
ist. Ansonsten ist die viel zitierte Macht des Verbrau-
chers nur auf dem Papier vorhanden. Ich glaube, dafür
müssen wir gemeinsam kämpfen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ebenso wichtig ist der gesamte Bereich der sozialen
Sicherung. Vor einem Jahr hatten wir eine Anhörung
zum Thema Weiterentwicklung der Millenniumsziele,
also der SDGs, wie es immer so schön heißt. Es wurde
eines ganz klar: Krankheiten zum Beispiel kann man
weltweit nur wirksam bekämpfen, wenn der Ansatz in
ein ordentliches Gesundheitssystem eingebettet ist, sonst
sind es punktuelle Hilfen, die den Menschen momentan
helfen. Aber sie haben keine dauerhaften Wirkungen für
die Menschen und weisen keinen Ausweg aus der
Armut. Eines ist auch klar: Es muss um solidarische Ver-
sicherungssysteme gehen; denn es ist niemandem gehol-
fen, wenn die ärmsten der Armen wieder keinen Zugang
zu sozialer Sicherung, zur Krankenversicherung oder zur
Absicherung finden, weil auf irgendeine Art und Weise,
privatwirtschaftlich organisiert, doch das Geld entschei-
det. Wir brauchen ein System, an dem alle partizipieren.
Wir müssen soziale Sicherung auch deshalb machen
– das haben auch Beispiele der letzten Wochen, Monate
und Jahre bewiesen –, weil es eine gute Versicherung ist,
damit Menschen nicht in extreme Armut zurückfallen.
Mexiko und Brasilien sind Beispiele dafür, wo es gelun-
gen ist, Menschen trotz Finanzkrise nicht in extreme
Armut zurückfallen zu lassen, weil es einen Aufbau von
sozialen Sicherungssystemen gibt. Ich glaube, diese
Wege müssen wir weiter ausbauen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Thema Klimaschutz ist viel Richtiges gesagt
worden. Ich unterstreiche noch einmal: Wir haben eine
Verantwortung als Industrieländer. Auch Schwellenlän-
der haben eine wachsende Verantwortung. Aber wir ha-
ben eine historische Verantwortung dafür, dass der von
uns verursachte Klimawandel katastrophale Folgen für
die ärmsten der Armen und für die Entwicklungsländer
hat. Dieser Verantwortung müssen wir uns stellen, müs-
sen wir uns auch finanziell stellen. Der Aufwuchspfad
für die Langfristfinanzierung im Klimabereich beschäf-
tigt uns. Auch in diesem Bereich brauchen wir nicht nur
Rahmenbedingungen, sondern auch finanzielle Mittel.
Wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, dass
mittlerweile immer noch eineinhalb Milliarden Men-
schen auf dieser Erde keinen Zugang zu elektrischer
Energie haben. Das ist ein unglaubliches Entwicklungs-
hemmnis, aber auch eine riesige Herausforderung; denn
die Fehler, die wir bei der Industrialisierung und dem
Aufbau von Energiesystemen gemacht haben, können
wir aufgrund der begrenzten Ressourcen des Planeten so
nicht wiederholen. Wir müssen weg von einer Energie-
politik, die sich an fossilen Energien oder in manchen
Bereichen an der Atomenergie ausrichtet. Wir müssen
den Entwicklungsländern ein nachholendes Entwickeln
ermöglichen, ohne dass sie hinsichtlich der Umweltver-
schmutzung dieselben Fehler machen, die wir schon ge-
macht haben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801013800

Frau Kollegin, es wäre nett, wenn Sie ein bisschen auf

Ihre Zeit achteten, die Sie schon liebevoll überzogen ha-
ben.


(Heiterkeit)


Die Gedanken sind sehr interessant, aber es gibt weitere
Kollegen, die sprechen wollen. Deswegen wäre es
schön, wenn Sie zum Schluss kämen.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1801013900

Ich möchte selbstverständlich meinen Kollegen nicht

die Zeit nehmen, ihre Gedanken, die ich auch für sehr
wichtig erachte, darlegen zu können. Ich möchte nur ei-
nige Sätze zum Schluss sagen.

Wir brauchen auf der einen Seite Rahmenbedingun-
gen; wir müssen gesetzgeberisch handeln. Wir brauchen
auf der anderen Seite aber auch einen Aufwuchs bei den
finanziellen Mitteln. Herr Minister, Sie haben einige
Projekte genannt, ich habe einige Projekte genannt. Sie
können sicher sein: In Ihrem Kampf um mehr Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit werden Sie alle hier ver-
sammelten Politiker auf Ihrer Seite haben.

Danke.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014000

Ich erteile nun dem Kollegen Uwe Kekeritz, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1801014100

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich

fange mit einem Zitat an:

Hier sitzt Müller, nicht Niebel. Ich habe den Unter-
schied deutlich gemacht.

Gut so! Die Kappen sind entsorgt.

Noch viel besser sind natürlich einige der Aussagen,
die Sie auch heute getroffen haben: Ihre Aussagen zum
Thema Wachstum, zur globalen Wohlstandsverteilung,
zum ökologischen Fußabdruck. Sie sprechen von einem
Paradigmenwechsel und sogar davon, dass Sie Regeln
für Konzerne international festschreiben wollen. Ja,
wenn das nicht schon der Weg ins entwicklungspoliti-
sche Paradies ist, dann weiß ich es nicht!





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)

Allerdings muss Ihnen klar sein, Herr Müller, dass
wir Sie nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten
messen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])


Leider nähren Sie auch ein paar Zweifel. Erst am 6. De-
zember haben Sie den Wachstumskurs bei den deutschen
Agrarexporten gefeiert. Sie schrieben auch: „Eine dyna-
misch wachsende Weltbevölkerung“ eröffnet „für deut-
sche Qualitätsprodukte der Agrar- und Ernährungswirt-
schaft eine Vielzahl von neuen Exportmöglichkeiten“.
Herr Müller, Sie sind heute Entwicklungsminister und
nicht mehr Vertreter des Bauernverbandes. Sie müssen
sich von Ihrem Dasein als Exportförderer tatsächlich
verabschieden. Denn links und rechts gleichzeitig abbie-
gen – das kann nur Seehofer.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Auf die Frage, wie denn die Regierung die Aus-
wirkungen europäischer Agrarsubventionen einschätze,
antwortete Ihr Ministerium – ich sage nicht „Sie“ –: Die
gewährten Agrarsubventionen haben keinen marktver-
zerrenden Einfluss. – Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Es geht nicht um Exportsubventionen, sondern um
Agrarsubventionen. Ich habe den Eindruck, dass die Be-
amten Ihres Ministeriums die Fragen noch in einer
Weise beantworten, wie sie es in den letzten vier, fünf,
sechs, sieben Jahren gewohnt waren.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Vier Jahren!)


