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    Plenarprotokoll 18/10 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 I n h a l t : Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 561 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin mit anschließender Aussprache . . . 561 B Dr. Angela Merkel,  Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 C Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 571 B Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 575 B Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 583 A Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 586 B Monika Grütters, Staatsministerin  BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 592 A Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 C Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 595 D Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 A Außen, Europa und Menschenrechte . . . . . 598 C Dr. Frank-Walter Steinmeier,  Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 600 D Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 601 D Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 C Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 606 A Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 606 C Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 608 C Tagesordnungspunkt 2: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der inte- grierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksachen 18/262, 18/347. . . . . . . . . . . 609 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/382 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 610 D Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 612 B Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 613 C Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 614 C Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 B Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 616 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 616 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 618 A Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 D Tagesordnungspunkt 3: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesam- ten Mittelmeer Drucksachen 18/263, 18/348 . . . . . . . . . . . 618 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/383 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 623 A Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 624 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 B Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 D Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 626 D Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 A Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 627 B Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 C Tagesordnungspunkt 4: a) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung des Ver- trauensgremiums gemäß § 10a Ab- satz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/358. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Vertrauens- gremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/359. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C b) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des Bundes- schuldenwesengesetzes Drucksache 18/360. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschulden- wesengesetzes Drucksache 18/361. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschus- ses für die vom Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfas- sungsgerichts gemäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes Drucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 C d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes (Richterwahlaus- schuss) Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 D Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 C, D; 660 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin  (Fortsetzung der Aussprache) . . . . . . . . . . . . . 631 D Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 633 D Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 635 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 637 A Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 638 A Kathrin Vogler (DIE LINKE). . . . . . . . . . . 638 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 641 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 A Gabi Weber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 645 A Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 D Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 C Dr. Gerd Müller, Bundesminister  BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 649 B Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 650 B Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 III Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 652 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 653 D Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 657 A Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 658 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 661 A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesre- gierung: Fortsetzung der Entsendung bewaff- neter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Natio- nen) sowie des Beschlusses des Nordatlantik- rates vom 4. Dezember 2012 (Tagesordnungs- punkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 661 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 661 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 561 (A) (C) (D)(B) 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Beginn: 11.00 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 661 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den An- trag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidi- gung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbst- verteidigung (Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlan- tikrates vom 4. Dezember 2012 (Tagesord- nungspunkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD): Ich konnte der Mandats- verlängerung der Operation Active Fence nicht zustim- men.  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 29.01.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 29.01.2014 Freese, Ulrich SPD 29.01.2014 Gerdes, Michael SPD 29.01.2014 Heller, Uda CDU/CSU 29.01.2014 Juratovic, Josip SPD 29.01.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Petzold (Havelland), Harald DIE LINKE 29.01.2014 Rüthrich, Susann SPD 29.01.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Schmidt (Wetzlar), Dagmar SPD 29.01.2014 Steinbrück, Peer SPD 29.01.2014 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 29.01.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Die Entwicklung in Syrien bedaure ich zutiefst, vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung im Bürgerkrieg verurteile ich aufs Schärfste. Es muss das Ziel sein, so bald als möglich einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien herbeizuführen. Gerade werden in Genf die ersten Verhandlungen zu einer Lösung des syrischen Konflikts geführt. Ich begrüße und unterstütze diesen Verhandlungsprozess. Für meinen Entschluss, der Mandatsverlängerung nicht zuzustimmen gibt es gute Gründe. Die Gesamtkon- zeption des Einsatzes ist, abgesehen von einer symboli- schen Solidaritätshandlung gegenüber der Türkei, frag- lich. So sind die Patriot-Flugabwehrraketenstellungen nicht geeignet, um gegnerische Artillerie- oder Mörser- granaten abzuwehren. Dies ist jedoch die einzige realis- tische Bedrohung, welche aktuell für die Türkei von Sy- rien ausgeht. Des Weiteren ist die Befürchtung eines möglichen Einsatzes von syrischem Giftgas hinfällig ge- worden. Seit der Resolution des Sicherheitsrats der Ver- einten Nationen zur Vernichtung der syrischen Chemie- waffen und dem bereits begonnenen Abtransport dieser Waffen ist dieses Bedrohungsszenario ausgeschlossen. Mit einem Abzug der Patriot-Flugabwehrraketenstel- lungen könnte von westlicher Seite ein Signal für eine Entmilitarisierung und Deeskalation der Region gesen- det werden. Es muss in erster Linie um die humanitäre Situation der Menschen in Syrien sowie der syrischen Flüchtlinge in den Anrainerstaaten gehen und nicht um ein sehr unwahrscheinliches Bedrohungsszenario. Das Ende des Patriot-Mandats in der Türkei wäre ein erstes Signal vonseiten der NATO, dass eine friedliche Lösung für Syrien gewünscht ist. Dies gilt insbesondere als Un- terstützung für die aktuellen Friedensverhandlungen in Genf. Denn ohne einen stabilen Waffenstillstand ist der Weg hin zu Frieden und humanitärer Hilfe unmöglich. Ähnlich wie es ein symbolischer Akt war, im Winter 2012/13 der Türkei die Bündnissolidarität deutlich zu zeigen, ist es heute angesagt, ein Zeichen zur Deeskala- tion und für die Friedensverhandlungen zu setzen. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ich stimme gegen den Antrag der Bundesregierung, deutsche Truppen an die türkisch-syrische Grenze zu entsenden, vor allem auch, weil die Begründung für den Einsatz auf einer Lüge und einer massiven Täuschung von Öffentlichkeit und Parlament durch die Bundesregierung beruht. Im Antrag der Bundesregierung zur Entsendung deut- scher Streitkräfte in die Türkei (NATINADS) heißt es unter Abs. 2, „Völkerrechtliche Grundlagen“, wörtlich: Auf Antrag der Türkei waren im Nordatlantikrat am 26. Juni und 3. Oktober 2012 Konsultationen nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages durchgeführt wor- den. Angesichts einer dargelegten Bedrohung der Un- versehrtheit des türkischen Staatsgebiets und der ei- genen Sicherheit hatte der Nordatlantikrat auf An- Anlagen 662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 (A) (C) (D)(B) trag der türkischen Regierung vom 21. November 2012 am 4. Dezember 2012 beschlossen, die Fähig- keiten im Bereich der integrierten Luftverteidigung der NATO zu verstärken. Mit ihrem Beschluss und einer entsprechenden Ver- legung schuf die NATO die Voraussetzung für die beteiligten Parteien, für den Fall eines bewaffneten Angriffes auf die Türkei (Artikel 5 des Nordatlan- tikvertrags) vom Recht zur individuellen oder kol- lektiven Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) Gebrauch machen zu kön- nen. Anlass dieser Konsultationen war zunächst der ver- meintliche Abschuss eines türkischen Aufklärungsflug- zeuges und später der vermeintliche Granatenbeschuss durch die syrische Armee. Auf dieser Grundlage und bei diesen Gelegenheiten wurde die Bedrohung der Türkei nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages festgestellt. In ei- ner Erklärung des Nordatlantikrates nach diesem Treffen wurde festgestellt, dass es sich um einen „unacceptable“ Akt handele, der zu verurteilen sei. Zudem wurde der vermeintliche Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs als weiteres Beispiel der syrischen Behörden in ihrer Missachtung völkerrechtlicher Normen, des Friedens, der Sicherheit und des menschlichen Lebens betrachtet, so der NATO-Rat. Auf diese Weise ist die NATO als for- males Verteidigungsbündnis überhaupt erst ins Spiel ge- kommen, und das hat die Türkei in ihrem eskalierenden Kurs gegenüber Syrien gestärkt. Die Darstellung der türkischen Regierung und der Vorwurf der NATO lautet also, dass die syrische Luftab- wehr über internationalen Gewässern ein Aufklärungsflug- zeug der türkischen Armee abgeschossen hätte, nachdem dieses versehentlich – und zwar im Tiefflug – in syri- schen Luftraum eingedrungen wäre. Ursächlich und un- umstritten liegt also eine türkische Verletzung des syri- schen Hoheitsgebietes vor. Dass aber der Abschuss über internationalen Gewäs- sern stattfand, wurde schnell bezweifelt; die Kenntnisse der NATO weichen von den Angaben der Türkei über die Absturzstelle ab und werden zudem geheim gehal- ten. Die Bundesregierung hat die Geheimhaltung dieser Informationen verteidigt und in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage entsprechend dargelegt: „Eine Offenle- gung könnte zur Folge haben, dass dem Bundesnachrich- tendienst künftig keine schutzbedürftigen Erkenntnisse anvertraut werden.“ (Bundestagsdrucksache 17/13515) Ich stimme gegen die Entsendung deutscher Bundes- wehrsoldaten, auch weil der Standpunkt der Bundesre- gierung einfach nicht der Wahrheit entspricht. Denn sicher ist doch, dass das türkische Flugzeug von keiner Rakete getroffen wurde, womit ein Abschuss in internationalem Luftraum ausscheidet. Mittlerweile er- scheint zweifelhaft, ob es überhaupt einen Beschuss des türkischen Flugzeugs gab oder dieses nicht aufgrund des riskanten Manövers und veralteter Technik abgestürzt ist. In einem Text der International Crisis Group heißt es hierzu: „Wie auch immer, es wurden keine Anzeichen ei- nes Raketeneinschlags auf dem Wrack des Flugzeugs, einer Phantom F4, entdeckt.“ Auch die Stiftung Wissen- schaft und Politik schreibt zu diesem Vorfall und der er- zwungenen Landung eines aus Moskau kommenden sy- rischen Flugzeugs: „In beiden Fällen musste die Türkei schon bald einräumen, dass ihre jeweilige Darstellung unrichtig war“. Trotzdem haben der NATO-Generalsekretär und der Nordatlantikrat, an dem Vertreter der Bundesregierung teilgenommen haben, denen zu diesem Zeitpunkt schon eigene und von der türkischen Darstellung stark abwei- chende Informationen vorlagen, anlässlich der Art.-4- Konsultationen gegenüber der Öffentlichkeit folgende Aussage gemacht: „Das ist ein weiteres Beispiel für die Missachtung der internationalen Normen, des Friedens, der Sicherheit und des Menschenlebens durch das syri- sche Regime.“ Damit haben die NATO, deren Generalsekretär und die deutsche Bundesregierung die Öffentlichkeit be- wusst und gezielt falsch informiert. Noch am 7. November 2012 wertete die Bundesregie- rung den vermeintlichen Abschuss des türkischen Mili- tärjets als „unverhältnismäßigen Akt“. Im Mai 2013 be- gründete sie diese Einschätzung mit „den zugrunde gelegten Informationen, dass ein Abschuss im interna- tionalen Luftraum ohne Vorwarnung erfolgt sei“. Bereits im November 2013 spätestens lagen jedoch auch der Bundesregierung die Erkenntnisse der NATO vor, wo- nach der Abschuss nicht in internationalem Luftraum er- folgt sein kann – sofern er überhaupt erfolgt ist. Ich stimme gegen eine Entsendung der Patriot-Rake- ten, weil auch der zweite Grund, der angebliche Grana- tenbeschuss durch syrische Streitkräfte ohne vorherige Angriffe türkischer Streitkräfte, äußerst zweifelhaft ist: Denn was die zweiten Konsultationen angeht, so er- folgten diese aufgrund von vermeintlichem Granatenbe- schuss türkischen Territoriums von Syrien aus. Auch hier wurden schnell auch aus NATO-Kreisen Zweifel laut, ob diese tatsächlich von der syrischen Armee oder den eng mit der Türkei kooperierenden Rebellen abge- schossen wurden: NATO-Vertreter gaben an, dass es sich um Granaten aus NATO-Beständen handelte. Eine Un- tersuchung der Vorfälle hat nach Angaben der Bundesre- gierung nicht stattgefunden und sei auch nicht angestrebt worden; auch hier hat man sich einfach und unkritisch der türkischen Darstellung angeschlossen. Die Bundes- regierung hat dazu keine eigenen Informationen und auch keine eigenen Untersuchungen angestrebt, aber „geht davon aus“, dass es zumindest in einem Fall Ende September „Beschuss türkischen Territoriums durch sy- rische Artilleriekräfte gab“. Am 3. Oktober 2012, am Tag der zweiten NATO-Konsultationen, gab es auch Be- schuss syrischen Territoriums durch die türkische Ar- mee. Hierzu gibt die Bundesregierung an, dass ihr „über die Presseberichterstattung hinaus … keine eigenen Er- kenntnisse“ vorlägen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Türkei zweifellos Handlungen vorgenommen hat, die völker- rechtlich als Angriffshandlungen gewertet werden kön- nen, Bundesregierung und NATO diese jedoch nicht zur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 663 (A) (C) (B) Kenntnis nehmen. Demgegenüber werden vermeintliche Reaktionen der syrischen Armee auf diese Angriffshand- lungen als „Bedrohung der Unversehrtheit des türki- schen Staatsgebiets“ aufgefasst, welche die „Solidarität“ des Bündnisses unter anderem in Form der Patriot-Sta- tionierung aktivieren. Ich stimme gegen die Patriot-Entsendung, weil die Abgeordneten von der Bundesregierung bisher regel- recht getäuscht worden sind. Beide Begründungen für die Entsendung der Patriots sind schlicht nicht haltbar. Ich finde, in einer so wichtigen Frage, wenn es um Krieg oder Frieden geht, wichtige Informationen vor der Öffentlichkeit zurückzuhalten, wie den abweichen- den NATO-Bericht, ist schon bemerkenswert. Da ist et- was ins Rutschen geraten, was die Demokratie in Deutsch- land insgesamt infrage stellt. Mit der Befreiung vom Faschismus und vom deutschen Militarismus hatte die Bundesrepublik einst auch mit einer Kriegspolitik gebro- chen, die von einer Geheimdiplomatie vorbereitet wird. Dies steht jetzt infrage. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung manipuliert Informationen, um Aus- landseinsätze der Bundeswehr zu legitimieren. Deshalb stimme ich gegen den Einsatz der Bundeswehr. Der Fall der Patriots, aber nicht nur dieser Fall, zeigt klar und deutlich: Um Auslandseinsätze durchzusetzen, werden Öffentlichkeit und Parlament gnadenlos belogen. Wer dann auch nur wagt, kritisch nachzufragen, wird als Assad-Unterstützer diffamiert. Das ist ein Prinzip, das sich in Deutschland leider mittlerweile etabliert hat. Die NATO hat diese Kriegslüge mit auf den Weg gebracht. Sie wusste, dass an der türkischen Version etwas nicht stimmen kann. Damit werden die Deutschen mit zu Geiseln der AKP und der Brüsseler NATO-Zentrale und ihrer Desinformationspolitik. Von Bündnisverteidi- gung kann keine Rede mehr sein. Man kann sich des Ein- drucks nicht erwehren, als ginge es darum, die Bundes- wehr in möglichst viele Auslandseinsätze zu schicken. Die NATO sucht zudem nach ihrer sich abzeichnenden Niederlage am Hindukusch nach neuen Betätigungsfel- dern. Dass sie nunmehr an der Seite von islamistischen Milizen und Al-Qaida-Kämpfern in Syrien steht, ist mehr als eine Ironie der Geschichte. Für mich ist es ein Verbrechen. (D) 10. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin TOP 1 Außen, Europa und Menschenrechte TOP 2 Bundeswehr-Einsatz OAF (Türkei) TOP 3 Bundeswehr-Einsatz OAE TOP 4 a Wahl: Vertrauensgremium TOP 4 b Wahl: Gremium Bundesschuldenwesengesetz TOP 4 c Wahl: Wahlausschuss Bundesverfassungsrichter TOP 4 d Wahl: Richterwahlausschuss TOP 1 Verteidigung TOP 1 Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anlagen
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Angela Merkel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)


    Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

    Meine sehr geehrten Damen und Herren! Angesichts der
    aktuellen Ereignisse lassen Sie mich bitte zu Beginn ei-
    nige Worte zur Lage in der Ukraine sagen. Durch den
    Druck der Demonstrationen werden jetzt ganz offen-
    sichtlich ernsthafte Gespräche zwischen dem Präsiden-
    ten und der Opposition über notwendige politische
    Reformen möglich. Der Bundesaußenminister, das
    Kanzleramt und die deutsche Botschaft in Kiew unter-
    stützen die Bemühungen um eine friedliche Lösung des
    Konflikts und die berechtigten Anliegen der Opposition
    mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir ste-
    hen dazu auch in engem Kontakt mit der Hohen Beauf-
    tragten Lady Ashton und werden unsere Bemühungen in
    den nächsten Stunden und Tagen fortsetzen.

    Viele Menschen in der Ukraine haben seit dem EU-
    Gipfel zur Östlichen Partnerschaft Ende November in
    Vilnius in mutigen Demonstrationen gezeigt, dass sie
    nicht gewillt sind, sich von Europa abzukehren.


    (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


    Im Gegenteil: Sie setzen sich für die gleichen Werte ein,
    die auch uns in der Europäischen Union leiten, und des-
    halb müssen sie Gehör finden.

    Unverändert gilt, dass die Tür für die Unterzeichnung
    des EU-Assoziierungsabkommens durch die Ukraine
    weiter offen steht. Und unverändert gilt, dass die Gefahr
    eines Entweder-oder im Hinblick auf das Verhältnis der
    Länder der Östlichen Partnerschaft zu Europa oder zu
    Russland überwunden werden muss und – davon bin ich
    überzeugt – in geduldigen Verhandlungen auch über-
    wunden werden kann. Genau dies haben auch der EU-
    Ratspräsident Van Rompuy und EU-Kommissionspräsi-
    dent Barroso gestern beim EU-Russland-Gipfel gegen-
    über dem russischen Präsidenten Putin noch einmal zum
    Ausdruck gebracht. Auch die Bundesregierung wird dies
    gegenüber Russland unvermindert zum Ausdruck brin-
    gen, zum Wohle aller in der Region.





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    Meine Damen und Herren, bevor wir nun auf die
    nächsten Jahre schauen, sollten wir kurz zurückblicken:
    auf den Beginn dieses Jahrhunderts. Damals galt
    Deutschland als der kranke Mann Europas. Die soziale
    Marktwirtschaft, die unser Land im 20. Jahrhundert
    nachhaltig geprägt hat, wurde national wie international
    fast schon als Auslaufmodell angesehen. Manche mein-
    ten, dass unsere Wirtschafts- und Sozialordnung zu behä-
    big, zu altmodisch für die Anforderungen der Globalisie-
    rung im 21. Jahrhundert geworden sei. Und heute, zehn
    Jahre später? Heute können wir feststellen: Deutschland
    geht es so gut wie lange nicht. Die Wirtschaft wächst,


    (Zuruf von der LINKEN: Die Armut wächst!)


    die Beschäftigung ist auf dem höchsten Niveau seit der
    Wiedervereinigung, die Menschen schauen so optimis-
    tisch in die Zukunft wie seit dem Fall der Mauer nicht
    mehr,


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    und von der sozialen Marktwirtschaft als Auslaufmodell
    spricht keiner mehr, von Deutschland als krankem Mann
    Europas erst recht nicht.

    Im Gegenteil: Deutschland ist Wachstumsmotor in
    Europa, Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Wir
    sind rascher und stärker aus der weltweiten Wirtschafts-
    und Finanzkrise herausgekommen als andere. Wir tragen
    maßgeblich dazu bei, dass die europäische Staatsschul-
    denkrise überwunden werden kann. Für diese Erfolgsge-
    schichte ist das Zusammenspiel der Sozialpartner ganz
    entscheidend, das Zusammenspiel der Arbeitgeber und
    der Gewerkschaften, das unserem Land gemeinsam mit
    klugen politischen Entscheidungen die Stabilität und
    Stärke gibt, die heute notwendig sind. Sie sind notwen-
    dig, wenn wir den Anspruch haben, nicht einfach irgend-
    wie die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit zu
    meistern, sondern so, dass sich die Werte und Interessen
    Deutschlands und Europas auch in Zukunft im harten
    weltweiten Wettbewerb behaupten können. Ich habe die-
    sen Anspruch, die Regierung der Großen Koalition hat
    diesen Anspruch.

    Wir haben den Anspruch, nicht einfach irgendwie aus
    den weltweiten und europäischen Finanz- und Schulden-
    krisen herauszukommen, sondern stärker, als wir in sie
    hineingegangen sind. Wir haben den Anspruch, nicht
    einfach irgendwie mit den großen Herausforderungen
    unserer Zeit beim Schutz unseres Klimas, beim Zugang
    zu Energie oder beim Kampf gegen die asymmetrischen
    Bedrohungen fertigzuwerden, sondern so, dass wir unse-
    ren Werten und unseren Interessen gerecht werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist wichtiger
    denn je. Längst hat die Globalisierung unsere Welt auch
    im Kleinen erfasst. Heute leben über 7 Milliarden Men-
    schen auf der Erde. Sie alle wollen am Wohlstand teilha-
    ben. Als Exportnation sind wir auf vielfältige Weise mit
    anderen Nationen verflochten. Niemand kann sich mehr
    darauf beschränken, nur seine eigenen Belange im Blick
    zu haben, und wenn er es doch tut, dann schadet er über
    kurz oder lang sich selbst.
    In den 50er-Jahren hatte nur 1 Prozent der Weltbevöl-
    kerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren. Heute
    wird über die Hälfte aller Menschen über 70 Jahre alt.
    Schon diese eine Zahl gibt uns eine Ahnung vom Aus-
    maß der demografischen Entwicklung, mit der ja auch
    gerade Deutschland umzugehen lernen muss.

    Die digitalen Möglichkeiten und das Internet verän-
    dern unser Leben rasant. Sie schaffen schier unendliche
    Kommunikations- und Informationsformen, haben aber
    auch eine kaum absehbare Wirkung auf den Schutz des-
    sen, was privat und persönlich sein und bleiben sollte.

    Es versteht sich von selbst: Mit der globalen und digi-
    talen Dynamik unserer Zeit müssen wir Schritt halten.
    Mehr noch: Ein Land wie Deutschland, größte und
    stärkste Volkswirtschaft Europas, muss an ihrer Spitze
    stehen und auch stehen wollen, und zwar nicht um uns
    ihr zu unterwerfen, sondern um die Chancen erkennen
    und auch nutzen zu können, die ohne jeden Zweifel in
    ihr stecken. Das gilt für unsere Forscher und Entwickler,
    das gilt für unser Bildungssystem, das gilt für unsere Un-
    ternehmen und Arbeitnehmer, und das gilt für unsere Art
    der Energieversorgung.

    Mit dieser Dynamik Schritt zu halten, an der Spitze
    der Entwicklung zu stehen, das ist eine der großen politi-
    schen wie ethischen Gestaltungsaufgaben unserer Gene-
    ration. Sie kann nur mit einem Kompass gelingen. Die-
    ser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft,


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    weil sie immer mehr war als eine Wirtschaftsordnung,
    weil sie als Wirtschafts- und Sozialordnung wirtschaftli-
    che Kraft und sozialen Ausgleich miteinander verbindet.
    Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil ihre
    Prinzipien zeitlos gültig sind und sie doch mit der Zeit
    gehen und weiterentwickelt werden können, wie dies mit
    der ökologischen und der internationalen Dimension un-
    seres Lebens gelungen ist.

    Die soziale Marktwirtschaft ist unser Kompass, weil
    sie wie keine zweite Wirtschafts- und Sozialordnung den
    Menschen in den Mittelpunkt stellt. Genau darum hat es
    zu gehen: um den Menschen im Mittelpunkt unseres
    Handelns.


    (Zuruf von der LINKEN: Schön wär’s! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Fangen Sie mal damit an!)


    Das leitet mich seit meinem Amtsantritt im November
    2005 in meinem Verständnis als Kanzlerin aller Deut-
    schen und aller in Deutschland lebenden Menschen,
    gleich welcher Herkunft, das leitet mich auch in Zu-
    kunft, und das leitet die Regierung der Großen Koalition
    von CDU, CSU und SPD.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Eine Politik, die nicht den Staat, nicht Verbände, nicht
    Partikularinteressen, sondern den Menschen in den Mit-
    telpunkt ihres Handelns stellt, eine solche Politik kann
    die Grundlagen für ein gutes Leben in Deutschland und
    Europa schaffen.


    (Zuruf von der LINKEN: Nicht nur reden!)






