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    Plenarprotokoll 18/10 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 I n h a l t : Änderung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . 561 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin mit anschließender Aussprache . . . 561 B Dr. Angela Merkel,  Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 C Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 571 B Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 575 B Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 A Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 583 A Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 586 B Monika Grütters, Staatsministerin  BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 D Sigrid Hupach (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 592 A Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 D Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 C Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 595 D Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 A Außen, Europa und Menschenrechte . . . . . 598 C Dr. Frank-Walter Steinmeier,  Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . 600 D Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . 601 D Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 C Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 A Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 606 A Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 606 C Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 608 C Tagesordnungspunkt 2: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der inte- grierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012 Drucksachen 18/262, 18/347. . . . . . . . . . . 609 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/382 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 610 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 610 D Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 612 B Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 613 C Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 614 C Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 B Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . 616 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . 616 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 618 A Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 D Tagesordnungspunkt 3: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Operation Active Endeavour im gesam- ten Mittelmeer Drucksachen 18/263, 18/348 . . . . . . . . . . . 618 C – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung  Drucksache 18/383 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 C Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 623 A Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 624 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 B Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 D Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 626 D Julia Bartz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 A Namentliche Abstimmung. . . . . . . . . . . . . . . . 627 B Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 C Tagesordnungspunkt 4: a) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung des Ver- trauensgremiums gemäß § 10a Ab- satz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/358. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Vertrauens- gremiums gemäß § 10a Absatz 2 der Bundeshaushaltsordnung Drucksache 18/359. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C b) – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Gremiums gemäß § 3 des Bundes- schuldenwesengesetzes Drucksache 18/360. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C – Wahl der Mitglieder des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschulden- wesengesetzes Drucksache 18/361. . . . . . . . . . . . . . . . 627 C c) Wahl der Mitglieder des Wahlausschus- ses für die vom Deutschen Bundestag zu berufenden Richter des Bundesverfas- sungsgerichts gemäß § 6 Absatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes Drucksachen 18/362, 18/363, 18/364, 18/365 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 C d) Wahl der Mitglieder des Ausschusses für die Wahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes (Richterwahlaus- schuss) Drucksachen 18/366, 18/367, 18/368, 18/369 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 D Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 C, D; 660 A Tagesordnungspunkt 1: Regierungserklärung durch die Bundes- kanzlerin  (Fortsetzung der Aussprache) . . . . . . . . . . . . . 631 D Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 D Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) . . . . . . . 633 D Albert Weiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 635 D Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 B Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 637 A Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . 638 A Kathrin Vogler (DIE LINKE). . . . . . . . . . . 638 D Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 B Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 641 B Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 A Gabi Weber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 C Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 645 A Doris Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 D Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 C Dr. Gerd Müller, Bundesminister  BMZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 D Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 649 B Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 650 B Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 III Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 652 D Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 653 D Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 A Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 A Dagmar G. Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 657 A Gabriela Heinrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 658 C Nächste Sitzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 C Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . . 661 A Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesre- gierung: Fortsetzung der Entsendung bewaff- neter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Natio- nen) sowie des Beschlusses des Nordatlantik- rates vom 4. Dezember 2012 (Tagesordnungs- punkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 661 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 661 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 561 (A) (C) (D)(B) 10. Sitzung Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 Beginn: 11.00 Uhr
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    (D) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 661 (A) (C) (B) Anlagen zum Stenografischen Bericht (D) Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den An- trag der Bundesregierung: Fortsetzung der Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidi- gung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbst- verteidigung (Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlan- tikrates vom 4. Dezember 2012 (Tagesord- nungspunkt 2) Cansel Kiziltepe (SPD): Ich konnte der Mandats- verlängerung der Operation Active Fence nicht zustim- men.  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alpers, Agnes DIE LINKE 29.01.2014 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 29.01.2014 Freese, Ulrich SPD 29.01.2014 Gerdes, Michael SPD 29.01.2014 Heller, Uda CDU/CSU 29.01.2014 Juratovic, Josip SPD 29.01.2014 Maisch, Nicole BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Petzold (Havelland), Harald DIE LINKE 29.01.2014 Rüthrich, Susann SPD 29.01.2014 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Schmidt (Wetzlar), Dagmar SPD 29.01.2014 Steinbrück, Peer SPD 29.01.2014 Vogel (Kleinsaara), Volkmar CDU/CSU 29.01.2014 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 29.01.2014 Die Entwicklung in Syrien bedaure ich zutiefst, vor allem das Leiden der Zivilbevölkerung im Bürgerkrieg verurteile ich aufs Schärfste. Es muss das Ziel sein, so bald als möglich einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien herbeizuführen. Gerade werden in Genf die ersten Verhandlungen zu einer Lösung des syrischen Konflikts geführt. Ich begrüße und unterstütze diesen Verhandlungsprozess. Für meinen Entschluss, der Mandatsverlängerung nicht zuzustimmen gibt es gute Gründe. Die Gesamtkon- zeption des Einsatzes ist, abgesehen von einer symboli- schen Solidaritätshandlung gegenüber der Türkei, frag- lich. So sind die Patriot-Flugabwehrraketenstellungen nicht geeignet, um gegnerische Artillerie- oder Mörser- granaten abzuwehren. Dies ist jedoch die einzige realis- tische Bedrohung, welche aktuell für die Türkei von Sy- rien ausgeht. Des Weiteren ist die Befürchtung eines möglichen Einsatzes von syrischem Giftgas hinfällig ge- worden. Seit der Resolution des Sicherheitsrats der Ver- einten Nationen zur Vernichtung der syrischen Chemie- waffen und dem bereits begonnenen Abtransport dieser Waffen ist dieses Bedrohungsszenario ausgeschlossen. Mit einem Abzug der Patriot-Flugabwehrraketenstel- lungen könnte von westlicher Seite ein Signal für eine Entmilitarisierung und Deeskalation der Region gesen- det werden. Es muss in erster Linie um die humanitäre Situation der Menschen in Syrien sowie der syrischen Flüchtlinge in den Anrainerstaaten gehen und nicht um ein sehr unwahrscheinliches Bedrohungsszenario. Das Ende des Patriot-Mandats in der Türkei wäre ein erstes Signal vonseiten der NATO, dass eine friedliche Lösung für Syrien gewünscht ist. Dies gilt insbesondere als Un- terstützung für die aktuellen Friedensverhandlungen in Genf. Denn ohne einen stabilen Waffenstillstand ist der Weg hin zu Frieden und humanitärer Hilfe unmöglich. Ähnlich wie es ein symbolischer Akt war, im Winter 2012/13 der Türkei die Bündnissolidarität deutlich zu zeigen, ist es heute angesagt, ein Zeichen zur Deeskala- tion und für die Friedensverhandlungen zu setzen. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ich stimme gegen den Antrag der Bundesregierung, deutsche Truppen an die türkisch-syrische Grenze zu entsenden, vor allem auch, weil die Begründung für den Einsatz auf einer Lüge und einer massiven Täuschung von Öffentlichkeit und Parlament durch die Bundesregierung beruht. Im Antrag der Bundesregierung zur Entsendung deut- scher Streitkräfte in die Türkei (NATINADS) heißt es unter Abs. 2, „Völkerrechtliche Grundlagen“, wörtlich: Auf Antrag der Türkei waren im Nordatlantikrat am 26. Juni und 3. Oktober 2012 Konsultationen nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages durchgeführt wor- den. Angesichts einer dargelegten Bedrohung der Un- versehrtheit des türkischen Staatsgebiets und der ei- genen Sicherheit hatte der Nordatlantikrat auf An- Anlagen 662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 (A) (C) (D)(B) trag der türkischen Regierung vom 21. November 2012 am 4. Dezember 2012 beschlossen, die Fähig- keiten im Bereich der integrierten Luftverteidigung der NATO zu verstärken. Mit ihrem Beschluss und einer entsprechenden Ver- legung schuf die NATO die Voraussetzung für die beteiligten Parteien, für den Fall eines bewaffneten Angriffes auf die Türkei (Artikel 5 des Nordatlan- tikvertrags) vom Recht zur individuellen oder kol- lektiven Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) Gebrauch machen zu kön- nen. Anlass dieser Konsultationen war zunächst der ver- meintliche Abschuss eines türkischen Aufklärungsflug- zeuges und später der vermeintliche Granatenbeschuss durch die syrische Armee. Auf dieser Grundlage und bei diesen Gelegenheiten wurde die Bedrohung der Türkei nach Art. 4 des Nordatlantikvertrages festgestellt. In ei- ner Erklärung des Nordatlantikrates nach diesem Treffen wurde festgestellt, dass es sich um einen „unacceptable“ Akt handele, der zu verurteilen sei. Zudem wurde der vermeintliche Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs als weiteres Beispiel der syrischen Behörden in ihrer Missachtung völkerrechtlicher Normen, des Friedens, der Sicherheit und des menschlichen Lebens betrachtet, so der NATO-Rat. Auf diese Weise ist die NATO als for- males Verteidigungsbündnis überhaupt erst ins Spiel ge- kommen, und das hat die Türkei in ihrem eskalierenden Kurs gegenüber Syrien gestärkt. Die Darstellung der türkischen Regierung und der Vorwurf der NATO lautet also, dass die syrische Luftab- wehr über internationalen Gewässern ein Aufklärungsflug- zeug der türkischen Armee abgeschossen hätte, nachdem dieses versehentlich – und zwar im Tiefflug – in syri- schen Luftraum eingedrungen wäre. Ursächlich und un- umstritten liegt also eine türkische Verletzung des syri- schen Hoheitsgebietes vor. Dass aber der Abschuss über internationalen Gewäs- sern stattfand, wurde schnell bezweifelt; die Kenntnisse der NATO weichen von den Angaben der Türkei über die Absturzstelle ab und werden zudem geheim gehal- ten. Die Bundesregierung hat die Geheimhaltung dieser Informationen verteidigt und in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage entsprechend dargelegt: „Eine Offenle- gung könnte zur Folge haben, dass dem Bundesnachrich- tendienst künftig keine schutzbedürftigen Erkenntnisse anvertraut werden.“ (Bundestagsdrucksache 17/13515) Ich stimme gegen die Entsendung deutscher Bundes- wehrsoldaten, auch weil der Standpunkt der Bundesre- gierung einfach nicht der Wahrheit entspricht. Denn sicher ist doch, dass das türkische Flugzeug von keiner Rakete getroffen wurde, womit ein Abschuss in internationalem Luftraum ausscheidet. Mittlerweile er- scheint zweifelhaft, ob es überhaupt einen Beschuss des türkischen Flugzeugs gab oder dieses nicht aufgrund des riskanten Manövers und veralteter Technik abgestürzt ist. In einem Text der International Crisis Group heißt es hierzu: „Wie auch immer, es wurden keine Anzeichen ei- nes Raketeneinschlags auf dem Wrack des Flugzeugs, einer Phantom F4, entdeckt.“ Auch die Stiftung Wissen- schaft und Politik schreibt zu diesem Vorfall und der er- zwungenen Landung eines aus Moskau kommenden sy- rischen Flugzeugs: „In beiden Fällen musste die Türkei schon bald einräumen, dass ihre jeweilige Darstellung unrichtig war“. Trotzdem haben der NATO-Generalsekretär und der Nordatlantikrat, an dem Vertreter der Bundesregierung teilgenommen haben, denen zu diesem Zeitpunkt schon eigene und von der türkischen Darstellung stark abwei- chende Informationen vorlagen, anlässlich der Art.-4- Konsultationen gegenüber der Öffentlichkeit folgende Aussage gemacht: „Das ist ein weiteres Beispiel für die Missachtung der internationalen Normen, des Friedens, der Sicherheit und des Menschenlebens durch das syri- sche Regime.“ Damit haben die NATO, deren Generalsekretär und die deutsche Bundesregierung die Öffentlichkeit be- wusst und gezielt falsch informiert. Noch am 7. November 2012 wertete die Bundesregie- rung den vermeintlichen Abschuss des türkischen Mili- tärjets als „unverhältnismäßigen Akt“. Im Mai 2013 be- gründete sie diese Einschätzung mit „den zugrunde gelegten Informationen, dass ein Abschuss im interna- tionalen Luftraum ohne Vorwarnung erfolgt sei“. Bereits im November 2013 spätestens lagen jedoch auch der Bundesregierung die Erkenntnisse der NATO vor, wo- nach der Abschuss nicht in internationalem Luftraum er- folgt sein kann – sofern er überhaupt erfolgt ist. Ich stimme gegen eine Entsendung der Patriot-Rake- ten, weil auch der zweite Grund, der angebliche Grana- tenbeschuss durch syrische Streitkräfte ohne vorherige Angriffe türkischer Streitkräfte, äußerst zweifelhaft ist: Denn was die zweiten Konsultationen angeht, so er- folgten diese aufgrund von vermeintlichem Granatenbe- schuss türkischen Territoriums von Syrien aus. Auch hier wurden schnell auch aus NATO-Kreisen Zweifel laut, ob diese tatsächlich von der syrischen Armee oder den eng mit der Türkei kooperierenden Rebellen abge- schossen wurden: NATO-Vertreter gaben an, dass es sich um Granaten aus NATO-Beständen handelte. Eine Un- tersuchung der Vorfälle hat nach Angaben der Bundesre- gierung nicht stattgefunden und sei auch nicht angestrebt worden; auch hier hat man sich einfach und unkritisch der türkischen Darstellung angeschlossen. Die Bundes- regierung hat dazu keine eigenen Informationen und auch keine eigenen Untersuchungen angestrebt, aber „geht davon aus“, dass es zumindest in einem Fall Ende September „Beschuss türkischen Territoriums durch sy- rische Artilleriekräfte gab“. Am 3. Oktober 2012, am Tag der zweiten NATO-Konsultationen, gab es auch Be- schuss syrischen Territoriums durch die türkische Ar- mee. Hierzu gibt die Bundesregierung an, dass ihr „über die Presseberichterstattung hinaus … keine eigenen Er- kenntnisse“ vorlägen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Türkei zweifellos Handlungen vorgenommen hat, die völker- rechtlich als Angriffshandlungen gewertet werden kön- nen, Bundesregierung und NATO diese jedoch nicht zur Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 10. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 29. Januar 2014 663 (A) (C) (B) Kenntnis nehmen. Demgegenüber werden vermeintliche Reaktionen der syrischen Armee auf diese Angriffshand- lungen als „Bedrohung der Unversehrtheit des türki- schen Staatsgebiets“ aufgefasst, welche die „Solidarität“ des Bündnisses unter anderem in Form der Patriot-Sta- tionierung aktivieren. Ich stimme gegen die Patriot-Entsendung, weil die Abgeordneten von der Bundesregierung bisher regel- recht getäuscht worden sind. Beide Begründungen für die Entsendung der Patriots sind schlicht nicht haltbar. Ich finde, in einer so wichtigen Frage, wenn es um Krieg oder Frieden geht, wichtige Informationen vor der Öffentlichkeit zurückzuhalten, wie den abweichen- den NATO-Bericht, ist schon bemerkenswert. Da ist et- was ins Rutschen geraten, was die Demokratie in Deutsch- land insgesamt infrage stellt. Mit der Befreiung vom Faschismus und vom deutschen Militarismus hatte die Bundesrepublik einst auch mit einer Kriegspolitik gebro- chen, die von einer Geheimdiplomatie vorbereitet wird. Dies steht jetzt infrage. Ich habe den Eindruck, die Bundesregierung manipuliert Informationen, um Aus- landseinsätze der Bundeswehr zu legitimieren. Deshalb stimme ich gegen den Einsatz der Bundeswehr. Der Fall der Patriots, aber nicht nur dieser Fall, zeigt klar und deutlich: Um Auslandseinsätze durchzusetzen, werden Öffentlichkeit und Parlament gnadenlos belogen. Wer dann auch nur wagt, kritisch nachzufragen, wird als Assad-Unterstützer diffamiert. Das ist ein Prinzip, das sich in Deutschland leider mittlerweile etabliert hat. Die NATO hat diese Kriegslüge mit auf den Weg gebracht. Sie wusste, dass an der türkischen Version etwas nicht stimmen kann. Damit werden die Deutschen mit zu Geiseln der AKP und der Brüsseler NATO-Zentrale und ihrer Desinformationspolitik. Von Bündnisverteidi- gung kann keine Rede mehr sein. Man kann sich des Ein- drucks nicht erwehren, als ginge es darum, die Bundes- wehr in möglichst viele Auslandseinsätze zu schicken. Die NATO sucht zudem nach ihrer sich abzeichnenden Niederlage am Hindukusch nach neuen Betätigungsfel- dern. Dass sie nunmehr an der Seite von islamistischen Milizen und Al-Qaida-Kämpfern in Syrien steht, ist mehr als eine Ironie der Geschichte. Für mich ist es ein Verbrechen. (D) 10. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 1 Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin TOP 1 Außen, Europa und Menschenrechte TOP 2 Bundeswehr-Einsatz OAF (Türkei) TOP 3 Bundeswehr-Einsatz OAE TOP 4 a Wahl: Vertrauensgremium TOP 4 b Wahl: Gremium Bundesschuldenwesengesetz TOP 4 c Wahl: Wahlausschuss Bundesverfassungsrichter TOP 4 d Wahl: Richterwahlausschuss TOP 1 Verteidigung TOP 1 Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Anlagen
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)