Da müssen Sie also noch hart arbeiten, bis tatsächlich
vernünftige Antworten herauskommen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sprechen davon, dass die Wertschöpfung in den
Ländern bleiben soll. Das ist brillant. Gleichzeitig wol-
len Sie aber die German Food Partnership fortsetzen, mit
Großkonzernen wie Bayer, BASF, Syngenta und Metro
sowie weiteren Unternehmen. All das sind Organisatio-
nen, die die Wertschöpfung nicht in Afrika belassen
wollen. Die Kapitalbedingungen geben ihnen dazu über-
haupt keine Möglichkeit. Sie wollen die Wertschöpfung
hierherholen.

Es ist auch bedenklich, dass Ihr Staatssekretär
Schmidt, den ich persönlich sehr schätze, in der Verteidi-
gungs- und Entwicklungspolitik fast das Gleiche sieht.
Daran müssen wir noch arbeiten. Das sind zwei grund-
sätzlich verschiedene Bereiche.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Die 100 Tage sind noch nicht rum, oder?)


Sie wollen dem 0,7-Prozent-Ziel treu bleiben, Herr
Minister. Auch die Kanzlerin hat das, wohl um den
Niebel regelmäßig zu ärgern, vier Jahre lang immer wie-
der betont. Die Politik war dann eine andere. Heute müs-
sen wir feststellen: Herausgekommen sind jährlich
200 Millionen Euro mehr für den Entwicklungsetat. Da-
mit kann man den Berliner Flughafen ungefähr zwei
Monate lang am Leben erhalten;


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der muss erst mal fertig werden!)


danach müsste man ihn schließen. Kollege Sascha Raabe
hat deshalb auch die Konsequenzen gezogen. Herr
Raabe, Respekt! Herr Minister, wenn Sie es ernst mei-
nen mit Ihren Aussagen, dann müssen Sie sich mit
Sigmar Gabriel zusammensetzen; denn es muss Schluss
sein mit Handelsverträgen, die die Gewerkschaftsrechte
unterminieren und eine wirkliche Klimapolitik in den
Partnerländern unmöglich machen, die die Ernährungs-
souveränität der Länder untergraben, die den Investi-
tionsschutz über Menschenrechte, über soziale und öko-
logische Gerechtigkeit stellen. Die ärmsten Länder
brauchen gute, günstige Medikamente und keine Aus-
dehnung des Patentschutzes. Die Länder brauchen in der
Regel keine deutsche Milch und vor allen Dingen auch
keine deutschen Hähnchenteile, sondern Ernährungssou-
veränität. – Aber Sie haben ja gesagt, Sie wollen den
Ansatz vorantreiben.

Herr Minister, in einem Interview haben Sie in der
vergangenen Woche gesagt, Ihre Vision sei eine

weltweite ökologisch-soziale Marktwirtschaft, in
der die Nachhaltigkeit dem Wachstum übergeordnet
ist.

Wir sind hier zu 100 Prozent an Ihrer Seite. Wir werden
Sie aber an Ihren Taten messen. Helmut Kohl hat immer
gesagt: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt“. Ich
befürchte nur – aber da werden wir uns dann schützend
vor Sie stellen –, dass Sie sehr viele Steine in den Weg
gelegt bekommen, und zwar nicht von der Opposition,
ich denke hier mehr an Ihre eigene Fraktion.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014200

Ich erteile als Nächster das Wort Frau Kollegin

Sibylle Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1801014300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“
Dieser Satz stammt von Kurt Schumacher – er ist einer
der Lieblingssätze meines Fraktionsvorsitzenden Volker
Kauder –, und ich gebe ihm recht. Die Realität hat sich,
auch in der Entwicklungspolitik, in den letzten Jahren
massiv gewandelt. Neue Akteure und andere Aufgaben
haben dazu geführt, dass wir nicht mehr so stark in den
Kategorien „Geberländer – Nehmerländer“ denken. Wir
wissen, dass viele Probleme nicht ausschließlich auf na-
tionaler Ebene zu lösen sind, und auch, dass sie nicht an
Landesgrenzen Halt machen. Dazu zählt zweifelsohne
die Klimapolitik. Deshalb wollen wir von der CDU/
CSU-Fraktion dieses Thema zu unserem Hauptthema
machen; denn hier wird deutlich, dass wir Veränderun-
gen zum Positiven nur gemeinsam erreichen können.





Sibylle Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Bisher waren die zentralen Fragen: Wie können wir
CO2-basiertes Wirtschaftswachstum reduzieren? Wie
können wir dabei gleichzeitig andere Länder wie China,
USA, Indien usw. verbindlich in die klimapolitischen
Ziele einbinden? Wie können wir dazu noch einen zu
großen Anstieg der Erderwärmung verhindern? Ist das
die Quadratur des Kreises? Ich weiß es nicht.

Für diese Fragen bietet sich zum Beispiel der G-8-
Gipfel 2015 auf Schloss Elmau als geeignete Diskus-
sionsplattform an. Dort könnte man sich auf gemeinsame
Positionen in der Klimapolitik einigen. Wichtige Vorarbeit
wurde übrigens bereits geleistet, nämlich 2009 auf der
Klimakonferenz in Kopenhagen. Die dort eingegangenen
finanziellen Zusagen an die Entwicklungsländer, ab 2020
100 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen,
und zwar von öffentlichen und privaten Gebern, sind de-
finitiv keine Peanuts. Daher hoffe ich auf eine gewisse
Dynamik in der Klimadebatte, auch was die Finanzie-
rung betrifft; denn wir wollen hier weiterkommen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zwei
Punkte ansprechen. Erstens. Welche Auswirkungen hat
der Klimawandel zum Beispiel auf Entwicklungsländer,
direkt wie indirekt? Versandung, extreme Wetterphäno-
mene, der Anstieg des Meeresspiegels, Ernteausfall,
Hunger, Abholzung von Wäldern, Verstädterung – es
gibt noch einiges mehr. Die Kosten für die Anpassung an
veränderte Lebensumstände können viele Entwicklungs-
länder alleine nicht schultern. Daher müssen wir uns
schon heute Gedanken machen, wie wir diese Länder da-
bei langfristig und nachhaltig unterstützen können. Ver-
säumen wir das heute, wären die Folgen teuer, sowohl
für die betroffenen Länder als auch für uns.

Zweitens. Wie binden wir die Entwicklungsländer in
eine aktive Klimapolitik ein? Die zunehmende wirt-
schaftliche Entwicklung in diesen Ländern bedingt auch
die Steigerung des Bedarfes an Energie, an Lebensmit-
teln oder anderen Gütern mit der Folge des vermehrten
CO2-Ausstoßes. Was bringt es denn, wenn wir in
Deutschland auf erneuerbare Energien setzen und
gleichzeitig in den Entwicklungsländern aus Kosten-
gründen unzählige neue, effizienzschwache Kohlekraft-
werke gebaut werden? In weiten Teilen Afrikas würde
sich doch zum Beispiel die Solarenergie als sinnvolle
Alternative anbieten. Doch die Investitionskosten und
das notwendige Know-how für die Installation und die
Wartung dieser Anlagen sind gewaltig. Deshalb ist die
Zusage von Kopenhagen übrigens auch so wichtig; denn
durch diesen Hebel können wir unsere Partner unterstüt-
zen – zum beiderseitigen Nutzen. Das ist sozusagen eine
Win-win-Situation mit unglaublichem Potenzial.