    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    Die Quellen des guten Lebens sind Freiheit, Rechts-
    staatlichkeit, politische Stabilität, wirtschaftliche Stärke
    und Gerechtigkeit. Die Regierung der Großen Koalition
    will die Quellen des guten Lebens allen zugänglich ma-
    chen, das bedeutet, allen bestmögliche Chancen zu eröff-
    nen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Im Zweifel handeln wir für den Menschen. Bei jeder Ab-
    wägung von großen und kleinen Interessen, bei jedem
    Ermessen: Die Entscheidung fällt für den Menschen.


    (Widerspruch bei der LINKEN)


    So dienen wir den Menschen und unserem Land. Wir ge-
    stalten Deutschlands Zukunft – um es mit dem ebenso
    einfachen wie klaren Motto des Koalitionsvertrages von
    CDU, CSU und SPD zu sagen.

    Dabei setzen wir erstens auf solide Finanzen, zwei-
    tens auf Investitionen in die Zukunft unseres Landes,


    (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch alles nicht!)


    drittens auf die Stärkung unseres gesellschaftlichen Zu-
    sammenhalts, viertens auf die Fähigkeit Deutschlands,
    Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen.
    Diese vier Punkte sind nicht hierarchisch gegliedert. Sie
    stehen gleichrangig nebeneinander. Ohne solide Finan-
    zen könnten wir keine Zukunft gestalten. Ohne gezielte
    Investitionen in die Zukunft unseres Landes bliebe Spa-
    ren Selbstzweck. Ohne die Stärkung unseres gesell-
    schaftlichen Zusammenhalts ginge unserem Land vieles
    von seiner sozialen Stabilität verloren, die ja gerade ein
    Garant unseres wirtschaftlichen Erfolgs ist. Ohne die Fä-
    higkeit Deutschlands, Verantwortung in Europa und der
    Welt zu übernehmen, schadeten wir unseren Partnern
    wie uns selbst, unseren Werten und Interessen, wir scha-
    deten uns politisch und ökonomisch.

    Es ist doch gerade erst etwas mehr als fünf Jahre her,
    dass wir erlebt haben, wohin die verantwortungslosen
    Exzesse der Märkte, Überschuldung und eine mangel-
    hafte Regulierung der internationalen Finanzmärkte füh-
    ren können. Wir haben erlebt, dass dies mit einem
    Schlag gravierende Auswirkungen auf alle Staaten die-
    ser Erde hatte, auch auf Deutschland. Wir mussten da-
    mals einen der schlimmsten Wirtschaftseinbrüche, den
    schlimmsten Wirtschaftseinbruch in der Geschichte der
    Bundesrepublik Deutschland, verkraften. Es ist das blei-
    bende Verdienst der damaligen Koalition von CDU,
    CSU und SPD, Deutschland 2009 gemeinsam mit den
    Sozialpartnern so rasch, so erfolgreich durch diese Krise
    geführt zu haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Einen nachhaltigen Erfolg kann Deutschland aber
    nicht alleine haben. Eine Politik, die den Menschen in
    den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, setzt deshalb alles
    daran, dass alle, dass die ganze Welt die Lektionen aus
    dieser damaligen Krise lernt. Eine davon ist und bleibt:
    Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein
    Finanzplatz darf ohne angemessene Regulierung blei-
    ben;


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

    Finanzakteure müssen durch die Finanztransaktionsteuer
    zur Verantwortung gezogen werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Auch in der internationalen sozialen Marktwirtschaft ist
    nämlich der Staat der Hüter der Ordnung. Deutschland
    übernimmt Verantwortung in Europa und der Welt, da-
    mit sich genau diese Einsicht, dass der Staat Hüter der
    Ordnung ist, durchsetzen kann.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Dazu sind Fortschritte bei der Regulierung der Finanz-
    märkte unverzichtbar, und zwar Fortschritte, die diesen
    Namen auch wirklich verdienen, wenn wir das Verspre-
    chen einhalten wollen, das wir den Menschen gegeben
    haben. Das ist das Versprechen, dass sich eine solch ver-
    heerende weltweite Finanzkrise nicht wiederholen darf.
    Das bedeutet, in einem Satz gesagt: Wer ein Risiko ein-
    geht, der haftet auch für die Verluste, und nicht mehr der
    Steuerzahler.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


    Manches ist erreicht. Vieles ist zu tun. Deshalb sind die
    Regelungen für eine Bankenunion in Europa so wichtig;
    denn bei der Sanierung und Abwicklung von Banken hat
    für uns die Einhaltung einer klaren Haftungskaskade
    eine zentrale Bedeutung.

    Meine Damen und Herren, wir alle müssen verstehen,
    dass es mehr denn je nicht mehr ausreicht, nur auf die ei-
    gene Kraft und Stärke zu setzen. Konkret heißt das:
    Auch Deutschland ist auf Dauer nur stark, wenn auch
    Europa stark ist; auch Deutschland geht es auf Dauer nur
    gut, wenn es auch Europa gut geht. Doch ich kann uns
    auch heute nicht ersparen, darauf hinzuweisen: Auch
    wenn die europäische Staatsschuldenkrise nicht mehr
    täglich die Schlagzeilen bestimmt, müssen wir doch se-
    hen, dass sie allenfalls unter Kontrolle ist. Dauerhaft und
    nachhaltig überwunden ist sie damit noch nicht. Wir ha-
    ben zwar eine Wirtschafts- und Währungsunion, in der
    nationale Entscheidungen jeweils Auswirkungen auf alle
    anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion haben, aber
    wir haben auch eine Währungsunion, deren wirtschafts-
    politische Koordinierung nach wie vor überaus mangel-
    haft gestaltet ist. Ohne entscheidende Fortschritte, ohne
    einen Quantensprung hier werden wir die europäische
    Staatsschuldenkrise nicht überwinden. Wir werden viel-
    leicht irgendwie mit ihr zu leben lernen, aber unseren
    Platz an der Spitze der globalen Entwicklung werden wir
    so nicht halten können. So werden wir nicht stärker aus
    der Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangen
    sind. Doch nur das kann Europas Anspruch sein: nach der
    Krise stärker zu sein als vor der Krise; und weil das so ist,
    dürfen wir der trügerischen Ruhe jetzt nicht trauen. Ja, es
    ist wahr: Europa ist auf dem Weg zu Stabilität und Wachs-
    tum bereits ein gutes Stück vorangekommen. Wahr ist
    aber auch, dass wir uns unvermindert anstrengen müssen,
    um Vorsorge für die Zukunft zu treffen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)






    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    Dafür müssen wir die Wirtschafts- und Währungs-
    union vertiefen und damit das nachholen, was bei ihrer
    Gründung versäumt wurde: der Währungsunion eine
    echte Wirtschaftsunion zur Seite zu stellen.


    (Cornelia Möhring [DIE LINKE]: Sozialunion!)


    Hierfür müssen wir auch die europäischen Institutionen
    stärken. In einer echten Wirtschaftsunion werden wir um
    ein Mehr an Verbindlichkeit nicht herumkommen. Ich
    bin überzeugt: Dazu müssen auch die EU-Verträge wei-
    terentwickelt werden.

    Das Ziel ist ein Europa, das seine Kräfte bündelt und
    das sich auf die großen Herausforderungen konzentriert.
    Alle europäischen Politiken, die Energie- und Klima-
    politik, die Gestaltung des Binnenmarktes, die Außen-
    handelsbeziehungen, müssen sich daran messen lassen,
    ob sie zur Stärkung der europäischen Wirtschaftskraft
    und damit auch zu Wohlstand und Beschäftigung beitra-
    gen oder nicht. Denn sie bilden zusammen mit den natio-
    nalen Reformanstrengungen die Grundlage, um neues
    Wachstum und dauerhafte Beschäftigung für die Bürge-
    rinnen und Bürger Europas zu schaffen.

    Auch die europäische Politik muss den Menschen in
    den Mittelpunkt des Handelns stellen. Sie soll den Alltag
    der Menschen einfacher machen und nicht schwerer. Sie
    soll die Rahmenbedingungen für Engagement, Eigenini-
    tiative und Unternehmertum verbessern und nicht beein-
    trächtigen. Deshalb muss gelten: Wer Europa will und
    wer will, dass es Europa gut geht, der muss bereit sein,
    Europa stabiler, bürgernäher, stärker, einiger und gerech-
    ter zu machen,


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    und der muss natürlich zu Hause seine Hausaufgaben
    machen.

    Deutschland macht seine Hausaufgaben. Der Bund
    hat bereits seit 2012 – und damit früher als vorgesehen –
    die Vorgaben der Schuldenbremse eingehalten. Für 2014
    ist ein strukturell ausgeglichener Haushalt vorgesehen.
    Ab 2015 wollen wir ganz ohne Nettoneuverschuldung
    auskommen. Solch ein Ende der Neuverschuldung nach
    Jahrzehnten, in denen wir geradezu selbstverständlich
    Jahr für Jahr immer neue Schulden gemacht haben, ist
    nicht nur Ausdruck solider Finanzen, es ist vielmehr ein
    zentrales Gebot der Gerechtigkeit und damit gelebte so-
    ziale Marktwirtschaft.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Das ist nur zu schaffen, wenn wir bei unseren Ausga-
    ben klare Prioritäten setzen und konsequent in die Zu-
    kunft investieren. Wir müssen uns dabei immer wieder
    vor Augen führen, dass die Bürgerinnen und Bürger un-
    seres Landes unser Gemeinwesen nur dann akzeptieren,
    wenn sie sich auch vor Ort auf funktionierende Struktu-
    ren verlassen können. Deshalb entlastet der Bund die
    Kommunen auch in Zukunft: in diesem Jahr, indem er
    nunmehr vollständig die Grundsicherung für ältere Men-
    schen übernimmt, und in den Folgejahren, indem er sich
    schrittweise an der Eingliederungshilfe bis zu einer
    Höhe von 5 Milliarden Euro beteiligt.


    (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch alles schon vereinbart! Das haben wir 2011 schon vereinbart! – SvenChristian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? Wann soll das kommen? 2020, oder wann?)


    Die Gespräche mit den Ländern in den Koalitionsver-
    handlungen haben im Übrigen einmal mehr deutlich ge-
    macht, dass die Bund-Länder-Finanzbeziehungen ganz
    grundsätzlich einer Neuordnung bedürfen, und zwar ver-
    bunden mit einer klaren Aufgabenzuordnung an Bund,
    Länder und Kommunen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Die Bundesregierung wird bis zum Sommer einen Vor-
    schlag machen, wie die dazu notwendigen Gespräche
    geführt werden können.

    Meine Damen und Herren, dass unsere Haushaltslage
    so gut ist, verdanken wir natürlich ganz entscheidend
    auch der guten wirtschaftlichen Entwicklung und den
    Millionen Beschäftigten, Selbstständigen und Unterneh-
    men, die zu dieser wirtschaftlichen Entwicklung beige-
    tragen haben. Das hat zu einem neuen Rekord an Steuer-
    einnahmen geführt. Auch deshalb ist die Politik es den
    Menschen schuldig, zu zeigen, dass wir mit dem aus-
    kommen, was wir einnehmen, und dass wir keine Steu-
    ern erhöhen oder neue einführen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst später Steuern erhöhen?)


    Trotz aller Erfolge dürfen wir aber unsere Hände
    nicht in den Schoß legen.


    (Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


    Denn unser Land braucht auch in Zukunft eine starke
    Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsrate. Dafür
    schafft die Regierung der Großen Koalition die notwen-
    digen Voraussetzungen, zum Beispiel indem wir die
    Struktur der Bundesregierung an einer zentralen Stelle
    verändert haben: Wir haben die Kompetenzen von Wirt-
    schaft und Energie in einem Ministerium gebündelt. Wir
    haben uns dazu entschieden, weil wir überzeugt sind,
    dass unser Wohlstand nur mit einem starken industriel-
    len Fundament aus großen und mittelständischen Unter-
    nehmen gesichert werden kann, dessen unabdingbare
    Voraussetzung eine umweltfreundliche, sichere und be-
    zahlbare Energieversorgung ist – für unsere Unterneh-
    men genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Deutschland hat den Weg der Energiewende einge-
    schlagen. Deutschland hat sich entschieden, eine Abkehr
    vom jahrzehntelangen Energiemix – einem Energiemix
    aus vornehmlich fossilen Energieträgern und Kernener-
    gie – zu vollziehen. Es gibt kein weiteres vergleichbares





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    Land auf dieser Welt, das eine solch radikale Verände-
    rung seiner Energieversorgung anpackt. Diese Entschei-
    dung wird von der überwältigenden Mehrheit der Deut-
    schen unterstützt.