    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,

    dass ich außerhalb meiner Redezeit doch noch einen
    Satz dazu sagen darf.


    (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Frau Kanzlerin, ich hatte im letzten Jahr auch einen Ski-
    unfall. Wir müssen einfach beide lernen, altersgerecht
    Sport zu treiben.


    (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber uncharmant, mein lieber Gregor Gysi! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Ganz schlechter Einstieg!)


    – Wir werden das hinbekommen.
    Aber nun zum Ernst der Lage und damit zu Ihrer Re-
    gierungserklärung: Sie haben eine Erklärung abgegeben,
    die in weiten Teilen mit der Realität nichts, aber auch gar
    nichts zu tun hatte.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Sie haben allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass
    wir in diesem Jahr den 100. Jahrestag des Beginns des
    Ersten Weltkrieges, den 75. Jahrestag des Beginns des
    Zweiten Weltkrieges begehen. Deshalb begreife ich
    nicht, weshalb auch diese Regierung derart militärisch
    denkt und handelt. Frau von der Leyen hat gesagt: Es ge-
    schähen ja Mord und Vergewaltigung; darum müsse die
    Bundeswehr nach Afrika marschieren. – Ich bitte Sie:
    Wenn das das Ziel ist, dann müssten wir die Bundeswehr
    ja weltweit einsetzen.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Aber nicht nur darum geht es. Es geht um etwas ganz
    anderes. Wenn es Ihnen wirklich um die Bekämpfung
    von Not geht, sollten Sie sich eine Zahl vor Augen füh-
    ren: Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Men-
    schen, davon 18 Millionen an Hunger und den Folgen
    von Hunger. Da sterben Millionen Kinder, Millionen
    Frauen. Ich habe noch nie von Ihnen, Frau Bundeskanz-
    lerin, oder von Ihnen, Frau von der Leyen, oder von Ih-
    nen, Herr Gabriel, gehört, dass Sie sagen: Das ist die
    Not, die wir bekämpfen müssen. Wir müssen sofort da
    hin und etwas unternehmen.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Nur wenn geschossen wird, dann soll die Bundeswehr
    mitschießen. Das ist doch wirklich überhaupt kein Argu-
    ment. Ich kann es wirklich nicht verstehen.

    Die Hilfe, die wir weltweit gegen Hunger leisten, ge-
    rade auch in Afrika, ist sehr, sehr gering, viel zu gering.
    Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen – ich
    muss es Ihnen sagen – töten zum Teil, und sie werden
    zum Teil auch getötet; das ist schlimm genug. Wenn sie
    dann zurückkommen, kommen sie zum Teil auch krank
    zurück. Ein Drittel aller Soldatinnen und Soldaten sind
    psychisch gestört. Das militärische Vorgehen, der Krieg,
    ist der falsche Weg. Die Probleme der Menschheit müs-
    sen wir gänzlich anders lösen.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Sie haben über NSA gesprochen. Nun wissen wir ja
    dank Snowden, dass 80 Prozent aller Übermittlungen per
    Internet, Handy, SMS, über soziale Netzwerke wie Face-
    book und Twitter abgehört und kontrolliert werden. Sie,
    Frau Bundeskanzlerin, haben gesagt, Sie arbeiteten mit
    der Kraft der Argumente. Ich sage Ihnen: Das ist deut-
    lich zu wenig! – Wenn Sie Ihre Unterwürfigkeit gegen-
    über den USA nicht aufgeben, gibt es keine Partner-
    schaft und keine Freundschaft. Diese erzeugt vielmehr
    genau das Gegenteil davon.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Im Grundgesetz ist doch der Schutz der Privatsphäre
    geregelt. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbe-
    stimmung. Sie haben einen Eid geleistet, die Bevölke-





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    rung zu schützen. Wo bleibt denn hier der Schutz? Indem
    man nur mit der US-Regierung redet, geht es nicht weiter.
    Warum weisen Sie nicht Leute, die aus den Botschaften
    heraus Spionage betreiben, aus unserem Land aus?


    (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann wäre die russische Botschaft leer!)


    Warum werden von der Bundesanwaltschaft keine Er-
    mittlungsverfahren eingeleitet, obwohl Straftaten began-
    gen worden sind? Wieso gilt hier zweierlei Recht? Auch
    das ist nicht hinnehmbar.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Nun kommt noch eines hinzu. Präsident Obama hat ja
    erklärt, dass die Staats- und Regierungschefs befreunde-
    ter Staaten nicht mehr abgehört werden. Das ist ein
    Schutz für Herrn Gauck und für Frau Merkel. Was ist
    aber mit den 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-
    nern dieses Landes? Für diese tragen Sie eine Verant-
    wortung!


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Jetzt kommt etwas Neues. Herr Snowden hat erklärt –
    das haben wir übrigens von Anfang an gesagt –, dass na-
    türlich auch Wirtschaftsspionage betrieben wird. Dazu
    haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, kein Wort gesagt. Von
    Anfang an haben wir gesagt, dass auch Wirtschaftsspio-
    nage betrieben wird. Jetzt ist es die Linke, die allein die
    Unternehmen schützen muss. So weit ist es inzwischen
    in dieser Gesellschaft gekommen.


    (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


    – Ja, machen Sie denn etwas dagegen, dass die Unter-
    nehmen ausspioniert werden? Nein, die Einzigen, die
    sich wirklich dagegen wenden, sind wir.

    Sie haben über Europa gesprochen. Europa und die
    Europäische Union sind wichtig. Der Frieden zwischen
    den Mitgliedsländern ist etwas, was erst jetzt zur Realität
    geworden ist. Frühere Jahrhunderte waren völlig anders
    geprägt. Aber wenn wir die Europäische Union wollen,
    dann müssen wir erreichen, dass die Menschen sie als
    Hort des Friedens, der Demokratie und des sozialen
    Wohlstands wahrnehmen können. Was macht die EU
    stattdessen? Sie fasst Aufrüstungs- und Militärbeschlüsse.
    Zwei Banker werden ohne Volkswahlen einfach zu Mi-
    nisterpräsidenten gemacht, so in Griechenland und in
    Italien. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. In Grie-
    chenland haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von über
    60 Prozent, in Spanien von über 50 Prozent. Und das al-
    les auch auf Druck der vorherigen Bundesregierung!