Gestatten Sie mir einige Gedanken zu ODA. Lassen
Sie uns auch einmal überlegen, ob wir unser Verständnis
vom Einsatz der öffentlichen Entwicklungsgelder in Tei-
len hinterfragen müssen. Viele Entwicklungsländer ha-
ben seit dem Ende des Kalten Krieges eine langanhal-
tende wirtschaftliche Entwicklung eingeschlagen. Sie
generieren signifikante eigene Einnahmen, sei es aus
Rohstoffhandel, aus eigenen Steuern, aus Steuern auf
ausländische Direktinvestitionen oder sei es durch Rück-
überweisungen von Migranten. Im Jahr 2010 beispiels-
weise erreichte die ODA weltweit eine Höhe von
127 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die Gesamt-
summe von Rücküberweisungen von Migranten in die
Entwicklungsländer, also in ihre Heimatländer, betrug
allein 326 Milliarden Dollar. Das ist ein Vielfaches der
Entwicklungsgelder.

Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Tatsache ist mei-
nes Erachtens, dass diese Einnahmen mittlerweile eine
weitaus größere Rolle für die Finanzierung der Entwick-
lung spielen als öffentliche Entwicklungsgelder. Das
festzustellen, gehört für mich zum Betrachten der Reali-
täten. Das ist im Übrigen ein großer Erfolg der Entwick-
lungsländer selbst.

Was bedeutet das für unser Verständnis von Entwick-
lungspolitik? Es gibt zwar immer noch Länder, in denen
es um die Sicherung der Grundbedürfnisse geht – wir
werden natürlich weiterhin unseren Beitrag leisten,
wahrscheinlich sogar noch stärker als bisher –, aber viele
Entwicklungsländer sind mittlerweile selbst zu vielem in
der Lage: zum Aufbau eines Basisgesundheitssystems,
zur Sicherung des Zugangs zu Nahrungsmitteln und Bil-
dung oder einfach zum Aufbau stabiler staatlicher Struk-
turen. Das ist ein Erfolg, und das ist teilweise ein ge-
meinsamer Erfolg. Dabei hat sich gezeigt, dass der
Entwicklungsprozess immer dann erfolgreich ist, wenn
er aus den Ländern selbst kommt und zumindest zu ei-
nem gewissen Teil von ihnen selbst finanziert ist. Daher
können und müssen wir in diesen Ländern anders arbei-
ten und eine andere Zusammenarbeit mit diesen Ländern
betreiben.

Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. Wenn Sie mir
noch einen Gedanken gestatten würden.

Die Frage in diesem Zusammenhang lautet schlicht:
Wie machen wir das? Diskutieren wir doch einmal über
Ergebnisorientierung bei der Finanzierung. Und was be-
deutet es, dass der Entwicklungsprozess in erster Linie
in der Verantwortung der Partnerländer liegt? Denn un-
sere Partnerländer ernst zu nehmen, heißt, sich nicht nur
auf gemeinsame Ziele zu einigen. Es bedeutet vielmehr,
dass sie darüber entscheiden, wie sie die Ziele erreichen
wollen, und sie sich sukzessive selbst mehr in die Pflicht
nehmen, beispielsweise über eine steigende finanzielle
Eigenbeteiligung. So könnten am Ende des Prozesses
sich selbst tragende und funktionierende Programme
entstehen. Ich glaube, das wäre ein großer Erfolg, ein ge-
meinsamer Erfolg.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014400

Als Nächster hat das Wort der Kollege Niema

Movassat, Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1801014500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde

es gut, Herr Müller, dass Sie sich letzte Woche im Inter-
view mit der Zeit von Ihrem Vorgänger, Herrn Niebel,





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

distanziert haben. Nicht nur durch das Interview, son-
dern auch durch das, was Sie hier heute in politischer
Hinsicht gesagt haben, haben Sie sich von ihm distan-
ziert. Das lässt hoffen, dass Sie vielleicht andere Wege in
der Entwicklungspolitik einschlagen werden. Die letzten
vier Jahre waren schlechte Jahre, weil vor allem deut-
sche Interessen im Vordergrund standen, die Interessen
der deutschen Unternehmen, aber nicht die Menschen in
armen Ländern. Wir brauchen endlich einen Kurswech-
sel.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben heute auf die Perversion hingewiesen, dass
1 Milliarde Menschen hungern, während 1 Milliarde
Menschen gegen Übergewicht kämpfen. Sie haben zu-
dem richtigerweise die Frage aufgeworfen, ob es gerecht
ist, dass 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent des glo-
balen Reichtums für sich beanspruchen. Um die Frage
zu beantworten: Ja, es ist ungerecht, es ist unhaltbar, und
es muss sich etwas ändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Wahrheit ist doch: Die Industrieländer leben auf
Kosten der Länder des Südens. Das ist das entschei-
dende Problem. Wenn Sie dieser Argumentation tatsäch-
lich folgen, Herr Müller, könnten Sie wirklich ein Ent-
wicklungsminister werden, der den Namen wieder
verdient.


(Beifall bei der LINKEN – Zustimmung der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Laut Oxfam besitzen 85 Menschen auf dieser Welt so
viel Vermögen wie die Hälfte der Menschheit. 85 Indivi-
duen haben so viel wie 3,5 Milliarden Menschen. Das ist
doch nur noch obszön. Wir brauchen endlich globale
Umverteilung von oben nach unten. Wir müssen den
globalen Wohlstand gerecht verteilen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie von der CDU/CSU als christsoziale Parteien soll-
ten in dieser Frage ruhig verstärkt auf den Papst hören.