    Doch machen wir uns nichts vor: Die Welt schaut mit
    einer Mischung aus Unverständnis und Neugier darauf,
    ob und wie uns diese Energiewende gelingen wird.
    Wenn sie uns gelingt, dann wird sie – davon bin ich
    überzeugt – zu einem weiteren deutschen Exportschla-
    ger. Und auch davon bin ich überzeugt: Wenn diese
    Energiewende einem Land gelingen kann, dann ist das
    Deutschland.

    Bis 2050 wollen wir 80 Prozent unseres Stroms aus
    erneuerbaren Energien erzeugen. Schon heute haben die
    erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung einen
    Anteil von 25 Prozent, der bis 2025 auf 40 bis 45 Pro-
    zent und bis 2035 auf 55 bis 60 Prozent ansteigen soll.
    Mit diesem Ausbaukorridor können wir ganz harmo-
    nisch das Ausbauziel von 80 Prozent erreichen – aller-
    dings nur, wenn gleichzeitig unsere Industrie im welt-
    weiten Wettbewerb bestehen kann und Strom für alle
    erschwinglich bleibt.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Mit einem Anteil von 25 Prozent an der Stromerzeu-
    gung haben die erneuerbaren Energien heute ihr Ni-
    schendasein verlassen. Bis dahin war es sinnvoll, sie
    durch die Umweltpolitik zu fördern. Jetzt aber müssen
    sie als zunehmend tragende Säule der Stromerzeugung
    in den Gesamtenergiemarkt integriert werden. Maßstab
    für den Ausbau der erneuerbaren Energien müssen Plan-
    barkeit und Kosteneffizienz sein. Deshalb muss der Aus-
    baukorridor auch verbindlich festgeschrieben werden.
    Die einzelnen Formen der erneuerbaren Energien müs-
    sen so schnell wie möglich marktfähig werden; ihr Aus-
    bau und der Ausbau der Transportnetze müssen Hand in
    Hand gehen.

    Wir sehen: Das ist eine Herkulesaufgabe; das bedarf
    einer nationalen Kraftanstrengung. Gerade auch deshalb
    habe ich davon gesprochen, dass die Große Koalition
    eine Koalition für große Aufgaben ist. Und wenn es eine
    politische Aufgabe gibt, bei der nicht Partikularinteres-
    sen im Mittelpunkt zu stehen haben, sondern der
    Mensch, dann ist das die Energiewende.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Sie kann nur gelingen, wenn alle – Bund, Länder, Ge-
    meinden, Verbände, jeder Einzelne – über ihren Schatten
    springen und nur eines im Blick haben: das Gemein-
    wohl. Aber dann – davon bin ich überzeugt – wird die
    Energiewende auch gelingen; dann wird sie ein weiteres
    Beispiel gelebter ökologischer und sozialer Marktwirt-
    schaft sein.

    Das Kabinett hat die dazu vom Bundeswirtschafts-
    minister vorgelegten Eckpunkte beschlossen. Sie sind
    Grundlage für den Gesetzentwurf zur Novelle des Er-
    neuerbare-Energien-Gesetzes, die am 9. April im Kabi-
    nett verabschiedet und bis zur Sommerpause auch in
    Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.
    Zusammen mit dem Netzausbau und mit Entscheidun-
    gen über Kraftwerksreserven zur Sicherung der Energie-
    versorgung entsteht daraus der Rahmen zur Umsetzung
    der Energiewende.

    Die Bundesregierung wird sich in den anstehenden si-
    cherlich nicht einfachen Beratungen um eine breite
    Mehrheit bemühen; denn ich bin davon überzeugt: Je
    größer die Mehrheit, desto größer ist auch die Akzeptanz
    bei den Bürgerinnen und Bürgern. Zeit haben wir aller-
    dings nicht zu verlieren: Wir müssen parallel alles dafür
    tun, dass unsere Entscheidungen auch in Brüssel akzep-
    tiert werden. Gleichzeitig müssen wir die Energiewende
    in eine anspruchsvolle nationale und europäische Kli-
    mastrategie einbetten. Es ist gut, dass die Kommission
    mit dem ambitionierten 40-Prozent-CO2-Reduktionsziel
    die Vorreiterrolle Europas im internationalen Klima-
    schutz noch einmal unmissverständlich unterstrichen
    hat.

    Deutschland wird sich auch mit ganzer Kraft für die
    Verabschiedung einer international verbindlichen Klima-
    konvention einsetzen. Gemeinsam mit Frankreich arbeiten
    wir für einen Erfolg der internationalen Klimakonferenz
    Ende 2015 in Paris, damit am Ende eine verbindliche
    Regelung für die weltweite Reduktion von Treibhausga-
    sen ab 2020 gefunden wird.

    Wir setzen uns auch für einen funktionierenden Emis-
    sionshandel in Europa ein, damit umweltfreundliche
    Kraftwerke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke
    endlich wieder eine faire Chance auf den Märkten erhal-
    ten.

    Um im Baubereich zu einer Gesamtstrategie zu kom-
    men, in die auch der Klimaschutz integriert ist, hat die
    Bundesregierung den Umweltschutz und den Baubereich
    in einem Ministerium gebündelt. So können wir unsere
    nationalen Klimaziele auch in den Bereichen der Ener-
    gieeffizienz und der Gebäudesanierung erreichen. Im
    Übrigen können unsere Wirtschaft und unser Handwerk
    davon profitieren. Umweltschutz, die ökologische und
    soziale Marktwirtschaft schafft Arbeitsplätze.

    Meine Damen und Herren, vor einem Jahrzehnt, als
    5 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos waren,
    hatten viele Zweifel, ob und inwieweit eine der jahr-
    zehntelangen großen Gewissheiten der sozialen Markt-
    wirtschaft auch in Zukunft noch ihre Berechtigung
    haben würde, nämlich die Gewissheit, dass es den Ar-
    beitnehmern dann gut geht, wenn es dem eigenen Be-
    trieb auch gut geht. Die Auswirkungen der Globalisie-
    rung hatten dieses Grundvertrauen ins Wanken gebracht.
    Reformen, zuvor jahrelang verzögert oder vermieden,
    wurden unumgänglich. Es folgte die Agenda 2010 der
    Regierung Schröder, auf die dann weitere Reformen der
    Großen Koalition von 2005 bis 2009 und der anschlie-
    ßend christlich-liberalen Bundesregierung fußten. Das
    Ergebnis dieser Reformen: Heute hat unser Land mehr
    Beschäftigte als je zuvor.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Tja!)


    Die Arbeitslosigkeit liegt unter 3 Millionen; die Jugend-
    arbeitslosigkeit ist die geringste in Europa.





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    Aber es gibt auch Schattenseiten. Aus der unverzicht-
    baren Flexibilisierung des Arbeitsrechts sind neue Mög-
    lichkeiten des Missbrauchs entstanden. Schon die christ-
    lich-liberale Bundesregierung hat einige davon beseitigt,
    aber die Große Koalition wird weitere Korrekturen vor-
    nehmen müssen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Bei den Werkverträgen! Das ist Ausbeutung pur!)


    Konkret geschieht das in der Leiharbeit, deren Dauer
    auf maximal 18 Monate beschränkt wird. Die gleiche
    Bezahlung eines Leiharbeiters wie die eines Beschäftig-
    ten der Stammbelegschaft hat jetzt nach spätestens
    9 Monaten zu erfolgen, und beim Abschluss von Werk-
    verträgen ist in Zukunft der Betriebsrat zu informieren.


    (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Mitbestimmen müssen sie! – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich für die SPD bei der Leiharbeit!)


    Es ist die gemeinsame Überzeugung von CDU, CSU
    und SPD, dass derjenige, der voll arbeitet, mehr haben
    muss, als wenn er nicht arbeitet.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Niemand, der ein Herz hat, ist deshalb schnell bei der
    Hand damit, das Instrument eines Mindestlohns rund-
    weg abzulehnen. Doch jeder, der ein Herz hat, muss aber
    genauso sicherstellen,


    (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nicht nur Herz, sondern auch Verstand!)


    dass der so nachvollziehbare Wunsch nach würdiger Be-
    zahlung nicht Menschen, die heute Arbeit haben, in die
    Arbeitslosigkeit führt.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit Herz zu tun?)


    Die Koalitionsverhandlungen um einen gesetzlichen
    Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro ab 2015 haben alle
    Facetten dieses Dilemmas behandelt. Das Ergebnis ist
    ein Kompromiss, bei dem – das sage ich aus voller Über-
    zeugung – die Vorteile die Nachteile überwiegen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    Der Mindestlohn von 8,50 Euro wird ab Anfang 2015
    gelten. Allerdings haben wir vereinbart, dass Tarifver-
    träge, die mit einer Lohnuntergrenze von weniger als
    8,50 Euro vereinbart wurden, bis Ende 2016 weitergel-
    ten können. Im Laufe dieses Jahres können solche Tarif-
    verträge noch abgeschlossen werden. Ich sage ganz aus-
    drücklich: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben damit
    alle Freiheit und Möglichkeit, genau davon dort Ge-
    brauch zu machen, wo immer dies zum Erhalt von Ar-
    beitsplätzen notwendig ist.

    Derartige Tarifverträge können in Zukunft in einem
    vereinfachten Verfahren für allgemeinverbindlich erklärt
    werden, da sie im öffentlichen Interesse sind. Dadurch
    wird im Übrigen auch die Tarifpartnerschaft, ein We-
    sensmerkmal der sozialen Marktwirtschaft, wieder ge-
    stärkt, und sie muss in einigen Bereichen gestärkt wer-
    den.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Eine starke soziale Marktwirtschaft braucht interna-
    tional wettbewerbsfähige Unternehmen. Wir wissen aus
    unseren Erfahrungen, dass das besonders gut funktio-
    niert, wenn Frauen und Männer gleiche Chancen haben.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Deshalb werden wir für Aufsichtsräte von voll mitbe-
    stimmungspflichtigen und börsennotierten Unterneh-
    men, die ab 2016 neu besetzt werden, eine Quote von
    mindestens 30 Prozent Frauen einführen. Jahrelanges
    gutes Zureden hat nicht geholfen. Deshalb müssen wir
    diesen Schritt jetzt gehen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Freude bei den Kollegen! – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist irgendwie Unruhe in Ihrer Koalition! Ich weiß nicht, warum!)


    – Nein, große Vorfreude.


    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Meine Damen und Herren, unsere sozialen Siche-
    rungssysteme gehören zu den besten der Welt. Damit
    dies auch in Zukunft so bleibt, müssen sie sowohl den
    Erwartungen der heutigen Generation als auch den An-
    forderungen zukünftiger Generationen entsprechen. Sie
    müssen also der demografischen Entwicklung unseres
    Landes standhalten. Diesem Ziel dient die schrittweise
    Einführung der Rente mit 67 bis zum Jahr 2029. Heute
    haben bereits deutlich mehr Menschen im Alter zwi-
    schen 55 und 65 Jahren eine Chance auf dem Arbeits-
    markt als noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklung
    muss fortgesetzt werden.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Dennoch – das sollten wir nicht vergessen – haben
    wir bei der Einführung der Rente mit 67 bereits diejeni-
    gen vom Anstieg der Lebensarbeitszeit ausgenommen,
    die 45 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung ge-
    zahlt haben. Diese Regelung werden wir jetzt modifizie-
    ren. Wir werden für Menschen mit 45 Beitragsjahren
    inklusive des Bezugs von Arbeitslosengeld I eine ab-
    schlagsfreie Rente mit 63 Jahren, aufwachsend dann bis
    Anfang der 30er-Jahre auf 65 Jahre, einführen. Ich füge
    hinzu: In der Zwischenzeit müssen wir dafür Sorge tra-
    gen, dass sich auch die Beschäftigungschancen langjäh-
    rig Beschäftigter weiter deutlich verbessern.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Wir wollen im Übrigen nicht länger die Augen davor
    verschließen, dass viele Frauen eine gerechte Anerken-
    nung der Leistungen für die Erziehung der Kinder an-
    mahnen. Wie ist die Lage heute? Heute werden für die





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    nach 1992 geborenen Kinder drei Jahre im Rentenrecht
    anerkannt, für die davor geborenen Kinder nur ein Jahr.
    Das ist in den Augen vieler nicht gerecht.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Eine Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt ih-
    res Handelns stellt, muss und will das verändern. Wir ha-
    ben in den letzten Jahren große Anstrengungen für die
    Vereinbarkeit von Familie und Beruf unternommen: den
    Ausbau der Kitaplätze, verbesserte Möglichkeiten für
    flexible Arbeitszeiten, die Einführung des Elterngelds
    mit Vätermonaten. In dieser Legislaturperiode werden
    wir die Teilzeitarbeit der Eltern durch das ElterngeldPlus
    erleichtern und den Ausbau der Kitaplätze fortsetzen.
    Mütter, die vor 1992 ihre Kinder geboren haben, hatten
    nicht annähernd so gute Bedingungen für die Vereinbar-
    keit von Beruf und Familie. Deshalb wollen wir diesen
    Müttern, über 9 Millionen Frauen, im Rentenrecht we-
    nigstens ein Jahr mehr für die Anerkennung ihrer Erzie-
    hungsleistung anrechnen lassen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Wegen der guten Beschäftigungssituation kann die
    Rentenversicherung diese Aufgabe zurzeit erfüllen. Wir
    wissen aber: Mittelfristig werden wir einen Teil durch
    weitere Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt ergän-
    zen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Außerdem werden wir die Renten im Falle von Er-
    werbsunfähigkeit verbessern. Das ist unerlässlich. Denn
    Erwerbsunfähigkeit ist heute eine der Hauptursachen für
    Altersarmut. Sie wissen: Wir haben heute genau dieses
    Gesetzespaket auf den Weg gebracht und zur parlamen-
    tarischen Beratung überwiesen.