    Herr Steinmeier, als Sie noch in der Opposition wa-
    ren, haben Sie an diesem Pult die Sparpolitik im Hin-
    blick auf Griechenland kritisiert. Jetzt fahren Sie als Au-
    ßenminister nach Griechenland und sagen, sie müssten
    so weitermachen wie bisher. Das heißt, es soll bei die-
    sem Sozialabbau bleiben. Das ist antieuropäisch, aber es
    ist nicht antieuropäisch, wenn man soziale Gerechtigkeit
    für Europa fordert.


    (Beifall bei der LINKEN)

    Ich will auch folgenden Zusammenhang erwähnen:
    Wir stellen in Deutschland doppelt so viel her, wie wir
    benötigen. Also sind wir auf den Export angewiesen.
    Aber das bedeutet, dass andere Länder weniger herstel-
    len müssen, als sie benötigen. Um unsere Waren zu kau-
    fen, brauchen diese Länder Geld. Dafür machen sie
    Schulden. Nun werfen wir ihnen die Schulden vor, nach-
    dem wir an unseren Waren so viel verdient haben.

    SPD und Grüne sind damals mit der Agenda 2010 ei-
    nen bestimmten Weg gegangen. Man hat einen Niedrig-
    lohnsektor eingeführt, übrigens der größte in Europa.
    Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz
    Europa. Sie haben die prekäre Beschäftigung eingeführt.
    Wir hatten sinkende Reallöhne und Realrenten. Dadurch
    wurde alles billiger, und dadurch hat der Export zuge-
    nommen. Wann begreifen wir denn endlich, dass wir ei-
    nen umgekehrten Weg gehen müssen? Wir müssen einen
    Ausgleich im Außenhandel herstellen. So etwas gelingt
    nur, wenn wir höhere Renten, höhere Löhne, höhere So-
    zialleistungen haben und wenn wir endlich die Binnen-
    wirtschaft durch höhere Kaufkraft stärken. Das ist der
    Weg, den wir gehen müssen.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Jetzt treiben Sie den Sozialabbau im Süden Europas
    voran. Eines Tages kann es passieren, dass unser Export
    stark beeinträchtigt wird, weil der Süden Europas unsere
    Waren nicht mehr bezahlen kann. Die Steuereinnahmen
    sind dort ebenfalls rückläufig. Was machen Sie dann?
    Fordern Sie dann eine neue Agenda 2010? Wollen Sie,
    um noch etwas verkaufen zu können, dass die Sozialleis-
    tungen weiter gesenkt werden? Es wäre verheerend. Wir
    müssen heraus aus diesem Kreislauf.

    Das Ungerechteste in der Euro-Zone ist folgende Tat-
    sache: Alle Millionäre der Euro-Zone besitzen ein Geld-
    vermögen – ich rede nicht von Immobilien und Unter-
    nehmen, sondern nur vom Geldvermögen –, das größer
    ist als die Staatsschulden der Euro-Staaten. Das ist die
    eigentliche Ursache. Aber Sie trauen sich nicht an die
    geringste Umverteilung heran. Das wird das Problem
    dieser Bundesregierung werden.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Herr Gabriel, Sie haben gesagt, die Linke sei europa-
    feindlich. Sie schauen in die ganz falsche Richtung.
    Schauen Sie einmal in Richtung Regierungsbank. Dort
    sitzt die CSU. Sie warnt vor Rumäninnen und Rumänen,
    vor Bulgarinnen und Bulgaren, vor Armutsmigration etc.
    Das ist europafeindlich, und nicht die Linke, die mehr
    soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Frie-
    den fordert.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Zur Umverteilung, zu Armut und Reichtum. Es gibt
    eine neue Statistik von Oxfam. Da hat sich Folgendes
    herausgestellt: Die reichsten 85 Menschen der Erde be-
    sitzen genauso viel wie die finanziell untere Hälfte der
    Menschheit. Das heißt, 85 Menschen haben das gleiche
    Vermögen wie 3,5 Milliarden Menschen. Daran, Frau
    Merkel, wollen Sie nichts ändern? Sie haben es noch nie
    kritisiert. Das machen Sie und auch die SPD einfach





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    mit? Wir haben weltweit eine große Verteilungsunge-
    rechtigkeit. Ich sage Ihnen, dass eine so extreme Vertei-
    lungsungerechtigkeit zu Verteilungskriegen führt, die
    wir zum Teil schon erleben.

    Wie sieht es in Deutschland aus? In unserem Land
    sieht es nicht viel besser aus. Die finanziell untere Hälfte
    unserer Bevölkerung – also 40 Millionen – besitzen 1 Pro-
    zent des Vermögens – 1 Prozent! 0,65 Prozent besitzen
    20 Prozent des Vermögens, nämlich 2 Billionen Euro.
    Das ist eine so große Ungerechtigkeit. Und da wollen
    Sie noch nicht einmal eine ganz geringe Steuererhöhung,
    kein bisschen Steuergerechtigkeit? Es soll dabei bleiben,
    dass die Mitte der Gesellschaft alles bezahlt? Das sind
    die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, das sind die An-
    gestellten, das sind auch die Handwerkerinnen und
    Handwerker, die Mittelständler und die Selbstständigen.
    Sie alle sollen für die Gesellschaft zahlen, nur weil Sie
    sich nicht heranwagen an das Vermögen, an die Bestver-
    dienenden und an die Leute, die wirklich viel zu viel
    Geld haben.

    Im Übrigen weiß ich, was Banker zum Teil verdienen;
    es ist – selbst wenn sie fleißig sind – völlig überzogen.
    Auch deren Tag hat nur 24 Stunden, und 8 Stunden müs-
    sen sie noch schlafen. – Damit wir uns nicht missverste-
    hen: Ich will keinen gleichen Lohn für alle. Ich möchte
    schon, dass es Unterschiede gibt, aber sie müssen nach-
    vollziehbar sein. Es ist maßlos geworden, und Sie gehen
    an dieses Problem nicht heran.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Sie wollen endlich den Mindestlohn einführen, was
    ich sehr begrüße. Es wird auch höchste Zeit. Jahrelang
    haben wir dafür gekämpft. Aber jetzt geht es um Aus-
    nahmen. Nun hat sich herausgestellt: Wenn man die
    Ausnahmen macht, die die CSU will, dann bedeutet das,
    dass die Hälfte derjenigen, die heute unter ihrem gesetz-
    lichen Mindestlohn verdienen, weiterhin unter dem
    gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Wenn es einen ge-
    setzlichen Mindestlohn geben soll, dann muss er flä-
    chendeckend sein und keine Ausnahmen regeln.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


    Außerdem kommt er zu spät, und er ist zu niedrig.

    Dann haben Sie geregelt – die Kanzlerin hat es auch
    wieder betont –, dass bestehende Tarifverträge, die einen
    geringeren Mindestlohn vorsehen, noch bis 2017 weiter-
    gelten können. Die Regierung, auch die SPD, die Ge-
    werkschaften und Herr Jörges vom Stern unterliegen hier
    einem Irrtum. Sie glauben nämlich, das sei ein genialer
    Trick: Dadurch werde man gezwungen, Tarifverträge ab-
    zuschließen, und dann hätten wir sehr viel mehr Tarif-
    verträge in Deutschland und der Tariflohn spiele dann
    eine größere Rolle. Ich sage Ihnen: Das ist eine Illusion.
    Die meisten Unternehmen machen dies nicht für die
    zwei Jahre, weil sie wissen, dass sie dann auf lange Zeit
    gebunden sind. Es ist immer schlau gedacht, aber es
    kommt nichts dabei heraus, außer dass die Leute einen
    geringeren Lohn beziehen, als sie es in jeder Hinsicht
    verdient haben.