(Heiterkeit des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Er hat kürzlich geschrieben: Solange die strukturellen
Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte nicht in
Angriff genommen werden, werden sich die Probleme
der Welt nicht lösen lassen. – Ich weiß ja, dass Sie der
Linken nicht glauben, aber glauben Sie doch wenigstens
dem Papst.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Müller, Sie haben gesagt, dass Sie den Kampf
gegen den Hunger als drängendste politische Aufgabe
sehen. Wir als Linke sehen das auch so. Allerdings hat-
ten Sie als Staatssekretär im Agrarministerium den Ruf
eines Agrarexportbeauftragten der deutschen Lebensmit-
telindustrie. Das darf so nicht bleiben. Ich sage Ihnen:
Solange die europäische Agrarpolitik auf massive Über-
schussproduktion setzt, solange deutsche Kühe mit Fut-
termitteln aus armen Ländern gefüttert werden und
solange Freihandelsabkommen Entwicklungsländer
schutzlos gegenüber dem Import hochsubventionierter
europäischer Nahrungsmittel machen, so lange tragen
Deutschland und die EU eine Mitschuld am Hunger auf
der Welt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich weiß ja, dass Sie stets betonen, dass Exportsub-
ventionen nicht mehr existieren. Aber Quersubventio-
nierungen gibt es dennoch. So wurden 2012 insgesamt
42 Millionen Tonnen Geflügelreste auf die afrikanischen
Märkte geschafft. Das ist im Vergleich zu 2011 eine Ver-
doppelung gewesen. Dadurch werden die lokalen
Märkte zerstört. Wir brauchen endlich eine Kehrtwende
in der globalen Agrarpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Letzte Woche haben Sie etwas gesagt, das mich ein
bisschen an Herrn Niebel erinnert hat. Sie haben gesagt,
dass, wenn wir zum Beispiel in die äthiopische Land-
wirtschaft investieren, ein Vielfaches zu uns zurück-
fließt. Ein für alle Mal: Es soll kein Vielfaches zu uns
zurückfließen. Wenn etwas zurückfließt, nutzt das viel-
leicht der deutschen Privatwirtschaft, aber nicht den
Menschen vor Ort. Der Mehrwert muss in den Partner-
ländern bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Abschluss etwas zum Koalitionsvertrag. Sie ha-
ben faktisch das Ziel aufgegeben, in nächster Zeit
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwick-
lungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Dabei
hatte die SPD dies ihren Wählerinnen und Wählern ver-
sprochen. Aber am Schluss der Koalitionsverhandlungen
hat Ihre Führungsriege dieses Versprechen beerdigt. Ihr
entwicklungspolitischer Sprecher Sascha Raabe hat des-
wegen sogar nach acht Jahren hingeworfen. Was Sie als
SPD abgeliefert haben, ist leider eine entwicklungspoli-
tische Bankrotterklärung.

Für Sie, Herr Minister, wird es dadurch nicht einfa-
cher. Wir als Linke werden in der neuen Wahlperiode an
deutsche Versprechen erinnern und für eine solidarische
Entwicklungspolitik streiten.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014600

Als Nächstem erteile ich das Wort Kollegen Stefan

Rebmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1801014700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebes neues Schrift-

führerteam!


(Heiterkeit – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Gewerkschafter spricht!)


– Ja, der Gewerkschafter spricht.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man nur manchmal nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Minister, ich finde, dass Sie heute Morgen im Ausschuss
und auch jetzt hier im Plenarsaal eine sehr gute Vorstel-
lung gegeben haben. Ich teile die Meinung des Kollegen
Kekeritz: Sie werden nicht nur an Ihren Worten gemes-
sen, sondern auch an Ihren Taten. Auch wir in der Gro-
ßen Koalition werden an dem gemessen, was wir tat-
sächlich umsetzen.

Ich muss Ihnen auch sagen: Ich stimme Ihnen bei dem
zu, was Sie heute Morgen im Ausschuss zum Image der
Entwicklungspolitik gesagt haben, dass die Entwick-
lungspolitiker in der Welt umherreisen und das Geld ver-
teilen. Ich finde, Entwicklungspolitik ist mehr, als Almo-
sen zu verteilen, Kleidung und Nahrung an Bedürftige in
der Welt zu verteilen. Entwicklungspolitik ist mehr, als
hier und da eine Schule zu bauen. Und Entwicklungspo-
litik ist vor allem mehr, als zum Beispiel mit der be-
rühmten Gießkanne durch Afrika zu gehen und Geld,
Nahrung und Wasser zu verteilen – und hinterher viel-
leicht sogar noch zu erklären: Wir haben unseren Beitrag
geleistet; nun schaut mal, wie ihr damit klarkommt und
was ihr daraus macht! – Nein, Entwicklungspolitik ist
viel mehr als das. Wir verstehen Entwicklungspolitik
auch als globale Strukturpolitik, als eine Politik, mit der
wir die Globalisierung nachhaltig und gerecht für alle
Menschen gestalten wollen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Selle [CDU/CSU])


Damit hat Entwicklungspolitik für uns auch einen vo-
rausschauenden und präventiven Charakter. Denn eine
gute, abgestimmte und vor allen Dingen wirksame Ent-
wicklungspolitik ist genau betrachtet – davon war heute
schon mehrfach die Rede – auch Friedenspolitik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Willy Brandt hat einmal sinngemäß gesagt: Frieden ist
nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. – Wenn wir
uns die Frage stellen: „Was ist denn notwendig für ein
friedliches Miteinander in der Welt? Was sind denn die
Grundbedingungen für Frieden, für menschliche Sicher-
heit, für soziale Sicherheit, für Gesundheit, für gute Le-
bens- und Arbeitsbedingungen?“, dann sind wir nicht
nur mitten in der Entwicklungspolitik, sondern eine Ant-
wort darauf lautet tatsächlich: umgesetzte Entwicklungs-
politik. Zu den Voraussetzungen für Frieden gehören
auch faire Lebensbedingungen für die Menschen überall
in der Welt. Das bedeutet: Zugang zu Nahrung und zu
Wasser und zu Energie, Zugang zu Gesundheits- und so-
zialen Sicherungssystemen, das Recht auf Bildung für
alle und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz, auf
eine eigene Zukunftsgestaltung. Das bedeutet auch: fai-
rere Arbeitsbedingungen und bessere Entlohnung. Das
bedeutet: Beteiligungsrechte, demokratische Strukturen,
nicht korrupte Justizsysteme und vieles mehr.

Frieden braucht menschliche Sicherheit. Jeder Ein-
zelne braucht die Chance, sich eine eigenständige Zu-
kunft aufzubauen. All das ist Friedenspolitik und Ent-
wicklungspolitik zugleich. Dazu können, wollen und
müssen wir unseren Beitrag leisten, Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir leisten unseren Beitrag dazu mit einer Politik, die
sich ressortübergreifend dem Ziel einer besseren, friedli-
cheren, sozial gerechteren und chancenreicheren Welt
für alle Menschen verpflichtet fühlt.

Um das zu erreichen, brauchen wir nicht nur die Un-
terstützung anderer Staaten und eine abgestimmte euro-
päische Entwicklungspolitik, sondern sind besonders auf
die engagierte und wertvolle Arbeit der vielen zivilen
Akteure angewiesen: der Gewerkschaften, der Kirchen,
der politischen und privaten Stiftungen und der zahlrei-
chen anderen Nichtregierungsorganisationen, die eine
hervorragende Arbeit leisten.