    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich vor
    allem an ihrem Umgang mit Schwachen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Sie zeigt sich in den Situationen, in denen Menschen auf
    Schutz und Hilfe angewiesen sind: wenn sie alt sind und
    wenn sie krank sind. Der medizinische Fortschritt er-
    möglicht immer neue Heilungs- und Behandlungsmög-
    lichkeiten. Unsere Lebenserwartung steigt stetig an, und
    gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Pflege an-
    gewiesen. Jeder muss die medizinische Versorgung be-
    kommen, die er braucht, und jeder Mensch muss in
    Würde sterben können. Das sind die zentralen Aufgaben
    der Politik für unser Gesundheits- und Pflegesystem.

    Die Bundesregierung will dafür Sorge tragen, dass die
    medizinische Versorgung verbessert wird, insbesondere
    bei der Versorgung mit Fachärzten. Jeder muss schnell
    und gut behandelt werden. Die hohe Qualität unserer
    medizinischen Versorgung muss auch in Zukunft gerade
    im ländlichen Raum gesichert werden. Dabei spielt die
    Entwicklung der Telemedizin im Übrigen eine zentrale
    Rolle.
    Für die Pflege werden wir die Leistungen in den
    nächsten vier Jahren um insgesamt 25 Prozent gegen-
    über heute steigern. Die zusätzlichen Mittel werden wir
    insbesondere erstens für die Verbesserung der pflegeri-
    schen Leistungen einsetzen – dabei werden wir gleich-
    zeitig die Bürokratie mindern –, zweitens für eine bes-
    sere Ausbildung und Bezahlung der Pflegekräfte nutzen,
    um den vielerorts herrschenden Pflegenotstand abzu-
    bauen,


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    und drittens für den Aufbau einer demografischen Re-
    serve verwenden, um zukünftige Generationen vor zu
    hohen Belastungen zu schützen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Auch werden wir Hospize und die Palliativmedizin stär-
    ken.

    Doch bei allem dürfen wir zu keiner Zeit vergessen:
    Immer noch leisten Familienangehörige die meiste Pfle-
    gearbeit. Sie gehen dabei oft bis an die Grenzen ihrer
    Kräfte, nicht selten darüber hinaus. Sie sind die stillen
    Helden unserer Gesellschaft.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das zeigt einmal mehr: Die Familien sind das Herzstück
    unserer Gesellschaft. Deshalb arbeiten wir für verlässli-
    che und gute Rahmenbedingungen.


    (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


    Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Ver-
    änderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft garan-
    tieren auf Dauer nur Investitionen in Forschung und Bil-
    dung die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unseres
    Landes im globalen Wettbewerb. Wir müssen in vielen
    Bereichen zu den Besten der Welt gehören. Deshalb in-
    vestieren wir 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in
    Forschung und Entwicklung und gehören damit in
    Europa, allerdings nicht unbedingt immer weltweit, zu
    den führenden Ländern.

    Unsere Hightech-Strategie setzt Maßstäbe für die
    Spitzenforschung. Der Bund will seinen Anteil von
    3 Prozent für die Forschung auch in den nächsten Jahren
    halten. Der Bund wird aber zusätzlich auch die Länder
    entlasten, indem wir den Aufwuchs bei den Mitteln für
    die außeruniversitäre Forschung voll übernehmen, also
    auch den Länderanteil, und uns erstmalig auch an der
    Grundfinanzierung der Universitäten beteiligen werden,
    um den Abstand zwischen außeruniversitärer Forschung
    und universitärer Bildung und Forschung nicht zu groß
    werden zu lassen.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die ein Hoch-
    schulstudium aufnehmen, auf über 50 Prozent gestiegen.
    Das ist erfreulich. Aber die Bundesregierung wird in die-
    ser Legislaturperiode gerade auch der anderen Säule un-
    seres Bildungssystems, der dualen Berufsausbildung, be-





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    sonderes Augenmerk zukommen lassen. Sie ist ein
    Markenzeichen unserer sozialen Marktwirtschaft.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Wir wollen den Ausbildungspakt zu einem Pakt für
    Aus- und Weiterbildung fortentwickeln, an dem sich ne-
    ben den Arbeitgebern in Zukunft auch die Gewerkschaf-
    ten wieder beteiligen sollen. Ohne hervorragend ausge-
    bildete Menschen ist Deutschland kein wirtschaftlich
    starkes Land.

    In den nächsten Jahren werden immer weniger junge
    Menschen in Deutschland ins Berufsleben eintreten. Das
    heißt, wir müssen jedem jungen Menschen die Chance
    auf eine gute Bildung sichern. Das beginnt beim Ausbau
    der Kindertagesstätten, an dem der Bund sich weiter be-
    teiligen wird. Das setzt sich fort mit unserer Initiative
    „Chance Beruf“, die der Bund zu einem flächendecken-
    den Angebot ausweiten will. Wir führen den Hochschul-
    pakt fort. Studienabbrecher bekommen in Zukunft die
    Chance, auch eine duale Berufsausbildung zu machen.
    Junge Menschen über 25, die noch keine abgeschlossene
    Berufsausbildung haben, sollen eine zweite Chance be-
    kommen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Dies ist auch eine zentrale Aufgabe unserer Integra-
    tionspolitik. Auf dem Integrationsgipfel in diesem Jahr
    – so haben wir es besprochen – werden wir uns schwer-
    punktmäßig mit der Ausbildung von Migrantinnen und
    Migranten befassen. Auch werden wir jungen Menschen
    mit Migrationshintergrund unser Willkommen in Deutsch-
    land dadurch verdeutlichen, dass wir bei der Staatsbür-
    gerschaft die Optionspflicht für in Deutschland geborene
    und aufgewachsene Jugendliche abschaffen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Es ist im Übrigen ein Gebot unserer sozialen Markt-
    wirtschaft, dass gerade die Jüngeren der ja immer noch
    fast 3 Millionen Arbeitslosen eine berufliche Perspek-
    tive bekommen; denn wenn sie das in jungen Jahren
    nicht bekommen, wird es über Jahrzehnte schwierig für
    sie. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass es
    mir schon Sorge bereitet, dass die Zahl der Langzeitar-
    beitslosen wieder steigt. Dem müssen wir zusammen mit
    der Bundesagentur für Arbeit entgegenwirken. Der Bund
    verwendet jährlich mehr als 30 Milliarden Euro für die
    Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Jeder hier
    nicht benötigte Euro kann für Zukunftsprojekte verwen-
    det werden.

    Zusätzlich müssen wir natürlich weiter offen für
    Fachkräfte aus dem Ausland sein. Deutschland wird die
    Möglichkeiten nutzen und nutzen müssen, die die Frei-
    zügigkeit in Europa bietet.


    (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen Sie denn zur CSU?)


    – Deutschland wird die Möglichkeiten nutzen, die die
    Freizügigkeit in Europa bietet.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

    Dennoch – auch das gehört hierher – dürfen wir die Au-
    gen vor ihrem möglichen Missbrauch nicht verschließen.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Es bedarf einer Klärung, wer aus dem europäischen Aus-
    land unter welchen Bedingungen Anspruch auf Sozial-
    leistungen hat. Angesichts völlig unterschiedlicher So-
    zialsysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen
    Union darf es durch das Prinzip der Freizügigkeit nicht
    zu einer faktischen Einwanderung in die Sozialsysteme
    kommen.


    (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es doch gar nicht! Die Sozialsysteme profitieren doch davon!)


    Ob sich hier aus der Rechtsprechung des Europäischen
    Gerichtshofs nationaler oder europäischer Handlungsbe-
    darf ergibt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Dies ist
    aber auch nicht auszuschließen, weil deutsche Gerichte
    Vorlagen in dieser Sache an den Europäischen Gerichts-
    hof gegeben haben. Deshalb hat die Bundesregierung ei-
    nen Staatssekretärsausschuss unter Federführung des
    Innen- und des Sozialministeriums gebildet, der die offe-
    nen Fragen klären wird und mit heute schon besonders
    betroffenen Kommunen Hilfsmöglichkeiten des Bundes
    bespricht.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Als Land in der Mitte Europas ist Deutschland auf
    eine funktionierende Infrastruktur zwingend angewie-
    sen. Wir haben entschieden, das Verkehrsministerium zu
    einem Infrastrukturministerium auszubauen. Wir werden
    in die klassischen Verkehrsstrukturen allein aus Bundes-
    mitteln bis 2017 5 Milliarden Euro mehr investieren.
    Wir werden die streckenbezogene Nutzungsgebühr für
    Lkw ausweiten. Für ausländische Pkw werden wir eine
    Gebühr auf Autobahnen einführen, ohne dass der deut-
    sche Fahrzeughalter stärker als heute belastet wird.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht doch gar nicht!)


    – Warten Sie es doch einfach mal ab!


    (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin GöringEckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Merkel hat gesagt: Mit mir kommt eine Maut nicht!)


    Bis dahin gibt es doch auch noch eine Menge anderer
    Sachen zu tun. Also wirklich!


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das finden wir auch!)


    – Einfach noch mal zuhören.

    Erweitert werden die Zuständigkeiten des Verkehrs-
    ministeriums um die Aufgaben der digitalen Infrastruk-





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    tur. 2018 soll jeder Deutsche Zugang zum schnellen
    Internet haben. Hier geht es nicht einfach um ein techni-
    sches Ziel, hier geht es gerade für Menschen im ländli-
    chen Raum um gleichwertige Chancen zur Teilhabe an
    Bildung, medizinischer Versorgung und wirtschaftlicher
    Tätigkeit.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Dazu werden wir alle Kräfte zum Netzausbau in einer
    Netzallianz bündeln. Die europäischen und internationa-
    len Investitionsbedingungen müssen verbessert werden.
    Dies ist unerlässlich, wenn wir uns klarmachen, welch
    technologischer Unterschied schon heute in vielen Be-
    reichen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika,
    asiatischen Ländern und Europa besteht.

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir spüren immer
    mehr, welch tiefgreifendem Wandel unsere Gesellschaft
    durch die Digitalisierung ausgesetzt ist. Bildung, Ausbil-
    dung, der Arbeitsalltag, die industrielle Produktion ver-
    ändern sich. Informationen aus der ganzen Welt sind in
    Sekunden verfügbar. Die Kommunikation der Menschen
    ist schier grenzenlos. Daten über jeden Einzelnen kön-
    nen in beliebigem Umfang gespeichert werden. Wir wol-
    len, dass das Internet eine Verheißung bleibt; deshalb
    wollen wir es schützen.


    (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    – Ja, wir wollen, dass es für die Menschen, so wie es
    heute viele erleben, eine Verheißung bleibt.