    Wenn ich mir Ihre Änderungen hinsichtlich der prekä-
    ren Beschäftigung ansehe: Mein Gott, Frau Merkel und
    Frau Nahles! Sie sagen: Nach neun Monaten soll es ei-
    nen Anspruch auf gleichen Lohn geben. Damit sagen Sie
    den Unternehmen: Nach neun Monaten müsst ihr wech-
    seln. Das ist alles, was Sie damit sagen.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Dann sagen Sie: Nach 18 Monaten muss man sogar
    einen Anspruch auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
    haben. Das heißt, nach spätestens 18 Monaten müssen
    die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gewechselt wer-
    den. Ich sage Ihnen: Die Unternehmer, die anständig
    sind, machen es sowieso. Für diese brauchen wir es
    nicht. Die anderen, die es nicht machen, werden es auch
    dann nicht machen, sondern sie werden die Frist entspre-
    chend beachten.

    Was machen Sie gegen den Missbrauch der Werkver-
    träge und gegen Dumpinglöhne? Sie sagen: Personal-
    und Betriebsräte sind zu informieren, aber sie dürfen
    nicht entscheiden. – Ich sage: Wir brauchen hier ein Mit-
    bestimmungsrecht, damit sie das Ganze unterbinden
    können.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Nun zur Rente. Sie ändern nichts an der Senkung des
    Rentenniveaus, nichts an der Rente erst ab 67. Das wird
    massiv zu Altersarmut führen. Das wissen Sie alle. Nun
    haben Sie drei Änderungen geplant. Die eine sieht die
    sogenannte Rente ab 63 abschlagsfrei vor, wenn man
    45 Beitragsjahre hat. Erstens ist der Name „Rente ab 63“
    falsch, weil Sie ja generell den Eintritt der Rente bis auf
    67 verschieben und die Änderung nachher tatsächlich
    bedeutet, dass man mit 65 Rente bekommt und nicht mit
    63. Also streichen Sie die 63 und sagen, dass es Ihnen
    um zwei Jahre geht.

    Es wird zweitens so getan, als ob das eine grundle-
    gende Änderung ist. Schon jetzt können Menschen mit
    65 in Rente gehen, obwohl andere erst später in Rente
    gehen können, wenn sie 45 Beitragsjahre haben. Das
    heißt, Sie helfen nur einem Teil der Bevölkerung und
    auch nur vorübergehend. Dieser Teil ist übrigens sehr
    männlich. Dies erreichen kaum Frauen. Das muss man
    auch erwähnen. Dann machen Sie Folgendes: Sie sagen,
    Zeiten mit ALG-I-Bezug sollen mit angerechnet werden,
    weil auch Beiträge gezahlt werden. Aber wenn dann tat-
    sächlich das Renteneintrittsalter 67 gilt und die Men-
    schen dann 45 Beitragsjahre haben und mit 65 in Rente
    gehen dürfen, dann gilt die heutige Regelung, bei der
    Zeiten mit ALG-I-Bezug nicht mit einbezogen werden.
    Auch das muss korrigiert werden. Aber diese Absicht
    haben Sie nicht.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Übrigens: In besseren Zeiten sind während des
    ALG-II-Bezugs auch Beiträge bezahlt worden. Auch das
    soll nicht anerkannt werden.





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    Dann komme ich zur Mütterrente – auch ein blöder
    Name. Frau Merkel, Sie müssen mir eines erklären:
    Wieso war es vor 1992 so viel leichter, Kinder aufzuzie-
    hen, als nach 1992? Wenn es nicht so war, dann müssen
    Sie mir mit Blick auf das Grundgesetz erklären, warum
    diese Kinder weniger wert sind.


    (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


    Sie verbessern die Stellung, aber Sie stellen nicht gleich.
    Man bekommt jetzt für ein nach 1992 geborenes Kind
    3 Rentenpunkte und für ein vor 1992 geborenes Kind
    1 Rentenpunkt. Das wollen Sie auf 2 Rentenpunkte erhö-
    hen. Mit anderen Worten: Sie lassen einen Unterschied.
    Jetzt kommt aber noch etwas hinzu: Diese Rentenent-
    geltpunkte unterscheiden sich nach Ost und West. Das
    heißt, Frau Merkel, dass man im Osten für ein Kind ei-
    nen geringeren Rentenzuschlag bekommt als im Westen.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist jetzt schon so!)


    – Ja, eben.


    (Zurufe von der LINKEN)


    Es ist jetzt schon ein Skandal, Herr Kauder. Und dass Sie
    das im 24. Jahr der deutschen Einheit beibehalten und es
    für die Zukunft so regeln, dass Kinder aus dem Osten
    weniger wert sind als Kinder aus dem Westen, ist indis-
    kutabel und grundgesetzwidrig.


    (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das, Frau Merkel, können Sie dem Osten nicht erklären.

    Dann planen Sie eine völlig falsche Finanzierung.
    Also, ich bitte Sie! Sie wollen das Ganze über die Bei-
    träge finanzieren; aber Kinder haben doch mit den Bei-
    trägen nichts zu tun. Kinder sind doch eine Leistung für
    die gesamte Gesellschaft. Und was kommt dabei heraus?
    Die Verkäuferin im Bäckerladen, die Lidl-Kassiererin
    und der Bäckermeister – also auch die Unternehmen –
    bezahlen die sogenannte Mütterrente, und wir Bundes-
    tagsabgeordnete beteiligen uns nicht mit einem halben
    Euro daran, weil wir ja keine Beiträge in die gesetzliche
    Rentenversicherung einzahlen. Indiskutabel! Es ist aus
    Steuern zu bezahlen, damit es die gesamte Gesellschaft
    bezahlt und nicht, wie Sie es gegenwärtig planen, die
    Beitragszahlerinnen und -zahler und die Unternehmen
    alleine.


    (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


    Zur Lebensleistungsrente nach 40 Beitragsjahren. Es
    liegt noch kein Gesetzentwurf vor, aber Sie haben ge-
    sagt, dass sie 30 Rentenentgeltpunkte betragen soll. Das
    bedeutet, sie beträgt für Menschen aus den alten Bundes-
    ländern etwa 850 Euro, für Menschen aus den neuen
    Bundesländern rund 760 Euro, weil der Wert der Ren-
    tenentgeltpunkte im Osten niedriger ist als im Westen.
    Beide Beträge sind zu niedrig – das sage ich ganz deut-
    lich –; das löst das Problem der Altersarmt nicht. Aber
    im 24. Jahr der deutschen Einheit dem Osten wiederum
    eine geringere Rente zuzubilligen als dem Westen – das,
    Frau Bundeskanzlerin, darf man dieser Regierung nicht
    durchgehen lassen.


    (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


    Nehmen Sie einen einheitlichen Betrag, regeln Sie das
    gleich!

    Zur Energiewende. Herr Gabriel, Sie wollen die ge-
    setzlich zugesicherte Förderung reduzieren, und zwar
    gerade bei der Windenergie. Und wen trifft’s? Die klei-
    nen und mittelständischen Unternehmen. Denn im Off-
    shorebereich kürzen Sie natürlich nicht – da geht es um
    die berühmten Windenergieanlagen im Meer, die von
    den vier großen Konzernen betrieben werden. Oh Gott,
    oh Gott, es wäre ja so mutig gewesen, denen einen hal-
    ben Euro wegzunehmen, aber das trauen Sie sich nicht.


    (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das stimmt nicht!)


    Nein, Sie treffen damit wiederum die kleinen und mittle-
    ren Unternehmen und damit natürlich auch die Beschäf-
    tigten dieser Unternehmen. Und wer schützt wieder die
    kleinen und mittleren Unternehmen? Ich sage es: die
    Linke.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ich habe es Ihnen vorhin schon bei der Wirtschaftsspio-
    nage gesagt; hier ist es genauso.


    (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Keine Ahnung von Energiepolitik!)