Das Gleiche gilt in besonderem Maße für die Förde-
rung der Friedens- und Konfliktforschung, die wir stär-
ker unterstützen und ausbauen wollen: Wir wollen die
deutschen Institutionen für Friedensförderung und Frie-
densforschung – wie das Berliner Zentrum für Interna-
tionale Friedenseinsätze, zif, das Forum Ziviler Frie-
densdienst, forumZFD, die Bundesakademie für
Sicherheitspolitik und die Deutsche Stiftung Friedens-
forschung – künftig noch stärker in die Politikberatung
einbeziehen, weil sie einen wichtigen – wie ich meine
und wie es uns zahlreiche Wissenschaftler bestätigen:
unverzichtbaren – Beitrag leisten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Friedens-
förderung, der Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen
und sozialen Sicherungssystemen sowie die Schaffung
von zivilen, gewaltfreien Konfliktlösungsmechanismen
bitter nötig sind, steht außer Zweifel. Wenn wir uns die
Ursachen für Wanderungsbewegungen, für Flucht und
Vertreibung anschauen – die wir ja auch gegenwärtig er-
leben und die zum Teil recht unseriös und unschön dis-
kutiert werden –, dann erkennen wir: Wir dürfen nicht
nur die Symptome behandeln, sondern müssen vor allem
die Ursachen bekämpfen.

Ich bin der festen Überzeugung: Jeder Euro, den wir
zielgerichtet und effektiv in unsere Entwicklungspolitik
investieren, um so zu versuchen – nicht nur, aber auch –,
die Ursachen für Flucht und Vertreibung nicht erst am
Verhandlungstisch zu verändern und zu beseitigen, lohnt
sich. Jeden Euro, den wir – noch einmal – zielgerichtet
in die Entwicklungspolitik investieren, um die Grundla-
gen für eine menschliche, gesellschaftliche, wirtschaftli-
che, soziale und friedliche Entwicklung zu schaffen, um
also den Menschen eine faire Chance auf eine eigenstän-
dige Zukunft zu ermöglichen und ihren Kindern und Fa-





Stefan Rebmann


(A) (C)



(D)(B)

milien eine Perspektive zu geben, werden wir doppelt
und dreifach zurückbekommen.

Entwicklungspolitik ist also nicht das Verteilen von
Almosen, sondern Entwicklungspolitik ist ethisch, mora-
lisch und ökonomisch vernünftig und notwendig. Des-
halb muss die Entwicklungspolitik künftig viel mehr im
Zentrum unseres politischen Handelns und auch in der
öffentlichen Aufmerksamkeit stehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Und besser finanziert werden! Und gut ausgestattet werden!)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014800

Als Nächste hat unsere Kollegin Claudia Roth, Bünd-

nis 90/Die Grünen, das Wort.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
C’est le ton qui fait la musique. Das stimmt! Die Musik
und der Sound von Gerd Müller waren heute tatsächlich
anders als das, was wir in den letzten vier Jahren gehört
haben, und das ist wirklich gut. Ich komme ja von der
Musik und kenne mich dort ein bisschen aus. Sie müssen
diesem Sound jetzt natürlich auch gerecht werden und
entsprechend liefern; denn die Entwicklungspolitik braucht
tatsächlich einen neuen, einen einbindenden Politikstil –
anders als in den letzten vier Jahren.

Wir stehen in der Tat vor riesig großen Herausforde-
rungen: Hunger, Kriege, Klimawandel, Naturkatastro-
phen, Armut und Ungerechtigkeiten, gegen die wir ange-
hen müssen. Aber eine ganz zentrale Herausforderung
liegt bei uns selbst. Wir müssen uns selbst, unsere Le-
bensweise, unsere Politik und unser Wirtschaften hinter-
fragen: ob sie dem Ganzen dienen oder doch nur egoisti-
schen Partikularinteressen und ob sie mehr sind als der
schöne Sonntagssprech.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Aufgabe der Entwicklungspolitik ist ganzheitlich,
mit dem Ziel, den Weg zu globaler Gerechtigkeit einzu-
schlagen. Humanitäre Hilfe und Entwicklungskoopera-
tion – mein Vorredner hat es auch gesagt – sind mensch-
liche Pflicht. Sie sind aber immer auch Ausdruck
politischer Rationalität; denn es hilft dem Frieden und
der Entwicklung in der ganzen Welt, wenn wir Krisen
und menschliche Not vor Ort bekämpfen und nicht zu
Flächenbränden werden lassen.

Es droht ein gigantischer Flächenbrand; Gerd Müller
hat es gesagt. Ich war acht Tage im Libanon, in Jorda-
nien, im Irak und in Kurdistan-Irak und habe einen Ein-
druck von der humanitären Katastrophe dort bekommen,
die droht, eine politische Katastrophe für die gesamte
Region zu werden und die ganze Region in einen Kol-
laps zu führen. Deswegen nehme ich Sie, Gerd Müller,
und Herrn Fuchtel beim Wort, dass in Deutschland, aber
eben auch auf europäischer Ebene wirklich alle Anstren-
gungen unternommen werden, um diesen Flächenbrand
zu verhindern; denn es gibt noch viel zu tun.

Wir erleben derzeit eine unerträgliche Ungleichheit
durch Ungleichzeitigkeit:

Auf der einen Seite gibt es Wohlstand in Europa und
in den USA, der immer neue Höhepunkte erreicht, und
auf der anderen Seite erleben wir Hungerkatastrophen
und humanitäre Katastrophen in der Sahelzone, auf den
Philippinen und im Kongo. Auch dort eskaliert die Si-
tuation.

Ungleichheit durch Ungleichzeitigkeit erleben wir
auch dadurch, dass die Demokratie in vielen Staaten
Westafrikas, zum Beispiel in Liberia oder in der Elfen-
beinküste, außerordentliche Fortschritte macht, während
die Bürgerrechte in manchen Staaten Osteuropas brutal
abgebaut und systematisch mit Füßen getreten werden;
oder dass sich bei uns endlich ein Fußballnationalspieler
outet und offen zu seiner sexuellen Identität bekennt,
während auf der anderen Seite ein katastrophaler homo-
phober Rollback in Staaten wie Uganda, Nigeria und
auch Russland Realität ist.

Neben den großen Krisen hat ganz sicher auch der
Klimawandel eine ganz besondere Bedeutung; er ist eine
große Bedrohung. Ich danke Gerd Müller dafür, dass er
ihn benannt und auch heute Morgen im Ausschuss in das
Zentrum gestellt hat, aber Klimaschutz fängt natürlich
zu Hause und mit der Energiewende bei uns an, und ich
glaube, hier gibt es auch für Sie als Minister ganz schön
viel zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD])


Es braucht eine deutsche Entwicklungspolitik, die
sich nicht selbst marginalisiert, sondern die die Heraus-
forderungen annimmt und eben nicht nur aus einem na-
tionalen Interesse heraus agiert; auch das hat ein Vorred-
ner gesagt. Es kann ja nicht darum gehen, dass man
deutsche Entwicklungshelfer quasi als Makler für eine
Marktöffnung oder als Rohstofflieferanten einsetzt.