    Allerdings heißt das: Wir wollen es schützen vor Zer-
    störung von innen durch kriminellen Missbrauch und
    durch intransparente, allumfassende Kontrolle von au-
    ßen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Der bisherige rechtliche Rahmen für eine vernünftige
    Balance von Freiheit und Sicherheit – das ist offensicht-
    lich geworden – reicht nicht mehr aus. Einen internatio-
    nalen Rechtsrahmen gibt es noch nicht. Das heißt, wir
    betreten Neuland.


    (Lachen bei der LINKEN)


    Jeder Einzelne von uns ist davon betroffen.

    Deshalb wird die Bundesregierung in diesem Jahr un-
    ter der gemeinsamen Federführung des Innen-, des Wirt-
    schafts- und des Infrastrukturministeriums eine digitale
    Agenda erstellen und im Laufe der Legislaturperiode
    umsetzen. Wir arbeiten an einer europäischen Daten-
    schutzgrundverordnung mit Hochdruck. Aber wir achten
    dabei sehr darauf, dass der deutsche Datenschutz durch
    die Vereinheitlichung des europäischen Datenschutzes
    nicht unverhältnismäßig geschwächt wird.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Mit großer Wucht sind wir vor einem halben Jahr
    durch Informationen von Edward Snowden über die Ar-
    beitsweise der amerikanischen Nachrichtendienste mit
    Fragen der Datensicherheit konfrontiert worden. Nie-
    mand, der politische Verantwortung trägt, kann ernsthaft
    bestreiten, dass die Arbeit der Nachrichtendienste für
    unsere Sicherheit, für den Schutz unserer Bürgerinnen
    und Bürger unverzichtbar ist. Niemand, der politische
    Verantwortung trägt, kann ernsthaft bestreiten, dass die
    Arbeit der Nachrichtendienste im Zeitalter asymmetri-
    scher Bedrohung, für die der 11. September exempla-
    risch steht, noch wichtiger als ohnehin schon geworden
    ist. Gerade um diese Gefahren bannen zu können, ist
    nicht nur die Arbeit unserer eigenen Dienste von großer
    Bedeutung für uns, sondern ebenso die Zusammenarbeit
    mit Nachrichtendiensten unserer Verbündeten und Part-
    ner.

    Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass wir
    gerade unseren amerikanischen Partnern wertvolle Infor-
    mationen verdanken. Umgekehrt leisten innerhalb dieser
    internationalen Kooperation auch unsere eigenen
    Dienste wertvolle Beiträge. Das Parlamentarische Kon-
    trollgremium wird jeweils darüber unterrichtet. Aber
    niemand, der politische Verantwortung trägt, kann auch
    ernsthaft bestreiten, dass das, was wir seit einem halben
    Jahr über die Arbeit insbesondere der amerikanischen
    Nachrichtendienste zur Kenntnis nehmen müssen, ganz
    grundsätzliche Fragen aufwirft.

    Es geht um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es
    geht darum, in welchem Verhältnis zur Gefahr die Mittel
    stehen, die wir dann wählen, um dieser Gefahr zu begeg-
    nen. Die Bundesregierung trägt Verantwortung für den
    Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Anschlägen
    und Kriminalität, und sie trägt Verantwortung für den
    Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen
    auf ihre Privatsphäre. Sie trägt Verantwortung für unsere
    Freiheit und Sicherheit. Seit jeher stehen Freiheit und Si-
    cherheit in einem gewissen Konflikt zueinander. Sie
    müssen durch Recht und Gesetz immer wieder in der Ba-
    lance gehalten werden.

    Wir kennen das in Deutschland ja zu gut aus unseren
    langen Diskussionen um Wohnraumüberwachung und
    Vorratsdatenspeicherung. Kann es also richtig sein, dass
    unsere engsten Partner wie die Vereinigten Staaten von
    Amerika oder Großbritannien sich Zugang zu allen
    denkbaren Daten mit der Begründung verschaffen, dies
    diene der eigenen Sicherheit und der Sicherheit der Part-
    ner? Wir hätten also auch etwas davon. Kann es richtig
    sein, dass man auch deshalb so handele, weil andere auf
    der Welt es genauso machten? Kann es richtig sein,
    wenn es zum Schluss gar nicht mehr allein um die Ab-
    wehr terroristischer Gefahren geht, sondern darum, sich
    auch gegenüber Verbündeten, zum Beispiel für Verhand-
    lungen bei G-20-Gipfeln oder UN-Sitzungen, Vorteile zu
    verschaffen – Vorteile, die nach meiner jahrelangen Er-
    fahrung sowieso völlig zu vernachlässigen sind?


    (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    Unsere Antwort kann nur lauten: Nein, das kann nicht
    richtig sein.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Denn es berührt den Kern dessen, was die Zusammen-
    arbeit befreundeter und verbündeter Staaten ausmacht:
    Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für Frieden und
    Freundschaft zwischen den Völkern. Vertrauen ist erst





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeter
    Staaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel
    heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch
    gemacht wird, verletzt Vertrauen; es sät Misstrauen. Am
    Ende gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Darüber reden wir mit den Vereinigten Staaten von
    Amerika. Ich bin überzeugt, dass Freunde und Verbün-
    dete in der Lage und willens sein müssen, Grundsätze ih-
    rer Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Abwehr
    von Bedrohungen zu vereinbaren, und zwar in ihrem je-
    weils eigenen Interesse.

    Die Vorstellungen sind heute weit auseinander. Viele
    sagen, die Versuche für eine solche Vereinbarung seien
    von vornherein zum Scheitern verurteilt, ein unrealisti-
    sches Unterfangen. Mag sein. Mit Sicherheit wird das
    Problem nicht schon durch eine Reise von mir gelöst
    und abgeschlossen sein.


    (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh, das ist aber schade!)


    Mit Sicherheit wäre auch der Abbruch von Gesprächen
    in anderen Bereichen, wie etwa denen über ein transat-
    lantisches Freihandelsabkommen, nicht wirklich hilf-
    reich. Auch andere sogenannte Hebel, wie es in diesen
    Tagen so oft heißt, die Amerika zum Umdenken zwin-
    gen könnten, gibt es nach meiner Auffassung nicht.
    Trotzhaltungen haben im Übrigen noch nie zum Erfolg
    geführt.


    (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


    Ich führe – und das mit allem Nachdruck – diese Gesprä-
    che mit der Kraft unserer Argumente, nicht mehr und
    nicht weniger. Aber ich glaube, wir haben davon gute.


    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Der Weg ist lang; aber lohnend ist er allemal. Denn
    die Möglichkeiten der digitalen Rundumerfassung der
    Menschen berühren unser Leben im Kern. Es handelt
    sich deshalb um eine ethische Aufgabe, die weit über die
    sicherheitspolitische Komponente hinausweist. Milliar-
    den Menschen, die in undemokratischen Staaten leben,
    schauen heute sehr genau, wie die demokratische Welt
    auf Bedrohungen ihrer Sicherheit reagiert, ob sie in sou-
    veräner Selbstsicherheit umsichtig handelt oder ob sie an
    jenem Ast sägt, der sie in den Augen genau dieser Mil-
    liarden Menschen so attraktiv macht – an der Freiheit
    und der Würde des einzelnen Menschen.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Doch bei allen Konflikten, bei allen Enttäuschungen,
    bei allen Interessenunterschieden werde ich wieder und
    wieder deutlich machen: Deutschland kann sich keinen
    besseren Partner wünschen als die Vereinigten Staaten
    von Amerika. Die deutsch-amerikanische und die trans-
    atlantische Partnerschaft sind und bleiben für uns von
    überragender Bedeutung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Zusammen sind wir in Afghanistan im Einsatz.
    Deutschland ist bereit, sich auch nach 2014 an der Aus-
    bildung der Sicherheitskräfte und am wirtschaftlichen
    Aufbau des Landes zu beteiligen. Voraussetzung ist, dass
    Präsident Karzai – das sage ich allerdings mit allem
    Nachdruck; ich habe es neulich auch persönlich dem
    Präsidenten gesagt – das Sicherheitsabkommen mit den
    USA und der NATO unterzeichnet.

    Deutschland beteiligt sich an Einsätzen im Kosovo,
    vor den Küsten Somalias und des Libanon oder in Mali.
    Das Mandat in Mali zur Ausbildung malischer Sicher-
    heitskräfte wollen wir nicht nur fortsetzen, sondern auch
    verstärken.

    Hinzu kommt die Frage, wie Deutschland seinen Ver-
    bündeten Frankreich gegebenenfalls bei der europäischen
    Überbrückungsmission in der Zentralafrikanischen Repu-
    blik unterstützen kann; ich sage: gegebenenfalls. Hierbei
    geht es nicht um einen deutschen Kampfeinsatz, sondern
    allenfalls um unsere Fähigkeit zur Rettung und Behand-
    lung Verwundeter.

    Immer gilt: Kein Konflikt kann allein militärisch ge-
    löst werden. Das leitet die Bundesregierung. Deutsche
    Außen- und Sicherheitspolitik setzt auf die Vernetzung
    militärischer und ziviler Mittel, und darin sehen wir uns
    in den letzten Jahren noch mehr bestärkt.

    2015 übernimmt Deutschland die G-8-Präsidentschaft.
    In dem Jahr werden die Vereinten Nationen neue Ent-
    wicklungsziele festlegen. Unsere Präsidentschaft wird
    deshalb auch im Zeichen dieser Neuausrichtung der Ent-
    wicklungsziele stehen.

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, nicht Parti-
    kularinteressen stehen im Mittelpunkt unseres Handelns,
    sondern der Mensch steht im Mittelpunkt.


    (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Seit wann?)


    Unser Kompass ist die soziale Marktwirtschaft. Damit
    setzen wir auf solide Finanzen, Investitionen in die Zu-
    kunft, die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammen-
    halts und Deutschlands Fähigkeit, Verantwortung in
    Europa und der Welt zu übernehmen – für unsere Werte
    und für unsere Interessen und in dem Bewusstsein, dass
    sie sich weltweit stets aufs Neue behaupten müssen.

    Es ist in diesem Jahr 100 Jahre her, dass der Erste
    Weltkrieg ausbrach. Er war die erste große Katastrophe
    des 20. Jahrhunderts, der alsbald die zweite folgen sollte:
    der Zivilisationsbruch der Schoah und der Beginn des
    Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.

    Die anschließend folgende europäische Einigung, die
    uns Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, er-
    scheint aus dieser Perspektive wie ein Wunder. Wir le-
    ben heute in einer politischen Ordnung, in der nicht wie
    vor 100 Jahren wenige in geheimer Diplomatie die Ge-
    schicke Europas bestimmen, sondern in der alle 28 Mit-
    gliedstaaten gleichberechtigt und im Zusammenwirken
    mit den europäischen Institutionen die Dinge zum Wohl





    Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


    (A) (C)



    (D)(B)

    der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam gestalten. Das
    Europäische Parlament, das gut 375 Millionen Men-
    schen im Mai neu wählen werden, und die nationalen
    Parlamente sorgen für die notwendige demokratische
    Legitimität und Öffentlichkeit.

    Vor 65 Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland
    gegründet. Vor 25 Jahren fiel die Mauer. Vor 10 Jahren
    erlebten wir den Beginn der EU-Osterweiterung. Weitere
    Grenzen in Europa konnten abgebaut werden. Wir Deut-
    schen und wir Europäer, wir sind heute zu unserem
    Glück vereint.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


    Die neue Bundesregierung will dazu beitragen, dieses
    Glück zu schützen und zu wahren, indem wir die Quel-
    len guten Lebens allen zugänglich machen: Freiheit,
    politische Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftliche
    Stärke, Gerechtigkeit. Das ist unser Auftrag, und dafür
    bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.

    Herzlichen Dank.


    (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Anhaltender Beifall bei der SPD)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, bevor ich die

Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen – sicher im Na-
men aller Mitglieder des Hauses – eine baldige und voll-
ständige Genesung von Ihrer Verletzung wünschen.


(Beifall)


Da das sicher alle nachfolgenden Redner gleich als Ein-
stieg hatten vortragen wollen, spart es diesen bei ihrer
knapp bemessenen Redezeit einige wichtige Sekunden,


(Heiterkeit)


beispielsweise dem Vorsitzenden der Fraktion Die
Linke, dem ich in der nun eröffneten Aussprache als Ers-
tem das Wort erteile.