    Insofern sage ich: So kriegen Sie die Preise nicht so-
    zial gestaltet. Wenn wir wirklich den Strom preiswert
    machen wollen, sodass sich jede und jeder ihn leisten
    kann, brauchen wir ganz andere Schritte:

    Wir müssen die Strompreisaufsicht wieder einführen.
    Ich sage Ihnen auch einen Grund: Der Strompreis an der
    Energiebörse ist extrem niedrig, aber er wird nicht an die
    Kundinnen und Kunden weitergereicht. Genau dafür
    muss eine staatliche Strompreisaufsicht sorgen.

    Wenn die EEG-Umlage erhöht wird, müssen Sie die
    Stromsteuer senken oder vielleicht sogar ganz abschaf-
    fen; sie hat keine ökologische Wirkung.

    Die Ausnahmen für die Industrie müssen auf ein Mi-
    nimum reduziert werden. Es geht doch nicht, dass die
    Mieterin das alles bezahlt, aber die großen Industrie-
    unternehmen nichts bezahlen müssen. Auch das ist nicht
    gerechtfertigt.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Dann brauchen wir endlich eine Abwrackprämie für
    die Verschrottung stromfressender Haushaltsgeräte,
    wenn energiesparende angeschafft werden. Bei Autos
    konnten wir das doch machen. Warum können wir das
    nicht endlich mal bei Haushaltsgeräten machen? Gerade
    die ärmeren Haushalte wären sehr darauf angewiesen.

    Außerdem brauchen wir einen gebührenfreien So-
    ckeltarif; auch das müssen wir haben. Dann wären wir
    diese Sorgen los und könnten wirklich sagen: Ja, die





    Dr. Gregor Gysi


    (A) (C)



    (D)(B)

    Energiewende gelingt, und zwar vernünftig, und bleibt
    für die Leute bezahlbar. Ich warne Sie: Wenn wir den är-
    meren Teil der Bevölkerung nicht mitnehmen und ihn
    mit überhöhten Strompreisen verschrecken, werden wir
    eine antiökologische Einstellung verursachen, die wir
    alle uns nicht leisten können.

    Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Ihr Leitfaden ist die
    soziale Marktwirtschaft. Ich bitte Sie! Fragen Sie die
    Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, fragen Sie die
    ALG-II-Bezieherinnen und ALG-II-Bezieher, fragen Sie
    die Leute, die befristet beschäftigt werden! Übrigens:
    Mehr als die Hälfte aller Neueinstellungen sind befris-
    tete Beschäftigungen. Dagegen haben Sie nichts unter-
    nommen. Da soll sich gesetzlich auch nichts ändern. Die
    werden Ihnen erzählen, dass sie diese Marktwirtschaft
    als höchst unsozial empfinden. Sie wecken hier einfach
    Illusionen. Ich sage Ihnen eines – das fällt mir schwer –:
    Unter Kohl war die Marktwirtschaft sozialer als heute.
    Auch darüber sollten Sie einmal nachdenken, Frau
    Merkel.


    (Beifall bei der LINKEN)


    Ich glaube, dass die Große Koalition zunächst hek-
    tisch das eine oder andere beschließen wird, aber viel zu
    wenig verändern wird. Die Politik von Schwarz-Gelb
    wird im Kern fortgesetzt. Wir werden später Stillstand
    und dann Herumwurstelei erleben. Man soll ja nicht wet-
    ten, aber ich könnte mit Ihnen wetten, dass die Bevölke-
    rung nach der Regierungszeit der Großen Koalition tief
    enttäuscht sein wird.


    (Beifall bei der LINKEN)




Rede von Dr. Norbert Lammert
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Oppermann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Thomas Oppermann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)


    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-

    deskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung
    deutlich gemacht, wie unsere gemeinsame Regierung
    mit den Fraktionen von CDU, CSU und SPD in den
    nächsten vier Jahren die Zukunft unseres Landes gestal-
    ten will.

    Dies war in der Geschichte der Bundesrepublik
    Deutschland die erste Regierungsbildung, die vom Aus-
    gang eines Mitgliederentscheides abhängig war, und
    diese Hürde haben wir souverän gemeistert.


    (Beifall bei der SPD)


    256 000 SPD-Mitglieder haben sich für diese Regierung
    entschieden. Sie wollen, dass dieser Koalitionsvertrag
    umgesetzt wird und dass dadurch das Leben der Men-
    schen in Deutschland besser und gerechter wird. Sie
    wollen, dass diese Regierung Erfolg hat. Das wollen wir
    auch. Deshalb freue ich mich auf die gemeinsame Ar-
    beit. Packen wir es an!


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

    Herr Gysi, Sie sind erstmals Vorsitzender der größten
    Oppositionsfraktion.


    (Lachen des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


    Sie antworten deshalb unmittelbar auf die Kanzlerin. Sie
    sind jetzt sozusagen Oppositionsführer. Herzlichen
    Glückwunsch!


    (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


    Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann streben
    Sie gar nicht an, der größte Oppositionsführer in der Ge-
    schichte des Deutschen Bundestages zu werden, sondern
    Ihr Wunsch ist es, die Linke in die Regierung zu führen.
    Wenn das wirklich Ihr Wunsch ist, Herr Gysi, genügt es
    allerdings nicht, so über Europa zu reden, wie Sie es
    eben getan haben. Vielmehr müssen Sie dafür sorgen,
    dass Ihre Fraktion und Ihre Partei anders über Europa
    denken und sprechen.


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der LINKEN)


    Welchen Wert Europa für uns hat, wird uns in diesem
    Jahr besonders bewusst, wenn wir uns an den Beginn des
    Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnern. Damals tau-
    melte Europa verblendet vom Nationalismus in einen
    furchtbaren Krieg. Der Erste Weltkrieg war der erste
    Krieg, in dem moderne Massenvernichtungswaffen ein-
    gesetzt wurden. Das Versagen der Diplomatie in Europa
    forderte 17 Millionen Tote, und trotz dieser Erfahrungen
    zettelte Deutschland kurze Zeit später einen noch viel
    furchtbareren Krieg an. Ich finde, jeder, der sich vor Au-
    gen führt, welch schreckliche Dinge ihren Ausgangs-
    punkt im nationalistischen Deutschland genommen ha-
    ben, der muss doch erkennen, wie unschätzbar wertvoll
    die europäische Integration vor allem für uns Deutsche
    ist.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Die Entscheidung für Europa war die beste Antwort so-
    wohl auf den Ersten Weltkrieg als auch auf den Zweiten
    Weltkrieg. Sie war die beste Antwort auf die nationalso-
    zialistische Gewaltherrschaft,


    (Zuruf von der LINKEN)


    und sie ist der beste Weg, den Frieden auch in Zukunft
    zu sichern.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Aber Europa steht nicht nur für Frieden, sondern Eu-
    ropa steht auch für unser gemeinsames Wertesystem: un-
    sere Freiheit, unsere Demokratie und unser europäisches
    Sozialstaatsmodell, das Menschen, die in Not geraten,
    nicht fallen lässt, sondern sie absichert und ihnen wieder
    neue Chancen gibt.


    (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Wo denn?)






    Thomas Oppermann


    (A) (C)



    (D)(B)

    In unserer globalisierten Welt wäre jedes einzelne Land
    zu klein und zu schwach, um diese Werte allein zu ver-
    teidigen. Das schaffen wir nur gemeinsam. Deshalb darf
    es keine Rückkehr zum nationalstaatlichen Denken ge-
    ben. Gerade im Jahr der Europawahl sage ich ausdrück-
    lich: Wir dürfen Europa nicht den nationalen Populisten
    überlassen, egal ob sie von links oder von rechts kom-
    men.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Lieber Herr Gysi, Ihr Parteivorstand nennt die EU in
    der Präambel eines Leitantrages zur Europawahl eine
    „militaristische und weithin undemokratische Macht“.


    (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, genau!)


    Das ist nicht etwa ein Zitat von Rosa Luxemburg, mit
    dem sie die Zustände des deutschen Kaiserreiches vor
    100 Jahren beschreibt, sondern das ist Ihre Beschreibung
    für Europa im Jahr 2014, für eine der größten zivilisato-
    rischen Errungenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg.
    Ich finde das unglaublich.