Das Entwicklungsministerium ist heute ein Koopera-
tionsministerium, das gemeinsam mit den Partnern auf
Augenhöhe die sozial-ökologische Transformation nach
vorne bringt, in der Welt organisiert und das auch in
Deutschland und vor allem im eigenen Kabinett für Ko-
härenz sorgt. Da wünsche ich Ihnen viel Durchsetzungs-
kraft gegenüber Ihren Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])


Wir sind aufgefordert, im Ausschuss mit unserer Vor-
sitzenden Daggi Wöhrl gut zusammenzuarbeiten, uns
aber auch über diese Ausschussgrenze hinweg in die an-
deren Bereiche einzumischen: in die Landwirtschafts-
politik, in die Rüstungspolitik, in die Handelspolitik, in
die Menschenrechtspolitik. So verstehe ich zukunftsfä-
hige Entwicklungspolitik. Natürlich sind wir alle zusam-
men auch aufgefordert, Cheflobbyistinnen und -lobbyis-
ten zu sein, um mit der Zivilgesellschaft dafür zu sorgen,





Claudia Roth (Augsburg)



(A) (C)



(D)(B)

dass das Bewusstsein für globale Verantwortung wächst
und gestärkt wird.

Die letzten Jahre haben, glaube ich, sehr viele Gräben
in der Entwicklungspolitik aufgerissen. Wir sind dabei
– darauf können Sie sich verlassen –, wenn der richtige
Weg eingeschlagen wird. Wir helfen dabei, dass Brücken
gebaut werden, Brücken zur Veränderung der globalen
Strukturen, die zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit
führen.

Wir nehmen Ihre Einladung sehr ernst, uns bei den
Vorbereitungen zum G-8-Gipfel einzubringen, nicht nur,
weil er in Bayern stattfindet, sondern weil es um die Mil-
lenniumsziele geht, weil es um den Klimaschutz geht
und weil er in Bayern stattfindet.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801014900

Als Nächste hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1801015000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Liebe Claudia, ich freue mich auf die zu-
künftige Zusammenarbeit im Ausschuss. Ich heiße dich
als Neuling bei uns im Ausschuss herzlich willkommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 100 Jahren hat
Deutschland Russland den Krieg erklärt. Eine Genera-
tion später hat Deutschland Polen überfallen; es ist der
Zweite Weltkrieg entfacht worden. Auf diesen Ruinen
unseres politisch-moralischen Versagens haben wir
Europa gebaut. Ich glaube, Europa kann als Entwick-
lungsmodell für eine globale Strukturpolitik dienen,


(Johannes Selle [CDU/CSU]: Das stimmt!)


und zwar im Hinblick auf Wertekonsens, Rechtsstaat-
lichkeit, Demokratie, sozial-ökologische Marktwirt-
schaft.

Es ist mehr als protokollarische Höflichkeit, wenn
hohe Vertreter von internationalen Organisationen, die
uns immer wieder im Ausschuss besuchen, an uns öfter
die Bitte herantragen, dass Deutschland international bei
ordnungspolitischen Debatten eine Leadership-Funktion
übernehmen solle, zum Beispiel bei Global Governance.
Jetzt will ich nicht, dass wir uns anmaßen, eine Leader-
ship-Funktion zu übernehmen, aber vielleicht könnte es
eine „small Leadership“-Funktion sein: nicht oberlehrer-
haft, nicht selbstgefällig, nicht populistisch, sondern er-
gebnisorientiert und nachhaltig.

Unser Frieden und unser Wohlstand sind nicht nur
modellhaft, sondern sie verpflichten uns auch. Sie ver-
pflichten uns zu mehr internationaler Verantwortung.
Und sie verpflichten uns, international ein verlässlicher
Partner zu sein.

Eine der besonders tragenden Säulen dafür ist die
Entwicklungspolitik; denn bei aller Notwendigkeit mili-
tärischer Interventionen: Nur eine nachhaltige Entwick-
lungspolitik kann der Garant für Wohlstand und Frieden
in dieser Welt sein. Hier brauchen wir einen einheitli-
chen Ansatz. Wir brauchen internationale Zusammenar-
beit aus einem Guss. Hier haben wir eine moralische
Bringschuld – das ist angesprochen worden – zur Wah-
rung der Menschenrechte, zur Lösung von Konflikten
und zur Gestaltung einer gerechten und globalen Werte-
ordnung.

Ich spreche es hier an: Mich hat es befremdet, wie ab-
schätzig in der Presse im Zuge der Ressortverteilung
über Entwicklungspolitik gesprochen worden ist, so
nach dem Motto: Wer will denn das überhaupt werden?
Wer ist denn auf diesem Gebiet überhaupt tätig? Es sind
aber dieselben, die von uns internationale Verantwortung
einfordern. Das ist nicht in Ordnung, auch mit Blick auf
die Außenwirkung nicht. Es ist nicht in Ordnung mit
Blick auf die vielen Tausend Menschen, die sich in die-
sem Bereich ehrenamtlich engagieren, den vielen Ju-
gendlichen, die freiwillig Entwicklungsdienste leisten,
und den vielen Entwicklungshelfern, die weltweit aktiv
sind, um den Ärmsten der Armen in schwierigsten Situa-
tionen zu helfen. Das verdient mehr Respekt und Aner-
kennung. Das erwarte ich auch von den Medien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


In den Koalitionsverhandlungen haben wir bewusst
Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Entwicklungspoli-
tik als Ganzes verhandelt. Das ist auch gut so. Denn wir
können Frieden, Sicherheit, Wohlstand und Teilhabe nur
dann erreichen, wenn wir einen abgestimmten Politik-
ansatz haben. Es geht nicht, dass jeder für sich alleine
agiert; wir brauchen die Politikkohärenz und ein abge-
stimmtes Verhalten. Wir wollen auch in der Außen- und
Sicherheitspolitik eine mehr proaktive Rolle im interna-
tionalen Konfliktmanagement übernehmen.

Auch Europa – das ist bereits zu Recht angesprochen
worden – muss bei der Krisenreaktion und Krisenprä-
vention vorangehen. Europa muss darin gestärkt werden,
zukünftig als eine Einheit zu handeln. Wir müssen uns
bemühen, die Kräfte vor Ort, ob die Afrikanische Union
oder die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staa-
ten, in ihrer Eigenverantwortung zu unterstützen, damit
sie langfristig ihre Regionen selbst stabilisieren können.

Wir brauchen einen fairen und verlässlichen Welthan-
del. Wir müssen darauf achten, dass die Entwicklungslän-
der auf dem Entwicklungspfad voranschreiten können,
damit sie die Möglichkeit bekommen, auch internatio-
nale soziale Standards einzuhalten, und zum Wohle ihrer
Bevölkerung Welthandel treiben können. Wir wünschen
uns Handelspartner auf Augenhöhe. Ich sehe die Ent-
wicklungspolitik auch als vorausschauende Friedens-
politik, nicht zuletzt auch im eigenen Interesse. Wir
wollen nicht, dass zukünftig alle diese Themen und Pro-
bleme Teil unserer Innenpolitik sind. Deshalb wollen
wir, dass die Friedenspolitik vorausschauend ist und dass
wir hier präventiv tätig werden.





Dagmar G. Wöhrl


(A) (C)



(D)(B)

Es ist unsere Zukunftspolitik, und es ist unsere Auf-
gabe, in die anderen Politikgremien bzw. in die anderen
Ministerien hineinzutragen, dass auch wir in der globa-
len Welt die Zukunft für die Generation unserer Kinder
und für viele Menschen auf dieser Welt mit zu gestalten
haben.