(Beifall bei der LINKEN)



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)


    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,

    dass ich außerhalb meiner Redezeit doch noch einen
    Satz dazu sagen darf.


    (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Frau Kanzlerin, ich hatte im letzten Jahr auch einen Ski-
    unfall. Wir müssen einfach beide lernen, altersgerecht
    Sport zu treiben.


    (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber uncharmant, mein lieber Gregor Gysi! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ganz schlechter Einstieg!)


    – Wir werden das hinbekommen.
    Aber nun zum Ernst der Lage und damit zu Ihrer Re-
    gierungserklärung: Sie haben eine Erklärung abgegeben,
    die in weiten Teilen mit der Realität nichts, aber auch gar
    nichts zu tun hatte.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Sie haben allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass
    wir in diesem Jahr den 100. Jahrestag des Beginns des
    Ersten Weltkrieges, den 75. Jahrestag des Beginns des
    Zweiten Weltkrieges begehen. Deshalb begreife ich
    nicht, weshalb auch diese Regierung derart militärisch
    denkt und handelt. Frau von der Leyen hat gesagt: Es ge-
    schähen ja Mord und Vergewaltigung; darum müsse die
    Bundeswehr nach Afrika marschieren. – Ich bitte Sie:
    Wenn das das Ziel ist, dann müssten wir die Bundeswehr
    ja weltweit einsetzen.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Aber nicht nur darum geht es. Es geht um etwas ganz
    anderes. Wenn es Ihnen wirklich um die Bekämpfung
    von Not geht, sollten Sie sich eine Zahl vor Augen füh-
    ren: Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Men-
    schen, davon 18 Millionen an Hunger und den Folgen
    von Hunger. Da sterben Millionen Kinder, Millionen
    Frauen. Ich habe noch nie von Ihnen, Frau Bundeskanz-
    lerin, oder von Ihnen, Frau von der Leyen, oder von Ih-
    nen, Herr Gabriel, gehört, dass Sie sagen: Das ist die
    Not, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen sofort da
    hin und etwas unternehmen.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Nur wenn geschossen wird, dann soll die Bundeswehr
    mitschießen. Das ist doch wirklich überhaupt kein Argu-
    ment. Ich kann es wirklich nicht verstehen.

    Die Hilfe, die wir weltweit gegen Hunger leisten, ge-
    rade auch in Afrika, ist sehr, sehr gering, viel zu gering.
    Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen – ich
    muss es Ihnen sagen – töten zum Teil, und sie werden
    zum Teil auch getötet; das ist schlimm genug. Wenn sie
    dann zurückkommen, kommen sie zum Teil auch krank
    zurück. Ein Drittel aller Soldatinnen und Soldaten sind
    psychisch gestört. Das militärische Vorgehen, der Krieg,
    ist der falsche Weg. Die Probleme der Menschheit müs-
    sen wir gänzlich anders lösen.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Sie haben über NSA gesprochen. Nun wissen wir ja
    dank Snowden, dass 80 Prozent aller Übermittlungen per
    Internet, Handy, SMS, über soziale Netzwerke wie Face-
    book und Twitter abgehört und kontrolliert werden. Sie,
    Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt, Sie arbeiteten mit
    der Kraft der Argumente. Ich sage Ihnen: Das ist deut-
    lich zu wenig! – Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegen-
    über den USA nicht aufgeben, gibt es keine Partner-
    schaft und keine Freundschaft. Diese erzeugt vielmehr
    genau das Gegenteil davon.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Im Grundgesetz ist doch der Schutz der Privatsphäre
    geregelt. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbe-
    stimmung. Sie haben einen Eid geleistet, die Bevölke-





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    rung zu schützen. Wo bleibt denn hier der Schutz? Indem
    man nur mit der US-Regierung redet, geht es nicht weiter.
    Warum weisen Sie nicht Leute, die aus den Botschaften
    heraus Spionage betreiben, aus unserem Land aus?


    (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann wäre die russische Botschaft leer!)


    Warum werden von der Bundesanwaltschaft keine Er-
    mittlungsverfahren eingeleitet, obwohl Straftaten began-
    gen worden sind? Wieso gilt hier zweierlei Recht? Auch
    das ist nicht hinnehmbar.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Nun kommt noch eines hinzu. Präsident Obama hat ja
    erklärt, dass die Staats- und Regierungschefs befreunde-
    ter Staaten nicht mehr abgehört werden. Das ist ein
    Schutz für Herrn Gauck und für Frau Merkel. Was ist
    aber mit den 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-
    nern dieses Landes? Für diese tragen Sie eine Verant-
    wortung!


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Jetzt kommt etwas Neues. Herr Snowden hat erklärt –
    das haben wir übrigens von Anfang an gesagt –, dass na-
    türlich auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Dazu
    haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, kein Wort gesagt. Von
    Anfang an haben wir gesagt, dass auch Wirtschaftsspio-
    nage betrieben wird. Jetzt ist es die Linke, die allein die
    Unternehmen schützen muss. So weit ist es inzwischen
    in dieser Gesellschaft gekommen.


    (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    – Ja, machen Sie denn etwas dagegen, dass die Unter-
    nehmen ausspioniert werden? Nein, die Einzigen, die
    sich wirklich dagegen wenden, sind wir.

    Sie haben über Europa gesprochen. Europa und die
    Europäische Union sind wichtig. Der Frieden zwischen
    den Mitgliedsländern ist etwas, was erst jetzt zur Realität
    geworden ist. Frühere Jahrhunderte waren völlig anders
    geprägt. Aber wenn wir die Europäische Union wollen,
    dann müssen wir erreichen, dass die Menschen sie als
    Hort des Friedens, der Demokratie und des sozialen
    Wohlstands wahrnehmen können. Was macht die EU
    stattdessen? Sie fasst Aufrüstungs- und Militärbeschlüsse.
    Zwei Banker werden ohne Volkswahlen einfach zu Mi-
    nisterpräsidenten gemacht, so in Griechenland und in
    Italien. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. In Grie-
    chenland haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von über
    60 Prozent, in Spanien von über 50 Prozent. Und das al-
    les auch auf Druck der vorherigen Bundesregierung!

    Herr Steinmeier, als Sie noch in der Opposition wa-
    ren, haben Sie an diesem Pult die Sparpolitik im Hin-
    blick auf Griechenland kritisiert. Jetzt fahren Sie als Au-
    ßenminister nach Griechenland und sagen, sie müssten
    so weitermachen wie bisher. Das heißt, es soll bei die-
    sem Sozialabbau bleiben. Das ist antieuropäisch, aber es
    ist nicht antieuropäisch, wenn man soziale Gerechtigkeit
    für Europa fordert.


    (Beifall bei der LINKEN)

    Ich will auch folgenden Zusammenhang erwähnen:
    Wir stellen in Deutschland doppelt so viel her, wie wir
    benötigen. Also sind wir auf den Export angewiesen.
    Aber das bedeutet, dass andere Länder weniger herstel-
    len müssen, als sie benötigen. Um unsere Waren zu kau-
    fen, brauchen diese Länder Geld. Dafür machen sie
    Schulden. Nun werfen wir ihnen die Schulden vor, nach-
    dem wir an unseren Waren so viel verdient haben.

    SPD und Grüne sind damals mit der Agenda 2010 ei-
    nen bestimmten Weg gegangen. Man hat einen Niedrig-
    lohnsektor eingeführt, übrigens der größte in Europa.
    Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz
    Europa. Sie haben die prekäre Beschäftigung eingeführt.
    Wir hatten sinkende Reallöhne und Realrenten. Dadurch
    wurde alles billiger, und dadurch hat der Export zuge-
    nommen. Wann begreifen wir denn endlich, dass wir ei-
    nen umgekehrten Weg gehen müssen? Wir müssen einen
    Ausgleich im Außenhandel herstellen. So etwas gelingt
    nur, wenn wir höhere Renten, höhere Löhne, höhere So-
    zialleistungen haben und wenn wir endlich die Binnen-
    wirtschaft durch höhere Kaufkraft stärken. Das ist der
    Weg, den wir gehen müssen.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Jetzt treiben Sie den Sozialabbau im Süden Europas
    voran. Eines Tages kann es passieren, dass unser Export
    stark beeinträchtigt wird, weil der Süden Europas unsere
    Waren nicht mehr bezahlen kann. Die Steuereinnahmen
    sind dort ebenfalls rückläufig. Was machen Sie dann?
    Fordern Sie dann eine neue Agenda 2010? Wollen Sie,
    um noch etwas verkaufen zu können, dass die Sozialleis-
    tungen weiter gesenkt werden? Es wäre verheerend. Wir
    müssen heraus aus diesem Kreislauf.

    Das Ungerechteste in der Euro-Zone ist folgende Tat-
    sache: Alle Millionäre der Euro-Zone besitzen ein Geld-
    vermögen – ich rede nicht von Immobilien und Unter-
    nehmen, sondern nur vom Geldvermögen –, das größer
    ist als die Staatsschulden der Euro-Staaten. Das ist die
    eigentliche Ursache. Aber Sie trauen sich nicht an die
    geringste Umverteilung heran. Das wird das Problem
    dieser Bundesregierung werden.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Herr Gabriel, Sie haben gesagt, die Linke sei europa-
    feindlich. Sie schauen in die ganz falsche Richtung.
    Schauen Sie einmal in Richtung Regierungsbank. Dort
    sitzt die CSU. Sie warnt vor Rumäninnen und Rumänen,
    vor Bulgarinnen und Bulgaren, vor Armutsmigration etc.
    Das ist europafeindlich, und nicht die Linke, die mehr
    soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Frie-
    den fordert.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Zur Umverteilung, zu Armut und Reichtum. Es gibt
    eine neue Statistik von Oxfam. Da hat sich Folgendes
    herausgestellt: Die reichsten 85 Menschen der Erde be-
    sitzen genauso viel wie die finanziell untere Hälfte der
    Menschheit. Das heißt, 85 Menschen haben das gleiche
    Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen. Daran, Frau
    Merkel, wollen Sie nichts ändern? Sie haben es noch nie
    kritisiert. Das machen Sie und auch die SPD einfach





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    mit? Wir haben weltweit eine große Verteilungsunge-
    rechtigkeit. Ich sage Ihnen, dass eine so extreme Vertei-
    lungsungerechtigkeit zu Verteilungskriegen führt, die
    wir zum Teil schon erleben.

    Wie sieht es in Deutschland aus? In unserem Land
    sieht es nicht viel besser aus. Die finanziell untere Hälfte
    unserer Bevölkerung – also 40 Millionen – besitzen 1 Pro-
    zent des Vermögens – 1 Prozent! 0,65 Prozent besitzen
    20 Prozent des Vermögens, nämlich 2 Billionen Euro.
    Das ist eine so große Ungerechtigkeit. Und da wollen
    Sie noch nicht einmal eine ganz geringe Steuererhöhung,
    kein bisschen Steuergerechtigkeit? Es soll dabei bleiben,
    dass die Mitte der Gesellschaft alles bezahlt? Das sind
    die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, das sind die An-
    gestellten, das sind auch die Handwerkerinnen und
    Handwerker, die Mittelständler und die Selbstständigen.
    Sie alle sollen für die Gesellschaft zahlen, nur weil Sie
    sich nicht heranwagen an das Vermögen, an die Bestver-
    dienenden und an die Leute, die wirklich viel zu viel
    Geld haben.

    Im Übrigen weiß ich, was Banker zum Teil verdienen;
    es ist – selbst wenn sie fleißig sind – völlig überzogen.
    Auch deren Tag hat nur 24 Stunden, und 8 Stunden müs-
    sen sie noch schlafen. – Damit wir uns nicht missverste-
    hen: Ich will keinen gleichen Lohn für alle. Ich möchte
    schon, dass es Unterschiede gibt, aber sie müssen nach-
    vollziehbar sein. Es ist maßlos geworden, und Sie gehen
    an dieses Problem nicht heran.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Sie wollen endlich den Mindestlohn einführen, was
    ich sehr begrüße. Es wird auch höchste Zeit. Jahrelang
    haben wir dafür gekämpft. Aber jetzt geht es um Aus-
    nahmen. Nun hat sich herausgestellt: Wenn man die
    Ausnahmen macht, die die CSU will, dann bedeutet das,
    dass die Hälfte derjenigen, die heute unter ihrem gesetz-
    lichen Mindestlohn verdienen, weiterhin unter dem
    gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Wenn es einen ge-
    setzlichen Mindestlohn geben soll, dann muss er flä-
    chendeckend sein und keine Ausnahmen regeln.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


    Außerdem kommt er zu spät, und er ist zu niedrig.