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Das ist so abenteuerlich, dass Sie sich davon distanzie-
    ren mussten. Ich füge hinzu: Ich glaube Ihnen, dass Sie
    sich davon ehrlich distanziert haben, dass das Ihre auf-
    richtige Meinung ist. Aber ich bezweifle, dass diese Dis-
    tanzierung von Ihrer Partei und Ihrer Fraktion mitgetra-
    gen wird.


    (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich auch!)


    Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie in diesem Hause Part-
    ner finden wollen, müssen Sie Ihr Verhältnis zu Europa
    und zum Euro klären. Klären Sie Ihr Verhältnis zur inter-
    nationalen Verantwortung Deutschlands. Damit haben
    Sie in den nächsten vier Jahren genug zu tun.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Das Bekenntnis zu Europa als Macht des Friedens
    und Hüterin unserer Werte allein reicht nicht. Die EU-
    Kommission und die europäische Politik müssen klar
    besser werden, wenn dem Populismus das Wasser abge-
    graben werden soll. Der Präsident des Europäischen Par-
    laments, Martin Schulz, benutzte kürzlich ein sehr tref-
    fendes Bild, als er von den zwei Denkschulen sprach, die
    sich in der Europäischen Kommission sozusagen gegen-
    seitig im Wege stehen: Die einen geben nicht eher Ruhe,
    bis auch der letzte kommunale Friedhof in Europa priva-
    tisiert ist. Und die anderen hören nicht auf, bevor nicht
    eine einheitliche Friedhofsordnung für ganz Europa ent-
    standen ist. „Das macht die Leute verrückt“, sagt Martin
    Schulz. Und ich sage: Der Mann hat recht.


    (Beifall bei der SPD)


    Europa muss nicht alles machen, vor allem nicht das,
    was die Mitgliedstaaten selber können.
    Deshalb sage ich: Die Europäische Kommission muss
    sich in den nächsten Jahren stärker um das kümmern,
    was Europa eint, was uns stark macht und was die Ein-
    zelnen alleine nicht schaffen. Dazu gehört die weitere
    Bändigung der Finanzmärkte. Dazu gehört die Bekämp-
    fung von Steueroasen und Steuerschlupflöchern, die un-
    sere Steuerzahler hier in Deutschland Milliarden kosten.
    Dazu gehört die Verringerung des Wohlstandsgefälles
    innerhalb der Europäischen Union. Und dazu gehört
    ganz gewiss nicht zuletzt die Bekämpfung der horrenden
    Arbeitslosigkeit von jungen Menschen in vielen Ländern
    Europas.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Auf diese Dinge muss sich die EU konzentrieren, damit
    die Menschen erkennen können, warum Europa so wich-
    tig für uns alle ist.

    Viele fragen sich, wie wir in den harten Verhandlun-
    gen zwischen CDU, CSU und SPD zueinandergefunden
    haben. In der Tat, bei so schwierigen Themen wie Min-
    destlohn, Rente, Leiharbeit, Pflege oder Frauenquote
    war es überhaupt nicht selbstverständlich, dass wir uns
    am Ende verständigen. Das lag natürlich auch an der auf
    beiden Seiten vorhandenen Kompromissbereitschaft.
    Aber ich glaube, das lag in erster Linie daran, dass es in
    Deutschland einen gesellschaftlichen Grundkonsens
    gibt, einen Grundkonsens über die soziale Marktwirt-
    schaft – darüber hat auch die Bundeskanzlerin gespro-
    chen; und ich stimme ihr zu –: 90 Prozent der Menschen
    finden die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft rich-
    tig für unser Land, und sie wollen, dass sie gesichert und
    gestärkt werden.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Die Arbeitnehmer wissen doch ganz genau, dass
    Wohlstand für alle ohne eine starke Wirtschaft nicht
    möglich ist. In der sozialen Marktwirtschaft muss der
    Staat Rahmenbedingungen setzen, die es Unternehmen
    ermöglichen, Gewinne zu machen. Unternehmer, die
    keine Gewinne machen, gefährden am Ende Arbeits-
    plätze. Deshalb brauchen wir Produktivitätsfortschritt,
    deshalb brauchen wir Wachstum und Wettbewerbsfähig-
    keit auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite brau-
    chen wir auch faire Regeln auf dem Arbeitsmarkt, faire
    Löhne, Arbeitnehmerrechte, Kündigungsschutz und Mit-
    bestimmung. Das sind keine Problemfaktoren, sondern
    das sind positive Standortfaktoren in einer erfolgreichen
    Wirtschaft.


    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU])


    Das eine darf nicht auf Kosten des anderen durchgesetzt
    werden. Wir brauchen beides: Wettbewerb und faire Re-
    geln. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir die so-
    ziale Marktwirtschaft in Deutschland in eine stabile Ba-
    lance bringen können. Das wollen wir umsetzen. Das ist
    unser Programm.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






    Thomas Oppermann


    (A) (C)



    (D)(B)

    Damit fangen wir gleich an. Noch in diesem Jahr
    wird die Koalition den gesetzlichen Mindestlohn von
    8,50 Euro beschließen. Für viele Menschen, die 4, 5 oder
    6 Euro in der Stunde verdienen, wird das die kräftigste
    Lohnerhöhung in ihrem Leben. Das wird das Alltagsle-
    ben von Millionen Menschen in diesem Land positiv
    verändern.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Dieser Mindestlohn generiert milliardenschwere
    Kaufkraft. Das ist ein gewaltiges Konjunkturprogramm,
    das die Binnennachfrage stärken und für zusätzliches
    Wachstum sorgen wird. Das ist gut für unsere Wirt-
    schaft. Der Mindestlohn ist nicht nur sozial gerecht, weil
    er der Arbeit wieder Wert und Würde gibt, sondern er ist
    auch ordnungspolitisch richtig, weil er Wettbewerbsver-
    zerrungen durch Lohndumping beseitigt.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Wenn wir den Mindestlohn haben, wenn wir die Leih-
    arbeit regulieren, wenn wir die missbräuchliche Nutzung
    von Werkverträgen beenden und dafür sorgen, dass in
    den Betrieben gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt
    wird, dann werden sich Arbeit und Anstrengungen für
    Millionen Menschen in Deutschland wieder lohnen. Ge-
    nau das wollen wir: eine Politik für die fleißigen Leute
    und für die verantwortungsvollen Unternehmer.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Das gilt natürlich auch für die Rentner. Wer ein Leben
    lang hart gearbeitet und Kinder großgezogen hat, hat
    Anspruch auf ein sicheres Auskommen im Alter. Wenn
    jetzt bezüglich des Gesetzentwurfs, den Andrea Nahles
    heute in das Kabinett eingebracht hat, von Unterneh-
    mern die Sorge geäußert wird, das könnte zu Frühver-
    rentungen führen, dann sage ich: Diese Arbeitgeber
    können zuerst selber verhindern, dass es zu Frühverren-
    tungen kommt,


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    indem sie 61-Jährige nicht mehr in die Arbeitslosigkeit
    schicken.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Wenn es zu einem Missbrauch kommen sollte, dann wer-
    den wir diesen Missbrauch mit geeigneten Maßnahmen
    sofort wieder abstellen. Denn dafür haben wir die Rente
    nach 45 Berufsjahren nicht eingeführt.

    Die Mütterrente und die abschlagsfreie Rente nach
    45 Beschäftigungsjahren haben eine Debatte über Gene-
    rationengerechtigkeit ausgelöst, und wir werden uns
    dieser Debatte stellen. Bei der Rente geht es übrigens
    immer um Generationengerechtigkeit, aber in beide
    Richtungen und nicht nur in eine Richtung.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Frau Göring-Eckardt, Sie haben den Begriff der Ge-
    nerationenkumpanei in diese Debatte eingeführt.


    (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Pfui! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Unchristlich!)


    Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich in
    E-Mails und Briefen an uns darüber empören, dass mit
    diesem Begriff ihre Lebensleistung abgewertet wird.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht darum, dass Sie den anderen nicht helfen!)


    Das ist unfair gegenüber den Müttern und denjenigen,
    die 45 Jahre hart gearbeitet haben. Das sind doch dieje-
    nigen, die mit ihrer harten Arbeit ein umlagefinanziertes
    stabiles Rentensystem überhaupt erst ermöglichen, Frau
    Göring-Eckardt.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die anderen?)


    Wir sollten uns davor hüten, die Generationen gegen-
    einander auszuspielen. Die Zukunftschancen der jungen
    Generation hängen doch nicht in erster Linie von der
    Rentenpolitik ab, sondern sie hängen davon ab, was wir
    bildungs- und wirtschaftspolitisch in diesem Lande ma-
    chen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber da machen Sie ja nichts!)


    Die Perspektiven hängen davon ab, ob wir in 20 oder
    30 Jahren in Deutschland noch eine starke Wirtschaft ha-
    ben und ein starkes Industrieland sind. Sie hängen davon
    ab, ob wir jungen Menschen attraktive Jobs anbieten
    können und ob dort hohe Löhne verdient werden kön-
    nen. Das sind doch die Fragen. Ich sage: Diese Regie-
    rung wird die Grundlagen dafür legen. Ich freue mich,
    dass diese Regierung mit Sigmar Gabriel als Wirt-
    schaftsminister endlich wieder eine aktive Industriepoli-
    tik für Deutschland macht.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Da ist natürlich die ganze Regierung gefordert; denn
    eine starke Wirtschaft wird es in Zukunft nur geben,
    wenn wir eine moderne Infrastruktur haben. Wir müssen
    den Investitionsstau abarbeiten, und wir brauchen gut
    ausgebildete Fachkräfte. Wir haben 9 Milliarden Euro
    für Investitionen in Kitas, Forschung und Entwicklung
    bereitgestellt. Wir brauchen ein hohes Niveau an For-
    schung und Entwicklung und nicht zuletzt ein Energie-
    system, das Versorgungssicherheit, Preisstabilität und
    Klimaschutz miteinander verbindet. Deswegen ist es gut,
    dass das Kabinett schnell Eckpunkte für die Energie-
    wende vorgelegt hat, mit denen der weitere Preisanstieg
    der erneuerbaren Energien gebremst wird; denn ein
    funktionierendes Energiesystem ist das Herz-Kreislauf-
    System der Wirtschaft; ohne ein solches System kann





    Thomas Oppermann


    (A) (C)



    (D)(B)

    unsere Wirtschaft nicht funktionieren. Alles hängt davon
    ab, dass Energie bezahlbar bleibt. Ich finde es richtig,
    dass wir die Nutzung der erneuerbaren Energien weiter
    ausbauen; aber wir müssen sie so ausbauen, dass Energie
    für die Menschen und für die Wirtschaft auch bezahlbar
    bleibt.


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


    Da muss uns die Europäische Union auch die Mög-
    lichkeit lassen, energieintensive, tatsächlich im interna-
    tionalen Wettbewerb stehende Unternehmen von der
    EEG-Umlage zu befreien. Das sind doch keine wettbe-
    werbsverzerrenden Entlastungen – entsprechende Belas-
    tungen in anderen Ländern gibt es doch gar nicht.


    (Beifall des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])


    Wenn übrigens an anderer Stelle argumentiert wird,
    dass wir auf die energieintensiven Unternehmen in
    Deutschland im Interesse einer besseren Ökobilanz viel-
    leicht ganz verzichten könnten, dann halte ich das für ab-
    solut verantwortungslos. Die Stärke unserer Wirtschaft,
    das sind doch nicht einzelne industrielle Leuchttürme.
    Stark sind wir doch deshalb in Deutschland, weil wir
    über die ganze Wertschöpfungskette verfügen: von der
    Grundstoffindustrie bis zu den Hightechunternehmen
    und den hochwertigen Dienstleistungen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Diese Wertschöpfungskette darf nicht zerstört werden,
    meine Damen und Herren.

    Ich finde, Energieminister Gabriel hat in dieser De-
    batte einen ganz wichtigen Satz gesagt, der übrigens
    auch etwas über die Art und Weise, wie Politik gemacht
    werden sollte, aussagt: Die Summe der jetzt geltend ge-
    machten Interessen ist nicht identisch mit dem Gemein-
    wohl. – Da hat er recht.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Natürlich müssen alle Interessen und Argumente gehört,
    diskutiert und gewichtet werden; aber am Ende muss es
    eine Entscheidung für eine Energiepolitik im Interesse
    des Allgemeinwohls geben.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Dafür hat der Bundeswirtschaftsminister die volle Unter-
    stützung der Koalition.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren
    grundlegend verändert. Wie vielfältig wir geworden
    sind, spiegelt übrigens auch der Deutsche Bundestag wi-
    der: Spitzenreiter bleibt zwar der Nachname „Schmidt“,
    auf den sechs Kollegen und Kolleginnen hören, aber
    „Özdemir“ kommt inzwischen genauso häufig vor wie
    „Mayer/Meier“: zwei Mal.


    (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Ich freue mich, dass wir vielfältiger geworden sind – ge-
    nauso wie unser Land.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Auch wenn die Koalition nicht in allen Fragen der
    doppelten Staatsangehörigkeit wirklich einer Meinung
    ist, finde ich es doch gut, dass wir es geschafft haben,
    uns darauf zu verständigen, dass wir junge Menschen,
    die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind,
    nicht mehr in die Zwangslage bringen wollen, sich, um
    Deutsche bleiben zu können, vor Vollendung des 23. Le-
    bensjahres gegen die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern
    und Großeltern zu entscheiden. Das wollen wir diesen
    Menschen ersparen, indem wir ihnen die doppelte
    Staatsangehörigkeit ermöglichen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


    Meine Damen und Herren, Deutschland ist vor allem
    wegen seines starken Arbeitsmarktes ein attraktives Ein-
    wanderungsland geworden. Angesichts der demografi-
    schen Veränderungen und des Fachkräftemangels gilt
    Einwanderung heute nicht mehr als Belastung, sondern
    als Chance. 2012 kamen 370 000 Menschen, im letzten
    Jahr 400 000 Menschen mehr nach Deutschland, als
    weggegangen sind. Das sind ganz überwiegend gut Aus-
    gebildete und hoch Qualifizierte. Sie sind ein Riesenge-
    winn für unsere Wirtschaft. Deutschland profitiert wie
    kein anderes Land in der Europäischen Union von der
    Arbeitnehmerfreizügigkeit.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Deshalb sage ich: Wir freuen uns über jeden und über
    jede, die zu uns kommen, um hier zu arbeiten, Geld zu
    verdienen und ihr Glück zu machen.


    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


    Natürlich bleibt es eine große Herausforderung, un-
    sere Einwanderungsgesellschaft so zu organisieren, dass
    alle Menschen gut zusammenleben können. Aber da, wo
    durch Zuwanderung Probleme entstehen – wie in Duis-
    burg, Dortmund, Mannheim oder Berlin –, helfen keine
    lautstarken Debatten und Parolen, sondern da ist tatkräf-
    tiges Handeln gefragt.


    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)


    Deshalb begrüße ich es, dass die Regierung schnell ei-
    nen Staatssekretärsausschuss eingesetzt hat und wir als-
    bald mit geeigneten Maßnahmen beginnen können, um
    vor allem den betroffenen Kommunen zu helfen. Wir
    dürfen diese Kommunen mit ihren Problemen nicht al-
    leinlassen.


    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])






    Thomas Oppermann


    (A) (C)



    (D)(B)

    Auch wenn das jetzt vielleicht überraschen mag,
    möchte ich unserem Koalitionspartner CSU in diesem
    Zusammenhang ein Kompliment machen.


    (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist reine Heuchelei! Was kommt jetzt?)