Eines muss klar sein – ich glaube, es ist uns auch allen
klar, dass es leider so ist –: Die meisten unserer Einsätze
sind eher Feuerwehreinsätze. Es sind Feuerwehreinsätze,
für die leider gilt, dass zeitlich befristete Krisenpro-
gramme und mandatierte Militärinterventionen nur eine
Unterbrechung oder im günstigsten Fall die Beilegung
einer Krise oder eines Konflikts erzwingen. Das gilt für
die Not- und Übergangshilfe. Sie ist ohne Frage überle-
bensnotwendig. Aber meistens schaffen wir es nur, die
Menschen durchzubringen, bis die nächste Krise kommt.

Leider schaffen es die ärmsten Länder nicht, sich von
selbst zu regenerieren. Sie sorgen nicht vor. Jeder zweite
Bürgerkrieg in Afrika ist ein Rückfall. Das muss uns zu
denken geben, auch dahin gehend, dass wir es so, wie
wir bisher gehandelt haben, nicht schaffen, Krisen in der
Zukunft zu verhindern. Das heißt, wir müssen versu-
chen, die Menschen vor Ort zu befähigen, wie eine Art
Stehaufmännchen mit Krisen und Konflikten fertig zu
werden. Fachleute sprechen dabei von Resilienz.

Ich bin dankbar, dass die Welthungerhilfe das Kon-
zept der Resilienz in der Entwicklungszusammenarbeit
im jüngsten Welthungerindex zum Schwerpunkt ge-
macht hat. Die Europäische Union hat dies erstmals mit
SHARE in Äthiopien gemacht.

Ich bin dankbar, dass der Minister angekündigt hat,
zukünftig zehn grüne Zentren aufzubauen. Es geht da-
rum, dass die betroffenen Menschen selbst vorsorgen
können. Selbsthilfekräfte müssen geweckt und gestärkt
werden. Nur so kann die Entwicklungsspirale aufwärts
verlaufen.

Eines wissen wir mit Sicherheit: Wirtschaftswachs-
tum und Wohlstandsteilhabe reduzieren nachweislich
das Risiko, erneut in eine Konfliktfalle zu geraten. Dabei
helfen viele mit. Es gibt in den Entwicklungsländern
starke Frauen, die in der Prävention und auch in der Me-
diation zur Lösung von Konflikten sehr aktiv sind. Viele
haben wir auf unseren Delegationsreisen und bei der zi-
vilen Friedensarbeit kennengelernt. Ich wünsche der
neuen Präsidentin Catherine Samba-Panza Mut und
Kraft, in der Zentralafrikanischen Republik einen friedli-
chen Übergang zu Neuwahlen zu schaffen.

Das alles ist nicht zum Nulltarif zu haben. Wir haben
uns im Koalitionsvertrag zum 0,7-Prozent-Ziel bekannt.
Die Bundeskanzlerin hat 2 Milliarden Euro zusätzlich in
die Waagschale geworfen. Wir sind der drittgrößte Ge-
ber der Welt. Wir reden also nicht nur von internationa-
ler Verantwortung, sondern nehmen sie auch wahr. Aber
ich warne davor, auf diese magische Zahl wie das Kanin-
chen auf die Schlange zu schauen. Wir müssen auch al-
ternative Problemlösungen im Blick haben. Dazu gehö-
ren die Kooperation mit der Wirtschaft und zukünftig die
Kooperation mit Schwellenländern, die in diesem Be-
reich erst in ihre Rolle hineinwachsen müssen.

Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801015100

Frau Kollegin.


Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1801015200

Ich komme zum Schluss. – Wir haben eine gute

Roadmap für die nächsten vier Jahre. Wir stehen vor
großen Herausforderungen und haben viel Verantwor-
tung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.
Eigentlich liegt es nur an uns. Ich sage daher einfach:
Let’s do it.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801015300

Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, dass nach dem

letzten Debattenbeitrag die Wahlergebnisse von heute
Nachmittag bekannt gegeben werden.

Unser letzter Debattenbeitrag ist zugleich der erste
Debattenbeitrag der Kollegin Gabriela Heinrich von der
SPD-Fraktion. Bitte, Sie haben das Wort, Frau Heinrich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gabriela Heinrich (SPD):
Rede ID: ID1801015400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr

Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
heute schon darüber gesprochen, wie wichtig es ist, die
ländliche Entwicklung zu fördern. Der Herr Minister hat
mehrfach auf diesen Schwerpunkt bei der Bekämpfung
von Hunger und Armut hingewiesen. Ich denke, wir dür-
fen aber auch die Stadtentwicklung nicht aus den Augen
verlieren. Hunger und Armut auf dem Land, die Land-
flucht und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der
Städte – das alles gehört zusammen.

Heute lebt weltweit bereits jeder zweite Mensch in
der Stadt. Im Jahr 2050 werden es zwei Drittel sein.
Stadt bedeutet in vielen Entwicklungsländern jedoch
keineswegs eine vernünftige Infrastruktur oder gar bes-
sere Lebensbedingungen, sondern schlichtweg Slums.
Gerade in Afrika südlich der Sahara kann man Urbani-
sierung häufig nur synonym für Slumbildung verwen-
den. Deshalb müssen die wachsenden Städte weiterhin
ein wichtiger Bereich unserer Entwicklungspolitik sein.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Annette Schavan [CDU/CSU])


Ich als neues Mitglied des Bundestages will Sie nicht
belehren – Sie sind sehr viel besser mit dem Thema ver-
traut als ich –, aber ich glaube, es ist wichtig, sich noch
einmal kurz vor Augen zu führen, was es bedeutet, in ei-
nem Slum zu leben. Die Zahlen aus Slums wie Kibera
als Teil Nairobis oder Dharavi in Mumbai schwanken
und sind stets mit Vorsicht zu genießen. Man geht von
Hunderttausenden Menschen auf wenigen Quadratkilo-
metern aus. In einer Hütte leben häufig bis zu zehn Men-
schen auf 10 Quadratmetern, ohne Fenster und ohne Toi-
lette. Gerade für Frauen ist dieser Mangel an Toiletten





Gabriela Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

verheerend. Das ist eine schwere Beeinträchtigung ihrer
Würde, Gesundheit, Sicherheit und Privatsphäre.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Weit weniger als die Hälfte dieser Hütten hat Elektrizi-
tät, und die Stromleitungen werden oft unter abenteuerli-
chen Bedingungen angezapft. Sauberes Trinkwasser ist
rar, was dazu führt, dass Mütter damit leben müssen,
dass mindestens eines ihrer Kinder an Durchfallerkran-
kungen stirbt. Sauberes Wasser und Sanitärversorgung
sind Menschenrechte, und dafür müssen wir uns einset-
zen. Ich bin froh, dass ich mit Ihnen im AwZ zusammen-
arbeiten darf, um hier Abhilfe zu schaffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Problem wächst. Allein in Afrika werden im Jahr
2050 rund 900 Millionen Menschen mehr in Städten
wohnen als heute. Die Metropolen in Entwicklungslän-
dern wachsen nicht nur durch Landflucht, sondern zu-
nehmend durch natürliches Bevölkerungswachstum. Im
Jahr 2020 wird es weltweit 27 Megastädte mit mehr als
10 Millionen Einwohnern geben. Von denen werden
23 in Entwicklungsländern liegen.