    Dann haben Sie geregelt – die Kanzlerin hat es auch
    wieder betont –, dass bestehende Tarifverträge, die einen
    geringeren Mindestlohn vorsehen, noch bis 2017 weiter-
    gelten können. Die Regierung, auch die SPD, die Ge-
    werkschaften und Herr Jörges vom Stern unterliegen hier
    einem Irrtum. Sie glauben nämlich, das sei ein genialer
    Trick: Dadurch werde man gezwungen, Tarifverträge ab-
    zuschließen, und dann hätten wir sehr viel mehr Tarif-
    verträge in Deutschland und der Tariflohn spiele dann
    eine größere Rolle. Ich sage Ihnen: Das ist eine Illusion.
    Die meisten Unternehmen machen dies nicht für die
    zwei Jahre, weil sie wissen, dass sie dann auf lange Zeit
    gebunden sind. Es ist immer schlau gedacht, aber es
    kommt nichts dabei heraus, außer dass die Leute einen
    geringeren Lohn beziehen, als sie es in jeder Hinsicht
    verdient haben.

    Wenn ich mir Ihre Änderungen hinsichtlich der prekä-
    ren Beschäftigung ansehe: Mein Gott, Frau Merkel und
    Frau Nahles! Sie sagen: Nach neun Monaten soll es ei-
    nen Anspruch auf gleichen Lohn geben. Damit sagen Sie
    den Unternehmen: Nach neun Monaten müsst ihr wech-
    seln. Das ist alles, was Sie damit sagen.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Dann sagen Sie: Nach 18 Monaten muss man sogar
    einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
    haben. Das heißt, nach spätestens 18 Monaten müssen
    die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gewechselt wer-
    den. Ich sage Ihnen: Die Unternehmer, die anständig
    sind, machen es sowieso. Für diese brauchen wir es
    nicht. Die anderen, die es nicht machen, werden es auch
    dann nicht machen, sondern sie werden die Frist entspre-
    chend beachten.

    Was machen Sie gegen den Missbrauch der Werkver-
    träge und gegen Dumpinglöhne? Sie sagen: Personal-
    und Betriebsräte sind zu informieren, aber sie dürfen
    nicht entscheiden. – Ich sage: Wir brauchen hier ein Mit-
    bestimmungsrecht, damit sie das Ganze unterbinden
    können.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Nun zur Rente. Sie ändern nichts an der Senkung des
    Rentenniveaus, nichts an der Rente erst ab 67. Das wird
    massiv zu Altersarmut führen. Das wissen Sie alle. Nun
    haben Sie drei Änderungen geplant. Die eine sieht die
    sogenannte Rente ab 63 abschlagsfrei vor, wenn man
    45 Beitragsjahre hat. Erstens ist der Name „Rente ab 63“
    falsch, weil Sie ja generell den Eintritt der Rente bis auf
    67 verschieben und die Änderung nachher tatsächlich
    bedeutet, dass man mit 65 Rente bekommt und nicht mit
    63. Also streichen Sie die 63 und sagen, dass es Ihnen
    um zwei Jahre geht.

    Es wird zweitens so getan, als ob das eine grundle-
    gende Änderung ist. Schon jetzt können Menschen mit
    65 in Rente gehen, obwohl andere erst später in Rente
    gehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre haben. Das
    heißt, Sie helfen nur einem Teil der Bevölkerung und
    auch nur vorübergehend. Dieser Teil ist übrigens sehr
    männlich. Dies erreichen kaum Frauen. Das muss man
    auch erwähnen. Dann machen Sie Folgendes: Sie sagen,
    Zeiten mit ALG-I-Bezug sollen mit angerechnet werden,
    weil auch Beiträge gezahlt werden. Aber wenn dann tat-
    sächlich das Renteneintrittsalter 67 gilt und die Men-
    schen dann 45 Beitragsjahre haben und mit 65 in Rente
    gehen dürfen, dann gilt die heutige Regelung, bei der
    Zeiten mit ALG-I-Bezug nicht mit einbezogen werden.
    Auch das muss korrigiert werden. Aber diese Absicht
    haben Sie nicht.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Übrigens: In besseren Zeiten sind während des
    ALG-II-Bezugs auch Beiträge bezahlt worden. Auch das
    soll nicht anerkannt werden.





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    Dann komme ich zur Mütterrente – auch ein blöder
    Name. Frau Merkel, Sie müssen mir eines erklären:
    Wieso war es vor 1992 so viel leichter, Kinder aufzuzie-
    hen, als nach 1992? Wenn es nicht so war, dann müssen
    Sie mir mit Blick auf das Grundgesetz erklären, warum
    diese Kinder weniger wert sind.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Sie verbessern die Stellung, aber Sie stellen nicht gleich.
    Man bekommt jetzt für ein nach 1992 geborenes Kind
    3 Rentenpunkte und für ein vor 1992 geborenes Kind
    1 Rentenpunkt. Das wollen Sie auf 2 Rentenpunkte erhö-
    hen. Mit anderen Worten: Sie lassen einen Unterschied.
    Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Diese Rentenent-
    geltpunkte unterscheiden sich nach Ost und West. Das
    heißt, Frau Merkel, dass man im Osten für ein Kind ei-
    nen geringeren Rentenzuschlag bekommt als im Westen.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt schon so!)


    – Ja, eben.


    (Zurufe von der LINKEN)


    Es ist jetzt schon ein Skandal, Herr Kauder. Und dass Sie
    das im 24. Jahr der deutschen Einheit beibehalten und es
    für die Zukunft so regeln, dass Kinder aus dem Osten
    weniger wert sind als Kinder aus dem Westen, ist indis-
    kutabel und grundgesetzwidrig.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das, Frau Merkel, können Sie dem Osten nicht erklären.

    Dann planen Sie eine völlig falsche Finanzierung.
    Also, ich bitte Sie! Sie wollen das Ganze über die Bei-
    träge finanzieren; aber Kinder haben doch mit den Bei-
    trägen nichts zu tun. Kinder sind doch eine Leistung für
    die gesamte Gesellschaft. Und was kommt dabei heraus?
    Die Verkäuferin im Bäckerladen, die Lidl-Kassiererin
    und der Bäckermeister – also auch die Unternehmen –
    bezahlen die sogenannte Mütterrente, und wir Bundes-
    tagsabgeordnete beteiligen uns nicht mit einem halben
    Euro daran, weil wir ja keine Beiträge in die gesetzliche
    Rentenversicherung einzahlen. Indiskutabel! Es ist aus
    Steuern zu bezahlen, damit es die gesamte Gesellschaft
    bezahlt und nicht, wie Sie es gegenwärtig planen, die
    Beitragszahlerinnen und -zahler und die Unternehmen
    alleine.


    (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Zur Lebensleistungsrente nach 40 Beitragsjahren. Es
    liegt noch kein Gesetzentwurf vor, aber Sie haben ge-
    sagt, dass sie 30 Rentenentgeltpunkte betragen soll. Das
    bedeutet, sie beträgt für Menschen aus den alten Bundes-
    ländern etwa 850 Euro, für Menschen aus den neuen
    Bundesländern rund 760 Euro, weil der Wert der Ren-
    tenentgeltpunkte im Osten niedriger ist als im Westen.
    Beide Beträge sind zu niedrig – das sage ich ganz deut-
    lich –; das löst das Problem der Altersarmt nicht. Aber
    im 24. Jahr der deutschen Einheit dem Osten wiederum
    eine geringere Rente zuzubilligen als dem Westen – das,
    Frau Bundeskanzlerin, darf man dieser Regierung nicht
    durchgehen lassen.


    (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


    Nehmen Sie einen einheitlichen Betrag, regeln Sie das
    gleich!

    Zur Energiewende. Herr Gabriel, Sie wollen die ge-
    setzlich zugesicherte Förderung reduzieren, und zwar
    gerade bei der Windenergie. Und wen trifft’s? Die klei-
    nen und mittelständischen Unternehmen. Denn im Off-
    shorebereich kürzen Sie natürlich nicht – da geht es um
    die berühmten Windenergieanlagen im Meer, die von
    den vier großen Konzernen betrieben werden. Oh Gott,
    oh Gott, es wäre ja so mutig gewesen, denen einen hal-
    ben Euro wegzunehmen, aber das trauen Sie sich nicht.


    (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt nicht!)


    Nein, Sie treffen damit wiederum die kleinen und mittle-
    ren Unternehmen und damit natürlich auch die Beschäf-
    tigten dieser Unternehmen. Und wer schützt wieder die
    kleinen und mittleren Unternehmen? Ich sage es: die
    Linke.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ich habe es Ihnen vorhin schon bei der Wirtschaftsspio-
    nage gesagt; hier ist es genauso.


    (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Keine Ahnung von Energiepolitik!)


    Insofern sage ich: So kriegen Sie die Preise nicht so-
    zial gestaltet. Wenn wir wirklich den Strom preiswert
    machen wollen, sodass sich jede und jeder ihn leisten
    kann, brauchen wir ganz andere Schritte:

    Wir müssen die Strompreisaufsicht wieder einführen.
    Ich sage Ihnen auch einen Grund: Der Strompreis an der
    Energiebörse ist extrem niedrig, aber er wird nicht an die
    Kundinnen und Kunden weitergereicht. Genau dafür
    muss eine staatliche Strompreisaufsicht sorgen.

    Wenn die EEG-Umlage erhöht wird, müssen Sie die
    Stromsteuer senken oder vielleicht sogar ganz abschaf-
    fen; sie hat keine ökologische Wirkung.

    Die Ausnahmen für die Industrie müssen auf ein Mi-
    nimum reduziert werden. Es geht doch nicht, dass die
    Mieterin das alles bezahlt, aber die großen Industrie-
    unternehmen nichts bezahlen müssen. Auch das ist nicht
    gerechtfertigt.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Dann brauchen wir endlich eine Abwrackprämie für
    die Verschrottung stromfressender Haushaltsgeräte,
    wenn energiesparende angeschafft werden. Bei Autos
    konnten wir das doch machen. Warum können wir das
    nicht endlich mal bei Haushaltsgeräten machen? Gerade
    die ärmeren Haushalte wären sehr darauf angewiesen.

    Außerdem brauchen wir einen gebührenfreien So-
    ckeltarif; auch das müssen wir haben. Dann wären wir
    diese Sorgen los und könnten wirklich sagen: Ja, die





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    Energiewende gelingt, und zwar vernünftig, und bleibt
    für die Leute bezahlbar. Ich warne Sie: Wenn wir den är-
    meren Teil der Bevölkerung nicht mitnehmen und ihn
    mit überhöhten Strompreisen verschrecken, werden wir
    eine antiökologische Einstellung verursachen, die wir
    alle uns nicht leisten können.

    Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Ihr Leitfaden ist die
    soziale Marktwirtschaft. Ich bitte Sie! Fragen Sie die
    Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fragen Sie die
    ALG-II-Bezieherinnen und ALG-II-Bezieher, fragen Sie
    die Leute, die befristet beschäftigt werden! Übrigens:
    Mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen sind befris-
    tete Beschäftigungen. Dagegen haben Sie nichts unter-
    nommen. Da soll sich gesetzlich auch nichts ändern. Die
    werden Ihnen erzählen, dass sie diese Marktwirtschaft
    als höchst unsozial empfinden. Sie wecken hier einfach
    Illusionen. Ich sage Ihnen eines – das fällt mir schwer –:
    Unter Kohl war die Marktwirtschaft sozialer als heute.
    Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken, Frau
    Merkel.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ich glaube, dass die Große Koalition zunächst hek-
    tisch das eine oder andere beschließen wird, aber viel zu
    wenig verändern wird. Die Politik von Schwarz-Gelb
    wird im Kern fortgesetzt. Wir werden später Stillstand
    und dann Herumwurstelei erleben. Man soll ja nicht wet-
    ten, aber ich könnte mit Ihnen wetten, dass die Bevölke-
    rung nach der Regierungszeit der Großen Koalition tief
    enttäuscht sein wird.


    (Beifall bei der LINKEN)