Es ist unsere Aufgabe, die Städte in Entwicklungslän-
dern beim Wachstum zu begleiten und eine sinnvolle
Planung zu unterstützen, nicht nur für die Mega-, son-
dern auch für die Mittelstädte. Die Deutsche Stiftung
Weltbevölkerung weist völlig zu Recht darauf hin: Ge-
zielte Investitionen in Infrastruktur, Gesundheitseinrich-
tungen und Schulen werden gebraucht. Es geht ange-
sichts des Energiebedarfs von wachsenden Metropolen
– darauf wurde bereits hingewiesen – nicht zuletzt um
eine nachhaltige Energieversorgung.

Die Stadtentwicklung bietet eine große Chance zur
Senkung der Kindersterblichkeit, zur Verbesserung der
Müttergesundheit, zu Aufklärung und Familienplanung
und zur besseren Bekämpfung von HIV. Wir werden da-
für werben, dass in den nächsten vier Jahren noch mehr
deutsche Kommunen mit Städten in Entwicklungs- und
Schwellenländern Partnerschaften eingehen, um zum
Beispiel beim Aufbau von Infrastruktur zu beraten. Idea-
lerweise profitieren beide Städte bei einer kommunalen
Partnerschaft vom gegenseitigen Austausch.

Nicht nur bei der Stadtentwicklung, sondern für un-
sere Entwicklungspolitik insgesamt gilt: Wir müssen die
Rechte von Frauen im Blick haben und Menschen mit
Behinderung einbeziehen. Das haben wir so auch im Ko-
alitionsvertrag festschreiben können. Beides muss aus
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion selbstverständlicher
Bestandteil eines Zielkatalogs für die künftigen globalen
Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele werden.


(Beifall bei der SPD)


Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Worte
zu den Akteuren der Entwicklungspolitik. In den nächs-
ten vier Jahren möchten wir die NGOs, Gewerkschaften,
Kirchen und Stiftungen wieder stärker in die politische
Entscheidungsfindung einbinden und Partizipation er-
möglichen. Wir werden einen Dialog auf Augenhöhe mit
den zivilgesellschaftlichen Akteuren führen und uns mit
diesen abstimmen; auch der Herr Minister hat darauf be-
reits hingewiesen. Denn Entwicklungspolitik kann nur
ihre volle Stärke entfalten, wenn alle an einem Strang
ziehen und ihre Kräfte bündeln. Dafür werden wir uns
einsetzen, und wir laden alle ein, mitzumachen. Ich bin
sehr gerne dabei.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1801015500

Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin Heinrich, zu

Ihrer ersten Rede hier und heute in dieser wichtigen De-
batte.


(Beifall)


Ich komme nun zur Verlesung der Ergebnisse der
Wahlen, die wir heute Nachmittag vorgenommen ha-
ben.1)

Bei der ersten Wahl ging es um die Wahl der Mitglie-
der des Vertrauensgremiums gemäß § 10 a Abs. 2 der
Bundeshaushaltsordnung. Die Mitgliederzahl des Deut-
schen Bundestages beträgt 631. Abgegebene Stimmkar-
ten 600, ungültige Stimmkarten keine. Zur Wahl sind
mindestens 316 Stimmen erforderlich. Gewählt wurden
die Kollegen Norbert Barthle, Dr. Reinhard Brandl,
Bartholomäus Kalb, Rüdiger Kruse, Bettina Hagedorn,
Johannes Kahrs, Carsten Schneider, Dr. Dietmar Bartsch
und Anja Hajduk. Damit sind diese 9 Abgeordneten
– das waren auch die 9 Kandidaten für das Amt – mit der
mindestens erforderlichen Mehrheit gewählt. Die Ein-
zelheiten entnehmen Sie bitte dem gedruckten Protokoll
der 11. Sitzung.

Wahl der Mitglieder des Wahlausschusses für die vom
Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bun-
desverfassungsgerichts gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes
über das Bundesverfassungsgericht: abgegebene Stim-
men 598, gültige Stimmen 590, ungültige Stimmen 8.
Von den gültigen Stimmen entfielen auf die Wahlvor-
schläge der Fraktion der CDU/CSU 294 Stimmen, auf
die Wahlvorschläge der Fraktion der SPD 179 Stimmen,
auf die Wahlvorschläge der Fraktion Die Linke 59 Stim-
men, auf die Wahlvorschläge der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen 58 Stimmen. Nach dem Höchstzahlverfah-
ren nach d’Hondt entfallen deshalb auf den Wahlvor-
schlag der Fraktion der CDU/CSU 6 Mitglieder, der
Fraktion der SPD 4 Mitglieder, der Fraktion Die Linke
1 Mitglied und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auch 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitglieder
entnehmen Sie bitte den Drucksachen 18/362 bis 18/365

(neu).


Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses gemäß
§ 5 des Richterwahlgesetzes: abgegebene Stimmen 595,
Enthaltungen 2, ungültige Stimmen 3. Von den gültigen
Stimmen entfielen auf die Wahlvorschläge der Fraktion
der CDU/CSU 292 Stimmen, der Fraktion der SPD

1) siehe Anlagen 11. Sitzung





Vizepräsident Peter Hintze


(A) (C)



(B)

181 Stimmen, der Fraktion Die Linke 58 Stimmen, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen 59 Stimmen. Nach
dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt entfallen auf
den Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU 9 Mit-
glieder, der Fraktion der SPD 5 Mitglieder, der Fraktion
Die Linke 1 Mitglied, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen 1 Mitglied. Die Namen der gewählten Mitglieder
und Stellvertreter entnehmen Sie bitte den Drucksachen
18/366 bis 18/369.

Gerade kommt das Ergebnis der Wahl der Mitglieder
des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesenge-
setzes, also des Bundesfinanzierungsgremiums. Auch hier
waren zur Wahl mindestens 316 Stimmen erforderlich.
Abgegebene Stimmkarten 597, ungültige Stimmkarten
keine. Alle Kandidaten haben die erforderliche Mehrheit
erreicht. Gewählt wurden die Abgeordneten Norbert
Brackmann, Cajus Caesar, Klaus-Dieter Gröhler, Christian
Hirte, Bartholomäus Kalb, Ulrike Gottschalck, Thomas
Jurk, Johannes Kahrs, Dr. Gesine Lötzsch und Sven-
Christian Kindler. Die Einzelheiten können Sie auch hier
dem Protokoll der 11. Sitzung entnehmen.

Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 30. Januar 2014,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.